Protokoll:
3102

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 3

  • date_rangeSitzungsnummer: 102

  • date_rangeDatum: 17. Februar 1960

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:03 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:53 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 102. Sitzung Bonn, den 17. Februar 1960 Inhalt: Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Wittmann und Dr. Böhm . . . . 5485 A Fragestunde (Drucksache 1609) Frage des Abg. Schneider (Bremerhaven) : Filme antideutscher Tendenz im amerikanischen und kanadischen Fernsehen Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5485 C Frage des Abg. Schmitt (Vockenhausen): Verhalten des Konsuls Karl Julius Hoffmann in New York Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5485 D, 5486 A Schmitt (Vockenhausen) (SPD) . . . 5486 A Frage der Abg. Frau Dr. Hubert: Vorlage des Europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten an den Bundestag Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5486 B Frau Dr. Hubert (SPD) 5486 D. Frage des Abg. Dr. Bucher: Besetzung der deutschen Botschaft in Paris Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5487 A Frage des Abg. Lohmar: Äußerung des Abg. Gradl in der außenpolitischen Debatte des Bundestages am 10. Februar Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5487 A Lohmar (SPD) . . . . . . . . . 5487 B Frage des Abg. Dr. Werber: Nichtseßhaftenfürsorge Dr. Schröder, Bundesminister 5487 C, 5488 A Dr. Werber (CDU/CSU) . . . . . 5487 D Frage des Abg. Lohmar: Verhalten des Publizisten Schlamm Dr. Schröder, Bundesminister . . 5488 A, B Lohmar (SPD) . . . . . . . . 5488 A, B Frage des Abg. Dr. Arndt: Förderung Münchens als bayerische Landeshauptstadt durch dein Bund Lücke, Bundesminister 5488 C Frage des Abg. Baier (Mosbach): Erstellung von Kinderspielplätzen Lücke, Bundesminister . . 5488 D, 5489 B Baier (Mosbach) (CDU/CSU) . . . 5489 B II Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 102. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Februar 1960 Frage des Abg. Schmitt (Vockenhausen) : Steuerfreiheit bei Abwicklung von Geschäften über Gesellschaften mit dem Sitz in Vaduz Dr. Hettlage, Staatssekretär . . . 5489 C Schmitt (Vockenhausen) (SPD) . . . 5489 C Frage des Abg. Dr. Ratzel: Förderung des Ausbaus eines Ferngasnetzes durch die Bundesregierung Dr. Westrick, Staatssekretär . . . 5489 D Frage des Abg. Ludwig: Kündigung von 350 deutschen Arbeitern des französischen Militärbetriebs BRM zum Jahresende 1959 Dr. Hettlage, Staatssekretär . . . 5490 B Frage des Abg. Bauer (Würzburg) : Vorlage des Bundeswaffengesetzes für den zivilen Bereich durch die Bundesregierung Dr. Westrick, Staatssekretät 5490 D, 5491 A Bauer (Würzburg) (SPD) . . . . . 5491 A Frage des Abg. Dr. Bechert: Aufklärung der Käufer von Freibankfleisch Schwarz, Bundesminister . 5491 B, 5492 A Dr. Bechert (SPD) . . . 5491 C, 5492 A Frage des Abg. Seidel (Fürth): Weiterführung von Karteikarten aus der Zeit vor 1945 bei der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Blank, Bundesminister . . . . . 5492 B Seidel (Fürth) (SPD) 5492 C Frage des Abg. Jahn (Marburg) : Veröffentlichung von Urteilen im Bundesversorgungsblatt Blank, Bundesminister . 5492 D, 5493 A Jahn (Marburg) (SPD) 5493 A Frage des Abg. Brück: Beeinträchtigung des Königsforstes durch die geplante Bundesstraße 55 Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5493 B Frage des Abg. Brück: Linienführung der Umgehungsstraße von Bensberg zur B 55 Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5493 C Frage des Abg. Schmitt (VOckenhausen): Einführung von Parkscheiben Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5493 D Frage des Abg. Baier (Mosbach) : Unfälle auf der Autobahn Frankfurt— Mannheim und Mannheim—Heidelberg Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5494 B Frage des Abg. Hübner: Einrichtung einer 1. Klasse im Flugverkehr zwischen Berlin und dem Bundesgebiet Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5495 C Frage des Abg. Schmidt (Hamburg) : Besetzung der Radargeräte im Bereich der Bundesanstalt für Flugsicherung Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5495 D, 5496 B Schmidt (Hamburg) (SPD) . . . . 5496 A Große Anfrage der Fraktion der SPD betr. Neuregelung der sozialen Krankenversicherung (Drucksache 1298); verbunden mit Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetz — KVNG) (Drucksache 1540) — Erste Beratung — Rohde (SPD) 5497 A Blank, Bundesminister . 5498 D, 5527 A Stingl (CDU/CSU) 5508 B Dr. Schellenberg (SPD) 5517 B Dr. Stammberger (FDP) 5527 D Frau Kalinke (DP) 5532 C Dr. Franz (CDU/CSU) 5545 A Frau Dr. Hubert (SPD) 5547 C Schneider (Hamburg) (CDU/CSU) 5550 B Dr. Bärsch (SPD) . . . . . . . 5554 C Mischnick (FDP) . . . . . . . 5558 D Geiger (Aalen) (SPD) 5560 C Frau Korspeter (SPD) 5566 B Frau Döhring (Stuttgart) (SPD) . . 5568 A Ruf (CDU/CSU) . . . . . . . 5569 B Börner (SPD) 5571 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . 5572 D Anlage 5573 Deutscher Bundestag - 3. Wahlperiode — 102. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Februar 1960 5485 102. Sitzung Bonn, den 17. Februar 1960 Stenographischer Bericht Beginn: 9.03 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Frau Albertz 29. 2. Bauereisen 19. 2. Behrisch 18. 2. Benda 19. 2. Dr. Birrenbach 19. 2. Brand 19. 2. Brüns 2. 7. Deringer 19. 2. Eberhard 27. 2. Dr. Eckhardt 28. 2. Eilers (Oldenburg) 19. 2. Even (Köln) 29. 2. Frau Friese-Korn 27. 2. Geiger (München) 19. 2. D. Dr. Gerstenmaier 17. 2. Glüsing (Dithmarschen) 19. 2. Dr. Greve 17. 2. Dr. Gülich 16. 4. Haage 19. 2. Dr. von Haniel-Niethammer 19. 2. Hellenbrock 19. 2. Dr. Höck (Salzgitter) 20. 2. Horn 19. 2. Hübner 19. 2. Abgeordnete() beurlaubt bis einschließlich Illerhaus 17. 2. Jacobs 7. 3. Jahn (Frankfurt) 23. 4. Dr. Jordan 19. 2. Kalbitzer 19. 2. Frau Klemmert 15. 5. Koch 19. 2. Leukert 19. 2. Dr. Lindenberg 19. 2. Lulay 29. 2. Maier (Freiburg) 16. 4. Metzger 18. 2. Mühlenberg 19. 2. Müser 20. 2. Probst (Freiburg) 17. 2. Ramms 19. 2. Scheel 17. 2. Schlick 20. 2. Schultz 17. 2. Dr. Starke 19. 2. Dr. Steinmetz 19. 2. Wehr 23. 4. Frau Welter (Aachen) 27. 2. Werner 24. 2. Dr. Willeke 1. 3. b) Urlaubsanträge Frau Berger-Heise 27. 2. Dr. Leverkuehn 25. 2. Spitzmüller 8. 3.
Gesamtes Protokol
Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310200000
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Zunächst danke ich dem Hause für die heitere Freundlichkeit, mit der es mich begrüßt hat.

(Heiterkeit und Beifall.)

Dann habe ich einer freudigen Pflicht zu genügen. Der Kollege Wittmann ist am 15. Februar 65 Jahre alt geworden

(Beifall)

und, was mich überrascht hat, der Kollege Dr. Böhm am 16. Februar auch 65 Jahre.

(Beifall.)

Ich spreche den beiden hockgeschätzten Mitgliedern
unseres Hauses die herzlichsten Glückwünsche aus.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:.
Der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat unter dem 10. Februar 1960 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Getreideeinfuhren (Drucksache 1529) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 1619 verteilt.
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 15. Februar 1960 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. neue Personalausweise (Drucksache 1580) beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1629 verteilt.
Ich rufe auf Punkt 1 der Tagesordnung:
Fragestunde (Drucksache 1609).
Die Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verteidigung werden im Einverständnis mit den Fragestellern am Freitag aufgerufen.
Ich rufe auf die Frage des Abgeordneten Schneider (Bremerhaven) betreffend Filme mit antideutscher Tendenz im amerikanischen und kanadischen Fernsehen:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in amerikanischen und kanadischen Fernsehprogrammen nach wie vor Hetzfilme mit antideutscher Tendenz gezeigt werden, die ständig die freundschaftlichen Beziehungen der Bundesrepublik zu diesen Ländern zu untergraben versuchen?
Ist der Bundesregierung bekannt, daß vor allem die deutschamerikanische Bevölkerung ihrem Unmut über diese Hetzfilme in empörten Leserbriefen an die Tageszeitungen Luft macht, und welche Schritte kann die Bundesregierung bei den genannten Staaten unternehmen, um die weitere politische Brunnenvergiftung verhindern zu helfen?
Wer beantwortet die Frage?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310200100
Ich möchte zunächst auf die Antworten verweisen, die die Bundesregierung auf die diesbezüglichen Fragen des Herrn Abgeordneten in den Fragestunden des Bundestages am 23. April und 29. Oktober 1958 gegeben hat: daß die Vorführung der antideutschen Filme nicht so sehr auf eine gegen die Bundesrepublik gerichtete politische Tendenz, sondern vor allem auf rein kommerzielle Gründe zurückzuführen ist. Nicht zuletzt auf Grund der zahlreichen den Tageszeitungen zugegangenen Proteste aus deutschsprachigen Kreisen und der dadurch ausgelösten Diskussion in der Presse der Vereinigten Staaten und Kanadas ist die Zahl dieser unerwünschten Fernsehsendungen nach uns vorliegenden Informationen erfreulicherweise ständig zurückgegangen. Die Bundesregierung begrüßt diese spontanen Äußerungen amerikanischer Bürger. Ihre Proteste vermögen wirksamer zur Beseitigung dieses Übels beizutragen als offizielle Interventionen, deren Aussichtslosigkeit von vornherein feststeht, da die Regierungen der USA und Kanadas keine rechtliche Handhabe zur Verhinderung antideutscher Filmsendungen haben.

Herbert Schneider (CDU):
Rede ID: ID0310200200
Ich danke Ihnen.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310200300
Die Frage ist beantwortet. — Frage des Abgeordneten Schmitt (Vockenhausen) betreffend das Verhalten des Konsuls Karl Julius Hoffmann in New York:
Trifft die Pressemeldung zu, wonach der von New York nach Bonn versetzte Konsul Karl Julius Hoffmann in New York eine Abendgesellschaft gegeben hat, zu der er auch den früheren Konsul Hans von Saucken eingeladen hat? Ist es richtig, daß von Saucken nach den Worten der deutschsprachigen New Yorker Staatszeitung dort „gefeiert" wurde?
Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung, falls diese Meldungen zutreffen, gegen Konsul Hoffmann und andere Verantwortliche zu ergreifen?
Herr Staatssekretär!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310200400
Bei der in der Anfrage erwähnten Einladung handelte es sich um eine private Abschiedsgesellschaft des nach Bonn versetzten Konsuls Julius Hoffmann und nicht etwa um einen offiziellen Empfang des Generalkonsulats. Zu diesem Abschiedsabend hatte Konsul Hoffmann seinen großen New Yorker Bekanntenkreis geladen, darunter auch seinen früheren Kollegen, Herrn von Saucken. Es trifft nach unseren Nachrichten in keiner Weise zu, daß Herr von Saucken bei diesem Anlaß gefeiert worden sei.




Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310200500
Zusatzfrage!

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0310200600
Glauben Sie, Herr Staatssekretär, daß man bei einem Diplomaten so genau zwischen einer privaten Abschiedsgesellschaft und einer offiziellen Veranstaltung unterscheiden kann? Jedenfalls war das doch eine Art offizieller Verabschiedung von New York. Darüber hinaus, was Ihre Informationen betrifft: Haben Sie einmal bei der New Yorker Staatszeitung zurückgefragt, die diesen Bericht gebracht hat?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310200700
Herr Abgeordneter, ich glaube, die Unterscheidung zwischen privaten und offiziellen Veranstaltungen muß man sehr wohl machen. Es ist natürlich zuzugeben, daß der deutsche Auslandsbeamte immer in einem gewissen Maß im Lichte der Öffentlichkeit steht. Aber man kann ihm deswegen nun doch nicht jede private Betätigung verbieten.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0310200800
Die Rückfrage bei der Staatszeitung!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310200900
Darüber ist mir nichts bekannt, Herr Abgeordneter.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0310201000
Ich würde aber doch empfehlen, Herr Staatssekretär, zur vollen Aufklärung auch bei der Presse zurückzufragen. Es genügt doch nicht, nur bei der eigenen Behörde rückzufragen, sondern Sie sollten bei der Stelle rückfragen, die die Meldung in die Öffentlichkeit gebracht hat.

(Zurufe von der CDU/CSU: Das ist doch keine Frage!)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310201100
Meine Damen und Herren, ich bin soeben gebeten worden, einen Kommentar dazu zu geben, daß die Fragen 1 und 2 nicht aufgerufen wurden. Die Frage 1 — des Abgeordneten Schneider (Bremerhaven) — ist zurückgezogen worden. Die Frage 2 — desselben Kollegen —, die den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes betrifft, ist auf Wunsch des Herrn Außenministers zurückgestellt worden. Die Frage wird also wieder auf der Tagesordnung erscheinen.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310201200
Frage der Frau Abgeordneten Dr. Hubert betreffend Vorlage des Europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten an den Bundestag:
Sind mehr als 11 Monate der ,,übliche Zeitraum" für die Herstellung einer Kabinettsvorlage und der entsprechenden Drucksachen?
Wann wird das Europäische Übereinkommen zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, das entsprechend der Erklärung des Bundesministers des Auswärtigen vom 25. Februar 1959 „unverzüglich" den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet werden sollte, dem Bundestag vorgelegt werden?
Dazu Herr Staatssekretär bitte!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310201300
Herr Präsident! Die erste Frage der Frau Abgeordneten beantworte ich mit nein.
Zu der zweiten Frage folgendes: Anläßlich der Ausarbeitung der Gesetzesvorlage durch das Auswärtige Amt wurde festgestellt, daß von den Mitgliedstaaten des Europarates bisher nur vier, nämlich Dänemark, die Niederlande, Norwegen und Schweden, das Übereinkommen ratifiziert und daß von diesen zwei, nämlich die Niederlande und Schweden, anläßlich der Ratifikation Vorbehalte zu einzelnen Teilen des Übereinkommens gemacht haben. Die Bundesregierung hat sich daraufhin veranlaßt gesehen, sich durch eine Rundfrage bei den Regierungen der größeren Mitgliedstaaten des Europarates Klarheit über die Rechtswirkungen dieser Vorbehalte zu verschaffen und festzustellen, ob auch andere Mitgliedstaaten derartige Vorbehalte abzugeben beabsichtigen.
Auf Grund der Ergebnisse dieser Rundfrage wird das schwierige Problem der Vorbehalte zu diesem Übereinkommen gegenwärtig eingehend geprüft. Es wäre nach unserer Auffassung nicht zu verantworten, eine sachlich so schwierige Entscheidung ohne abschließende Klärung der rechtlichen und politischen Auswirkungen zu treffen. Ein Anlaß zu vorschnellem Handeln besteht um so weniger, als die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarates das Übereinkommen bisher noch nicht ratifiziert hat.
Die Vorlage des Übereinkommens wird erfolgen, sobald das Problem der Vorbehalte geklärt ist.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310201400
Eine Zusatzfrage!

Dr. Elinor Hubert (SPD):
Rede ID: ID0310201500
Herr Staatssekretär van Scherpenberg, sind Sie nicht aber doch der Meinung, daß die Bundesregierung diese rechtlichen Fragen schon hätte klären müssen, ehe das Übereinkommen überhaupt unterzeichnet wurde? Das Übereinkommen ist ja von der Bundesregierung unterzeichnet worden! Und sind Sie nicht auch der Meinung, daß es wichtig wäre, wenn die Bundesrepublik bei einem solchen Übereinkommen einmal voranginge? Man braucht ja nicht immer auf die anderen zu warten!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310201600
Ich glaube, man muß dabei berücksichtigen, daß ein Teil dieser rechtlichen Schwierigkeiten erst dadurch entstanden ist, daß einzelne Mitglieder diese Vorbehalte erst später, bei der Ratifikation, gemacht haben. Das war bei der Unterzeichnung des Abkommens natürlich nicht vorauszusehen, und daraus haben sich die zusätzlichen Prüfungen erst ergeben. Wir müssen natürlich wissen, ob auch noch andere Mitgliedländer Vorbehalte machen.

Dr. Elinor Hubert (SPD):
Rede ID: ID0310201700
Wie lange, glauben Sie, wird das noch dauern?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310201800
Da die Rundfrage beendet ist und wir die Ergebnisse jetzt überprüfen, hoffe ich, ohne hier Prophet sein zu wollen, daß die Vorlage in zwei bis drei Monaten so weit sein wird.




Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310201900
Die Frage ist beantwortet. — Frage des Abgeordneten Dr. Bucher betreffend Besetzung der deutschen Botschaft in Paris:
Wann gedenkt die Bundesregierung die deutsche Botschaft in Paris wieder mit einem aktionsfähigen Botschafter zu besetzen?
Herr Staatssekretär bitte!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310202000
Herr Präsident! Ich beantworte diese Frage dahin, daß die Bundesregierung eine Entscheidung treffen wird, sobald der Bundesgerichtshof über die in Karlsruhe anhängige Revision gegen das Urteil des Landgerichts Bonn entschieden haben wird.

(Hört! Hört! bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310202100
Die Frage ist beantwortet. — Frage des Abgeordneten Lohmar betreffend Äußerungen des Abgeordneten Gradl in der außenpolitischen Debatte des Bundestages vom 10. Februar:
Teilt die Bundesregierung die in der außenpolitischen Debatte des Bundestages am 10. Februar vorgetragene Meinung des Abgeordneten Gradl, daß es für christlich-demokratische Abgeordnete — also auch für den Herrn Bundeskanzler — beleidigend sei, zu unterstellen, daß sie eine solche Auffassung haben könnten, wie sie von dem Publizisten Schlamm vertreten wird, wonach die Sowjetunion die 1944/45 von ihr besetzten Gebiete freigeben würde, wenn man sie zu diesem Zwecke mit dem Atomkrieg bedrohe?
Herr Staatssekretär bitte!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310202200
Herr Präsident! Zur Frage der Wiedervereinigung mit der sowjetisch besetzten Zone und zur Frage der deutschen Ostgebiete hat die Bundesregierung immer wieder erklärt, daß sie ihre Ziele niemals mit Mitteln der Gewalt, sondern ausschließlich auf dem Wege einer friedlichen Verständigung verwirklichen will. Zuletzt hat Herr Bundesaußenminister von Brentano in der Beantwortung der Großen Anfrage der FDP am vergangenen Mittwoch erneut darauf hingewiesen. Es ist daher beleidigend, der Bundesregierung zu unterstellen, daß sie eine andere Auffassung haben könnte.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310202300
Eine Zusatzfrage!

Dr. Ulrich Lohmar (SPD):
Rede ID: ID0310202400
Herr Staatssekretär, darf ich das als eine klare Absage an die von mir zitierte These des Herrn Schlamm betrachten?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310202500
Das können Sie, Herr Abgeordneter.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310202600
Die Frage ist beantwortet.
Wir kommen zur Frage des Abgeordneten Dr. Werber betreffend die Fürsorge für die Nichtseßhaften:
Ist es richtig, daß die Zahl der oft verwahrlosten, als nicht seßhaft Registrierten jeden Alters und beiderlei Geschlechts, darunter viele Asoziale und Suchtgefährdete, die auf den Straßen der Bundesrepublik umherziehen, auf 300 000 geschätzt wird?
Ist der Bundesregierung bekannt, daß den örtlich unterstützenden Behörden, den karitativen Verbänden, den unablässig überlaufenen Pfarrhäusern und Familien das Almosengeben angesichts
des unsteten Wandels dieser Menschen und der ständig wachsenden Gefährdung sinnlos und sogar gefährlich erscheinen muß?
Genügt. die bisherige Gesetzgebung in Bund und Ländern zur Besserung dieses Problems?
Welche Erfahrungen sind mit der Wanderkarte, in die bereits erhaltene Unterstützungen eingetragen werden, gemacht worden?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister des Innern.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310202700
Herr Präsident! Die Antwort auf die vier Einzelfragen lautet wie folgt.
Zum ersten Punkt: Die Zahl 300 000 entspricht einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhaftenfürsorge nach einer in NordrheinWestfalen im März 1955 vorgenommenen Erfassung der Nichtseßhaften. Als betreuungsbedürftig sah die Bundesarbeitsgemeinschaft etwa 65 % dieses Personenkreises an. Inzwischen dürfte sich diese Zahl erheblich verringert haben.
Zum zweiten Punkt: Das Betteln ist nach § 361 Nr. 4 des Strafgesetzbuches unter Strafe gestellt. Da aber der einzelne Angebettelte sich meist scheut, den Bettler anzuzeigen, kann die Polizei dem Bettlerunwesen selten wirksam entgegentreten.
Zum dritten Punkt: Das geltende Fürsorgerecht ermöglicht auch für Nichtseßhafte ausreichende Leistungen zur Deckung des notwendigen Lebensbedarfs und zur Eingliederung in das Arbeitsleben. Daneben leisten die Verbände der freien Wohlfahrtspflege auf freiwilliger Basis wertvolle Hilfe, insbesondere durch Schaffung und Erhaltung geeigneter Einrichtungen, z. B. Auffangstellen und Heime. 1 Um die Hilfe für diese Personen zu fördern und eine gleichmäßige Handhabung der Fürsorge für Nichtseßhafte zu erleichtern, hat der Bundesminister des Innern am 22. Juli 1953 „Richtlinien über die Fürsorge für Nichtseßhafte" erlassen.
Die Bundesregierung wird dem Problem der Nichtseßhaften auch künftig ihre Aufmerksamkeit zuwenden und bemüht sein, durch entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen die Behebung der noch bestehenden Unzuträglichkeiten zu fördern.
Zum vierten Punkt: Das Wanderbuch hat einst den sogenannten geordneten Wanderer gegenüber den Herbergen zur Heimat und ähnlichen Einrichtungen ausgewiesen. Es muß heute als überholt angesehen werden, da es diesen Typ des „Wanderers" nicht mehr gibt. Dagegen unternehmen einzelne Kommunen, z. B. die Stadt Köln, zur Zeit Versuche mit der Einführung von Karten, die die Betreuung und Überwachung Obdachloser und Nichtseßhafter erleichtern sollen. Ein Erfahrungsbericht über dieses sogenannte „Kölner Verfahren" ist dem Bundesministerium des Innern zugesagt und wird ausgewertet werden.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310202800
Eine Zusatzfrage!

Dr. Friedrich Werber (CDU):
Rede ID: ID0310202900
Herr Innenminister, sind Sie bereit, diese Frage auch der nächsten Konferenz der Innenminister der Länder zur Beratung zu empfehlen?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310203000
Heil Kollege Werber, die Behandlung dieses Themas wird von der Bereitwilligkeit der Innenminister der Länder abhängen. Ich will aber gern einmal in diesem Sinne mit den Herren Fühlung nehmen.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310203100
Die Frage ist beantwortet. Wir kommen zur Frage des Abgeordneten Lohmar betreffend das Verhalten des Publizisten Schlamm:
Teilt die Bundesregierung die in der außenpolitischen Debatte des Bundestages am 10. Februar von dem Abgeordneten Erler vertretene Meinung, daß die Tätigkeit des Publizisten Schlamm in der Bundesrepublik unter den Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes fällt, der lautet:
„Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen."?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310203200
Herr Präsident! Die Antwort lautet wie folgt:
Die Bundesregierung hat bisher weder Anlaß noch Gelegenheit gehabt, sich mit der von dem genannten Abgeordneten in der außenpolitischen Debatte geäußerten Meinung zu befassen. Soweit ich selbst in Frage komme, sehe ich zur Zeit keinen Anlaß, das zu tun.

Dr. Ulrich Lohmar (SPD):
Rede ID: ID0310203300
Herr Minister, sind Sie nicht der Auffassung, daß die enge Tuchfühlung zwischen Abgeordneten der Mehrheit dieses Hauses und Herrn Schlamm ein hinreichender Anlaß für die Bundesregierung wäre, sich damit zu beschäftigen?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310203400
Herr Kollege, von der von Ihnen gerade behaupteten engen Bindung ist mir nichts bekannt.

(Lachen bei der SPD.)

— Meine Damen und Herren, ich kann nicht über Ihr Wissen, sondern nur über mein Wissen aussagen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Selbst die enge Bindung von Abgeordneten zu anderen Privatpersonen ist noch nicht schlechthin für die Bundesregierung ein Anlaß, sich mit der von Ihnen aufgeworfenen Frage zu beschäftigen.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310203500
Eine Zusatzfrage!

Dr. Ulrich Lohmar (SPD):
Rede ID: ID0310203600
Herr Minister, sind Sie bereit, Material, das wir Ihnen dazu gern zuleiten werden, aufmerksam zu prüfen?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310203700
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das etwas präzisieren würden. Zu welcher Frage, der Verbindung von Abgeordneten der Mehrheitspartei mit einem bestimmten Herrn? Das Material werde ich, soweit meine Pflichten dazu Anlaß geben, sicherlich gern prüfen.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310203800
Die Frage ist beantwortet. Wir kommen zur Frage des Abgeordneten Dr. Arndt betreffend Förderung Münchens als bayerische Landeshauptstadt durch den Bund:
Macht die Bundesregierung oder ein Bundesministerium Entscheidungen, Planungen, Leistungen oder Aufträge, von denen die bayerische Landeshauptstadt München unmittelbar oder mittelbar einen Vorteil oder eine Hilfe hätte, davon abhängig, daß der Kandidat der Christlich Sozialen Union, Herr Dr. Josef Müller, zum Oberbürgermeister gewählt wird?
Haben amtliche Stellen des Bundes darüber mit Herrn Dr. Müller Besprechungen geführt oder ihm für den Fall seiner Wahl eine besondere Hilfeleistung zugunsten von München in Aussicht gestellt oder zugesagt, die nicht auch gewährt würde, wenn der Kandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Herr Dr. Vogel, gewählt wird?
Wird sich die Bundesregierung in keiner Weise davon beeinflussen lassen, wer Oberbürgermeister von München wird, sondern bei allen ihren Maßnahmen, die der Stadt München zugute kommen, im Hinblick auf die Artikel 64 Abs. 2 und 56 GG sich ausschließlich von sachlichen Erwägungen und dem Wunsch leiten lassen, München als die Hauptstadt Bayerns zu fördern?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister für Wohnungsbau!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310203900
Ich darf die Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt unter a) im Namen der Bundesregierung mit Nein beantworten.
Die Frage b) darf ich ebenfalls mit Nein beantworten.
Zur Frage c) erübrigt sich eine Antwort, da es für die Bundesregierung selbstverständlich ist, die Verfassung zu achten.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310204000
Ich bitte einige Seiten zu überschlagen, damit der Bundesminister für Wohnungsbau nicht gezwungen ist, länger hierzubleiben. Wir kommen zur Frage des Abgeordneten Baier (Mosbach) betreffend die Erstellung von Kinderspielplätzen:
Was hat das Bundeswohnungsbauministerium bisher getan, um bei Neubauten und auch bei Altbauten die Erstellung von Kinderspielplätzen zu fördern?
Hat das Bundeswohnungsbauministerium geprüft, ob in den Richtlinien für den Einsatz von Wohnungsbaumitteln (bei Neubauvorhaben und Modernisierung und Instandsetzung von Altbauten) entsprechende Auflagen vorgenommen und gegebenenfalls zusätzliche Mittel hierfür eingestellt werden könnten?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310204100
Ich darf die Frage des Herrn Abgeordneten Baier (Mosbach) wie folgt beantworten.
Bereits seit dem Jahre 1957 enthalten die jährlichen Richtlinien für den Einsatz der Bundesmittel für den sozialen Wohnungsbau eine Auflage an die Länder, wonach bei größeren Bauvorhaben ausreichende Spiel- und Erholungsanlagen und bei anderen Bauvorhaben nach Möglichkeit Spielgelegenheiten für Kinder vorgesehen werden sollen. Die Kosten für die Schaffung dieser nicht öffentlichen Kinderspielplätze oder Kinderspielgelegenheiten gehören zu den Gesamtkosten eines Bauvorhabens, zu deren Deckung die öffentlichen Mittel des sozialen Wohnungsbaus herangezogen werden können.
In diesem Zusammenhang darf ich auf die Beispiele für neue Städte- und Siedlungsformen in von mir geförderten Demonstrativbauvorhaben, wie u. a. in Sennestadt, Nürnberg-Langwasser, KarlsruheWaldstadt, hinweisen. In diesen Städten ist auch die Frage der richtigen Einplanung und Anlage von



Bundesminister Lücke
Kinderspielplätzen gelöst. Ferner hat das Wohnungsbauministerium in den Jahren 1957 und 1958 Wettbewerbe gefördert, in denen vorbildliche Anlagen von Kinderspielplätzen ausgezeichnet wurden.
Schließlich wird in den Bauordnungen der Länder - für die von den Ländern und dem Wohnungsbauministerium gemeinsam der Entwurf einer Musterbauordnung aufgestellt worden ist — vorgesehen werden, daß bei Errichtung von Gebäuden mit mehr als drei Wohnungen auf dem Grundstück Spielgelegenheiten für Kinder vorgesehen werden müssen. Die Größe der Kinderspielplätze richtet sich nach Zahl und Art der Wohnungen. Dieses Erfordernis gilt auch für die bestehenden Gebäude, wenn dies mit Rücksicht auf die Gesundheit oder zum Schutze der Kinder geboten ist.
Darüber hinaus werden alle mit der Grünflächenplanung zusammenhängenden Fragen in einem von mir in jüngster Zeit berufenen Beirat geprüft.
Zur Frage b) : Über die Förderungsrichtlinien für den sozialen Wohnungsbau habe ich bereits Ausführungen gemacht. Die Maßnahmen zur Modernisierung und Instandsetzung des Althausbesitzes erstrecken sich nur auf die Gebäude selbst. Die Anlage von Kinderspielplätzen ist also eine selbständige Aufgabe, die nicht in den Rahmen dieser Förderungsmaßnahmen fällt.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310204200
Eine Zusatzfrage!

Fritz Baier (CDU):
Rede ID: ID0310204300
Herr Minister, darf ich Sie so verstehen, daß Sie in den Richtlinien zur Förderung von Neubauvorhaben in Zukunft eine zum Bau von Kinderspielplätzen verpflichtende Formulierung bringen werden?
Darf ich bezüglich der Altbauvorhaben fragen: Wenn es nicht im Rahmen der Modernisierungsmaßnahmen möglich ist, könnten Sie einmal prüfen, wie es in Dänemark gehandhabt wird, wo entsprechende baurechtliche Bestimmungen bestehen und wo tatsächlich Hilfe geleistet wurde, zumal diese Frage bei Altbauten dringlicher erscheint als bei Neubauten?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310204400
Die letzte Frage wird geprüft. Zur ersten Frage verweise ich auf die zu erlassende Musterbauordnung.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310204500
Die Frage ist beantwortet.
Nunmehr kommen wir zu Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen.
Frage des Abgeordneten Schmitt (Vockenhausen) betreffend Steuerfreiheit der Abwicklung von Geschäften über Gesellschaften mit dem Sitz in Vaduz:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeiten folgender in der Tageszeitung „Die Welt" vom 2. Januar 1960 auf Seite 13 erschienener Anzeige:
„Fast völlige Steuer-Freiheit durch Abwicklung O. Vaduz. Seriöse AG., ohne Aktiva u. Passiva, mit sehr günstiger Steuerpauschale z, verk. Nur ser. Ang. unter PL 20 181 Welt, Frankfurt.?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310204600
Herr Abgeordneter, ich darf Ihre Frage beantworten:
Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Liechtenstein besteht ein ungewöhnlich steiles Steuergefälle. Das bringt es mit sich, daß immer wieder Steuerpflichtige versuchen, der inländischen Belastung durch bestimmte Maßnahmen auszuweichen. Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Liechtenstein besteht zur Zeit weder ein Doppelbesteuerungsabkommen noch ein Vertrag über die Gewährung von Rechts- und Amtshilfe in Abgabensachen.
Wenn die Finanzverwaltung von unerlaubten Steuerumgehungen oder Steuerverkürzungen etwas erfährt, ist sie nach dem Gesetz verpflichtet, den Verdachtsmomenten nachzugehen. Das haben wir auch in dem von Ihnen erwähnten Falle getan und den zuständigen Landesfinanzminister von Hessen gebeten, entsprechende Feststellungen zu treffen.
Im übrigen, Herr Abgeordneter, habe ich eine zusätzliche Information für Sie hier in der Hand. Ich möchte von der Regierungsbank aus keine Steuerfluchttips geben.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310204700
Eine Zusatzfrage.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0310204800
Sehen Sie in absehbarer Zeit, Herr Staatssekretär, die Möglichkeit, die Lücke, von der Sie gesprochen haben, zu schließen?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310204900
Wir werden uns darum bemühen. Aber aus naheliegendem Interesse ist es bisher nicht dazu gekommen.

(Abg. Schmitt [Vockenhausen] : Danke schön!)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310205000
Die Frage ist beantwortet.
Fragen aus dem Bereich des Bundesministers für Wirtschaft.
Frage des Abgeordneten Dr. Ratzel betreffend Förderung des Ausbaues eines Ferngasnetzes durch die Bundesregierung:
Sind die Nachrichten zutreffend, daß die Bundesregierung beabsichtigt, mit Bundesmitteln den Ausbau eines Ferngasnetzes zu fördern?
Wenn ja, welches sind die Motive für dieses Vorhaben?
Warum hat dann die Bundesregierung kürzlich die beiden ehemaligen „Reichsleitungen" Ludwigshafen—Worms und Rüsselsheim—Mannheim veräußert?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310205100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesminister für Wirtschaft prüft die Möglichkeiten des Ausbaues eines Ferngasnetzes zur Sicherstellung der Gasversorgung, besonders als Notstandsprogramm für die Bevölkerung des Bundesgebietes. Der Bundesminister für Wirtschaft und der Bundesminister für wirtschaftlichen Besitz ,des Bundes haben aus diesem Grunde die Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks-AG gebeten, die versorgungstechnischen



Staatssekretär Dr. Westrick
und wirtschaftlichen Probleme einer großräumigen Gasversorgung im Rahmen eines Arbeitskreises unter Beteiligung von Vertretern der Bundesregierung und der Regierungen der Länder zu beraten. Über die Frage, ob der Ausbau eines Ferngasnetzes mit Bundesmitteln gefördert werden soll, kann deshalb, da die Vorarbeiten noch nicht abgeschlossen sind, zur Zeit noch nicht berichtet werden.
Die sogenannten „Reichsleitungen" FrankenthalWorms und Rüsselsheim-Viernheimerheide wurden während des Krieges mit Mitteln des Reiches gebaut, und zwar, um eine Verbindung der Kokereizentren an der Saar und an der Ruhr zu erreichen.
Das Eigentum an diesen Leitungen brachte dem Bund keinerlei unmittelbaren Nutzen; im Gegenteil, der Wert ,der Leitungen verringerte sich mit zunehmendem Alter von Jahr zu Jahr. Die Leitungen waren ohne Erhebung einer Durchleitungsgebühr verpachtet. Die Veräußerung ermöglichte es, dieses Bundesvermögen zu angemessenen Bedingungen in private Hand überzuführen.
Die Verbindung zwischen den beiden Kokereigaszentren an der Saar und an ¡der Ruhr ist durch die Veräußerung der Leitungen unberührt geblieben.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310205200
Keine Zusatzfrage. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, zurückzublättern. Ich habe eine Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen übersehen, die Frage des Abgeordneten Ludwig betreffend Kündigung von 350 deutschen Arbeitern des französischen Militärbetriebs BRM zum Jahresende 1959:
Welche Stellung bezieht die Bundesregierung zur Notiz des „Evangelischen Sonntagsblattes" vom 17. Januar 1960, in Bonn sei man nach einer Behauptung des französischen Kriegsministeriums damit einverstanden gewesen, daß in Kaiserslautern rund 350 deutschen Arbeitern des französischen Militärbetriebs BRM zum Jahresende 1959 in der Absicht gekündigt worden sei, die im Januar 1960 fällige ,,Treue-Prämie" von 5 v. H. des Bruttoverdienstes aus fünfjähriger Tätigkeit als Militärbediensteter Frankreichs zu umgehen?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310205300
Ich darf die Frage über die Auszahlung von Treuegeldern an Arbeitnehmer einer französischen Reparaturwerkstatt in Kaiserslautern kurz beantworten:
Das französische Reparaturwerk 251 BRM in Kaiserslautern ist im Zuge einer organisatorischen Planung der französischen Stationierungskräfte am 31. Dezember des abgelaufenen Jahres aufgelöst worden. Der Arbeitnehmerschaft war diese Tatsache bereits seit der ersten Jahreshälfte 1959 bekannt. Die Kündigungen sind so frühzeitig ausgesprochen worden, daß die tarifvertraglichen Kündigungsfristen in vielen Fällen wesentlich überschritten wurden.
Die Bundesregierung kann Entlassungsmaßnahmen der Stationierungsstreitkräfte nicht beeinflussen, da diese zu den ausschließlichen Arbeitgeberrechten der Beschäftigungsdienststellen gehören. Der Bundesminister der Finanzen ist jedoch von seiten der Industriegewerkschaft Metall und vom Betriebsratsvorsitzenden des Betriebes davon unterrichtet worden, daß zugunsten der betroffenen Arbeitnehmer beim Hauptquartier der französischen
Stationierungsstreitkräfte und beim französischen Kriegsministerium in Paris eine Ausnahmegenehmigung zur vorzeitigen Auszahlung der Treuegeldzuwendungen schon vor dem 1. Februar 1960 beantragt worden sei. Diese Treuegeldzuwendungen werden seit dem 1. Februar 1960 allen Arbeitnehmern mit mindestens fünf Beschäftigungsjahren gewährt, wenn sie nach diesem Zeitpunkt ausscheiden, Die Zuwendung beträgt 2 v. H. des Bruttoverdienstes in der Beschäftigungszeit.
Die Bemühungen der Gewerkschaft und des Betriebsrates sind fehlgeschlagen, weil für die am Ende des Jahres aufgelöste Reparaturwerkstatt Haushaltsmittel nur bis zum 31. Dezember zur Verfügung standen.
Gegen die langfristig geplante Auflösung des Betriebes selbst konnten von deutscher Seite Bedenken nicht geäußert werden, da hierfür allein das französische Kriegsministerium in Paris zuständig ist.
Nachdem der Antrag der deutschen Betriebsvertretung und der Gewerkschaft auf vorzeitige Gewährung eines Treuegeldes durch das französische Kriegsministerium abgelehnt worden war, hat sich das Bundesfinanzministerium beim französischen Hauptquartier im Einvernehmen mit allen Beteiligten dafür eingesetzt, daß den am 31. Dezember 1959 zu entlassenden Arbeitnehmern eine andere Vergünstigung, und zwar in Form einer bezahlten Freizeit, gewährt werde. Diesem Vorschlag des Bundesfinanzministeriums hat das französische Hauptquartier entsprochen. Dadurch haben alle Arbeitnehmer im Dezember 1959 mindestens 11 Tage zusätzlichen bezahlten Urlaub erhalten.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310205400
Keine Zusatzfrage; die Frage ist beantwortet.
Frage des Herrn Abgeordneten Bauer (Würzburg) betreffend Vorlage des Bundeswaffengesetzes für den zivilen Bereich durch die Bundesregierung:
Wie weit sind die ministeriellen Vorarbeiten zur Vorlage eines Bundeswaffengesetzes für den zivilen Bereich — Bestimmungen hinsichtlich Herstellung und Vertrieb von Waffen sowie Kontrolle der Waffengeschäfte — gediehen?
Wird die Bundesregierung den Gesetzentwurf noch so rechtzeitig vorlegen, daß er in der laufenden Legislaturperiode von den gesetzgebenden Körperschaften verabschiedet werden kann?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310205500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Neufassung des sogenannten „zivilen Waffengesetzes" von 1938 ist zu berücksichtigen, daß dieses Gesetz bundesrechtliche und landesrechtliche Vorschriften enthält. Die bundesrechtlichen Vorschriften beziehen sich auf die Herstellung, die Reparatur von Waffen und auf den Waffenhandel. Demgegenüber fallen die Vorschriften über den Waffenerwerb, die Waffenführung in die Zuständigkeit der Länder.
Im Bundeswirtschaftsministerium ist im Einvernehmen mit dem Bundesinnenministerium inzwischen ein Entwurf der bundesrechtlichen Vorschriften des Waffengesetzes erarbeitet worden. Andererseits hat die Waffenrechtskommission des Arbeitskreises II der Arbeitsgemeinschaft der



Staatssekretär Dr. Westrick
Innenministerien der Länder den Entwurf eines Mustergesetzes erstellt, das die Vorschriften über den Waffenerwerb und die Waffenführung enthält. Beide Entwürfe müssen aufeinander abgestimmt werden.
Die Erörterungen zwischen den beteiligten Referenten auf Bundes- und Landesebene konnten noch nicht abgeschlossen werden. Die Bundesregierung ist bemüht, den Entwurf des bundesrechtlichen Teiles des Waffengesetzes dem Bundestag so rechtzeitig vorzulegen, daß er noch in der laufenden Legislaturperiode verabschiedet werden kann.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310205600
Zusatzfrage!

Hannsheinz Bauer (SPD):
Rede ID: ID0310205700
Sind Sie in der Lage, Herr Staatssekretär, etwas darüber auszusagen, ob und wieweit sich im Rahmen der Bundeszuständigkeit eine Verschärfung der Bestimmungen hinsichtlich des Vertriebs von Waffen, also hinsichtlich der Waffengeschäfte, ermöglichen lassen wird?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310205800
Der Waffenhandel fällt unter bundesrechtliche Vorschriften. Gerade bezüglich dieser Bestimmungen werden zur Zeit die Referentenentwürfe gegenseitig ausgetauscht, damit die Übereinstimmung zwischen Land und Bund herbeigeführt werden kann. Es ist jedenfalls beabsichtigt, eine gewisse Verschärfung der Bestimmungen durchzuführen, auch was die landesrechtlichen Vorschriften über die Waffenführung anlangt. Die Vorschriften über Waffenhandel und Waffenführung sollen soweit wie möglich in Übereinstimmung gebracht werden.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310205900
Die nächste Frage — Herr Abgeordneter Dr. Bechert — betrifft Aufklärung der Käufer von Freibankfleisch:
Ist dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten bekannt, daß das in Freibanken an die Bevölkerung verkaufte Fleisch zu etwa 75 v. H. von kranken, meist tuberkulösen Tieren stammt, und daß die Kaufenden nur durch Schilder wie etwa „Wir bitten, das Fleisch in gut durchkochtem Zustand zu verwenden" gemahnt, aber nicht wirklich darüber belehrt werden, daß es sich meist um tuberkulöses Fleisch handelt?
Was gedenkt die Bundesregierung zur Aufklärung der Bevölkerung zu tun?
Herr Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten!

Werner Schwarz (CDU):
Rede ID: ID0310206000
Die Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Bechert darf ich wie folgt beantworten:
Nach der amtlichen Fleischbeschaustatistik des Statistischen Bundesamts beträgt der Anteil des Freibankfleisches am jährlichen Gesamtaufkommen von Fleisch 0,75 %. Rund 75 % dieses Freibankfleisches stammen von gesunden Tieren, rund 25 % von erkrankt gewesenen Tieren. Nur ein Drittel dieser 25 % ist Fleisch von Tieren, die in irgendeiner Form an Tuberkulose erkrankt waren.
Nach den Vorschriften des Fleischbeschaugesetzes müssen alle erkrankten und veränderten Teile eines Tierkörpers als zum Genuß für Menschen untauglich erklärt, beschlagnahmt und der unschädlichen Beseitigung zugeführt werden, Werden Teile eines Tierkörpers wegen tuberkulöser Erkrankung beschlagnahmt und beseitigt, so müssen alle nicht veränderten Teile dieses Tierkörpers vor dem Verkauf so erhitzt werden, daß etwa im Fleisch vorhandene Krankheitserreger mit Sicherheit abgetötet werden. Dieses Fleisch darf also nur in gekochtem Zustand an den Verbraucher abgegeben werden. Eine Abgabe in rohem Zustand ist verboten.
Fleisch gesunder Tiere, das bestimmte qualitative Mängel aufweist, darf ebenfalls nur unter polizeilicher Aufsicht über Freibanken verkauft werden. Da dieses Fleisch gesundheitlich unbedenklich ist, darf es auch in rohem Zustand abgegeben werden.
Beim Verkauf von Freibankfleisch muß der Käufer über den Grund, der zur Beanstandung des Fleisches bei der Fleischbeschau führte, unterrichtet werden.
Die Durchführung der fleischbeschaugesetzlichen Vorschriften obliegt den nach Landesrecht zuständigen Behörden. Um die der Frage eventuell zugrunde liegenden Mängel durch die zuständigen Landesbehörden abstellen lassen zu können, wäre ich für die Überlassung des Ihnen, Herr Dr. Bechert, zur Verfügung stehenden Materials dankbar.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310206100
Eine Zusatzfrage!

Dr. Karl Bechert (SPD):
Rede ID: ID0310206200
Herr Minister, ist Ihnen bewußt, daß Ihre Antwort etwa im Stil des Morgensternschen „daß nicht sein kann, was nicht sein darf" formuliert ist?

Werner Schwarz (CDU):
Rede ID: ID0310206300
In keiner Weise, Herr Abgeordneter!

Dr. Karl Bechert (SPD):
Rede ID: ID0310206400
Ich bin mit meiner Frage noch nicht am Ende. Wird sich die Regierung mit Äußerungen von Sachverständigen beschäftigen, aus denen hervorgeht, daß Ihre Angaben ein viel zu günstiges Bild der wirklichen Lage ergeben? Ist der Bundesregierung z. B. bekannt, daß in einem Schlachtviehhof einer sehr großen Großstadt der Bundesrepublik das von den Knochen gelöste Fleisch, das sogenannte ausgebeinte Fleisch, von knochentuberkulösen Tieren an die Metzgermeister zum Verkauf in den Läden zurückgegeben wird und daß die Metzger nicht gezwungen sind, den Käufern bekanntzugeben, daß es sich um Fleisch von tuberkulösen Tieren handelt?

Werner Schwarz (CDU):
Rede ID: ID0310206500
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, Herr Abgeordneter Dr. Bechert, daß die Durchführung des Fleischbeschaugesetzes Aufgabe der Länder ist. Sollten Sie — ich habe darum gebeten — uns Gelegenheit geben, daß Ihnen zur Verfügung stehende Material zu prüfen, so dürften Mängel, die eventuell bestehen könnten, sofort beseitigt werden. Ich bin aber der Überzeugung, daß die Landesregierungen von sich aus alles tun, daß derartige Mißstände nicht auftreten.




Dr. Karl Bechert (SPD):
Rede ID: ID0310206600
Eine weitere Zusatzfrage: Läßt sich nach Ihrer Meinung, Herr Minister, diese erstaunliche Nachlässigkeit in der Aufklärung der Bevölkerung, die sich für mehrere Stellen in der Bundesrepublik nachweisen läßt — im Gegensatz zu der Sorgfalt bei der Kontrolle der Milch auf tuberkulöse Beimengungen —, darauf zurückzuführen, daß das Vieh beim Bauern in der Regel gegen den Ausfall durch Krankheit versichert ist und daß die Versicherung 100 % der Versicherungssumme zahlen muß, wenn das Tier wegen Krankheit getötet und das Fleisch vernichtet wird, daß die Versicherung dagegen nur 60 % der Versicherungssumme zahlen muß, wenn das Fleisch des kranken Tieres auf der Freibank verkauft wird?

Werner Schwarz (CDU):
Rede ID: ID0310206700
Ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß die Versicherungsgesellschaften irgendeinen Einfluß nehmen oder überhaupt nehmen können; denn die Fleischbeschau ist Angelegenheit beamteter Tierärzte, so daß für eine Einflußnahme kein Raum ist. Die Versicherungsgesellschaften haben daher keine Einflußnahme auf die Preisgestaltung.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310206800
Die Fragen sind beantwortet.
Frage des Abgeordneten Seidel (Fürth) betreffend Weiterführung von Karteikarten aus der Zeit vor 1945 bei der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß bei der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung noch 24 Millionen Karteikarten aus der Zeit vor 1945 vorhanden sind und heute noch weitergeführt werden?
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Selbstverwaltungsorgane der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung einstimmig beschlossen haben, diese Kartei aufzugeben und daß nur das Bundesarbeitsministerium dagegen Einspruch erhoben hat?
Billigt die Bundesregierung den Einspruch des Bundesarbeitsministeriums? Wenn ja, welchem Zweck soll die Kartei noch dienen, und auf welche rechtliche Grundlage stützt sich die Aufrechterhaltung der Kartei aus der Nazizeit?

Theodor Blank (CDU):
Rede ID: ID0310206900
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist bekannt, daß bei der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung eine Arbeitnehmerkartei geführt wird, in der sich die Karteikarten von rund 20,5 Millionen Arbeitnehmern befinden, die in Beschäftigung stehen oder bei den Arbeitsämtern arbeitsuchend gemeldet sind. Von den Karteikarten stammt nach 20 Jahren naturgemäß nur eine verschwindend kleine Anzahl aus der Zeit vor 1945.
Es trifft zu, daß die Selbstverwaltungsorgane der Bundesanstalt beschlossen hatten, ,die Beschäftigtenkartei abzuschaffen und als ruhende Vermittlungskartei zu belassen. Da die Bundesregierung auf einen ständigen Überblick über den Stand und die Struktur der Beschäftigung nach Wirtschaftszweigen, Bezirken und Geschlechtern nicht verzichten kann, hat mein Vorgänger am 21. März 1956 und am 11. April 1957 der Bundesanstalt den Auftrag gegeben, weiterhin für die laufende statistische Berichterstattung in der üblichen räumlichen und fachlichen Gliederung Sorge zu tragen; hierfür sei die
Aufrechterhaltung der Beschäftigtenkartei unerläßlich. Nach den bisherigen Feststellungen ist eine gleichwertige statistische Berichterstattung ohne Arbeitnehmerkartei nicht möglich.
Die rechtlichen Grundlagen der Arbeitnehmerkartei ergeben sich aus § 202 in Verbindung mit § 53 AVAVG. Nach § 202 AVAVG hat die Bundesanstalt regelmäßig Berichte über Beschäftigung und Arbeitslosigkeit von Arbeitnehmern zu veröffentlichen und aus den in ihrem Geschäftsbereich anfallenden Unterlagen die hierfür erforderlichen Statistiken zusammenzustellen.

Max Seidel (SPD):
Rede ID: ID0310207000
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß auf diesen Karteikarten heute noch z. B. die Vermerke über die politische Unzuverlässigkeit mancher Arbeitnehmer aus den Jahren 1934 bis 1945 enthalten sind?

Theodor Blank (CDU):
Rede ID: ID0310207100
Herr Abgeordneter, das ist mir nicht bekannt. Hätten Sie aber in Ihrer Anfrage diesen Umstand erwähnt, wäre ich dem nachgegangen. Ich werde das jetzt tun.

Max Seidel (SPD):
Rede ID: ID0310207200
Herr Minister, darf ich Ihre Antwort dahin verstehen, daß bei der Fortführung der Kartei nicht an die Anlegung eines Grundstocks für eine eventuell geplante Arbeitseinsatzbehörde gedacht ist?

Theodor Blank (CDU):
Rede ID: ID0310207300
Das kann ich Ihnen bestätigen: es ist nicht daran gedacht.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310207400
Frage des Abgeordneten Jahn betreffend Veröffentlichung von Urteilen im Bundesversorgungsblatt:
Hat der Herr Bundesarbeitsminister die Weisung erteilt, Urteile, denen er nicht zustimmen könne, künftig nicht mehr im Bundesversorgungsblatt zu veröffentlichen?
Falls die Frage bejaht werden muß: Ist der Herr Bundesminister der Auffassung, daß eine derartige Verfahrensweise sich mit dem Grundgesetz vereinbaren läßt?
Womit will der Herr Bundesminister den Vorrang der Verwaltung vor der rechtsprechenden Gewalt rechtfertigen?

Theodor Blank (CDU):
Rede ID: ID0310207500
Herr Abgeordneter, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten.
Das Bundesversorgungsblatt wird als Beilage zum Bundesarbeitsblatt vom Bundesarbeitsministerium als Mitteilungsblatt für die Kriegsopferversorgung herausgegeben. Es enthält die wichtigsten Rundschreiben des Bundesarbeitsministeriums, Mitteilungen, Aufsätze, Berichte und Übersichten. Seit Schaffung der Sozialgerichtsbarkeit ist ihm auch ein Rechtsprechungsteil angegliedert. Er enthält Urteile, die die Kriegsopferversorgung betreffen und die Verwaltungspraxis besonders interessieren. Bei der Auswahl der Urteile werden im allgemeinen die vom Standpunkt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung am geeignetsten erscheinenden berücksichtigt. Dies geschieht aus Zweckmäßigkeitsgründen. Das Bundesversorgungsblatt dient in erster Linie als Informationsquelle für die Behörden der Kriegsopferversorgung. Bei Entscheidungen, die im



Bundesarbeitsminister Blank
Bundesversorgungsblatt ohne kritische Anmerkung veröffentlicht werden, gehen diese Behörden oft davon aus, daß sie der Auffassung des Bundesministers für Arbeit entsprechen. Abweichende Urteile mit kritischen Bemerkungen zu versehen, erscheint bisweilen untunlich; die Diskussion von rechtlichen Zweifelsfragen sollte im großen und ganzen den Fachzeitschriften überlassen bleiben. Dieses Verfahren steht mit den Vorschriften des Grundgesetzes, insbesondere mit dem Artikel 20, der den Grundsatz der Trennung der Gewalten ausspricht, nicht in Widerspruch, denn es stellt angesichts der sonstigen zahlreichen Informationsquellen keinen Eingriff in die Rechtsprechung oder eine Beeinflussung dar; es legt auch keinen Vorrang der Verwaltung gegenüber der rechtsprechenden Gewalt fest.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310207600
Eine Zusatzfrage? — Bitte.

Gerhard Jahn (SPD):
Rede ID: ID0310207700
Herr Minister, sind Sie nicht der Auffassung, daß es zur ordnungsgemäßen Arbeit der Verwaltung notwendig ist, daß diese auch solche Urteile kennenlernt, die nicht der Auffassung Ihres Hauses entsprechen, und sich bei ihrer Tätigkeit an diese Urteile hält?

Theodor Blank (CDU):
Rede ID: ID0310207800
Ich darf die Zusatzfrage wie folgt beantworten. Auch zu Urteilen, die von der Auffassung des Bundesministers für Arbeit abweichen, hat er vielfach Stellung dahin zu nehmen, ob dem Urteil gefolgt werden soll oder ob es angezeigt erscheint, abzuwarten, bis andere Senate des Bundessozialgerichts oder der Große Senat ebenfalls Entscheidungen treffen. Dies geschieht aber dann außerhalb des Bundesversorgungsblattes, z. B. durch Rundschreiben oder Besprechungen mit den Vertretern der Länder, die ja das Bundesversorgungsgesetz in eigener Verantwortung durchführen.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310207900
Die Frage ist beantwortet. Wir kommen jetzt zu der Frage des Abgeordneten Brück betreffend die Beeinträchtigung des Königsforstes durch die geplante Bundesstraße 55:
Sind die Befürchtungen berechtigt, daß durch die vorgesehene Einplanung der Bundesstraße 55 im Raum Köln der Königsforst stark in Mitleidenschaft gezogen wird, der doch in absehbarer Zeit Naturschutzpark werden soll?

Dr. Hans-Christoph Seebohm (CDU):
Rede ID: ID0310208000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es werden von der Stadt Köln und vom Landschaftsverband Rheinland des Landes Nordrhein-Westfalen zur Zeit Untersuchungen über eine mögliche neue Linienführung der Bundesstraße 55 auf dem Abschnitt zwischen Köln-Deutz und Overath durchgeführt. Hierbei handelt es sich vorerst nur um vorsorgliche Planungen, deren Ergebnis noch nicht zu übersehen ist. Ergänzende verkehrsstrukturelle Untersuchungen im Zusammenhang mit der Bedeutung der B 55 als Zubringerstraße zu der geplanten Autobahn Hagen–Siegen–Gießen werden dabei durchgeführt werden müssen.
Nach dem bisherigen Sachstand hält sich die In
anspruchnahme von Landschaftsschutzgelände im Königsforst in erträglichen Grenzen. Die Naturschutzbehörde wird durch den Landschaftsverband Rheinland an den Planungen beteiligt.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310208100
Keine Zusatzfrage? — Dann kommen wir zur nächsten Frage des Abgeordneten Brück betreffend die Linienführung der Umgehungsstraße von Bensberg zur B 55:
Welche Linienführung ist für die Umgehungsstraße von Bensberg zur B 55 vorgesehen?

Dr. Hans-Christoph Seebohm (CDU):
Rede ID: ID0310208200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Ersatz für die verbesserungsbedürftige und nicht ausbaufähige Ortsdurchfahrt Bensberg im Raume der Bundesstraße 55, von der ja eben die Rede war, kann nur eine südliche Umgehungsstraße am Rande des Landschaftsschutzgebietes Königsforst in Frage kommen. Vier Wahllinien werden zur Zeit von der Straßenbauverwaltung des Landschaftsverbandes Rheinland des Landes Nordrhein-Westfalen untersucht. Die Stellungnahme der Landesplanungsbehörde und der Obersten Straßenbaubehörde des Landes Nordrhein-Westfalen stehen noch aus. Die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch das Bundesministerium für Verkehr über die Linienführung der Umgehungsstraße sind somit noch nicht gegeben.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310208300
Keine Zusatzfrage? — Frage des Abgeordneten Schmitt (Vockenhausen) betreffend Einführung von Parkscheiben:
Zu welchen Ergebnissen ist der Herr Bundesverkehrsminister bei der Prüfung der Vorschläge über die Einführung von Parkscheiben gekommen?
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Verkehr.

Dr. Hans-Christoph Seebohm (CDU):
Rede ID: ID0310208400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Frage muß leider etwas ausführlicher beantwortet werden, um alles verständlich zu machen.
In den letzten Wochen ist mehrfach vorgeschlagen worden, das im Ausland teilweise übliche Verfahren, bestimmte Parkzonen einzurichten, in denen nur unter Verwendung von Parkscheiben geparkt werden darf, auch in Deutschland einzuführen. Bei der Prüfung dieses Vorschlags haben sich folgende Bedenken ergeben.
Erstens. Während in Deutschland durch die Parkuhren das Parken nur auf bestimmten Straßenstrecken eingeschränkt wird, erfaßt die Parkzone alle in ihrem Gebiet liegenden Straßen und Plätze. Eine so weitgehende Parkbeschränkung ist meistens in den deutschen Städten noch nicht notwendig.
Zweitens. Bei der Parkscheibe muß zweimal kontrolliert werden. Die erste Kontrolle muß feststellen, ob die richtige Anfangszeit auf der Scheibe eingestellt ist; die zweite muß feststellen, ob die zulässige Parkdauer nicht überschritten ist. Nach den bisherigen Erfahrungen können etwa 300 Parkuhren



Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
durch einen Überwachungsbeamten kontrolliert werden, während für die Kontrolle der Parkscheiben etwa das dreifache Personal benötigt wird.
Drittens. Parkuhren können auf die jeweils zweckmäßige Parkdauer eingestellt werden. Bei Parkscheiben muß eine einheitliche Zeit gewählt werden, deren Anfang und Ende jeweils auf die volle oder halbe Stunde abgestellt ist. Kommt also der Kraftfahrer nach 9.30 Uhr, aber vor 10 Uhr am Parkplatz an, so muß er bis 11 Uhr den Parkplatz wieder verlassen. Stellt er sein Kraftfahrzeug in der Zeit zwischen 10 Uhr und 10.30 Uhr ab, muß er den Platz bis 11.30 Uhr räumen. Daraus hat sich die Übung entwickelt, daß der Kraftfahrer beim Parken oft recht umständlich vorgeht oder so lange in seinem Fahrzeug sitzen bleibt, bis er auf diese Weise die für ihn günstigste Parkzeit erreicht. Hierdurch wird der erstrebte Zweck, die Parkplätze möglichst häufig zu wechseln, zum Teil wieder vereitelt. Es kommt hinzu, daß ortsfremde Kraftfahrer, insbesondere solche, die aus dem Ausland kommen, oft ohne Parkscheibe parken und dadurch erhebliche Unordnung schaffen.
Viertens. Während die Kraftfahrer im allgemeinen darüber erfreut sind, daß sie an den Parkuhren einen ausreichend bemessenen und gut gekennzeichneten Parkplatz vorfinden, wird darüber geklagt, daß die Kraftfahrzeuge beim Parken in den Parkzonen nicht selten beschädigt werden, weil es dort nur zum Teil möglich ist, die Parkfläche durch Markierung festzulegen.
Fünftens. Die aus den Parkuhren fließenden Einnahmen werden in der Regel wieder für die Anlage von Stellflächen durch die örtlichen Behörden verwendet. Während der Parkgroschen den einzelnen Kraftfahrer kaum belastet, kommen insgesamt ganz ansehnliche Beträge zusammen. So hat z. B. Hamburg im Jahre 1958 650 000 DM und 1959 882 000 DM aus den Parkuhren eingenommen und wieder für die Herstellung von Parkflächen verwenden können.
Da auch eine versuchsweise Einführung der Parkscheiben nur möglich ist, wenn die StraßenverkehrsOrdnung vorher entsprechend ergänzt würde, möchte ich die dafür nötige Bestimmung dem Bundesrat erst dann vorschlagen, wenn mir genügend Unterlagen vorliegen, daß die mir aus dem Ausland mitgeteilten Nachteile durch wesentliche Vorteile nicht nur ausgeglichen, sondern übertroffen werden.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0310208500
Danke schön.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310208600
Die nächste Frage — des Abgeordneten Baier (Mosbach) — betrifft Unfälle auf der Autobahn Frankfurt–Mannheim und Mannheim–Heidelberg:
Ist dem Bundesverkehrsministerium bekannt, wieviel Unfälle mit Sach- und Personenschaden sich auf der Autobahn FrankfurtMannheim und Mannheim-Heidelberg in den vergangenen Jahren ereigneten?
Welches sind die hauptsächlichsten Ursachen, und in welchem Verhältnis stehen diese Unfälle zu den Unfällen anderer Autobahnstrecken?
Was wurde getan, und was ist geplant, um die Autobahn Frankfurt-Marnheim und Mannheim-Heidelberg unfallsicherer zu machen und für die Zukunft möglichst zu entlasten?

Dr. Hans-Christoph Seebohm (CDU):
Rede ID: ID0310208700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch diese Frage bedarf leider, um alles klarzustellen, einer sehr ausführlichen Antwort.
Über die Unfälle auf der Autobahn Frankfurt–Mannheim und Mannheim–Heidelberg, worunter ich die Strecke von Frankfurt bis etwa Schwetzingen verstehe, liegen folgende Angaben vor:
In der Zeit vom 1. August 1957 bis zum 31. Juli 1958 ereigneten sich 1748 Unfälle; dabei gab es 62 Tote und 1081 Verletzte; der Sachschaden betrug 4,39 Millionen DM.
Nach Einführung der von mir angeregten Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 100 km je Stunde ergab sich im folgenden Jahr, also vom 1. August 1958 bis zum 31. Juli 1959, eine Verminderung der Unfälle. Die Zahl der Unfälle im ganzen betrug in diesem Jahr 1636. Die Zahl der Toten verminderte sich von 62 auf 33, die der Verletzten von 1081 auf 837. Der Sachschaden betrug 4,55 Millionen DM.
Die hauptsächlichen Unfallursachen für das Jahr 1959 sind die folgenden: zu dichtes Auffahren im Verkehr 44,6%, übermäßige Geschwindigkeit 12,9 %, falsches Überholen oder Vorbeifahren 8,7 %, Nichtplatzmachen beim Überholtwerden oder Ausweichen 7,5 %, grobe Unaufmerksamkeit 11,2 %, Ermüdung, zum Teil Einschlafen des Fahrers 5,6 %, falsches Einbiegen oder Wenden 3,5 %, Fahren unter Alkoholeinfluß 2,4 %, verkehrswidriges Parken und Halten 1,7 %, sonstige Ursachen 1,9 %.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß auf der Autobahnstrecke Frankfurt–Mannheim in den letzten Jahren die Unfallbeteiligung des Lastwagenverkehrs, gemessen an der Verkehrsbeteiligung, wesentlich höher war als die Unfallbeteiligung des Personenverkehrs. Bei den Personenwagen ergab sich eine Unfallbeteiligung von 56 % bei einem Verkehrsanteil von 71,9 %, dagegen betrug die Unfallbeteiligung der Lastzüge 27 % gegenüber einem Verkehrsanteil von nur 15 %.
Die von dem Herrn Hessischen Minister für Wirtschaft und Verkehr veranlaßte besondere Verkehrsuntersuchung der Bundesautobahn Frankfurt–Mannheim enthält eine vergleichende Übersicht über die Unfälle verschiedener Autobahnstrecken. Bezogen auf die Verkehrsbelastung sind folgende relative Unfallzahlen hierbei ermittelt worden. Gesamtstrecken der Bundesautobahnen im Bundesgebiet je 100 Millionen Kraftfahrzeugkilometer: 181 Unfälle. Bundesautobahnen in Baden-Württemberg je 100 Millionen Kraftfahrzeugkilometer 227 Unfälle, Bundesautobahnen in Bayern 136 Unfälle, Bundesautobahnen in Hessen 190 Unfälle, Bundesautobahnen in Niedersachsen 175 Unfälle, Bundesautobahnen in Nordrhein-Westfalen 222 Unfälle je 100 Millionen Kraftfahrzeugkilometer —, wodurch die Dichte des Verkehrs in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen noch einmal unterstrichen wird. Auf der Bundesautobahn Frankfurt–Mannheim sind je 100 Millionen Kraftfahrzeugkilometer 199 Unfälle zu verzeichnen, also wesentlich weniger als im gesamten Baden-Würt-



Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
temberg und im gesamten Nordrhein-Westfalen und etwa so viele wie in Gesamthessen, etwas mehr allerdings als der Durchschnitt aller Bundesautobahnstrecken mit 181 Unfällen.
Dabei ist zu berücksichtigen, daß die für die Autobahn Frankfurt–Mannheim verhältnismäßig günstige Unfallziffer zum Teil auch durch die außergewöhnlich hohe Verkehrsbelastung dieser Strecke zustande kommt. Der durchschnittliche tägliche Verkehr innerhalb 24 Stunden betrug im Jahre 1956 auf allen Autobahnen im Bundesgebiet 8500 Fahrzeuge, in Baden-Württemberg 10 800 Fahrzeuge, in Bayern 4200, in Hessen 8300, in Niedersachsen 5500, in Nordrhein-Westfalen 14 700, auf der Bundesautobahn Frankfurt–Mannheim dagegen 19 400. Sie liegt also weit an der Spitze, wie ja bekannt ist.
Inzwischen ist auf dieser Strecke der durchschnittliche Tagesverkehr im Jahre 1959 auf 22 800 Kraftfahrzeuge je 24 Stunden gestiegen. So hohe Verkehrsmengen bewirken bekanntlich, daß durch die dann verringerte durchschnittliche Geschwindigkeit und eine höhere Aufmerksamkeit der Kraftfahrer die Unfallzahlen je Kraftfahrzeugkilometer zurückgehen.
Neben der Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 100 km je Stunde auf dieser Autobahnstrecke wurden auch bautechnische Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit getroffen, z. B. Aufstellung von Leitplanken an den äußeren Fahrbahnrändern und streckenweise auch im Mittelstreifen — eine Maßnahme, die wir für die Mittelstreifen aller stark belasteten Autobahnen in Zukunft einführen werden —, um das Abirren von der Fahrbahn auf die Gegenfahrbahn zu verhindern, Verbesserung des Blendschutzes im Mittelstreifen durch versuchsweise Aufstellung neuartiger Blendschutzzäune, Erneuerung der seitlichen Leitstreifen und Anbau von Standspuren zum Abstellen liegengebliebener Fahrzeuge; wo dies nicht möglich war, wurde der Randstreifen verbreitert.
Geplant ist der Bau neuer Autobahneckverbindungen zwischen den Bundesautobahnen Köln–Frankfurt bei Mönchhof (östlich Rüsselsheim) und Frankfurt–Mannheim bei Darmstadt sowie zwischen den Bundesautobahnen Frankfurt–Mannheim beim Mannheimer Dreieck und Mannheim–Karlsruhe bei Wiesloch, dann Fortführung bis nach Heilbronn. Darüber hinaus ist der Bau einer autobahnähnlichen Entlastungstraße — entsprechend den Abmessungen des Rhein-Main-Schnellwegs — zwischen Darmstadt und Heidelberg mit unmmittelbaren Anschlüssen an die bestehende Autobahn vorgesehen. Diese neuen, hochleistungsfähigen Straßenverbindungen werden die bestehende Autobahn unmittelbar entlasten. Eine weitere fühlbare Entlastung wird durch die neuen Autobahnen Fr ankfurt–Würzburg–Nürnberg und später Bad Hersfeld–Würzburg–Heilbronn erzielt werden können.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310208800
Zusatzfrage?

(Abg. Baier [Mosbach] : Danke schön!) — Keine Zusatzfrage.

Frage des Abgeordneten Hübner betreffend Einrichtung der 1. Klasse im Flugverkehr zwischen Berlin und dem Bundesgebiet:
Ist die Einrichtung der 1. Klasse im Flugverkehr zwischen Berlin und dem Bundesgebiet, die eine Fluggesellschaft vor einigen Wochen eingeführt hat, im Einverständnis mit dem Bundesverkehrsministerium erfolgt, oder hat das Bundesverkehrsministerium Bemühungen eingeleitet, die darauf abzielen, im Flugverkehr mit Berlin den Einklassendienst einheitlich wiederherzustellen?

Dr. Hans-Christoph Seebohm (CDU):
Rede ID: ID0310208900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den geltenden vertraglichen Bestimmungen ist der Luftverkehr zwischen Berlin und dem Bundesgebiet den Luftverkehrsgesellschaften der Vereinigten Staaten, Englands und Frankreichs vorbehalten. Die Bundesregierung hat leider nicht die Möglichkeit, auf die Durchführung dieses Verkehrs entscheidenden Einfluß zu nehmen, und muß sich darauf beschränken, Wünsche für eine Verbesserung des Flugdienstes den entsprechenden Gesellschaften vorzutragen. Das geschieht im Einvernehmen mit Berlin ständig und mit Nachdruck.
Eine dieser Gesellschaften hat nun Anfang dieses Jahres an Stelle der Muster Constellation und Douglas DC 4 das Muster Super Constellation eingesetzt und infolge dieser Maßnahme ein durchaus begrüßenswertes größeres Sitzplatzangebot erreicht. Ein Teil der zusätzlichen Sitze entfällt auf die 1. Klasse. Es lag für die Luftverkehrsgesellschaft keine Veranlassung vor, etwa eine Genehmigung des Bundesministers für Verkehr für die Änderung der Beförderungsklassen herbeizuführen. Nach Lage der Dinge beabsichtige ich auch nicht, auf die Wiederherstellung des Einklassensystems zu drängen, zumal der Berliner Senat die Maßnahme der Luftverkehrsgesellschaft als eine Verbesserung des Luftverkehrs nach Berlin betrachtet.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310209000
Keine Zusatzfrage! —
Frage des Abgeordneten Schmidt (Hamburg) betreffend Besetzung der Radargeräte im Bereich der Bundesanstalt für Flugsicherung:
Wen trifft die Verantwortung dafür, daß im Bereich der Bundesanstalt für Flugsicherung wegen Mangels an ausgebildetem Personal eine Reihe von kostbaren Radargeräten nur zeitweilig besetzt werden kann?

Dr. Hans-Christoph Seebohm (CDU):
Rede ID: ID0310209100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Radargeräte im Bereich der Bundesanstalt für Flugsicherung können deswegen nur zeitweilig besetzt werden, weil ein Mangel an ausgebildetem Personal herrscht. Das ist darauf zurückzuführen, daß nicht rechtzeitig die von dem Bundesminister für Verkehr angeforderten Stellen für die Bundesanstalt für Flugsicherung genehmigt worden sind.
Die erforderlichen Ausbildungs- und Planstellen wurden erst ausgebracht, als sich herausstellte, daß infolge der Zunahme der Beschäftigung und bei der Bewertung der Stellen nicht genügend geeignete Kräfte und keine ausgebildeten Nachwuchskräfte vorhanden waren. 65 gut ausgebildete Flugverkehrslotsen wanderten wegen der Stellenbewertung zur Bundeswehr und zu zivilen Luftverkehrsgesellschaf-



Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
ten ab. Die Ausbildung zum Flugverkehrslotsen stellt erhebliche Anforderungen an die Nachwuchskräfte. Von den im Jahre 1959 gemeldeten 414 Bewerbern haben allein 188 = 45,5 % die erforderliche Eignungsprüfung nicht bestanden und 23 = 5,5 % weitere Bewerber konnten die gesundheitlichen Bedingungen nicht erfüllen. Von den Schülern, die die Eignungsprüfung bestanden und auch die gesundheitlichen Bedingungen erfüllt haben, mußten wiederum zahlreiche im Laufe der Ausbildung als unzulänglich ausscheiden. Die Ausbildung erfordert bis zur vollen Einsatzfähigkeit etwa drei Jahre. Daher wirken sich die seit 1957 eingetretenen Personalvermehrungen erst jetzt nach und nach aus.
Die Radargeräte für die Flugverkehrslenkung auf den Flughäfen können daher zum Teil nur zeitweilig, und zwar während der verkehrsreichen Stunden besetzt werden. Vom Standpunkt der einheitlichen Durchführung des Flugsicherungsbetriebes wäre es erwünscht, daß die Anlagen 24 Stunden durchgehend, also auch in den Stunden des schwächeren Verkehrs, besetzt sind und eingesetzt werden können. Infolge des Mangels an ausgebildetem Personal ist dies bisher nur auf dem Flughafen Frankfurt (Main) ermöglicht worden; mit der Zeit wird es aber auch auf den anderen Flughäfen durchgesetzt werden können.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310209200
Eine Zusatzfrage?—Schmidt (Hamburg) (SPD) : Herr Dr. Seebohm, ist Ihnen bekannt, daß mit Ausnahme des von Ihnen soeben genannten Flughafens Frankfurt auf den anderen deutschen Verkehrsflughäfen die dort seit zwei bis drei Jahren installierten Präzisionsradargeräte PAR wegen Personalmangels überhaupt nicht benutzt werden, daß zweitens die gleichfalls seit längerer Zeit installierten Rundsichtradargeräte ASR aus dem gleichen Grunde nur zeitweise benutzt werden, daß drittens aus psychologisch-optischen Gründen zur Beruhigung der Fluggäste z. B. auf dem Flughafen Frankfurt gefordert worden ist, das oben auf dem Turm sich drehende Rundsichtradargerät zeitweise betreiben zu lassen, obwohl es nicht mit Personal besetzt werden kann und auch in absehbarer Zeit nicht wird besetzt werden können, und daß viertens die in diesem Jahr zu errichtenden drei Mittelbereichsradargeräte, die den gesamten Luftraum der Bundesrepublik überwachen sollen, in absehbarer Zeit wegen Personalmangels überhaupt nicht eingesetzt werden können?

Dr. Hans-Christoph Seebohm (CDU):
Rede ID: ID0310209300
Zum Teil sind mir die Tatbestände, die diesen vielen Fragen zugrunde liegen, bekannt. Da ich die Fragen nicht schriftlich vorliegen habe, Herr Kollege Schmidt, bitte ich um Verzeihung, wenn ich sie nicht exakt beantworte.
Es ist mir jedenfalls nicht bekannt, daß ein Gerät sozusagen nur for show betrieben wird, das in Wirklichkeit nicht besetzt ist. Im übrigen darf ich Ihnen folgendes mitteilen. Die Radarrundsichtgeräte auf den Flughäfen, die ASR-3-Geräte, sind gegenwärtig wie folgt besetzt: Frankfurt a. M. 24stündig,
Düsseldorf 14stündig, Hamburg 12stündig, Hannover 9stündig, München 12stündig. Die Montage der Anlage auf dem Flughafen Köln-Bonn wird in diesen Tagen abgeschlossen. Diese Anlage wird nach Fertigstellung der Montage 16stündig besetzt sein.
Die Präzisionsanflugradaranlagen auf Flughäfen (PAR) dienen bei Linienflugzeugen zur bodenseitigen Überwachung eines Schlechtwetteranflugs nach dem Instrumentenlandesystem sowie bei Militärflugzeugen, die keine Instrumentenlandeanlage an Bord haben, als Hauptlandemittel. Sie sind wie folgt in Betrieb: Frankfurt a. M. 24stündig, Düsseldorf, Hamburg und Hannover auf Anforderung, München im Aufbau.
Die Groli-Rundsuchanlagen Hannover, Frankfurt/ Main und München befinden sich noch im Aufbau. In Auswirkung der ab 1957 durchgeführten verstärkten Personalaufstockung ist zu erwarten, daß diese Geräte nach und nach voll besetzt werden können. Aber ohne ausgebildetes Personal kann man auch die schönsten Geräte nicht betreiben.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310209400
Zusatzfrage!

Helmut Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0310209500
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß auf Grund eines Gutachtens, welches Nichtfachleute erstattet haben, bei den Flugsicherungsstellen auf den deutschen Verkehrsflughäfen Planstellen, die seit längerer Zeit bestanden haben, gestrichen worden sind, und zwar die Stellen für den Leiter des Flugberatungsdienstes, für den Leiter der Flugsicherungstechnik und für den Leiter des Flugmeldedienstes, und daß entsprechende Planstellenstreichungen in der Betriebsabteilung der Bundesanstalt für Flugsicherung dazu geführt haben, daß die verantwortlichen Beamten die schriftliche dienstliche Erklärung abgegeben haben, der Betrieb der Bundesanstalt für Flugsicherung sei nicht mehr gewährleistet?

Dr. Hans-Christoph Seebohm (CDU):
Rede ID: ID0310209600
Sie wissen, Herr Kollege Schmidt, daß sich die Fragen der Flugsicherung stark in der Entwicklung befinden und daß der Staat den Anforderungen nicht in dem notwendigen Maße nachzukommen vermag, wenn die entsprechenden Planstellen erst so spät bewilligt werden, später, als wir sie angefordert haben. Sie wissen weiter, daß die Bundesanstalt für Flugsicherung durch den Bundesbeauftragten für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung überprüft worden ist und daß wir genötigt sind, dessen Vorschläge zu berücksichtigen.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310209700
Die Frage ist beantwortet. Die nächsten Fragen gehören eigentlich zu der Frage, die soeben behandelt worden ist. Aber nach der Geschäftsordnung habe ich die Fragestunde jetzt zu unterbrechen. Die weiteren Fragen werden am Freitag beantwortet werden.
Ich rufe auf Punkt 2 der Tagesordnung.
a) Große Anfrage der Fraktion dei SPD betr. Neuregelung der sozialen Krankenversicherung (Drucksache 1298),



Vizepräsident Dr. Schmid
b) Erste Bereitung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (KrankenversicherungsNeuregelungsgesetz — KVNG) (Drucksache 1540).
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß zunächst die Große Anfrage — durch den Abgeordneten Rohde — begründet wird, daß die Bundesregierung dann antwortet und unmittelbar anschließend den Gesetzentwurf unter Punkt 2 b begründet und daß alsdann die allgemeine Aussprache über die beiden Punkte a und b eröffnet wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Rohde.

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0310209800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich brauche zu der Großen Anfrage der SPD, die sich mit der Neuregelung der sozialen Krankenversicherung beschäftigt, hier keine sehr lange Begründung mehr zu geben. Diese Große Anfrage hat, wie Sie wissen, schon vor ihrer heutigen Behandlung im Parlament ihr Ziel erreicht. Sie hat die Regierung veranlaßt und gezwungen,

(Abg. Stingl: Gezwungen?)

in der Öffentlichkeit darzulegen, was sie unter einer
Reform der Krankenversicherung eigentlich versteht und mit welchem Reformkonzept sie antritt.
Nachdem der Regierungsentwurf zur Neuregelung der Krankenversicherung nunmehr vorgelegt ist, wissen wir, woran die Bundesregierung und die ihr applaudierende CDU gedacht haben, als der Bundeskanzler 1953 eine Reform der Krankenversicherung in Aussicht stellte und der Bundesarbeitsminister, von dem Bundeskanzler neu gewählt, wenige Wochen später erklärte, diese Reform solle im Zeichen einer Sozialpolitik neuen Stils erfolgen. Jetzt ist klargestellt, ob die Regierung bei dieser Reform von den großen und beeindruckenden Möglichkeiten ausgehen will, die die Entwicklung der modernen Medizin dem Gesetzgeber an die Hand gibt, oder ob sie nur eine Art Finanzreform auf dem Boden der Krankenversicherung machen will, ergänzt und verbrämt mit sozialpädagogischen Experimenten.
Wir wollten — ich sage das ganz freimütig — mit dieser Großen Anfrage auch herausbekommen, wieweit die Regierung als Ganzes hinter den Reformplänen steht, die im vergangenen Jahr unter dem Titel „Referentenentwurf" vom Bundesarbeitsministerium vorgelegt worden sind. Handelte es sich hierbei, wie uns vielfach gesagt und wie auch geschrieben wurde, nur um eine ministerielle Stilübung, oder stand dahinter schon der Wille dieser Regierung? Als wir Minister Blank im Juni vergangenen Jahres bei den Haushaltsberatungen darauf ansprachen, sagte er uns ärgerlich, wie das zumeist bei seiner Art der Fall ist: „Wie oft muß ich Sie eigentlich noch darauf hinweisen, daß ich hier nur einen Referentenentwurf vorgelegt habe?" und wörtlich: „Warten Sie doch erst einmal ab, bis ich meinen Entwurf hier vorlegen werde!" Minister Blank hat nicht nur in diesem Hause, sondern auch in der Öffentlichkeit immer mit dem Hinweis kokettiert, als handle es sich bei diesem Referentenentwurf nur um eine unverbindliche Diskussionsgrundlage und als wolle er zusammen mit der Regierung aus all dem, was in der Diskussion von den Ärzten, von den Versicherten und von den Sozialpolitikern ganz allgemein gesagt werde, letztlich das große politische Resümee ziehen.
Heute wissen wir, daß das nicht stimmt. Wir wissen jetzt, daß die Regierung in allen entscheidenden Grundzügen dem umstrittenen Referentenentwurf gefolgt ist.

(Sehr wahr! bei der SPD. — Abg. Cillien: Warten Sie doch ab, was noch kommt!)

Dabei ist es für uns ohne Belang, wer hier der Getriebene und wer der Treiber ist. Die politische Verantwortung liegt bei der Regierung.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Der Aufforderung des Ministers, abzuwarten, bis er seinen Entwurf vorlege, hätte man nur dann folgen können, wenn er und sein Haus sich gegenüber denen, die er zu einer Meinungsäußerung über die Zukunft der Krankenversicherung der Bundesrepublik aufgerufen hat, loyal verhalten hätten.

(Lebhafte Zustimmung bei der SPD.)

Was aber ist geschehen? Während noch der Minister eine unruhig gewordene Öffentlichkeit tröstete, wurde unter der Überschrift „Wer soll das bezahlen?" eine Broschüre verbreitet, die unter Mitarbeit des Bundespresseamts entstanden, von den Beamten des Arbeitsministeriums inspiriert und von den Arbeitgeberorganisationen vertrieben worden ist. In dieser Broschüre wird der Referentenentwurf bis auf Punkt und Komma gerechtfertigt, und seine Kritiker und Gegner werden dem Spott und der Verdächtigung ausgesetzt.
Ein Zweites. Als die Ärzte die Frage stellten: Was will das Ministerium denn nun mit unseren Änderungsvorschlägen machen, die es uns Anfang 1959 innerhalb von drei Wochen -abverlangt hat?, -da antwortete ihnen das Haus Blank: Wir hab-en ganze Aktenschränke voll Änderungsanträge erhalten, haben sie alle in Ordner abgelegt; wir haben unsere Pflicht getan, nämlich die Auffassungen zur Kenntnis zu nehmen, im übrigen bleibt alles so, wie es ist.
Diese beiden Beispiele ließen sich noch durch manches Zeugnis der Illoyalität, ja der Arroganz vermehren. Sie haben dazu beigetragen, daß die Diskussion um die Zukunft der Krankenversicherung sowohl in der Sache als auch im Ton verschärft worden ist. Ich empfehle all denjenigen, deren heutiges Redekonzept eine Anklage oder eine Ermahnung an die Kreise, die protestiert haben, enthält und die sich vielleicht wieder auf die Vokabel „staatsabträglich" versteifen wollen, sich doch erst einmal selbst zu fragen: Was haben wir denn getan, daß es zu solchen Aktionen erst kommen mußte?

(Beifall bei der SPD.)

Die Macht der Parlamentsmehrheit bedeutet eben nicht automatisch die politische Ohnmacht aller



Rohde
übrigen. Darüber muß die Mehrheit, wenn es not tut, belehrt werden.
Angesichts der Vorgeschichte und des Verlaufes der Reformdiskussion haben wir es für richtig gehalten, mit unserer Großen Anfrage endlich das Parlament zum Zuge zu bringen, damit es sich aus seiner Verantwortung der Neuregelung der sozialen Krankenversicherung annimmt.
Das wollte ich zu der politischen Atmosphäre sagen, die zu dieser Großen Anfrage geführt hat. Zu den Sachfragen der Anfrage will ich im einzelnen nicht Stellung nehmen; denn heute werden wir uns nicht mehr über Fragen, sondern, über die Antworten zu unterhalten haben, die die Bundesregierung in ihrem Entwurf gegeben hat.
Ich möchte nur eine Ausnahme machen. Sie betrifft die Frage 4, in der die Bundesregierung um Auskunft darüber ersucht wird, wie die wirtschaftliche Benachteiligung der Arbeiter und bestimmter Gruppen von Angestellten im Krankheitsfalle beseitigt werden soll. Es geht dabei um die wirkliche Lohnfortzahlung, um die sozialrechtliche Gleichstellung der Arbeiter bei der wirtschaftlichen Sicherung im Krankheitsfall.
Diese sozialrechtliche Gleichstellung will die Bundesregierung nicht im Rahmen der Krankenversicherungsreform vornehmen. Das veranlaßt mich, Herr Minister, zwei ganz einfache Fragen an Sie zu richten:
Welche sozialen oder soziologischen Wandlungen müssen nach Ihrer Meinung in der Bundesrepublik noch erfolgen, bis der Arbeiter durch eine wirkliche Lohnfortzahlung gleichgestellt wird? Noch konkreter: Welche Voraussetzungen muß der deutsche Arbeiter nach Auffassung dieser Regierung eigentlich noch erfüllen, bis ihm das gleiche Recht gegeben werden kann?
Zum zweiten frage ich den Herrn Minister unter Hinweis auf Ziffer 4 a unserer Großen Anfrage, ob er sich mit den Grundgedanken identifiziert, die von einem hohen Beamten seines Hauses am 24. November 1959 im Bulletin der Bundesregierung zur Lohnfortzahlung veröffentlicht worden sind. Darin heißt es, daß im Regierungsentwurf zur Krankenversicherung nicht mehr von „Arbeitern" und „Angestellten", sondern von „Arbeitnehmern" gesprochen werden soll. Was sich hier so lapidar anhört, ist nicht nur sprachlich von Bedeutung, sondern daran wird eine konkrete sozialpolitische Konsequenz geknüpft. Es heißt nämlich — und ich bitte, das mit der Aufmerksamkeit, die dieser Satz verdient, zu hören —:
Die Bestimmung erleichtert es auch, einer lohnpolitischen Entwicklungsmöglichkeit Raum zu geben, die in dem Bestreben gesehen werden muß, auch den Arbeitern im Krankheitsfall den Arbeitslohn für eine bestimmte Zeit fortzuzahlen.
Was heißt dieser Satz, über den es sich so schlicht dahinliest, für die sozial- und wirtschaftspolitische Praxis? Mit diesem Satz wird das Problem der sozialrechtlichen Gleichstellung, das den Arbeiter nicht nur in seiner materiellen Existenz,
sondern auch in seiner Selbstachtung und in seiner gesellschaftlichen Stellung berührt, in den lohnpolitischen Raum abgeschoben.
Herr Minister, ist das auch Ihre Auffassung, daß die Entscheidung über diese sozialrechtliche Gleichstellung der Arbeiter im Krankheitsfall in der Lohnpolitik fallen muß und damit zwangsläufig im Arbeitskampf und nicht, wie man das wohl in einem sozialen Rechtsstaat erwarten könnte, hier im Parlament? Diese Sache hat, wie Sie sehen, ihr Gewicht. Ich möchte den Minister bitten, ihr bei seiner Antwort die gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Eine zweite kurze Frage habe ich anzufügen: Wann wird der Herr Bundesarbeitsminister den Abgeordneten dieses Hauses, vor allen Dingen den Sozialpolitikern, die Gebührenordnung zugehen lassen, von der er selbst sagt, daß sie ausschlaggebend sei für das Ausmaß der Kostenbeteiligung? Der Bundesrat mußte schon, ohne diese Gebührenordnung zu kennen, über den Regierungsentwurf beraten, und wir, die wir heute mit der ersten Lesung beginnen, haben sie auch nicht in der Hand, sondern kennen nur einige allgemeine Andeutungen aus der Presse. Das ist schlecht für die Beratung und zeigt das Ausmaß der Hochachtung, das dieses Ministerium vor den gesetzgebenden Körperschaften hat.

(Beifall bei der SPD.)

Mehr Fragen will ich vorerst nicht stellen. Jetzt will ich diesen Platz frei machen für den Minister zur Begründung seines Entwurfs, von dem ein namhafter Kollege seiner Fraktion gesagt hat, er gehöre zu dem Besten, „was wir" — in diesem Falle wahrscheinlich Regierung und CDU — „bisher geschaffen" haben und zu dessen schneller Verabschiedung von „der Macht der Mehrheit notfalls" — was hier wohl „notfalls" heißt? — „Gebrauch gemacht werden soll."

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310209900
Das Wort zur Beantwortung der Großen Anfrage und zur Begründung des Regierungsentwurfs hat der Bundesarbeitsminister.

Theodor Blank (CDU):
Rede ID: ID0310210000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe auf diesen Tag gewartet.

(Lachen und Zurufe von der SPD: Wir auch!)

—Ich betone noch einmal: ich habe darauf gewartet,

(Zurufe von der SPD: Warten wir mal den Abend ab!)

weil ich die Möglichkeit habe, dem allein entscheidenden Gremium meine Auffassung und die Auffassung der Bundesregierung vorzutragen, weil damit die Behandlung dieses Themas vor das Forum kommt, das allein zur Behandlung zuständig ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)




Bundesarbeitsminister Blank
Sie mögen daraus entnehmen, wie groß mein Respekt vor diesem Parlament ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der SPD.)

Die Bundesregierung legt Ihnen heute den in der Regierungserklärung vom 29. Oktober 1957 angekündigten Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Diese Vorlage enthält zugleich die Antwort auf die am 20. Oktober 1959 eingebrachte Große Anfrage der Fraktion der SPD, und mein sehr verehrter Herr Vorredner darf sicher sein, daß die von ihm gestellten Fragen in meiner Begründung zum Regierungsentwurf ihre Beantwortung finden.
Meine Damen und Herren, gestatten sie mir einen kleinen geschichtlichen Rückblick.
Vor fast genau 50 Jahren hat sich der Deutsche Reichstag mit einer umfassenden Reform des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung befaßt. Am 18. April 1910 begann er die erste Beratung des Entwurfs einer Reichsversicherungsordnung. Seit dieser Zeit ist das 2. Buch der Reichsversicherungsordnung, das das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung enthält, viele Male geändert und ergänzt worden. Das ist verständlich; denn man muß bedenken, daß die Sozialpolitik ihrer Natur nach dynamisch ist und daß das Bestreben, die bestmögliche Form sozialer Sicherung zu finden, niemals als abgeschlossen betrachtet werden kann.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Wenn wir heute wieder — wie vor 50 Jahren — vor der Aufgabe einer Reform stehen, dann deshalb, weil die stürmische Entwicklung dieser Jahre so vielfältige Veränderungen gebracht hat, daß ihnen mit einigen Korrekturen am Recht der sozialen Krankenversicherung nicht Rechnung getragen werden kann. Wir müssen vielmehr im ganzen reformieren und neugestalten. Diese Aufgabe ist nicht leicht. Sie ist sogar sehr schwer. Ich weiß, daß sehr sachverständige Damen und Herren dieses Hohen Hauses, Kenner des Sozialrechts und der Sozialpolitik aus allen Fraktionen, die Neuregelung des Rechts der sozialen Krankenversicherung für die schwerste Aufgabe halten, die ihnen bei der Neuregelung des Sozialrechts gestellt ist. Ich teile diese Auffassung und fühle, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Ihnen allen die Schwere der Verantwortung.
Bevor ich die Einzelheiten des Gesetzentwurfs vortrage und begründe, darf ich Ihnen kurz die Ausgangssituation aufzeigen und die Grundgedanken des Entwurfs darlegen.
Die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht nur eine der ältesten, sie ist in vieler Hinsicht auch heute noch eine der besten in der Welt. Das gilt für die Leistungen bei kurzdauernden Krankheiten, das gilt in einem gewissen Umfange für den Schutz der Familie. Ihre Organisationsform hat sich bewährt. Die deutsche Krankenversicherung ist daher auch ihrer Aufgabe in der schwierigen Vergangenheit, in zwei Kriegen und ihren Folgezeiten gerecht geworden. Dies darf man nicht übersehen, wenn
man daran geht, Neues zu schaffen. Was am alten Recht gut ist, sollte auch bei einer Reform verwertet und weiter entwickelt werden.
Das gilt zunächst für das Leistungsrecht. Die Leistungen, die die Krankenversicherung heute gewährt, sind im großen und ganzen gut, aber sie zeigen — das ist, glaube ich, gemeinsame Überzeugung aller in diesem Hohen Hause Vertretenen — doch einen entscheidenden Mangel. Das Schwergewicht der Leistungen liegt bei den kurzfristigen Krankheiten; bei langdauernden Krankheiten ist der Versicherte — jedenfalls nach unseren heutigen Vorstellungen — ohne den erforderlichen Schutz.
Die Krankenversicherung hat bei fast allen ihren Leistungen — und in der Vergangenheit sicher aus guten Gründen — eine Begrenzung der Bezugsdauer vorgesehen. Ist die Leistungsdauer aber abgelaufen, dann endet der Schutz, und der Versicherte ist häufig der Not preisgegeben. Diese Fälle sind heute zahlreicher als früher. Warum?
Früher war der Hauptfeind der menschlichen Gesundheit die Infektionskrankheit, die meist einen schnellen und stürmischen Verlauf nahm und auch oft zum Tode führte. Heute hat dieser Feind dank der Fortschritte der medizinischen Wissenschaft, der Hygiene, der Bakteriologie und der Entwicklung von wirksamen Medikamenten, der Tätigkeit natürlich auch der Ärzte und der Krankenkassen weitgehend seine Schrecken verloren. Auf der anderen Seite aber treten dafür Krankheiten in einem vermehrten Umfange auf, die eine langdauernde Behandlung erfordern.
Deshalb muß eine moderne Krankenversicherung dies berücksichtigen und ihre Leistungen besonders auf dieses Krankheitsrisiko ausdehnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sagte — ich will es wiederholend zusammenfassen —, bei den kurzfristigen Krankheiten seien die Leistungen vielleicht hinreichend, aber der entscheidende Mangel der herkömmlichen Krankenversicherung sei, daß sie der gewandelten Krankheitsstruktur heute nicht mehr Rechnung trägt und für den langfristigen Krankheitsfall nicht das Maß an Sicherheit bietet, das man in einem modernen sozialen Rechtsstaat an Sicherungen erwarten darf. Aber die Medizin hat doch weitere Fortschritte in der Früherkennung der Krankheiten gemacht, und sie sollten dem Versicherten auch zugute kommen. Deshalb muß das Leistungsrecht auf die Vorsorgehilfe ausgedehnt werden.
Wesentlich geändert hat sich in diesen fünfzig Jahren aber auch die Einstellung des Menschen zur Krankheit. Dadurch werden Probleme aufgeworfen, die man beachten muß. Zunächst möchte ich Ihnen einmal darlegen, wie sich diese geänderte Einstellung in Zahlen messen läßt.
Aus einer Feststellung der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands ergibt sich, daß die Zahl der Behandlungsfälle im Jahre 1933 37,4 Millionen betrug. 1936 wurden 52,3 Millionen Behandlungsfälle registriert. Im gleichen Zeitraum war die Zahl der Versicherten von 18,6 Millionen auf 21,5 Millionen

Bundesarbeitsminister Blank
gestiegen. Heute, meine sehr verehrten Damen und Herren — und ich bitte Sie, das nur als Maß aufzunehmen und festzuhalten —, haben wir bei rund 26 Millionen Versicherten im Jahr 109 Millionen Krankenscheine, die ausgegeben und abgerechnet werden.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Das ist sehr beachtlich.
Die Tatsache, daß sich die Einstellung des Versicherten zur Krankheit geändert hat, zeigt sich auch aus der völlig veränderten Behandlungsdauer. Aber auch die soziale Situation der Versicherten hat sich geändert. Noch die Novelle von 1892 ging von der Voraussetzung aus, daß ein Arbeiter niemals über ein Jahreseinkommen von 2000 Mark hinauskommen könne. Deswegen wurde für Arbeiter die Versicherungspflicht ohne Begrenzung festgesetzt. Seit dieser Zeit hat sich das Lohnniveau der Arbeiter aber erheblich geändert.

(Zuruf von der SPD: Auch bei den Unternehmern! — Lachen bei der CDU/CSU.)

— Das wird nicht bestritten. Aber ich gebe Ihnen hier Zahlen, die notwendig sind, um die Situation in der Krankenversicherung zu erkennen. — So lag das Durchschnittseinkommen des rentenversicherten Arbeitnehmers — nicht eingerechnet die große Zahl jugendlicher Arbeitnehmer, deren Einkünfte oft in die Haushaltseinkommen der Eltern eingehen — 1950 bei 3161 DM, 1958 bei 5330 DM, während es im Jahre 1936 1783 RM betrug.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch aus der Veränderung dieser Verhältnisse glaubte die Bundesregierung für die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung Folgerungen ziehen zu müssen. Ich darf diese Folgerungen jetzt einmal darlegen.
Wir glaubten, daß die Leistungen der Krankenversicherungen so auszubauen seien, daß der Versicherte bei schwerer und langdauernder Krankheit geschützt ist. Ich habe eingangs darauf hingewiesen, daß hier die Krankenversicherung herkömmlicher Art Kritik verdient. Deshalb schlagen wir die Fortzahlung des Krankengeldes über die sechste Woche hinaus in der bis dahin gewährten Höhe vor. Sie wissen alle, daß nach dem herkömmlichen Recht das Krankengeld nach der sechsten Woche absank. Man muß aber wohl im allgemeinen annehmen, daß sich die wirtschaftliche Lage des Kranken gerade nach der sechsten Woche der Krankheit verschlechtert, anstatt sich zu bessern.
Weiter waren wir der Meinung, daß die Aussteuerung, jener gefürchtete Tatbestand, wegfallen und dem Versicherten ein lückenloser Schutz bei dem Übergang von der Kranken- in die Rentenversicherung gewährt werden müsse.
Die familienpolitischen Überlegungen nötigen uns dazu, zu erkennen — —

(Abg. Dr. Schellenberg: Eine Kostenbeteiligung einzuführen, was?)

— Ich bitte Sie, Herr Professor, mich in Ruhe meine
Begründung vortragen zu lassen. Ich glaube, wir
werden heute noch genugend Gelegenheit haben, die Klingen zu kreuzen. Ich werde Ihnen nicht ausweichen! — Die Sachleistungen nötigen uns zu der Überlegung, daß die Leistungen für die Familienangehörigen nicht ausreichend sind, und deshalb unser Vorschlag, die Sachleistungen für die mitversicherten Familienangehörigen in gleichem Umfang zu gewähren wie für die Versicherten selbst.
Wir waren ferner der Meinung, daß in den Leistungskatalog der Krankenversicherung die Vorsorgehilfe als Leistungsart aufzunehmen und so zu regeln sei, daß eine Weiterentwicklung auch ohne Tätigwerden des Gesetzgebers möglich ist.
Die veränderte Einstellung des Menschen zur Krankheit zwingt allerdings dazu, auch zu überlegen, ob eine Krankenversicherung als Risikoversicherung mit hundertprozentiger Abdeckung des Risikos noch richtig ist. Die Entwicklung der sozialen Lage der Versicherten berechtigt zu der Frage, ob ein Teil dieses Risikos nicht dem Versicherten überlassen werden kann. Der notwendige Ausbau der Leistungen für den schweren und langdauernden Krankheitsfall könnte dann ohne Hebung des allgemeinen Beitrags erfolgen.
Die veränderte Einstellung des einzelnen Menschen zur Krankheit hat aber auch eine Änderung in dem Verhältnis des Patienten zum Arzt bewirkt. Dringender als früher verlangt der Versicherte nicht nur die Möglichkeit, von einem Arzt behandelt zu werden, sondern auch die Möglichkeit, von dem Arzt seines Vertrauens behandelt zu werden.

(Abg. Stingl: Sehr richtig!) Er verlangt die freie Arztwahl.


(Zurufe von der SPD.)

Die Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung hat aber auch für den Arzt eine Veränderung seiner beruflichen Bedingungen gebracht. Die Zahl der Ärzte betrug um die Jahrhundertwende 27 000 bei einer Bevölkerung von rund 56 Millionen. 1930 hatten wir rund 47 000 Ärzte bei einer Bevölkerung von 65 Millionen. Heute haben wir bei einer Bevölkerung von rund 52 Millionen rund 76 000 Ärzte.

(Zuruf der Abg. Frau Dr. Hubert.)

— Nicht alle sind freipraktizierende Ärzte, Frau Doktor. Aber immerhin haben wir auf 10 000 Einwohner 7,9 freipraktizierende Ärzte, d. h. auf etwa 1250 Einwohner einen praktizierenden Arzt. Da die Versicherten und ihre Familienangehörigen 80 % der Bevölkerung ausmachen, ist ein ausreichendes Betätigungsfeld für den freipraktizierenden Arzt meist nur dann noch gegeben, wenn er berechtigt ist, auch Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung zu behandeln.
Meine Damen und Herren, das ist eines der Kernprobleme des Vorschlags der Bundesregierung. Ich werde dieses Problem in anderem Zusammenhang noch einmal anschneiden. Lassen Sie mich an dieser Stelle klar sagen, daß dies eine Bestimmung im Gesetzentwurf ist, deren Verwirklichung die Bundesregierung erwartet. Wenn man will, daß der Arzt-

Bundesarbeitsminister Blank
beruf ein freier Beruf bleibt, kann man einen Teil derer, die sich für diesen Beruf haben ausbilden lassen, praktisch nicht an der Ausübung ihres Berufes hindern.

(Beifall bei den Regierungsparteien und vereinzelt bei der FDP.)

Wenn 80 % des deutschen Volkes von der sozialen Krankenversicherung als Versicherte und Familienangehörige erfaßt sind, bleibt der ärztliche Beruf nur dann ein freier Beruf, wenn jeder Arzt von jedem, der ihm das Vertrauen schenkt, zu Rate gezogen werden kann.

(Abg. Dr. Schellenberg: Das Verfassungsgericht wird im April ohnehin ,entscheiden!)

— Die Bundesregierung, Herr Professor Schellenberg, möchte sich vom Bundesverfassungsgericht gar nicht drängen lassen.

(Erneuter Zuruf des Abg. Dr. Schellenberg.)

Ich weiß, daß sich das Bundesverfassungsgericht mit dieser Frage beschäftigen wird. Wie aber auch immer das Gericht entscheiden wird, die Bundesregierung ist aus der Sache heraus der Meinung, daß allen Ärzten, die sich in freier Praxis niedergelassen haben, das Recht gegeben werden sollte, an der kassenärztlichen Versorgung teilzunehmen, wenn sie es wünschen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich aber freie Zulassung will, wenn ich jedem für die Ausübung seines Berufes hinreichend ausgebildeten Arzt die Möglichkeit geben will, alle Patienten, die zu ihm kommen, zu behandeln, dann muß in der Art der Honorierung der ärztlichen Leistung ein Wandel eintreten. Die Krankenkassen — nicht alle taten es — werden sich nicht mehr wie bisher durch die Zahlung eines Pauschales von ihrer Verpflichtung den Ärzten gegenüber befreien können. Sie werden vielmehr nach unserem Vorschlag jeden Arzt nach seiner einzelnen erbrachten Leistung honorieren müssen. Das ist ein weiterer Kernpunkt der Gesetzesvorlage. Wir wollen nicht, daß der frei praktizierende Arzt in wirtschaftliche Not gerät, wir wollen ihm aber auch nicht irgendeine Einkommensgarantie geben. Wir wollen, daß er für seine Leistung, die er individuell an seinen Patienten erbringt, eine Honorierung bekommt, die es ihm erlaubt, als frei beruflich Tätiger das Leben für sich und die Seinen in angemessener Weise zu gestalten.
Da aber der Arztberuf ,der einzige Beruf ist, in dem der Umfang der Leistungen durch eigenes Ermessen bestimmt werden kann, ist eine solche Einzelhonorierung ohne ein Korrektiv, ohne eine einem solchen System immanente Kontrolle nicht möglich, nämlich die Kontrolle durch denjenigen, der die Leistung erhält und der sie schließlich und letzten Endes bezahlen muß, d. h. durch den Versicherten. Das ist wiederum ein Kernpunkt des Gesetzesvorschlages. Ich will sowohl den Versicherten als auch den Arzt aus der Anonymität herausheben.

(Beifall in der Mitte und vereinzelt bei der FDP und DP.)

Der Versicherte soll wissen, welche ärztliche Leistung an ihm erbracht wird.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Er soll wissen, was die Versichertengemeinschaft, die auch nach meinen Vorschlägen noch den größten Teil des Honorars zu zahlen hätte, dafür an geldlicher Leistung aufbringen muß.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Er soll den wirtschaftlichen Wert dessen, was die Solidargemeinschaft ihm gibt, und er soll den wirtschaftlichen Wert der ärztlichen Leistung klar erkennen. An diesem Vorschlag in meinem Entwurf werde ich festhalten; ich werde ihn verteidigen, wie auch immer andere Fragen dieses Entwurfs geregelt werden!

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Freie Zulassung, Einzelhonorierung und Selbstbeteiligung des Versicherten hängen eng zusammen. Die Form der Kostenbeteiligung ist erst in zweiter Linie entscheidend. Ich hänge gar nicht an der Technik meines Vorschlages.

(Abg. Dr. Schellenberg: Haben Sie sich das vorher überlegt?)

Herr Professor, Sie müßten wissen, daß wir fortwährend überlegen. Sie müßten weiter wissen, daß dieses Parlament in seinen Ausschußberatungen sicher die Möglichkeit haben wird, eine bessere Lösung zu finden, als sie mir eingefallen ist. Ich bin bescheiden genug, diese Möglichkeit in Rechnung zu stellen.

(Beifall in der Mitte und bei einzelnen Abgeordneten der FDP und DP.)

Ich sage noch einmal, die Form der Kostenbeteiligung ist in diesem Zusammenhang erst in zweiter Linie entscheidend. Was entscheidend ist, habe ich vorhin in meinen Sätzen gesagt, und, meine Damen und Herren, Sie dürfen sicher sein: darüber wird ernst beraten werden. Verläßt man aber das System der heutigen Pauschalhonorierung und geht man zur Honorierung nach Einzelleistungen über, so ist eine weitere zwangsläufige Folge eines solchen Systemwandels die Zugrundelegung einer Gebührenordnung für die Einzelleistungen. Auf die Frage nach der zweckmäßigen Form einer solchen Gebührenordnung werde ich später zu sprechen kommen.
Sie sehen, meine Damen und Herren, daß sich hier ein Stück des Entwurfs zwangsläufig in das andere Stück fügt und fügen muß, um ein sinnvolles Ganzes zu ergeben. Von der Sicht des Versicherten her fordern hohe Leistungen Besonnenheit und Maß in der Inanspruchnahme dieser Leistungen.

(Abg. Frau Kalinke: Sehr wahr!)

Hier meine ich, darf der Gesetzgeber einen wichtigen Umstand nicht übersehen: daß dieses Gesetz für Menschen gemacht wird, Menschen mit Vorzügen, aber auch mit Schwächen.

(Abg. Stingl: Sehr richtig!)

Noch einen weiteren Gesichtspunkt darf ich. hinzufügen. Die Gemeinschaft — und das ist auch ein



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Prinzip der Sozialethik — hat zwar die Aufgabe, alles zu tun, um dem einzelnen Menschen in den Wechselfällen des Lebens Hilfe angedeihen zu lassen. Diese Hilfe muß aber so beschaffen sein, daß sie dem einzelnen nicht jede Verantwortung abnimmt, ihn vor allem nicht des Willens zur Selbsthilfe beraubt, der einen der entscheidenden Faktoren für die Entfaltung des menschlichen Lebens darstellt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Diesen Willen zur Selbsthilfe zu wecken und zu fördern, sollte gerade das Ziel einer verantwortungsvollen sozialpolitischen Gesetzgebung sein. Ich weiß, daß diese Gedanken nicht neu sind. Sie sind auch in diesem Hause bei verschiedenen Gelegenheiten und von verschiedenen Seiten wiederholt betont worden. Ich meine, daß wir jetzt und bei dieser Vorlage die Gelegenheit hätten, solche Gedanken in die Tat umzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der DP.)

Ich meine, wir sollten im Bereich der sozialen Krankenversicherung den Willen des Versicherten fördern, das wirtschaftliche Risiko der Krankheit auch aus eigenen Kräften mitzutragen und sich nicht ausschließlich auf die Hilfe der Gemeinschaft zu verlassen, selbst wenn er diese Hilfe mit eigenen Beiträgen finanziert.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Schellenberg: Da ist der Beifall aber schwach! — Weitere Zurufe von der SPD.)

Gestatten Sie mir, meine sehr verehrten Damen und Herren, nachdem ich versucht habe, die Grundgedanken dieses Gesetzes zu erläutern, auf einige Einzelheiten einzugehen. Ich werde vielleicht im Laufe der Debatte Gelegenheit haben, noch einmal den einen oder anderen dieser Grundsätze hier zu behandeln. Jetzt möchte ich mich darauf beschränken, Ihnen die wichtigsten Einzelheiten des Gesetzentwurfs vorzutragen, insonderheit diejenigen, bei denen Neuerungen zu verzeichnen sind. Sie mögen, meine Damen und Herren, schon daraus entnehmen, daß viel vom heute geltenden Recht auch bei dieser Reform erhalten bleibt.
Wir haben in den vergangenen Tagen merkwürdige Einheitsfronten erlebt. Ich bin sicher, diese Einheitsfronten zerbrechen schon bei der Beratung des Paragraphen, den ich Ihnen jetzt kurz darlege, wo es darum geht, wie denn nun der Kreis der Versicherten zu umreißen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Manche Flugblätter werden eine etwas verbindlichere Sprache sprechen.
Was nämlich den Kreis der versicherten Personen betrifft, geht der Regierungsentwurf davon aus, daß die Krankenversicherung wieder vorwiegend eine Versicherung der unselbständig Beschäftigten, der Arbeitnehmer, werden soll. Die bisher versicherungspflichtigen Selbständigen sind aus der Versicherungpflicht entlassen; aber ihnen wird die Versicherungsberechtigung zuerkannt. Der Versicherungsschutz für den Arbeitnehmer, soweit er sicherungsbedürftig ist, soll sich von der Arbeitsaufnahme bis zu seinem Tode über alle Stationen des Arbeitslebens, mit denen erfahrungsgemäß gerechnet werden muß — wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und schließlich Rentenbezug , hinweg erstrecken. Schon vor der Arbeitsaufnahme ist er, wenn er Kind eines Versicherten ist, über die Familienhilfe in den Schutz der Versichertengemeinschaft einbezogen. Damit gewährt die Krankenversicherung Schutz in allen Lebensabschnitten dem, der dessen bedarf.
Es ist einer der Grundsätze der Sozialpolitik der Bundesregierung — ich habe sie diesem Hohen Hause, den für die Sozialpolitik zuständigen Ausschüssen, schriftlich und mündlich dargelegt —, daß man soziale Leistungen nur dort erbringen soll, wo soziale Leistungen erforderlich sind, dann aber in ausreichendem Ausmaße,

(Beifall bei der CDU/CSU)

und daß man soziale Leistungen dort nicht erbringt,
wo der einzelne aus eigener Kraft für sich und die
Seinen mit den Lebensrisiken fertigzuwerden weiß.
Deshalb sehen wir vor, daß wie bisher versicherungspflichtig alle Arbeitnehmer mit einem Jahresarbeitsverdienst bis zu 7920 DM sind. Ist der Jahresarbeitsverdienst höher als 7920 DM oder 660 DM monatlich, so sind Arbeitnehmer dann versicherungspflichtig, wenn sie im Krankheitsfalle nicht mindestens für sechs Wochen Anspruch auf Fortzahlung ihres Arbeitsentgelts haben. Damit behandelt der Entwurf Arbeiter und Angestellte unter gleichen versicherungsrechtlichen Bedingungen gleich. Wenn das Arbeitsentgelt eine gewisse Höhe übersteigt und der Arbeiter wie der Angestellte im Krankheitsfalle Anspruch auf volle Lohnfortzahlung hat, so ist von der Krankenversicherung her gesehen eine unterschiedliche Behandlung nicht mehr gerechtfertigt.
Lassen Sie mich hier gleich über ein Problem sprechen, auf das der Herr Kollege Rohde eine Antwort eigens erbeten hat, ich meine Punkt 4 der Großen Anfrage der SPD. Ich bin der Auffassung, die Lohnfortzahlung der Arbeiter im Krankheitsfalle ist nicht ein versicherungsrechtliches, sondern ein arbeitsrechtliches Problem. Im Sommer 1957 hat sich dieses Hohe Haus eingehend mit der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle beschäftigt. Das Ergebnis war das Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle. Diesem Gesetz und dem darin verkörperten Kompromiß haben Regierungsparteien und Opposition zugestimmt. In der kurzen Zeit, die seither verflossen ist, sind von keiner Seite Gründe vorgebracht worden, die nicht auch schon damals zur Erörterung gestanden hätten. Die Bundesregierung hat daher keinen Anlaß gesehen, von sich aus eine Änderung der Entscheidungen vorzuschlagen, die das Hohe Haus im Jahre 1957 getroffen hat.
Was die Höhe der Versicherungspflichtgrenze betrifft, so war die Bundesregierung der Meinung, daß die im Jahre 1957 gefundene Grenze auch heute noch den sozialpolitischen Notwendigkeiten und Gegebenheiten entspricht. Wenn wir die geschichtliche Entwicklung der Versicherungspflichtgrenze betrachten, stellen wir fest, daß diese Grenze von 1914 bis

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1949 zweimal erhöht wurde, und zwar von 2500 Mark auf 3600 Mark. Seit 1949 wurde sie dreimal erhöht; sie stieg von 3600 auf 7920 DM. Seit ihrer Einführung im Jahre 1914 ist sie bis heute um mehr als das Dreifache gestiegen. Gemessen an der Entwicklung der Lohn- und Preisverhältnisse im gleichen Zeitraum erscheint uns diese Grenze deshalb heute noch angemessen. Die Bundesregierung konnte sich daher dem Vorschlag des Bundesrates nicht anschließen, der diese Grenze an die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung mit der Wirkung einer jeweils automatischen Erhöhung knüpfen wollte.
Auf die freiwillige Versicherung will ich, da sie in ihren Formen der freiwilligen Weiterversicherung und der Versicherungsberechtigung im wesentlichen gegenüber dem geltenden Recht nicht verändert worden ist, nicht näher eingehen. Erwähnen möchte ich aber, daß der Regierungsentwurf erstmals seit 1941 wieder vorsieht, die Versicherung erlöschen zu lassen, wenn ,ein bestimmtes Einkommen — nach dem Regierungsentwurf 15 000 DM pro Jahr — überschritten wird und die Versicherung noch nicht zehn Jahre bestanden hat.
Die im Entwurf vorgesehenen Leistungsverbesserungen runden das Leistungsrecht der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung so ab, daß man es als optimal bezeichnen muß.
Hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist zunächst einmal die Vorsorgehilfe zu erwähnen. Der Entwurf wählt bewußt den Ausdruck „Vorsorgehilfe", um damit klarzumachen, daß die Gemeinschaft dem einzelnen Hilfe nur dazu leisten kann, selbst für seine Gesundheit vorzusorgen, und daß sie ihm nur Leistungen anbieten kann, deren er sich zu diesem Zwecke bedienen soll. Eines nämlich kann weder der Gesetzgeber noch kann es die soziale Krankenversicherung, nämlich auf den Menschen einwirken, daß er selbst ein gesundheitsförderndes, ein gesundheitsgerechtes Leben führt. Das ist eine Erziehungsaufgabe, der wir uns leider nicht unterziehen können.
In einem gewissen Umfang — das soll hier dankbar anerkannt werden — haben auch heute schon Krankenkassen bestimmte Vorsorgeleistungen gewährt. Diese Leistungen sind jedoch Ermessensleistungen, und die Krankenkassen gewähren sie sehr unterschiedlich. Aber in Zukunft sollen als Pflichtleistungen ärztliche Vorsorgeuntersuchungen für Versicherte, die das vierzigste Lebensjahr vollendet haben, gewährt werden. Sie können sich zur Früherkennung von Krankheiten innerhalb von drei Jahren einmal ärztlich untersuchen lassen. Dasselbe gilt übrigens auch für die Familienangehörigen der Versicherten. Der Selbstverwaltung, die hier gute Vorarbeit geleistet hat, sind auf diesem Gebiet, das weitgehend Neuland bedeutet, weite Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Sie kann kürzere Zeiträume als drei Jahre zulassen, sie kann gezielte Vorsorgeuntersuchungen für besonders gefährdete Berufsoder Personengruppen einführen, sie kann schließlich Vorsorgeuntersuchungen auch für Versicherte vor ihrem vierzigsten Lebensjahr gewähren. Zahnärztliche Vorsorgeuntersuchungen sind in jährlichen Abständen vorgesehen. Wer diese Vorsorgeuntersuchungen beim Zahnarzt regelmäßig durchführen läßt, soll dadurch belohnt werden, daß er notwendigen Zahnersatz als Sachleistung erhält.
Weitere Vorsorgemaßnahmen sind Vorsorgekuren, die von den Kassen nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen gewährt werden können und die entweder in der Form von Sachleistungen oder von Zuschußleistungen möglich sind. Voraussetzung ist, daß ein Zustand eingetreten ist, der nach ärztlichem Gutachten die Arbeitsfähigkeit des Versicherten bedroht. Die Gewährung einer solchen Kur darf nicht daran scheitern, daß der Versicherte während der Kur ohne Arbeitsverdienst ist. Er erhält daher Krankengeld wie bei Krankenhauspflege auch dann, wenn während der Kur Arbeitsunfähigkeit nicht besteht. Weitere Maßnahmen der Vorsorgehilfe sind im Regierungsentwurf nur als Beispiele aufgezählt.
Ich komme jetzt zu einem Kapitel, das sicherlich von besonderem Interesse ist. Nach geltendem Recht fällt das Krankengeld von der 7. Woche an auf 50 v. H. des Arbeitsentgelts ab, soweit nicht einzelne Kassen Mehrleistungen vorgesehen haben. Da die Notwendigkeit wirtschaftlich ausreichender Sicherung bei den Versicherten aller Kassenarten im gleichen Maße gegeben ist, schreibt der Regierungsentwurf vor, daß das Krankengeld für die gesamte Krankheitsdauer in gleichbleibender Höhe zu zahlen ist. Dies dürfte eine beachtliche Neuerung sein. Als Grundbetrag sind 60 v. H. des Bruttoarbeitsentgelts für den ledigen Versicherten und für die Familienangehörigen Zuschläge von je 5 v. H. vorgesehen. Der Gesamtbetrag von Krankengeld und Familienzuschlägen ist auf 75 v. H. des Bruttoarbeitsentgelts begrenzt. Neu ist auch die Berechnungsgrundlage für das Krankengeld, nämlich das Arbeitsentgelt, das im letzten abgerechneten Kalendermonat vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit erzielt worden ist. Der Entwurf behält allerdings grundsätzlich zwei Karenztage bei. Die Vorschrift, die durch das Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle von 1957 eingefügt worden ist, nach der die Karenztage bei einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als zwei Wochen nachgezahlt werden, entfällt.
Verbesserungen sind auch für das Krankengeld vorgesehen, das während eines Krankenhausaufenthaltes des Versicherten zu zahlen ist und das im geltenden Recht als Hausgeld bezeichnet wird.
Was die Leistungsdauer betrifft, so hält der Entwurf daran fest, daß Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln ohne zeitliche Begrenzung während der Mitgliedschaft besteht. Wesentlich erweitert wird dagegen die Leistungsdauer bei Krankengeld und Krankenhauspflege, die nach dem Entwurf praktisch zeitlich unbegrenzt zu gewähren sind. Damit, meine Damen und Herren, wird die in der Vergangenheit so gefürchtete Aussteuerung beseitigt, die, sozialpoli-



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tisch gesehen, das schwächste Glied in der Leistungskette unserer Krankenversicherung ist.

(Sehr richtig! in der Mitte. — Abg. Dr. Schellenberg: Die Aussteuerung wird nicht ganz beseitigt!)

Nach geltendem Recht werden Krankengeld und Krankenhauspflege als Pflichtleistungen für längstens 26 Wochen gewährt. Durch Satzungsbestimmung kann die Leistungsdauer auf 52 Wochen erweitert werden. Von dieser Möglichkeit ist jedoch nur in beschränktem Maße Gebrauch gemacht worden. Von den 2059 Kassen im Bundesgebiet haben nach dem Stande von Ende 1957, dem letzten Berichtsjahr, nur 113 Kassen die Bezugsdauer des Krankengeldes verlängert.

(Abg. Dr. Schellenberg: Mit wieviel Versicherten?)

— Die Zahlen habe ich im Augenblick nicht da. —Der Entwurf sieht vor, daß Krankengeld und Krankenhauspflege unbegrenzt gewährt werden. Nur wenn es sich um die gleiche Krankheit handelt, ist der Leistungsanspruch innerhalb von jeweils drei Jahren auf eineinhalb Jahre begrenzt. Da insbesondere bei chronischen Krankheiten Krankenhauspflege nicht ständig, sondern nur in Zeitabständen notwendig ist, der Anspruch auf die Krankenhauspflege aber nach Ablauf von drei Jahren für eineinhalb Jahre von neuem entsteht, ist die Aussteuerung damit praktisch beseitigt. Wenn wir überhaupt noch eine Grenze vorgesehen haben, dann nur deshalb, um in medizinisch schwierigen Fällen eine Abgrenzung des Behandlungsfalles vom reinen Pflegefall zu finden, mit dessen Kosten die Krankenversicherung ihrer Aufgabe nach nicht belastet werden soll.
Sichergestellt ist auch, daß die Sozialleistungen der verschiedenen Versicherungsträger lückenlos ineinander greifen, ohne daß es zum sozialpolitisch ungerechtfertigten Doppelbezug von Leistungen kommt. So ist der Bezug von Krankengeld ausgeschlossen, wenn Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Altersruhegeld gewährt wird.
Ich will das nicht alles im einzelnen aufzählen, aber ich will mich an dieser Stelle mit einer Polemik auseinandersetzen. Es wird nämlich gegen die Leistungsverbesserungen oft ins Feld geführt, daß nur ein geringer Teil der Versicherten in den Genuß dieser Verbesserungen komme. Ich kann demgegenüber nur sagen: Gott sei Dank, daß sie nur einem kleineren Teil der Versicherten zugute kommen! Hier ist nämlich nicht die Zahl entscheidend, sondern die Schwere des Schicksals.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Der Sinn einer wirklichen sozialen Sicherung ist der, zu helfen, wenn das Schicksal mit seiner ganzen Schwere für eine lange Dauer zuschlägt. Deshalb sind diese Bestimmungen von so eminentem Wert für die Versicherten.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des Abg. Bazille.)

Schon immer ist die Familie in der gesetzlichen Krankenversicherung besonders geschützt gewesen.
Man kann behaupten, daß es keine soziale Einrichtung in der Bundesrepublik gibt, die sich den Schutz der Familie mehr angelegen sein läßt als die gesetzliche Krankenversicherung. Denn schon herkömmlich wurden, ohne daß für Ehefrau und Kinder zusätzliche Beiträge erhoben wurden, Familienleistungen erbracht. In Zukunft aber sollen diese Leistungen kraft Gesetzes nach Umfang und Dauer die gleichen sein wie für den Versicherten selbst. Ich glaube, das ist ein familienpolitischer Fortschritt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich komme nun zu einem Problem, das im Bundesrat zu Auseinandersetzungen geführt hat — ich habe mich selber an den Ausschußberatungen beteiligt — und das man heute aus der gesetzlichen Krankenversicherung verbannen möchte. Die Leistungen bei Mutterschaft sollen künftig einheitlich durch die Reichsversicherungsordnung geregelt werden. Das Mutterschutzgesetz soll, wie es auch seiner Systematik entspricht, die arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen für die erwerbstätige Mutter enthalten. Im Rahmen der Mutterschaftshilfe werden aber nach diesem Gesetz ärztliche Betreuung und Hebammenhilfe bei der Entbindung und — als neue besondere Vorsorgeleistungen — auch während der Schwangerschaft gewährt, wobei die ärztliche Betreuung auch etwa erforderliche Behandlung umfaßt. Das bisherige Stillgeld und der Entbindungskostenbeitrag wird mit einem Pauschbetrag in Höhe von 100 DM abgegolten. Auf die Stillbescheinigung nach bisherigem Recht wird verzichtet. Sie ist, wie alle Fachleute übereinstimmend sagen, von zweifelhaftem Wert. Die Bundesregierung geht von dem Gedanken aus, daß man lieber eine Leistung ohne fragwürdigen Nachweis gewähren, als eine Versuchung schaffen sollte. Sie hat in ihrem Vorschlag einen Rechtsanspruch auf Pflege in einer Entbindungsoder in einer Krankenanstalt bis zur Dauer von 10 Tagen vorgesehen. Dieser Anspruch ist neu. Die Bundesregierung hält ihn für sozial- und gesundheitspolitisch erwünscht.
Das Mutterschaftsgeld wird wie bisher in der Höhe des ausgefallenen Nettoarbeitsentgelts für sechs Wochen vor und für sechs bis zwölf Wochen nach der Entbindung gewährt. Die bisher für den Bezug der Leistungen nach der Reichsversicherungsordnung geforderte Vorversicherungszeit von 10 Monaten in den letzten zwei Jahren vor der Niederkunft entfällt. Voraussetzung ist nur noch, daß zwischen dem 10. und dem 4. Monat vor der Entbindung für mindestens sechs Wochen Versicherungspflicht oder ein Arbeitsverhältnis bestanden hat.
Schließlich darf ich noch erwähnen, daß auch das Sterbegeld nicht unwesentlich erhöht worden ist. Das Mindeststerbegeld beträgt statt bisher 100 DM künftig 400 DM. Im übrigen wird es als Regelleistung in Höhe des Betrages gezahlt, der zuletzt für die Bemessung des monatlichen Beitrages maßgebend war.
Ich darf zu den Leistungsverbesserungen noch erwähnen, daß der Versicherte künftig auch bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt, also nicht nur



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bei Beschäftigung im Ausland, sondern auch bei Auslandsurlaub, Anspruch auf Leistungen aus der Versicherung hat. Ich bin überzeugt, daß das Hohe Haus diesen bedeutenden Leistungsverbesserungen zustimmen wird, und stehe nicht an, zu erklären, daß ich die Äußerung einer großen Gewerkschaft als wohltuend empfunden habe, die ihren Beschluß damit einleitete, daß sie die geplanten Leistungsverbesserungen anerkannte und begrüßte, und dann die Vorschläge kritisierte, die sie glaubte nicht billigen zu können. Sie unterscheidet sich damit in der Form und in den Möglichkeiten des Ausdrucks wesentlich von den Verfassern anderer Flugblätter, die für sich einen höheren Bildungsgrad in Anspruch nehmen.
Nunmehr komme ich zu dem heißumstrittenen Teil der Vorlage, zur Frage der Selbstbeteiligung der Versicherten, und hier bitte ich Sie, Herr Professor Schellenberg, um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. Sosehr der Gedanke der Kostenbeteiligung bei der ärztlichen Behandlung, beim Bezug von Arznei und bei Krankenhauspflege in der Diskussion der vergangenen Jahre bejaht worden ist, so weit sind die Vorstellungen über die Technik der Durchführung auseinandergegangen.
Meine Damen und Herren, ich hatte heute morgen vor Beginn dieser Sitzung nur wenig Zeit und ich war nicht in der Lage, alle das heutige Thema betreffenden Pressemitteilungen zu lesen. Aber eines ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich habe es noch nicht genau gelesen. Ich sah nur mein Bild mitten in einem großen Aufsatz, und es stand darunter: Blank, der Schöpfer des Gedankens der Selbstbeteiligung. Meine Damen und Herren, ich möchte kein Plagiat begehen. Ich bin nicht der Schöpfer dieses Gedankens.

(Abg. Frau Kalinke: Sie sind zu jung dafür!)

— Liebe Frau Kalinke, ich nehme die Kritik gern entgegen. — Ich habe zu meinem Erstaunen gesehen, daß auch in früheren Gesetzesvorlagen solche Vorschläge enthalten waren, und ich kenne sie aus einer Unzahl von ärztlichen Meinungsäußerungen.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Ich müßte den ganzen Morgen hier reden — das will ich aber nicht; ich will nicht unhöflich sein —, wenn ich auch nur einen Bruchteil dieser Äußerungen zitieren wollte. Aber ich wage gar nicht, den Herrn Präsidenten darum zu bitten. Ich stelle Ihnen dieses Material, sofern Sie es nicht haben, auszugsweise gerne zur Verfügung.

(Abg. Dr. Schellenberg: Das habe ich auch schon der Presse gegeben!)

— Herr Professor Schellenberg, was ich der deutschen Presse zur Verfügung stelle, haben auch Sie immer; denn Ihr Mitarbeiter pflegt ja, worüber ich mich sehr freue, an allen meinen Pressekonferenzen teilzunehmen.

(Abg. Dr. Schellenberg: Nachdem ich Ihren zuerst eingeladen hatte!)

— Sehen Sie, Herr Professor, dann ist also die eine Ehre die andere wert.

(Heiterkeit.)

Dieser Gedanke, der in der Vergangenheit so bejaht wurde, wird plötzlich zum Zentralpunkt der ganzen Angelegenheit. Ich brauche Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht vorzutragen, was für Vorschläge im einzelnen gemacht worden sind. Wir haben sie geprüft. Der Vorwurf, den Herr Rohde hier machte, daß die Herren des Arbeitsministeriums überheblich seien, besteht zu Unrecht. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen einzigen Satz sagen. Die Herren, die mit der Ausarbeitung des Entwurfs beschäftigt waren, haben ein Übermaß an Arbeit geleistet und stehen mit ihrer ganzen sittlichen Überzeugung und Verantwortung hinter dem, was sie hier zu Papier gebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich sage gar nicht, daß es nicht vielleicht bessere Vorschläge gäbe. Ich habe mehrfach, auch vor der deutschen Öffentlichkeit, geäußert, daß wir im Ausschuß des Parlaments, in dem sehr sachverständige Damen und Herren sitzen, diese Problematik beraten werden, und ich würde mir nicht im mindesten beschämt vorkommen, wenn es dann gelänge, Lösungen zu finden, die ich als besser ansehen müßte als die, die im Regierungsentwurf stehen.

(Beifall in der Mitte und rechts. — Abg. Dr. Schellenberg: Dafür werden wir sorgen!)

- Ich freue mich über diese Bereitschaft, bessere
Lösungen zu finden, die Sie, Herr Professor, hier bekunden.

(Abg. Dr. Schellenberg: Nur werden wir Ihre Konzeption etwas ändern müssen!)

- Ich bin ganz sicher, Ihre Konzeption, die Sie vom staatlichen Gesundheitsdienst haben, wird keinerlei Niederschlag in diesem Gesetz finden.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Schellenberg: Ich schicke Ihnen das Godesberger Programm zu, Herr Minister!)

— Herr Professor Schellenberg, ich habe schon eingangs gesagt: die merkwürdige Einheitsfront wird nicht über den § 2 dieses Gesetzentwurfs hinauskommen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Schellenberg: Nun, warten Sie einmal ab!)

Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich mich wieder meinem Thema zuwenden. Was ist denn eigentlich gewollt? Man muß nur einmal die Flugblätter lesen! Was ist denn eigentlich gewollt? Eine Selbstbeteiligung in einem gewissen Umfange. Ich stehe nicht an, hier zu erklären, daß es vielleicht klüger gewesen wäre, statt in das Gesetz hineinzuschreiben, die Selbstverwaltung könne das Ausmaß der Beteiligung begrenzen, gleich hineinzuschreiben eine Begrenzung nach oben. Dann wäre vielleicht der Vorwurf gekommen: „Schon wieder die Möglichkeiten der Selbstverwaltung eingeengt!" Aber



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der wäre dann vielleicht leichter zu ertragen gewesen.
Um den Schauermärchen von der furchtbaren Belastung, die nun auf den Ärmsten der Armen zukommen könne, entgegenzutreten, stehe ich auch nicht an, hier zu erklären, was ich mir erlaubt habe der deutschen Presse zu sagen.

(Abg. Dr. Schellenberg: Das Parlament kommt immer an zweiter Stelle!)

Ich würde es begrüßen, wenn sich das Parlament in der Ausschußberatung mit dieser Problematik beschäftigte, und rich bin der Meinung, daß eine absolute — ich weiß, es fällt Ihnen schwer, Herr Professor Schellenberg, zu warten, bis Sie hier stehen; aber Sie kommen noch hierhin —(Heiterkeit) Begrenzung zu finden ist.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, von wem fordert denn dieser Entwurf eine Selbstbeteiligung? Doch von dem, der entweder als Angestellter in den ersten sechs Wochen sein Gehalt weiterbezieht oder der als Arbeiter nach dem Gesetz, das man kurz immer „Lohnfortzahlungsgesetz" nennt, 90 % seines Netto-Lohnes bekommt. Er fordert doch keine Beteiligung — um die Dinge wieder einmal familienpolitisch zu beleuchten — für die Behandlung der Kinder beim Arzt. Ich bin also der Meinung, daß das ein Punkt ist, über den man sprechen kann. Und die Kostenbeteiligung wird ja, weil auf sechs Wochen begrenzt, dann in Wahrheit den Schwerkranken und den, der lange krank ist, unverhältnismäßig weniger betreffen als den, der den Arzt nur einmal in Anspruch nimmt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben genügend Zahlenmaterial darüber zur Verfügung.
Nun nehme ich den Einwand, daß die Kostenbeteiligung Gefahren für die Gesundheit in sich bergen könne, wenn sie so gehalten ist, daß sie dem Versicherten den Weg zum Arzt versperrt, sehr ernst. Meine Damen und Herren, ich will nicht zitieren, was über diese Frage von ärztlicher Seite gesagt worden ist, auch noch in jüngster Zeit. Ich will nicht einmal zitieren, was in einigen Ärztlichen Mitteilungen — ich habe es hier neben mir liegen — darüber steht. Ich will nicht einmal Ausdrücke gebrauchen, die hier gebraucht sind, weil man mir dann vorwerfen würde, ich hätte meine Worte nicht gewählt. Aber, meine sehr verehrten Damen und Heren, wir haben Zeugnisse, Aussprüche von Medizinern von Rang, die eine solche Behauptung, daß dies gesundheitspolitisch unvertretbar sei, nicht gelten lassen. Meine Damen und Herren, wie furchtbar müßte es, wenn das zutrifft, um die Gesundheit in den Ländern — auch westlichen Ländern — bestellt sein, in denen die Selbstbeteiligung seit langem gang und gäbe ist.

(Beifall in der Mitte. — Abg. Frau Korspeter: In ganz anderer Form!)

Frau Korspeter, Sie haben offenbar überhört, daß ich so bescheiden war, zuzugeben, daß es wahrscheinlich bei Beratungen vielleicht auch noch bessere Lösungen gibt, als sie mir und meinen Mitarbeitern eingefallen sind. Ich habe ausdrücklich erklärt, daß ich in dieser Hinsicht keinen Autorenehrgeiz hätte.

(Zuruf von der SPD: Das hat aber lange gedauert!)

— Alles braucht seine Zeit, auch bei Ihnen. Das haben Sie gemerkt.

(Heiterkeit und Beifall in der Mitte.)

Wenn aber die Behauptung, die von mir vorgesehene Selbstbeteiligung erschwere den Weg zum Arzt und sei gesundheitspolitisch von ungeheurer Gefahr, von jemandem aufgestellt wird, der in gleichem Atemzuge eine Selbstbeteiligung, aber in prozentualer Form an den Gesamtarztkosten, vorschlägt oder sogar ein Kostenerstattungssystem, bei dem der Versicherte zunächst den gesamten Betrag der ärztlichen Rechnung vorlegen müßte, um nachher einen vereinbarten Teil zurückzuerhalten, dann darf man sich nicht wundern, daß ich diesem Argument keine besondere Gewichtigkeit mehr zusprechen kann.

(Beifall in der Mitte.)

Ich habe schon dargelegt, wie ich mir die Lösung dieser Frage denke. An den Kosten der Arznei- und Verbandsmittel ist der Versicherte heute schon nach geltendem Recht mit einem Betrag von 50 Pf pro Verordnungsblatt beteiligt. Das rapide Anwachsen der Ausgaben der Krankenkassen für Arzneimittel, die seit 1949 fast um das Doppelte gestiegen sind und 1957 im Etat der Krankenversicherung 738,7 Millionen DM betragen, zeigt, daß dieser Betrag von 50 Pf den heutigen Verhältnissen nicht mehr entspricht. Ich weiß nicht, Herr Professor Schellenberg, ob Sie in der Frage der Selbstbeteiligung bei den Medikamenten, bei den Heilmitteln noch auf dem Standpunkt stehen, der im Sozialplan der SPD niedergelegt ist, oder ob Sie auch
— recht spät — Ihre Ansicht geändert haben.

(Heiterkeit. — Abg. Dr. Schellenberg: Wir werden dazu Stellung nehmen!)

— Ich bin überzeugt, daß Sie das tun werden. Damit es Ihnen aber nicht entfällt, habe ich mir erlaubt, Sie daran zu erinnern.

(Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Da gerade auf dem Gebiet der Arzneiversorgung der Wunschgedanke mancher Versicherter eine Rolle spielt, scheint eine starre Gebühr nicht zweckmäßig zu sein, sondern eine nach den Kosten des Medikaments gestaffelte. Der Entwurf hat daher einen Vorschlag übernommen, der früher schon einmal gemacht worden ist. Daß man natürlich von dieser Kostenbeteiligung bei Medikamenten, die chronisch Kranke brauchen — ich nenne nur das Wort Insulin —, Ausnahmen machen muß, ist eine bare Selbstverständlichkeit.
Kein Punkt meines Vorschlags ist in der Öffentlichkeit so falsch dargestellt worden wie der Punkt der Selbstbeteiligung an den Pflegekosten im Krankenhaus. Man tut so, als ob ich hier etwas Neues einführte. Das hat es aber immer gegeben. Immer ist



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das Krankengeld dessen, der im Krankenhaus lag, gekürzt gewesen gegenüber dem Krankengeld dessen, der in ambulanter Behandlung war, und die Begründung — nicht von mir erfunden — war immer die, daß der Betreffende ja bei seinem Krankenhausaufenthalt und durch ihn einige Einsparungen mache. Und was tue ich jetzt? Ich führe nur gleiches für gleiches ein und sage: Dann soll auch der, der seinen Lohn oder sein Gehalt fortgezahlt bekommt, beim Krankenhausaufenthalt eine gewisse Beteiligung tragen. Darauf läuft mein Selbstbeteiligungsvorschlag hinaus.
Im übrigen weiß jeder Kundige, daß es im Bereich der gesamten sozialen Krankenversicherung eine erhebliche Selbstbeteiligung stiller Art gibt. Wer von Ihnen kennt nicht den Fall, daß ein Versicherter, der der sozialen Krankenversicherung angehört, ins Krankenhaus muß und es sich die Angehörigen zu einer sittlichen Pflicht machen, weil sie ihm etwas Besonderes gewähren wollen, unter Aufbietung aller Kräfte den Übergang in eine höhere Klasse, als sie die Kasse gewährt, zu ermöglichen und den entsprechenden Betrag zuzuzahlen.
In der öffentlichen Behandlung dieser Frage steckt viel von dem Motto: Hier ist der Punkt. Je unklarer man sich ausdrückt, um so leichter ist die öffentliche Meinung aufzuputschen. Es war mein Bestreben, hier vor dem Deutschen Bundestag und damit vor dem deutschen Volk einmal den wesentlichen Inhalt meines Gesetzentwurfes vorzutragen. Dieser Inhalt wird in der deutschen Presse und im Rundfunk, sei es zustimmend, sei es kritisierend — ich scheue keine Kritik —, behandelt werden. Und ich werde, sobald Sie diesen Gesetzentwurf in die Beratung genommen haben, auch das Meine tun, um die deutsche Öffentlichkeit bis in jede Familie hinein darüber aufzuklären, was die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf will.

(Beifall in der Mitte.)

Ich werde Ihnen nicht unwidersprochen gestatten, Flugblätter ins Volk zu werfen, von denen Sie selber wissen, daß der Inhalt unwahr ist.

(Beifall in der Mitte. — Zuruf von der SPD: Herr Blank, wo bleibt der Rang? — Weitere Zurufe von der SPD.)

— Ich weiß, daß Ihnen das unangenehm ist.

(Abg. Dr. Schellenberg: Wer soll das bezahlen?! — Abg. Börner: Erst beweisen!)

— Das machen wir diesmal sogar noch besser, Herr Schellenberg.

(Abg. Dr. Schellenberg: Das wird aber dringend notwendig sein!)

— Ja, davon bin ich überzeugt, daß das notwendig ist. Es wird wahrscheinlich auch heute notwendig sein, hierzu noch einiges zu sagen.
Mit dieser Frage steht natürlich auch das Problem der allgemeinen Zulassung in Zusammenhang. Der Entwurf sieht vor, daß grundsätzlich jeder Arzt Anspruch darauf hat, an der kassenärztlichen Versorgung teilzunehmen. Ich hatte mir zu Eingang dieses Problem zu behandeln erlaubt, und weil auch hier völlig Falsches in die deutsche Öffentlichkeit geworfen worden ist und dort plötzlich Spekulationen darüber angestellt werden, wie viele Jahre man tätig sein müsse, um endlich Patienten behandeln zu dürfen, die voller Vertrauen zu einem kommen, will ich es noch einmal näher darlegen.
Grundsätzlich hat nach meinem Entwurf jeder frei praktizierende Arzt Anspruch darauf, an der kassenärztlichen Versorgung teilzunehmen.

(Zuruf von der SPD: Das ist aber auch begrenzt!)

Nur dann, wenn er die Kassenpraxis an einem frei gewählten Ort ausüben will, machen wir ihm, um die kassenärztliche Versorgung überall sicherzustellen, Auflagen. Dann muß er entweder sieben Jahre in eigener Praxis niedergelassen oder zehn Jahre in einem Krankenhaus tätig gewesen sein oder fünf Jahre eine ärztliche Tätigkeit ausgeübt und das 40. Lebensjahr überschritten haben. Bei Zahnärzten liegen die Dinge noch etwas günstiger.
Freie Zulassung, freie Arztwahl, Selbstbeteiligung des Versicherten, Klarheit für den Versicherten — dadurch, daß er und nicht nur die Krankenkasse die Rechnung des Arztes in die Hand bekommt, machen als dritte Komponente natürlich eine neue Form ärztlicher Vergütung notwendig.
Ich bin außerordentlich darüber erstaunt, daß in den letzten Wochen gewisse Proteste gegen das losgingen, was man vorher jahrelang gefordert hat. Die Bundesregierung ist entschlossen — und ich glaube, daß Sie uns, meine Damen und Herren, dabei unterstützen werden —, endlich wieder eine Gebührenordnung einzuführen, die für den Arzt die Einzelhonorierung bringt.

(Beifall in der Mitte.)

Wie ist die Lage heute? Ich behaupte, kein Versicherter weiß genau Bescheid; ja, nicht einmal der Arzt, der — das setze ich voraus — seine Patienten in höchstem Verantwortungsbewußtsein behandelt, seine erbrachten Leistungen nach der geltenden Gebührenordnung in Ansatz gebracht und die Zusammenstellung seiner Leistungen der Kassenärztlichen Vereinigung eingereicht hat, weiß, auf welche Vergütung er jetzt Anspruch hat.

(Abg. Frau Kalinke: Das ist leider wahr!)

Das, meine Damen und Herren, ist einmalig im Bereich aller freien Berufe.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Ich will, daß er in Zukunft weiß, worauf er einen Anspruch hat. Natürlich muß er seine erbrachten ärztlichen Leistungen der Kassenärztlichen Vereinigung nachweisen, weil ja das Geld von den Kassen kommt; aber er muß genau wissen, wie seine erbrachten Leistungen honoriert werden, welchen Betrag er dafür zu fordern hat, natürlich gemindert um notwendige Verwaltungskosten. Er muß genau wissen, was seiner individuellen Leistung entsprechend rechtens sein Arbeitsverdienst ist. Das, meine Damen und Herren, will ich.
Sie werden daraus ersehen, daß mir nichts fernerliegt als eine Proletarisierung der Ärzte. Ich möchte,



Bundesarbeitsminister Blank
daß der Arzt in Zukunft wieder sein kann, was er sein muß. Er soll nicht die zu behandelnden Fälle deshalb zu Bagatellfällen machen, weil er nur noch einige Minuten Zeit hat.

(Beifall in der Mitte und rechts.)

Die Behandlung eines Kranken kann nicht darin bestehen, schnell ein Rezept auszuschreiben, so notwendig Rezepte sind. Der Arzt muß wieder werden, was er sein muß, ein Mann, der Zeit hat für den, der in seiner menschlichen Not zu ihm kommt und von ihm nicht nur Behandlung verlangt, sondern ein aufgeschlossenes Herz erwartet. Ich möchte nicht so große Worte gebrauchen, wie sie an anderer Stelle gebraucht sind, und hier nicht den Namen Gottes anführen; aber ich möchte sagen, daß der Arzt für seine Patienten wieder Heilender, Helfender in individueller Behandlung werden muß. Dazu gehört, daß er ein ausreichendes individuelles Honorar bekommt. Ihm dazu zu verhelfen, ist die Bundesregierung und, ich weiß es, sind meine politischen Freunde bereit; denn wir wollen keinen beamteten Arzt.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei der DP.)

Wir wollen, daß der Arzt Helfer und Heiler ist. Wir wollen, daß im Mittelpunkt dieser Reform — und das ist das Entscheidende — der Mensch steht. Wir wollen nicht den kranken Menschen übersehen, dem kranken Menschen wollen wir in seiner Not helfen. Wir wollen aber auch nicht die Gemeinschaft übersehen, in der der kranke Mensch steht.
Wenn Sie unter diesem Gesichtswinkel an die Arbeit gehen, fürchte ich mich nicht davor, daß Sie Bestimmungen meines Vorschlages ändern. Sie werden manches ändern.

(Abg. Dr. Schellenberg: Viel!)

Ich glaube, daß wir mit dem heutigen Tage den Anfang gemacht haben, auf dem Wege zu einer Sozialreform ein großes Stück fortzuschreiten. Zu der Arbeit, die jetzt vor Ihnen liegt, möchte ich Sie beglückwünschen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310210100
Meine Damen und Herren! Wir treten nun in die Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Stingl.

Josef Stingl (CDU):
Rede ID: ID0310210200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel berät dieses Hohe Haus heute einen Gesetzentwurf von besonderer Wichtigkeit. Die erste Lesung des KrankenversicherungsNeuregelungsgesetzes ist deshalb wichtig, weil allein 26 Millionen Versicherte und, zählt man die Familienangehörigen dazu, über 40 Millionen Bürger unseres Staates von den Bestimmungen dieses Gesetzes betroffen sein werden. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß ein Berufsstand, daß 70 000 Ärzte unsere Diskussion mit Spannung verfolgen. Sie warten darauf, zu erfahren, wie dieses Gesetz, das für ihre Existenz sicherlich von großer Bedeutung ist, aussehen wird. Daran ist die Bedeutung
der Beratungen zu erkennen, in die wir jetzt eingetreten sind.
Eine erste Lesung ist keine Ausschußberatung. Wie groß die Bedeutung dieses Gesetzentwurfes ist, mögen Sie aus dem Umstand ersehen, daß über 7 Milliarden DM jährlich über die Krankenkassen laufen. Jeder von uns hat die Wichtigkeit der Beratung auch daran erkennen können, daß ihm kaum jemals bei irgendeiner Gesetzesmaterie eine solche Fülle von Material von den verschiedenen Seiten, von Interessierten und Betroffenen, zugegangen ist. Wir hätten alle schon übermenschliche Kräfte haben müssen, um alles Material bis zur heutigen ersten Lesung gewissenhaft in allen Einzelfragen zu studieren. Sie sehen, meine Damen und Herren, man hat nicht versäumt, uns auch noch hier auf die Bank einen Packen Material zu legen. Wir können allerdings nicht zugleich debattieren und das auch noch lesen.

(Zuruf: Das ist kein Material!)

- Das mag sein; ich habe es nicht sehen können. Aber es sieht so aus, als ob Sie sehr genau darüber Bescheid wissen, was hierher gelegt wird.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Meine Damen und Herren, wir erkennen die Bedeutung des Gesetzes aber auch daran, daß wir, zumindest wir Sozialpolitiker, die Tribünen dieses Hauses selten so voll besetzt finden wie gerade jetzt. All dies macht uns nachdenklich und veranlaßt uns, diese Gesetzesmaterie mit besonderer Sorgfalt zu betrachten.
Ich habe die Ehre, da mein Kollege Horn leider krank ist, für die Fraktion der Christlich-Demokratischen Union und der Christlich-Sozialen Union die Stellungnahme zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Krankenversicherung vorzutragen. Wer allerdings annehmen sollte, daß diese meine Stellungnahme für die Fraktion, die in diesem Hause die absolute Mehrheit hat, Aufschluß darüber geben würde, wie das Gesetz in seiner endgültigen Form aussehen wird, dem muß ich eine Enttäuschung bereiten.

(Hört! Hört! bei der SPD. — Abg. Dr. Schellenberg: Aber, Herr Kollege Stingl, vielleicht sagen Sie, wie die CDU dazu steht!)

Mit gutem Grund wird jedes Gesetz, das dem Staatsbürger zwingende Vorschriften auferlegt, in diesem Hohen Hause dreimal beraten, und das Verlangen, schon in der ersten Beratung alle Einzelbestimmungen in ihrer endgültigen Gestalt darzulegen, wäre sinnlos.

(Beifall bei der CDU/CSU und der DP.)

Die erste Lesung kann — es sei denn, es handle sich um eine unwichtige Vorlage oder um eine Vorlage, bei der es überhaupt nicht zweierlei Meinungen gibt — immer nur Aufschluß darüber geben, wie die Fraktionen dieses Hohen Hauses grundsätzlich denken. Es ist daher meine Aufgabe, Ihnen vorzutragen, welche grundsätzlichen Auffassungen in meiner Fraktion vertreten werden, dabei aber zugleich den



Stingl
Spannungsbogen aufzuzeigen, der zugegebenermaßen auch in unserer Fraktion hinsichtlich der Einzelbestimmungen dieses Gesetzes vorhanden ist.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU. — Hört! Hört! bei der SPD.)

Den Ausschußberatungen muß es überlassen bleiben, die Formulierungen vorzubereiten, die dieses Hohe Haus dann in der zweiten und dritten Lesung beschließen soll. Das gilt selbstverständlich um so viel mehr bei einem so wichtigen Gesetz; seine Bedeutung hat Herr Minister Blank ja in allen Einzelheiten herausgestellt.
Keines der großen Gesetze, die dieses Hohe Haus bisher beschlossen hat und die in erster Lesung große Beachtung gefunden haben, hat nach der Ausschußberatung genauso ausgesehen wie vorher. Der Herr Minister hat gesagt, daß er den Parlamentsausschüssen zur Verfügung stehen wird, weil er weiß, daß Ratschläge von außerhalb gewürdigt werden müssen und daß bei der Fülle dieser Ratschläge nicht jeder von uns so wie er ein und denselben Rat als den besten empfinden wird. Es ist keine Hilfe für die Arbeit dieses Hohen Hauses, wenn man sich darauf beschränkt, zu verkünden, der Entwurf müsse weg. Meine Damen und Herren, wer hier gehört werden will, muß seine Beratung so einstellen, daß er sagt, wie dieser Entwurf aussehen solle.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die reine Negation, in der sich Rechts und Links treffen mag, war noch nie staatsaufbauend.

(Beifall bei der CDU/CSU.—Abg. Dr. Schellenberg: Das war eine Beleidigung für Frau Kalinke!)

Die Pflicht, in sachliche Erwägungen einzutreten, bringt es mit sich, daß wir auch den Rat derer hören müssen, die betroffen werden. Ich erkläre hier zu wiederholten Malen für meine Fraktion, daß wir über die Anhörung der Sachverständigen im Sozialpolitischen Ausschuß hinaus den Rat sachverständiger Freunde jederzeit hören und ihn wägen werden. Überzeugen wird uns dabei aber nicht die Massivität des Vorbringens, sondern die sachliche Berechtigung der Argumente.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zustimmung der Abg. Frau Kalinke.)

Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat uns, wozu sie sich in der Regierungserklärung von 1957 verpflichtet hatte, einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Krankenversicherung vorgelegt. Wir sind ihr dafür dankbar.

(Zuruf von der SPD: Wir nicht!)

Wir sind jetzt als zuständiges und verantwortliches Gremium in der Lage, an Hand einer Vorlage entsprechend den gesellschaftspolitischen Verhältnissen, die sich seit der Schaffung der Krankenversicherung doch wohl geändert haben, in die Beratung einzutreten.
Dieser Gesetzentwurf zur Neuregelung des Krankenversicherungsrechts kann nicht isoliert von allen
anderen Gesetzen betrachtet werden. Er muß selbstverständlich in Zusammenhang mit dem Gesetz zur Neuregelung der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten und der Knappschaften gesehen werden, er muß in Zusammenhang mit dem Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz gesehen werden, und er muß eine Übereinstimmung und eine Verzahnung mit allen anderen Sozialgesetzen bringen. Hierin sind wir sicher alle miteinander einer Meinung. Er muß der veränderten Sozialstruktur, die ja Gott sei Dank einen Wandel mitgemacht hat, angepaßt werden. Der Gesetzentwurf muß ,die Krankenversicherung der Wandlung anpassen.
Schon der Herr Minister hat vorhin darauf hingewiesen, daß das Sozialgeschehen nichts Statisches ist, sondern etwas Dynamisches, und daß man der Dynamik der Entwicklung mit den jeweils entsprechenden Mitteln begegnen muß. Der Gesetzentwurf versucht, der heutigen gesellschaftlichen Struktur unseres Volkes gerecht zu werden. Ich kann mich dem nur anschließen, was der Herr Minister gesagt hat: wir können durchaus nach allen Seiten hin vertreten, daß das bisherige Krankenversicherungsrecht eine grandiose und großartige Leistung gewesen ist. Aber wir müssen feststellen, ,daß sich im Laufe der Entwicklung Mängel gezeigt haben, die es zu beseitigen gilt.
Vor allem ist der Mangel zu nennen, daß unsere Krankenversicherung heute viel mehr auf den kurzdauernden Krankheitsfall und die Hilfe dagegen eingestellt ist als auf ,den langdauernden Krankheitsfall. Es ist einer der Zentralpunkte des Gesetzes, auch hierbei den vom Schicksal schwer Getroffenen den Schutz der Gemeinschaft angedeihen zu lassen.
Wir wissen, daß sich seit der Einführung der Krankenkasse das Urteil darüber, wer schutzbedürftig ist, völlig gewandelt hat. Wir sind heute im Sozialpolitischen nicht mehr in der Meinung befangen, es komme darauf an, einen Betroffenen nur davor zu schützen, daß er nicht untergehe. Wir meinen, daß uns heute die Gesellschaftsstruktur die Verpflichtung auferlegt, ihn nicht nur vor dem Untergang, sondern auch vor dem Absinken von seinem sozialen Standard zu schützen. Darum wird die Überlegung bei dieser Frage doch wohl einen anderen Ansatzpunkt finden müssen als die Überlegungen in der Bismarckschen Zeit.

(Abg. Winkelheide: Sehr richtig!)

Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung hierin neue Wege beschreitet, indem sie vorschlägt, Vorsorgeuntersuchungen, Vorsorgekuren, überhaupt die Vorsorgehilfe Gesetz werden zu lassen.
Wir, die Christlich-Demokratische Union und die Christlich-Soziale Union, gehen bei allen Überlegungen in der Sozialpolitik davon aus, daß der verantwortlich gegen sich und die Umwelt handelnde Mensch im Mittelpunkt der Sozialpolitik zu stehen hat. So müssen wir immer wieder eine sinnvoll aufeinander abgestimmte Eigen- und Gemeinschaftshilfe sehen. Die Eigenhilfe wünschen wir überall da, wo sie zumutbar ist und ohne Schaden verlangt werden kann. Die Gemeinschaftshilfe wollen wir überall da einführen, wo die Kräfte des ein-



Stingl
zelnen zur Beseitigung von Härtefällen überfordert sind. Die Regierung hat einen Entwurf vorgelegt, der diese Abstimmung versucht. Wir werden prüfen, ob diese Grundgedanken unserer Überlegungen zur Sozialpolitik in dem Gesetzentwurf ausreichend berücksichtigt sind oder ob wir an verschiedenen Stellen Verbesserungen anbringen müssen.
Ich will versuchen, dazu einiges zu sagen. Zunächst darf ich mich damit beschäftigen, daß die Bundesregierung den Kreis der Versicherten neu faßt, wenn auch diese Neufassung keine entscheidende und wesentliche Veränderung ergibt. Wir begrüßen es, daß auch für den Arbeiter eine Versicherungspflichtgrenze eingeführt werden soll, wenn er in gleicher Weise wie die Angestellten durch die Fortzahlung des Lohnes für sechs Wochen gesichert ist. Wir wissen aber nicht, ob der Betrag von 660 DM, den der Regierungsentwurf als Versicherungspflichtgrenze vorsieht, bei Betrachtung aller gegebenen Verhältnisse heute noch angemessen ist. Man mag davon ausgehen — dies hat der Herr Minister getan —, wie das Einkommen gestiegen ist, und danach die Bemessungsgrenze neu festsetzen. Will man aber dieses Problem gewissenhaft prüfen, muß man die Aufwendungen gegen die Einnahmen setzen. Man muß beachten, daß ein Familienvater mit 660 DM Einkommen ganz anders gestellt ist als ein Lediger, der keine anderen Verpflichtungen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir wissen dabei, daß wir mit diesem Gesetz weder die Verpflichtung haben noch auf uns nehmen wollen, die soziologischen Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten zu beseitigen. Wir wissen, daß es diese Unterschiede gibt. Wir haben dafür in der Debatte über die Rentenneuregelungsgesetze hier ausreichend gesprochen. Wir wollen diese Begrenzung jetzt nicht neu festlegen. In der Wissenschaft sind die Begriffe gar nicht so eindeutig geklärt. Wir wollen diese Unterschiede in der Gliederung unseres Volkes aufrechterhalten. Aber das kann uns nicht dazu führen, bei Bleichgelagerten Tatbeständen etwa verschiedenes Recht einzuführen. Wenn die Tatbestände gleichgelagert sind, sollen sie vielmehr auch gleichbehandelt werden. Wenn eine Versicherungspflichtgrenze, in welchér Höhe auch immer, für den Angestellten eingeführt wird, der sein Gehalt weiter empfängt, soll sie auch für denjenigen gelten, dem als Arbeiter die gleiche Sicherung auf vertraglicher oder sonstiger Grundlage zugestanden worden ist.
Wir sind der Regierung dankbar, daß in der Fassung des Personenkreises des Gesetzes noch deutlicher als bisher zum Ausdruck kommt, daß die Krankenversicherung wie die Rentenversicherung — ich erinnere an das, was wir vor drei Jahren beschlossen haben eine Einrichtung zum Schutze der unselbständigen Arbeiter und Angestellten ist. Darum ist die Zulassung von Selbständigen in anderer Weise als bisher geregelt. Wir müssen noch prüfen, ob es angebracht ist, die Versicherungsberechtigung tatsächlich so zu begrenzen, wie es die Regierung vorschlägt.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Die Entscheidung über diese Frage wird nicht allein davon abhängen, welchen Betrag oder welche vorherige Zugehörigkeit man nimmt, sondern auch davon, welche sachlichen Entscheidungen man in bezug auf die Krankenhilfe und Krankenpflege getroffen hat.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Lassen Sie mich extemporierend etwas anderes sagen. Ich will mich damit nicht festlegen. Wenn wir in etwa Vorstellungen nahetreten, die dahin gehen, daß man die freiwillig Versicherten in anderer Weise an der Eigenhilfe beteiligen sollte, dann wird die Versicherungsberechtigungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze wesentlich an Bedeutung verlieren. Darum werden wir dieses Problem immer im Zusammenhang mit der Gestaltung des materiellen Rechts sehen müssen.
Wir begrüßen es, daß sich die Bundesregierung Gedanken darüber gemacht hat, ob es angesichts der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse zweckmäßig ist, den gleichen Personenkreis wie bisher zu versichern. Wir haben natürlich zu berücksichtigen, was der Bundesrat zu den einzelnen Bestimmungen sagt. Der Bundesrat schlägt, wie Sie wissen, eine bewegliche Versicherungspflichtgrenze vor. Es will mir scheinen, daß eine bewegliche Versicherungspflichtgrenze, ohne daß man erhebliche Toleranzen einführt, gerade für die Versicherten von großem Nachteil wäre, weil sie ständig zwischen einer Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zur Versicherung schwankten, ohne daß sich ihr Gehalt dabei verändern müßte. Wir werden also auch die Vorschläge des Bundesrates ausgiebig beraten.
Der Entwurf will die Versicherungsberechtigung demjenigen nicht entziehen, der selber lange zur Versichertengemeinschaft gehört hat. Wer zehn Jahre versichert war, soll ,die Versicherungsberechtigung ohne Rücksicht auf das Einkommen behalten. Ich muß hier anmerken, daß mir im Regierungsentwurf der gleiche Gedanke bei den Rentnern nicht ganz durchgeführt erscheint. Wir werden uns hier noch einmal mit der Frage auseinandersetzen, ob nur die Pflichtversicherung vor dem Rentenfall eine Einbeziehung in den Versichertenkreis begründen soll oder ob nicht auch ein freiwilliges, damit ein echtes Bekenntnis zur Versichertengemeinschaft, eine ausreichende Voraussetzung ist. Hier wird uns der Regierungsentwurf genauso wie seinerzeit der Entwurf zur Rentnerkrankenversicherung zu Überlegungen nach allen Richtungen hin zwingen.
Ich darf mit besonderem Nachdruck das begrüßen, wozu der Herr Minister nähere Ausführungen gemacht hat, nämlich die Vorsorgehilfe. Wir wissen nicht — und kein Arzt wird uns das beantworten können —, ob eine Vorsorgeuntersuchung den Versicherten auch unter allen Umständen davor schützt, daß er einmal krank wird. Man sollte die Vorsorgeuntersuchung natürlich nicht überbewerten. Aber wir glauben, daß die Einführung von Vorsorgeuntersuchungen doch ein bedeutendes Gewicht hat.
Wir wissen nicht, ob die Begrenzung auf eine Untersuchung in drei Jahren, ob die Begrenzung auf den Kreis derer, die über vierzig Jahre alt sind, den



Stingl
heutigen Gegebenheiten entspricht. Auch bei jüngeren Menschen ist oft ein großer Verschleiß festzustellen. Hier wird nicht nur auf die Satzungen verwiesen werden können, sondern hier wird sich der Bundestag im Bewußtsein seiner Verantwortung einer Entscheidung stellen müssen.
Die Vorsorgekuren sind zu begrüßen, vor allem deshalb, weil jetzt der, dem empfohlen wird, in eine Kur zu gehen, damit eine sich abzeichnende Krankheit schon im Anfang bekämpft werden kann, keine Angst um die wirtschaftliche Sicherheit zu haben braucht. Wir begrüßen es, daß für Vorsorgekuren die Gewährung von Krankengeld vorgesehen ist.
Wir begrüßen auch die zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchungen. Wir sind uns allerdings bewußt, daß die Behandlung beim Zahnarzt wesentlich anders als die beim Arzt ist, nicht deshalb, weil der Schmerz aufhört, wenn man ins Wartezimmer des Zahnarztes kommt, sondern weil es beim Zahnarzt sich selbst auflösende Bagatellfälle gar nicht gibt. Jedes kleine Loch, das der Zahnarzt feststellt, muß leider behandelt werden. Das mag uns schmerzlich sein, wir müssen das aber sehen.

(Zuruf des Abg. Geiger [Aalen].)

— Das gleiche gilt sicher für den Blinddarm. Aber sicher gilt nicht das gleiche für eine Erkältung, Herr Kollege Geiger; die dauert mit ärztlicher Behandlung 21 Tage und ohne drei Wochen.

(Heiterkeit. — Zuruf von der SPD: Da pflichten wir Ihnen bei!)

— So sagt man bei uns zu Hause. — Wir verkennen also nicht, daß der Unterschied zwischen einer ärztlichen und einer zahnärztlichen Behandlung beachtet werden muß. Insbesondere werden wir darüber diskutieren müssen, Herr Minister, was notwendiger Zahnersatz ist und wem die Entscheidung zusteht, wieweit notwendiger Zahnersatz zu gewähren sei. Man muß bedenken, daß, wie uns Sachverständige gesagt haben, eine Prothese für ein und denselben Schaden in dem einen Fall 100 DM und in dem anderen Fall 1000 DM kosten kann. Daraus ersieht man, welch große Probleme hier von uns bewältigt werden müssen.
Wie sollte der Sprecher der Christlich-Demokratischen Union nicht mit besonderem Nachdruck begrüßen, daß die Aussteuerung, die bisher ein Schmerzenskind der ganzen Krankenversicherung war, nunmehr beseitigt wird?!

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Schellenberg: Das hätten Sie schon 1957 haben können, Herr Kollege Stingl, wenn Sie damals unserem Gesetzentwurf zugestimmt hätten!)

— Herr Kollege Schellenberg, man hätte sehr vieles auch schon sehr viel früher anders machen können, aber es ist nun einmal so, daß man die Veränderungen auch mit Maß vornehmen muß. Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir die Aussteuerung praktisch beseitigen müssen. Die 78-Wochen-Frist ist — der Minister hat es vorhin gesagt — im wesentlichen nur deshalb vorgesehen, weil wir die Pflegefälle von den Krankheitsfällen unterschieden wissen wollen.
Wir begrüßen es, daß die Regierung im Zusammenhang mit den Leistungen für die schwerer Erkrankten und im Zusammenhang mit den Vorsorgeuntersuchungen in ihrem Entwurf vorsieht, daß auch orthopädische Leistungen als Kassenleistungen gewährt werden können. Wir sind der Meinung, hier besteht noch ein weiter Spielraum für die Behandlung der Frage, wie für alle der Krankenversicherung Unterliegenden und krank Werdenden eine weitere Besserung erzielt werden kann.
Wir freuen uns darüber, daß nunmehr die Familienhilfe als Pflichtleistung eingeführt wird. Nun soll gar nicht bestritten werden, daß sehr viele Kassenarten Familienhilfen gewährt haben. Aber es ist doch ein ander Ding, ob so etwas eine gesetzliche Pflichtleistung ist oder ob man darauf angewiesen ist, daß die Satzung Mehrleistungen dazu vorsehen kann.
Wir begrüßen es auch — Sie haben vorhin etwas darüber gelächelt, Herr Kollege Schellenberg —, daß das Sterbegeld erhöht und die Mindestleistung festgesetzt wird.

(Abg. Dr. Schellenberg: Das ist die einzige Leistungsverbesserung ohne Kostenbeteiligung!)

— Nun, Herr Kollege Schellenberg, ich weiß nicht, ob dies gerade der Moment ist, an dem wir uns darüber auseinandersetzen müssen.

(Zurufe von der SPD.)

Wir stellen mit besonderer Genugtuung fest, daß das Krankengeld nach sechswöchiger Dauer nicht mehr absinken soll. Es war doch wirklich sehr betrüblich, daß gerade der Patient, der sechs Wochen lang krank war, der also sechs Wochen lang sowieso nicht in der Lage war, seinen Lohn oder sein Gehalt zu empfangen, weil er nicht zur Arbeit gehen konnte, nach sechs Wochen, in denen das Familienleben gestört war, in seinem Einkommen auf 50 % des Grundlohnes absank. Wir begrüßen es lebhaft, daß das Krankengeld zunächst in der Höhe gewährt wird, in der es vorher gewährt worden war, und daß es auch über die Zeiten hinaus gewährt wird, die jetzt als Begrenzung vorgesehen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich darf darauf hinweisen, daß die Gemeinschaftshilfen, die jedem einzelnen zugute kommen, verbessert werden. Wir begrüßen lebhaft auch die Verbesserung der Mutterschaftshilfe, so auch die Bestimmung, daß die werdende Mutter frühzeitig die Beratung durch einen Arzt in Anspruch nehmen kann. Der Familienarbeitskreis unserer Fraktion stellt dankbar fest, daß der Regierungsentwurf dessen Wünsche hier berücksichtigt hat. Wir freuen uns auch darüber, daß die unnötigen Bescheinigungen durch die Gewährung von Pauschalleistungen abgeschafft werden und daß man auch Aushilfen finanzieren kann. Wir müssen aber — hier mache ich eine Anmerkung zu dem, was der Herr Minister gesagt hat — im Ausschuß doch wohl auch eindeutig prüfen, ob diese Hilfen wirklich ihren Platz in der Reichsversicherungsordnung zu finden haben.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU. — Lebhafte Zurufe von der SPD: Aha!)




Stingl
— Ich bin gar nicht so, Herr Schellenberg! Aber wir müssen uns dabei darüber klarwerden, daß mindestens von der Kostenseite her der Versichertenkreis nicht in Anspruch zu nehmen ist. Wir wissen nämlich sehr wohl — und es gibt keinen Zweifel darüber —, daß die Schwangerschaft keine Krankheit ist, die in das Risiko der Versicherungsgemeinschaft hineingehört.

(Zuruf des Abg. Dr. Schellenberg.)

— Herr Kollege Schellenberg, wir werden uns mit dieser Frage ernsthaft auseinandersetzen, das werden Sie in der Einzelberatung des Ausschusses sehen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber jetzt etwas zum Krankengeld sagen. Auf Grund nachträglicher Überlegungen sehen wir durchaus, daß das Gesetz zur Besserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall von 1957 wohl nicht der Weisheit letzter Schluß war.

(Abg. Ruf: Das kann man wohl sagen!)

Die Bundesregierung hat daraus eine Konsequenz gezogen. Der von ihr vorgelegte Entwurf läßt die Aufhebung der Karenztage nach 14tägiger Krankheit nicht mehr zu. Wir glauben nicht, daß das die einzige Möglichkeit ist, diese Frage neu zu regeln. Sosehr ich vorhin betont habe, daß es einen soziologischen Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten gibt, werden wir doch mit allem Nachdruck zu prüfen haben, ob es gerechtfertigt erscheint, den Arbeiter zwei Tage lang ohne jedes Einkommen zu lassen. Wir werden dabei mit besonderer Gewissenhaftigkeit die Verzahnung mit der von der Regierung vorgeschlagenen, in welcher Form auch immer durchzuführenden Selbstbeteiligung prüfen. Es erscheint uns nämlich nicht vertretbar, den Arbeiter in dem Augenblick, in dem jedes Einkommen für ihn gestoppt wird, zu Leistungen heranzuziehen, die die Wiederherstellung seiner Gesundheit betreffen. Der Herr Minister hat darauf hingewiesen, daß in diesem Zusammenhang sicherlich das Problem der Lohnfortzahlung angeschnitten werden wird. Wir unterstreichen, daß es sich dabei um ein Problem des Arbeitsrechts handelt, aber das wird uns nicht hindern, gemäß unserer Verantwortung in den Beratungen auch darüber Überlegungen anzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD.)

Die Fortentwicklung des Rechts darf aber nicht dazu führen, daß der Zug zum Großbetrieb verstärkt wird. Wir werden gewissenhaft zu prüfen haben, inwieweit die Wirtschaft, insbesondere der Mittelstand, von eventuellen Entscheidungen betroffen wird. Wir werden verantwortungsbewußt nach allen Seiten wägen und überlegen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Schellenberg: Das haben wir schon Anfang 1956 gefordert!)

— Herr Kollege Schellenberg, ich weiß, daß Sie einen Antrag vorlegten, aber dieser Antrag schien uns damals nicht der Weisheit letzter Schluß zu sein.

(Abg. Dr. Schellenberg: Aber jetzt kommen Sie darauf zurück!)

— Ich glaube sagen zu können: auch heute noch nicht, sondern hier werden wir wiederum andere Überlegungen anstellen.

(Abg. Dr. Schellenberg: Spät kommt Ihr!)

Soweit, meine Damen und Herren, zu der Frage, wie wir denn zu den Überlegungen stehen, die Leistungen der Gemeinschaft zu verstärken. Kurz zusammengefaßt: Wenn wir auch die einzelnen Modalitäten nicht in jedem Fall billigen, so bejahen wir doch, daß die Gemeinschaftshilfe für den potentiell Kranken in der Krankenversicherung verstärkt wird.
Lassen Sie mich nun die Kehrseite der Medaille betrachten. Ich sagte bereits, daß wir jederzeit bereit sind, zu prüfen, wie die Eigenhilfe sinnvoll mit der Gemeinschaftshilfe gekoppelt werden kann. Zur Lösung der Frage der Eigenhilfe sieht der Regierungsentwurf eine Beteiligung an den Kosten der Wiederherstellung der Gesundheit, d. h. eine Eigenbeteiligung bei der Leistung des Arztes, der Beschaffung der Arznei und der Einlieferung in das Krankenhaus vor.
Bei all diesen Problemen werden wir nicht nur den Vorschlag der Bundesregierung prüfen — er wird natürlich die Ausgangsbasis unserer Überlelungen sein —, sondern wir werden gewissenhaft untersuchen, ob die Vorschläge, die von draußen an uns herangetragen werden, bessere Lösungen enthalten.
Eines werden wir allerdings nicht ändern, und hier ist meine Fraktion völlig geschlossen einer Meinung: Der Patient soll in Zukunft wissen, welche Leistung der Arzt bei der Wiederherstellung der Gesundheit für ihn erbracht hat und welchen Wert in Mark und Pfennig sie darstellt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das jetzige System ist nicht das beste System zur Wiederherstellung der Gesundheit — ich schließe mich hier dem Herrn Minister an —; denn es zwingt den Arzt dazu, manchen Fall, auch wenn es sich um keinen Bagatellfall handelt, zum Bagatellfall zu machen, weil die Zeit für die Behandlung, für Diagnose und Therapie nicht ausreicht. Nach unseren Vorstellungen von einer Neuregelung der Krankenversicherung soll die Leistung des Arztes nicht nach der Quantität, sondern nach der Qualität der Leistung bezahlt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es ist nicht entscheidend, wieviel Leistungen der Arzt erbracht hat, sondern es kommt darauf an, mit welcher Intensität er seine geistige Arbeitskraft dabei eingesetzt hat. Unter diesem Gesichtspunkt werden wir auch einen Entwurf für eine Gebührenordnung prüfen. Ich wiederhole: Uns geht es entscheidend darum, daß der Patient weiß, die Leistung des Arztes ist ihres Lohnes wert, und dazu muß er wissen, wieviel das Honorar überhaupt ausmacht.

(Zurufe von der SPD: Na, na!)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310210300
Herr Abgeordneter Stingl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?




Josef Stingl (CDU):
Rede ID: ID0310210400
Bitte sehr!

Dr. Ernst Schellenberg (SPD):
Rede ID: ID0310210500
Soll etwa nach dem vorgeschlagenen System eine weitere Komplizierung dadurch eintreten, daß das Honorar, das der Arzt nach der Gebührenordnung in Rechnung stellt, nun noch im einzelnen dem Versicherten durch besonderen Brief mitgeteilt wird? Ich beglückwünsche Sie zu dieser verwaltungstechnischen Komplizierung.

Josef Stingl (CDU):
Rede ID: ID0310210600
Herr Kollege Schellenberg, unsere Vorstellung geht dahin, daß die Rechnung, die der Arzt der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vorlegt, in einer Durchschrift auch dem Patienten zur Verfügung gestellt wird. Wir können die Ärzte allerdings nicht von der Mehrarbeit entlasten, die sich ganz sicherlich ergeben wird. Wir halten diese Regelung aber zur Schaffung eines guten Verhältnisses zwischen Arzt und Patient für notwendig.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir können uns nicht dazu entschließen, Ihren Vorschlag aus dem Sozialplan mit einem Pauschbetrag pro eingeschriebenen Versicherten zu übernehmen; denn wir halten eine Behandlung des Patienten für unwürdig — —

(Abg. Killat [Unterbach] : Woher gewinnen Sie die Zeit für den Arzt? — Weitere Zurufe. — Unruhe. — Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsiden Dr. Jaeger: Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, doch den Redner reden zu lassen.

Josef Stingl (CDU):
Rede ID: ID0310210700
Meine Damen und Herren, der Arzt muß ja auch einem Privatpatienten eine Rechnung schreiben. Sollte der Versicherte nicht insoweit dem Privatpatienten gleichgestellt sein, daß er weiß, was die Behandlung kostet?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es geht uns hier nicht entscheidend um einen eventuellen Mißbrauch, eine Gefahr, die sicherlich nicht bestritten werden kann. Es geht uns gewiß auch um eine gewisse Kontrolle, aber entscheidend geht es uns einfach darum, daß der Versicherte aus der Anonymität, aus dem Verschwinden im großen Topf herausgeholt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Zu der Frage, wie die Eigenhilfe gestärkt werden soll, sind uns eine Unzahl Vorschläge zugegangen, angefangen von der Entrichtung einer Krankenscheingebühr. Ich darf dazu etwas in Parenthese anmerken. Diejenigen, die uns sagen, man dürfe den Patienten nicht vom Gang zum Arzt abhalten, müssen sich darüber klar sein, daß die Krankenscheingebühr vor dem Arztbesuch entrichtet werden muß, während die in der Regierungsvorlage vorgeschlagene Beteiligung nach der Behandlung entrichtet wird. Wenn also vom Gang
zum Arzt abgehalten wird, dann eher durch eine Krankenscheingebühr als durch eine Beteiligung.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Wir werden also auch prüfen, ob eine Krankenscheingebühr das Richtige ist. Wir werden prüfen, ob eine so starre Beteiligung, wie sie die Regierung vorschlägt — —

(Abg. Dr. Schellenberg meldet sich zu einer Zwischenfrage und beginnt sie.)

— Ich kann Sie gar nicht verstehen.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310210800
Herr Abgeordneter Schellenberg, so geht es nicht. Das Wort hat der Abgeordnete Stingl. Ich bitte Sie, sich doch etwas zu beruhigen. Wir haben noch einen ganzen Tag Zeit, darüber zu diskutieren. Wir sind erst in der ersten Lesung, von der zweiten und dritten gar nicht zu reden.

(Abg. Killat [Unterbach] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)


Josef Stingl (CDU):
Rede ID: ID0310210900
Ich gestatte im Augenblick keine Zwischenfrage, Herr Kollege Killat. Wir wollen unsere Kollegen nicht mehr dadurch strapazieren, daß wir uns zu Zwiegesprächen zusammenfinden.
Meine Damen und Herren, wir werden überlegen müssen, ob der Vorschlag, eine Krankenscheingebühr einzuführen, vernünftig ist. Wir werden prüfen müssen, ob es ein vernünftiger Vorschlag ist, die freiwillig Weiterversicherten anders zu behandeln als die Pflichtversicherten. Wir werden prüfen müssen, ob Herr Köhrer einen vernünftigen Weg weist, wenn er vorschlägt, die erste Behandlung ohne Gebühren durchzuführen, bei den anderen aber Gebühren zu erheben. Wir haben an Material einen Zeiss-Plan vorliegen. Wir kennen das Kostendeckungsprinzip und eine prozentuale Beteiligung. Meine Damen und Herren, wer kann es uns verwehren, ja wer entbindet uns überhaupt von der Verpflichtung, alle diese Pläne gewissenhaft zu prüfen? Die Regierung hat sich für einen Vorschlag entschieden. Wir werden alle Vorschläge prüfen müssen, und derjenige der Regierung wird einer unter vielen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber wir werden die Inanspruchnahmegebühr oder eine sonstige Beteiligung des Versicherten an den Kosten der Wiederherstellung der Gesundheit so gestalten, daß für keinen Versicherten auch nur der Schein des Arguments bestehenbleibt, er habe aus wirtschaftlichen Gründen den Arzt nicht aufsuchen können, ihm sei der Gang zum Arzt aus zwingenden Erwägungen verwehrt gewesen.
Auch dabei werden wir zu denken haben, daß die Belastung verschiedene Wirkung hat je nachdem, ob der Lohn- oder Gehaltsempfänger oder der Empfänger einer Erziehungsbeihilfe nur für sich zu sorgen beziehungsweise noch gar nicht zu sorgen hat, weil er, wie etwa ein Lehrling, eventuell noch zu Hause lebt, oder ob Ehefrau und Kinder mit auf das



Stingl
Einkommen angewiesen sind. Welche Art der
Selbstbeteiligung immer Gesetz wird, es müssen
auch die familiengerechten Folgerungen aus einer
Beteiligung gezogen werden. Für alle muß bei jedweder Regelung der Grundsatz gelten, daß durch
das Gesetz eine Höchstbeteiligung festgelegt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir können die Festsetzung dieser Höchstbeteiligung nicht der Satzung überlassen. Man wird erwägen müssen, ob das Maß der Höchstbeteiligung in einer Beziehung zum Lohn oder zum Gehalt des Versicherten gefunden werden kann, und wiederum wird man hier den Familienstand des Versicherten berücksichtigen müssen.
Meine Damen und Herren, somit wird für diese Frage alles offen bleiben.

(Abg. Dr. Schellenberg: „Alles offen bleiben" ist das Rezept!)

Die Eigenhilfe soll gestärkt und gefördert werden.
Anders liegt die Frage bei der Beteiligung an den Arzneimittelkosten. Dazu haben wir schon früher Vorschläge gemacht, die eine stufenweise Steigerung der Beteiligung vorsehen. Auch der, Regierungsentwurf schlägt diese stufenweise Steigerung vor. Die Apotheker suchen uns zu bewegen, eine einheitliche und starre Beteiligung einzuführen. Wir werden den Vorschlag der Apotheker prüfen, wenn ich auch sagen will, daß die Ausdehnung der Arzneimittelanpreisung es doch wohl geraten erscheinen läßt, die Inanspruchnahme angeblich besserer und gewünschter Arzneimittel auch am Geldbeutel spürbar zu machen. Es scheint mir noch nicht so, daß das auf jeden Fall so kommen wird; ich will es aber als ein wesentliches Argument erwähnen.
Nun zur Frage der Beteiligung des Patienten an den Kosten bei einem Krankenhausaufenthalt. Vorweg noch eine kleine Bemerkung. Wir sind dankbar, daß die Regierung hier eine Verbesserung des Krankengeldes während des Aufenthalts im Krankenhaus vorgesehen hat; die bisher „Hausgeld" genannte Leistung wird wesentlich verbessert. Nun aber zur Frage, wie der Patient, der in das Krankenhaus eingeliefert wird, an den Kosten beteiligt werden soll.
Wir wissen, daß da die Krankenhausgesellschaften uns Vorschläge unterbreiten, die die angeblich entstehende Mehrverwaltung ein bißchen eindämmen sollen. Wir wollen uns aber klar darüber sein, meine Damen und Herren, daß die Selbstbeteiligung an den Kosten des Krankenhausaufenthalts für den, der weiter Lohn oder Gehalt erhält, durchaus vertretbar ist. Wir kennen das in unserer Versicherung. Ich wiederhole das, was der Herr Minister gesagt hat. Der Arbeiter, der nur Krankengeld bekommt, wird effektiv an den Kosten des Krankenhausaufenthaltes beteiligt. Wir kennen es bei einem Kreis, der sicherlich nicht zu den Begüterten unseres Volkes gehört, wir kennen es bei den Unterhaltshilfeempfängern aus dem Lastenausgleich. Wenn jemand, der 140 DM Unterhaltshilfe aus dem Lastenausgleich erhält, einen vollen Monat im Krankenhaus gewesen ist, werden ihm 40 Mark abgezogen. Ich glaube, hier kann ich darauf hinweisen, daß diese
Bestimmung seinerzeit einmütig vom Hause verabschiedet worden ist und es, wie gesagt, nicht gerade die Reichsten getroffen hat. — Wir werden uns also damit befassen müssen, ob der, der vollen Lohn oder volles Entgelt weiterbezieht, zu den Kosten, die im Krankenhaus entstehen, beiträgt.
Allerdings müssen wir auch beachten, daß es doch wesentlich darauf ankommt, den familienpolitischen Belangen gerecht zu werden.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Es ist ein Unterschied, ob der Mann des Hauses oder die Frau ins Krankenhaus geht. Eine Frau wird ohne den Mann mit dem Haushalt sicherlich fertig werden; aber der Mann wird sich schwer tun und wird in den meisten Fällen darauf angewiesen sein, sich eine zusätzliche Hilfe zu beschaffen. Wir können es also, glaube ich, nicht verantworten, ihn zusätzlich zu den erhöhten Kosten der Haushaltsführung auch noch an den Krankenhauskosten zu beteiligen. — Wir werden also — ich wiederhole — auch die Frage der Kostenbeteiligung bei Krankenhausaufenthalt nach familienpolitischen Gesichtspunkten untersuchen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, ich habe vorhin davon gesprochen, daß wir dem Versicherten vor Augen führen wollen, was denn die Wiederherstellung seiner Gesundheit kostet. Das kann man natürlich nur im Zusammenhang damit sehen, daß auch der Arzt aus der Anonymität seiner Berechnung herausgeführt werden muß. Auch für den Arzt erscheint es uns von Vorteil, wenn er den Versicherten gegenüber klarmachen kann, welche wirkliche Leistung er erbracht hat.
Dazu allerdings, meine Damen und Herren, muß man dafür eintreten, daß es eine vernünftige Gebührenordnung gibt. Die jetzige Form mit der unzureichenden Honorierung der Einzelleistung fördert — ich wiederhole, was ich vorhin sagte —da.s Streben nach der Quantität und läßt die Qualität doch ein bißchen im Hintergrund versinken. Hier werden wir auf jeden Fall prüfen müssen, wie die Einzelhonorierung ihren Niederschlag in einer vernünftigen Gebührenordnung zu finden hat.
Wir wissen uns hier aber völlig darin einig, daß wir die Selbstverwaltung durch eine Gebührenordnung nicht aushöhlen wollen. Wir werden die Überlegungen, die sich daran knüpfen, daß wir ja schließlich und endlich ein Gesetz über die Beziehungen der Ärzte zu den Krankenkassen vor nicht allzulanger Zeit geschaffen haben, erneut anstellen. Es erscheint uns problematisch, die Geldansätze für die Gebührenordnung einheitlich für das ganze Bundesgebiet festzulegen. Wir möchten, daß hier auch weiterhin der Selbstverwaltung größerer Spielraum bleibt; denn weder kann man die regionalen Unterschiede noch kann man die Unterschiede der Kassenarten ohne weiteres beseitigen.

(Sehr richtig! in der Mitte. — Abg. Dr. Stammberger: Der Wert, aber nicht die Ansätze!)




Stingl
Genau das hatte ich gesagt, Herr Kollege Stammberger. Es handelt sich dabei um den Wert. Die Positionen werden wohl insgesamt für das ganze Bundesgebiet gleich sein müssen. Ich wage gleich hinzuzufügen — ich sage es jedenfalls gleich dazu —: sie werden auch für die freiwillig Weiterversicherten gelten müssen, auch wenn man etwa zu einem Prinzip, wie Sie von der FDP es vorschlagen, kommt. Man kann dann natürlich nicht schrankenlos alles auch für diesen Kreis freigeben.
Die Selbstverwaltung muß hier — wir können es uns nicht anders vorstellen — einen großen Spielraum haben, nicht nur wegen der Unterschiede, sondern auch deshalb, weil wir nicht wollen, daß die Ärzte zwar nicht Angestellte des Staates, aber Angestellte einer Bundesselbstverwaltung werden.

(Beifall in der Mitte.)

Auch dies ist zu beachten, meine Damen und Herren. Wir wollen hier keine übermäßige Bürokratisierung einführen. Die Argumente, die uns da gegenüber dem Regierungsentwurf entgegengehalten werden, werden wir gewissenhaft überlegen. Ich glaube sagen zu können: Wir werden in vielen Punkten — weil es ein Gesetz ist, unter dem unsere Partei angetreten ist — die Verantwortung auf eine möglichst tiefe Ebene verlagern. Wir sind überhaupt immer der Auffassung, daß alles in der kleinstmöglichen Einheit geregelt werden muß, wo immer es noch geregelt werden kann, ohne daß das Ganze Schaden erleidet.
Wenn das Gesetz den freien Arzt will, dann darf es den freien Arzt nicht über eine Bundesselbstverwaltung zum unfreien machen. Wenn das Gesetz den freien Arzt will, dann muß es sich auch dem anschließen, was die Regierung in bezug auf die Zulassung der approbierten Ärzte, der ins Arztregister eingetragenen Ärzte vorschlägt. Wer könnte aber so töricht sein, hier eine völlige Liberalisierung zu fordern? Der Gesetzgeber muß die Verantwortung dafür spüren, daß alle Gebiete unseres Vaterlandes eine ausreichende ärztliche Versorgung erhalten. Es muß bestimmte Kautelen dafür geben, daß Ärzte auch an einen Kassenarztsitz eingewiesen werden können.
Es ist sicher nicht verwunderlich, wenn der Sprecher der christlich-demokratischen Fraktion seine Genugtuung darüber zum Ausdruck bringt, daß dieses Gesetz die Gliederung der Krankenkassen beibehält. Es ist für uns ein großes und erstrebenswertes Ziel, die Kassenarten, soweit es nur irgend möglich ist, überschaubar zu halten. Soweit es vertretbar ist, wollen wir die gegliederte Krankenkasse. Die überschaubaren Größen nämlich fördern in der Tat die Eigenhilfe; denn wenn ich den kenne, der mit mir in der Versicherung ist, und wenn es nicht irgendeiner irgendwo ist, mit dem ich dieses Risiko teile, dann bin ich eher geneigt, meine Verantwortung zu spüren und sie mit dem anderen gemeinsam zu tragen. Wir wollen also überschaubare Größen in der Krankenversicherung. Wir wollen bei den einzelnen, die in diese Versicherung gehören, die Solidarität sichtbar werden lassen.
Wir begrüßen es, daß der Entwurf auch die Ersatzkassen besonders erwähnt. Wir richten unser besonderes Augenmerk darauf, daß die seinerzeit ohne gesetzlichen Zwang in dem Willen, sich gegenseitig zu helfen, entstandene Kassenart weiterhin eine besondere Pflege erfährt. Die Ersatzkassen können, wie es vorgesehen ist, in weitem Maße in ihrer Selbstverwaltung die Verantwortung für ihre Versicherten in besonderer Weise tragen.
Wir wissen, daß auch zur Organisation Vorschläge kommen werden. Beispielsweise werden uns die Innungskrankenkassen Vorschläge über den Bereich der jeweiligen Kassen machen, Vorschläge hinsichtlich der Übereinstimmung ihres Gebiets mit dem der Handwerkskammern. Hier sollten nicht die größten Schwierigkeiten des Entwurfs liegen. Auch hier werden wir mit den Sachverständigen und uns zu Rate gehen, um schließlich und endlich zu brauchbaren Lösungen zu kommen.
Die Regelung des Verhältnisses der Kassen zu den Ärzten, des Verhältnisses der Kassen zu den Krankenhäusern, des Verhältnisses der Kassen zu den Apotheken und des Verhältnisses der Kassen zu den sonstigen in Heilberufen Tätigen werden wir dabei so weit wie irgend möglich der Gestaltung durch die Selbstverwaltung überlassen. Nur die unbedingt notwendigen Normen werden hierbei durch Gesetz — aber dann auch wirklich durch Gesetz — festgelegt werden müssen.
Meine Damen und Herren, schon die Aufzählung dieser verschiedenen Beziehungen der Kassen zeigt Ihnen — wieder an einer anderen Stelle — sehr deutlich, warum diese Gesetzesmaterie so überaus schwierig ist. Sie ist schwierig, weil es nämlich nicht wie bei der Rentenversicherung letztlich bloß darum geht, den Rentenversicherten mit seinem Rentenversicherungsträger in ein gesundes Verhältnis zu bringen, sondern weil hier die Spannungen untereinander weit größer sind. Der Versicherte sieht sich seiner Kasse, seinem Arzt, seiner Apotheke und dem beratungsärztlichen Dienst, zu dem ich gleich noch etwas sagen will, gegenüber.
Bei der Kasse gibt es die vielen Spannungsmomente, die ich vorhin aufgezeigt habe. Das ist es, was so sehr schwer geregelt werden kann. Sicherlich bin ich richtig beraten, wenn ich sage, daß uns keiner derjenigen, die mit dem Gesetz nichts zu tun haben, darum beneiden wird, wenn wir versuchen, eine vernünftige, tragbare, der Eigenhilfe, der Gemeinschaftshilfe angemessene Lösung zu finden.
Wir werden diese Lösung auch hinsichtlich des beratungs- oder vertrauensärztlichen Dienstes finden müssen. Meine Damen und Herren, der beratungsärztliche Dienst, den die Regierungsvorlage vorsieht, wird draußen ja so falsch interpretiert! Es werden Dinge hineingelegt, die im Regierungsentwurf überhaupt nicht enthalten sind. Obwohl ich dies feststelle, werden wir selbstverständlich noch einmal überlegen, ob es denn wirklich sinnvoll ist, daß bereits nach 48 Stunden eine Meldung an den beratungsärztlichen Dienst, der ja nicht die Diagnose zu stellen hat, abgeschickt werden muß.



Stingl
Wir werden prufen, oh es richtig ist, daß er schon zu einem so frühen Zeitpunkt der Krankenkasse gegenüber Stellung beziehen soll oder kann. Wir werden überlegen, ob hier in dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient ein Störungsfaktor eingebaut ist, den wir gar nicht wollen. Ich habe vorhin in Übereinstimmung mit dem Minister ausgeführt, daß es uns um die Verbesserung des Verhältnisses vom Versicherten zum Arzt zu einem echten Partnerverhältnis geht. Wir können dieses Verhältnis echter Partnerschaft nicht ohne weiteres dadurch stören, daß wir eine dritte Instanz gerade dann einschalten, wenn der Versicherte arbeitsunfähig krank wird.
Aber, meine Damen und Herren, so hat es der Regierungsentwurf auch gar nicht vorgesehen. Trotzdem werden meine Fraktionsfreunde und ich dies prüfen. Wir werden überlegen, ob wir nicht überhaupt einen großen Schritt weiterkommen, wenn wir die Krankschreibung durch den behandelnden Arzt in Form eines Gutachtens anfordern. Diese Tätigkeit der gutachtlichen Äußerung — in einer Festlegung auch der voraussichtlichen Krankheitszeit — müßte dann durchaus eine gebührenpflichtige Leistung des Arztes sein.
Es ist unbestreitbar, daß dieser Gesetzentwurf fällig war, und das er eine Fülle von Verbesserungen bringt. Auch das, was heute noch als Verschlechterung verschrien wird, wird eines Tages als das erkannt werden, was es wirklich ist: eine Verbesserung im Sinne einer besseren Persönlichkeitswertung,

(Beifall bei der CDU/CSU)

weil es den Menschen wieder aus dem Trend herausgehoben haben wird, immer mehr im Anonymen zu versinken.
Es ist unbestreitbar, daß diese Verbesserungen Geld kosten. Wer aber annehmen sollte, daß unsere Fraktion der Meinung sei, man müsse die Selbstbeteiligung oder das Kostenerstattungsprinzip oder was immer Sie sagen wollen deshalb einführen, weil man neue Leistungen finanzieren müsse, wäre falsch beraten. Wir werden, wenn dieser oder ein anderer Vorschlag der Eigenhilfe Gesetz werden sollte, prüfen, ob es gerechtfertigt ist, die Kosten dafür einseitig dem Kranken aufzuerlegen. Wir werden prüfen, ob man dann einen Ausgleich an anderer Stelle finden kann.

(Beifall in der Mitte.)

Wir wissen, daß die Beitragshöhe nach wie vor durch die Satzung festgelegt wird. Wir werden uns auch noch über die Finanzierung aus Beiträgen unterhalten müssen. Unsere Fraktion wird sehr genau prüfen, ob es noch angeht, daß die Fremdleistungen, die Auftragsleistungen, die aus der Unfallversicherung, aus der Kriegsopferversorgung entstehen, von der Versichertengemeinschaft, der Krankenversicherung, getragen wird.

(Abg. Dr. Stammberger: Sehr richtig!)

Meine Damen und Herren, dabei stört es uns durchaus nicht, daß wir jetzt etwa das Verhältnis der Unfallversicherung zur Krankenversicherung in
dem Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetz regeln, wenn das auch den Absichten der Regierung zuwiderläuft, die diese Regelung nicht in dem Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetz, sondern in dem Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz haben möchte. Ich glaube, wir werden diese Materie da regeln, wo wir ihr zuerst begegnen.

(Beifall in der Mitte.)

Welche Grenze dabei zu ziehen ist, muß sehr eingehend überlegt werden, insbesondere, ob man den Versicherten bei der Neuregelung einseitig neu belasten kann. Sollten wir die Selbstbeteiligung einführen, wie es die Regierung vorschlägt, so werden wir natürlich prüfen müssen, ob das dann für den Unfallversicherten und für die Kriegsopfer gelten soll.

(Abg. Dr. Schellenberg: Wissen Sie denn immer noch nicht, was Sie tun wollen?)

— Nein, wir werden noch immer die Vorschläge prüfen, Herr Kollege Schellenberg. Der Bogen ist wirklich sehr weit gespannt. Ich habe am Anfang gesagt: Wir gehen nicht so in eine erste Lesung hinein, daß uns keiner mehr etwas sagen kann, so daß Sie uns dann den Vorwurf machen könnten: „Ihr habt ja nur eure kompakte Majorität eingesetzt."

(Beifall in der Mitte.)

Herr Kollege Schellenberg, gerade Sie wären der erste, der uns vorhalten würde, daß ich heute gesagt hätte: „Ich erhalte jede einzelne Bestimmung aufrecht." Sie wären der erste, der sagen würde: Dann haben wir eine Beratung gar nicht mehr nötig. Sie wollen ja auch noch gehört werden,

(Beifall in der Mitte)

und Sie haben die Chance, Herr Kollege Schellenberg, in dien Ausschußberatungen so sinnvolle Vorschläge zu machen, daß sie von uns einmütig übernommen werden.

(Erneuter Beifall in der Mitte.)

Seien Sie sicher: wenn die Vorschläge sachgerecht sind, wenn sie mit dem vereinbar sind, was wir als Prinzip aufstellen, daß neben der Gemeinschaftshilfe die Eigenhilfe steht, und wenn der Gedanke der Förderung des Persönlichkeitswerts dahintersteckt, dann werden sie, auch wenn sie von Ihrer Seite im Ausschuß kommen, berücksichtigt werden.
Als Berliner freue ich mich natürlich darüber, daß die Berlin-Klausel in den Gesetzentwurf aufgenommen worden ist. Es ist sicherlich etwas Selbstverständliches. Meine Freude hängt damit zusammen, daß in Berlin in der Zukunft einige Neuerungen erfolgen müssen, daß wir dann nicht mehr Zuschüsse aus der Bundeskasse dazu gewähren, daß manche der Leistungen, die wir im Bundesgebiet jetzt einführen, in Berlin schon aus den Steuergroschen des Bundesbürgers bezahlt werden. Wir werden auch hier eine sinnvolle Übergangslösung finden müssen. — Das hat der Kollege Schellenberg sicherlich mit Genugtuung vernommen.

(Heiterkeit.)




Stingl
Meine Damen und Herren, ich habe am Anfang meiner Ausführungen gesagt, daß ich keine Lösungen vorschlagen werde und daß nicht jeder, der hier gesessen hat, vom Rathaus — wie man so sagt — klüger weggeht. Ich habe gesagt, daß ich zeigen wollte, wo unabdingbare Forderungen der ChristlichDemokratischen Union liegen. Sie liegen in der Stärkung des Persönlichkeitsbewußtseins und in der sinnvollen Übereinstimmung von Eigen- und Gemeinschaftshilfe, in der Wahrung der Selbstverwaltung, weil wir das Subsidiaritätsprinzip von unten nach oben aufbauend, gesichert wissen wollen. Ich habe aber nicht gesagt, daß ich mit der Gewißheit über die endgültige Form des Gesetzes von hier weggehen werde. Die erste Lesung ist keine Ausschußberatung. Ich habe den Bogen der Meinungen gespannt, die wir auch in unserer Fraktion nachdrücklich zu erörtern gedenken. Ich habe im Rahmen unserer Grundeinstellung das zu zeigen versucht, was uns insbesondere bewegt. Ich betone noch einmal, daß uns jeder Rat willkommen ist. Die Verantwortung aber für die Entscheidung müssen wir alle selbst vor unserem Gewissen und vor unserem Volk tragen. Uns wird dabei das tiefe Empfinden für eine auf Recht und Gerechtigkeit sich gründende Sozialordnung bestimmen. Die CDU/CSU-Fraktion wird alles daransetzen, ein fortschrittliches und modernes Krankenversicherungsgesetz zu schaffen, ein Krankenversicherungsgesetz, das in die von uns geschaffene freiheitliche Ordnung dieses Staatswesens sich sinnvoll einfügt. Das wollen wir zum Wohle der Versicherten, zum Wohle der Ärzte, zum Wohle aller Betroffenen, und deshalb auch zum Wohle unseres ganzen Volkes.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310211000
Meine Damen und Herren, gemäß interfraktioneller Vereinbarung treten wir bereits jetzt in die Mittagspause ein. Diese dauert 11/2 Stunden; wir treten also um 14.15 Uhr wieder zusammen.
Die Sitzung ist unterbrochen.

(Unterbrechung der Sitzung von 12.46 Uhr bis 14.16 Uhr.)

Vizepräsident Dr. Schmidt Meine Damen und Herren, wir fahren in der unterbrochenen Sitzung fort.
Wir stehen bei Punkt 2 der Tagesordnung. Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Professor Schellenberg.

Dr. Ernst Schellenberg (SPD):
Rede ID: ID0310211100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Rede des Herrn Kollegen Stingl habe ich mich gefragt, ob wir denn heute die erste Lesung eines Gesetzentwurfs der Regierung durchführen, die von der CDU getragen wird, oder ob wir uns in einem allgemeinen Gespräch über einen unverbindlichen Referentenentwurf befinden.

(Sehr gut! und Heiterkeit bei der SPD.)

Meine Damen und Herren, das nötigt mich leider, einige Dinge über die Entwicklung dieses Gesetzentwurfs voranzustellen, weil der CDU-Fraktion offenbar manches nicht mehr im Gedächtnis ist.
Seitdem auf dem Kieler Parteitag 1957 das Wort von den Grenzen des Sozialstaates gefallen ist, ist es in der CDU um den Stilwandel der Sozialpolitik nicht mehr ruhig geworden. Der Herr Bundesarbeitsminister war und ist der Repräsentant für die Bemühungen der CDU.
Die Bundesregierung ist dann sehr bald darangegangen, diese Vorstellungen zu konkretisieren, hier für den Bereich der sozialen Krankenversicherung. Das hat der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung angekündigt. Dann wurden sehr bald, im Jahre 1958, Beschlüsse des Sozialkabinetts über die Neuordnung der sozialen Krankenversicherung veröffentlicht, denen, so weit ich die Zeitschriften und Zeitungen verfolgt habe, die Sprecher der CDU voll und ganz zugestimmt haben.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Um die Jahreswende 1958/59 wurde der Referentenentwurf veröffentlicht. Er war Gegenstand einer lebhaften öffentlichen Aussprache und vielfacher Kritik. Soweit sich aber Sprecher der CDU dazu geäußert haben, haben sie sich nicht nur zu den Grundzügen des Referentenentwurfes bekannt, sondern auch

(Abg. Schüttler: Auch heute!)

— das werden wir gleich sehen — zu den Vorschlägen im einzelnen. Der Herr Bundesarbeitsminister hat damals zwar — das wurde vorhin schon erwähnt — erklärt: Jawohl, warten Sie einmal ab, das ist nicht mein Entwurf. Aber wir haben schon gehört, daß dann mit Unterstützung des Bundesarbeitsministeriums — wie weit die Unterstützung auch finanziell bis zum Bundespresseamt ging, kann man vielleicht im Ausschuß klären — jene berühmte Schrift „Wer soll das bezahlen?" herauskam. In dieser Schrift wurde konkret dargelegt, welche Vorstellungen die Referenten des Bundesarbeitsministeriums oder, ich weiß nicht, die Regierung oder jedenfalls die offiziellen Stellen zu der Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
Dann kam der große Tag des Beschlusses der Bundesregierung über den überarbeiteten, aber in seinen Grundgedanken erhalten gebliebenen Referentenentwurf.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Es ist doch sehr interessant, sich heute daran zu erinnern, was der Herr Bundesarbeitsminister damals der Presse und damit der Öffentlichkeit erklärte. Ich möchte es zitieren — Pressemitteilung vom 24. November 1959 —:
Der Bundesarbeitsminister erschien nach der Kabinettssitzung vor der Bundespressekonferenz mit strahlendem Lächeln.

(Abg. Frau Kalinke: Das ist immer gut!)

Er erklärte, man habe in der Politik nicht oft Freude.

(Abg. Frau Kalinke: Therapie!)




Dr. Schellenberg
„Aber heute habe ich einen freudigen Tag!" Theodor Blank meinte, er sei von tiefer Freude erfüllt, daß das Bundeskabinett den Gesetzentwurf einstimmig und ohne Änderungen verabschiedet hat.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Es ist doch immerhin interessant, sich heute daran zu erinnern,

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein Grund zur Freude!)

daß dies vor einem Vierteljahr gesagt wurde. Ich will hier nicht untersuchen, ob diese Erklärung des Herrn Bundesarbeitsministers in Einklang mit § 22 der Geschäftsordnung der Bundesregierung stand, die nämlich zu einer Vertraulichkeit auch über das Abstimmungsergebnis in der Bundesregierung verpflichtet. Das mag der Herr Bundesarbeitsminister mit dem Herrn Bundeskanzler ausmachen. Politisch ist für uns und für die Öffentlichkeit entscheidend, daß die Bundesregierung in Kenntnis der scharfen öffentlichen Kritik am Referentenentwurf einstimmig unverändert die Vorschläge des Bundesarbeitsministeriums akzeptiert hat.

(Abg. Dr. Seffrin: Na und!?)

Dann ging der Regierungsentwurf in die Öffentlichkeit. Die Stimmen der Kritik erhoben sich nochmals nachdrücklich. Er wurde im Bundesrat beraten. Der Bundesrat hat eine ganze Reihe — über 130 — Änderungsvorschläge gemacht. Das war für die Bundesregierung eine Gelegenheit, die Konzeption und die praktische Durchführung unter Berücksichtigung der Kritik noch einmal zu überprüfen. In verschiedenen Fragen technischer Art ist die Bundesregierung ,den Anregungen des Bundesrates gefolgt. Aber in allen neuralgischen Punkten, zu denen heute die CDU eine sehr merkwürdige Stellung eingenommen hat,

(Oho!-Rufe bei der CDU/CSU)

hat die Bundesregierung erklärt — an über 20 Stellen, ich möchte es wörtlich zitieren —: „Eine Stellungnahme ist nicht veranlaßt!"
Man hätte annehmen können, daß damit die politische Situation bezüglich der Vorstellungen der Bundesregierung über die Reform der Krankenversicherung klar und eindeutig wäre. Aber nachdem der Regierungsentwurf diesem Hause mit den Änderungsvorschlägen des Bundesrats und der Stellungnahme der Bundesregierung zugegangen ist, haben sich einige eigenartige Dinge ereignet.
Die scharfe Kritik der Ärzte hat dazu geführt — Kollege Rohde deutete es schon an —, daß der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion in einer offiziellen Fraktionserklärung das Verhalten von Ärzteorganisationen als staatsabträglich bezeichnete. Das ist ein böses und gefährliches Wort.

(Zurufe von der CDU/CSU: Wieso denn? — Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] : Das Verhalten der Organisationen ist gefährlich!)

Es kann nicht hingenommen werden, daß in solcher
Weise von dem Repräsentanten der CDU der Versuch unternommen wird, die Wahrnehmung berechtigter gesundheitspolitischer, standespolitischer und natürlich auch wirtschaftlicher Interessen zu diskriminieren.

(Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Stingl: Das verwehrt niemand! Es kommt auf die Art und Weise der Wahrnehmung an! Halten Sie solche Flugblätter für berechtigte Interessenwahrnehmung?!)

— Es kommt nicht darauf an, in welcher Form im einzelnen solche Propaganda gemacht wird. Darüber kann man streiten. Grundsätzlich muß es aber dem, der sich in der Öffentlichkeit zu Wort meldet, überlassen bleiben, in welcher Art und Weise

(Abg. Stingl: Nein!)

er sich Gehör verschaffen zu können glaubt. Grundsätzlich steht ihm das frei.

(Beifall bei der SPD: — Abg. Stingl: Und es steht jedem frei, es als das zu bezeichnen, was es ist!)

Die Angelegenheit wird noch interessanter. Nachdem der Entwurf uns zugeleitet worden ist, ist in den letzten Tagen der Herr Bundesarbeitsminister in der Öffentlichkeit aktiv geworden. Er hat sich — das ist sein gutes Recht — im Fernsehen scharf mit der Kritik am Entwurf auseinandergesetzt. Ferner hat er erklärt — das muß ich auch wieder zitieren, weil es für die weitere Entwicklung beachtlich ist —: „Ob der Entwurf verändert oder unverändert verabschiedet wird, das entscheidet allein das Parlament." Auch heute hat der Herr Bundesarbeitsminister — das muß ich anerkennen — von dem Respekt gegenüber dem Parlament gesprochen. Aber zwischen der Erklärung im Fernsehen vom 8. Februar und der Äußerung von dem Respekt vor dem Parlament, die heute Vormittag gemacht worden ist, liegen noch einige andere Erklärungen des Bundesarbeitsministers, die es jedenfalls in Frage stellen, ob das Parlament so respektiert worden ist. Der Bundesarbeitsminister hat nämlich einen Tag nach jener Rundfunkerklärung im Auftrag des Herrn Bundeskanzlers einen Brief an die gleichen Persönlichkeiten geschrieben, deren Aktionen der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion als staatsabträglich bezeichnet hat. Der Minister hat einen Brief geschrieben und erklärt, daß er sich dafür einsetzen werde, einen umstrittenen Punkt — es handelt sich um die Höchstgrenze der Kostenbeteiligung — im Zuge der Beratungen abzuändern.
In der gleichen Woche ist der Herr Bundesarbeitsminister auch in Erklärungen vor der Presse aktiv geworden und ist — das war jedenfalls der allgemeine Eindruck in der Öffentlichkeit — weiter von dem Inhalt des Entwurfs, den wir jetzt beraten sollen, abgerückt, beispielsweise hinsichtlich der Möglichkeit einer staatlichen Festsetzung der Gebührenordnung. Weiter hat der Minister erklärt, das Kontrollarztsystem könne man doch lockerer gestalten usw.
Ich habe volles menschliches Verständnis dafür, daß der Herr Bundesarbeitsminister, der so unter eine öffentliche Kritik genommen wurde, in einer solchen Situation versucht, in dieser oder jener Hinsicht einen Rückzieher zu machen und zu retten,

g

Dr. Schellenberg
was zu retten ist oder, wie wir heute feststellen müssen, was nicht mehr zu retten ist.

(Beifall bei der SPD.)

Aber politisch kann es nach Ansicht meiner Fraktion nicht hingenommen werden, daß, nachdem der Gesetzentwurf dem Hause zugegangen ist, der Herr Bundesarbeitsminister sich in dieser oder jener Weise davon zu distanzieren versucht. Es geht selbstverständlich nicht um den materiellen Inhalt dessen, was gesagt worden ist. Nach unserer Auffassung aber ist es nicht angängig, uns einen Entwurf zur Beratung vorzulegen und gleichzeitig in der Öffentlichkeit selber Änderungsvorschläge dazu zu machen.
Das muß deshalb gesagt werden, weil jahrelang Zeit gewesen ist, alle die Punkte, die in dem Gesetzentwurf behandelt werden, sorgfältig und gründlich zu überlegen, und zwar in vier Stadien: Beschluß des Sozialkabinetts, Referentenentwurf, Beschluß der Regierung und dann noch einmal Stellungnahme zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates. In allen diesen vier Stadien ist die Bundesregierung, ich muß es heute sagen, immer uneinsichtig und — man muß den harten Ausdruck gebrauchen — stur gewesen.
Bei dieser Sachlage ist es doch sehr erstaunlich, daß der Herr Bundesarbeitsminister, nachdem der Entwurf beschlossen wurde, plötzlich beweglich wird und in der Öffentlichkeit eine Taktik anwendet, die Zweifel darüber aufkommen läßt, ob und wieweit er hinter dem steht, wozu sich der Minister bei der Verabschiedung des Entwurfs durch das Kabinett so stark bekannt hat.
Aber nun zu den Erklärungen des Kollegen Stingl, die er namens seiner Fraktion abgegeben hat. Herr Kollege Stingl hat unter anderem gesagt
— ich habe mir das mitgeschrieben, und wir alle haben es, nehme ich an, so vernommen —, die CDU/CSU-Fraktion wolle prüfen, ob die Grundgedanken der CDU/CSU in dem Entwurf ausreichend berücksichtigt sind.

(Heiterkeit bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)

— Ja, meine Damen und Herren, da muß man wirklich den Kopf schütteln. Bekanntlich beraten wir heute einen Gesetzentwurf, der von der Bundesregierung unter Vorsitz des Bundeskanzlers, der gleichzeitig Vorsitzender der CDU ist, einstimmig verabschiedet worden ist, und dann wird gesagt: Wir wollen prüfen, ob der Gesetzentwurf die Grundsätze der CDU ausreichend berücksichtigt!
Nach all dem, was der Herr Bundesarbeitsminister in den letzten Tagen schon getan hat oder vielleicht auch tun mußte - ich kann das nicht beurteilen —, mußten wir erwarten, daß Sie von der CDU heute versuchen würden, ein taktisches Rückzugsmanöver anzutreten. Aber daß Sie jetzt in der zweiten Halbzeit des Bundestages in einem der entscheidendsten sozialpolitischen Bereiche die volle Flucht ergreifen, das konnten wir wirklich nicht erwarten.

(Beifall bei der SPD.)

Wir sind beglückt darüber. Herr Kollege Stingl, die
Anerkennung und Hochachtung, die ich vor Ihnen
habe, hat sich heute noch verstärkt, nachdem Sie es auf sich genommen haben, die Regierung in dieser Weise zu desavouieren. Also wirklich: meine persönliche Anerkennung.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Stingl: Wir fassen es anders auf! — Weitere Zurufe von der Mitte.)

— Meine Damen und Herren, Sie müssen sich doch bewußt sein, welche starken Worte in den letzten Jahren und Monaten bei der Behandlung dieser Frage gefallen sind. Die Öffentlichkeit mußte doch erwarten, daß Sie uns heute sagen, wie Sie sich beispielsweise die Gestaltung der Kostenbeteiligung im Gesetz praktisch denken.

(Zurufe von der Mitte: Ausschuß!)

Die Ärzte mußten doch erwarten, daß ihnen gesagt wird, wie Sie sich zu ihren Einwendungen gegenüber der gesetzlichen Regelung stellen. Sie sind allen Problemen, den neuralgischen und kritischen Punkten und der Frage, wie Ihre Vorstellungen im Gesetz verwirklicht werden sollen, ausgewichen.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Stingl: Wir haben noch keine Ausschußberatungen gehabt!)

Darin zeigt sich das Ausmaß der Verwirrung, in der Sie sich befinden.

(Erneuter Beifall bei der SPD.)

Die logische Konsequenz wäre gewesen, daß Sie die Regierung ersucht hätten, den Gesetzentwurf nach den jetzt reichlich verspätet gewonnenen und reichlich unklaren Erkenntnissen zurückzuziehen und von der Regierung überarbeiten zu lassen.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Stingl: Nein! Keine Spur! — Abg. Dr. Dittrich: Das hätte die Reform verzögert!)

Sie hätten in den Jahren der Vorbereitung die Verpflichtung gehabt, sich vor Einbringung des Gesetzentwurfs eine Meinung über die Gestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung zu bilden, wie wir alle uns eine Meinung darüber bilden mußten und gebildet haben. Hätten Sie das getan, dann hätten Sie sich nicht in eine solch peinliche Lage gebracht. Sie haben es nicht getan. Deshalb werden wir Sie immer wieder mit den Vorschriften des Gesetzentwurfs Ihrer Regierung konfrontieren und Sie zu einer klaren Stellungnahme zwingen.

(Abg. Stingl: Aber selbstverständlich!)

Darum kommen Sie nicht so leicht herum.

(Abg. Stingl: Dazu bedarf es Ihrer Aufforderung nicht, das werden wir selber tun!)

Ich will Ihnen sagen, wie die Sozialdemokraten zu den einzelnen Fragen stehen.

(Zurufe von der Mitte: Ah, ah!)

— Jawohl, selbstverständlich. Wir haben uns nämlich unsere Auffassung gebildet.

(Abg. Stingl: Sie haben es leichter, Sie brauchen nur nein zu sagen; wir müssen auch immer sagen, was! — Lachen und Oh-Rufe bei der SPD.)


Dr. Schellenberg
— Herr Kollege Stingl, ich glaube, Sie werden mir nicht nachsagen können, daß ich in sozialpolitischen Fragen nein sage. Sie werden das auch meinen Kollegen nicht nachsagen können. Es ist sehr billig, uns nach einer jahrelangen gemeinsamen Arbeit an der Sozialpolitik so etwas zu sagen.

(Abg. Stingl: Hinsichtlich der Arbeit im Ausschuß gebe ich Ihnen recht!)

Wir haben zu allen Fragen der Sozialpolitik klar und eindeutig gesagt, was wir meinen, und dazu auch die entsprechenden Vorschläge gemacht.
Ich beginne mit den tatsächlichen und mit den angeblichen Leistungsverbesserungen des Gesetzentwurfs. Wir erkennen an, daß die erleichterte Zulassung der Ärzte ein Fortschritt ist. Wir müssen darauf hinweisen, daß das Bundesverfassungsgericht wahrscheinlich sehr bald über die Frage der unbedingten Zulassungsfreiheit entscheiden wird.
Wir begrüßen es ferner, daß ein Teil der Leistungsverbesserungen, die wir 1957 in einem Gesetzentwurf beantragt haben, jetzt verwirklicht werden soll.
Ich komme zu den Leistungen der Vorsorgehilfe. Niemand wird bestreiten können, daß die Sozialdemokraten auf diese Leistungen der Vorsorgehilfe seit vielen Jahren, auch hier im Hause, mit besonderem Nachdruck hingewiesen haben. Der Gesetzentwurf sieht allgemeine Vorsorgeuntersuchungen als Regelleistung vor. Das ist ein Fortschritt. Aber bei dem Versicherten, der das 40. Lebensjahr vollendet hat, soll nur eine Vorsorgeuntersuchung innerhalb dreier Jahre erfolgen. Wir sind der Auffassung, daß dies angesichts der gesundheitlichen Aufgaben unzureichend ist.
Vorsorgekuren sind als Kann-Leistung vorgesehen. Aber das, was in dieser Hinsicht in dem Gesetzentwurf steht, entspricht praktisch dem geltenden Recht; das ist keine Leistungsverbesserung. Auch das, was sonst bezüglich Vorsorgemaßnahmen in dem Gesetzentwurf steht, können Sie in gleicher Weise schon in den Vorschriften der RVO lesen. Das wird in der gleichen Weise schon heute von den Versicherungsträgern praktiziert.
Ich komme zu den Fragen der Krankenhauspflege und der zeitlich unbegrenzten Gewährung gesundheitsfördernder Leistungen. Hinsichtlich der ärztlichen Behandlung ist dies, um es ganz klarzustellen, bereits seit langem geltendes Recht. Neu ist, daß durch diesen Gesetzentwurf die Krankenhauspflege als Regelleistung festgelegt und die Gewährung von Krankengeld auf die Dauer von 78 Wochen verlängert wird. Das ist ein Fortschritt, den wir anerkennen. Wir müssen jedoch darauf aufmerksam machen, daß damit die Aussteuerung nicht beseitigt ist, insbesondere deshalb nicht, weil nach dem Gesetzentwurf Bezug von Krankengeld und späterer Krankenhausaufenthalt zusammengerechnet werden, so daß derjenige, der aus dem Arbeitsleben ausscheidet und erwerbsunfähiger Rentner wird, unter Umständen weiterhin von der Aussteuerung betroffen wird.
Wir können die Begründung, die die Bundesregierung dafür gegeben hat, nicht hinnehmen. Sie lautet: Die Versichertengemeinschaft darf nicht über Gebühr belastet werden. Wir sind der Auffassung, daß es Aufgabe der Versichertengemeinschaft ist, gerade demjenigen, der von einem so schweren Schicksalsschlag getroffen wird, lange Zeit im Krankenhaus liegen zu müssen, wenigstens die wirtschaftlichen Sorgen zu nehmen.
Zur Bewertung der Dinge ist aber noch ein Blick auf die finanzielle Begründung des Gesetzentwurfs notwendig. Es ist für die auf bis zu 78 Wochen erstreckte Krankenhauspflege ein Mehraufwand von 35 Millionen DM angesetzt. Auf der anderen Spalte aber steht ein Minderaufwand für Krankenhauspflege von 82 Millionen DM infolge der Kostenbeteiligung.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Es ergibt sich also, wenn man den Schlußstrich zieht, daß das Leistungsvolumen für Krankenhauspflege nicht verbessert, sondern verschlechtert wird.

(Sehr wahr! bei der SPD. — Abg. Arndgen: So kann man es auch sagen!)

Nun zur Familienhilfe. Sowohl zur Krankenhauspflege wie zur Familienhilfe werden meine Kollegen noch Stellung nehmen; das muß geschehen. Ich möchte aber schon jetzt darauf hinweisen, daß in der Familienhilfe gleiche Leistungen für Versicherte und Angehörige, wie sie hier vorgesehen sind, von einem großen Teil der Kassen als Kann-Leistung bereits gewährt werden. Wir begrüßen selbstverständlich, daß das jetzt Regel-Leistungen werden sollen. Wir machen aber darauf aufmerksam, daß diesen Leistungsverbesserungen Kostenbeteiligungen gegenüberstehen, so daß also, wenn man auf die Familie schaut, das Gesetz Anlaß zu manchen Sorgen gibt.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Meine Damen und Herren, das ist überhaupt, ich möchte sagen, die Grundtendenz der Leistungsgestaltung. Nahezu alle Leistungsverbesserungen sind heute schon als Kann-Leistungen möglich und werden — auch darauf wird noch einzugehen sein — für einen großen Teil der Versicherten gewährt. Wir begrüßen, wie gesagt, daß daraus zum Teil RegelLeistungen werden sollen; das ist ein Fortschritt. Wir müssen aber darauf aufmerksam machen, daß bei nahezu jeder Leistungsverbesserung Eingriffe in das Leistungsgefüge gegenüberstehen.
Dennoch behauptet das Bundesarbeitsministerium - auch das muß ich vorlesen —:
Wenn die vorgesehenen Leistungsverbesserungen in der Krankenversicherung Gesetz werden, so würde dies den größten Fortschritt seit 75 Jahren bedeuten, nämlich seit der Einführung der sozialen Krankenversicherung in Deutschland.
Meine Damen und Herren, wer die Geschichte der deutschen Sozialversicherung etwas kennt, der muß



Dr. Schellenberg
das als eine Irreführung der Öffentlichkeit bezeichnen.

(Zustimmung bei der SPD.)

Wir haben in den 75 Jahren schon wesentlich wichtigere Leistungsverbesserungen gehabt als die, die jetzt kommen sollen.
Um das Gewicht dieser Dinge zu ermessen, bitte ich Sie, sich in der finanziellen Übersicht darüber zu vergewissern, daß, wenn man von den Leistungen für notwendigen Zahnersatz, beginnend ab 1967 — das wurde in der Propaganda des Bundesarbeitsministeriums anders behauptet —, einmal absieht - bis 1967 wird in der deutschen Krankenversicherung hoffentlich noch einiges verbessert —, nach den Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums sich eine Leistungsverbesserung von 356 Millionen ergeben soll. Die Verbesserungen betragen, wenn man die Leistungsverschlechterungen und die Kostenbeteiligung außer acht läßt, 356 Millionen DM. In diesem Rahmen halten sich die echten Leistungsverbesserungen, wobei ich als richtig unterstelle, daß das Bundesarbeitsministerium diese Zahlen richtig errechnet hat.
Das bedeutet aber — und das ist für die Bewertung des Gewichts der Leistungsverbesserung wichtig —, daß der Leistungsstand um 5 % über den gegenwärtigen Leistungsstand der Krankenversicherung hinaus verbessert werden soll. Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß eine Verbesserung in einer solchen Größenordnung von 5 % auch ohne Kostenbeteiligung, ohne einen Gesetzentwurf von 300 Paragraphen und ohne das große Wort von der „Reform der Krankenversicherung" hätte verwirklicht werden können — wenn man es will.

(Beifall bei der SPD.)

Nun kommt natürlich die Frage: Wie soll das finanziert werden? Die Bundesregierung hat uns in der Begründung zu dem Unfallversicherungsgesetz der zweiten Legislaturperiode einen Ratschlag gegeben, den ich Ihnen vorlesen möchte. Die Bundesregierung schrieb nämlich damals in der Begründung:
Es ist nicht angängig, die Arbeitnehmer indirekt über den Krankenversicherungsbeitrag zu Lasten der Unfallversicherung heranzuziehen.
Wenn die Bundesregierung diese Auffassung, die sie in der zweiten Legislaturperiode hatte, jetzt aufrechterhielte, dann hätten wir die Leistungsverbesserung von 356 Millionen finanziert, und zwar ohne Kostenbeteiligung, ohne „Stilwandel" in der Sozialpolitik.

(Zustimmung bei der SPD.)

Herr Kollege Stingl, man hätte auch etwas anderes finanziell tun können. Sie haben es heute so zart anklingen lassen, indem Sie erklärten, Leistungen der Mutterschaftshilfe seien keine Leistungen für Krankheit. Auch hier könnte man nach einem Weg suchen. Aber dann wäre ein Stilwandel der Sozialpolitik zur Sicherung höherer Leistungen nicht notwendig.
Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt. Bei all dem, was sich hier vollziehen soll, geht es zentral nicht um Leistungsverbesserungen, sondern handelt es sich um das, was Sie mit Stilwandel der Sozialpolitik bezeichnen. Darauf werden wir im einzelnen noch eingehen. Das ist der Kardinalpunkt, und das wollen wir sehr deutlich machen. Es würde aber die weiteren Auseinandersetzungen vielleicht erleichtern, wenn Sie bereit wären, voll zu den Leistungsverbesserungen zu stehen und bei den Beratungen all das wegzulassen, worüber Sie sich, wie wir heute hörten, immer noch nicht klar geworden sind; dann wäre das eine Ausgangsposition.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

Ich komme jetzt zu dem Zentralpunkt dieser Vorlage, dem Stilwandel in der Sozialpolitik, der, als die Dinge begannen, mit „Mißbrauch der Sozialleistungen" begründet wurde. Heute hat sich der Herr Bundesarbeitsminister in dieser Hinsicht nicht so klar und deutlich ausgedrückt. Er befand sich also schon ein bißchen auf der Rückzugslinie, was dann Herr Kollege Stingl in die Flucht nach rückwärts verwandeln mußte.

(Erneute Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

Ich möchte Ihnen deshalb einmal vorlesen, was der Bundesarbeitsminister damals, als er mit der Reform begann, sagte. Ich zitiere aus dem Bulletin der Bundesregierung vom 30. Oktober 1958 — als Mitteilung des Bundesarbeitsministers —:
Das System, die Ausgaben für die Krankenpflege nur durch Beiträge zu finanzieren, führt dazu, daß ein großer Teil der Versicherten bestrebt ist, aus der Krankenkasse herauszuholen, was möglich ist. Dieses Bestreben führt zu vielen Mißbräuchen.
Dann heißt es weiter:
Das System der kostenlosen ärztlichen Behandlung führt dazu, daß der Arzt oft unnötig und leichtfertig in Anspruch genommen wird.
Das also waren die entscheidenden Gründe, die das Bundesarbeitsministerium damals in der Begründung für die Einführung der Selbstbeteiligung gegeben hat.
Meine Damen und Herren, daß es in der sozialen Krankenversicherung eine mißbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen gibt, bestreite ich nicht. Die gleichen Erscheinungen gibt es aber auch in der privaten Krankenversicherung. Nur spricht man in der öffentlichen Kritik davon nicht so laut wie von den Mißständen in der sozialen Krankenversicherung. In allen Bereichen des öffentlichen Lebens, nämlich dort, wo es Spannungen zwischen den Interessen des einzelnen und den Aufgaben der Gemeinschaft gibt, besteht in noch höherem Maße die Gefahr, daß Mißbräuche vorkommen. Aber, meine Damen und Herren, das passiert nicht nur bei der Abholung von Krankenscheinen, sondern, um ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich zu nennen, auch bei der Abgabe von Steuererklärungen.

(Beifall bei der SPD.)




Dr. Schellenberg
Hier muß ich auf einen Artikel hinweisen, der in den letzten Tagen durch die Presse gegangen ist. Er stammt von einem der profiliertesten Sprecher der sozialen Marktwirtschaft, Herrn Professor Schmölders, der eine Äußerung positiv zitiert hat, daß die Zahl der schuldhaft unrichtigen Steuererklärungen nur wenig unter der Zahl der abgegebenen bleibt.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Ganz so schlimm ist es in der sozialen Krankenversicherung mit den Krankenscheinen Gott sei Dank nicht.

(Beifall bei der SPD.)

Wahrscheinlich liegt das daran, daß bei ungerechtfertigter Abnahme eines Krankenscheins eine andere wirtschaftliche Größenordnung im Spiele ist.

(Sehr wahr! bei der SPD.)

Meine Damen und Herren, wogegen wir uns verwahren -- da beginnt die Auseinandersetzung ernsthaft zu werden —, ist die Behauptung, daß ein großer Teil der Versicherten Mißbrauch mit sozialen Leistungen treibt. Dagegen verwahren wir uns deshalb, weil dadurch die überwiegende Mehrzahl der versicherten Arbeiter und Angestellten diffamiert wird.

(Abg. Arndgen: Das hat doch keiner behauptet!)

— Haben Sie es nicht gehört, Herr Kollege Arndgen? Da müssen Sie noch einmal das Bulletin lesen und es sich in Vergrößerung an die Wand hängen. Darin heißt es, daß ein großer Teil der Versicherten bestrebt sei, aus der Krankenkasse das Mögliche herauszuholen, das führe zu vielen Mißbräuchen, und der Arzt werde oft unnötig und leichtfertig in Anspruch genommen. Das ist eine Verallgemeinerung, aus der Sie dann durch Selbstbeteiligung die praktischen Konsequenzen ziehen wollen.
Wir wenden uns gegen die Art der Verallgemeinerung, die eine Grundlage des Gesetzentwurfes bildet. Denn wenn es sich nach Ihrer Meinung nicht um allgemeine Erscheinungen, sondern um Einzelerscheinungen handelte, würden Sie wohl nicht vorschlagen, gegen alle Versicherten mit diesen Maßnahmen vorzugehen. Durch diese Konzeption werden praktisch nicht nur die Versicherten in großem Umfang verdächtigt, Mißbrauch zu treiben, sondern der Verdacht richtet sich in gleicher Weise gegen die Ärzte, und zwar deshalb, weil jede Leistung in der sozialen Krankenversicherung erst durch eine Bescheinigung des Arztes ermöglicht wird. Deshalb — auch deshalb — haben sich die Ärzte dagegen verwahrt.
Der Bundesarbeitsminister hat heute sehr wenig über den Mißbrauch gesprochen. Er hat seine allgemeine Konzeption entwickelt. Wenn man das hört, klingt es eigentlich ganz sinnvoll; das will ich nicht bestreiten. So hat der Herr Bundesarbeitsminister z. B. gesagt: Der Arzt soll mehr Zeit für den Kranken haben, der Versicherte soll den Wert der ärztlichen Leistung für seine Gesundheit besser würdigen, durch die Kostenbeteiligung soll das Vertrauen zwischen Arzt und Patient gestärkt werden.
Das Entscheidende ist aber nun: wer Pläne entwirft, muß realistisch vorgehen, der darf sich nicht nur begeistern an den Zielen, die er erreichen will, sondern muß auch sehr nüchtern untersuchen, ob nicht die Verwirklichung seiner Vorstellungen Nachteile nach sich zieht. Wir machen der Bundesregierung den Vorwurf, daß sich die Dinge nicht realistisch gesehen hat. Hätte sie das getan, so hätte sie erkennen müssen, daß die Schwächen des gegenwärtigen Systems geringfügig sind gegenüber den sozialen und gesundheitlichen Gefahren, die bei einer Verwirklichung der Vorstellungen des Bundesarbeitsministers auf uns zukommen.

(Beifall bei der SPD.)

Ich möchte jetzt einige Bemerkungen zu den neuralgischen Punkten machen; meine Kollegen werden weiteres dazu sagen. Wir werden so lange — heute und in den nächsten Wochen und Monaten — zu dieser Sache sprechen, bis Sie die praktischen Folgerungen ziehen und sich nicht nur in allgemeinen Erklärungen etwa wie die des Kollegen Stingl ergehen: Wir wollen die Probleme überlegen. Es muß dahin kommen, daß Sie sagen: Wir wollen zugeben, daß die Konzeption der Bundesregierung falsch ist.

(Beifall bei der SPD.)

Gestatten Sie mir eine erste Bemerkung. Nach dem Entwurf soll der Versicherte durch die Inanspruchnahmegebühr vor Inanspruchnahme des Arztes zu eigenwirtschaftlichen Überlegungen veranlaßt werden, er soll bei den ersten Krankheitserscheinungen, wenn er z. B. Kopfschmerzen, Halsschmerzen oder Magenschmerzen hat, prüfen, ob er zur Ersparnis von Geldausgaben nicht lieber warten sollte, wie sich die Sache entwickelt. Von dieser Konzeption geht doch der Entwurf bei der Inanspruchnahmegebühr aus.
Ich möchte Sie bitten, meine Damen und Herren, sich folgendes klarzumachen. In unserer Zeit der hochspezialisierten Wissenschaft und Technik soll in einer für das Leben des Menschen so wichtigen Frage wie Gesundheit oder Krankheit der Laie — in medizinischer Hinsicht — veranlaßt werden, nicht sogleich zum Fachmann zu gehen, sondern erst einmal abzuwarten. Man kommt mit dem Hinweis, der immer wieder — gerade von Ihnen, Herr Kollege Ruf — vorgebracht wurde, der Mensch solle doch nicht wegen jeder Bagatelle zum Arzt laufen. Das hört sich wunderschön an. Aber, meine Damen und Herren, leider beginnen die meisten Krankheiten als Bagatelle; ob es jedoch eine Bagatelle war oder nicht, weiß man erst nachher.

(Lebhafte Zustimmung bei der SPD.)

Natürlich wird der Versicherte, wenn sich sein Zustand verschlechtert, ungeachtet der Kostenbeteiligung den Arzt aufsuchen. Das bestreite ich nicht. Das Entscheidende an der gesetzlichen Regelung ist aber doch, daß Sie, meine Damen und Herren, den Versicherten und seine Angehörigen, soweit sie eine Beteiligungsgebühr zu zahlen haben, veranlassen wollen, den Arzt nicht mehr im frühesten Stadium einer Erkrankung, sondern in einem späteren aufzusuchen. Das ergibt sich aus der Regelung.



Dr. Schellenberg
Wir sind der Auffassung, daß eine solche Regelung mit dem Gedanken der Vorsorge unvereinbar ist. Ich möchte dies ganz deutlich und unmißverständlich sagen. Nach unserer Auffassung ist es besser, daß der Versicherte zehnmal zu früh als einmal zu spät zum Arzt geht. Ebenso scheint es uns auch besser zu sein, daß in den Sprechzimmern der Ärzte 40 Patienten mit leichten Erkrankungen als zehn Patienten mit schweren Erkrankungen sitzen. Ich führe dieses Beispiel an, um die Sachlage einmal klar und deutlich, vielleicht auch überspitzt darzustellen.

(Beifall bei der SPD.)

Aus den angeführten Gründen, meine Damen und Herren, haben wir gegen die Regelung dieses Entwurfes Bedenken.
Sie kommen weiterhin mit dem Hinweis, das Verantwortungsbewußtsein müsse gestärkt werden. Der Herr Bundesarbeitsminister hat vor einigen Tagen auf einer Pressekonferenz gesagt, daß durch seinen Gesetzentwurf das selbstverantwortliche Handeln gefördert werden solle. Niemand bestreitet, daß es gut wäre, wenn das Verantwortungsbewußtsein mancher Menschen noch stärker entwickelt würde. Wir sollten uns aber auch hier vor Verallgemeinerungen hüten. Der Bundesarbeitsminister will mit seinem Wort vom „selbstverantwortlichen Handeln in der Sozialpolitik" offensichtlich darauf hinaus, die Verhaltensweisen der Versicherten, und zwar aller Versicherten, zu beeinflussen.
Ich möchte an den Herrn Bundesarbeitsminister und an diejenigen, die noch zu dem Entwurf stehen, die Frage richten: haben die 26 Millionen Versicherten und ihre Angehörigen in den letzten Jahren durch ihr Arbeitsleben und ihre Leistung für den Wiederaufbau nicht ihr selbstverantwortliches Handeln unter Beweis gestellt?

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Deshalb betrachten wir es, um es deutlich zu sagen, als eine Anmaßung, Millionen pflichtbewußter Menschen durch Selbstbeteiligungen und Kontrolluntersuchungen zu einem selbstverantwortlichen Handeln erziehen zu wollen. Es ist eine schlechte Sache, ausgerechnet am Krankenbett die Erziehung zu selbstverantwortlichem Handeln betreiben zu wollen.

(Beifall bei der SPD.)

Damit muß man anderswo anfangen. Im übrigen ein Wort, das ich nicht an die Mitglieder des Hauses richten möchte — möge sich keiner getroffen fühlen —: Manche, die lautstark über mangelnde Selbstverantwortung reden, meinen immer die Selbstverantwortung der anderen und selten ihre eigene.

(Erneuter Beifall bei der SPD.)

Und dann eine Frage, die zu überlegen ich jedes einzelne Mitglied des Hauses bitte: zeigt denn wirklich derjenige, der frühzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt, mangelnde Verantwortung,

(Zuruf von der SPD: Im Gegenteil!)

so daß er durch Selbstbeteiligung moralisch aufgerüstet werden muß?

(Sehr gut! bei der SPD.)

Die gleichen Argumente, die wir gegen die Selbstbeteiligung haben, haben wir gegen die Verschärfung des beratungsärztlichen Dienstes. Im Referentenentwurf hieß es, daß der Versicherte die Arbeitsunfähigkeit dem beratungsärztlichen Dienst innerhalb von 48 Stunden mitzuteilen hat. Das ist jetzt geändert worden. Es heißt jetzt: innerhalb von zwei Tagen.

(Heiterkeit bei der SPD.)

Es heißt weiter — ich zitiere aus dem einstimmig vom Bundeskabinett verabschiedeten Entwurf —:
Wird die Mitteilung später gemacht, so ruht der Anspruch auf Krankengeld bis zum Tage des Eingangs der Mitteilung.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Eine derartige Verschärfung im System der Kontrolluntersuchung ist ein Ausdruck des Mißtrauens gegen die arbeitende Bevölkerung,

(Beifall bei der SPD)

Wir sind deshalb froh, daß der Herr Bundesarbeitsminister, wenn auch sehr spät, es eingesehen und in den letzten Erklärungen gesagt hat, die Kontrolle könne man lockern. Dann muß die entsprechende Formulierung im Entwurf fallen; dann können wir weiter sprechen.

(Erneuter Beifall bei der SPD.)

Herr Bundesarbeitsminister, ich muß Sie noch an einen anderen Ausdruck erinnern, den Sie in diesen Tagen geprägt haben. Sie sagten, wir brauchen die arbeitende Bevölkerung nicht mehr so zu bevormunden wie zu Bismarcks Zeiten. Darin stimmen wir mit Ihnen überein. Aber wir haben die Befürchtung, daß in der Praxis dieser Gesetzentwurf für die arbeitende Bevölkerung zu einer stärkeren Bevormundung als zu Bismarcks Zeiten führen würde.

(Abg. Ruf: Wo denn?)

— Ich kenne aus der Zeit Bismarcks eine Untersuchung innerhalb von 48 Stunden vor Zahlung des Krankengeldes nicht. Vielleicht unterrichten Sie mich darüber einmal.

(Abg. Ruf: Wo ist das vorgeschrieben, Herr Professor Schellenberg?)

— In § 202 des Entwurfs kann man es lesen. (Heiterkeit bei der SPD.)

§ 202:
Der Versicherte hat die Arbeitsunfähigkeit dem beratungsärztlichen Dienst innerhalb von 2 Tagen mitzuteilen.

(Abg. Ruf: Mitzuteilen! Herr Professor Schellenberg, darf ich eine Frage dazu stellen?)

— Bitte schön!

Thomas Ruf (CDU):
Rede ID: ID0310211200
Sie kennen das bisherige Recht. Nach bisherigem Recht mußten die Versicherten ihre Krankmeldung innerhalb von drei Tagen abgeben, d. h. innerhalb von drei Tagen mußte die Meldung bei der Krankenkasse eingegangen



Ruf
sein. Haben Sie nicht gelesen, daß daran kaum eine Änderung vorgenommen wird? In Zukunft soll innerhalb von zwei Tagen die Meldung abgegangen sein. Es bleibt also in dieser Beziehung nahezu heim alten.

(Zurufe von der SPD.)


Dr. Ernst Schellenberg (SPD):
Rede ID: ID0310211300
Aber, Herr Kollege Ruf, das sollten Sie mal den Arbeitnehmern Ihrer Fraktion erzählen!

(Beifall bei der SPD. — Zuruf des Abg. Ruf.)

Meine Damen und Herren, wie ist die Regelung denn jetzt? Jetzt hat der Versicherte, um den Krankengeldanspruch zu erwerben, seiner Krankenkasse eine Meldung regelmäßig innerhalb von 3 Tagen zu machen. In Zukunft soll der Weg direkt zur Nachuntersuchung führen. Meine Damen und Herren, Herr Kollege Ruf, wenn das keine Verschlechterung ist, dann muß ich Sie wirklich bitten, einmal in eine Betriebsversammlung zu gehen und das dort darzulegen.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Ruf: Eine Meldung ist doch noch keine Nachuntersuchung!)

— Aber der Vertrauensärztliche Dienst hat doch die Verpflichtung, unverzüglich zu handeln. Die Krankenkasse kann doch bei der vorgesehenen Regelung mit der Krankengeldzahlung praktisch gar nicht einsetzen, bevor die Mitteilung des Vertrauensärztlichen Dienstes da ist; das ist im System vorgesehen. — Aber darüber werden meine Kollegen aus den praktischen Erfahrungen der Krankenversicherung der Betriebe nachher noch einiges sagen, um Herrn Kollegen Ruf weiter zu unterrichten.

(Heiterkeit bei der SPD.)

Eine weitere Regelung: die wirtschaftlichen Auswirkungen! Finanziell gesehen ist die Kostenbeteiligung ein Zusatzbeitrag bei Krankheit, und eine solche Regelung ändert das finanzielle Gefüge unserer sozialen Krankenversicherung. Die Höhe der Kostenbeteiligung kann nach der Auffassung der Bundesregierung — der ich in diesem Punkt zustimme — nicht im einzelnen geschätzt werden. Ich habe die Mittelwerte zugrunde gelegt, ohne die Leistungsverschlechterungen, ohne die Regelung der Karenztage; allein für die Kostenbeteiligung ergibt sich nach den Angaben der Bundesregierung im Mittelwert eine Belastung von 564 Millionen DM.
Bisher hat der Arbeitgeber die Hälfte der Beiträge zu zahlen. Es ergibt sich also eine Verschiebung in der Aufbringung der Mittel für soziale Leistungen von den Arbeitgebern zu Lasten der Versicherten. Das haben erfreulicherweise, aber erst in den letzten Tagen, auch Kollegen Ihrer eigenen Fraktion zugegeben. Herr Kollege Stingl hat daraus auch gewisse Folgerungen gezogen, leider noch sehr unbestimmte, Herr Kollege Stingl; das hätten Sie schon deutlicher machen müssen.
Diese Verschiebung von den Arbeitgebern zu Lasten der Versicherten ist vielleicht mit ein Grund, weshalb sich die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände in so charmanter Weise für die Verbreitung der Schrift „Wer soll das bezahlen?" eingesetzt hat, — ein ganz ungewöhnlicher Vorgang, jene Schreiben, die Sie auch kennen, an die Redaktionen der Zeitungen, sie möchten Propaganda für die Schrift machen.
Aber es findet nicht nur eine Verlagerung in den Sozialaufwendungen zu Lasten der kranken Versicherten statt, sondern es ergibt sich im großen und ganzen auch eine Verschiebung im Sozialaufwand von Alleinstehenden in Richtung auf die Familie, ungeachtet dessen, was der Herr Bundesarbeitsminister heute über die familienfördernde Gesinnung — so muß ich sagen, nicht: Maßnahmen — gesagt hat. Wieso? Ganz einfach: der Alleinstehende zahlt eine Kostenbeteiligung nur für sich, der Verheiratete die Kostenbeteiligung für sich und seinen Ehegatten bei ärztlicher Behandlung; also 2 mal für die Kinder gibt es zwar die Kostenbeteiligung für die Inanspruchnahme des Arztes nicht mehr, aber für Arzneien, Krankenhauspflege können Sie sie, wenn Sie wollen, mit der Hälfte oder mit einem Drittel einsetzen. Hat die Familie also drei Kinder, dann zahlt sie de facto das Dreifache der Kostenbeteiligung, die ein Alleinstehender im Durchschnitt zu zahlen hat.

(Zurufe von der Mitte. — Abg. Frau Kalinke: Kinder sind doch ausgenommen!)

— Aber da ist doch das System! Wir müssen ein solches System als familienfeindlich bezeichnen,

(Beifall bei der SPD)

wenn Sie in der Veränderung der Sozialleistungen
die Familie stärker belasten als den Alleinstehenden.
Es tritt noch eine andere Umschichtung ein. Wer ist denn überwiegend krank? Nicht derjenige, der auf dem Höhepunkt des Lebens steht, sondern — das ist unser gemeinsames Schicksal — die Älteren in unserem Volke sind genötigt, häufiger ärztliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Wenn Sie nun mit der ärztlichen Leistung, mit den Medikamenten, mit der Krankenhauspflege Kostenbeteiligungen verbinden, dann verlagern Sie soziale Aufwendungen zu Lasten der Alten in unserem Volke. Das halten wir für unsozial.

(Beifall bei der SPD.)

Wir sind deshalb der Auffassung, daß Kostenbeteiligung, wie sie hier vorgeschlagen ist, die unsozialste
Form der Finanzierung von sozialen Leistungen ist,

(Beifall bei der SPD)

weil sie zu Lasten der Kranken, zu Lasten der Familie und zu Lasten der Alten in unserem Volke geht.

(Erneuter Beifall bei der SPD.)

Jetzt kommt man und sagt: Es gibt doch soziale Vorschriften für eine Kostenbefreiung: Einkommensbezieher bis zu 200 DM werden von der Kostenbeteiligung befreit.

(Abg. Killat [Unterbach] : Bedürftigkeitsprüfung!)

Ja das kommt jetzt. - Ich lese einige Sätze aus der Begründung des Gesetzes vor. Sie sprechen nämlich für sich.



Dr. Schellenberg
Eine gesetzliche Befreiung für Versicherte mit
einem monatlichen Einkommen unter 200 DM
-- so heißt es in der Begründung —
ist nicht angezeigt, weil es Versicherte gibt, die
zwar ein geringes Einkommen haben, denen
aber eine Zuzahlung zugemutet werden kann.
Das ist, wie Herr Kollege Killat schon dazwischengerufen hat, die Einführung von Bedürftigkeitsprüfungen in der Sozialversicherung.

(Sehr wahr! bei der SPD.)

Wahrlich, welcher Stilwandel in unserer Sozialpolitik!

(Beifall bei der SPD.)

Oder eine andere Vorschrift — Begründung zu § 186 Abs. 5 —:
Die Selbstverwaltung soll die Möglichkeit haben, durch Einführung einer Höchstbegrenzung für jeden Behandlungsfall die Kostenbeteiligung besonderen sozialen Gegebenheiten anzupassen.
Die Selbstverwaltung soll Kostenbeteiligung besonderen sozialen Bedürfnissen anpassen, das bedeutet: Prüfung des einzelnen Falles der sozialen Gegebenheiten, Prüfung fürsorgerechtlicher Art. Anders kann man das nicht verstehen.

(Zuruf von der SPD: Polizeistaat!)

Im übrigen führen die Sondervorschriften über die Befreiung von der Kostenbeteiligung für die Bezieher niedriger Einkommen zu grotesken Auswirkungen. Für die Bezieher eines Einkommens unter 200 DM monatlich entfällt nämlich die Erziehung zur Selbstverantwortung durch Kostenbeteiligung. Das ist die Sonderregelung. Der Bezieher eines Einkommens von 400 DM dagegen, der das Doppelte oder das Dreifache an Beiträgen zahlt, soll durch Kostenbeteiligung zur pfleglichen Inanspruchnahme von Leistungen erzogen werden. Das ist doch die Konstruktion!
Ein anderes Beispiel: Krankenhauspflege. Ein Angestellter, der 600 DM Gehalt hat, zahlt dreimal höhere Beitrage als der Versicherte, der 200 DM verdient. Weil er das Dreifache an Beiträgen zahlt, soll er bei Krankenhauspflege das Dreifache an Kostenbeteiligung zahlen. Das ist eine groteske Regelung. Das hat nichts mit einem sozialen Ausgleich zu tun. Meine Damen und Herren, es wird uns niemand bestreiten, daß wir immer für den sozialen Ausgleich eintreten. Das Beispiel zeigt — diese Lehre sollten Sie ziehen —, daß man ein verfehltes System nicht durch Ausnahmeregelungen sinnvoll machen kann.

(Beifall bei der SPD.)

Jetzt zur Gebührenordnung. Die Gebührenordnung ist deshalb wichtig, weil von ihr wesentlich die Höhe der Zuzahlung abhängt. Nach dem Regierungsentwurf soll wegen des Zusammenhanges zwischen der Höhe des Honorars und der Kostenbeteiligung eine sogenannte Leistungsansatzgebührenordnung erlassen werden. Der Bundesarbeitsminister hat diese Gebührenordnung noch nicht vorgelegt. Heute hat er sich weniger darüber ausgelassen, aber
in der Pressekonferenz hat er erklärt, das könne er noch nicht tun, weil diese Gebührenordnung erst nach Verabschiedung des Gesetzes durch Rechtsverordnung erlassen werden solle. Das bedeutet, daß uns heute zugemutet werden soll, in erster Lesung einen Gesetzentwurf über die Neuregelung der Krankenversicherung zu verabschieden, ohne die Gebührenordnungsansätze und damit, was sozialpolitisch entscheidend ist, die Höhe der Kostenbeteiligung für den einzelnen Versicherten zu kennen.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Um es volkstümlich zu sagen: wir sollen hier die Katze im Sack kaufen!

(Beifall bei der SPD.)

Ich darf einen Vergleich aus unserer eigenen Arbeit bringen: Herr Kollege Storch, Sie, den ich früher manchmal heftig kritisiert habe, hätten es damals nicht gewagt, uns die Rentenneuregelungsgesetze ohne eine Rentenformel vorzulegen. Heute erklärt man uns, die Gebührenordnung, die für die Höhe der Kostenbeteiligung entscheidend ist, werde erst später durch Rechtsverordnung erlassen. Das kann ich nur mit der Vorlage eines Gesetzentwurfs über die Neuregelung der Rentenversicherung vergleichen, die ohne eine Unterrichtung darüber vorgenommen wird, wie die Höhe der Rente im einzelnen berechnet werden soll.

(Zuruf von der CDU/CSU.)

— Nein, das weiß auch der Kollege nicht! Denn er hat sich mit dem System bisher noch nicht beschäftigt. Ich werde ihn noch darüber unterrichten.

(Heiterkeit.)

— Ich komme nun gleich zum Schluß, denn meine Kollegen wollen auch noch reden, und auch ich möchte vielleicht nach dem Abendessen noch einiges sagen.

(Erneute Heiterkeit.)

Der Herr Bundesarbeitsminister hat in einer allgemein gehaltenen Erklärung seine Vorstellungen über die Ansatzgebührenordnung entwickelt. Ich möchte dazu nur einige Bemerkungen machen; man kann dazu erst Stellung nehmen, wenn man den Entwurf der Gebührenordnung kennt. Dem Gesetzentwurf liegt die Konzeption zugrunde, daß für jede einzelne Honorarposition ein Zuzahlungsbetrag geleistet werden soll, damit der Versicherte die einzelne ärztliche Leistung mit Bedacht in Anspruch nimmt. Für eine solche Gebührenordnung gibt es zwei Möglichkeiten.
Erstens: Wegen der Vielfältigkeit der einzelnen ärztlichen Leistungen wird für jede einzelne Leistung des Arztes, beispielsweise Untersuchung, EKG, Besuch des Kranken, eine Honorarposition angesetzt, für die dann nach dem Gesetzentwurf jeweils eine Zuzahlung zu leisten wäre. Die praktische Folge muß sein, daß im Rahmen einer Konsultation unter Umständen mehrmals die Zuzahlung von 1,50 DM zu leisten ist. Über diese Auffassung hat sich der zuständige Referent des Arbeitsministeriums im „Deutschen Arzt" wie folgt geäußert:



Dr. Schellenberg
Hat der Arzt z. B. beim Besuch eines Patienten drei nach der Gebührenordnung berechenbare Leistungen erbracht, so ist der festgesetzte Betrag dreimal zu zahlen.
Das ist also die eine Möglichkeit.
Die andere Möglichkeit besteht darin, mehrere ärztliche Leistungen, z. B. Weg des Arztes zum Patienten, intravenöse Injektion, EKG usw., in einer Honorarposition zusammenzufassen. Dadurch beschränkt sich — das ist richtig — die Höhe der Zuzahlung, wenn man sie sehr stark zusammenfaßt, in der Regel auf eine Zuzahlung bei einer Konsultation.
Aber welche Wirkung hat das? Das bedeutet de facto, daß die Honorare für vielfältige ärztliche Leistungen pauschaliert und damit nivelliert werden. Der Herr Bundesarbeitsminister hat uns heute vorgetragen, daß er einer Pauschalierung des Honorars begegnen will. Er hat uns jedoch die Gebührenordnung nicht vorgelegt, so daß wir nicht übersehen können, wie er diese Probleme nun wirklich lösen will.
Ich würde eine dritte Möglichkeit vorschlagen, nämlich die Koppelung von Zuzahlung und ärztlicher Leistung fallenzulassen und damit einen der großen Fehler des Entwurfs zu beseitigen.
Herr Kollege Stingl, Sie wollen von mir eine Erklärung zu dem haben, worüber Sie schmunzeln. Wenn sie konkret Stellung nehmen, geben wir Ihnen auch darauf eine Antwort. Jetzt setzen wir uns einmal mit dem Regierungsentwurf auseinander.

(Beifall bei der SPD.)

Sonst spreche ich noch länger, und dann falle ich Ihnen lästig.
Der Herr Bundesarbeitsminister hat mich gezwungen, noch zu der Arzneifrage etwas zu sagen. Sonst heißt es: Der Schellenberg kneift. Aber wir fechten miteinander. Der Herr Bundesarbeitsminister hat liebenswürdigerweise den Sozialplan der SPD durcharbeiten lassen. Wir haben im Hinblick darauf, daß in Deutschland für Arzneien bereits eine Kostenbeteiligung besteht, selbstverständlich die Frage der Kostenbeteiligung zur Diskussion gestellt und uns darüber Gedanken gemacht. Aber Sie müssen den Sozialplan ganz lesen und nicht nur die Stellen herausziehen, die Ihnen willkommen sind. Wir haben im Sozialplan die Frage aufgeworfen, ob es nicht zweckmäßig ist, zwischen Heilmitteln und Linderungsmitteln zu unterscheiden, wir haben aber erklärt, daß dort, wo Linderungsmittel notwendig sind, sie als Leistungen der Sozialversicherung gewährt werden müssen.
Was Sie, Herr Bundesarbeitsminister, aber vorschlagen, ist leider — ich muß es wieder sagen — wirklichkeitsfremd, noch wirklichkeitsfremder als — so meinen Sie — Vorstellungen, die wir einmal zur Diskussion gestellt haben. Ich möchte Ihnen darlegen, wie wirklichkeitsfremd Ihr Gesetzentwurf hinsichtlich der Beteiligung an Arzneikosten ist.
Durch die Beteiligung soll der Arzneimittelbedarf eingeengt werden. Wenn jemand nach Ihrer Regelung Arzneien im Wert bis 5 DM bezieht, beträgt die Zuzahlung 1 DM. Die praktische Wirkung wird sein, daß jeder, der ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt und eine Arzneiverordnung erhält, seinen Arzt bitten wird, ihm eine größere Packung zu verschreiben, damit der Zuzahlungsbetrag nicht zu häufig fällig wird. Er wird den Arzt bitten, nicht zu billige Arzneien zu verschreiben; denn wenn die Arznei nur 2 DM wert ist, macht seine Kostenbeteiligung 50 % aus.

(Abg. Stingl: So wenig vertrauen Sie den Versicherten?)

Wissen Sie, was die praktische Wirkung sein wird? Die chemische Industrie wird Packungen im Wert von 4,95 DM produzieren, damit sich die Zuzahlung für den Versicherten lohnt. Das würde eine Folge der Regelung sein. Jeder Praktiker wird Ihnen sagen, daß dadurch der Arzneiaufwand nicht gesenkt wird.

(Zuruf von der Mitte: Sie machen die Menschen schlechter, als sie sind!)

Zum Schluß möchte ich nur noch hinsichtlich des Verwaltungsaufwands eine Frage an den Herrn Minister stellen. Die Kassenärztliche Vereinigung, die der Aufsicht des Herrn Bundesarbeitsministers untersteht, hat in der Öffentlichkeit erklärt, daß die Verwaltungsaufwendungen durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung um 230 Millionen DM steigen würden. Ich bitte den Herrn Bundesarbeitsminister, zu den Erklärungen dieser Körperschaft des öffentlichen Rechts, die seiner Dienstaufsicht untersteht, Stellung zu nehmen und zu erklären, ob die Behauptung richtig oder falsch ist. Ich muß nämlich daran erinnern, daß der Herr Bundesarbeitsminister am 27. Januar 1959 erklärt hat:
Ärzteverbände und SPD
— damals schon das, was Sie als „Einheitsfront" bezeichnet haben —
erklären, der Referentenentwurf verursache einen Verwaltungsmehraufwand bei den Arbeitgebern, den Krankenkassen und den Ärzten. Wenn man die Stärkung der Selbstverantwortung für ein hohes Ziel hält, muß man auch grundsätzlich einen höheren Verwaltungsaufwand in Kauf nehmen.
Soweit der Herr Bundesarbeitsminister. Wir teilen die Auffassung nicht, daß Methoden zur allgemeinen Stärkung des Verantwortungsbewußtseins entwickelt werden müssen, und sind auch der bescheidenen Auffassung, daß es der Sinn einer Sozialreform sein sollte, den Verwaltungsaufwand zu senken.
Ich möchte kurz zusammenfassen. Wir bestreiten nicht, daß der Gesetzentwurf eine Reihe von Verbesserungen enthält.

(Bravo! von der Mitte.)

— Wir halten sie für unzureichend, aber darüber läßt sich noch reden. Das Entscheidende ist jedoch: Wir halten die Grundkonzeption des Gesetzentwurfs, durch den ein Stilwandel unserer Sozialpolitik erreicht werden soll, für völlig verfehlt. Die



Dr. Schellenberg
entscheidenden Vorschriften des Gesetzentwurfs, z. B. über die Kostenbeteiligungen und über die Kontrolluntersuchungen, werden den sozialen und gesundheitlichen Bedürfnissen in unserem Volk nicht gerecht, und sie beruhen auf einem allgemeinen Mißtrauen gegenüber den arbeitenden Menschen und seiner Familie.

(Anhaltender Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310211400
Das Wort hat der Bundesarbeitsminister.

Theodor Blank (CDU):
Rede ID: ID0310211500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, noch einmal eine längere Rede zu halten, weil ich den Damen und Herren, die auch noch zu sprechen den berechtigten Wunsch haben, nicht die Zeit wegnehmen will.
Eines muß aber kurz festgehalten werden. Ich weiß, daß Sie, Herr Kollege Schellenberg, der Meinung waren, man könne heute in diesem Hause über den Gesetzentwurf der Bundesregierung sprechen, ohne den Sozialplan der SPD zu erwähnen.

(Lachen bei der SPD.)

Ich weiß sogar, Herr Kollege Schellenberg, daß Ihnen das äußerst unangenehm ist, möchte aber mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten nur ganz wenige Sätze aus diesem Sozialplan zitieren.

(Zuruf von der SPD: Noch mehr, das ist besser!)

Der Sozialplan für Deutschland ist auf Anregung des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei vorgelegt worden. Ich will nicht alle Namen aufzählen, aber zu den verdienstvollen Verfassern gehört auch mein Freund, der Herr Professor Ernst Schellenberg. Herr Schellenberg hat eben vom Mißtrauen gesprochen und von dem Mißbrauch, von dem ich ausgegangen sei. In dem Sozialplan gibt es ein Kapitel mit der Überschrift: Arneimittelmißbrauch. Daraus nur wenige Sätze:
Ein sehr großer Teil des heutigen Arzneimittelverbrauchs gilt der Abwendung von Folgen unbesonnener Handlungen oder gänzlich fehlgeleiteter Lebensführung, so der massenhafte Verbrauch von Schlafmitteln und von schmerzlindernden Mitteln in direktem Zusammenhang mit bedenkenlosem Genußmittelverbrauch.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Meine Damen und Herren, aber damit nicht einmal genug!

(Abg. Dr. Schellenberg: Sie sehen, wir haben Mut!)

— O ja, ich bewundere Ihren Mut! — Daß aber nicht nur die Versicherten diesen Mißbrauch betreiben, das wird ausdrücklich noch einmal hervorgehoben, indem gesagt wird — von mir gibt es eine solche Äußerung nicht, ich zitiere —:
Zweifellos sind aber auch manche Ärzte

(Zuruf von der SPD: Manche!)

selbst in der Verordnung von Arzneimitteln nicht sonderlich kritisch. Wenn in weiten Kreisen der Wert einer Behandlung, ja eines Arztes nach der Menge der verordneten Arzneimittel gemessen wird, so spiegelt das in erster Linie den Glauben vieler Ärzte an die bestimmte Wirkung chemischer Präparate wider.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Und nun, Herr Schellenberg, obwohl wir uns heute sonst so nett unterhalten haben, ich kann Sie daraus nicht entlassen! Es heißt hier weiter:
Deshalb wird zu prüfen sein, ob man nicht eben von diesem Punkt ausgehen soll
— Herr Schellenberg unterschied hier vorhin zwischen Linderungs- und Heilmitteln —
und nur den Verbrauch vermeidbarer Arzneimittel mit einer Kostenbeteiligung belasten, vielleicht sogar von der Kostenübernahme in der sozialen Sicherung überhaupt ausnehmen soll.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Sie sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß dieses Dokument auch für uns von einem erheblichen Wert ist, wenn wir uns mit den Dingen beschäftigen, die unter das Kapitel „Kostenbeteiligung" gehören. Ich danke Ihnen für diesen Plan.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310211600
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stammberger.

Dr. Wolfgang Stammberger (SPD):
Rede ID: ID0310211700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele von Ihnen kennen sicher den schönen Kalender, den ,das Verlagshaus Axel Springer alljährlich unter dem Motto „Seid nett zueinander" herausgibt. Der Spruch dieses Kalenders für den heutigen Tag ist symbolisch. Er scheint mir manchmal der Wahlspruch des Hauses Blank zu sein. Der Spruch lautet: „Glauben kann man alles, vorausgesetzt, daß es unwahrscheinlich genug ist."

(Heiterkeit.)

Nun, meine Damen und Herren, das soll keinesfalls der Auftakt einer Philippika gegen die Rede des Herrn Ministers Blank von heute morgen sein, etwa wie sie Herr Kollege Schellenberg gehalten hat. Im Gegenteil! Wir Freien Demokraten begrüßen durchaus den Willen der Bundesregierung zu einem Stilwandel in der Sozialpolitik. Herr Bundesarbeitsminister, es wird Ihnen sicher nicht verborgen geblieben sein, daß wir Ihnen bei der Darlegung Ihrer Grundsätze heute früh sehr viel Beifall gespendet haben. Aber, Herr Minister, wir fragen uns nur eines: Wie ist es bei einer so vernünftigen, ich möchte fast sagen: bei einer so liberalen — beides ist ja ,das gleiche! —,

(Beifall bei der FPD — Heiterkeit und OhoRufe in der Mitte und links)

wie ist es bei einer so gearteten Einstellung des
federführenden Ministers möglich, daß uns ein solcher Gesetzentwurf heute auf den Tisch des Hauses



Dr. Stammberger
gelegt worden ist? Denn, Herr Minister, der Versuch zu einem Stilwandel in diesem Gesetzentwurf scheint uns reichlich mißglückt zu sein. Aus diesem Grunde haben Sie, Herr Minister, wohl auch heute mehr über Ihre durchaus anerkennenswerten Grundsätze als über den Gesetzentwurf gesagt. Zu diesem Gesetzentwurfs haben Sie mit einem Appell an die Souveränität des Parlaments eigentlich lediglich die Hoffnung ausgesprochen, daß das Parlament daraus etwas Vernünftigeres machen möge.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP.)

Auch das, Herr Minister, sind außerordentlich liberale Töne, wie wir sie von Ministern dieses Kabinetts ansonsten nicht gewohnt sind.

(Zustimmung bei der SPD.)

Wir hoffen, daß sich auch hier allmählich ein Stilwandel durchsetzen möge.

(Beifall bei der FDP.)

Und nun zu Ihnen, Herr Kollege Stingl. Ich teile eigentlich die Kritik des Herrn Kollegen Schellenberg an Ihnen nicht. Wir haben uns sehr gefreut, daß Sie hier heute offen zugegeben haben, einmal nicht von einer voreingenommenen absoluten Mehrheit Gebrauch machen zu wollen, um diesen Gesetzentwurf, koste es was es wolle, durchzupauken, sondern daß Sie durchaus gewillt sind, auch Gegenvorschläge zu akzeptieren, wenn sie vernünftig sind. Sie können sich darauf verlassen: solche Vorschläge werden kommen. Auch das, meine Damen und Herren, sind sehr ungewohnte Töne, auch hier scheint sich ein Stilwandel — ja ich möchte sogar sagen: ein Stingl-Wandel —

(Heiterkeit)

anzubahnen.
Meine Damen und Herren, wir hoffen, daß das alles ernst ist, daß es nicht einer gewissen Hilflosigkeit entspringt.

(Oh-Rufe von der CDU/CSU.)

Herr Kollege Stingl, als ich heute früh in den Morgenzeitungen so verschiedene Meldungen über gewisse, na, sagen wir einmal: Meinungsdivergenzen in der CDU/CSU las und als ich dann Ihre Rede hier hörte, da habe ich mir gedacht: Der ganzen Fraktion recht getan, ist eine Kunst, die Stingl kann.

(Heiterkeit.)

Nun, meine Damen und Herren, zu dem Entwurf. Ich möchte etwas weniger von den Grundsätzen als von dem Entwurf sprechen, also von den Gedanken, die der Herr Bundesarbeitsminister nun aus seinen Grundsätzen heraus auf die gesetzgeberische Ebene projiziert hat.
Es ist heute bereits sehr viel von den Leistungsverbesserungen gesagt worden. Sie sind auch nach unserer Auffassung notwendig, zu einem großen Teil sogar längst überfällig. Ich möchte zwei herausheben, die uns besonders am Herzen liegen. Das eine ist ein erster Schritt zu einer vorbeugenden Gesundheitspflege, die nunmehr auch vom Gesetz als nötig anerkannt wird. Das zweite ist die Verlagerung der Leistungen zugunsten eines ausreichenden Schutzes bei langdauernden und schweren Krankheiten.
Aber, meine Damen und Herren, über eines wollen wir uns einmal klar sein. Leistungsverbesserungen bedeuten Mehrausgaben. Bei Mehrausgaben muß man auch an die Mehreinnahmen denken. Es ist sehr gut, daß sich die Bundesregierung auch mit diesen Gedankengängen befaßt hat.
Es kommen praktisch nach unserer Auffassung überhaupt nur drei Möglichkeiten in Frage.
Das eine wäre eine schematische Erhöhung der Beiträge. Sie wird von der Bundesregierung mit Recht abgelehnt. Gesteigerte Beiträge erwecken praktisch auch eine gesteigerte Begehrlichkeit.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Zudem hat wohl auch die Bundesregierung das unangenehme Gefühl gehabt, daß es durch die dynamische Rente und ihre Auswirkungen in kurzer Zeit wahrscheinlich sowieso zu erhöhten Sozialbeiträgen kommen wird und daß irgendwann einmal das vertretbare Maß überschritten werden und daß es notwendig sein wird, irgendwann einmal den Mut zu haben, hier die Bremse zu ziehen.

(Beifall bei der FDP.)

Wenn die Grenze der Zumutbarkeit bei den Sozialbeiträgen überschritten wird, liegt es natürlich nahe, nach dem Staat, nach staatlichen Zuschüssen zu rufen. Meine Damen und Herren, wenn das die Folge der Leistungsverbesserung wäre, dann würde der Staat noch mehr in die Selbstverwaltung der Sozialversicherung hineinregieren wollen und auch hineinregieren müssen, als er das jetzt schon — nach einigen Stellen des Entwurfs — will, und wir bekämen praktisch den ersten Schritt zu einem staatlichen Gesundheitsdienst. Auch in dieser Hinsicht, Herr Minister, gehen wir mit Ihnen völlig einig: wir Freien Demokraten wollen ihn nicht. Daher sind wir der Meinung, daß wir auch hier nachdrücklichst, meine Damen und Herren von der SPD, die Bremsen anziehen sollten und müssen. Ich weiß, meine Damen und Herren von der SPD, daß man bei Ihnen manchmal statt auf die Bremse auf das Gaspedal drückt,

(Große Heiterkeit.)

Aber, meine Damen und Herren, die Folge davon ist eben „eine kaputte Wirtschaft".

(Erneute große Heiterkeit und Beifall.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310211800
Herr Abgeordneter, das war liberal-individualistisch getan und nicht kollektiv.

(Heiterkeit.)


Dr. Wolfgang Stammberger (SPD):
Rede ID: ID0310211900
Ich bin fest davon überzeugt, Herr Professor, und wenn Sie sich einen guten Anwalt nehmen, wird es auch nicht so schlimm werden.

(Anhaltende Heiterkeit.)

Meine Damen und Herren, dann bleibt als die dritte Möglichkeit eben nur der Grundgedanke des

Dr. Stammberger
Regierungsentwurfs, die Selbstbeteiligung in irgendeiner Form. Wir sehen in dieser Selbstbeteiligung aber nicht nur ein finanzielles Problem, wir bejahen sie im Grundsatz, nicht nur aus finanziellen Erwägungen. Wir sehen trotz der Ausführungen des Herrn Professor Schellenberg hier auch nur ein Problem der Selbstverantwortung.
Herr Professor Schellenberg hat sich vorhin eine Argumentation zu eigen gemacht, nach der die Selbstbeteiligung, wie immer sie auch aussehen mag, praktisch zu einer Erschwerung der Früherkennung führt, weil sie den Gang zum Arzt verbaut, und daß sie dadurch zu einer Gefahr für die Volksgesundheit werden könnte. Herr Kollege Schellenberg, wer so argumentiert, der soll nicht mehr von Selbstveranwortung, von Selbstbestimmung und von freier Entscheidung des Staatsbürgers sprechen. Wir sind nicht der Auffassung, daß unser Volk durch das Wirtschaftswunder bereits so materialisiert ist, daß man für alle möglichen Dinge Geld zur Verfügung hat, daß aber nicht einmal Pfennigbeträge für die Gesunderhaltung zur Verfügung stehen, obwohl doch gerade die Gesundheit immer mit so viel Pathos als höchstes Gut propagiert wird.

(Beifall bei der FDP und in der Mitte.)

Mag die soziale Krankenversicherung nun in Einzelfällen ausgenützt werden oder nicht, über eines wollen wir uns doch einmal klar sein: Es kann kein Zweifel daran sein, daß bei dem jetzigen System der sozialen Krankenversicherung jeder Wertmaßstab verlorengegangen ist und bei diesem System auch verlorengehen mußte. Wer weiß denn von den Sozialversicherten heute noch, was Kranksein kostet oder besser: was die Gesundheit wert ist? Wer weiß denn noch, was im Einzelfall die Kasse, d. h. doch die Gemeinschaft, der er selber angehört, zahlen muß? Und woher soll er es auch wissen, wenn es ihm niemand sagt? Wer von den Sozialversicherten, selbst wenn sie noch so oft krank gewesen sind, hat denn in seinem Leben eine Arztrechnung überhaupt nur zu Gesicht bekommen? Ihm ist nur bekannt, daß soundso viel einbehalten wird — ein häufig steigender Beitrag —, mancher weiß noch nicht einmal, daß die einbehaltenen Beiträge auch aus anderen Gründen einbehalten werden, nicht nur für die Krankenversicherung. Er weiß häufig nicht einmal, daß auch ein Arbeitgeberanteil zu zahlen ist. Meine Damen und Herren, wir sollten bei einem „Stilwandel" oder, konkreter gesagt, in einem Systemwandel auch einmal auf die Nebenwirkung achten, daß der Patient endlich einmal das Gefühl bekommt, was die Kasse, über die er häufig nur schimpft, letzten Endes auch für ihn wert ist. Wir bekennen uns daher im Grundsatz zur Selbstbeteiligung als einer Funktion der Selbstverantwortung.
Der selbstverständlichen, auch für uns selbstverständlichen Verpflichtung der Gemeinschaft, den Kranken zu helfen, steht die ebenso selbstverständliche Verpflichtung des einzelnen gegenüber, zunächst einmal nach seiner Leistungsfähigkeit alles zu tun, um sich selbst gesund zu erhalten. Es ist ein Problem, das eigentlich überall in einer freiheitlichdemokratischen Gesellschaftsordnung zur Lösung einsteht, wieviel Freiheit einerseits nötig und wieviel Solidarität andererseits erforderlich ist.
Diese Übereinstimmung mit den Grundgedanken der Bundesregierung bedeutet aber nun keinesfalls auch eine Zustimmung zu dem System, das sie in ihrem Entwurf zur Lösung des Problems gewählt hat. Wir halten dieses System für viel zu kompliziert und wir halten es auch für sozial ungerecht. Wir haben auch nur drei Stellen gefunden, die dieses System vollinhaltlich bejahen: das ist die Bundesregierung, das ist Frau Dr. Heddy Neumeister von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und das ist der „Spiegel". Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung und der „Spiegel" schon einmal einer Meinung sind

(Zurufe von der SPD: Die Zahnärzte! Die Arbeitgeber!)

— auch die Arbeitgerverbände, ich will gern konzedieren , dann sollten wir, so glaube ich, mit besonderer Vorsicht an die Prüfung der Materie herangehen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und in der Mitte.)

Besonders böse über den Entwurf sind die Ärzte. Das ist heute bereits mehrfach gesagt worden. Herr Kollege Krone hat sich zu einer Wortschöpfung verleiten lassen, indem er von „staatsabträglich" gesprochen hat. Aber ich glaube, die Ärzte haben sich lediglich ein großes Wort unseres weisen Kanzlers zu eigen gemacht; der Herr Bundeskanzler hat ja in letzter Zeit verschiedentlich gesagt, man solle bei der Durchsetzung seiner Forderungen nur „nicht so pingelig sein".

(Heiterkeit.)

Er hat das zwar nicht zu den Ärzten, sondern zur CDU/CSU-Fraktion gesagt und auch auf sich selbst bezogen. Aber, meine Damen und Herren, so ist das nun einmal: Quod licet Iovi, et licet medicis. Böse Beispiele verderben eben gute Sitten.

(Heiterkeit.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310212000
Medico, nicht medicis!

(Zurufe: Es ist doch Plural!)


Dr. Wolfgang Stammberger (SPD):
Rede ID: ID0310212100
. . . et licet medicis! Sind wir jetzt einig, Herr Präsident, zumindest in diesem Punkt?
Nun wird den Ärzten mit Recht entgegengehalten, daß sie einen freien Beruf ausübten, daß sie dann auch das Risiko der Geldeinnahme tragen müßten und daß dies alles, wenn sie freie Berufe sein und bleiben wollten, ihrem standespolitischen Ethos durchaus nichts entgegenstehe. Das ist alles richtig, meine Damen und Herren, aber die Dinge müssen so geregelt werden, daß sie Sinn haben. Den haben diese Regelungen im Regierungsentwurf nun einmal leider nicht. Ich sage bewußt: leider, weil wir ja in den Grundsätzen, Herr Minister, übereinstimmen.
Im Regierungsentwurf wird davon gesprochen, daß durch dieses Gesetz ein verwaltungsmäßiger Mehraufwand von 20 Millionen DM entstehen soll.



Dr. Stammberger
Wenn diese Zahl stimmt, kann sie bestenfalls die verwaltungsmäßigen Mehrausgaben der Kasse betreffen. Keinesfalls aber ist darin der erhebliche Verwaltungsaufwand berücksichtigt, der in jeder einzelnen kassenärztlichen Praxis entsteht. Man braucht wirklich kein Kassenarzt zu sein — ich bin ja keiner —, um festzustellen, daß es so ganz einfach nicht geht.
Ich darf Sie darauf hinweisen, daß wegen der Sechs-Wochen-Frist und der Sechs-Monate-Frist ein Fristenkalender geführt werden muß, damit der Arzt weiß, wann er jeweils umstellen muß, wann er eine Rechnung zu erstellen hat. Meine Damen und Herren, solche Fristenkalender brauchen in einer Anwaltskanzlei nicht in diesem Umfang geführt zu werden, obwohl wir Anwälte ja mit allerhand Fristen zu tun haben.
Ich darf darauf hinweisen — und hier scheint es sich um den mangelhaftesten Punkt in dem Regierungsentwurf zu handeln —, daß die Forderung des Arztes in Zukunft zweigeteilt ist. Er bzw. die für ihn handelnde kassenärztliche Vereinigung hat es mit zwei Schuldnern zu tun, nämlich mit dem Patienten bis zur Höhe der Inanspruchnahmegebühr und zum zweiten mit der Kasse für den darüber hinausgehenden Betrag. Das verdoppelt naturgemäß den Verwaltungsaufwand. Dazu kommt, daß der eine Schuldner, die Kasse, die Möglichkeit haben soll, die Schuld des anderen Schuldners, nämlich des Patienten, zu übernehmen. Bis dies ausgefochten ist - unter Umständen sogar durch Anrufung des Sozialgerichts —, sitzt der Arzt da und wartet darauf, daß er sein Geld bekommt. Diese Generalklausel in § 186 Abs. 4, diese Notstandsklausel, wie ich sie einmal nennen darf, dürfte im übrigen im Zuge der nächsten Wahlkämpfe durch ein wohlgeordnetes System von gesetzlich fixierten Ausnahmeregelungen ohnehin so durchlöchert werden, daß von der Inanspruchnahmegebühr nichts mehr übrigbleibt und sie ad absurdum geführt wird. Das Ganze wird auch nicht dadurch einfacher, daß der Herr Bundesarbeitsminister jetzt von einer Beteiligungsbegrenzung nach oben aus sozialen Gründen spricht; es vermehrt nur das Rechnenmüssen in der ärztlichen Praxis.
Eines der Ziele des Entwurfs soll es sein, die ärztliche Praxis von wirklichen oder angeblichen Bagatellfällen zu entlasten, damit der Arzt mehr Zeit hat, sich um die wirklich Kranken zu kümmern. Aber ich fürchte, Herr Minister, daß durch das Verwaltungssystem, das sich zwangsläufig aus Ihrem Entwurf ergibt, der größte Teil der eingesparten Zeit aufgezehrt wird.
Die Bundesregierung sagt, daß gerade durch dieses System die Beziehung des Patienten zum Wert der ärztlichen Leistung wiederhergestellt werden soll. Herr Minister, wir sind der gegenteiligen Auffassung. Wir haben das Gefühl, daß Sie durch Ihre Inanspruchnahmegebühr die ärztliche Praxis aus der Sicht des Patienten zu einer Art Einheitspreisgeschäft machen; denn aus der Sicht des Patienten kostet alles 1,50 DM, ob es eine einfache Beratung ist, ob der Arzt des Nachts geholt wird, ob der Arzt sagt: „Husten Sie mal" oder ob es sich um eine
komplizierte Operation handelt; alles kostet eine Mark fünfzig!

(Heiterkeit.)

Nun zu der neuen Gebührenordnung, die ich zum Unterschied von der bisherigen Preugo einmal die Blago, die Blanksche Gebührenordnung taufen möchte.

(Heiterkeit.)

Diese Blago steht ebenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt der Wiederherstellung der Beziehung des Patienten zum Wert der ärztlichen Leistung. Sie sagen ja in Ihrem Entwurf selber, daß sich die Zahl der Leistungsansätze nicht nach der ärztlichen Leistung, sondern nach der Zumutbarkeit der Inanspruchnahmegebühr für den Patienten richte. Hier sind nun die Ärzte mit Recht mißtrauisch geworden; denn, was zumutbar ist, richtet sich natürlich nach dem „langsamsten Schiff im Geleitzug", mit anderen Worten nach dem, der etwa 250 oder 300 DM verdient. Es gibt aber auch Patienten, die 1000 DM und mehr im Monat verdienen. Für diese gilt der gleiche Maßstab. Darin liegt, Herr Minister, nach unserer Meinung, die Unlogik oder zumindest die Ungerechtigkeit Ihres Systems. Was für denjenigen, der 250 oder 300 DM verdient, hart ist, ist für denjenigen, der 1250 DM oder noch mehr verdient, eine Bagatelle.
In der Begründung des Regierungsentwurfs wird davon gesprochen, daß es nicht zu einem Wechsel des Systems oder zu einer unterschiedlichen Behandlung von Gruppen von Versicherten kommen dürfe, weil nach dem Gesetz alle gleich behandelt werden müßten. Herr Minister, man kann nur gleichgelagerte Fälle gleich behandeln. Man wird aber beim besten Willen nicht behaupten können, daß es sich bei der augenblicklichen Ausdehnung des Versichertenkreises in der sozialen Krankenversicherung nur um gleichgelagerte Fälle handele. Ursprünglich ist die soziale Krankenversicherung das gewesen, was sie nach unserer Überzeugung auch in Zukunft sein muß, nämlich die Hilfe für die sozial Bedürftigsten. Heute sind 80 % und mehr des gesamten deutschen Volkes in der sozialen Krankenversicherung und werden von ihr betreut.

(Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!)

Ich glaube, die Bundesregierung wird die letzte sein, die etwa behaupten dürfte, 80 % unseres Volkes seien sozial bedürftig und müßten in sozialer Hinsicht unterstützt werden. Wir sind daher der Auffassung, daß man zumindest bei den freiwillig Weiterversicherten von dem jetzigen Sachleistungsprinzip abgehen und zum Kostenerstattungssystem übergehen sollte. Nach unserer Ansicht bringt lediglich das Kostenerstattungssystem klare Verhältnisse. Es ist als einziges wirklich geeignet, die Beziehung zwischen Arzt und Patienten wiederherzustellen. Es gibt dem Patienten einen Überblick über die finanziellen Auswirkungen seiner Krankheit, sowohl für ihn selbst wie für die Versichertengemeinschaft. Vor allem aber bringt es Möglichkeiten einer sinnvolleren und gerechteren Kostenbeteiligung als das System des Regierungsentwurfs.



Dr. Stammberger
Ich darf vielleicht in diesem Zusammenhang etwas zitieren, was mein Freund Dr. Richard Hammer, der mein Vorgänger als Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Ausschusses des Deutschen Bundestages war, in der zweiten Legislaturperiode für unsere Fraktion zu diesem Problem erklärt hat. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten, um die ich hiermit bitte, zitieren. Er hat gesagt:
Wenn man etwa die Idee entwickeln würde, die Naturalleistung, die in der Krankenbehandlung gewährt wird, in der Fürsorge zu gewähren, und wenn man den Fürsorge-Unterstützten einen Korb mit Brot oder mit Fleisch in der Woche aushändigen wollte, dann möchte ich das Gelächter hören, das bei allen fortschrittlichen Sozialpolitikern sofort ausbräche. Naturalleistungen gehören in einen Katalog von Vorstellungen, die heißen: Deputat und Dienstbarkeit und Obrigkeit. Sie passen letzten Endes nicht in einen Staat, von dem wir und alle Parteien dieses Hauses erwarten, daß er von selbstbewußten und freien demokratischen Leuten bewohnt wird.

(im Regierungsentwurf. Sie finden sie wahlweise — nach Wahl des Versicherten — sowohl bei der Krankenhausbehandlung wie bei der zahnärztlichen Prothetik. So fremd und so neu wäre ,der Gedanke nun wirklich nicht. Darüber hinaus sind wir der Meinung, daß die bisherigen Grenzen erhalten bleiben sollten, vor allem die Grenze zwischen der Pflichtversicherung und ,der freiwilligen Weiterversicherung. Weiterhin sind wir der Meinung, daß die freiwillige Weiterversicherung bei einem Jahreseinkommen von 15 000 DM grundsätzlich aufhören sollte. Die Vorschläge der Regierung enthalten praktisch keine einzige Ausnahme; denn es dürfte wohl nur wenige Menschen geben, die nach zehnjähriger beruflicher Tätigkeit bereits über ein Jahreseinkommen von 15 000 DM verfügen. Es könnte sich bestenfalls um den einen oder anderen Juniorchef handeln. Wenn die private Krankenversicherung zu ihren Schachener Beschlüssen steht, die ja inzwischen vom Bundesaufsichtsamt genehmigt worden sind, wenn danach also jeder früher Sozialversicherte in die privaten Krankenkassen ohne Ausschlußklausel und ohne Risikozuschlag übernommen werden kann, dann sind wir der Meinung, daß wir mit der freiwilligen Weiterversicherung bei einem bestimmten Betrag Schluß machen sollten; wir meinen, daß Menschen, die im Jahre mehr als 15 000 DM verdienen, nicht in die soziale Krankenversicherung gehören, gleichgültig, wie sie gestaltet ist. Ich möchte noch einiges zu den ärztlichen Gebühren sagen, und zwar zum Wert der Leistungsansätze. Herr Minister, es ist uns wirklich nicht klargeworden, warum Sie das Kassenarztrecht von 1955, das sich doch im großen und ganzen bewährt hat, abschaffen und durch eine Rechtsverordnung ersetzen wollen, also praktisch idurch einen staatlichen Eingriff; ich will das Wort „Preisdiktat" hier vermeiden. So schlecht ist das System doch nicht gewesen, sonst würden Sie es doch nicht in Ihren Entwurf für ,das Verhältnis zwischen den Krankenkassen und den Krankenhäusern neu einführen. Wenn Sie es da neu einführen wollen, warum schaffen Sie es denn auf der anderen Seite ab? Sie haben zwar inzwischen gerade in diesem Punkt in Ihrer Pressekonferenz vor einigen Tagen etwas eingelenkt, wahrscheinlich, weil Sie, sagen wir einmal, etwas kalte Füße bekommen haben bei der Überlegung, wie sich das nun in der Praxis auswirken soll. Soll denn diese Rechtsverordnung für alle Kassen gelten und praktisch eine Nivellierung darstellen, weil natürlich auch hier wieder das langsamste Schiff im Geleitzug, also ,die zahlungsschwächste Kasse, den Maßstab abgeben würde? Oder wollen Sie etwa für jede einzelne Kasse, mit der keine Einigung zustande kommt, eine eigene Rechtsverordnung erlassen? Man sollte sich die Wirkung in der Praxis überlegen und sollte eis bei dem bisherigen System belassen. Es besteht nach unserer Auffassung gar kein Anlaß, davon abzugehen. Nun zur Frage der ärztlichen Zulassung. Wir sind als Freie Demokraten — wie könnte es anders sein? — grundsätzlich Anhänger der freien Zulassung jedes frei praktizierenden Arztes, und wir sind damit auch für die freie Arztwahl. Wir verkennen durchaus nicht die Notwendigkeit einer gewissen Steuerung, um das Entstehen von ärztlichen Notstandsgebieten zu vermeiden. Aber, meine Damen und Herren, was der Regierungsentwurf tut, ist zuviel des Guten, und wir haben vor allem das Gefühl, daß bei der für den Krankenhausarzt vorgesehenen zehnjährigen Frist im Hintergrund der Gedanke mitspielt, die bei den Krankenhäusern so gern gesehenen, äußerst schlecht bezahlten Assistenzärzte auf diese Weise mit freiwilligem Zwang zu rekrutieren. Wir sind uns durchaus darüber klar, daß man dem „Patienten Krankenhaus" helfen muß. Aber nicht auf diese Weise, Herr Minister, sondern auf eine ganz andere Weise! Darüber werden wir uns wohl bei den Haushaltsberatungen wieder einmal — alle Jahre wieder! — zu unterhalten haben. So aber geht es nicht! Wir sind der Auffassung, daß jeder Arzt praktisch dann zur Behandlung von Sozialversicherten am Ort seiner Wahl zugelassen werden sollte, wenn er fünf Jahre lang entweder in freier Praxis oder am Krankenhaus oder an einem ihm zugewiesenen Kassenarztsitz tätig gewesen ist. Wir glauben nicht an den Trend zur Großstadt, der dann einsetzen könnte. Wir sind fest davon überzeugt, daß auch bei dem Arzt wirtschaftliche Überlegungen mitspielen werden, ob er nach jahrelanger Tätigkeit auf dem Lande an einem ihm zugewiesenen Kassenarztsitz sich in das finanzielle Risiko einer Praxisneugründung in einer Großstadt stürzen soll, vor allem wenn er dann keine Sicherheit mehr hat, weil man ihm ja keinen „Kassenarzterbhof" mehr zuweisen kann. Lassen Sie mich noch ein weiteres Problem anschneiden: den beratungsärztlichen Dienst. Herr Dr. Stammberger Minister, es spricht eigentlich für den Mangel an Phantasie in Ihrem Beamtenstab, daß man keinen anderen Ausdruck gefunden hat als ausgerechnet den, der sich in der sowjetisch besetzten Zone eines höchst unrühmlichen Daseins erfreut. Da muß ich ganz offen sagen: Warum wollen Sie eigentlich an diesem System etwas ändern? Warum wollen Sie ein System einführen, das zweifellos — etwas überspitzt gesagt, aber das ist einer der Punkte, wo ich mit Herrn Kollegen Schellenberg durchaus einer Meinung bin — den dazwischengeschalteten frei praktizierenden und den Patienten in erster Linie behandelnden Arzt mehr oder weniger als eine überflüssige Übergangsstation ansieht? Wir sind der Meinung, wenn man schon etwas an dem vertrauensärztlichen Dienst ändern will, dann sollte man doch daran denken, ihn zu einem wirklichen Selbstverwaltungsorgan zwischen den Versicherten, zwischen der Versichertengemeinschaft, d. h. den Kassen, einerseits und den behandelnden Ärzten, d. h. den kassenärztlichen Vereinigungen, andererseits auszubauen. Denn wenn auch nicht verkannt werden darf, daß es sich bei diesem vertrauensärztlichen Dienst in erster Linie um eine materielle Zweckmäßigkeit, um eine Kontrolle handelt, deren Notwendigkeit wir durchaus nicht bestreiten wollen, so handelt es sich doch letzten Endes auch um ein ärztliches Tätigkeitsfeld. Nun, meine Damen und Herren, noch eine abschließende Bemerkung. Sie sehen, wie groß die Bedeutung des Entwurfs ist. Es handelt sich um den Entwurf eines Gesetzes, das schließlich für einen großen Teil unseres Volkes die wirtschaftliche Sicherstellung oder zumindest Hilfe im Krankheitsfall verankern soll. Die Probleme der Neuordnung sind groß und vielgestaltig. Wir sollten sie eingehend beraten und uns in keiner Weise unter einen irgendwie gearteten Zeitdruck setzen lassen. Nach unserer Ansicht hätte ein solches Gesetz an den Anfang einer Legislaturperiode gehört, und wir bedauern es sehr, daß sich die Bundesregierung diesen mangelhaften Entwurf durch die Große Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion noch hat herauskitzeln lassen. Denn, meine Damen und Herren, was jetzt kommt, sind wir bereits aus dem 2. Bundestag gewohnt. Dieser Gesetzentwurf wird nunmehr in die Wahlkampfpsychose dieses Hauses hineingezogen werden, und was wir dabei erleben werden, sollten uns eigentlich die schlechten Erfahrungen des 2. Bundestages zur Genüge dargetan haben. Wir möchten auch davor warnen, jetzt in die Psychose zu verfallen, eine Reform nur um einer Reform willen zu machen — ut aliquid fieri videatur —, nur weil man glaubt, zu den Bundestagswahlen irgend etwas vorweisen zu müssen. Zweifellos ist die soziale Krankenversicherung reformbedürftig. Aber nichts zwingt uns zu überstürzten und unüberlegten Maßnahmen, die zwar dem Namen nach eine Reform sind, aber Novelle auf Novelle nach sich ziehen und ein ständiges Flickwerk erforderlich machen würden. Das Wort hat Frau Abgeordnete Kalinke. Herr Präsident! Meine Herren und Damen! So amüsant nach einer so vielstündig geführten Debatte auch ein charmanter liberaler Plauderer sein kann und sosehr wir vernünftige liberale Grundsätze als Grundlage unserer Wirtschaftspolitik, unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung und unserer Sozialpolitik ansehen, so wenig sicher bin ich, ob liberal sein auch immer vernünftig zu handeln bedeutet. Ob die totale Liberalisierung auf dem Gebiet, über das wir heute sprechen, alle Früchte treiben wird, die Sie erwarten, wird die Zukunft lehren. Der Minister hat mit Recht von der Schwere der Aufgabe gesprochen. Ich will sie nicht dramatisieren. Aber wohl niemand in diesem Hause wird bestreiten, daß das Interesse an den Fragen der Reform unserer Krankenversicherung, das draußen zunächst die Interessenten zeigten, das aber die Versicherten eines Tages weit mehr beschäftigen wird, sehr ernst und in den Auswirkungen sehr umfassend ist. Der Bundesminister für Arbeit hat heute ein Beispiel dafür gegeben, daß ein Staatsmann und ein Vertreter einer Regierung den Mut haben muß, auch Unpopuläres zu sagen, Unpopuläres zu fordern und den Preis zu nennen, den soziale Leistungen für die Bundesrepublik Deutschland und, wie ich hoffe, einmal für ganz Deutschland kosten. Maßhalten ist eine konservative Tugend, und Maßhalten ist sicher die Parole für die Zukunft der Sozialpolitik. Wenn man die Krankenversicherungsreform nur unter dem Gesichtspunkt eines Schlagwortes, wie es hier geschah, mit dem Hinweis auf den „Stilwandel der Sozialpolitik" betrachtet, begreift man den Bedeutungswandel der Sozialpolitik aus den gegebenen Verhältnissen und Notwendigkeiten nicht. Mein Kollege Stingl hat sehr recht gesagt, die erste Lesung eines Gesetzentwurfs könne immer nur über die großen Grundsatzrichtlinien, über die entscheidenden Fragen Aufschluß geben, in denen die Spannung — wer wollte das bestreiten — nicht nur in der Koalition, sondern im ganzen Hause lebendig ist. Denn ich nehme doch an, daß die Probleme der Volkspartei auch die SPD bewegen, und ich bin überzeugt, daß auch in ihren Reihen verschiedene Meinungen sind. Herr Abgeordneter Rohde sprach von so einer Art Finanzreform. Wenn die Reform der Krankenversicherung nichts anderes wäre als nur die Reform Frau Kalinke der Finanzierung der Leistungen, dann hätte er allerdings mit seinem Einwand recht. (Abg. Stingl: Sehr richtig! — Abg. Rohde: Sehen Sie sich doch den Regierungsentwurf an!)


(Zustimmung in der Mitte.)


(Beifall bei der FDP und in der Mitte.)





(Beifall bei der FPD und der SPD.)


(Heiterkeit bei der SPD.)


(Beifall bei der FDP.)


(Beifall bei der FDP.)

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0310212200
Margot Kalinke (CDU):
Rede ID: ID0310212300

(Beifall und Heiterkeit bei den Regierungsparteien)




— Dann haben Sie ihn nicht gründlich gelesen! — Wenn die Krankenversicherungsreform nichts mehr als eine Beitragsreform wäre oder ein Ergebnis der Überlegung, wie man Beiträge möglichst unauffällig erhöhen kann, dann wäre sie auch schlecht angesetzt. Ob wir wirklich zu einer Reform — nicht zu einer revolutionären Umgestaltung, vielleicht zu einer Renaissance - unserer gesetzlichen Krankenversicherung kommen, wird davon abhängen, wie wir die große Fülle der die Krankenversicherung berührenden Probleme meistern und lösen.
Eines der wichtigsten Probleme, die gemeistert weiden müssen, ist die Anpassung unserer Sozialversicherungssysteme an die veränderte wirtschaftliche, aber auch gesellschaftliche Situation. Fast 30 Millionen Versicherte, mit Angehörigen fast 50 Millionen
— es wurde schon gesagt: 85 % unserer Bevölkerung —, sind, ob zwangsversichert oder freiwillig versichert, mit sehr unterschiedlichen Risiken in einem System erfaßt, das wiederum sehr unterschiedliche Risiken aufweist: das Problem der Krankenhilfe mit allen Einzelfragen, das Problem der Krankengeldzahlung als Lohnersatzfunktion und schließlich die Krankenhausversicherung. In einer Wirtschaft mit Vollbeschäftigung bringt die Situation der Mitglieder unserer Krankenkassen wieder sehr unterschiedliche Risiken mit sich. Man sehe nur den Kreis der wirklich gesicherten, freiwillig Versicherten, den großen, ständig wachsenden Kreis der pflichtversicherten Frauen, ohne deren Berufstätigkeit eine Vollbeschäftigung in der Wirtschaft nicht denkbar wäre! Man sehe die verschiedenen Einkommensverhältnisse und das Problem der längst übersteigerten Solidarhaftung in — wie heute schon richtig gesagt wurde — keineswegs immer überschaubaren Versicherungsträgern.
Herr Kollege Schellenberg hat das Problem des Stilwandels mit sehr harten Worten angesprochen. Ich will gleich zu Beginn dazu Stellung nehmen und sagen: lassen Sie uns von einem Bedeutungswandel der Aufgaben der modernen Krankenversicherung sprechen, aber auch von einem Bedeutungswandel der Sozialpolitik in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, die sich nur mit einem freiheitlichen System der Sozialpolitik verträgt. Die Neuzeit und wir Deutschen im besonderen haben sicher verlernt, was die Antike wußte. Die Freiheit der Menschen ist davon bestimmt, wie weit er den Verlockungen und Parolen seiner Zeit Widerstand leisten kann und wie weit er auch den Verlockungen der Macht widersteht. Maßhalten und Verantwortungsbewußtsein heißt die Parole.

(Zuruf von der SPD)

— Ich antworte Ihnen gleich. — Schwierigkeiten bestehen in der Krankenversicherung nicht nur — wieviel einfacher wäre es sonst — in der Meisterung des Problems, das Arzt-Patient-Verhältnis, das Versicherten-Krankenkassen-Verhältnis zu verbessern. Schwierigkeiten bestehen auch in der Auseinandersetzung um das Beharrungsvermögen, in der Vorstellungswelt der Institutionen auf beiden Seiten: bei den Versicherten, bei den Krankenkassen und bei den ärztlichen Organisationen.
Der Geschäftsführer einer Krankenkasse, der Funktionär — das Wort wird leicht übelgenommen, obwohl es nun einmal kaum ein klareres gibt — einer Organisation, aber auch der eines Kassenverbandes denkt anders und löst sich schwerer von Vorstellungen, als es vielleicht der eine und der andere von uns aus der Sicht der größeren Zusammenhänge tun kann.
In der Regierungserklärung vom Oktober 1957 ist gesagt worden, daß es Zeit sei, Folgerungen aus der veränderten gesellschaftlichen Struktur unseres Volkes zu ziehen, daß es Zeit sei, sich darüber zu freuen und Konsequenzen daraus zu ziehen; daß weite Teile der Bevölkerung erfreulicherweise in höhere Einkommensschichten aufgestiegen seien und damit weitgehend für sich selbst sorgen könnten. Nach Meinung meiner Fraktion ist die Zielsetzung der Bundesregierung richtig, wenn sie entschlossen ist, den Gedanken der Selbsthilfe, der Selbstverantwortung und der privaten Initiative in jeder Weise mehr als bisher zu fördern und damit auch das Abgleiten in einen Zustand zu verhindern, der immer wieder Inhalt der Auseinandersetzungen ist: nennen Sie ihn nun mit einer freundlichen Verbeugung Wohlfahrtsstaat oder nennen Sie ihn — von der anderen Seite — mit einem gewissen Grauen Versorgungsstaat. Im Grunde geht es um dasselbe, um die Frage der Grenze dessen, was ein Staat für seine Bürger tun muß und was er von den Bürgern als eigene Verantwortung verlangen kann.

(Abg. Stingl: Sehr gut!)

Der Generalsekretär für die Sozialreform, Herr Dr. Jantz, hat im Bulletin vom 24. November 1959 erklärt, daß die Ausgestaltung der Krankenversicherung nicht lediglich in einer quantitativen Erhöhung und Vermehrung von Leistungen bestehen darf. Ich kann ihm darin nur zustimmen. Eine moderne Krankenversicherung muß sich vielmehr an die veränderte Aufgabenstellung anpassen, aber auch an die veränderte Einstellung des Menschen zur Krankheit, zur Gemeinschaft, zur Verpflichtung in der Solidarhaftung. Die Einstellung des Menschen zu seiner Versicherung als einer Schutzgemeinschaft auf Gegenseitigkeit hat sich gewandelt, auch wenn Sie es bestreiten. Auch die Einstellung der Versicherten zum Arzt hat sich gewandelt. Die Höhe der laufend gestiegenen Sozialbeiträge hat dazu beigetragen, daß man für jeden — als zu hoch empfundenen — Beitrag mehr und weitere Leistungen verlangt. Das System des Krankenscheins, für den man scheinbar alles umsonst bekommt, ist mit schuld daran, daß von dem Arzt und von der Krankenversicherung alles, auch die kleinste alltägliche Hilfe, erwartet wird. Ein System, das vor 75 Jahren sicher noch das fortschrittlichste der Welt war, paßt nach Auffassung meiner politischen Freunde nicht mehr in allen Teilen in die soziale und wirtschaftliche Ordnung unseres Landes.
Der Bedeutungswandel, der so offenbar ist, hat auch noch eine ganz bestimmte Komponente, näm-



Frau Kalinke
lieh in der Bändigung der Macht der öffentlichen Haushalte und der öffentlichen Hand, gesehen im Zusammenhang mit dem Sozialhaushalt und den wachsenden Haushalten unserer Versicherungsträger. Es geht hier wirklich um letzte Fragen der Freiheit. Der steigende Sozialbeitrag und die steigenden Steuern machen das Bilden von Eigentum in weiten Kreisen unserer Arbeitnehmer einfach unmöglich. Kernprobleme werden angesprochen, die der christliche Denker und Ratgeber Romano Guardini, der heute seinen 75. Geburtstag feiert und dem wir alle, die seine Bücher gelesen haben, sehr viel zu verdanken haben, in seinem Buch „Am Ende der Neuzeit" beschrieben hat, die Kernfrage nämlich, die auch die Krankenversicherungsreform berührt, und von deren Lösung die Freiheit des anderen abhängt und nicht nur die Lösung der Probleme der Wohlfahrt und die Bewältigung der Not unserer Zeit — ob wir die Kraft haben, den Menschen in der ungeheuren Verantwortung und Bedrohung unserer Zeit dazu zu bewegen, daß er selber mehr Verantwortung trägt und alle seine Forderungen an die Gemeinschaft vor das Gewissen stellt.
In der Auseinandersetzung um die Grenzen der staatlichen Sozialpolitik berührt die Krankenversicherungsreform — das hat die heutige Debatte nur anklingen lassen — viel mehr Probleme als etwa die so heiß umkämpfte Rentenreform. Sie rührt an die Apparaturen, an die Institutionen, an Rechte, an Besitzstandswahrung, an Sorge um wirtschaftliche Lage und wirtschaftliche Sicherheit. So spricht sie direkt und indirekt einen ungeheuren Kreis an, der den meisten nicht vor Augen steht, wenn sie über Versicherungsprobleme diskutieren.
Die Leistungsgestaltung muß in einem Zeitalter wachsenden Wohlstandes und stärkerer Selbstverantwortung andere Schwerpunkte haben, als sie unsere Krankenversicherung bisher hat. Jeder spricht von Selbstverantwortung, von Selbsthilfe und Selbstbeteiligung; in Festreden wird davon gesprochen. Nun geht es darum, diese Auffassung in die Paragraphen der Krankenversicherungsreform umzugießen. Gegen Angst und Sorge, gegen Krankheit und Not wird es niemals für alle und immer eine entscheidende Hilfe geben können. Gesundheit für alle kann kein Staatsmann, sei er noch so christlich und noch so sozial verantwortungsbewußt in seinem Handeln, garantieren. Gesundheit für alle gibt es nicht — Gesundheit hat jedermann in unserem Staat weitgehend aus eigener Verantwortung zu erhalten, zu schützen oder wiederzugewinnen, und der Staat kann nur da Hilfestellung geben, wo die Kraft des einzelnen nicht ausreicht. Nur in so begrenztem Rahmen wird der Sozialpolitiker dazu beitragen können, daß das soziale Gefüge gesünder wird, daß die Bemessung der Leistungen gerechter und die Belastung der Beitrags- und Steuerzahler geringer wird.
Ohne Verzicht, ohne die Bereitschaft zum Sparen, ohne all jene guten Eigenschaften, über die soviel gesprochen wird, nämlich Fleiß und Willen zur Mehrarbeit, gibt es sicher kein Eigentum. Aber Lohn und Gehalt, die durch Sozialbeiträge weitgehend geschmälert werden können, sind Eigentum. Deshalb bedeutet die Beitragsgestaltung der Krankenversicherung, soweit sie laufend Beitragserhöhungen zur Folge hat, oder die Forderung nach Staatszuschüssen für die Krankenversicherung, die wiederum vom Steuerzahler bezahlt werden müssen, eine Beschränkung des Eigentums und der Freiheit.

(Abg. Frau Korspeter: Das will doch kein einziger hier!)

Wenn man die Parolen der Straße gelesen und gehört hat, sollte man meinen, daß überhaupt niemand mehr eine Krankenversicherungsreform wollte. Ist denn das alles nicht wahr, was die Sozialdemokraten mit ihrer Anfrage heute und mit ihren Thesen in der Vergangenheit gefordert haben? Ist denn das alles nicht mehr wahr, was sozialistisch geführte Gewerkschaften gefordert haben? Gilt nichts mehr von dem, was Politiker aller politischen Parteien und Sozialpolitiker aller Richtungen einsichtsvoll in bezug auf die Reform immer wieder zum Ausdruck gebracht haben?
Jeder erwartet etwas von dieser Krankenversicherungsreform. Die Krankenhäuser hoffen auf den Ausgleich ihrer Fehlbeträge, die heute durchschnittlich 1 DM bei den privaten und gemeinnützigen Krankenhäusern und 2 DM bei den kommunalen Krankenhäusern ausmachen. Die Krankenkassen hoffen auf Mehreinnahmen durch Beitragserhöhung, durch Krankenscheingebühren, durch Erstattungen für Auftragsangelegenheiten. Die Apotheker wehren sich und fürchten, daß sie verminderte Einnahmen haben, wenn die Flut des Arzneimittelverbrauchs, die immer noch steigt, eingedämmt wird. Ja, die Bandagisten, die Masseure, alle diejenigen, die dem kranken Menschen Hilfestellung geben, fürchten, daß ihr Teil am Kuchen kleiner wird.

(Ein Abgeordneter der SPD meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

— Nein, ich werde Ihnen antworten, wenn Sie nachher sprechen.
Heute mittag haben viele von Ihnen das gleiche erfahren wie ich: Telegramme erreichten uns in Bergen. Ich glaube, der Postminister freut sich in diesen Tagen über die vielen Mehreinnahmen, mit denen er hoffentlich die Lohnerhöhungen finanzieren kann. Unter den vielen Telegrammen waren sogar solche wie das des Verbandes elektrophysikalischer Fachberater, des Berufverbandes der Firmen und der Unternehmen, die die Ärzte mit Geräten für Diagnostik versorgen. Wenn dieser Verband dann telegraphiert, wir sollten das Gesetz in seiner Gesamtheit ablehnen, fehlt auch mir eine Erklärung für diese Art Sinn für das Geschäft und für diese Art Interesse, das man an der Krankenversicherungsreform nimmt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Mit Bestürzung, ja mit großer Sorge muß jeder sachlich Denkende bedauern, daß man einen ganzen Entwurf ablehnt, weil man zu einzelnen Punkten dieses Entwurfs Beanstandungen hat.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Es geht doch auch um die Neuordnung der Finanzverantwortung, an der selbstverständlich alle diejenigen Gruppen interessiert sind, die mit Lieferungen und Leistungen an der Finanzgestaltung und



Frau Kalinke
Verteilung der Krankenversicherung teilhaben. Es ist das gute Recht der Interessenten, ihre Meinung zu sagen. Ich halte aber Form und Inhalt der Kritik für falsch. Es ist auch richtig, was der Kollege Schellenberg gesagt hat: daß die Versichertengemeinschaft nicht unbegrenzt belastet werden kann. Ich bin mit dieser These einverstanden. Im Sozialplan für Deutschland stehen allerdings einige Forderungen an den Staat, die die Versichertengemeinschaft ungeheuerlich belasten würden, wenn sie verwirklicht würden.
Warum nun Reform, wenn alle diejenigen, die davon betroffen sind, sie angeblich gar nichtwollen? Ich meine, daß die Versicherten, die bisher geschwiegen haben, die nur zu einem bestimmten Prozentsatz von allen Gewerkschaften vertreten werden können und für die auch die Ärzte kein Mandat in irgendeiner Wählerversammlung bekommen haben, um etwas ganz anderes besorgt sind als um Honorare oder wirtschaftliche Beteiligung an den Aufgaben der Krankenversicherung. Die Versicherten — und sie geht es an — sind darum besorgt, daß die Leistungsgestaltung der Krankenversicherung eine bessere, eine andauernde, eine ausreichende wird. Dieser Gesichtspunkt muß den Vorrang haben, wenn man die Krankenversicherungsreform betrachtet.
Die Fraktion der Deutschen Partei begrüßt die Grundhaltung der Regierung. Es versteht sich aber von selbst, daß sie jeden einzelnen Vorschlag gemeinsam mit allen Fraktionen prüfen wird.
In der Öffentlichkeit hat man eine Mißtrauenswelle erzeugt. Mißtrauen ist immer ein schlechter Ratgeber! Das gilt für Versicherte wie für Ärzte, und Temperament und Lautstärke — für die ich durchaus ein Gespür habe —

(Heiterkeit und Beifall — Abg. Stingl: Und Verständnis!)

sollten doch immer vom kritischen Verstand gezügelt werden.

(Abg. Stingl: Ausgezeichnet!)

Selbst wenn auf der Seite des Arbeitsministeriums hier und da eine Ungeschicklichkeit passiert ist — es menschelt halt überall —, selbst wenn Irrtümer oder Mißverständnisse die Gespräche belasten, sollten doch alle sachlich Denkenden immer wieder versuchen, zu einer gemeinsamen Aussprache zu kommen. Wenn beim Hobeln Späne fliegen, muß man sie halt zusammenfegen, wenn man wieder Ordnung haben will.

(Beifall rechts.)

Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat gemeinsam mit der sozialdemokratischen Opposition und mit, wie ich immer noch glaube, Funktionären einzelner Ärzteorganisationen — nicht der Gesamtheit der deutschen Ärzte — Thesen gegen das Gesetz vertreten, etwa: „Das Gesetz diskriminiert die arbeitende Bevölkerung und die Ärzteschaft" oder „Die Ärmsten werden am stärksten belastet", wie Herr Voges gesagt hat, obwohl er doch weiß — das hat
ihm sogar der Spiegel-Reporter bestätigt, der das Gesetz offenbar sehr gründlich gelesen hat , daß gerade die Ärmsten, ja noch viele junge Menschen, die nicht zu den Ärmsten gehören, bis zu einem Einkommen von 200 DM völlig unbelastet von zusätzlicher Kostenbeteiligung sein sollen. Man meint, das Gesetz sei gesundheitsgefährdend und sozialpolitisch ungerecht. Wenn das alles zuträfe, würden die Versicherten ganzer Länder, die eine Kostenbeteiligung kennen, würden die Versicherten der privaten Krankenversicherung, würden die Versicherten in Schweden und Frankreich heute alle viel kränker sein als die Versicherten in Deutschland. Dennoch gibt es auf den internationalen Tagungen die erstaunliche Feststellung, daß fast überall die gleiche Entwicklung zu beobachten ist, daß Morbidität und Arbeitsunfähigkeit irgendwann und irgendwie durch das Gesetz der großen Zahl bestimmt werden, selbst wenn die Systeme noch so sehr voneinander abweichen.
Selbst Sachkenner der Krankenversicherung, die Mitglieder der größten Regierungspartei sind, sprechen vom „Durchpeitschen des Gesetzes", obwohl sie doch wissen, daß dieses Gesetz, angefangen vom Beirat des ehemaligen Arbeitsministers Storch bis zur Stunde in der Öffentlichkeit, so diskutiert worden ist wie nie zuvor ein sozialpolitisches Gesetz. Wenn man den Entwurf beurteilt, sollte man die demokratischen Rechte der Sorge um die Besitzstandswahrung auf der einen oder anderen Seite doch so behutsam gebrauchen, daß man dabei nicht alle Türen zuschlägt, wenn man im Endeffekt um der Sache willen etwas erreichen will.
Wer wäre nicht betroffen gewesen, der in diesen Tagen die „Ärztlichen Mitteilungen" aufgeschlagen hat und darin jene wirklich, ich will ein behutsames Wort sagen, mehr als geschmacklose Darstellung der vier Männer, die den Sarg des Bagatellfalles heraustragen, gesehen hat!
Ich meine, daß man mit solchen Argumenten denjenigen sehr nahe kommt, die in der „DDR" und im „Deutschlandsender" tagtäglich die Freiheit der Menschen bedrohen, die glücklich wären, wenn sie unser Krankenversicherungssystem hätten.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich war mit Herrn Professor Schellenberg sachlich einig und wäre es auch noch, wenn ich nicht dieses Flugblatt gelesen hätte. Aber ich nehme an, Sie kennen es gar nicht. Es ist das Flugblatt Nr. 5 der SPD. — Ich habe leider nur eine Fotokopie.

(Abg. Dr. Schellenberg: Da sind Sie besser als ich unterrichtet!)

— Ja, das gehört dazu.

(Abg. Stingl: Wer macht denn die sozialpolitischen Flugblätter bei Ihnen, Herr Schellenberg?!)

Herr Kollege Schellenberg, ich habe Ihnen zugestimmt, als Sie dem Minister zum Vorwurf machten — diesen Vorwurf mache auch ich ihm , daß die Gebührenordnung zur Stunde noch nicht be-



Frau Kalinke
kennt ist. Daher ist es mir auch völlig unerfindlich,
woher Sie diese Selbstkostenanteile haben wollen.

(Abg. Stingl: Frau Kalinke, die passen so schön ins Konzept! — Abg. Dr. Schellenberg: Steht im Flugblatt nicht „Preugosätze"?)

Es ist mir auch völlig unerfindlich, daß man so viele brave Kassenärzte beunruhigt hat mit der Behauptung, sie sollen 30 % weniger Honorar bekommen. Die Gebührenordnung ist doch in ihren Ansätzen noch gar nicht bekannt; also kann das auch noch niemand ausgerechnet haben.
Ich bekenne hier ganz offen, und ich sage das auch für meine politischen Freunde, daß ich nicht in der Lage bin, auszurechnen, was in Zukunft die Ärzte wirklich verdienen und die Versicherten wirklich zubezahlen müssen. Deshalb bedaure ich — ich sage das für meine Fraktion —, daß es nicht möglich war, die Gebührenordnung, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf steht, vorher kennenzulernen oder sie wenigstens vorher erläutert zu bekommen.
Herr Kollege Schellenberg, im Flugblatt Ihrer Partei — ich kann mir nicht denken, daß Sie so etwas machen, weil Sie die Dinge zu gut kennen — heißt es: „Es geht nicht nur um Ihr Geld, es geht um Ihre Gesundheit". Ich antworte Ihnen darauf: es geht um beides!
Man kann natürlich die Auffassung vertreten, die der Deutsche Gewerkschaftsbund in meinem Wahlkreis geäußert hat: „Weil du krank bist, sollst du doppelt zahlen!" Es gab einmal eine andere Parole: „Weil du arm bist, mußt du sterben!"

(Zuruf von der SPD: Das gehört zusammen!)

Diese Parole ist gescheitert einschließlich des Films, den man darüber gedreht hat.

(Abg. Stingl: Da ist wohl der Film gestorben!)

Man sollte sehr redlich sein. Es war ein geschickter Osterreicher der ein sehr erregend gemachtes Buch darüber geschrieben hat. Aber Gott sei Dank war das Empfinden, ich könnte sagen, und ich kann es sagen: „das gesunde Volksempfinden" bei uns so gut, daß niemand darauf hereingefallen ist.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

In dem Flugblatt heißt es dann weiter: „Wenn du krank bist, glaubt dir niemand!" Dieses Flugblatt steht unter dem Diktat des Mißtrauens, das man der Regierung unterstellt.

(Abg. Dr. Schellenberg: Das ist die Folge des Gesetzenwurfs!)

— Wir beide kennen ja die Probleme. Ich weiß, wie so etwas entsteht. Sie haben sich — das will ich der SPD bestätigen — in dieser Gemeinschaft sehr geschickt herausgehalten und haben sich auf die Thesen der organisierten Ärzte bezogen, die natürlich nicht so politisch sind wie Sie und deshalb auch herrlich darauf hereingefallen sind!

(Beifall bei der DP und der CDU/CSU.)

Wie gefährlich eine solche Beunruhigung der
Patienten wirkt, habe ich aus einem Berliner Ärzteblatt entnommen, in dem zu lesen war, daß ein Patient zum Arzt kam und sagte: „Herr Doktor, wissen Sie schon: in Ihrem Wartezimmer ist Ostpropaganda ausgelegt!"

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Zuruf des Abg. Stingl.)

Natürlich, Kollege Stingl, die Berliner haben ein feines Gespür für die Bedrohung der Freiheit und für die unlauteren Thesen der Ostpropaganda. Ich bin überzeugt, daß keinem, der das Flugblatt in Auftrag gegeben hat, etwa nahegelegen hat, Ostpropaganda zu treiben. Wer aber die Situation in der Bundesrepublik kennt, wer weiß, mit welchen Parolen im geteilten Deutschland gearbeitet wird, der sollte doppelt behutsam sein, wenn es darum geht, Schlagworte zu gebrauchen, die östlicher Propaganda nahekommen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

„Es ist sicher mehr als Unverfrorenheit" — hat der Sprecher im „Gruß an die Zone" gesagt, und ich stimme ihm voll zu —, „diesen Gesetzentwurf als gesundheitsschädigend zu bezeichnen." Ich überlasse jedem einzelnen, der kritikfähig ist, sich darüber Gedanken zu machen.
Nun habe ich persönlich — höchst persönlich — einen Zusammenstoß gehabt; er hat nicht hier in diesem Raume stattgefunden, er ist auch in meiner Abwesenheit geschehen. Man hat mir den Vorwurf gemacht, ich hätte die hohen Herren der Kassenärztlichen Bundesvereinigung als Funktionäre bezeichnet und hätte die irrige Auffassung vertreten, die Honorare, die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung verteilt werden, seien Eigentum der Versicherten. Ich habe allerdings der Presse gegenüber auf Befragen gesagt, daß ich sehr besorgt bin über das, was im Augenblick die Organisationen der Ärzte ihren Ärzten empfohlen haben; und ich will hier in aller Öffentlichkeit sagen, daß es zutrifft, daß ich damals angenommen habe, man könne von einem Durchschnittshonorar der Kassenärzte — ohne Privatpraxis, ohne Zahnärzte — von 1,5 Millarden ausgehen; dann eben wären 2 % immerhin die erkleckliche Summe von 30 Millionen. Ich bin gern bereit, mich zu berichtigen und zu sagen, daß ich in der Zwischenzeit belehrt worden bin, daß es sich um ein nach den Vorschlägen eines Justitiars der Kassenärztlichen Bundesvereinigung freiwillig durch Unterschrift geleistetes Opfer der Kollegen und Kolleginnen der Ärzteschaft handelt.
Aber, meine Herren und Damen — und ich hoffe, daß auch viele Ärzte davon hören oder es erfahren —: ist das Opfer für einen Kampffonds nicht zu groß, wenn man sich klar wird, daß bei einem Beitrag von 1 % des Quartaleinkommens — meine Angaben stammen nun wieder aus einem Ärzteblatt, aus den „Ärztlichen Mitteilungen" selbst — bei einem Durchschnittshonorar von 40 000 bis 48 000 Mark - brutto, wohlgemerkt —, das sind 10- bis 12 000 Mark im Quartal, der Vierteljahrbeitrag für den Kampffonds für jeden Kassenarzt 100 bis 120 DM betragen würde? Meine Herren und Damen, ich bekomme oft Briefe von Arztwitwen und von



Frau Kalinke
Hinterbliebenen von Angehörigen der freien Berufe. Was meinen Sie, wieviel Sie der Sache der Krankenversicherungsreform und der Wiedergewinnung des guten alten Ansehens der deutschen Ärzte Gutes tun könnten, wenn Sie ab sofort die Mittel des Kampffonds für die bessere Versorgung der Witwen und Waisen der freien Berufe, insbesondere aber der Arztwitwen zur Verfügung stellten!

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich habe — auch mit großer Sorgfalt — die Ärztlichen Presseinformationen gelesen und daraus Kenntnis erlangt von den Forderungen, die vom Deutschen Ärztetag für eine sinnvolle Fortentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung aufgestellt worden sind. Für mich und meine politischen Freunde in der Fraktion der Deutschen Partei —und ich darf wohl sagen, weitgehend auch in der Koalition — muß ich sagen, daß es für jeden dieser neun Punkte im Regierungsentwurf zum mindesten einen guten Ansatz gibt.

(Sehr gut! bei der DP und bei der CDU/CSU.)

Für mich kann ich sagen, daß ich mich für die Verwirklichung dieser neun Punkte persönlich einsetzen werde.
Nun lassen Sie mich einiges sehr deutlich sagen: Es jammert mich um den Standort der deutschen Ärzteschaft, und ich kann es kaum ertragen, zu sehen, in welche Kampfgemeinschaft man sich begeben hat,

(Lachen bei der SPD)

nicht aus persönlichen Gründen — persönlich finde ich Sie alle sehr nett —,

(Zuruf von der SPD: Daran liegt uns gar nicht!)

aber wegen der Ideologie, die Sie vertreten. Die wird sich ja in den nächsten Jahren wandeln.
Die Ärzte fordern erstens die Neuordnung der Versichertenkreise unter Berücksichtigung der veränderten Sozialstruktur und die Begrenzung der Versicherungspflicht auf die sozial Schutzbedürftigen. — Genau das will die Bundesregierung, und genau das wollen die Regierungsparteien. Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokratische Partei fordern allerdings, wenn ich den Sozialplan recht gelesen habe und die Eingaben des DGB genau kenne, immer noch die umfassende Versicherungspflicht. Wenn der Herr Präsident gestattet, möchte ich aus dem Sozialplan die Stellungnahme zum Personenkreis verdeutlichen. — Ich mache also sozusagen Propaganda für Sie.

(Heiterkeit. — Zuruf von der SPD: Tun Sie das lieber nicht! — Weitere Zurufe von der SPD.)

— Aber wieso, wieso? Wer sich dazu bekennt, soll bei Ihnen bleiben.

(Heiterkeit.)

Der Kreis derer,
heißt es im Sozialplan für Deutschland -
die in der heutigen Gesellschaft der Versicherungspflicht im Sinne der Gesundheitssicherung
unterliegen, kann sich auch bei Verdienstfortzahlung nicht danach bestimmen, wer allenfalls in der Lage wäre, das Arzthonorar für kleine Erkrankungen aufzubringen. Das Maß muß in den großen Krankheits- und Unfallrisiken liegen, das die gesamte Bevölkerung treffen kann.
Es heißt weiter:
Versicherungspflicht bedeutet nicht notwendig die Pflicht, einer bestimmten Kasse anzugehören. Die Grenzen versicherungspflichtigen Einkommens können nicht nach der Leistungsfähigkeit des Alleinstehenden für ausreichende Vorsorge bemessen werden.
Nun, das sind alles Sätze, mit denen man jeweils genau dasselbe tun könnte wie mit einem Gutachten, das einmal für die Beratung im Beirat bestellt wurde. Mit dem konnte man alles beweisen: die totale Versicherungspflicht, die Staatsbürgerversorgung, aber auch die zur Zeit — weil es politisch nicht opportun ist — vielleicht noch mögliche Begrenzung dieses Zieles. Die Ärzte sollten wissen, daß die Sozialdemokratische Partei von ihrem Ziel der totalen Staatsbürgerversorgung, zu dem die Ausdehnung der Versicherungspflichtgrenze immer nur ein weiterer Schritt ist, niemals abgegangen ist.

(Zustimmung in der Mitte.)

Die zweite Forderung der Ärzte: die Erhaltung einer die beruflichen, sozialen und regionalen Unterschiede der Versichertengemeinschaften berücksichtigenden, echt gegliederten sozialen Krankenversicherung. — Ich möchte an diesem Platz nicht an die Kämpfe erinnern, die wir um die gegliederte soziale Krankenversicherung geführt haben. Daß wir sie in der Bundesrepublik wieder haben, haben die Regierungsparteien durchgesetzt, gegen die Stimmen der SPD.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Daß sie zur Zeit — zur Zeit! — auch von den Sozialdemokraten nicht angegriffen wird, ist nur ein Ausdruck politischer Klugheit, weil man die Mehrheit noch nicht dazu hat, sein Ziel zu verwirklichen.

(Heiterkeit und Beifall in der Mitte und rechts. — Zurufe von der SPD.)

— Sie können das alles widerlegen.
Die dritte Forderung, die zumindest kontenmäßige Trennung der Krankenpflegeversicherung von der Krankengeldversicherung, ist eine Frage, die die Koalitionsparteien sicher sehr gründlich prüfen werden. Ich persönlich halte das für eine gute Anregung; Herr Schellenberg weiß das. Die Auswirkungen dieses Systems sind sehr gründlich zu überlegen, ich bin durchaus aufgeschlossen dafür. Das Ziel allerdings, das wir verfolgen, wird mehr als in Nuancen unterschiedlich sein.
Vierter Punkt: der Ausbau der freien Arztwahl durch die Zulassung aller zulassungsfähigen und zulassungswilligen, in eigener Praxis tätigen Ärzte in einer die ärztliche Versorgung der Versicherten gewährleistenden Ordnung. — Das ist genau das, was die Regierungsparteien im Kassenarztrecht beschlossen haben, und das ist genau das, was der Bundes-



Frau Kalinke
arbeitsminister — allerdings mit dem Versuch einer weitgehenden, so weit wie möglich gehenden Liberalisierung der Zulassung im Interesse der freien Arztwahl — verwirklicht haben möchte, und das ist das, wofür sich meine Freunde in der Fraktion der Deutschen Partei und, wie ich hoffe, auch in der CDU/ CSU einsetzen werden.
Fünftens: die Sicherstellung der ambulanten ärztlichen Versorgung der Versicherten und ihrer Angehörigen durch die frei praktizierende Ärzteschaft. — Das ist sehr wichtig. Für die frei praktizierende Ärzteschaft haben sich die Regierungsparteien immer eingesetzt. Es hat aber Zeiten gegeben — es wird sie wieder geben —, in denen wir uns mit dem „Sozialarzt" und dem Ambulatorium und all den Fragen, die bei dem Marsch zum totalen Gesundheitsdienst auftauchen, sehr ernst haben auseinandersetzen müssen. Die Erhaltung der Vertragsfreiheit — nämlich die Fortentwicklung der gemeinsamen Selbstverwaltung von Kassenärzten und Krankenkassen — sowie die Gestaltung des vertrauensärztlichen Dienstes als Gemeinschaftsaufgabe ist genau das, was die Regierungsparteien schon im Stadium der Aussprache über den Referentenentwurf und Vertreter aus den Regierungsparteien mit mir dem Herrn Minister vorgetragen haben.
Es ist sicher nicht unbekannt — und man kann ruhig darüber sprechen, Herr Minister —, daß wir jene straffe staatliche dirigistische Hand hier nicht ) gern sehen wollen und daß Sie den Entwurf verbessert haben. Aber der Kollege Killat wird heute gewiß noch etwas dazu sagen. Ich bin neulich als in besonders enger Verbundenheit mit ihm stehend bezeichnet worden, weil wir beide gemeinsam einige notwendige Einsichten vertreten haben. Ich betrachte es immer als einen großen politischen Erfolg, wenn. in diesem Hause die Einsicht aus der Kenntnis der Zusammenhänge ohne starre demagogische Vorstellungen dazu führt, daß zwei Leute, der eine links und der andere rechts, der Herr Kollege Killat bei der SPD und ich auf dem äußersten rechten Flügel, bei der Deutschen Partei, gemeinsam einen Unfug ablehnen.
Die Erfahrungen, die wir in der Praxis des Alltags gesammelt haben, haben gezeigt, daß Vertragsfreiheit zwar etwas Gutes ist, daß aber die Grenzen immer da sind, wo das Gemeinwohl seine Forderungen erhebt. Deshalb meine ich, daß wir über die Frage der Schlichtung — ich will das noch besonders erläutern — ruhig sprechen sollten. Die leistungsgerechte Honorierung der Ärzte auf vertraglicher Grundlage ist genau das, was der Herr Minister heute vertreten hat. Wir müssen doch wohl alle sagen, daß das augenblickliche System der Honorierung niemanden befriedigt.
Was sagt nun zu all diesen Dingen der Sozialplan der SPD? Der Minister hat schon auf einige Thesen hingewiesen. Ich kann nur immer wieder sagen: sorgen Sie dafür, daß die deutschen Ärzte und alle, die es angeht, den Regierungsentwurf lesen, daß sie aber auch den Sozialplan für Deutschland lesen, ehe
Ärzte wieder bereit sind, in einer DGB-Versammlung als Redner aufzutreten.

(Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich darf, Herr Präsident, zitieren. Die SPD sagt:
Eine eigentliche Gesundheitsvorsorge gibt es in Deutschland bisher nicht.

(Abg. Dr. Schellenberg: Stimmt doch!)

Ursächlich spielt unter den Hemmnissen eine wesentliche Rolle die Haltung der praktizierenden Ärzte, die gegenüber den Einrichtungen der Krankenversicherung wie gegenüber dem Öffentlichen Gesundheitsdienst eine Haltung steter Abwehr gegen vermeintliche oder tatsächliche Versuche zu Einbrüchen in den Bereich der ambulanten Behandlung nie überwunden haben.
Nun, ich kann nur sagen: die Ärzte, die dieses gesunde Gefühl für die da drohende Gefahr haben, werden nicht nur von der Fraktion der Deutschen Partei, sondern von den Fraktionen der Regierungsparteien ganz sicher auch in Zukunft Unterstützung bekommen.

(Zuruf von der SPD: Die Deutsche Partei ist zu klein!)

— Verwechseln Sie nicht immer Quantität mit Qualität; das ist eine schlechte Sache.
Was die Zusammenarbeit mit den Ärzten angeht, so darf vielleicht noch interessieren, was über das Ärzte-Kollektiv im Sozialplan gesagt ist. Es heißt dort: „ohne die Bildung ärztlicher Arbeitsgruppen aus praktischen Ärzten und Fachärzten" ist das alles „nicht realisierbar", nämlich das alles, was man sich als Ärzte-Kollektiv zur Verwirklichung des staatlichen Gesundheitsdienstes vorstellt.
Noch ein Wort zu dem Kassenarztrecht; es wird ja von sämtlichen Tribünen aus als etwas dargestellt, was unbedingt und um jeden Preis in dieser Form erhalten werden muß. Darüber heißt es im Sozialplan, daß das Gesetz über das Kassenarztrecht, das 1955 geschaffen worden ist, nur Bestehendes gefestigt habe. Von einer schöpferischen Neuordnung, so sagt die SPD, sei es weit entfernt. Und nun verteidigt man diese Neuordnung, die so wenig schöpferisch sein soll. Wir sollten das Kassenarztrecht, soweit es funktioniert, beibehalten, seine Verbesserung aber immer vor Augen haben. Da ich kein 01 ins Feuer gießen will, möchte ich den Ärzten empfehlen, das Kapitel im Sozialplan der SPD über die Honorierung selber nachzulesen.
Die Durchführung der vorgesehenen Leistungsverbesserungen, die wir begrüßen, wollen wir garantieren und die Entlastung der Krankenkassen von Ausgaben, die ihrer Natur nach anderen Kostenträgern obliegen, ernsthaft verteidigen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310212400
Ich will den Arzt, der frei und unabhängig ist, der helfen kann. Auch ich möchte dem freien Arzt, nicht dem beamteten Arzt, das Tor weit aufmachen und ihm mehr Zeit für die Patienten wünschen.



Frau Kalinke
Im Parlament der Ärzte waren alle Gruppen vertreten, vom Hartmannbund über die nicht zugelassenen Ärzte bis zum Marburger Bund. Ich kann nur hoffen, daß alle, die in der Öffentlichkeit und im Schrifttum so viele Kritik geübt haben, dem Ausschuß, wenn er am 24. die Sachverständigen hören wird, sehr viele und konstruktive Vorschläge unterbreiten werden.
Lassen Sie mich namens der Fraktion der Deutschen Partei noch eine Lanze für den Hausarzt brechen. Vergessen wir es doch nicht, daß die Hauptlast der sozialen Krankenversicherung gestern der praktische Arzt getragen hat, daß er sie heute trägt und auch morgen tragen wird, der Arzt von den rund 45 000 frei praktizierenden und von den 40 000 Kassenärzten, der auch heute noch Tag für Tag und Nacht für Nacht unterwegs ist, der das Risiko der Grippeepidemie trägt — nicht die Krankenkassen, sondern die Ärzte tragen es -, der Kassenarzt, der nicht Zeit hat, Briefe an uns zu schreiben und Versicherte aufzuklären oder Propagandaversammlungen zu besuchen!
Lassen Sie uns doch nicht vergessen, daß es der Kassenarzt ist, der unter der Einengung des ärztlichen Handelns leidet, der das Problem der sogenannten wirtschaftlichen Verordnung täglich drükkend empfindet, der Regreßforderungen jeder Art, die Prüfungssysteme, die Kürzungsmethoden auf Gruppendurchschnitte, auf Fallpauschale, die verschlüsselten Auszahlungsquoten zwischen 50 und 90 % — und dazu schweigt man ja in der Regel, wenn man protestiert — tagtäglich erlebt.
Lassen Sie mich zu den Fragen des Arzneiverbrauchs, zu dem Problem der Millionen Krankenscheine, zu dem noch das der Zahnscheine kommt, zu der Frage der bisherigen und der künftigen Schreibarbeit, zum Personalmangel und zur Besteuerung der geistigen Arbeit, die den Arzt belasten, sagen, daß seine Sorgen auch unsere Sorgen sind und daß wir das verstaubte Recht ändern wollen, damit der Arzt Zeit findet für seine wirkliche Aufgabe, nämlich für den Kranken da zu sein. Dazu erwarten wir konstruktive Vorschläge, ehrliche und redliche Auskunft über das, was möglich ist, oder über das, was man nur anstreben kann.
Den Zusammenhang zwischen beschränkter Zulassung und dem Durchschnittseinkommen und damit der wirtschaftlichen Sicherheit der Ärzte wird der Kollege von der Freien Demokratischen Partei vielleicht nicht so im einzelnen kennen. Aber glauben Sie mir, in der Frage der Liberalisierung geht es nicht nur darum, ein Bekenntnis zu einer freiheitlichen Ordnung abzulegen, sondern hier geht es um den Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation des einzelnen Arztes und mit der Versorgung der Versicherten durch Ärzte. Eine totale Liberalisierung mit einem freien Wettbewerb hätte nur eine risikoreiche Ellenbogenfreiheit zur Folge. Auch darüber sollten wir im Ausschuß sehr sachlich sprechen.
Wenn die Pauschalleistung, gekoppelt mit dem Grundlohn, erhalten bleiben soll — und darum wird ja in Wirklichkeit so bitter gekämpft —, ist nach meiner Auffassung eine Einzelleistungshonorierung gar nicht möglich und ihre Finanzierung für viele Krankenkassen gar nicht tragbar. Von allen Angehörigen freier Berufe ist der Arzt der einzige, der das Maß seiner Leistungen selber bestimmen kann. Das muß auch so bleiben. Aber die Antwort auf die Frage nach dem angemessenen Honorar wird sich sicherlich nicht so leicht finden lassen und nicht so einfach sein, wie es sich diejenigen vorstellen, die meinen: es muß immer ein bestimmter Anteil an den Beitragseinnahmen der Krankenversicherungsträger garantiert sein.
Vieles von dem, was ich hier gesagt habe, habe ich nicht etwa gesagt, weil es politisch so reizvoll ist, hier Gegensätze in einer unglücklichen, ja ungesunden und unnatürlichen Verbindung im politischen Negieren aufzuzeigen, sondern ich habe es gesagt aus der tiefen Sorge, daß man bei der Lösung der vielfältigen Probleme der Krankenversicherung um Gottes willen nicht von dem Geist der Flugblattaktion ausgehen sollte: allen Versicherten oder allen Ärzten zu mißtrauen. Es ist schlecht, vom Mißtrauen und vom Mißbrauch her die Probleme zu diskutieren. Darum bitte ich auch die Kollegen der Opposition, doch nicht zu unterstellen, daß in der Bundesregierung oder bei den sie tragenden Parteien irgend jemand sei, der dem Arzt schlechthin mißtraue.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Es gibt auch niemanden, der den Versicherten schlechthin mißtraut. Ich nehme mir aber das Recht, zu sagen — es gibt viele Beweise für die Richtigkeit meiner Behauptung auch in der Vergangenheit —, daß, wenn wir schlechte Gesetze machen, die Hintertüren offen lassen oder geradezu zum Mißbrauch herausfordern, der Gesetzgeber schuld ist, daß hier und da Mißstände auftreten.

(Beifall in der Mitte.)

Es wäre sehr wichtig, auch etwas über die Indexfragen bei der Honorierung der Ärzte zu sagen. Das möchte ich mir gern für die zweite und dritte Lesung aufsparen.
Hinsichtlich der Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit, von denen meine politischen Freunde und ich hoffen möchten, daß sie mit dem heutigen Tag beendet sind, appelliere ich an alle, die höhere Einsicht und bessere Argumente haben, sich mit Gelassenheit um eine objektive Bewertung zu bemühen. Ich habe mich sehr gefreut, als ich in der Zeitung las, daß beim Frankfurter Ärztetag eine Ärztin ihren Kollegen zugerufen hat: „Seien Sie doch ,wesentlich', meine Herren." Ich möchte allen Interessenten zurufen: Werden Sie doch um Gottes willen „wesentlich" in diesen Fragen!

(Zuruf von der SPD: An die eigene Adresse richten!)

Ein Zahnarzt hat geschrieben, daß die Freiheit des Denkens und Redens in der Demokratie eine außerordentliche Sache sei — ich stimme ihm darin völlig zu —, daß aber diese Freiheit in Gefahr sei, wenn eine organisierte Opposition sie nicht habe oder von ihr nicht Gebrauch machen könne. Eine organisierte



Frau Kalinke
Opposition nicht denkender oder nicht aufgeklärter Massen ist immer eine gefährliche Bedrohung für die Demokratie. Ich zitiere hier keinen geringeren als den früheren Präsidenten der deutschen Ärzteschaft, Professor Neuffer, der in den „Ärztlichen Mitteilungen" noch 1958 gesagt hat:
Es ist die große Versuchung unserer Tage, aus der Macht, die man in irgendeiner Form über die Menschen hat, Kapital zu schlagen. Wenn aber ein Arzt dieser Versuchung unterliegt, dann versündigt er sich am Wesen des Arztes.
Mögen es alle die nachlesen, die es angeht. Lesen Sie das, was Romano Guardini über den Gebrauch der Macht und ihren Mißbrauch gesagt hat.
Meine Herren und Damen! Die Fraktion der Deutschen Partei bejaht die Grundsätze des Gesetzentwurfs, und sie ist in weitgehender Übereinstimmung mit den Zielen der Bundesregierung. Die Deutsche Partei hat es einfacher als etwa die Sozialdemokratische Partei, die im Wandel begriffen ist, oder eine große Volkspartei. Sie hat aber in konsequenter Haltung ihre schon 1955 gefaßten und 1957 erneuerten Beschlüsse sehr eindeutig publiziert und steht auch jetzt dazu, nämlich „daß die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung begrenzt wird, weil die Ausweitung der Versichertenkreise die Solidarhaftung zerstört und indirekt zur totalen Versorgung aller Staatsbürger führen muß."
In den zehn Forderungen der Deutschen Partei zur Sozialreform, die wir im März 1956 in Bad Godesberg beschlossen und dann veröffentlicht haben, heißt es, „daß eine totale staatliche Zwangsversicherung, die alle Risiken abdeckt und die den Wunsch nach individueller Sicherung unmöglich macht, abgelehnt werden muß." Die gesetzliche Zwangsvorsorge für ein ganzes Volk paßt nach unserer Auffassung nicht in die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik. Für eine sinnvolle Fortentwicklung des Sozialversicherungsrechts, wie es sicherlich alle Einsichtigen fordern, wollen wir uns einsetzen. Den Kreis der Versicherten wollen wir weiter begrenzen. Die Bundesregierung hat sich in ihrer Vorlage, die ja im Bundesrat noch einen erstaunlichen Zusatzvorschlag gefunden hat, gegen die dynamische Begrenzung der Versicherungspflicht gewandt. Dieses Problem hat schon im Beirat eine Rolle gespielt, und der Vorschlag ist dadurch nicht überzeugender geworden, daß er einmal vom Bundesrat und einmal vom DGB und dann wieder von der SPD gemacht wird. Die im Bundesrat vorgebrachte Behauptung, die sicher auch die Behauptung der sozialistischen Opposition sein wird, „daß das Schutzbedürfnis in der sozialen Krankenversicherung mindestens so groß ist wie in der Rentenversicherung," und die damit begründete Forderung nach einer Anpassung der Grenzen der Versicherungspflicht an die Beitragsbemessungsgrenzen der Rentenversicherung sind einfach falsch. Die Argumente mit der Verwaltungsvereinfachung sind auch so alt wie das Streben nach der Einheitsversicherung, nach dem Einheitssozialversicherungsbeitrag und der Einheitsorganisation. Auch diese Argumente sind durch das Alter nicht besser geworden.
In der Diskussion um dieses Problem ist nun in der Öffentlichkeit eine Überlegung angestellt worden, die, wie ich in einem Nachrichtendienst gelesen habe, auch in den Kreisen meiner politischen Freunde von der CDU/CSU diskutiert worden sein soll. Es heißt in dem Bericht, daß geprüft werden soll, ob nicht eine niedrige Beitragsbemessungsgrenze und eine darüber liegende Versicherungspflichtgrenze geschaffen werden könnten, weil damit die Versicherten, deren Einkommen die Bemessungsgrenze übersteigt, eine indirekte Sozialleistung dadurch empfingen, daß sie trotz geringerer prozentualer Belastung des Einkommens durch den Krankenkassenbeitrag die gleichen Leistungen beanspruchen dürften wie die, die mehr Prozente ihres Nominalverdienstes für den Versicherungsschutz aufwenden müssen. Ich bin der Auffassung, daß genau das Gegenteil richtig wäre. Wenn man schon von der bisherigen Methode abgehen will, dann kann es doch nur so sein, daß die Versicherungspflichtgrenze tiefer, also niedriger sein muß, und die Beitragsbemessungsgrenze höhengelegt wird. Das ist auch eine Frage der Beitragsgerechtigkeit, die selbstverständlich in bezug auf die Leistungen von außerordentlicher Bedeutung ist.
Der Bundesratsvorschlag würde folgendes bedeuten. Ausgehend von der Versicherungspflichtgrenze von 660 DM 1957 würde eine erhebliche Heraufsetzung der Grenze 1958 zu 750 DM, 1959 zu 800 DM, 1960 zu 850 DM führen, und dies würde sich weiter in dieser Weise entwickeln.
Die Fragen der Versicherungspflichtgrenzen wären sehr leicht zu entschärfen, wenn man in aller Öffentlichkeit hinsichtlich der Frage des Arbeitgeberanteils vernünftige Wege fände. Das ist in der Tarifpolitik versucht worden. Das sollte im Sozialpolitischen Ausschuß im Zusammenhang mit einer höheren Beitragsbemessungsgrenze in aller Sorgfalt und mit allem Sachverstand untersucht werden.
Lassen Sie mich zu der Frage des Bundesrates, die auch im Kreise meiner Freunde aus der CDU aufgeworfen wird, ob denn die alte Versicherungspflichtgrenze noch hoch genug sei, folgendes erklären. Die Versicherungspflichtgrenze war 1959 im Verhältnis 100 zum Preisindex bei 165,8 angelangt. Dem entspräche die Höhe einer Grenze von 5969 DM. Die jetzige Grenze von 7920 DM für den Jahresarbeitsverdienst ist demnach schon zu hoch.
Wenn die Sozialversicherung, wie heute alle Sprecher gesagt haben, wieder überwiegend eine Versicherung der Arbeitnehmer werden soll, dann muß der Status der Versicherungsberechtigung überprüft werden. Ich meine damit nicht nur die Höhe des Einkommens beim Eintritt der Versicherungsberechtigung, sondern auch die Höhe des Einkommens in gewissen Zeitabständen beim Verbleiben in der Solidargemeinschaft.
Bei der weiteren Beratung des Gesetzentwurfs wird auch die Problematik der Selbstverwaltung deutlich werden. Mancher von uns, der mit hohem Idealismus die Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung gewünscht hat, wird mit großer Sorge eine Entwicklung betrachten, die wir alle vor Augen haben. Weil die Aufgabe der



Frau Kalinke
Gestaltung der Krankenversicherung eine permanente Aufgabe ist und weil die Reform der Systeme eine unendliche Reform ist, kommt es nicht nur darauf an, nun mit einem höheren finanziellen Einsatz zu arbeiten, sondern auch darauf, eine bessere und wirkungsvollere Verteilung vorzunehmen. Sicherlich wird im Laufe der Diskussion noch deutlich werden, wie weit die Belastung der Versicherten, aber auch ihrer Arbeitgeber im Augenblick schon die Debatte um die Kosten der Krankenversicherung belastend beeinflußt.
Das, was heute je Kopf der Bevölkerung an Sozialversicherungsbeiträgen gezahlt werden muß, ist vielleicht am anschaulichsten darzustellen, wenn man sich klar macht, daß ein Arbeitnehmer im Jahre 1938 drei Wochen für 158 RM Beitrag arbeiten mußte, 1950 waren es 238 DM und 6 Wochen Arbeit, daß er aber 1957 schon sieben Wochen arbeiten mußte, um 587 DM Beiträge zu bezahlen. Der Höhe der Belastung der Arbeitnehmer steht die Höhe der Belastung der Arbeitgeber gegenüber.
Die Fraktion der Deutschen Partei, für die ich spreche, hat immer deutlich gemacht — das ist heute morgen erfreulicherweise schon einmal angeklungen —, daß wir nicht nur an die Großindustrie oder an das Monopolunternehmen denken dürfen, das den Versicherungsbeitrag auf Kosten und Preise umlegen kann, sondern daß wir auch an die vielen mittelständischen kleinen Betriebe, an Handwerk, Landwirtschaft, aber auch an die kleine Industrie denken müssen, die diese Möglichkeiten im lohnintensiven Betrieb nicht haben. Eine Steigerung der jetzt von den Arbeitgebern zur Krankenversicherung schon geleisteten Beiträge von 3,5 bis 4 Milliarden erscheint meinen Freunden in der Fraktion der Deutschen Partei nicht realisierbar.
Ich möchte mich nur noch mit einem Vorschlag auseinandersetzen, der vom Deutschen Gewerkschaftsbund und auch von einem Kollegen der CDU in die Öffentlichkeit getragen worden ist, nämlich dem Vorschlag, den Beitrag zu teilen und die gesamte Tragung der Kosten für die Lohnersatzfunktion des Krankengeldes auf die Arbeitgeber umzulegen.

(Fortdauernde Unruhe. — Glocke des Präsidenten.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310212500
Ich bitte doch, der Rednerin Gehör zu schenken!

Margot Kalinke (CDU):
Rede ID: ID0310212600
Das wäre nach Meinung des betreffenden Kollegen mit 1 1/2% der Lohnsumme ohne Schwierigkeit zu machen. Nur wer die Höhe der Lohnsumme und die Belastung des mittleren und kleinen Betriebes kennt, hat eine Vorstellung davon, was es bedeuten würde, wenn 1 1/2 bis 2% der Lohnsumme als zusätzliche Belastung zu dem halben Arbeitgeberanteil hinzukämen. Es ist das Recht und die Pflicht, vielleicht eine vornehme Pflicht der Sozialpolitiker in den Regierungsparteien, nicht nur an die Arbeitnehmer, nicht nur an die Fordernden, sondern auch mit an diejenigen zu denken, die alles das mit zu finanzieren haben, nämlich an die gemeinsame Arbeit aller in der Wirtschaft Tätigen, der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber, und an das Wohl des ganzen Volkes.
Lassen Sie mich noch etwas zur Krankenversicherung der Rentner sagen. Herr Dr. Voges hat im „Spiegel"-Gespräch gesagt, „den Rentnern solle durch die Selbstbeteiligung ein Teil ihrer mühsam erhöhten Renten wieder fortgenommen werden". Ich kann nur annehmen, daß er den Gesetzentwurf nicht gelesen hat,

(Abg. Stingl: Hat er auch nicht!)

sonst wüßte er, wie hoch die Durchschnittsrenten sind, und daß alle diejenigen, die unter 200 DM verdienen nicht zu denen gehören, die in irgendeiner Weise zusätzlich in Anspruch genommen werden sollen.

(Abg. Stingl: Aber das wäre ja sachlich gewesen!)

— Ja, das ist richtig. Alle Rentner sollten nach Auffassung der Fraktion der Deutschen Partei — ich habe das schon bei der Diskussion zur Rentenreform gesagt — wie andere Versicherte behandelt werden, wie es jetzt der Regierungsentwurf vorsieht.
Wir glauben, daß es für die Lösung dieses Problems nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder die Krankenversicherung der Rentner als Auftragsangelegenheit zu behandeln — dann zahlt der Rentenversicherungsträger die vollen Kosten; er muß dann aber auch das Recht haben, Umfang und Ausmaß der Leistungen zu bestimmen — oder alle Rentner in der Sozialversicherung so zu behandeln, wie es der Regierungsentwurf vorsieht, nämlich diejenigen, die vorher pflichtversichert waren, als Pflichtversicherte, diejenigen, die vorher nicht pflichtversichert waren, mit der Chance, sich genauso individuell und freiwlilig weiterzuversichern, wie sie das in der Vergangenheit getan haben, natürlich unter der Bedingung, daß nach dem Gleichheitsgrundsatz und der Gleichbehandlung der Beitrag, den die Rentenversicherung zu zahlen hat, für alle gleich sein muß.
Ich weiß, daß diese Frage sehr umstritten ist. Es wäre aber falsch und paßte keineswegs zu den Erfolgen, die diese Regierung mit ihrer Wirtschaftsordnung erreicht hat, etwa von einer Klasse armer Rentner zu sprechen. Es gibt keine homogene Gruppe der Rentner. Es gibt eine Gruppe von solchen Rentnern, die kleine Renten bekommen, weil die Zeit der Beitragszahlungen und der abhängigen Tätigkeit kurz war. Es gibt eine Gruppe von solchen Rentnern, die hohe Ansprüche haben, denen sie aber beschnitten werden, obwohl ihre Beitragsleistung besonders hoch war. Es gibt aber ganz gewiß nicht den armen Rentner, von dem in Flugblättern die Rede ist; denn es gibt bei den Rentnern wie bei allen Staatsbürgern die Vielfalt der Möglichkeiten des zusätzlichen Einkommens und der zusätzlichen Versorgung. Mancher Arbeitnehmer mit geringem Einkommen möchte gern mit manchem Rentner tauschen!
Ein sehr ernstes Problem der Finanzierung der Krankenversicherung besteht darin, ob wir länger zusehen können, daß in einzelnen Kassenarten die



Frau Kalinke
Zuzahlung aus der Solidarhaftung für die Krankenversicherung der Rentner heute schon 100 DM je Kopf der Mitglieder beträgt.
Zu einer sehr wichtigen, heute schon behandelten Frage kann ich wegen des Zeitdrucks leider nur wenig sagen. Es handelt sich um eine alte Forderung meiner Fraktion. Die Einführung von Vorsorgemaßnahmen in die künftigen Leistungen der Krankenversicherung ist nach Auffassung meiner Freunde im Gesetzentwurf noch nicht ganz zu Ende gedacht. Wir haben in dem Beispiel der deutschen Ersatzkassen das Vorbild einer ausgezeichneten Pionierarbeit auf dem Gebiete der Vorsorge für Jugendliche und Kinder. Mir scheint, die Stunde ist längst gekommen, daß nun endlich mehr Vorsorge für die berufstätigen Frauen, für die mitarbeitenden Frauen und für die Versicherten selbst geleistet wird. Ich habe mir die Zahl der Kuren in einer großen Kasse mit 2 Millionen Versicherten angesehen. Es waren nur ganze 4000 Kuren! Ich habe mich weiter an die Vorstellungen vor der Rehabilitationsdebatte bei der Rentenversicherung erinnert und sehe nun, was daraus noch nicht geworden ist. Hier ist ein Ansatzpunkt für sehr gründliche und weitgehende Untersuchungen des Problems bei der Ausschußberatung.
Bei allen Gesprächen um die Höhe der Belastung, die auf die Träger der Krankenversicherung zukommt, teile ich nicht die Vorstellungen des Arbeitsministeriums, die in den in der Vorlage enthaltenen Zahlen zum Ausdruck kommen. Ich fürchte, die Belastung wird weit höher werden. Ich teile auch nicht den Optimismus des Arbeitsministers, daß eine Beitragssenkung von größerem Ausmaß denkbar sei. Ich verweise dabei auf die Verpflichtungen, die auf die Krankenkassen nicht nur aus den Forderungen nach Honorarerhöhung, nach Gehaltserhöhungen, wegen der Krankenhauspflegesätze und wegen vieler anderer Dinge mehr zukommen.
Die Probleme der Krankenhausbehandlung und ihrer Kosten werden den Bundestag sicherlich noch viele Male beschäftigen. Es ist an der Zeit, daß die Länder endlich gemeinsam nach Wegen suchen, um das Problem der Finanzierung der Krankenhäuser zu lösen und diese Lösung nicht auf die Sozialversicherung und die Reform der Krankenversicherung abzuwälzen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Ich glaube weiterhin, daß die Schaffung von Pflegehäusern für alte Menschen, die nicht ins Krankenhaus gehören, die aber gepflegt werden müssen, vordringlicher ist als die Errichtung manchen Gemeinschaftshauses in manchem Dorf und mancher Stadt.

(Beifall bei der DP und der CDU/CSU.)

Ich komme nun zu dem großen heißen Eisen der zusätzlichen Kostenbeteiligung. Lassen Sie mich vorweg etwas sehr Einfaches sagen. Was erlaubt die Finanzkraft der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zur Zeit? Sie erlaubt nicht einmal die Auffüllung der Rücklagen, sie erlaubt ihnen keinerlei Sprünge in der Bewilligung von individuellen Mehrleistungen durch Satzungsrecht, sie erlaubt ihnen keinerlei Möglichkeiten, die bei einzelnen Kassenarten zum Teil gekündigten Verträge zu erfüllen, ohne die Beiträge zu erhöhen. Aber das ist die entscheidende Frage: Wenn es keine Beitragserhöhungen geben soll — und ich bin dafür, daß die Beitragsentwicklung endlich gestoppt wird —, wenn Staatszuschüsse nicht möglich und nicht gewollt sind — meine politischen Freunde wünschen wegen der Erhaltung der Selbstverwaltung und wegen der Erhaltung des Versicherungssystems keine Staatszuschüsse in der Krankenversicherung —, wenn also Beitragserhöhungen und Staatszuschüsse nicht möglich sind, muß nach dem Gesetz die Selbstverwaltung Leistungssenkungen beschließen. Leistungssenkungen aber scheinen in der Sozialpolitik ein Tabu zu sein. Da also Leistungssenkungen auch nicht in Betracht kommen, bleibt die Frage, wie eine Umgestaltung in anderer Weise zu finanzieren ist.
Es wäre unredlich, zu sagen, daß die Versicherten nicht schon jetzt an den Kosten beteiligt sind. Sie sind es natürlich durch den Beitrag, und sie sind es durch den Kaufwert ihres Geldes, das sie für Arzneimittel oder für die vielen Dinge, die zur Krankenpflege gehören, ausgeben. Sie sind selbstverständlich schon seit Jahrzehnten auf den vielfältigsten Gebieten des Leistungsrechts beteiligt, auf denen sie — ich denke nur an Heilmittel und anderes — auch schon jetzt einen wesentlichen Zuschuß zahlen müssen.
Sie werden mir recht geben, meine Herren und Damen, wenn ich sage: die Aussprache über Löhne und Preise und über die Konjunkturprobleme hat doch wohl einer breiten Öffentlichkeit deutlich gemacht, daß es unserer Volkswirtschaft völlig unmöglich ist, gleichzeitig weitere Arbeitszeitverkürzungen, höhere Urlaubsansprüche, höhere Lohnforderungen und höhere Sozialbeiträge ohne Schaden zu verkraften. Auch die Krankenkassen können nicht gleichzeitig höhere Lohnforderungen, höhere Honorarforderungen verkraften, den Versicherten die hohen und teuren Leistungen der modernen Diagnostik und Medizin gewähren und ihnen die Erkenntnisse der modernen Forschung nutzbar machen, wenn sie nicht irgendwoher die finanziellen Mittel bekommen, um das alles zu bezahlen.

(Zuruf von der SPD: Von den höheren Dividenden sprechen Sie nicht!)

— Ich weiß nicht, ob es in der gesetzlichen Krankenversicherung Dividenden gibt. Aber vielleicht gibt
es Versicherungen, in denen Sie Dividende kriegen.

(Zuruf von der SPD: Die private Krankenversicherung! — Gegenruf von der Mitte: In der privaten Krankenversicherung gibt es auch keine Gemeinschaft!)

— Die private Krankenversicherung ist — —

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310212700
Um die Diskussion etwas einzuschränken, darf ich darauf hinweisen, daß nach § 78 der Geschäftsordnung in der ersten Beratung nur die Grundsätze der Vorlagen besprochen werden sollen.




Margot Kalinke (CDU):
Rede ID: ID0310212800
Jawohl, das tue ich. Aber, Herr Präsident, Sie werden gestatten, daß ich solche Zwischenrufe beantworte, auch wenn sie nicht in die erste Lesung hineingehören und wenn sie nicht immer sachlich sind. Auch ein unsachlicher Zwischenruf sollte beantwortet werden. Vielleicht dient die Antwort der Aufklärung.
Es ist vielleicht auch den Kollegen der SPD, von denen viele auch in maßgeblichen Stellungen der privaten Krankenversicherung tätig sind und von denen viele, Gewerkschaftler, in Aufsichtsräten sitzen, bekannt, daß es in der Krankenversicherung nur verschwindend wenige Aktiengesellschaften, in der überwiegenden Zahl aber Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gibt, die genauso kontrolliert sind, wie es früher einmal die Versicherungsvereine der Arbeiter und Angestellten waren, und die ihre Wurzeln in derselben Idee der genossenschaftlichen Verantwortung und des genossenschaftlichen Geistes haben, wie Sie sie heute hoffentlich immer noch mit uns gemeinsam verteidigen wollen.
Wenn also Beitragserhöhungen nicht möglich und Staatszuschüsse nicht gewollt sind, wenn ein Leistungsabbau nicht diskutiert werden kann, dann wird es uns wie den Sozialisten in England gehen, die beim englischen Gesundheitsdienst, der immer teurer wurde, eine zusätzliche Beteiligung und höhere Steuern einführen müssen und die im Enderfolg doch vor der Tatsache stehen, daß volle Krankenzimmer bei den Einschreibärzten sie daran hindern, versorgt zu werden, und sie zwingen, nach Büro- und Dienstschluß doch zum privaten Arzt zu gehen, der an keine Gebührenordnung gebunden ist. Auch darüber sollte man offen sprechen.

(Zuruf von der SPD: Das ist eine einseitige Interpretation!)

— Das ist keineswegs eine einseitige Interpretation. Sie haben mit mir in England die Leute gesehen, die in den Krankenhäusern warteten. Sie kennen die Leute, und wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie aus vielen Gesprächen wie ich, wie dieser Apparat funktioniert.
Auch das Kostenerstattungssystem ist natürlich — wer wollte das bestreiten — eine zusätzliche Kostenbeteiligung. Aber es ist doch eine sehr entscheidende Frage, ob man die Versicherten nur mit einem bestimmten begrenzten Betrag und nur dann belastet, wenn sie nur kurze Zeit erkrankt sind — keine schwere Krankheit; darüber müssen wir auch noch sprechen! —, oder ob man sie Jahr für Jahr mit höheren Beiträgen belastet.
Lassen Sie mich zwei ganz einfache Beispiele anführen. Ein Beitragsprozent bei einem Durchschnittsgehalt der Arbeitnehmer von 450 DM macht 4,50 DM. Dieses Beitragsprozent zahlen sie nicht einmal, sondern 12 Monate im Jahr, und sie zahlen es in den nächsten Jahren; denn eine Minderung der Beiträge gibt es nicht. Bei einem qualifizierten Arbeitnehmer wie einem Facharbeiter macht ein Beitragsprozent bei einem Einkommen von 600 DM — immer noch im Rahmen der Versicherungspflicht — 6 DM aus. Zwölf Beiträge sind 72 DM. Damit ich es Ihnen gleich vorwegnehme: Die Halbierung nehme ich
Ihnen nicht ab; denn der Arbeitgeberanteil ist ja nach Ihrer Diktion vorenthaltener Lohnanteil. Was ist nun besser: Der Versicherte zahlt 72 DM oder 54 DM im Jahr

(Abg. Stingl: Und zwar jedes Jahr!)

und das Jahr für Jahr, oder er zahlt ein- oder zweimal einen bestimmten festzulegenden Betrag, der begrenzt werden kann?
Es ist selbstverständlich, daß die Höhe der Belastung im Zusammenhang mit der Beitragsgestaltung gesehen werden muß. Aber alle Methoden der Kostenerstattungssysteme, begonnen von den Ideen, die einmal bei den Ersatzkassen probiert und verwirklicht wurden, bis zu der Forderung der Ärzte, die jetzt von der Freien Demokratischen Partei aufgegriffen worden ist, alle diese Methoden haben sehr viele Gefahren, die das Ministerium und ein Teil der Abgeordneten schon vor Jahren in Frankreich sehr gründlich studieren konnten.
Ich kann heute nicht die Wirkung der einzelnen Kostenerstattungssysteme untersuchen. Lassen Sie mich noch auf das im Entwurf vorgesehene Naturalleistungssystem hinweisen. Herr Stammberger hat das System schlecht gemacht. Unser alter Kollege Dr. Hammer hat davon eine viel bessere Auffassung gehabt, als Sie das heute dargestellt haben; nach meiner Erinnerung ist er ein Mann der Kassenärztlichen Vereinigung und weiß sehr genau, was das Naturalleistungssystem mit seiner Pauschalierung für die Ärzte in bezug auf das Einkommen bedeutet. Wenn wir entsprechend dem Entwurf am Naturalleistungssystem festhalten und dieses System immer noch für die einzig mögliche Form der ärztlichen Honorierung halten, dann muß ich sagen, daß die Einführung irgendeiner Form von Kostenerstattung in Verbindung mit diesem System technisch außerordentlich schwierig ist. Mir scheint, daß von allen hier genannten Vorschlägen — von dem der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft bis zu dem Regierungsentwurf — noch keiner der Weisheit letzter Schluß ist und daß dem Parlament, auch wenn es nicht ein Rat der Weisen ist, doch einiges wird einfallen müssen, um die Idee, ich sage: die Idee des Entwurfs, nicht die Form, zu verwirklichen.
Im Zusammenhang mit dem Kostenerstattungssystem erhebt sich auch die Frage, ob wir es uns leisten können, Sozialversicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung unterschiedlich zu behandeln. Ich habe sehr große Bedenken dagegen, Versicherte 1. und 2. Klasse zu schaffen, Wartezimmer 1. und 2. Klasse zu haben. Ich habe allergrößte Bedenken dagegen, eine prozentuale Beteiligung zu diskutieren, solange ich die Höhe und das Ausmaß dieser Beteiligung nicht übersehen kann. Die Freien Demokraten haben bei der Einbringung ihres Vorschlags nicht deutlich gesagt, was sie denn unter der prozentualen Beteiligung verstehen und in welchem Zusammenhang sie zu der Gebührenordnung steht, die sie vor Augen haben.
Es ist eine hochpolitische Frage, ob der freiwillig Versicherte nur denselben Satz bekommt, den auch der Pflichtversicherte erhält, oder ob er andere Ansprüche hat, die sich nach meiner Auffassung nicht



Frau Kalinke
in die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung einfügen lassen.

(Abg. Stingl: Ich habe dazu etwas gesagt!)

Wem die Leistungen der Solidargemeinschaft nicht ausreichen oder wer bessere, individuellere Leistungen haben will, der hat in Deutschland durchaus die Möglichkeit, sich einen privaten individuellen Versicherungsschutz nach Maß, wie es ihm gefällt, zu wählen.
Ein kurzes Wort zum Arztrecht. Der Kampf darum begann schon 1883, also lange vor dem ersten Weltkrieg. Das ist vielleicht für die Herren von der Freien Demokratischen Partei interessant; denn sie werden dadurch die Gedankengänge des Kollegen Dr. Hammer besser verstehen. Schon vor dem ersten Weltkrieg wurde die organisierte — so nannte man sie damals —, nämlich die beschränkte freie Arztwahl eingeführt. Schon damals war man sich des Zusammenhangs zwischen Zulassungssystem, freier Arztwahl und Arzthonorar bewußt. Die unabhängige ärztliche Tätigkeit soll und darf nicht weiter zerstört werden. Darum werden wir im Ausschuß sehr sorgfältig nach einem System suchen müssen — und ich hoffe auch da auf sachverständigen Rat der Ärzte, die uns beraten werden —, das so freiheitlich wie möglich ist, das aber auch von allen Krankenkassenarten verwirklicht werden kann.

(Abg. Stingl: Sehr gut!)

Zur Gebührenordnung möchte ich nichts mehr sagen, weil ich sie nicht kenne, und ich pflege nicht über eine Sache zu sprechen, die ich nicht kenne. Ich glaube aber, der Minister wäre besser beraten gewesen, wenn er nicht nur frei praktizierende Ärzte, sondern wenigstens einen sachverständigen Arzt, der sich mit dem Gebührenrecht in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung befaßt hat, gehört hätte; er hätte sich dadurch sicher manchen Vorwurf ersparen können.
Selbstverständlich begrüßen auch meine Fraktionsfreunde die Aufhebung der Aussteuerung. Wir sind der Meinung, daß die Eindämmung des Arzneimittelverbrauchs nicht nur eine finanzielle, sondern vor allem eine gesundheitliche Frage ist. Der Gesundheit unseres Volks drohen Gefahren, wenn dem großen Arzneimittelverbrauch nicht Einhalt geboten wird.
Wir haben Besorgnis, den Versicherten generell an den Kosten des Aufenthalts im Krankenhaus zu beteiligen. Aber wir wollen sehr sorgfältig prüfen, wieweit es dem Satzungsrecht und der Selbstverwaltung überlassen werden kann, hier Wege zu finden.
Nun muß ich ein Kapitel ansprechen, von dem der Minister gemeint hat, das würde die Damen des Hauses besonders interessieren, nämlich die Wochenhilfe. Ich muß Sie enttäuschen, Herr Bundesminister. Die Wochenhilfeleistungen haben immer die Väter am meisten interessiert!

(Heiterkeit.)

Wir mußten da Bestimmungen einbauen, daß das Wochengeld und das Stillgeld nur von der Mutter
in Empfang genommen werden dürfen, weil das Interesse der Väter an dieser wirtschaftlichen Leistung in der Vergangenheit besonders lebendig war.

(Bundesminister Blank: Aus Freude, Frau Kalinke! — Heiterkeit.)

— Natürlich, natürlich, Herr Minister! Ich weiß auch, daß ein junger Vater in der Regel viel hilfsbedürftiger ist als eine junge Mutter!

(Erneute Heiterkeit.)

Ich möchte aber — um ein ernstes Wort dazu zu sagen —, daß die Wochenhilfe, wenn möglich, ganz aus der Krankenversicherung herausgenommen wird. Wir halten Auftragsangelegenheiten immer dann für bedenklich, wenn sie zu zeitraubenden Verwaltungsakten führen. Außerdem ist das Wirtschaften aus dem großen Topf stets so verlockend, wenn Leistungsträger und Kostenträger nicht die gleichen sind.
Ich bedaure es namens meiner Fraktion sehr, daß der Herr Familienminister heute nicht anwesend ist.

(Zurufe von der CDU/CSU: Er ist doch krank!)

— Er ist krank! Dann soll er ausnahmsweise entschuldigt sein. Hat er denn immer noch keinen Staatssekretär?

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

— Auch nicht! Das ist ja tragisch! Jedenfalls sollte dem Herrn Familienminister endlich einmal etwas Gescheites einfallen, wie man die Familienpolitik und auch die Wochenhilfe neu ordnet. Dann würde vielleicht auch aus seinem Ministerium einmal ein gutes Gesetz kommen.

(Abg. Dr. Schellenberg: Er muß doch immer noch das Kindergeld neuregeln!)

— Herr Kollege, meine politischen Freunde sind der Auffassung, daß Familienpolitik nicht nur im Kindergeld besteht, auch nicht nur in Wochenhilfe. Ich sage Ihnen auf Ihren Einwand, daß die kostenlose Leistung der Familienhilfe, die wir als einen sozialpolitischen Fortschritt für die Versicherungspflichtigen mit begrenztem Einkommen ansehen, nach Auffassung meiner politischen Freunde keineswegs unbedingt für alle freiwillig Weiterversicherten notwendig ist. Wir sollten auch darüber wie über viele andere Fragen im Ausschuß sehr sorgfältige Überlegungen anstellen.
Das Gesetz in seiner gesamten Tendenz ist nach der Auffassung der Fraktion der Deutschen Partei ein mutiger Schritt vorwärts, vorwärts zur freiheitlichen und selbstverantwortlichen Gestaltung einer modernen Krankenversicherung. Wenn bei der Gestaltung dieser Krankenversicherung auch nicht jeder Vorschlag im Regierungsentwurf von meinen politischen Freunden unterstützt werden kann, so kann ich zum Schluß doch noch einmal sagen, daß die Tendenz und das Ziel dieses Entwurfs — nämlich die Absicht, eine Krankenversicherung zu schaffen, in der der einzelne nicht mehr Objekt, sondern soweit als möglich persönlich verantwortlich han-



Frau Kalinke
delnd ist — gut sind. Lassen Sie uns im Ausschuß alle gemeinsam an der Verbesserung und auch an der Realisierung der theoretischen Vorstellungen arbeiten.
Alle Verbände, alle Interessenten sollten nicht aufhören, sich um eine vernünftige, tragfähige und dem Gemeinwohl dienende Synthese zu bemühen. Alle diejenigen, die sachverständig genug und verantwortungsbewußt die großen Zusammenhänge der Krankenversicherungsreform übersehen, sollten mehr Vertrauen haben — Vertrauen zum Parlament, Vertrauen zu der Kraft sachlicher Argumente —, weniger Mißtrauen gegen Regierung, Parlament, Versicherte und Organisationen und mehr Vertrauen zu der überzeugenden Kraft der Argumente von Sachverständigen, aber auch derjenigen, die sich sozialpolitisch verantwortlich fühlen, die nicht nur fordern, sondern die, weil sie die Regierungsverantwortung mittragen, auch die Verpflichtung haben, dafür zu sorgen, daß soziale Versprechen eingelöst werden.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310212900
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Franz.

Dr. Ludwig Franz (CSU):
Rede ID: ID0310213000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion ist in die Diskussion des heutigen Tages nineingegangen mit dem festen Willen, ein möglichst breites Feld für eine möglichst sachliche Diskussion zu schaffen. Und nun, Herr Professor Schellenberg, sind wir ehrlich betrübt, weil Sie unsere Gesprächsbereitschaft als ein Zurückweichen, ja sogar als eine Flucht gedeutet haben. Wären wir stramm stehengeblieben, — —

(Abg. Dr. Schellenberg: Nein, Sie hätten nur sagen müssen, was Sie wollen!)

— Herr Professor Schellenberg, wären wir stramm stehengeblieben bei der Regierungsvorlage, dann hätten wir bestimmt die alten Vorwürfe kassiert unter Berücksichtigung unseres Verhältnisses zum Bundeskanzler. Jetzt, wo wir gesprächsbereit gewesen sind, konnten wir es auch nicht recht machen. Deshalb sind wir betrübt.

(Abg. Dr. Schellenberg: Beweglich unter dem Druck der Öffentlichkeit!)

Wir sind aber glücklich darüber, Herr Professor, daß die Diskussion dieses wichtigen Tagesordnungspunktes doch frei von der Verkrampfung gewesen ist, die man vielleicht fürchten zu müssen geglaubt hat.
Es ist heute viel gesagt worden über das Ziel der Krankenversicherungsreform und über die zweckmäßigen Wege, die zu einer solchen Reform führen können.
Das Ziel kann keineswegs nur eine finanzielle Sanierung der Kassen sein. Die Kassen waren im Winter 1957/58 teilweise finanziell sehr strapaziert; aber spätestens im Sommer 1959 hat sich ihre Lage wieder normalisiert.
Es wäre auch nur eine kleine, vielleicht eine zu kleine Lösung, wenn wir nichts anderes als nur die Finanzierung der Mehrleistungen ins Auge fassen würden.
Vor fünfviertel Jahren schon hat in diesem Hause die Befreiung der sozialen Krankenkassen von artfremden Lasten eine Rolle gespielt. Ich erinnere mich, daß damals die Standpunkte zwischen den Fraktionen gar nicht so weit auseinander lagen. Es sind heute schon angesprochen worden der Komplex Mutterschaft und die Frage der Unfallversicherung, die wir wahlweise in der Unfallversicherungsreform oder hier lösen können.

(Abg. Dr. Schellenberg: Aber Herr Dr. Franz, Sie wissen doch, daß der Entwurf der dritten Legislaturperiode in dieser Hinsicht ungünstiger ist als der der vorigen Periode!)

— Der Entwurf der Unfallversicherung?

(Abg. Dr. Schellenberg: Der Regierungsentwurf!)

— Ich habe nur gesagt, daß wir die Befreiung von solchen Lasten entweder hier oder in der anderen Vorlage lösen können.

(Abg. Dr. Schellenberg: Müssen!)

Weiterhin sind behandelt worden der Problemkreis BVG und die Abrechnung zwischen den einzelnen Sozialversicherungsträgern über den Einzug der Beiträge. Zum letzten Punkt möchte ich sagen, daß sich bisher die Verhandlungen zwischen den einzelnen Sozialversicherungsträgern immer in sehr großer Sachlichkeit abgespielt haben und daß der Bund, der Gesetzgeber, keinen Anlaß hat, in diese selbstverantwortlich geführten Gespräche einzugreifen.
Zum ganzen Fragenkomplex der Befreiung der Kassen möchte ich sagen, daß die Weiterwälzung der Lasten auf irgendwelche anderen Träger keine endgültige Lösung darstellt. Ich möchte mich keineswegs mit dem Wort identifizieren, das einmal von einem Manne, der kein besonders enges Verhältnis zur Sozialpolitik hatte, gesagt worden ist: „Sozialpolitik ist wohl nur, wenn ein anderer bezahlt.
Die Kernfrage unserer heutigen Diskussion ist eine ganz andere. Es geht darum, ob die Gesundheit primär eine Privatsache oder Sache einer Versichertengemeinschaft ist. Es ist in der öffentlichen Diskussion schon oft sehr lautstark von einem „Recht auf Gesundheit" gesprochen worden. Ich glaube, das ist eine Forderung erstens an den lieben Gott und zweitens eine sehr ernste Forderung an einen jeden einzelnen von uns.
Es ist darauf hingewiesen worden, daß sich im Laufe der letzten 80 Jahre der Kreis der Personen, die von der sozialen Krankenversicherung erfaßt worden sind, sehr geändert hat. Wir wissen, daß unser Land sich fünfzig Jahre später als Belgien und Frankreich und hundert Jahre später als England industrialisiert hat. Es hat sich in den Jahren 1880 bis 1900 sehr schnell industrialisiert. Deshalb und nur deshalb ist damals der Kreis der von der



Dr. Franz
sozialen Krankenversicherung erfaßten Personen sehr klein gewesen.
Inzwischen hat sich aber unsere wirtschaftliche und soziale Struktur sehr gewandelt. Heute steht nicht zuletzt im Gefolge der politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die wir hinter uns haben, das Sicherungsbedürfnis an erster Stelle, allerdings unter der Einschränkung, die nun einmal von unserer ohne unsere Schuld sehr unsicher gewordenen politischen Situation vorgeschrieben ist. Hier wird ein ganz klarer Zusammenhang zwischen der Sozialpolitik und der Gesamtpolitik deutlich.
Der Gedanke der Solidarität war zweifellos in den letzten hundert Jahren staatlicher Sozialpolitik in Deutschland die strahlendste Idee; aber wir dürfen den Eindruck haben, daß da und dort in der letzten Zeit diese Solidarität etwas überstrapaziert worden ist. Es hat sich in unserem Volk gerade in der Krankenversicherung da und dort so etwas wie ein Äquivalenzkomplex, wie ein Gegenleistungskomplex, breitgemacht. Es heißt: Der Beitrag, den ich Monat für Monat einzahlen muß, ist sehr hoch, und der Beitrag meines Arbeitgebers ist ebenso hoch. Was bekomme ich als Gegenleistung? — Ein solches Denken verzichtet ganz bewußt auf den Gedanken der Solidarität, daß also der eine des anderen Last mitzutragen habe.
Alle sind sich darüber einig, daß die Beitragsbelastung, daß der Abzug vom sauer verdienten Geld jedes einzelnen Arbeitnehmers im Laufe der letzten Jahre eine Höhe erreicht hat, die nicht mehr gesteigert werden kann. Nun besteht aber auch Einverständnis darüber, daß die Mehrleistungen dieses Gesetzes finanziert werden müssen. Wir haben also nur die Wahl zwischen einer gezielten und einer ungezielten Beitragserhöhung. Frau Kollegin Kalinke hat darauf hingewiesen, daß eine Beitragserhöhung von nur 1 % bei einem Durchschnittseinkommen von etwas über 400 DM aller Arbeitnehmer im Bundesgebiet pro Monat etwa 4,50 DM, im Jahr für den Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen 50 DM, für den einzelnen immerhin 25 DM ausmachen würde.
Nun hat der Herr Kollege Stingl heute früh gesagt, der Regierungsentwurf ist ein Vorschlag, einer der Vorschläge, die uns zur Verfügung stehen. Ich möchte sagen, er ist ein sehr wesentlicher Vorschlag, daran gibt es keinen Zweifel. Nun darf ich aber auch ein Wort der Kritik sagen. Ich sehe in diesem Regierungsvorschlag eine nicht genügende Abgrenzung des Versichertenkreises. Ich hätte mir im Zuge einer sinnvollen Reform eine viel klarere Gliederung des Versichertenkreises versprochen. Im Jahre 1957 ist die Versicherungspflichtgrenze — wie ich glaube, etwas unmotiviert — erhöht worden. Ich weiß, wir müssen über die zweckmäßige Höhe der Versicherungspflichtgrenze noch einmal sprechen. Ich möchte vor der Anpassung der Versicherungspflichtgrenze an einen jährlich sich steigernden Vorgang warnen. Das wäre eine Tendenz, die wir nicht wollen, und wir sind ja immer noch froh, daß es uns gelungen ist, den Gedanken der Automatik aus der Rentenreform herauszubringen,
den manche Befürworter einer labilen Wirtschaftsordnung durchaus für akzeptabel gehalten haben.
Aber nicht nur die Grenze der Versicherungspflicht ist von Bedeutung. Von großer Bedeutung ist auch die Grenze der Versicherungsberechtigung. Eine solche Grenze steht in dem Gesetz; aber es ist heute schon gesagt worden, daß es ein sehr kleiner Personenkreis ist, der über 1250 DM verdient, wenn er nicht über zehn Jahre im Berufsleben gestanden hat. Außerhalb des jungen Managements, wenn ich mich so ausdrücken darf, wird diese Bedingung jeder erfüllen. Darum ist diese Grenze der Versicherungsberechtigung bestimmt nicht der Markstein, den wir gerne gesehen hätten.

(Abg. Dr. Schellenberg: Was haben denn Ihre CSU-Minister in der Regierung gesagt? Die haben doch auch einstimmig dafür gestimmt!)

— Herr Professor, Sie werden mich doch nicht enttäuschen! Sie wissen doch ganz genau, wie das Kabinett gestimmt hat.
Kernstück unserer Debatte ist die sogenannte Kostenbeteiligung. Ein gespaltenes System, das, wenn wir es als zweckmäßig erkennen, die Versicherten unterhalb der Versicherungspflichtgrenze beispielsweise mit einer Krankenscheingebühr belegen würde, über die Versicherungspflichtgrenze hinaus aber eine Kostenerstattung vorschlägt, wäre mir sympathischer. Darüber kann man natürlich diskutieren.
Einen Vorteil sehe ich darin, daß bei einer Kostenerstattung über der Versicherungspflichtgrenze die Einkommensgesichtspunkte einerseits und die Familienverhältnisse andererseits leichter und sauberer berücksichtigt werden könnten.
Ein Anliegen einer jeden Diskussion über eine Reform im sozialpolitischen Bereich ist zweifellos die Entbürokratisierung. Ich glaube, die Einführung praktikabler Verfahrensweisen sollte unser gemeinsames Anliegen sein, und in dieser Hinsicht müssen wir den Regierungsentwurf noch einmal ganz leidenschaftslos und nüchtern durchsehen.
Der Gedanke der Selbstverwaltung hat sich in der hundertjährigen Geschichte staatlicher Sozialpolitik in Deutschland bewährt. Es hat mich persönlich sehr angenehm berührt, daß der Herr Bundesminister für Arbeit erklärt hat, die Frage, ob bei den Verhandlungen zwischen den kassenärztlichen Verbänden und den Krankenkassen in letzter Instanz er entscheide oder eine Schiedsinstanz, wie sie für die Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern vorgesehen ist, stelle für ihn gar keinen neuralgischen Punkt dar, sondern nur einen Diskussionspunkt unter anderen. Das hat mich sehr befriedigt, und ich glaube, daß manche Mißstimmung gegen den Entwurf dadurch ausgeräumt werden wird.
Als Sprecher der CSU-Landesgruppe darf ich noch ein besonderes Wort zur Zulassungsfrage sagen. Ich weiß, daß diese Gesetzesbestimmung sehr stark von der Entscheidung in Karlsruhe beeinflußt werden wird, daß man vielleicht von einer Verhältnis-



Dr. Franz
zahl wegkommen und einen größeren Kreis von Ärzten zur kassenärztlichen Versorgung zulassen wird. Aber eines steht fest: daß wir wahrscheinlich von dem Rest einer Regionalplanung nicht herunterkommen werden, ja, nicht einmal herunterkommen dürfen. Ich habe nicht die Sorge, daß wir in München oder in Bad Reichenhall oder in Starnberg einmal zu wenig Ärzte haben werden. Aber wir stellen fest, daß es in der deutschen Ärzteschaft so etwas wie eine Nord-Süd-Wanderung gibt.
Wir wissen und sehen es täglich und verstehen es, daß ein großer Teil der Ärzte der Sowjetzone in die Bundesrepublik, in die Freiheit wandert, nicht zuletzt, weil sie ihre Söhne nicht ihren Anlagen gemäß ausbilden lassen können. Wir möchten aber keinen Beitrag dazu leisten, daß unsere Brüder und Schwestern drüben in der Sowjetzone künftig noch weniger ärztliche Versorgung haben, als es bisher leider schon der Fall ist.
Ich bin glücklich darüber, daß heute viel weniger, als es ursprünglich zu befürchten stand, das Stichwort „Mißtrauen" gefallen ist. Denn das Mißtrauen ist eine Randerscheinung, ist genauso wie der Mißbrauch in der sozialen Krankenversicherung gottlob eine Randerscheinung geblieben. Das möchte ich extra sagen.
Nun sind wegen gewisser Auswüchse der Werbung für Arzneimittel Sorgen aufgetreten. Ich habe mir von sachverständiger Seite sagen lassen, daß bis zu 90 % der Erzeugnisse, die da und dort als Allheilmittel, als Wundermittel angepriesen werden, gar nicht ärztlich erprobt sind. Allerdings sehe ich keine Möglichkeit, gegen die Werbung irgendwie vorzugehen. Ich glaube, ein solcher Versuch würde sehr rasch in Karlsruhe scheitern. Wir müssen uns überlegen, wie wir eine gewisse Arzneimittelsucht, die es in unserem Volke zweifellos gibt, mit Mitteln des Gesetzes etwas eindämmen können.
Was wir tun müssen, ist, diese Vorlage der Regierung in aller Nüchternheit und in aller Sachlichkeit durchzugehen, vor allem mit dem Ziel, das Gesetz sozial gerecht und praktikabel zu machen.

(Abg. Dr. Schellenberg: Dann müssen wir aber noch viel arbeiten und ändern!)

— Das tun wir gerne, Herr Professor.
Dieser Gesetzentwurf hat, weil er nicht weniger als 80 bis 85 % unseres Volkes direkt berührt, im sogenannten vorparlamentarischen Raum einen sehr großen Wirbel entfacht. Das hat auch gewisse Vorteile. Der Wirbel hat nämlich weite Kreise unseres Volkes mit der Arbeitsweise des Bundestages etwas näher bekanntgemacht. Mir ist in einer Versammlung ein hochgebildeter Mann begegnet, der mir gesagt hat, er sei einmal in diesem Hohen Hause Zeuge einer ersten Lesung gewesen, und da hätten sich Regierung und Opposition auf das heftigste bekämpft, und das Ergebnis dieser ersten Lesung sei Einstimmigkeit gewesen. Der Mann hatte nicht begriffen, daß eine Vorlage, so umstritten sie in erster Lesung immer sein mag, hinterher natürlich einstimmig an die zuständigen Fachausschüsse überwiesen wird. So hat diese Diskussion ein ganz klein bißchen auch die Bedeutung eines staatsbürgerlichen Unterrichts. Wir haben das nicht beabsichtigt; aber es ist ein nicht unwesentliches Resultat einer Auseinandersetzung, von der ich hoffe, daß sie im Parlament von größerer Sachlichkeit getragen sein wird, als es außerhalb des Parlaments bisher leider der Fall gewesen ist.

(Beifall in der Mitte und rechts.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310213100
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hubert.

Dr. Elinor Hubert (SPD):
Rede ID: ID0310213200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß der Herr Kollege Blank unseren Sozialplan so gut kennt und daß er ihn auch zu verwenden scheint.
Herr Kollege Blank, es ist doch verständlich, daß in dieser Schrift, die ja die Schrift von Sozialwissenschaftlern ist und die auf eine Anregung hin erstellt wurde, die allgemeine Sorge — die vor allen anderen wir Ärzte schon lange haben — über den gesteigerten Verbrauch von Arzneimitteln zur Diskussion gestellt wurde. Wir stimmen da durchaus mit Ihnen überein und teilen diese Sorge mit Ihnen; aber, Herr Kollege Blank, wir haben nicht die Schlußfolgerung gezogen, daß wir die Schwerkranken mit einer Gebühr bis zu 3 Mark für die Arzneimittel belegen sollten.

(Bundesminister Blank: Sie wollten sie ganz heraus haben!)

— Nein, Herr Kollege Blank, wir meinten nur, es sollte überlegt werden, ob man nicht die sogenannten Linderungsmittel herausnehmen sollte. Wir wissen, daß sie für die Gesundheit keinen Wert haben, daß sie aber gewissermaßen gewohnheitsmäßig gebraucht werden.
Auch die Frau Kollegin Kalinke hat sich mit unserem Sozialplan beschäftigt. Gewiß, die Zusammenarbeit zwischen den Kollegen in der ärztlichen Praxis und den Gesundheitsämtern — die Kollegen aus der Praxis werden mir sicher recht geben — könnte besser sein. Wir brauchen Gesundheitsvorsorge. Die Gesundheitsvorsorge für den einzelnen Menschen soll beim praktischen Arzt liegen, währen die Untersuchung von Gruppen, besonders auf spezielle Erkrankungen hin, beim Gesundheitsamt bleiben wird. Deshalb wünschten wir eine bessere Zusammenarbeit.
Ich wäre froh, wenn die Frau Kollegin Kalinke — für den Herrn Kollegen Blank kann ich das vielleicht annehmen — ebensogut wie unseren Sozialplan unsere Schrift „Gesundheitssicherung in unserer Zeit", in der auch einiges zu diesen Fragen gesagt ist, kennen würde.
Nun zu dem uns vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung. Ich möchte nur zu gewissen Widersprüchen zwischen Inhalt und Begründung des Entwurfs ein paar Bemerkungen machen. Ich glaube, der Herr Kollege Blank kennt mich dafür, daß ich sehr gern sachlich diskutiere. Aber wenn man das tun will, muß das, was einem vorgelegt wird, natürlich auch sachlich sein. In der Begründung zum Re-



Frau Dr. Hubert
gierungsentwurf lese ich nun - und Herr Blank hat das in seiner mündlichen Begründung noch einmal stark unterstrichen —, daß ein Wesenszug dieses neuen Systems, dieser von ihm vorgelegten Reform der sei: die Beteiligung soll „die Verlagerung des Leistungsschwerpunktes von der kurzen auf die langdauernde schwere Krankheit" bringen. Ich bedauere, daß man hier vor das Wort „kurz" nicht auch das Wort „schwer" eingefügt hat. Dann entspräche die Begründung schon ein wenig mehr dem Inhalt; denn langdauernd und schwer ist keineswegs identisch, sondern langdauernd ist identisch mit chronisch: Es gibt natürlich auch langdauernde schwere Krankheiten. Da hätte nach unserer aller Meinung die Aussteuerung schon lange fallen müssen; denn hier haben sich naturgemäß Fälle ereignet, wo Menschen in die schwerste wirtschaftliche Not geraten sind. Aber es handelt sich — das muß immer wieder festgestellt werden — um einen ganz kleinen Personenkreis. Eine mir vorliegende Schrift beziffert diesen Kreis auf 0,3-1 Prozent der gesamten Versicherungspflichtigen. Es handelt sich um die Schrift „Soziale Ordnung, Christlich-Demokratische Blätter der Arbeit", die, wie ich glaube, nicht im Verdacht steht, sozialdemokratisch infiltriert zu sein. Es geht darum, diesem kleinen Kreis eine ganz selbstverständliche Erleichterung und Verbesserung zu bringen.

(Abg. Winkelheide: Aber dieser Kreis ist auch schwerkrank! Man soll nicht die Zahl, sondern den Menschen werten!)

— Das bestreitet niemand! Ich habe ja auch gesagt, daß es nicht um 'die Zahl geht. Ich habe gesagt, daß diese Aussteuerung schon lange fallen mußte. Dazu brauchen wir aber nicht diese Reform, das konnten wir im Rahmen unserer bisherigen Krankenversicherung auch erreichen.
Was geschieht denn nun bei den übrigen schweren Krankheiten? Jeder Kranke soll in Zukunft gemäß dem Gesetzentwurf 1,50 DM für jede ärztliche Leistung bezahlen. Die Begründung hierfür haben wir heute noch einmal gehört. Das bedeutet, daß nach diesem Gesetzentwurf bei allen schweren Krankheiten, wie z. B. bei einer Lungenentzündung oder einer Diphtherie — Sie werden mir zugeben, daß das schwere Erkrankungen sind — Zuzahlungen von 24, 34 bis 40 Mark erforderlich sein werden.

(Abg. Stingl: Aber, Frau Hubert, Sie wissen doch, daß man nicht Äpfel und Birnen zusammenzählen darf! Das ist doch wirklich eines Arztes, der hier spricht, unwürdig!)

Nein, nein! Ich zähle nicht Äpfel und Birnen zusammen, sondern ich habe mir sehr genau ausgerechnet, wieviel ärztliche Besuche — —

(Abg. Stingl: Ja, wenn Sie nach der Preugo rechnen!)

Ich nehme an, daß auch die neue Gebührenordnung, die allerdings immer wieder in Geheimnis gehüllt wird, den Hausbesuch des Arztes als eine Leistung werten wird.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310213300
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Dr. Hubert?

Dr. Elinor Hubert (SPD):
Rede ID: ID0310213400
Bitte!

Margot Kalinke (CDU):
Rede ID: ID0310213500
Vielleicht darf ich zwei Fragen zugleich stellen. Frau Kollegin, Sie kennen doch die Gebührenordnung genauso wenig wie ich und können deshalb doch nur ahnen oder mit viel Phantasie vermuten, was geschieht. Haben Sie nicht gehört, daß alle Sprecher — Herr Kollege Stingl und ich jedenfalls ganz bestimmt, und auch der Herr Minister — gesagt haben, daß wir uns gerade in dieser Frage zusammensetzen wollen, um etwas Vernünftiges zu erreichen? Meine zweite Frage lautet: Sind Sie der Meinung, Frau Kollegin, daß das System, welches die Ärzte vorgeschlagen haben, nämlich die Einführung einer Kostenerstattung — mit dem Schreiben von Rechnungen zumindest bei den Freiwilligen — für 31/2 Millionen Versicherte praktisch überhaupt von keinem Arzt zu verwirklichen ist? Würden Sie so liebenswürdig sein, diese beiden Fragen zu beantworten?

Dr. Elinor Hubert (SPD):
Rede ID: ID0310213600
Frau Kollegin, Sie wissen genau, daß wir Sozialdemokraten niemals das Kostenerstattungssystem vorgeschlagen haben. Das ist die Beantwortung Ihrer zweiten Frage. Zu Ihrer ersten Frage möchte ich folgendes sagen. Mir liegt hier ein Blatt vor, das die Bundesregierung auf einer Pressekonferenz herausgegeben hat, auf der sie den Satz für Zuzahlungen in der Gebührenordnung in etwa klargelegt hat. Da ist z. B. eine Herzinsuffizienz mit acht Zuzahlungen angegeben, das wären achtmal 1,50 DM; das sind immerhin 12 DM. Dann kommen noch etwa 3 DM Gebühren für Arznei dazu, im ganzen also 15 DM. Das wäre die Zuzahlung bei dieser Position.

(Abg. Stingl: In welchem Zeitraum?)

— Im Zeitraum von weniger als sechs Wochen. Alle diese schweren Krankheiten dauern ja meistens nicht länger als sechs Wochen. Nicht einmal ein Herzinfarkt — das habe ich an mir selber erfahren — braucht mehr als sechs Wochen ärztliche Behandlung. Wenn ich im übrigen sehe, wie gering hier zum Teil diese Positionen bewertet sind, dann gerate ich auch in Zweifel, ob diese Zuzahlung bei einer Herzinsuffizienz richtig ist, wenn ich nämlich oben lese, daß für ein Ekzem am Bein nur eine einzige Zuzahlung erfolgen soll. Wir alle wissen, daß ein Ekzem eine der langwierigsten und hartnäckigsten Krankheiten ist.

(Abg. Stingl: Frau Kollegin, ist jedes Ekzem gleich?)

— Nein, aber jedes Ekzem ist — — (Lebhafte Zurufe und Gegenrufe.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310213700
Meine Damen und Herren, wir kommen hier in eine detaillierte Diskussion, die über den Rahmen der ersten Lesung hinausgeht.

(Zuruf des Abg. Stingl.)

— Ihre Zwischenrufe machen es auch nicht besser.

(Abg. Stingl: Aber Zwischenrufe passen immer zum Redner!)




Vizepräsident Dr. Becker
Außerdem debattieren Sie über eine völlig imaginäre Gebührenordnung.

(Abg. Stingl: Darauf wollte ich hinweisen!)


Dr. Elinor Hubert (SPD):
Rede ID: ID0310213800
Aber selbst wenn Sie, nachdem Herr Minister Blank auf dem Eis, auf das ihn seine Referenten geführt haben, etwas unsicher geworden ist, die Zuzahlung auf 15 DM begrenzen wollen, sieht Ihre Leistungsverlagerung immerhin so aus, daß alle diese schweren Krankheiten mit 15 DM belastet werden sollen. Das können Sie doch nicht leugnen, und da können Sie doch nicht so tun, als würden die schweren Krankheiten nicht belastet.

(Beifall bei der SPD.)

Das ist es, was ich so sehr bedauere, daß man hier nicht klar sagt, was ist, daß die Begründung einfach nicht mit dem Gesetzentwurf übereinstimmt. Von dieser Belastung werden also mehr als 90 % aller Versicherten betroffen, die eine solche schwere Krankheit von nicht mehr als sechs Wochen Dauer erleiden.
Nun wird gesagt, diese Gebühr solle die Selbstverantwortung heben und dem Versicherten den Wert der Leistung des Arztes vor Augen führen. Ich muß sagen, daß es nach meinen Erfahrungen in meiner Praxis einer solchen Zuzahlung nie bedurft hätte und daß ich auch unter meinen Kassenpatienten mindestens so viele wie unter den Privatpatienten gehabt habe, die den Wert der ärztlichen Leistung durchaus gewürdigt und dankbar anerkannt haben.

(Beifall bei der SPD.)

Ich glaube, meine ärztlichen Kollegen werden mir bestätigen, daß es auch bei ihnen so ist.
Herr Kollege Stammberger hat vorhin gemeint, daß der Versicherte nicht mehr den Wert der Gesundheit schätze und nicht mehr wisse, was sie bedeute. Das ist doch vom grünen Tisch aus gesprochen; das können wir Ärzte doch keineswegs bestätigen.
Diese Gebühr soll das Zimmer des Arztes angeblich von den sogenannten Bagatellfällen freimachen. Ich wäre wirklich dankbar, wenn dieses unsinnige Wort vom Bagatellfall verschwände. Was ist denn ein Bagatellfall? Ob ein Fall ein Bagatellfall ist, d. h. so leicht ist, daß man vielleicht nicht zum Arzt hätte zu gehen brauchen, vermag doch nur der Arzt und niemals der Versicherte festzustellen.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Hiermit wird doch dem Versicherten eine Verantwortung aufgebürdet, die er gar nicht tragen kann.

(Zustimmung bei der SPD.)

Herr Staatssekretär Claussen hat in einer Ärzteversammlung — ich glaube, in Hameln — gemeint, man sollte erst einmal versuchen, sich mit Hausmitteln zu kurieren.

(Lachen und Zuruf bei der SPD: Löwenzahn!)

Herr Staatssekretär, wir sind ja nicht mehr im 19. Jahrhundert, sondern im 20. Jahrhundert. Wir sollten doch auch ein Interesse daran haben, daß die Menschen rechtzeitig zum Arzt gehen. Sie lasten mit der Gebühr von 1,50 DM für jede ärztliche Leistung auch das Risiko der Diagnose immer schon dem Patienten auf. Es ist keineswegs so, daß die Diagnose bei einer ersten ärztlichen Untersuchung immer gestellt werden kann. Sehr oft bedarf es zwei-, dreimaliger Gänge zum Arzt — ich weiß nicht, ob Sie das in Ihrer Gebührenordnung alles in eins einbeziehen wollen — oder auch zwei-, dreimaliger Hausbesuche des Arztes, ehe überhaupt die Behandlung beginnen kann. Das geht alles zu Lasten des Patienten.
Auch Sie stellen in Ihrem Gesetzentwurf fest, daß für die Gesundheitsvorsorge etwas getan werden muß. Mein Kollege Schellenberg hat schon gesagt, daß wir das, was der Entwurf enthält, für reichlich ungenügend halten. Aber, Herr Claussen, eine Inanspruchnahmegebühr, die, wie Sie sagen, den Patienten zur „Besonnenheit bei Inanspruchnahme des Arztes" anhalten soll, wirkt doch einer solchen Vorsorge geradezu entgegen. Denn in dem einen Fall sage ich dem Patienten: Gehe sogar, wenn du noch nicht krank bist — in Ihrem Entwurf leider erst nach dem 40. Lebensjahr — einmal zum Arzt!, und im anderen Fall soll jemand, der sich irgendwie nicht wohlfühlt, vom Gang zum Arzt durch die Überlegung: „Es kostet 1,50 DM", abgehalten werden.
Ich glaube nicht, daß Sie damit die Sprechzimmer der Ärzte leerer machen. Ich glaube nicht, daß Sie damit erreichen, daß der Arzt mehr Zeit hat. In der ganzen Welt gibt es überfüllte Arztsprechzimmer. Das liegt auch daran, daß gewisse Ärzte eine Anziehungskraft auf die Patienten ausüben, und da sind die Sprechzimmer überfüllt. Im übrigen wird der Hypochonder oder derjenige, der sich eben nur krankschreiben lassen will, die 1,50 DM immer zahlen. Aber derjenige, der wirklich krank ist oder eine beginnende Krankheit spürt, der wird belastet.
Genauso wie Sie in Ihrer Begründung bei Ihrem Kerngedanken der Schwerpunktverlagerung verhüllen, was eigentlich im Gesetz steht, genauso machen Sie das mit dem kontrollärztlichen System, das Sie schamhaft „Beratungsärztlicher Dienst" nennen. Sie wollen eine Honorierung des Arztes entsprechend der Qualität seiner Leistung. Das ist sehr lobenswert. Aber der Preis, den Sie dafür von dem Arzt verlangen, den wird, glaube ich, kein Arzt zahlen wollen. Denn dieses kontrollärztliche System entspricht nicht nur — wie der Kollege Ruf meinte — dem, was wir früher schon gehabt haben, sondern es greift ganz intensiv in das Verhältnis ÄrztPatient ein. Die Krankschreibung ist eine der wichtigsten therapeutischen Maßnahmen des Arztes. Die Krankschreibung soll nun kontrolliert werden. Dazu heißt es in § 407 — nach der Bestimmung über die sofortige Meldung —:
Der Beratungsarzt ist verpflichtet, in der erforderlichen Weise laufend zu überprüfen
— laufend zu überprüfen! —



Frau Dr. Hubert
ob die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch weiterhin vorliegen.
Ob das noch irgend etwas mit Beratung zu tun hat, weiß ich wirklich nicht. Man soll das Kind doch beim Namen nennen. Dann soll man doch sagen: man ist von allgemeinem Mißtrauen gegen Arzt und Patienten erfüllt. Man ist der Meinung, daß ein überwältigend großer Prozentsatz der Patienten sich krank schreiben läßt, nur um der Arbeit fernzubleiben. Das ist doch eine Unterstellung, auf die man einen Gesetzentwurf nicht gründen kann. Wenn der Arzt einen Patienten krank schreibt, so muß er ihn auch in seiner eigenen Verantwortung wieder gesund schreiben, nicht überwacht von einem Kontrollarzt, der ihm die eigentliche ärztliche Entscheidungsfreiheit vollständig nimmt.
Es geht hier nicht so sehr um die Honorierung der ärztlichen Leistung. Diese Frage kann in jedem System befriedigend gelöst werden. Es geht um die Entscheidungsfreiheit des Arztes gegenüber seinem Patienten, und es geht um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Wo bleibt denn dieses Vertrauensverhältnis, wenn sich jederzeit ein Dritter, nämlich der Kontrollarzt, dazwischenstellt, der Gutachten abzugeben hat, der den Patienten zu überwachen hat? Wo bleibt das Arztgeheimnis gewahrt, wenn der Kontrollarzt dazwischentritt?
Herr Kollege Blank und vor allen Dingen die CDU haben bei diesem Gesetz in verschiedener Beziehung schon Rückzieher gemacht. Wir sind der Meinung, daß dieses Gesetz in seinem System falsch angelegt ist. Das System muß geändert werden. Es geht nicht, daß man den kontrollärztlichen Dienst und die Ananspruchnahmegebühr aufrechterhalten will. Ich hoffe, die Debatten im Ausschuß werden dahin führen, daß diese beiden vorgeschlagenen Maßnahmen von den Abgeordneten des Bundestages vom Tisch gefegt werden.

(Beifall bei der SPD.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310213900
Das Wort hat der Abgeordnete Schneider (Hamburg).

Georg Schneider (CDU):
Rede ID: ID0310214000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte zunächst um Nachsicht, wenn ich den Reigen der offiziellen Fraktionsredner etwas unterbreche und sozusagen als „wilder" Redner hier auftrete,

(Zuruf von der CDU/CSU: Hoffentlich nicht!)

das heißt für mich ganz persönlich als Abgeordneter spreche. Vielleicht kann das den Verhandlungsstil im Bundestag etwas beleben.

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Aber nicht wild!)

— Nein, der Inhalt der Rede wird hoffentlich nicht wild sein, auch nicht der Stil.

(Zurufe: „Hoffentlich"?!)

— Ich kann nur Hoffnungen aussprechen. Das Urteil darüber, wie es gewesen ist, muß ich natürlich Ihnen überlassen.
Ich will Ihnen keine sozialversicherungsphilosophische Rede halten, ich will Ihnen auch keine gesellschaftspolitische Rede halten. Das ist hier schon in sehr breitem Ausmaße von einigen Rednern getan worden. Ich möchte nur in ganz bescheidener Weise als schlichter Abgeordneter eines Wahlkreises in Hamburg einmal sagen, wie ich persönlich aus meiner sozialpolitischen Sicht, in sehr enger Fühlungnahme mit den Wählern meines Wahlkreises, zu den Dingen stehe. Ich bitte Sie, meine Rede als einen Beitrag sowohl für die Diskussion im Plenum als auch für die Beratung im Sozialpolitischen Ausschuß zu werten.
Mit einer rührenden Liebe und mit einem Fleiß sondergleichen hat das Bundesarbeitsministerium in einem ganz neuen Stil vor Einbringung des Gesetzentwurfes mit allen möglichen interessierten Kreisen über die Gedanken, die ihm für diese Gesetzesmaterie vorschweben, diskutiert. Nun ist der Gesetzentwurf der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, ursprünglich der sogenannte Referentenentwurf. Erneut mit rührender Geduld haben das Bundesarbeitsministerium und auch der Herr Bundesarbeitsminister persönlich immer wieder diskutiert. Man kann es nur begrüßen, daß das geschehen ist. Das ist das Gute bei der ganzen Materie, die wir heute behandeln.
Das zweite Gute ist — das möchte ich an den Anfang meiner weiteren Ausführungen stellen —, daß ganz wesentliche Leistungsverbesserungen nach diesem Gesetzentwurf nunmehr für alle Krankenkassen gesetzlich rechtens sein sollen. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß viele Kassen, nicht nur die Angestelltenersatzkassen, nicht nur die Ersatzkassen überhaupt, sondern auch viele andere Krankenkassen diese Leistungsverbesserungen ganz oder teilweise schon bisher satzungsgemäß gewährt haben. Jetzt aber soll ein gesetzlicher Anspruch auf diese Leistungsverbesserungen gegeben werden. Schon immer ist bei der Novellierung des Krankenversicherungsrechts so verfahren worden, daß man das, was sich individuell bei verschiedenen Kassenarten organisch entwickelt und in der Krankenversicherung mehr und mehr durchgesetzt hatte, zum Inhalt des gesetzlichen Leistungsrechtes machte, so daß die Leistungsverbesserungen auch noch für den letzten Rest der Kassen Gültigkeit bekamen.
Der Gesetzentwurf stellt also — das sollte nicht untergehen — eine weitere Vervollkommnung unserer sozialen Krankenversicherung dar. Und trotzdem ein allgemeiner Ansturm gegen diesen Gesetzentwurf! Für die Frage, wie das möglich gewesen ist, habe ich persönlich nur eine Erklärung. Ich sehe sie darin, daß man das sehr Gute, das ich eben erwähnt habe, mit weniger Gutem verbunden hat, so daß jetzt das weniger Gute oder das, wie der eine oder der andere sagen mag, Schlechte ganz im Vordergrund steht und das sehr Gute beinahe gar nicht mehr zu sehen ist. Trotzdem möchte ich Sie warnen, den Sturm, der seit Wochen und Monaten durch die Lande geht und der auch mit dem heutigen Tag nicht abgeschlossen sein wird, zu verharmlosen. Das wäre sehr bequem. Dieser Sturm sollte uns nachdenklich stimmen.



Schneider (Hamburg)

Wir sollten auch nicht so leichtfertige Redensarten gebrauchen wie die, das seien nur die Funktionäre. Letzten Endes wird man uns sagen: „Auch Sie im Bundestag sind ja nur Funktionäre; Sie repräsentieren auch nur Ihre Wähler, genauso wie wir, die Funktionäre, unsere Auftraggeber repräsentieren!" Also auch das Wort von den Funktionären würde ich lieber nicht hören.
Nun die Frage, welches denn die Gründe für diesen geballten Sturm gegen den Gesetzentwurf sind! Das ist aus der heutigen Debatte hervorgegangen. Man braucht kein besonders kluger Mensch zu sein, um herauszufinden, daß die Gründe in der nun einmal von manchen vermaledeiten Beteiligung an den Arzt- und Arzneikosten liegen. Ich frage mich persönlich: hat das Bundesarbeitsministerium, hat die Bundesregierung es nötig gehabt, diesen Sturm der Entrüstung von Menschen, die mehr zahlen sollen — und Menschen, die mehr zahlen sollen, entrüsten sich immer —, auf sich zu konzentrieren? In der ganzen Geschichte der sozialen Krankenversicherung ist man immer so verfahren, daß man diesen Sturm in sehr kluger Weise dezentralisiert hat. Da tobten kleine Stürmchen in den jeweiligen, jetzt über 2000 Kassen, wenn nämlich diese Kassen bei gesetzlich verfügten Leistungsverbesserungen satzungsmäßig daran gehen mußten, die Frage zu lösen: wer soll das bezahlen? Die Frage haben die Selbstverwaltungen der Krankenkassen in den vergangenen Jahrzehnten wunderbar gelöst. Der Sturm wurde, so möchte ich mich etwas neckisch ausdrücken, „dezentralisiert". Warum das I in dem vorliegenden Fall nicht geschehen ist, worin der Ehrgeiz begründet ist, den Sturm auf dieses Haus zu konzentrieren, ist mir im Augenblick noch völlig unklar.
Nun sagt man, es handele sich nicht nur um eine Kostenfrage, sondern man wolle auch einen erzieherischen Effekt erzielen, damit die Kassen nicht so ausgenützt würden, wie es durch einen Teil der Versicherten geschehe, und damit die Versicherten nicht in den sogenannten Bagatellfällen zum Arzt gingen. Das ist sehr umstritten. Ich möchte sagen, man versucht hier, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Denn auf der einen Seite ist zwar gewiß nicht abzustreiten, daß ein Teil der Versicherten bewußt oder unbewußt die Krankenkasse mißbraucht. Aber wenn wir nunmehr den Riegel der Kostenbeteiligung vorschieben, wissen wir noch lange nicht, ob wir dann immer „den Richtigen" treffen und ob sich derjenige, der die Kasse aus Eigensucht ausnutzen möchte, durch einige Mark von dieser Ausnützung abhalten läßt. Wir müssen vielmehr befürchten — und es kann niemand beweisen, daß das nicht so sein kann —, daß mancher, der mit dem Groschen, mit der Mark buchstäblich rechnen muß, sich, obwohl es wichtig wäre, zum Arzt zu gehen, nunmehr nicht mehr zum Arzt begibt, weil er eben die Kosten scheut. Das nenne ich: den Teufel mit Beelzebub austreiben.
Der zweite Grund für den Sturm der Entrüstung ist meiner Ansicht nach, daß man die bewährte Selbstverwaltung der Krankenkassen praktisch aufhebt. Wenn das gemacht wird, wenn der Entwurf
in diesem Punkte Wirklichkeit wird, ist es ein riesiger Schritt auf dem Wege zur Einheitskrankenversicherung. Haben wir aber erst einmal die Einheitskrankenversicherung, dann ist das ideale Ziel gewisser politischer Anschauungen erreicht, und wir haben die Einheitsversicherung überhaupt. Das wollen wir doch nicht, mindestens will ich das nicht aus meiner politischen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Man engt die Selbstverwaltung in einem Maße ein, daß sie kaum noch wird atmen können. Ein starker Zug zum Staatsdirigismus, zur Zentralisierung, zur Uniformierung geht durch den ganzen Gesetzentwurf, soweit es sich um Aufgaben der Krankenkassen handelt.
Nun zur Selbstbeteiligung! Man sagt, das seien Bagatellbeträge. Nach der Statistik betrug der Durchschnittsbruttoverdienst der rentenversicherten Arbeitnehmer im Jahre 1958 440 DM im Monat. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die noch viel weniger als 440 DM im Monat verdienen. Für diese Menschen stellen 1, 2, 10, 15, 20, auch 30 DM, die dann praktisch herauskommen, eine ganz gewaltige Summe dar. Diese Menschen sind nicht in der glücklichen Lage wie ein kleiner Teil des Volkes, den Groschen und die Mark, vielleicht auch den Zehnmarkschein nicht erst ein paarmal herumdrehen zu müssen, ehe man ihn ausgibt. Man sollte also hier nicht von Bagatellbeträgen sprechen.
Dann die Einengung der Selbstverwaltung! Bisher hatte die Aufsicht nur darüber zu wachen, daß Gesetz und Satzung eingehalten wurden. Jetzt kommt als dritte Aufgabe der Aufsichtsbehörde hinzu, über die Zweckmäßigkeit der Maßnahmen der jeweiligen Krankenkasse zu bestimmen. Nach diesem Gesetzentwurf weiß es also der Grüne Tisch in der Zentrale besser als die Krankenkasse mit ihren selbstgewählten Selbstverwaltungsorganen, die sozusagen ganz nahe am Pulsschlag der Versicherten sind.

(Zuruf von der SPD: Und das alles von Ihrem Minister!)

— Darauf kommt es praktisch nicht an.

(Widerspruch und Lachen bei der SPD.)

Sie können daran sehen, welche Freiheit der Entscheidung bei uns im Gegensatz zu Ihrer Partei herrscht. Hier kann ein Redner der CDU auftreten und sagen, was er persönlich denkt, auch wenn es nicht hundertprozentig mit dem übereinstimmt, was in der CDU offizielle Meinung ist, obwohl ich meinen Freund Stingl so verstanden habe, daß er selber Gedanken, die ich hier ausspreche, nicht von vornherein als nicht dikutierbar hingestellt hat. Ich habe meinen Freund Stingl, den offiziellen Fraktionsredner, aber auch meinen Freund Dr. Franz von der speziellen Landesgruppe der CSU

(Heiterkeit bei der SPD)

dahin verstanden, daß wir alles aufnehmen, was hier an klugen und vielleicht auch an nicht klugen Gedanken geboten wird.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310214100
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?




Georg Schneider (CDU):
Rede ID: ID0310214200
Bitte sehr!

Holger Börner (SPD):
Rede ID: ID0310214300
Herr Kollege, Sie haben soeben sehr deutlich den Bruttoarbeitsverdienst eines großen Teiles unseres Volkes genannt. Geht die Freiheit in Ihrer Partei auch so weit, daß Sie sich zu einer klaren Ablehnung der sogenannten Selbstbeteiligung durchringen könnten?

Georg Schneider (CDU):
Rede ID: ID0310214400
Als alter Kollege kann ich Ihnen den Rat geben: Man soll im Leben niemals „niemals" sagen. Deswegen kann ich Ihnen diese präzise Frage nicht so präzise beantworten, wie Sie sie gestellt haben.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Im übrigen bin ich überzeugt, daß Sie sich in der Endabstimmung über dieses Gesetz, das hoffentlich ein gutes Gesetz wird, ganz anders verhalten werden, als Sie sich vielleicht verhalten würden, wenn Sie jetzt abzustimmen hätten. Ich hatte eingangs gesagt, ich könnte mir denken, daß es zu einer lebendigeren Verhandlungssprache führt, wenn auch einmal ein „wilder" Redner auftritt. Ich bin kein „Wilder" im parlamentarischen Sinne, sondern durchaus fraktionsgebunden. Aber ich rede jetzt einmal als „Wilder", und da habe ich scherzhaft gesagt: Vielleicht wäre es ganz gut, wenn es auch andere einmal machten.
Nun, es ist vielleicht besser, wenn Sie darauf verzichten, Zwischenfragen zu stellen. Ich hatte nämlich nur vor, ganz wenige Minuten zu sprechen, aber infolge solcher Zwischenfragen dauert es dann leider etwas länger.
Zurück zur Einengung der Selbstverwaltung. Wir haben einen sehr gut funktionierenden vertrauensärztlichen Gemeinschaftdienst der Rentenversicherungen und der Krankenkassen. Der Vater dieser Einrichtung ist unser verehrter Staatssekretär Dr. Sauerborn gewesen. Die Einrichtung hat sich bewährt. Mir persönlich will es deshalb nicht behagen, daß man jetzt auf einmal diese bewährte Einrichtung auf gesetzlicher und Selbstverwaltungsbasis durch einen Beratungsärztlichen Dienst ersetzen will, daß man neue Körperschaften öffentlichen Rechts mit beamteten Ärzten schaffen will und dann noch ein Mißtrauen hineinbringt gegenüber dem Arzt, der den Patienten behandelt, und dem Patienten, indem man ihn zwingt, sich nach zwei Tagen beim Beratungsärztlichen Dienst zu melden, wenn er arbeitsunfähig ist. Sie können überzeugt sein, Herr Kollege, daß ich mich innerhalb meiner Fraktion im Sinne dieser Ausführungen einsetzen werde, allerdings nicht etwa mit der Sturheit, unbedingt recht behalten zu wollen; wenn ich eines besseren belehrt werde, will ich mich durchaus der besseren Erkenntnis fügen.
Ich frage mich ferner, warum das Selbstverwaltungsrecht der Krankenkassen dadurch beschränkt werden soll, daß man nunmehr das Vertragsrecht, das sich meiner Meinung nach bewährt hat, außerordentlich einengt. Ich möchte diese Frage nur in die Debatte werfen.
Ich weiß auch nicht, weshalb man den Kreis der freiwillig Weiterversicherten einengen will. Hat man denn keine Ahnung von dem Grad der Verbundenheit des einzelnen Versicherten mit „seiner" Kasse? Der Versicherte empfindet diese Verbundenheit und möchte sie behalten, auch wenn er durch die Überschreitung der Pflichtversicherungsgrenze nicht mehr Pflichtversicherter ist. Er möchte sich dann freiwillig weiterversichern. Man sollte diese gute Übung beibehalten.
Nun wird gesagt: Diese freiwillig Versicherten sind doch Menschen, die Kassenleistungen auf Kosten der Pflichtversicherten in Anspruch nehmen. Soweit die Ersatzkrankenkassen der Angestellten in Frage kommen, kann ich nur sagen, daß die Beiträge der freiwillig Weiterversicherten in der letzten Zeit sehr stark erhöht worden sind, so daß man nicht mehr behaupten kann, Beitrag und Leistung stünden in einem Mißverhältnis. Im übrigen: wenn sich etwa herausstellen sollte, daß bei der einen oder anderen Kasse noch etwas zu reparieren ist, muß eben erneut eine Beitragserhöhung für die freiwillig Weiterversicherten erfolgen.
Es sollte auch geprüft werden, ob nicht dem Arbeitgeber die Pflicht aufzuerlegen ist, dem freiwillig Weiterversicherten auf Anforderung den halben Beitrag — natürlich im Rahmen einer bestimmten Einkommensgrenze — zurückzuerstatten; sonst kann es nämlich passieren, daß eine sehr große Zahl von Angestellten, indem sie die Versicherungspflichtgrenze überschreiten, weniger Nettoeinkommen haben als vorher, weil ihnen nunmehr der halbe Beitrag nicht mehr vom Arbeitgeber gezahlt wird.
Ich habe auch meine eigenen Gedanken über die Pflichtversicherungsgrenze. Mein Kollege Stingl als Fraktionssprecher hat schon angedeutet, daß darüber noch zu sprechen sein wird. Ich glaube, daß die jetzige Grenze von 660 DM zu niedrig ist. Wir erfassen damit nicht mehr den Kreis der Schutzbedürftigen, den wir noch vor zwei Jahren innerhalb dieser Grenze erfaßt haben. Es sind eben weitere Versicherte ausgeschieden worden, und man möchte doch mindestens den Kreis der Menschen, die infolge des veränderten Lohn- und Preisgefüges die Pflichtversicherungsgrenze überschritten haben, wieder „einfangen", um es einmal scherzhaft auszudrücken.
Ich habe überhaupt den Eindruck, daß zuviel von Reform gesprochen und im Gesetzentwurf auch geschrieben worden ist. Man geht z. B. so weit, in einer relativ nebensächlichen Frage zu reformieren, indem man, wenn man von Arbeitnehmern spricht, in Klammern hinzufügt „Arbeiter und Angestellte", weil ja die Beamten, die bekanntlich unter den Begriff des Arbeitnehmers fallen, von diesem Gesetzentwurf nicht betroffen werden. Ich weiß nicht, ob es nicht einfacher gewesen wäre, wenn man von Anfang an gesagt hätte „Arbeiter und Angestellte", anstatt in der Klammer zu erklären, was man meint. Ich sage noch einmal: das ist keine sehr wichtige Frage. Aber es beweist immerhin, wie man im Gesetzentwurf da und dort herumgezupft hat und wie man zum Teil auch einzelne grundsätzliche Dinge völlig anders angefaßt hat.



Schneider (Hamburg)

Die ganze Tendenz des Gesetzentwurfs in bezug auf die Selbstverwaltung zielt auf eine Vereinheitlichung. Statt die Krankenversicherung zu gliedern, versucht man immer mehr, sie zu zentralisieren. Die Krankenversicherung ist nur noch dem Namen nach gegliedert. Sie ist am Ende nur noch eine eingegliederte, aber keine gegliederte Versicherung mehr. Man sollte auch da den Bedürfnissen der Wirklichkeit Rechnung tragen.
Warum soll z. B. nicht wieder die alte Übung von vor 1933, bevor Hitler kam, eingeführt werden, indem man genossenschaftliche Krankenkassen zuläßt? Diese genossenschaftliche Form hatten bekanntlich, bis Hitler kam, auch die Ersatzkassen, darunter ebenfalls die Angestelltenkrankenkassen. Warum sollte man nicht unter bestimmten Bedingungen wieder die Möglichkeit schaffen können, daß sich solche genossenschaftlichen Hilfseinrichtungen als Krankenkassen auftun?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310214500
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Georg Schneider (CDU):
Rede ID: ID0310214600
Bitte! Vizepräsident Dr. Becker: Bitte, Frau Kalinke!

Margot Kalinke (CDU):
Rede ID: ID0310214700
Herr Kollege Schneider, sind Sie wirklich der Auffassung, daß die Ersatzkrankenkassen wieder Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit werden wollen? Es muß doch auch Ihnen be) kannt sein, daß sie selber gar nicht die Absicht haben. Die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit waren doch die Vorgänger der Ersatzkassen!

Georg Schneider (CDU):
Rede ID: ID0310214800
Verehrte Frau Kollegin Kalinke, in die Falle gehe ich nicht; dazu bin ich ein viel zu schlauer Fuchs! Ich weiß schon, warum Sie die Frage gestellt haben. Ich habe nicht von einer Veränderung des gegenwärtigen Zustandes der Ersatzkassen gesprochen, sondern ich habe nur davon gesprochen, daß wir nicht die Gliederung beseitigen sollten. Ich sehe eine weitgehende Beseitigung der gegliederten Krankenversicherung durch den hier vorliegenden Entwurf voraus.

(Zuruf: Wo steht denn das?)

Ich meine im Gegenteil, wir sollten die Gliederung noch vervielfachen, weil ein praktisches Bedürfnis dafür vorhanden ist. In dem Zusammenhang habe ich die Frage aufgeworfen, ob man nicht im Zuge der Neuzulassung solcher Kassen dann auch die früher sehr bewährten genossenschaftlichen Kassen zulassen sollte. Das ist die klare Antwort auf die Frage, die Sie gestellt haben. Ich habe also nicht von den jetzigen Kassen gesprochen, sondern von neuen Kassen, die nach meinem Wunsch wieder entstehen sollten.
Da aber sage ich Ihnen gleich: ich werde mich dagegen wehren, daß solche Kassen unbedingt den Rechtsstatus einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft haben sollen. Wenn sie ihn durchaus haben wollen, meinetwegen! Aber es sollte dann dem beteiligten
Personenkreis überlassen sein, welchen Status er wählt. Ich könnte mir nach den Erfahrungen mit den früheren Rechtsformen der Angestellten-Krankenversicherung denken — ich denke jedoch nicht allein an die Angestellten, sondern an den Gesamtkreis der Versicherten —, daß man diese sehr bewährte Form wählt.
Ich komme zum Schluß meiner Ausführungen.

(Zuruf von der SPD: Bravo!)

— Sie können sich nicht beklagen; ich war einer der kürzesten Redner. Ich rede seit zwei Jahren heute zum erstenmal wieder im Plenum. Ich bin einer der „sparsamsten" Redner hier im Plenum. Also mir brauchen Sie solche Zwischenrufe nicht zu machen; sie sind nicht gerade sehr artig.
Ich komme also zum Schluß und stelle nochmals heraus: begrüßenswert sind an dem Gesetzentwurf die ganz offensichtlichen Leistungsverbesserungen für die langfristig Kranken, nicht allein für die Schwerkranken, sondern für die langfristig Kranken; des weiteren ist begrüßenswert, daß das Vakuum zwischen Krankheit und Rentenbezug beseitigt wird; des weiteren, daß nunmehr die ganze Familie von der Krankenversicherung erfaßt wird — ein ganz gewaltiger Fortschritt —; des weiteren, daß nunmehr alle Ärzte zugelassen werden und daß sich der Versicherte nunmehr in einer echten freien Arztwahl den Arzt seines Vertrauens aussuchen kann.
Begrüßenswert sind ,die nunmehr als Pflichtleistung vorgesehenen Vorsorgeuntersuchungen. Ich übersehe allerdings nicht, daß viele Kassen solche Vorsorgeuntersuchungen schon praktiziert haben; aber das waren Kann-Leistungen. Nunmehr ist es eine Pflicht-Leistung, und jeder Versicherte kann von dieser Pflicht-Leistung Gebrauch machen. Ich denke dabei auch an die Wohltat des vollen Zahnersatzes,

(Abg. Dr. Schellenberg: Notwendiger Zahnersatz!)

der unter bestimmten Bedingungen gewährt wird. — Herr Professor Schellenberg, Sie sind ja kein Demagoge; Sie werden zugeben müssen: es sind ganz gewaltige Verbesserungen des Leistungsrechts der Krankenversicherung.

(Abg. Dr. Schellenberg: 5 % des gesamten Leistungsaufwandes!)

— Wenn wir von Solidarität sprechen, dürfen wir
nicht sagen: „Weil nur 5 Prozent praktisch eine Leistungsverbesserung bekommen, wollen wir" usw.

(Zurufe von der SPD.)

Das ist der soziale Gedanke in der Krankenversicherung und auch in der Rentenversicherung, daß einer für alle und alle für einen einstehen. Daran wollen wir nicht rütteln. Sie könnten auch mit den ein bis zwei Prozent langfristig Kranken kommen; da könnte man auch sagen: „Wegen dieser ein bis zwei Prozent langfristig Kranken machen wir einen Radau!" Jawohl, die anderen haben für die Leute einzustehen. Das wollen Sie ja auch. Nur bin ich der Meinung, man sollte dann für diesen Zweck



Schneider (Hamburg)

nicht den Beitrag für die kranken Versicherten, man sollte ihn dann für alle Versicherten erhöhen. Das wäre versicherungsgerecht. Der hier vorgesehene Weg — da komme ich wieder auf die Beteiligung zurück — ist nicht mehr versicherungsgerecht, sondern nach meinem Gefühl versicherungsungerecht. Nicht den Kranken darf ich den Beitrag erhöhen, sondern den Versicherten. Dann verteilt sich die Last auf sehr viele.
Es sind, wie gesagt, noch Forderungen zu erheben. Ich möchte sie am Schluß noch einmal zusammenfassen.
Die Aufbringung der erhöhten Kasten sollte nicht zentralistisch erfolgen. Überlasse man das einmal den Selbstverwaltungen, die in all den Jahrzehnten mit diesem Problem fertiggeworden sind. Mir hat kürzlich eine Kasse gesagt: „Wir brauchen keine Beitragserhöhung; wir übernehmen alle diese Lasten. Wir brauchen es nicht." Wie sie es verkraften, ist ihre Sache.
Des weiteren sollten wir aus dem Gesetzentwurf alles beseitigen, was weniger Selbstverwaltung bedeutet. Ja, wenn es geht, sollten wir den Umfang der Selbstverwaltung noch erweitern.
Die bewährte weitgehende Gliederung unserer Krankenversicherung sollten wir nicht aufgeben, nicht abstoppen; wir sollten sie nach Möglichkeit sogar noch erweitern.
Des weiteren sollte den Krankenkassen ein voller Ersatz von Staats wegen gegeben werden für alle Auftragsleistungen. Ich denke da an den Mutterschutz und an alles, was mit der Unfallversicherung zusammenhängt; ich denke dabei auch an die Rentnerversicherung. Alles, was nicht echte Aufgabe der Krankenversicherung, sondern Auftragsangelegenheit ist, sollte den Krankenkassen voll erstattet werden.
Noch einen allerletzten Satz, weil der Sachverhalt in der Offentlichkeit entweder demagogisch dargestellt worden oder aber ein falscher Eindruck entstanden ist: Es handelt sich bei dem, was bisher umkämpft ist, um einen Entwurf der Bundesregierung. Es ist die Pflicht der Bundesregierung, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Aber dazu, das Gesetz zu machen, ist der Bundestag, sind wir da. Ich bin überzeugt, daß der Bundestag auch bei dieser Gesetzesmaterie unter Beweis stellen wird, daß er völlig frei, daß er in souveräner Weise — ohne Rücksicht auf die Meinung der Bundesregierung, wenn er seine Meinung als die richtigere erkennt — ein Gesetz schaffen wird, mit dem wir am Ende alle einverstanden sein werden, dem am Ende auch die SPD wird zustimmen können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310214900
Meine Damen und Herren! Es liegen noch sechs Wortmeldungen vor. Ich darf wohl als allgemeine Ansicht feststellen, daß alle bisherigen Redner und auch die kommenden Redner sich daran halten sollten, daß in der ersten Beratung nur über die allgemeinen Grundsätze zu sprechen ist. Es ist keine
Ausnahme davon, wenn die Grundsätze an Hand von Einzelbeispielen erörtert werden. Aber es besteht ebensowohl auch der Eindruck, daß durch zahlreiche Zwischenrufe und Zwischenfragen der Redner gezwungen wird, in Einzelheiten zu gehen, um die Fragen zu beantworten. Das führt uns dann doch mehr in das Stadium der Ausschußverhandlungen und der zweiten Lesung.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bärsch.

Dr. Siegfried Bärsch (SPD):
Rede ID: ID0310215000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin zunächst in der glücklichen Lage, Ihnen gegenüber eine freundlich Bemerkung machen zu können. Wir sind in bezug auf die geistige Freiheit in der günstigen Situation, Ihnen nicht nachstehen zu müssen. Der Zufall hat es gefügt, daß ich nach dem Herrn Kollegen Schneider spreche, und ich bin auch ein „Wilder".
Ich will versuchen, nichts von dem zu wiederholen, was bereits angesprochen worden ist, sondern ein Thema erörtern, das vielleicht auf den ersten Blick etwas abseits liegt, das aber, wenn Sie sich die Mühe nehmen wollen, mir zu folgen, Ihnen als sehr aktuell und bedeutsam erscheinen wird. Wenn man davon ausgeht, daß einer der Hauptzwecke der sozialen Krankenversicherung die ärztliche Versorgung der Versicherten ist, wird man einsehen, daß ein zentraler Punkt der ganzen Frage, um die es hier geht, das ist, was wir Arzt-Patient-Verhältnis nennen. Dieses Verhältnis ist von großer Bedeutung, und seine Qualität hängt sowohl von den Bedingungen ab, unter denen der Patient ärztliche Leistungen entgegennehmen kann, als auch von den Bedingungen, unter denen der Arzt ärztliche Leistungen gewährt, als auch von den Bedingungen, die zwischen den Vertragspartnern, den Kassen auf der einen Seite und den Kassenärzten auf der anderen Seite, herrschen. Das ist das, was wir mit einem Terminus aus der sozialen Krankenversicherung als Arztrecht bezeichnen.
Erlauben Sie mir, daß ich, um das, was ich hier darlegen will, zu verdeutlichen, etwas in die Vergangenheit zurückgehe und in kurzen Strichen die Entwicklung dieses Rechts darstelle. Diese Entwicklung des Arztrechts hat von der ursprünglich rein privatrechtlichen Beziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten, wie er heute noch in der Privatversicherung erhalten ist, über die privatrechtliche Beziehung des einzelnen Arztes zu den verschiedenen Trägern der sozialen Krankenversicherung geführt, nachdem die soziale Krankenversicherung am Ausgang des letzten Jahrhunderts eingeführt worden war, schließlich bis zur jetzigen öffentlich-rechtlichen Rahmenregelung des Verhältnisses zwischen den Trägern der sozialen Krankenversicherung einerseits und den Vereinigungen der Kassenärzte andererseits, die sich im Laufe dieser Entwicklung gebildet haben. Den vorläufigen Abschluß hat diese Entwicklung mit der einstimmigen Verabschiedung des sogenannten Kassenarztrechts im Bundestag im Jahre 1955 gefunden.
Es ist nicht schwer, die Analogie zu dieser Entwicklung bei den Arbeitnehmern und Arbeitgebern



Dr. Bärsch
aufzuspüren. Ihr fehlt gewissermaßen nur die Anfangsphase des sich gleichberechtigt Gegenüberstehens. Die Entwicklung beginnt vielmehr dort mit der rechtlosen Stellung des einzelnen, nicht organisierten Arbeiters gegenüber dem Unternehmer, der aus dem Angebot auswählen und Lohn- und Arbeitsbedingungen diktieren kann.
Es folgt der Zusammenschluß der Arbeiter in den Gewerkschaften, entsprechend den kassenärztlichen Genossenschaften, wenn Sie so wollen, und der Unternehmer in den Arbeitgeberverbänden, entsprechend den Krankenkassenverbänden. Am Ende der Entwicklung unterscheiden sich beide Sozialpartnerschaften insofern voneinander, als es sich bei den Gewerkschaften und Arbeitgebern um freie Vereinigungen handelt, während die Krankenkassen und die kassenärztlichen Vereinigungen Körperschaften öffentlichen Rechts sind. Für beide aber, glaube ich, gilt eins: für den sozialen Frieden ist das Gleichgewicht der Partner von großer Bedeutung; denn nur so ist echte Partnerschaft möglich und tragfähig.
Welche Elemente des jetzt bestehenden Kassenarztrechts stellen nun dieses Gleichgewicht der Partner her und sichern ihre Selbstverwaltung? Lassen Sie mich kurz diese Rechtspositionen und die institutionellen Sicherungen darlegen.
Erstens. Beide Partner sind Körperschaften öffentlichen Rechts und unterliegen der Staatsaufsicht. Ihr demokratischer Aufbau ist gesetzlich verbürgt.
Zweitens. Der gesetzliche Auftrag an die Krankenkassen, gemäß § 182 RVO im Rahmen der Krankenhilfe unter anderem auch ärztliche Behandlung zu gewähren, hat im Kassenarztrecht seine Entsprechung gefunden in einem gesetzlichen Auftrag an die kassenärztlichen Vereinigungen, ihrerseits und in eigener Verantwortung die nach § 182 RVO den Krankenkassen obliegende ärztliche Versorgung sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, daß die kassenärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Jaeger.)

Drittens. In Erfüllung dieser gesetzlichen Aufgaben schließen die Vertragspartner, Kassenärzte und Krankenkassen, im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen Verträge auf Bundes-, Länder- und Bezirksebene mit verbindlicher Wirkung für die Partner und ihre Mitglieder ab. In den Verträgen sind sowohl die Honorarfragen wie auch alle sonstigen Fragen der kassenärztlichen Versorgung der Versicherten zu regeln, soweit sie für eine verbindliche vertragliche Regelung reif sind. Damit füllt dieses Vertragsrecht, dessen Entwicklung sich über einen Zeitraum von fast vierzig Jahren erstreckt, die öffentlich-rechtliche Rahmenregelung aus und bietet die Möglichkeit laufender und elastischer Angleichung des Rechtsbodens, auf dem die Vertragspartner stehen und sich die kassenärztliche Versorgung vollzieht, an die Fortentwicklung auf medizinischem, sozialem und versicherungsrechtlichem Gebiet,
Viertens. Sodann bestehen gemeinsame, paritätisch aus den Vertragspartnern zusammengesetzte Ausschüsse auf Bundes- und Landesebene, die Richtlinien im Sinne von Empfehlungen erlassen können, die von den Mitgliedern der Sozialpartner beachtet werden sollen. Auf diese Weise werden diejenigen Fragen geregelt, die einer verbindlichen vertraglichen Regelung noch nicht zugänglich sind, z. B. der Vorschlag, eine neue Heilbehandlung einzuführen oder ein neues Heilmittel probeweise in den Arzneimittelschatz aufzunehmen. Hier hat der Bundesarbeitsminister im Gegensatz zu dem eigentlichen Vertragsrecht ein Beanstandungs- und Ersatzvornahmerecht. Das heißt, er kann, was diese Ausschüsse als Empfehlung beschließen wollen, beanstanden und, wenn es nicht entsprechend geändert wird, die Richtlinie selbst erlassen.
Fünftens. Kommt es zu keiner Einigung bei den Verhandlungen der Vertragspartner, tritt auf Antrag eines Partners die obligatorische Schlichtung durch Schiedsämter ein, die sich paritätisch — mit einem unparteiischen, unabhängigen Vorsitzenden an der Spitze — zusammensetzen und deren Zusammensetzung, Berufung und Befugnisse im Gesetz festgelegt sind.
Ich fasse die derzeitige Rechtssituation zusammen: die Vertragspartner, Krankenkassen .und Kassenärztliche Vereinigung, stehen sich als öffentlichrechtliche Körperschaften mit einem gleichwertigen gesetzlichen Auftrag gegenüber: die ärztliche Versorgung der Versicherten zu gewähren, § 182 RVO, bzw. diese ärztliche Versorgung ausschließlich und in eigener Verantwortung sicherzustellen, § 368 Abs. 2 RVO. Sie regeln ihre Beziehungen zum Zwecke der Durchführung dieses gesetzlichen Auftrages im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Bestimmungen der RVO in echter Selbstverwaltung mit Hilfe verbindlicher vertraglicher Vereinbarungen. Im Falle der Nichteinigung setzt eine obligatorische Schlichtung durch gesetzlich verankerte Schiedsgerichte ein, deren unparteiischer Charakter durch paritätische Zusammensetzung unter einem unabhängigen, überparteilichen Vorsitzenden gesichert ist.
Meine Damen und Herren, verzeihen Sie bitte, daß ich dieses trockene Thema ausführlicher behandle. Es ist sehr bedeutsam, wie ich Ihnen in den weiteren Ausführungen noch darlegen zu können hoffe, wenn Sie die Güte haben wollen, mir aufmerksam zu folgen. Ich hoffe, Ihnen mit dieser Darstellung einen Eindruck davon vermittelt zu haben, daß hier eine lange und von Krisen nicht freie Entwicklung in einer echten und gesicherten gleichberechtigten Partnerschaft ihren vorläufigen Abschluß gefunden hat.
Dabei wird man — das sei am Rande bemerkt — zwei Dinge festhalten müssen, die, glaube ich, die Einsicht der Ärzte in soziale Notwendigkeiten aufzeigen, nämlich einmal, daß sich die Ärzte im Interesse der ungestörten ärztlichen Versorgung der Versicherten einer obligatorischen Schlichtung unterworfen und auf Kampfmaßnahmen, welcher Art auch immer, verzichtet haben, und zweitens, daß die Ärzte aus sozialen Gründen in der Sozial-



Dr. Bärsch
versicherung ihre Dienstleistungen zu sozial gebundenen Tarifen zur Verfügung gestellt haben, und heute noch zur Verfügung stellen; sie sind jederzeit bereit, sie weiterhin auf dieser Basis zur Verfügung zu stellen.
Das Ergebnis dieser im Jahre 1955 geschaffenen wirklichen Partnerschaft ist eine augenfällige Befriedung der Beziehungen zwischen den Vertragspartnern, ohne die die Versorgung der Versicherten auf die Dauer Schaden nehmen könnte.
Nun komme ich zum Entwurf. Was macht der vorliegende Entwurf aus der gleichberechtigten Partnerschaft und aus dieser in Jahrzehnten organisch entwickelten, bewährten Selbstverwaltung? Er zerstört das Fundament, auf das die Gleichberechtigung der Partner gegründet ist, indem er den Kassenärzten bzw. ihren Vereinigungen den gesetzlichen Auftrag entzieht, die ambulante ärztliche Versorgung der Versicherten gegenüber den Kassen ausschließlich und in eigener Zuständigkeit und Verantwortung sicherzustellen. Auf diese Weise wird — oder es kann zumindest werden — aus den Kassenärzten als dem bisherigen Partner der Krankenkassen e i n Partner, das heißt ein Partner unter anderen Partnern. So werden die Kassenärzte auf eine schiefe Ebene gedrängt, auf der sie vom kaum gleichberechtigt gewordenen Partner zum mehr oder weniger geachteten Erfüllungsgehilfen der Sozialversicherung absinken, der sie durch viele Jahrzehnte hindurch gewesen sind.
Recht deutliche Ansätze dieser Entwicklung finden Sie ohne Schwierigkeiten im vorliegenden Entwurf, z. B. in der uneingeschränkten Einbeziehung der Universitätspolikliniken und der Eigeneinrichtungen der Krankenkassen in die kassenärztliche Versorgung, wobei die Ausweitung und Vermehrung dieser Eigeneinrichtungen der Krankenkassen im vorliegenden Entwurf im Gegensatz zum bestehenden Recht auch ohne Zustimmung des ärztlichen Partners möglich gemacht wird. Und wenn es sich, meine Damen und Herren, in dem § 382 des vorliegenden Entwurfs nicht um einen Druckfehler handelt, in dem von „Universitäts- und Polikliniken", nicht von Universitätspolikliniken gesprochen wird, dann ist dadurch einer neuen Einrichtung die gesetzliche Grundlage geschaffen worden, nämlich der Poliklinik, die heute mit Ausnahme der Universitätspolikliniken noch nicht besteht. Denkt man hier vielleicht an einen Beitrag zur Sanierung der Krankenhäuser durch die Einrichtung von Polikliniken und deren Einschaltung in die kassenärztliche Versorgung? Durch die Aufhebung des gesetzlichen Auftrags an die Kassenärzte, die ambulante ärztliche Versorgung der Versicherten sicherzustellen, und zwar in eigener und ausschließlicher Verantwortung gegenüber dem Vertragspartner, ist diese Einbeziehung anderer Träger ärztlicher Dienste in die kassenärztliche Versorgung und — meine Damen und Herren, ich betone das in vollem Bewußtsein dessen, was ich sage — die Ablösung des freiberuflich tätigen Kassenarztes in der kassenärztlichen Versorgung zugunsten anderer Einrichtungen mit angestellten Ärzten zumindest möglich. Ich denke, meine Damen und Herren, daß das keine Bagatellen sind, für Ärzte nicht und für die Versicherten nicht. Unmittelbarer Anschauungsunterricht ist jedem von Ihnen möglich, allerdings nur durch einen Blick über die östlichen Grenzen der Bundesrepublik. In der westlichen Welt ist meines Wissens eine solche Entwicklung sonst noch nirgends in die Wege geleitet worden.

(Abg. Ruf: Das ist genau die Platte aus Köln!)

Ich will damit nicht behaupten, daß Sie eine solche Entwicklung im Auge haben. Ich darf Sie aber doch wohl bitten, ernsthaft zu versuchen, auf Grund des klipp und klar vorliegenden Textes des Gesetzentwurfs diese Frage mit uns zu prüfen; denn sie ist einfach zu ernst, als daß wir sie ungeprüft mit einer Handbewegung abtun können.
Im Zusammenhang damit muß man auch eine weitere entscheidende Verschlechterung des bisherigen Rechts sehen, nämlich den Abbau der in vier Jahrzehnten in organischer Entwicklung geschaffenen Selbstverwaltung durch die weitgehende Beseitigung der bisherigen Möglichkeit, alle Fragen der kassenärztlichen Versorgung — soweit sie nicht in der RVO selbst geregelt sind — durch vertragliche Vereinbarung zwischen den Partnern zu regeln. Für solches Vertragsrecht gibt es lediglich noch eine einzige Materie, nämlich die Regelung des Prüfungswesens.

(Zuruf von der Mitte: Und die Bundesausschüsse?)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310215100
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kalinke?

Dr. Siegfried Bärsch (SPD):
Rede ID: ID0310215200
Nein. Lassen Sie mich bitte meine Ausführungen zu Ende führen. Ich komme auf die Bundesausschüsse nachher zurück. Dieses Vertragsrecht, verehrter Herr Kollege Ruf, können die Bundesausschüsse nicht setzen, weil sie nur Richtlinien aussprechen können, die nicht verbindlich sind, sondern lediglich beachtet werden sollen. Gleichzeitig werden nun auch die paritätisch besetzten Schiedsinstanzen beseitigt, die im Falle der Nichteinigung zwischen den Partnern den Streit zu schlichten haben.
Was aber tritt nun an die Stelle dieser abgebauten Selbstverwaltung? An die Stelle der Schiedsinstanzen wird im vorliegenden Entwurf der Bundesarbeitsminister gesetzt. Einigen sich Ärzte und Kassen nicht über die Honorare, so setzt der Minister die Honorare fest. Damit wird für die Kassenärzte eine diskriminierende Ausnahmesituation geschaffen, nämlich die staatliche Festsetzung der Löhne. Wollen Sie das wirklich den Ärzten zumuten, frage ich, und mit welchem Recht und aus welcher Veranlassung? Sehen Sie nicht, daß hier eine gefährliche Kluft in unserer sozialpolitischen Landschaft aufgerissen wird, in der die Vertragsfreiheit bislang ein unbestrittenes und gemeinsames Postulat gewesen ist? An ,die Stelle des bisherigen Vertragswesens, der Regelung der gemeinsamen Aufgabe der Vertragspartner durch vertragliche verbindliche Vereinbarungen der Partner tritt wiederum der Arbeits-



Dr. Bärsch
minister, wenn auch durch einen geradezu faszinierenden juristischen Schachzug. Durch den ersatzlosen Wegfall der Möglichkeit, vertragliche Vereinbarungen zu treffen, bleibt als einziges Instrument, wie Sie, Herr Kollege Ruf, ganz richtig sagten, der paritätisch besetzte Bundesausschuß übrig, über den wiederum der Bundesminister für Arbeit durch sein Beanstandungs- und Ersatzvornahmerecht die Dinge selbst regeln kann. Ich glaube, wenn man das ganz nüchtern betrachtet, wird man schwerlich in Abrede stellen können, daß es sich hier um einen staatlichen Dirigismus handelt, daß hier die Selbstverwaltung zugunsten unmittelbarer und mittelbarer Einflußnahme des Staates abgebaut wird.

(Abg. Ruf: Darf ich einmal eine Frage stellen, Herr Dr. Bärsch?)

— Bitte schön!

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310215300
Zu einer Zwischenfrage der Abgeordnete Ruf!

Thomas Ruf (CDU):
Rede ID: ID0310215400
Sie waren doch bei der Schaffung des Kassenarztrechts dabei. Sie wissen doch genau, daß das Kassenarztrecht nach geltendem Recht auf drei Säulen aufgebaut ist: auf der beschränkten Zulassung zur Kassenpraxis, — —

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310215500
Herr Abgeordneter, das ist keine Frage!

Thomas Ruf (CDU):
Rede ID: ID0310215600
Also eine Frage, Herr Dr. Bärsch! Wissen Sie, daß das geltende Recht auf drei Säulen aufgebaut ist: der beschränkten Zulassung zur Kassenpraxis, der pauschalen Vergütung der Krankenversicherungen an die kassenärztlichen Vereinigungen und dem totalen Sachleistungssystem? Sind Sie sich darüber im klaren, daß, wenn eine dieser Säulen fällt oder gar alle drei Säulen fallen, wenn also z. B. die unbeschränkte Zulassung kommt oder die Bezahlung der Einzelleistung, die die Ärzte immer gefordert haben, das Kassenarztrecht ganz selbstverständlich auch an irgendwelchen Stellen geändert werden muß?

Dr. Siegfried Bärsch (SPD):
Rede ID: ID0310215700
Ich möchte auf diese Frage ganz klar antworten. Ich bin keineswegs der Auffassung, daß eine Reform der Krankenversicherung die Selbstverwaltung der Vertragspartner abbauen muß und darf und die echte gleichwertige Partnerschaft zerstört werden muß. Wir werden die Frage bei den Ausschußberatungen näher prüfen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie einsehen, daß dieser Entwurf das Vertragswesen praktisch abschafft — und das werden Sie wohl einsehen müssen —, dann darf ich Sie fragen, wie Sie das mit der von Ihnen so häufig und so leidenschaftlich beschworenen Subsidiarität vereinbaren wollen. Hier besteht ein Gegensatz, den man nicht auf einen Nenner bringen kann.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310215800
Herr Abgeordneter Dr. Bärsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kalinke?

Dr. Siegfried Bärsch (SPD):
Rede ID: ID0310215900
Würden Sie bis zum Schluß damit warten?

(Zuruf der Abg. Frau Kalinke.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310216000
Der Herr Redner gestattet sie nicht. Es ist Sache des Redners, sie zu gestatten oder nicht zu gestatten.

Dr. Siegfried Bärsch (SPD):
Rede ID: ID0310216100
Hier werden Lebensbereiche an den Staat herangezogen, die bisher in eigener gewachsener und bewährter Selbstverwaltung von den betroffenen Bürgern und ihren Zusammenschlüssen geordnet worden sind.
Meine Damen und Herren, diese meine Ausführungen basieren, wenn ich so sagen darf, auf einer eingehenden allgemein-ärztlichen Untersuchung des Gesetzentwurfs.

(Abg. Ruf: Das war eine rechtliche Untersuchung, keine ärztliche!)

Die fachärztliche Untersuchung im Ausschuß wird sicherlich noch viele andere Probleme aufwerfen, die ich hier bewußt nicht berührt habe, weil ich meine, es hat keinen Zweck, daß wir immer wieder dasselbe von einer anderen Seite her wiederholen. Allerdings achte ich diese andere Seite deshalb nicht für geringer und unbedeutender.
Ich darf von diesen Problemen lediglich kursorisch und als Beispiel anführen die heute so viel erörterte Inanspruchnahmegebühr oder das Problem der Kostenbeteiligung überhaupt, die Zulassungsordnung, über die man auch noch einiges zu sagen haben wird, die Gebührenordnung, die noch nicht vorliegt und zu der wir infolgedessen auch noch nicht Stellung nehmen können, die Schweigepflicht — hier soll nach dem Entwurf keine Änderung eintreten; man hat also den bisherigen Zustand einer mehr oder weniger durchlöcherten Schweigepflicht in den Entwurf übernommen —, die Frage des Verwaltungsaufwandes, die Frage der zusätzlichen Verwaltungsarbeit beim Arzt.
Es bleibt eine sehr wesentliche Frage, über die ich noch einige Sätze verlieren möchte; ich meine den sogenannten Beratungsärztlichen Dienst. Sicherlich ist eine Verbesserung des bestehenden vertrauensärztlichen Dienstes möglich. Man sollte sich dabei allerdings vor Augen halten, daß das bestehende vertrauensärztliche System im großen und ganzen seine Aufgabe erfüllt. Wenn man also ,auf diesem Gebiet eine Verbesserung schaffen will, kann sie nur in der Schaffung eines unabhängigen Status der Vertrauensärzte gesehen werden, unabhängig gegenüber dem Versicherten, unabhängig gegenüber den Kassen, unabhängig auch gegenüber den behandelnden Ärzten

(Abg. Ruf: Genau das will die Regierung!)

— die Frage für uns wird sein, ob das mit dem Entwurf erreichbar ist —, und in einer zuverlässigen Sicherung des Versicherten gegen da und dort vorkommende Taktlosigkeiten, die in der Unzulänglichkeit der menschlichen Natur oder auch in einer mangelhaften ärztlichen Haltung begründet sein können.



Dr. Bärsch
Der Entwurf ändert trotz der Schaffung öffentlich-rechtlicher Anstalten des Beratungsärztlichen Dienstes nichts am Status der Vertrauens- bzw. Beratungsärzte. Die wesentlichen Elemente dieser Paragraphen bestehen in einer Verschärfung und in der Ausweitung der vertrauensärztlichen Kontrolle auf jeden Fall von Arbeitsunfähigkeit. Zu diesem Punkt darf ich aus der Praxis eine kurze Bemerkung machen, die Ihnen vor Augen führen wird, daß diese Vorschrift nicht richtig durchdacht ist.
In der Begründung zu dem Entwurf steht, der Versicherte habe innerhalb von 48 Stunden nach Krankschreibung dem Vertrauensärztlichen Dienst die Krankmeldung anzuzeigen, der Vertrauensarzt habe der Versicherung schleunigst ein Gutachten abzugeben, ob wirklich Arbeitsunfähigkeit vorliege. Weiter steht in der Begründung, es sei in das Ermessen des Vertrauensarztes gestellt, ob er den Patienten vorladen wolle — soweit er kommen kann — oder besuchen wolle — wenn er nicht kommen kann —,

(Abg. Ruf: Das ist aber gut!)

oder ob er sich einfach auf die Aussage des behandelnden Arztes verlassen wolle. Nun, ich finde, entweder genügt die Aussage eines behandelnden Arztes; dann sollte man nicht von dem jetzt bewährten System der Stichkontrollen abgehen.

(Abg. Ruf: Die Stichkontrollen sind viel zu schematisch!)

— Aber wenn die Stichkontrolle nicht genügt, ist es
ein Nonsens, dem Vertrauensarzt das Ermessen einzuräumen, den Patienten zu bestellen oder zu besuchen oder einfach das nachzuschreiben, was der behandelnde Arzt vorgeschrieben hat.

(Abg. Ruf: Individuelle Kontrolle statt schematischer Kontrolle!)

Ich finde sogar, man kann es dem Vertrauensarzt billigerweise nicht zumuten, mit seiner vollen Verantwortung etwas zu unterschreiben, wovon er sich nicht durch Augenschein überzeugt hat.

(Abg. Ruf: Dem Vertrauensarzt wohl, nicht der Kasse!)

Bei dem vertrauensärztlichen Dienst scheint mir der beachtenswerteste und zugleich der schlimmste Punkt zu sein, daß hier die gesetzliche Grundlage für eine Ausweitung der vertrauensärztlichen Kontrolle über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit hinaus auf andere Gebiete geschaffen wird, die zum Teil zu keiner Beanstandung Anlaß geben, wie z. B. die Begutachtung von Kuranträgen — kein Mensch wird etwas daran finden —, die aber zum Teil auch sehr gefährliche Tendenzen in sich bergen.
Man muß in diesem Zusammenhang die bisherige gesetzliche Regelung des vertrauensärztlichen Dienstes in der RVO, in der die Aufgabe des Vertrauensarztes ausschließlich auf die rechtzeitige Nachprüfung der Arbeitsunfähigkeit beschränkt ist, mit der Regelung des § 399 des Entwurfs vergleichen, der wörtlich heißt:
Der beratungsärztliche Dienst berät die Kassen
bei der Durchführung von Maßnahmen der allgemeinen Krankheitsverhütung und unterstützt sie bei der Ermittlung und Feststellung der Voraussetzungen für die Leistungspflicht und den Leistungsumfang und bei der Leistungsgewährung.
Ein solcher Aufgabenbereich ist keineswegs mehr an die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit gebunden. Hier wird vielmehr generell von Leistungspflicht, von Leistungsgewährung gesprochen. Es steht also sehr viel mehr darin. Im Hinblick auf die geplante erhebliche Ausweitung des vertrauensärztlichen Dienstes werden hier Zeichen sichtbar, die uns schrecken, die uns Ärzte schrecken und die auch die Versicherten schrecken werden, wenn sie sich über den Umfang und die Bedeutung dessen, was hier steht, klargeworden sind.
Wenn Sie mich nun am Ende fragen, ob denn das alles wirklich so ist, was ich Ihnen jetzt erzählt habe — es mag Ihnen vielleicht zu phantastisch erscheinen; ich will es hoffen —, so muß ich nach bestem Wissen und Gewissen mit Ja antworten. Ich erkläre mich bereit, das, was ich hier gesagt habe — es wird ja im Protokoll stehen —, schwarz auf weiß im Ausschuß an Hand der Vorlage nachzuweisen. Ich hoffe, daß wir auf diese Weise zu einem fruchtbaren Gespräch kommen werden.
Die einzige Erklärung, die ich für diese verunglückte Vorlage finden kann, wenn man überhaupt eine Erklärung suchen will, dürfte meines Erachtens darin liegen, daß die Schöpfer dieses Entwurfs bei ihrer Schöpfung, wie das Kaninchen auf die Schlange, auf die Inanspruchnahmegebühr gestarrt und die ganze Vorlage in dieses Prokrustes-Bett hineingezwängt haben.
Meine Damen und Herren, ich wünsche uns allen einen freien und vorurteilslosen Blick bei der Beratung dieser Vorlage.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310216200
Meine Damen und Herren, die Zahl der Redner ist noch groß. Im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit und auch auf die Tatsache, daß wir eine erste Beratung haben, die sich nur mit den Grundsätzen befassen soll, darf ich die Redner bitten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Einzelfragen dem Ausschuß oder der zweiten Lesung zu überlassen.

(Zustimmung.)

Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID0310216300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns entschlossen, zu diesem Thema mit zwei Rednern zu sprechen, weil wir meinen, zwei Redner mit insgesamt 40 Minuten Redezeit seien besser als einer allein mit 80 Minuten.

(Heiterkeit.)

Sie brauchen keine Sorgen zu haben.

(Zuruf.)

— Das ist nicht dasselbe: zwei Redner mit 40 Minuten sind weniger als einer mit 80 Minuten Redezeit,

Mischnick
wenn die zwei zusammen 40 Minuten reden, wie wir das tun.
Herr Kollege Stammberger hat zu den wesentlichen Fragen der Selbstbeteiligung eingehend Stellung genommen. Ich darf ergänzend zu einigen Gebieten sprechen, die er bewußt ausgelassen hat.
Zunächst kann ich den Kollegen Dr. Bärsch beruhigen: es ist nur auf einen Druckfehler zurückzuführen, daß es heißt „Universitäts- und Polikliniken", wie Herr Staatssekretär Claussen auf eine Rückfrage bestätigt hat und wie der Herr Minister, wenn ich richtig informiert bin, bereits auf einer Pressekonferenz gesagt hat.

(Abg. Dr. Schellenberg: Wo ist eigentlich der Herr Minister?)

— Die Frage müssen Sie an die Regierung richten, nicht an mich.
Wir sollten bei der Beratung im Ausschuß all die Fragen der Selbstverwaltung, die hier, sei es durch den Kollegen Dr. Bärsch, sei es durch den Kollegen Schneider, erörtert worden sind, sehr eingehend behandeln. Auch wir haben die Sorge, daß das Prinzip der Selbstverwaltung durch den Gesetzentwurf an manchen Stellen ungebührlich eingeschränkt wird. Wir möchten nicht, daß die Selbstverwaltung zu einer Farce wird.
Insbesondere sollte die Bestimmung, die vorsieht, daß keinerlei Ersatzkassen mehr gegründet werden dürfen, geändert werden — ich hoffe, daß dies die gemeinsame Auffassung ist —, um die Möglichkeit der Ersatzkassengründung auch für die Zukunft bestehen zu lassen.
Darüber hinaus wünschen wir, daß bei der Beratung eine Bestimmung eingebaut wird, die den Betriebskrankenkassen die Möglichkeit läßt, ihren eigenen Intentionen gemäß Regelungen zu entwikkeln — natürlich im Gesamtrahmen des Gesetzes —, wie sie sie für richtig halten. Kollege Stingl hat mit Recht auf das Beispiel der Zeiss'schen Vorschläge hingewiesen. Ich glaube nicht, daß man diese Vorschläge als allgemeine Grundlage nehmen kann; aber man sollte überlegen, wieweit man Bestimmungen einbauen sollte, durch die die Möglichkeit solcher Einzelregelungen offengelassen wird.
Noch ein Wort zur Organisationsfrage insgesamt! Wir meinen, daß das Satzungsrecht der Kassen nicht eingeschränkt werden sollte. Wir sollten im Gegenteil versuchen, den Kassen noch mehr Möglichkeiten zur Eigengestaltung der Satzung zu geben als bisher. Wir halten z. B. die Bestimmung über die Einschränkung des Sterbegeldes nicht für richtig.
Wir lehnen die Selbstbeteiligung bei der Krankenhausbehandlung ab, da sie eine Schlechterstellung für die Angestellten bedeutet. Wir glauben, daß die Begründung zu § 194 nicht ganz richtig ist. Man hat bei den verschiedenen Überlegungen, die hierzu heute angestellt worden sind, nicht berücksichtigt, daß der Angestellte, dem weiter Gehalt gezahlt wird, und auch der Arbeiter gleichzeitig weiterhin die Beiträge abgezogen bekommen und daß auch die Zuzahlung des Arbeitgebers erfolgt.
Es ist also während der Krankenhausbehandlung zumindest für die ersten sechs Wochen von der Beitragsseite her ein Aufkommen vorhanden. Denn wenn das Gehalt weiterläuft, wird auch der Beitrag an die Krankenversicherung weitergezahlt, wahrend das im anderen Falle nicht geschieht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nur kriegt er kein ganzes Krankengeld!)

Deshalb meinen wir, daß eine unterschiedliche Behandlung durchaus berechtigt ist und daß mit dieser Bestimmung im Gesetzentwurf die Angestellten einseitig getroffen würden.
Wir begrüßen es, daß die Frist bis zur Aussteuerung auf 78 Wochen ausgedehnt wird. Wir meinen sogar, man kann die 78-Wochen-Grenze fallenlassen. Denn es handelt sich in jenen Fällen praktisch um den Übergang in die Pflegebehandlung. Wir sollten darüber noch sprechen.
Zur Frage des Krankengeldes und der Lohnfortzahlung! Wir begrüßen es, daß fast auf den Tag genau zwei Jahre, nämlich zwei Jahre fünf Tage, nachdem unser Gesetzentwurf zur Änderung des Lohnfortzahlungsgesetzes eingebracht worden ist, nunmehr im Regierungsentwurf eine Änderung ders jetzigen gesetzlichen Zustandes vorgesehen ist und damit zugegeben wird, daß sich die jetzige Lösung nicht bewährt hat. Ganz gleich, zu welchem endgültigen Ergebnis man kommt, ob man nun für die zwei Tage nicht zahlt oder ob man unserem Vorschlag folgt, eines wird heute zugegeben — was wir bereits vor zwei Jahren gesagt haben —: daß die bestehende gesetzliche Lösung auf jeden Fall nicht gut ist und leider zu manchen Anständen Anlaß gegeben hat.
In diesem Zusammenhang ein Wort zu dem Vorschlag, das Krankengeld in Zukunft durch den Arbeitgeber zahlen zu lassen, wie es in verschiedenen Diskussionsbeiträgen zum Ausdruck gebracht wurde, und dafür praktisch den Arbeitgeranteil an den Krankenversicherungsbeiträgen wegfallen zu lassen. Wir sollten, wenn wir diese Frage behandeln, einmal grundsätzlich an das Problem herangehen, ob und inwieweit man bereit ist, die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt als echten Lohn- und Gehaltsbestandteil zu betrachten, sie zum Lohn und Gehalt zuzuschlagen und damit praktisch den Arbeitnehmern die Beiträge nach dem entsprechend erhöhten Gehalt oder Lohn allein zahlen zu lassen.
Dann würde auch das Problem entfallen, das Herr Kollege Schneider angeschnitten hat, nämlich bei den freiwillig Weiterversicherten mit einem höheren Einkommen als 660 DM, sei es durch freiwillige Vereinbarung, sei es durch Gesetz, einen Zuschuß zu zahlen. Wir kämen zu einer klareren Scheidung, als es bisher der Fall ist. Wir werden im Ausschuß auch diese Frage noch im einzelnen behandeln.
Zur Mutterschaftshilfe ist schon von den verschiedensten Seiten gesagt worden, daß die Aufwendungen, zumindest die Baraufwendungen, in Zukunft aus Haushaltsmitteln gezahlt werden sollen. Wir schließen uns dieser Überlegung an, wie wir überhaupt meinen, daß wir bei der Gesamtfinanzierung



Mischnick
der Krankenversicherung überprüfen müßten. was alles eigentlich Auftragsleistungen sind und inwieweit dafür Ersatz erfolgen muß. Das gilt allerdings nicht nur für die Krankenversicherung, sondern auch für die Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung, die knappschaftliche Versicherung, die Unfallversicherung usw. Wir halten die Reform der Krankenversicherung für einen guten Zeitpunkt, im Zusammenhang mit der Reform der Unfallversicherung eine klare Trennung herbeizuführen.
Wir sollten auch daran denken, einmal die Ortskrankenkassen usw. über ihren heutigen Verwaltungsaufwand zu befragen, wenn wir von dem erhöhten Verwaltungsaufwand sprechen, den der Regierungsentwurf in der jetzigen Fassung nach übereinstimmender Meinung der Fachleute verursacht. Ich sage das deshalb, weil sich z. B. im Lande Hessen vor einigen Jahren, als ich im Landtag eine entsprechende Anfrage einbrachte, herausgestellt hat, daß im Lande Hessen pro Versicherten 3,60 DM mehr als im Bundesdurchschnitt für Verwaltungskosten ausgegeben wurden. Das ist bei einer Ausgabe von 15, 14 DM pro Versicherten für Verwaltungskosten immerhin ein so erheblicher Betrag, daß es sich durchaus lohnt, auch über die Verwaltungskosten des jetzigen Systems eingehend zu sprechen und zu überlegen, wo wir noch Einsparungsmöglichkeiten haben, und daran zu denken, daß Mehrleistungen nicht allein aus der Selbstbeteiligung, sondern vielleicht auch aus Einsparungen bei dem jetzt bestehenden Verwaltungszustand aufgebracht werden.
Ein Wort noch zu den Fragen, die im Zusammenhang mit den Ausführungen meines Freundes Stammberger aufgetaucht sind. Frau Kollegin Kalinke hat gesagt, es sei nicht deutlich genug zum Ausdruck gekommen, ob nach unserem Vorschlag für Pflicht- und freiwillig Versicherte eine unterschiedliche Gebührenordnung zugrunde gelegt werden solle. Selbstverständlich gehen wir von dem Gedanken aus, daß die Gebührenordnung sowohl für Pflichtversicherte wie für freiwillig Versicherte die gleiche sein muß und daß hier keine Unterscheidung getroffen werden darf. Die Bedenken, die gegen unseren Vorschlag vorgebracht worden sind, werden wir im Ausschuß im einzelnen behandeln. Die Tatsache, daß die Kollegen von der CSU heute schon in manchen Punkten deutlich werden ließen, daß sie unseren Vorschlägen nähertreten, zeigt doch, daß die von den freien Demokraten ausgearbeiteten Vorschläge nicht ganz so falsch sein können. Hier bietet sich vielleicht eine Basis, sich auf eine vernünftige Selbstbeteiligung zu einigen.
Eines lassen Sie mich zum Abschluß mit aller Deutlichkeit feststellen: wir Freien Demokraten werden auf keinen Fall einer Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze über 660 DM hinaus zustimmen. Wir sind der Meinung, daß heute bereits mit 80 bis 85 % der Bevölkerung ein zu hoher Prozentsatz in der Krankenversicherung pflichtversichert ist. Diesen Personen wird durch Gesetz praktisch die Möglichkeit genommen, selbst zu entscheiden, wie sie sich gegen den Krankheitsfall schützen wollen. Wir werden deshalb allen Versuchen widersprechen,
eine Erhöhung oder gar eine Bindung an die entsprechenden Beträge der Rentenversicherung vorzunehmen.
Wir bitten unsere Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion, einmal das, was sie im Godesberger Grundsatzprogramm mit den Worten„ Das System sozialer Sicherung muß der Würde selbstverantwortlicher Menschen entsprechen" niedergelegt haben, bei der Frage der Selbstbeteiligung Wirklichkeit werden zu lassen. Jede Zwangsversicherung ist ein Eingriff in die Selbstverantwortlichkeit, in die Würde des Menschen. Dieser Eingriff sollte im Interesse der Freiheit des einzelnen so wenig wie möglich erfolgen und nur dort, wo es zum sozialen Schutz des Bedürftigen notwendig ist, aber er darf niemals dazu führen, daß unser Volk ein Volk von Zwangsversicherten wird.

(Beifall bei der FDP. — Zuruf von der Mitte: Es gibt auch Zwangsbesteuerte!)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310216400
Die Zahl der Wortmeldungen hat sich um das Doppelte der bisherigen Redner vermehrt. — Das Wort hat der Abgeordnete Geiger.

Hans Geiger (SPD):
Rede ID: ID0310216500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns hier in einer eigenartigen Situation; denn wir haben einen Gesetzentwurf in erster Lesung zu beraten, zu dem zu stehen die Einbringer keinen Mut mehr haben.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Karl Kanka (CDU):
Rede ID: ID0310216600
„Ich werde im Bundestag meine Stimme nicht für eine Maßnahme geben, die den Arbeitnehmern zum Nachteil gereichen könnte", oder war es gar die Auslassung Ihres Kollegen Werner in Hannover, der von einer „Fraktion von Irrsinnigen" gesprochen hat für den Fall, daß Sie dem Gesetzentwurf vor den Bundestagswahlen des nächsten Jahres zustimmen würden,

(Hört! Hört! bei der SPD)

oder war es gar — was weit verständlicher ist — der Sturm, von dem der Kollege Schneider gesprochen hat, nämlich die Tatsache, daß Hunderttausende von Menschen in zahllosen Protestkundgebungen ihren Unwillen gegen diesen Plan einer sozialen Krankenversicherungsreform zum Ausdruck gebracht haben?
Wir haben vernommen, daß Sie prüfen und wägen, daß Sie im Ausschuß gründlich beraten und sich dann entscheiden wollen. Ich erlaube mir, an diesen Worten etwas zu zweifeln, und möchte sagen: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der



Geiger (Aalen)

Glaube". Mit Begründungen und Entschuldigungen wird ein Gesetzentwurf ja noch nicht geändert. Das ist eine alte Geschichte. Die Entscheidung fällt nur in der Abstimmung, nicht in der Prüfung,

(Beifall bei der SPD)

und je nachdem, wie Sie sich in der Abstimmung entscheiden werden, werden wir sehen, ob Sie zu Ihrer seitherigen Meinung stehen oder nicht.
Ich sage das nicht ganz ohne Grund; denn nicht nur der Herr Minister, sondern auch einige Kollegen der CDU haben bei der bisherigen Diskussion des Referentenentwurfs immer wieder gutgläubig — ich will Ihnen die Gutgläubigkeit unterstellen, um kein böseres Wort zu gebrauchen — gesagt: Was wollen Sie denn! Das ist doch nur ein Referentenentwurf! Warten Sie erst einmal ab, was der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung für einen Entwurf vorlegen wird! Nun, er hat einen anderen Regierungsentwurf vorgelegt, einen Entwurf, an dem nicht mehr und nicht weniger als die Überschrift verändert worden ist. Anstatt „Referentenentwurf" heißt es jetzt „Regierungsentwurf"

(Abg. Stingl: Dann haben Sie die beiden nicht miteinander verglichen!)

— Ja, es sind noch Verschlechterungen drin! Das will ich gerechterweise gern zugeben.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310216700
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ruf?

Hans Geiger (SPD):
Rede ID: ID0310216800
Bitte sehr!

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310216900
Herr Abgeordneter Ruf zu einer Zwischenfrage.

Thomas Ruf (CDU):
Rede ID: ID0310217000
Herr Kollege Geiger, haben Sie nach dem tosenden Beifall, den heute morgen der Kollege Blank von seiner Fraktion erhalten hat, irgendeinen Zweifel, daß seine Fraktion etwa nicht zu den Grundsätzen dieses Entwurfs stehen wird?

Hans Geiger (SPD):
Rede ID: ID0310217100
Aber lieber Kollege Ruf, meine berechtigte Sorge ist ja, daß ich daran keinen Zweifel haben kann!

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

Ich befürchte, daß das, was Sie hier ausführen, etwas ganz anderes ist als das, was Sie meinen, und
als das, was Sie letzten Endes beschließen werden.

(Erneuter Beifall bei der SPD.)

Die Erfahrung der Vergangenheit hat uns hier doch gewitzigt; wir brauchen uns hier nichts vorzumachen.
Meine Damen und Herren! Der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat einen Regierungsentwurf vorgelegt. Er hat bei der Vorlage dieses Regierungsentwurfs davon gesprochen, daß er einen Freudentag habe. Herr Kollege Schellenberg hat bereits gebührend darauf hingewiesen.
Der Herr Minister hat einen Freudentag, weil das Bundeskabinett einstimmig diesen Gesetzentwurf verabschiedet hat. Ich kann mir auch schon deshalb nicht gut vorstellen, daß Sie dem Herrn Bundesminister für Arbeit die Freude verderben wollen. Ich glaube also, Sie werden von diesen Dingen wenig abweichen.
Mit diesem Ausdruck ist auch der Charakter dieser Gesetzesvorlage von vornherein gekennzeichnet gewesen. Das, was bei Millionen Versicherten eine tiefe Erbitterung und Trauer ausgelöst hat, das gab dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Veranlassung, von einem „Freudentag" zu sprechen. Dieser Gesetzentwurf bringt für Millionen Versicherte und ihre Familien eine untragbare Belastung; ich betone das noch einmal mit aller Deutlichkeit. Außerdem beinhaltet er nach übereinstimmendem Urteil aller Fachleute wegen der ihm innewohnenden Tendenz, den rechtzeitigen Arztbesuch zu verhindern, ernste Gefahren für die Volksgesundheit.
Ich kann leider jetzt dem Herrn Kollegen Dr. Franz nicht beistimmen — ich hätte es gern getan, weil er so freundlich gewesen ist — und kann nicht darauf verzichten, festzustellen, daß tatsächlich die Grundlage dieses Gesetzentwurfs ein Mißbrauchdenken ist. Die Grundlage dieses Gesetzentwurfs liegt darin, daß Sie annehmen, die krankenversicherten Menschen oder die Kranken selbst würden mit ihren Krankenkassen und ihren sozialen Einrichtungen Mißbrauch treiben. Dieses Denken über den Mißbrauch belastet die gesamte krankenversicherte Arbeitnehmerschaft noch stärker, als die materielle Belastung es schon tut. Eine derartige Verdächtigung ist einfach nicht gerechtfertigt und kann nicht Grundlage eines Gesetzentwurfes sein.

(Beifall bei der SPD.)

Dieses falsche Mißbrauchdenken war der Ausgangspunkt und die Grundlage zur Gestaltung dieses Gesetzentwurfs. Logischerweise ist bei einem solchen falschen Ausgangspunkt auch die Schlußfolgerung falsch.
Obwohl der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung — ich muß das immer dazusagen, damit es auch in seiner ganzen Spannweite erfaßt wird — verkündet hat, er wolle Sozialpolitik für vollmündige Menschen machen — das hat er ausdrücklich erklärt —, hat er einen Gesetzentwurf vorgelegt, der wie bisher noch kein Sozialgesetz staatlichen Dirigismus enthält und mit seinem Mißtrauen die Menschen bis in ihre privateste Sphäre hinein verfolgt.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Ruf: Wo denn?)

— Ich komme im Verlauf meiner Ausführungen noch darauf und werde mir erlauben, Sie dann darauf aufmerksam zu machen.

(Abg. Ruf: Da bin ich aber gespannt, Herr Kollege Geiger; das gelingt Ihnen nicht, das werden Sie nicht nachweisen können!)

— Vielleicht gelingt es mir doch. Ich fürchte, daß es mir gelingt.

(Zuruf von der CDU/CSU: „Fürchte"?)


Geiger (Aalen)

Ja; es wäre mir sehr viel lieber, ich müßte das nicht nachweisen, Herr Kollege Ruf, und der Gesetzentwurf hätte eine andere Grundlage. Ich komme aber noch darauf; ich weise es Ihnen nach.
Der Gesetzentwurf geht in seiner Gestaltung von der Annahme aus, daß die kranken oder krankenversicherten Menschen unberechtigterweise ärztliche Leistungen in Anspruch nähmen und daß das verhindert werden müsse. Das ist das erklärte Ziel dieses Gesetzentwurfs, das ist auch das erklärte Ziel der Sozialpolitik neuen Stils, von der so viel gesprochen wird.

(Abg. Ruf: Fragen Sie einmal Carlo Schmid, Ihren Fraktionskollegen; der versteht etwas davon!)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310217200
Herr Abgeordneter Ruf, Sie stehen auf der Rednerliste.

(Abg. Ruf: Wunderbar!)

Ich würde Ihnen und den anderen Kollegen vorschlagen, Zwischenrufe zu unterlassen, um auf diese Weise eine Beschleunigung der Beratung zu erreichen.

Hans Geiger (SPD):
Rede ID: ID0310217300
Es wird etwas temperamentvoller, Herr Präsident. —
Die erklärte Zielsetzung ist das doch tatsächlich. Wenn man so etwas erreichen will, Herr Kollege Ruf, dann ist es nicht nötig, durch drakonische Selbstbeteiligungssummen

(Zuruf von der CDU/CSU: „Drakonisch"?)

— ich werde auch das nachweisen! — den Arztbesuch zu verhindern. Wenn man das will, ist es notwendig, gesundheitspolitische Maßnahmen zu ergreifen und möglichst die Krankheiten zu verhindern. Es gibt eine ganze Fülle von Maßnahmen für diesen Zweck.

(Abg. Stingl: Das wird der beste Sozialplan nicht schaffen, die Krankheiten abzuschaffen!)

— Wenn es so einfach wäre, hätten Sie es schon längst erfunden!

(Abg. Stingl: Da sind wir viel zu sicher, daß die Welt die Welt ist. Bei Ihnen ist das Paradies auf Erden in Aussicht!)

— Schön wäre es. Sie verkünden es; wir haben es noch nie verkündet. — Meine Damen und Herren, solche gesundheitspolitischen Maßnahmen, die eingeleitet werden könnten, um die Notwendigkeit des Arztbesuches geringer zu machen, gibt es eine ganze Fülle. Sie wollen dieses Ziel dadurch erreichen, daß Sie einfach dem kranken Menschen, dem Versicherten eine finanzielle Last auferlegen, die ihn daran hindert, den Arzt aufzusuchen — das ist doch eine Tatsache —, und haben für diesen Zweck die Selbstbeteiligung an den Kosten der ärztlichen Behandlung erfunden, in der Klausur erfunden, darf ich noch dazu sagen; denn so etwas kann nur weltfremd und von der Wirklichkeit entfernt ausgebrütet werden.

(Zuruf des Abg. Stingl.)

Ihre Begründung, meine sehr verehrten Damen und Herren, warum eine solche Selbstbeteiligung des Versicherten notwendig ist, ist je nach dem Zuhörerkreis und je nach dem Vortragenden immer eine andere. Ich will wegen der vorgeschrittenen Zeit darauf verzichten, Ihre Ausführungen, Herr Kollege Stingl, mit denen des Herrn Ministers oder gar mit denen des Herrn Staatssekretärs zu konfrontieren. Aber jeder hat gemäß seinem Standpunkt eine andere Begründung für die Notwendigkeit der Selbstbeteiligung.
Auf keinen Fall wollen Sie nach Ihren Erklärungen die Versicherten noch stärker belasten und die Krankenkassen entlasten, sondern Sie wollen sie erziehen in der Vollmündigkeit. Weil Sie vollmündig sind und weil Sie Sozialpolitik für vollmündige Menschen machen, stellen Sie sich vor, 25 Millionen Versicherte erziehen zu müssen.
Aber nicht nur das. Sie wollen mit der Kostenbeteiligung, mit den finanziellen Aufwendungen des Versicherten das Vertrauen zwischen Arzt und Patient stärken. Das ist auch ein erklärtes Ziel in der Begründung des Regierungsentwurfs. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie Sie das tun wollen mit der Gesetzesvorschrift, daß zur Stärkung des Vertrauens zwischen Arzt und Patient etwa die Kassenärztliche Vereinigung das Recht erhalten soll, die Zuzahlungsbeträge zu pfänden und von dem Krankenversicherten einzuziehen.

(Abg. Stingl: Sie unterstellen aber, daß keiner bezahlt!)

— Nicht alle! Viele werden es leider nicht können, also nicht etwa: nicht wollen, nein, nicht können!

(Abg. Stingl: Wenn Sie in dieser ganzen Zeit die Politik geführt hätten, dann hätten wir solche Verhältnisse!)

— Herr Kollege Stingl, was glauben Sie, wie das Vertrauensverhältnis zwischen dem Arzt und dem Patienten gestärkt wird, wenn er das nächste Mal mit der Lohnpfändungsverfügung bei seinem Arzt anrückt! Das wird doch wirklich eine gute Sache!

(Abg. Sting: So wenig vertrauen Sie den Arbeitnehmern?)

— Nein, ihrer Leistungsfähigkeit, nicht ihrem Willen, Herr Stingl!

(Beifall bei der SPD.)

Sie haben ja auch im Regierungsentwurf immer wieder — —

(Abg. Stingl: Ich empfehle Ihnen, dazu meine Ausführungen nachzulesen!)

Sie prüfen nur; ich hoffe, daß die Prüfung ein gutes Ergebnis hat.

(Abg. Stingl: Ich habe sehr klar etwas dazu gesagt; Sie haben nur nicht zugehört! Lesen Sie es nach!)

- Entschuldigung, es ist im Laufe dieses Tages soviel anders begründet worden, als es früher von Ihnen begründet wurde, und da ist es sehr schwer, diese Argumente alle so zu behalten.

(Lebhafter Beifall bei der SPD.)


Geiger (Aalen)

In der Begründung des Regierungsentwurfs wird von einer zumutbaren Kostenbeteiligung gesprochen. Was dabei zumutbar ist, ergeben die Beispiele aus der Praxis. Meine Kollegin Dr. Hubert hat bereits einige solche Beispiele genannt, und ich habe eine Fülle parat, die ich Ihnen auch nennen kann. Ich weiß, was Sie darauf sagen: „Bis jetzt können Sie das ja noch gar nicht sagen; es gibt noch keine Gebührenordnung!"

(Abg. Ruf: Na also!)

- Aber diese Dinge werden sich auch klären, Herr Kollege Ruf, wenn die neue „Blango" da ist. Der Herr Kollege Stammberger sagte: „Blago"; aber „Blango" ist wahrscheinlich etwas richtiger, nur nicht mehr ganz original. Leider haben wir die neue „Blango" doch gar nicht, und es ist allein schon ein Unding, über ein solches Gesetz zu beraten, dessen Eckpfeiler geradezu die Gebührenordnung ist, ohne daß sie vorliegt und ohne daß jemand weiß, was daraus entsteht. Aber ich habe die Dinge nach der alten Gebührenordnung untersucht, und es sind enorme Beträge, die dabei herauskommen,

(Zurufe von der Mitte)

so große Beträge, daß sie zusammen mit dem Verlust durch die Karenztage und mit den Ausgaben für die Arzneien für den größten Teil der Familien und den größten Teil der krankenversicherten Menschen untragbar sind.

(Abg. Ruf: Nach der alten Gebührenordnung?! - Weitere Zurufe von der Mitte.)

— Selbst dann, wenn Sie in Ihrer neuen Gebührenordnung — —

(Zuruf des Abg. Winkelheide.)

- Ich kann ja nicht darüber diskutieren, Herr Kollege Winkelheide. Ihre Aufregung mir gegenüber ist fehl am Platz. Sie hätten sich dort stärker machen müssen, wo die Gebührenordnung ausgearbeitet wird. Dann hätten wir heute diskutieren können, dann wäre es möglich gewesen.

(Lebhafter Beifall bei der SPD.)

Aber so bleibt doch nichts anderes übrig, als mit den gegebenen Fakten zu rechnen und mit den spärlichen Mitteilungen des Bundesministers für Arbeit bei der Pressekonferenz — aber wirklich spärlichen Mitteilungen. Ich will von der einzelnen Ekzembehandlung gar nicht sprechen, die so außerhalb des Rahmens liegt, daß das gar nicht sein kann.

(Beifall bei der SPD.)

Aber es entstehen immerhin nach der alten Gebührenordnung Ausgaben von bis zu 46 % der Kosten für die ärztliche Behandlung. Selbst dann, wenn Sie sich stark genug machen und durchsetzen können, daß diese Gebührenordnung verändert wird, werden 30 % der Kosten für die Behandlung des Arztes noch ein Betrag sein, der mehr als spürbar und für viele unerschwinglich ist. Ich will also nicht näher auf diese Dinge eingehen, sonst hätte ich Ihnen diese Beispiele verlesen. Ich hoffe, daß Sie in der Vergangenheit selbst Kenntnis davon genommen haben.

(Unruhe und Zurufe von der Mitte.)

Die neue Gebührenordnung, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann schon deshalb nicht viel anders als die alte aussehen, weil immerhin auch das Arbeitsministerium damit rechnet, daß ein Betrag von 225 his zu 310 Millionen DM an Kosten für die Arztbehandlung von den Versicherten zusätzlich zu ihren 8,5 % Beitrag aufgebracht werden sollen. Für den Zahnersatz sind es darüber hinaus nach den vorsichtigen Schätzungen der Bundesregierung 59 bis 81 Millionen DM. Sind Sie mir dabei böse, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich von den „untragbaren Belastungen" spreche? Es ist doch eine Tatsache, die verzeichnet werden muß und die auch in der Kritik bisher überall zum Ausdruck gekommen ist. Wollen Sie denn damit festlegen, daß nicht der körperliche Zustand des Versicherten und des Kranken ausschlaggebend für das Aufsuchen des Arztes sein soll, sondern der Geldbeutel oder der Inhalt der Lohntüte am Monatsletzten? Ich muß das mit dieser Deutlichket sagen, weil auch Sie mit dieser Deutlichkeit die Versicherten überall verdächtigt haben, daß sie mit diesen Leistungen Mißbrauch betreiben.

(Lebhafter Widerspruch in der Mitte.)

Aber in diesem Gesetzentwurf wird darüber hinaus noch der Selbstverwaltung gnädigst ein Recht belassen. Damit die Belastung nicht allzu untragbar wird, soll die Selbstverwaltung künftig das Recht erhalten, zu beschließen, daß solche Versicherte und Kranke von der Beteiligung an den ärztlichen Kosten ausgenommen werden können, deren Einkommen unter 200 DM im Monat liegt. Die Selbstverwaltung kann dann etwa für die Mitglieder der Ortskrankenkassen einen solchen Beschluß nicht fassen, kann aber bei solchen Krankenkassen — und sie wünschen eine solche differenzierte Leistung —, die nicht durch Lohnfortzahlung belastet sind, unter Umständen einen solchen Beschluß fassen und wiederum zweierlei Patienten schaffen. 200 DM ist ein Satz, der fast geringer als der Fürsorgerichtsatz ist. Schon die Höhe des Anteils derjenigen Versicherten, die um 200 DM herum oder weniger verdienen, sollte Ihnen Anlaß geben, über diese Dinge nachzudenken.

(Abg. Stingl: An der Stelle haben Sie wieder nicht zugehört!)

- Ja, Sie prüfen, Sie machen gewisse Vorschläge, aber ich werde sehen, wie Sie abstimmen, Herr Kollege Stingl.

(Beifall bei der SPD.)

Ich bin gern bereit, Ihnen nach Verabschiedung dieses Gesetzes zu bestätigen, daß Sie entsprechend Ihrer Vorstellung auch Erfolg gehabt haben, so vorsichtig will ich es sagen.

(Abg. Stingl: Sie werden trotzdem weiter schimpfen! Das sage ich Ihnen jetzt schon voraus!)

— Aber lieber Herr Kollege Stingl, ich bin im Gegensatz zu den beiden Vorrednern kein Wilder.

(Abg. Sting!: Darum wundert es mich heute!)




Geiger (Aalen)

Aber ich bin erregt über diese Zumutung und diese Belastungen, und auf mich hat sich die Erregung von Hunderttausenden von Menschen übertragen, für die ich in diesem Zusammenhang spreche

(lebhafter Beifall bei der SPD)

— das darf ich Ihnen sagen —, um dieses Mißtrauen und den Mißbrauch zu verhindern.

(Abg. Stingl: Also ein echter Circulus vitiosus!)

Wenn Sie so wollen, nenne ich Ihnen das Beispiel der Kriegsbeschädigten, die durch solche Demonstrationen immerhin zu einem Teilerfolg gekommen sind. Auch das sollten Sie sich bei der Festlegung Ihrer Gesetzentwürfe merken und sollten auch einmal mit Ihrem Ministerium darüber sprechen, damit von vornherein auskalkuliert wird, was möglich ist, und nicht darauf gewartet werden muß, daß der Bundeskanzler sagt: Jetzt ist es politisch aber höchste Zeit, daß wir die Dinge anders machen!

(Lebhafter Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)

Um dieses Mißtrauen voll zu machen, sollen die Versicherten noch stärker als bisher an den Kosten für die Arzneimittel beteiligt werden. Anstatt daß man bei einer echten Reform die Brüningsche Notverordnung beseitigt hätte, die die heute zuzahlenden 50 Pf festgelegt hat, belastet man die Versicherten und auch hier wieder die Familien in einem Maß, das einfach nicht tragbar ist.
235 Millionen DM sollen die Versicherten zu den Kosten für die Arzneimittel zusätzlich aufbringen. Das sind 145 Millionen DM mehr als bisher. Wenn das, meine sehr verehrten Damen und Herren, für die Familien und insbesondere für alte Menschen, die auf die Arzneien besonders stark angewiesen sind — mehr als der junge Mensch, der seine volle Arbeitskraft hat —, keine Belastung ist, dann habe ich unrecht.
Eine solche Belastung ist nicht gerechtfertigt, schon im Interesse der alten Menschen nicht, die ein Leben lang gearbeitet und dadurch in ihren gesunden Tagen die Grundlage und die Voraussetzungen für den Weiterbestand unserer gesamten Volkswirtschaft und die Grundlage für unser heutiges Wirtschaftsergebnis geschaffen haben. Daß man sie dafür noch mit einer stärkeren Beteiligung an den Kosten für Arzneimittel und insbesondere für den Krankenhausaufenthalt bestraft, ist in keiner Weise gerechtfertigt; denn auch das tun Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren. Um der mißbräuchlichen Inanspruchnahme der Krankenversicherung zu steuern, soll der Versicherte beim Krankenhausaufenthalt bis zu 3,30 DM täglich zahlen.

(Abg. Stingl: Wer von uns hat gesagt, daß jemand mißbräuchlich ins Krankenhaus geht?! Haben Sie das irgendwo gehört?)

— O ja, sehr oft sogar! 0,5 % des Einkommens — bis zu 3,30 DM — sollen gezahlt werden. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Krankenhaus beträgt gegenwärtig etwa 23 Tage. Das bringt eine Mehrbelastung von 83 Millionen DM mit sich, die die Versicherten erbringen müssen.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310217400
Herr Abgeordneter Geiger, gestatten Sie eine Zwischenfrage? —

Thomas Ruf (CDU):
Rede ID: ID0310217500
Herr Kollege Geiger, wo steht im Regierungsentwurf, daß der Versicherte bei einem Krankenhausaufenthalt durch eine Selbstkostenbeteiligung in Anspruch genommen wird?

Hans Geiger (SPD):
Rede ID: ID0310217600
Herr Kollege Ruf, Sie haben recht — ich will das der Vollständigkeit halber sagen —, der Versicherte und die Versicherte und die Familienangehörigen,

(Abg. Ruf: Welche?)

die für sechs Wochen ihren Lohn weiter erhalten, und alle Familienangehörigen, alle Kinder. Sie dürfen mir doch nicht unterstellen, daß ich diese Dinge nicht weiß oder daß ich sie gar verschweigen möchte.

(Zuruf von der Mitte.)

Wenn ich das nicht dargelegt habe, dann nur deshalb, weil ich Ihre Zeit und Ihre Geduld nicht länger strapazieren wollte, nur deswegen. Sie sind ja ungeduldig, nicht wegen der vorgeschrittenen Zeit, sondern wegen der Wahrheiten, die in meinen Darlegungen enthalten sind.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Ruf: Halbe Wahrheiten!)

Die Beteiligung an den Kasten für das Krankenhaus soll nicht etwa dazu dienen, die Krankenkassen zu sanieren, damit sie höhere Leistungen geben könnten, sondern der Grund soll folgender sein. Ich will die Begründung der Bundesregierung dazu vorlesen, weil sie so originell ist:
Die Beteiligung an der Krankenhauspflege ist deswegen gerechtfertigt, weil bei dieser Form der Krankenpflege Ersparnisse dadurch eintreten, daß Aufwendungen für häusliche Verpflegung u. ä. entfallen.
Es ist das Geheimnis der Bundesregierung, wie eine Familie Ersparnisse machen kann, wenn sie das Unglück hat, daß ein Familienangehöriger das Krankenhaus aufsuchen muß,

(Beifall bei der SPD)

wo zusätzliche Stärkungsmittel gebraucht werden, Anschaffungen gemacht werden müssen und Fahrgeld zum Besuch aufzuwenden ist. Ich will diese Dinge gar nicht ausmalen und auch nicht alles aufzählen, aber vielleicht verraten Sie mal oder verrät die Bundesregierung, wie — —

(Abg. Ruf: Warum hat denn Ihre Fraktion beispielsweise bei der Unterhaltshilfe zugestimmt?)

— Weil es sich dort nicht um eine Versicherung gegen diese Dinge handelt.
Ich hatte fragen wollen, ob Sie mir sagen können oder ob mir das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung sagen kann, wie eine Familie Ersparnisse erzielen kann, wenn die Mutter von drei oder vier Kindern das Krankenhaus aufsuchen muß. Vielleicht dürfen wir gelegentlich dieses Geheimnis von der Bundesregierung erfahren.



Geiger (Ahlen)

Der Gesetzentwurf bringt für den Kreis der Versicherten eine Mehrbelastung von mindestens 500 bis 600 Millionen DM. Ganz besonders werden die Familien mit Kindern und die Rentner belastet, die wegen des vorgerückten Alters natürlich einen größeren Bedarf an Arznei- und sonstigen Versorgungsmitteln haben. Ist unter diesen Umständen nicht der Vorwurf gerechtfertigt, daß der Entwurf welt- und wirklichkeitsfremd sei? Hätte es nicht der Herr Bundesminister für Familienfragen als seine Aufgabe ansehen sollen, gegen diese Belastung der Familien aufzutreten? Ich glaube, das wäre eine echte Aufgabe des Familienministeriums gewesen,

(Beifall bei der SPD)

und sie wäre wirkungsvoller gewesen als zwanzig Reden, daß er für die Familien sorgen wolle.
Der Gesetzentwurf sieht einschneidende Maßnahmen und große Belastungen vor; trotzdem werden die Zwecke, die Sie erreichen wollen, damit nicht erreicht. Es gibt hier große internationale Untersuchungen. So hat, nicht etwa bei einer sozialdemokratischen Parteiveranstaltung, sondern auf der 6. Katholischen Sozialen Woche, Frau Dr. Bodmer auf Grund des Studiums der verschiedensten Beteiligungssysteme nachgewiesen, daß die Inanspruchnahme des Arztes mit dem Einkommen des Versicherten steigt und daß der Versicherte mit dem geringsten Einkommen infolge der Selbstbeteiligung den Arzt am wenigsten in Anspruch nehmen kann. Beim Krankenhausaufenthalt ist es umgekehrt; da ist es verständlich, daß die Bezieher geringerer Einkommen öfter das Krankenhaus aufsuchen müssen. Am Ende ist somit die Versichertengemeinschaft nicht entlastet, sondern sie ist noch stärker belastet, als wenn der Arzt rechtzeitig aufgesucht und eine vorbeugende Behandlung betrieben würde.
Ihr Mißtrauen wird vollends damit manifestiert und deutlich gemacht, daß Sie nicht die Karenzzeit beseitigen, daß Sie nicht Gleichberechtigung schaffen, sondern die Einrichtung der Karenzzeit auch hier zementieren und sie nicht nach Ablauf von vierzehn Tagen in Fortfall kommen lassen. Für die Betriebsunfallgeschädigten führen Sie die Karenztage erneut ein.
Das ist nach meiner Meinung keine Reform. Eine Reform läge allenfalls in der Schaffung gleichen Rechtes für alle Beteiligten, soweit sie im gleichen Betrieb beschäftigt sind und dem gleichen Betriebsziel dienen. Es besteht doch keine Berechtigung mehr, sie unterschiedlich zu behandeln je nachdem, ob sie in der Angestelltenversicherung sind oder ob sie gewerbliche Arbeitnehmer sind. Das ist keine Gleichberechtigung.
Der Vorschlag hat aber auch aus der Sache heraus keine Berechtigung, und hier, Herr Kollege Mischnick, kann ich leider Ihren Ausführungen nicht zustimmen, daß Mißbräuche mit dem Wegfall der Karenzzeit getrieben worden seien. Natürlich, das gibt es in allen Bereichen. Aber ich will mich mit Ihnen darüber nicht auseinandersetzen, was wohl anrüchiger ist: am Sonntag mit dem Auto mit der Familie spazieren zu fahren und sich nachher eine Quittung für den Montag ausstellen
zu lassen — ich will die Aufzählung solcher Fälle nicht fortsetzen , oder einmal eine Leistung in Anspruch zu nehmen, wenn man nicht so krank ist, daß man den Kopf in der Hand tragen muß.
In der Sache und im ganzen gesehen hat sich die Arbeitnehmerschaft, die gewerbliche Arbeitnehmerschaft in diesem Fall, verantwortlicher verhalten als viele andere Volkskreise oder, wie Sie neuzeitlich oder mittelalterlich sagen, „Stände" in der Bundesrepublik. Die Zunahme des Anteils der Kranken, die seit Erlaß dieses Leistungsverbesserungsgesetzes weniger als 14 Tage krank sind, ist trotz der schlechten Anlage dieses Gesetzes — Frau Kollegin Kalinke, ich habe die Freude, Ihnen einmal zustimmen zu können, so schwer es mir nach Ihrer langen Rede auch fällt — normalerweise schon die Voraussetzung gegeben, daß jeder Rechnende versucht, länger als 14 Tage krank zu sein und in den Genuß von 30 oder 40 Mark zu kommen. So schlecht ist unser Gesetz in der Anlage, daß die Menschen direkt gezwungen werden, die „Vorteile" in Anspruch zu nehmen. Trotzdem ist das Verantwortungsbewußtsein der Arbeitnehmer so groß gewesen, daß der Anteil der Kranken, die weniger als 14 Tage krank sind, von 1956 bis zum 3. Quartal 1958 von 46,64 auf 48,30 % gestiegen ist. Trotz der schlechten Anlage des Gesetzes ist das Verantwortungsbewußtsein der Menschen groß, die Sie verdächtigen, mißbräuchlich Leistungen in Anspruch zu nehmen, und von denen der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung sagte, es bestehe die Gefahr, wenn diese Karenztage nicht wieder eingeführt würden, daß ganze Industriezweige krank feiern würden. Bei uns hat das Wort „krank feiern" noch einen abträglichen Sinn. Um nun Ihr Mißtrauens- und Mißbrauchsdenken zu krönen, wollen Sie noch den beratungsärzlichen Dienst verstärken, obwohl gegenwärtig die Krankenversicherten nicht etwa sagen können, daß er gering in seinem Umfang ist. Wir haben heute 880 Vertrauensärzte in der Bundesrepublik; nach fachlichem Urteil sollen wir künftig 5000 brauchen. Die Kosten müssen aus den Beiträgen der Versicherten aufgebracht werden. Vertrauensärzte und Obervertrauensärzte gehören in der Regel nicht zu dem Personenkreis, für den die Selbstverwaltung eine Ausnahme in der Kostenbeteiligung machen kann.
Dieser Entwurf hat das Mißtrauen zur Grundlage gemacht. Das ist ein falscher Ausgangspunkt, und deshalb ist auch das Ergebnis falsch. Ich frage den Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, wer ihm denn überhaupt das Recht gibt zu einer derartig grundlosen Verunglimpfung der Menschen, die hier verdächtigt werden.

(Oho-Rufe! bei der CDU/CSU.)

- Das sage ich mit allem Bedacht. Wer gibt denn
jemandem, der als Beamter keine Lohneinbuße oder sonst keinen finanziellen Nachteil hat und seine Kosten für die Krankheit noch in Form von Beihilfe zurückerhält das Recht, den anderen so hinzustellen als ob er mit seinen sozialen Einrichtungen Mißbrauch triebe, ganz abgesehen davon, daß der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung auch einen Vergleich mit dem Tabakmißbrauch anstellt.



Geiger (Ahlen)

Er vergißt bei dem Alkohol- und Tabakverbrauch allerdings die teuren Zigarren des Herrn Bundeswirtschaftsministers

(Heiterkeit bei der SPD)

und er vergißt, daß auch der Herr Bundeswirtschaftsminister trotzdem einer Grippeerkrankung erlegen ist. Und wenn ein hoher Prozentsatz der Kollegen der CDU-Fraktion an Grippe erkrankt ist, so ist ja nicht anzunehmen, daß sie sich mißbräuchlich krank gemeldet haben, es sei denn, sie wollten bei der heutigen ersten Lesung des Gesetzentwurfs nicht dabei sein.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

Meine Damen und Herren! Die steigenden Krankenziffern und die steigenden Ausgaben für die Krankenversicherung sind nicht der Ausdruck eines Mißbrauchs seitens der Versicherten, sondern es handelt sich um die Folgen des Krieges. Es ist selbstverständlich, daß Millionen von Kriegsbeschädigten und Spätheimkehrern durch ihren schlechten Gesundheitszustand die Ausgaben entsprechend beeinflussen. Sie werden auch nicht wünschen, daß diejenigen, die mitgeholfen haben, die Voraussetzungen für die Blüte unserer heutigen Wirtschaft zu schaffen, als Drückeberger oder Bummelanten bezeichnet werden, wie das zuweilen geschieht.
Meine Damen und Herren! Eines darf ich zum Schluß nicht vergessen. Eine Leistungsverbesserung enthält dieser Gesetzentwurf doch,

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Nur eine?)

- eine wesentliche Leistungsverbesserung, Frau Kollegin Weber —, bei der weder das Mißtrauen Pate gestanden hat noch eine „Selbstbeteiligung" festgelegt worden ist: Das Sterbegeld wird wesentlich erhöht.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD. Abg. Ruf: Das war billig!)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310217700
Meine Damen und Herren, es stehen noch vier Redner auf der Liste. Es ist interfraktionell vereinbart, daß jeder dieser Redner nur zehn Minuten sprechen soll. Darf ich dies als Ihren Beschluß betrachten?

(Zustimmung.)

-- Das ist der Fall. Also jeder Redner zehn Minuten. Das Wort hat Frau Abgeordnete Korspeter.

Lisa Korspeter (SPD):
Rede ID: ID0310217800
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es ist selbstverständlich, daß ein Gesetzentwurf, von dem so weite Kreise der Bevölkerung betroffen werden, auch unter dem Gesichtspunkt überprüft werden muß, inwieweit er in seinen Bestimmungen den Forderungen nach einer stärkeren Gesundheitssicherung der Familie, der Frau und Mutter Rechnung trägt. Von dem Gesichtspunkt her, daß die Bundesregierung hei jeder Gelegenheit die Familienpolitik als innerpolitisches Problem Nr. 1 herausstellt, kann dieser Gesetzentwurf in keiner Weise als befriedigende Lösung betrachtet werden; im Gegenteil, er bedeutet eine Verlagerung zu Lasten der Familie, insbesondere der kinderreichen Familie.

(Unruhe.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310217900
Meine Damen und Herren, ich bitte doch, so höflich zu sein, der Rednerin das Reden durch Unterlassen Ihrer Privatgespräche zu erleichtern.

Lisa Korspeter (SPD):
Rede ID: ID0310218000
Danke schön.
Es wäre sehr verlockend, in diesem Zusammenhang noch einmal auf den Referentenentwurf, den Vorläufer dieses Gesetzentwurfs, einzugehen, der einmal die ganze Familie in die Kostenbeteiligung einbezogen wissen wollte und der eine weitgehende Verschlechterung des Mutterschutzes vorsah. Ich will dieser Verlockung widerstehen. Aber für uns alle stellt sich doch die Frage, aus welchem Geist heraus die Vorbereitungen für diesen Gesetzentwurf überhaupt getroffen wurden. Die Kostenbeteiligung der Kinder bei ärztlicher Behandlung und die schlimmen Kuriositäten des Mutterschutzes, diese Produkte des Mißtrauens und der Mißachtung gegenüber der werdenden Mutter, wurden ausgemerzt; sie fanden sich im Regierungsentwurf nicht mehr wieder. Ich nehme an, die Proteste, die von draußen kamen, waren so laut und so unüberhörbar, daß es die Bundesregierung nicht wagen konnte, daran festzuhalten.
Bei diesen Protesten haben wir — ich muß es mit Bedauern feststellen — die Stimme des Herrn Familienministers nicht gehört, der doch sonst keine Gelegenheit zum Reden vorübergehen läßt.

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Es ist aber nicht gesagt, daß er nichts gesagt hat!)

— Verzeihen Sie, Frau Kollegin Weber, ich spreche von der Zeit, als der Referentenentwurf in der Diskussion war. — Für uns aber stellt sich doch die Frage, wieweit es dem Familienminister mit seiner Forderung nach dem Schutz der Familie, der Frau und der Mutter ernst ist und inwieweit er bereit ist, sich in die Reihen derer zu stellen, die den Schutz der Familie auch in diesem Gesetzentwurf gewahrt wissen wollen. Es sind eine Reihe von Punkten, die unsere Kritik hervorgerufen haben und in denen man den familienpolitischen Interessen in keiner Weise gerecht wird. Wir wollen gern den Fortschritt anerkennen, daß die Familienleistungen von jetzt an als Rechtsanspruch gewährt werden sollen. Wir wissen natürlich alle, daß es sich dabei nicht um echte Leistungsveränderungen handelt, da die Familienhilfe bislang schon von den Selbstverwaltungsorganen als Kann-Leistung gewährt wurde und deshalb allen zugute kam.
Aber diese in dem Gesetzentwurf im Hinblick auf die Familienhilfe vorgesehene Verbesserung wird in schwerwiegender Weise durch die geforderte Kostenbeteiligung überschattet, die für die Frau auf allen Gebieten und für die Kinder bei Arznei- und Heilmitteln und bei Krankenhausaufenthalt gefordert wird. Die Kostenbeteiligung der Frau und Mut-



Frau Korspeter
ter, insbesondere bei der ärztlichen Behandlung, wird sich sehr schwerwiegend auswirken. Es gehört gar nicht sehr viel Phantasie dazu, zu erkennen, daß die Kostenbeteiligung die Frau am härtesten treffen wird. Ist die Frau erwerbstätig, so ist sie doppelt beansprucht und deshalb doppelt anfällig, muß also häufiger zum Arzt gehen. Arbeitet sie nicht mit, so sind in der Familie alles andere als rosige Verhältnisse, und dann wird die Kostenbeteiligung hart zu Buche schlagen.

(Beifall bei der SPD.)

Die Frau wird immer wieder die letzte in der Familie sein, die das für die Kostenbeteiligung aufzubringende Geld für sich in Anspruch nimmt. Wir alle kennen unsere Mütter, denen kein Opfer für ihre Familie zu groß ist und bei denen nur zu sehr die Gefahr besteht, daß sie sich durch den Zwang zur Kostenbeteiligung davon abhalten lassen, früh genug zum Arzt zu gehen.
Das Bundesarbeitsministerium ist zur Begründung des Gesetzentwurfes immer wieder von der These der Stärkung der Selbstverantwortung ausgegangen. Wie steht es denn hier bei der Verantwortung der Frau und der Mutter? Handelt eine Mutter verantwortungslos, die mit jedem Pfennig rechnen muß, die am Wirtschaftsgeld ablesen muß, ob sie den Gang zum Arzt wagen kann, und die sich dann zum Schaden ihrer Gesundheit aus finanziellen Gründen entschließt, nicht zum Arzt zu gehen? Oder handelt der Gesetzgeber veranwortungslos, der eine solche Kostenbeteiligung einführt, die die Frau zurückhält, frühzeitig zum Arzt zu gehen? Das ist doch die Frage, die sich jeder stellen muß, der die Kostenbeteiligung einführen will.

(Andauernde Unruhe. — Glocke des Präsidenten.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310218100
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal um Ruhe für die Rednerin bitten.

Lisa Korspeter (SPD):
Rede ID: ID0310218200
Ich bin sicher, daß bei Einführung einer solchen Regelung die Zahl der Frauen, die zum Arzt gehen, rückläufig sein wird, und zwar aus den von mir angeführten Gründen.
Der Herr Bundesarbeitsminister würde dann diese Tatsache sehr wahrscheinlich als einen Erfolg seiner Politik herausstellen. Herr Bundesarbeitsminister, ich würde Sie urn diesen Erfolg ganz sicher nicht beneiden; denn ich finde, es wäre ein sehr bitterer, es wäre ein sehr zweifelhafter Erfolg. Es wäre in der Tat für die Volksgesundheit, für die Gesundheit unserer Frauen und Mütter besser, wenn wir dafür sorgten, daß sie eher einmal mehr als einmal zuwenig zum Arzt gehen. Es muß unseres Erachtens mehr und nicht weniger für die Gesundheit unserer Frauen und Mütter getan werden.
Mit einer solchen Kostenbeteiligung wird aber das Gegenteil erreicht. Das ist nicht nur unsere Sorge, das ist auch die Sorge der Ärzte, die deshalb aus ihrer Erfahrung so ablehnend zu der Kostenbeteiligung Stellung genommen haben. Hier wird,
Herr Kollege Stingl, die Inanspruchnahmegebühr tatsächlich zur Abschreckungsgebühr für die Frau.

(Beifall bei der SPD.)

Mit derselben Schärfe lehnen wir auch die Zuzahlung der Familienangehörigen, der Frauen und Kinder, bei Arznei- und Heilmitteln und bei Krankenhausaufenthalt ab. Die Äußerungen der Bundesregierung laufen immer darauf hinaus, die Kinder seien aus der Zuzahlung herausgenommen. Das ist doch nur bedingt richtig; denn die Zuzahlung für die Arzneien und für Krankenhausaufenthalt auch für die Kinder wurde aufrechterhalten. Die Begründung der Bundesregierung, daß bei Krankenhausaufenthalt in der Familie Ersparnisse erzielt werden können, erscheint doch geradezu weltfremd, wenn man an die Praxis denkt. Jeder Krankenhausaufenthalt beginnt erst einmal mit Kosten. Das wissen wir alle aus der Erfahrung. Eventuell müssen Anschaffungen gemacht werden, beim Besuch des Kranken entstehen Kosten, die ganz besonders hoch werden, wenn Fahrtkosten hinzukommen. Der Kranke benötigt nach der Entlassung besondere Pflege. Das ist die Praxis.

(Zuruf des Abg. Stingl.)

— Herr Kollege Stingl, ich persönlich habe andere Erfahrungen gemacht. Die Begründung, während des Krankenhausaufenthaltes würden häusliche Ersparnisse gemacht, erscheint aber geradezu grotesk, wenn man an die Situation denkt, in der sich eine Familie befindet, wenn die Frau im Krankenhaus
liegt.

(Abg. Stingl: Da sind wir ja in schöner Einigkeit! Dazu habe ich auch etwas gesagt!)

— Ich freue mich. Wir haben es jetzt aber erst einmal mit dem Entwurf der Bundesregierung zu tun,

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Stingl, und nicht mit Ihren Äußerungen: Wir werden prüfen, wir werden sehen und werden uns dann noch einmal wieder sprechen. Ich greife jetzt den Entwurf der Bundesregierung an, und ich glaube, es ist unsere Pflicht, das zu tun, wenn wir zu diesem Gesetzentwurf Stellung nehmen.

(Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU/ CSU: Ich dachte, wir debattieren hier miteinander!)

Die Zuzahlung bedeutet unter Umständen eine ernste gesundheitliche Gefährdung für die Frau, nämlich dann, wenn ihr Gesundheitszustand einen Krankenhausaufenthalt erfordert, sie sich aber entschließt, nicht ins Krankenhaus zu gehen, weil sie der Familie keine finanzielle Belastung aufbürden will.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310218300
Frau Abgeordnete Korspeter, ich muß Sie leider darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist. Ich bitte also zu schließen.

Lisa Korspeter (SPD):
Rede ID: ID0310218400
Gut. Idi habe noch einiges sagen wollen, besonders zu den Vorsorge-



Frau Korspeter
kuren für die Frauen. Im Gesetzentwurf steht eine Formulierung, die es praktisch gar nicht dazu kommen läßt, daß sich Frauen früh genug einer Vorsorgekur unterziehen können. Im Gesetzentwurf steht, daß sie nur dann eine Vorsorgekur in Anspruch nehmen können, wenn nach ärztlichem Gutachten zu befürchten ist, daß die Frauen in absehbarer Zeit ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben können. Wir alle wissen, daß jede Frau so lange wie möglich versucht, ihren Haushalt zu versorgen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die Redezeit ist abgelaufen!)

— Ich habe einiges auch noch zum Mutterschutz sagen wollen. Wenn Sie aber meinen, ich sollte das jetzt nicht ausführen, so lassen Sie mich wenigstens darauf hinweisen

(Schlußrufe von der CDU/CSU)

— lassen Sie mich bitte diesen Satz noch zu Ende sprechen —, daß wir bei den Beratungen im Ausschuß all diese Probleme zur Debatte stellen und uns um eine Lösung bemühen werden, die den Interessen der Familie entspricht. Wir hoffen Sie dann auf unserer Seite zu finden.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310218500
Das Wort hat Frau Abgeordnete Döhring.

Clara Döhring (SPD):
Rede ID: ID0310218600
Herr Präsident! ) Meine Damen und Herren! Ich will aus dem Problemkreis der Krankenhauspflege nur zwei Punkte kurz behandeln. Der Herr Minister Blank hat heute morgen gesagt, was das für ein gutes Gesetz werden wird. Demgegenüber möchte ich darauf hinweisen, daß der „neue Stil" der Bundesregierung selbst vor den Krankenhauspflegekosten nicht haltgemacht hat. Wer ins Krankenhaus muß, der soll ebenfalls zahlen; so will es die Bundesregierung. Die Pflicht der Zuzahlung zu ,den Kosten der Krankenhauspflege ist von der Bundesregierung gleichfalls damit begründet worden, daß die Selbstbeteiligung den Versicherten den Wert der Leistungen deutlich vor Augen führen solle. Ein jeder, selbst wenn er schwerkrank im Krankenhaus liegt, soll also spüren, was nach Auffassung ,der Bundesregierung der letzte Maßstab aller Dinge ist, nämlich das Geld und nochmals das Geld.
Was die Bundesregierung plant, ist deutlich zu erkennen, und das muß ich hier einmal aussprechen. Die Versicherten und deren Angehörige sollen durch die zusätzliche Selbstbeteiligung davon abgehalten werden, ins Krankenhaus zu gehen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU.)

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hierbei die Vorstellungen des Herrn Ministerkollegen Dr. Schröder Pate gestanden haben: Dort ein Zurückschrauben der Zahl der Studenten durch Herausprüfen, um den Platzmangel an den Hochschulen weniger deutlich zu machen,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

und hier offenbar der Versuch, durch die Zuzahlungspflicht, also über den Geldbeutel, den Fehlbestand an Krankenhausbetten abzudecken.

(Abg. Stingl: Man kann alles übertreiben!)

— Das werden wir ja sehen, Herr Kollege Stingl.
Künftig soll auf die Krankenhauspflege ein Rechtsanspruch bestehen. Schön und gut! In der Praxis ist es ja schon heute so. Der bestehende Zustand wird jetzt lediglich sanktioniert. Wo bisher Schwierigkeiten auf diesem Gebiet bestanden, hat es doch nicht daran gelegen, daß die Krankenkassen ihr Ermessen mißbraucht hätten, sondern daran, daß keine Krankenhausbetten frei waren. In der Bundesrepublik fehlen bekanntlich rund 30 000 Betten; denn es ist zu bedenken, daß auch für Epidemien vorgesorgt werden muß.
Wir Sozialdemokraten haben — das möchte ich heute in diesem Zusammenhang ganz deutlich herausstellen — seit Jahren gefordert, ,daß die Bundesregierung Zuschüsse für den Nachholbedarf der Krankenhäuser gewährt, weil bekanntlich die Länder und Gemeinden nicht in ,der Lage sind, diesen Notstand von sich aus zu beheben. Wenn man jetzt einen Rechtsanspruch auf Krankenhauspflege einführen will, dann muß man auch dafür sorgen, daß die nötige Bettenzahl vorhanden ist.
Die Zuzahlung für Krankenhausaufenthalt soll 1 DM bis 3,30 DM betragen. Die aus dieser unsozialen Zuzahlungspflicht erwachsenden Mehreinnahmen schätzt die Bundesregierung auf 82 Millionen DM. Davon werden allein die Rentner über 20 Millionen DM aufzubringen haben. Die Aufbringung dieser zusätzlichen Beiträge wird den Rentnern und unter diesen wiederum den Witwen am schwersten fallen.
Eine verwitwete Frau, die Krankenhauspflege braucht, muß bei einer Rente von monatlich 100 DM mindestens 30 DM im Monat bezahlen. Die durchschnittliche Witwenrente in der Rentenversicherung der Arbeiter beträgt nach dem Stand vom Juli vorigen Jahres — das ist Ihnen allen bekannt — lediglich 109,70 DM. Hunderttausende von Witwen erhalten nur diese Durchschnittsrente, ein Teil etwas mehr, ein Teil sogar noch weniger. Sollen alle diese Frauen, wenn 'sie ins Krankenhaus müssen, Härteanträge stellen? Ich muß schon sagen, daß eine solche Zumutung eine schlechte Sache ist.
Auf die Kostenbeteiligung bei der Krankenhauspflege brauche ich nicht näher einzugehen. Meine beiden Vorredner haben hierzu das Nötige gesagt, und in den Ausschußberatungen werden wir unseren Standpunkt noch im einzelnen darlegen.
Ich will in diesem Zusammenhang noch einen anderen Punkt kurz anführen. Herr Minister Blank hat heute morgen gesagt: „Was am alten Recht gut ist, sollte auch bei einer Reform beibehalten und weiterentwickelt werden." Das klingt sehr schön. In diesem Zusammenhang ist es aber grotesk, in dem Gesetzentwurf die sogenannte Gleichstellung der Angestellten vorzusehen, indem man sie den übrigen Versicherten dadurch gleichstellt, daß sie bei Krankenhauspflege ebenfalls zuzahlen sollen, obwohl sie, wie schon Herr Kollege Mischnick an-



Frau Döhring (Stuttgart)

geführt hat, während der Gehaltsfortzahlung Beiträge abgezogen bekommen.
Das ist ein merkwürdiger Sozialstil. Anstatt die Arbeiter und Arbeiterinnen auf den bestehenden Rechtsschutz der Angestellten heraufzuholen, verschlechtert man den Rechtsanspruch der Angestellten 'und begründet es mit der sozialen Gleichstellung aller Arbeitnehmer.

(Beifall bei der SPD.)

Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß eine soziale Gleichstellung niemals nach unten, sondern stets nach oben an das bereits bestehende bessere Recht zu erfolgen hat.
Einerseits haben wir mit großer Enttäuschung feststellen müssen, daß die Regierung über die Gretchenfrage der echten Lohnfortzahlung für den Arbeiter im Krankheitsfalle einfach hinweggegangen ist. Andererseits will man hier, wo es nicht um eine Verbesserung, sondern um eine Verschlechterung des bestehenden Rechtes der Angestellten geht, einer Gleichstellung das Wort reden. Man sagt den Angestellten ganz einfach und trocken: Die Schlechterstellung müßt Ihr wegen der Gleichstellung hinnehmen.
Auf diese Weise spielt die Regierung die eine Gruppe der Arbeitnehmer gegen die andere aus. Eine der stärksten und besten Triebkräfte moderner Sozialpolitik, das Streben nach sozialrechtlicher Gleichstellung, wird dadurch gemindert und in den Augen der Menschen schlechtgemacht. Die Bundesregierung aber scheut sich nicht, eine solche Verschlechterung des bestehenden Rechtes auch noch als eine soziale Gleichstellung zu bezeichnen.
Auch bei dem Abschnitt über die Beteiligung an den Krankenhauspflegekosten ist nicht einmal der Versuch gemacht worden, sozialpolitische Grundsätze zu verwirklichen. Hier ist nichts zu entdecken als kurzsichtiges, prinzipienloses und fiskalisches Denken. Das ist keine Reform, das ist sozialer Rückschritt.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310218700
Das Wort hat der Abgeordnete Ruf.

Thomas Ruf (CDU):
Rede ID: ID0310218800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute früh bekam ich von einem der vielen stillen Ärzte, die es draußen im Lande gibt, folgenden Brief:
Ich bitte Sie, sich dafür einzusetzen, daß die Haltung Ihrer Partei und der Regierung zu dieser Sache fest bleibt. Es wäre ein Unglück für uns Ärzte, wenn sich die verantwortlichen Politiker dem Druck der falschen Agitation von verschiedenen Seiten beugen würden. Sagen Sie bitte Ihren Kollegen auch, daß es die zahlreichen Ärzte, die eine Reform wirklich wollen, sicher sehr deprimieren würde, wenn die schlechten Argumente der Lautstarken schließlich die politische Entscheidung bestimmen würden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren

(Zurufe von der SPD)

nicht nur diese Stimme, auch andere Stimmen —, ich habe mich angesichts der Aktionen der Aktionsgemeinschaften der Ärzte auf einiges eingestellt. Ich habe dann aber doch davon abgesehen auch im Interesse des Ansehens des Ärztestandes, an dem mir sehr viel liegt —, davon zu sprechen. Ich habe davon abgesehen, als hier im Hause das Gerücht verbreitet wurde, es sei veranlaßt worden, daß die Aktionen dieser Aktionsgemeinschaften bereits heute gestoppt würden. Nun höre ich wieder, dem sei nicht so. Das wird dementiert. Ich kann nicht genau feststellen, was nun eigentlich los ist. Sei dem, wie es wolle, ich will darauf nicht zurückkommen.
Aber das eine sage ich für meine Person — und ich glaube, daß manche Kollegen meiner Fraktion genauso denken wie ich —: Ich werde mich nicht im engen und engsten Kreise mit Leuten zusammensetzen, die bereit sind, im kleinen Kreise mit uns sachlich zu reden, die aber im Anschluß daran hinausgehen und draußen gegen uns und den Bundesarbeitsminister agitieren. Das lassen wir uns nicht gefallen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0310218900
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Thomas Ruf (CDU):
Rede ID: ID0310219000
Nein, ich gestatte heute bei den zehn Minuten keine Zwischenfrage.

(Zurufe von der SPD: Sie sind doch sonst Kavalier! — Keine Courtoisie!)

Nun zur Frage der Kostenbeteiligung und zum Kollegen Geiger. Herr Kollege Geiger, wir sind doch beide schwäbische Landsleut. Sie haben gesagt, der Regierungsentwurf fuße auf dem Prinzip Kampf dem Mißbrauch, Diktat des Mißtrauens usw. Unser von uns beiden sehr verehrter Landsmann Vizepräsident Carlo Schmid — er ist leider nicht mehr im Hause — hat dazu vor einiger Zeit in Frankfurt, zwar nicht in der Pauls-Kirche, aber auf dem III. Kongreß der deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege folgendes gesagt:
Der Mensch ist eben Mensch, und dazu gehört nun einmal einiges, das nicht erfreulich ist. In meiner schwäbischen Heimat sagte man: es menschelet eben.
- Das verstehen Sie doch, Herr Geiger?! —... es hat keinen Sinn, so zu tun, ... als sei jeder Arzt und sei jeder Patient genau so, wie man sich ihn malen würde ... Dem muß man durch bestimmte Einrichtungen Rechnung tragen, die es schwer machen, sich in Versuchung führen zu lassen ... auch da muß man sich eben etwas einfallen lassen.
— Das sagt Kollege Schmid, und der Herr Blank hat sich etwas einfallen lassen. —

(Zuruf von der SPD: Nur nicht das Richtige!)

Ich glaube, daß es zu schaffen ist, freilich nur, wenn wir
— damit meint er nämlich uns



Ruf
Verantwortung groß schreiben, ernst nehmen. Dieses Wort Verantwortung ist in meinem Denken das Grundwort dessen, was man Demokratie zu nennen pflegt.
Das sagt Carlo Schmid. Wunderbar fährt er dann fort:
Ich frage mich: sind wir jetzt nicht in eine Phase getreten, da viele Menschen glauben, als krank Deklarierte hätten sie ein Privileg auf Kranksein, einen Rechtsanspruch an die Gesellschaft, der sich zu einer Art von Pfründe müsse ausweiten lassen. Es müsse sich auszahlen,
— hören Sie genau zu! —
was man so lange Zeit in die Versicherung eingezahlt hat? Das ist auch die Wirklichkeit .... Ist es nicht so, daß dieses „Es-muß-sichauszahlen" vielerorts als Normalzustand angesehen wird? Hier muß ein Paroli geboten werden.
Meine Damen und Herren, bei dieser Reform bieten wir ein Paroli nach Carlo Schmid.
Herr Kollege Geiger, Sie sind in der Krankenversicherung zu Hause und kennen vielleicht manches besser als ich, der ich auf anderen Gebieten tätig bin. Die Träger der Krankenversicherung haben sich doch ganz eindeutig für eine Kostenbeteiligung ausgesprochen. Ich habe hier noch eine Mitteilung des Gemeinsamen Pressedienstes der Krankenkassen, notiert in den Ärztlichen Mitteilungen vom 22. Februar 1958. Leider erlauben es mir meine zehn Minuten nicht, daraus zu zitieren, aber ich stelle Ihnen die Mitteilung gern zur Verfügung. Was die Ärztlichen Mitteilungen angeht, könnte ich ganze Körbe voll Papier mitbringen. Die Veröffentlichungen widersprechen sich hundertfach. Es ist ein Jammer, daß man nur diese lächerlichen zehn Minuten zur Verfügung hat und die Stellungnahmen deshalb nicht zitieren kann.

(Abg. Dr. Schellenberg: Wir können morgen weitermachen, Herr Ruf!)

— Wir werden monatelang im Ausschuß beraten, da wird das Gesetz dann schon gut werden, da habe ich gar keine Sorge.

(Zurufe von der SPD: Na, na!)

Sie sagen, daß die Kostenbeteiligung zumutbar sein müsse, Auch wir sind der Auffassung, sie muß sozial zumutbar sein. Herr Kollege Stingl hat gesagt, daß wir die Frage prüfen wollen. Selbstverständlich wollen wir prüfen, inwieweit eventuell soziale Härten entstehen können. Das ist auch unser Anliegen; in dieser Beziehung sind wir uns einig. Aber Sie haben in der Vergangenheit, ohne zu murren und ohne auf die Straße zu gehen, zugelassen, daß die Beiträge von 5 auf 6, auf 8,5 % usw. gestiegen sind. Diese Beitragserhöhungen haben gerade die Empfänger kleiner und kleinster Einkommen in der Vergangenheit viel, viel mehr belastet, als sie die Kostenbeteiligung in Zukunft belasten wird. Wenn Sie sich nicht entschließen, eine Kostenbeteiligung einzuführen — das hat Herr Kollege Blank mit vollem Recht gesagt —, werden Sie des
Trends der Ausgabenentwicklung ins Uferlose nach oben nicht mehr Herr werden. Wir müssen hier Paroli bieten, wie Herr Carlo Schmid gesagt hat.
Nun wurde von der Propaganda des Arbeitsministeriums gesprochen. Es wurde übelgenommen, daß das Arbeitsministerium den Referentenentwurf, den Regierungsentwurf frühzeitig publiziert und erläutert und daß es Aufklärungsschriften verteilt hat.

(Abg. Dr. Schellenberg: Verraten Sie es nicht!)

— Da braucht man gar nichts zu verraten. Man macht auf der anderen Seite der Regierung sogar den Vorwurf, sie habe zu wenig für die Aufklärung der Bevölkerung getan. Diesen Vorwurf mache ich der Regierung. Sie hat tatsächlich zu wenig getan;

(Sehr richtig! in der Mitte und rechts)

sonst wären manche Mißverständnisse nicht entstanden.
Aber diesen Vorwurf gebe ich auf uns alle zurück. Wir sind schuld daran, wir haben dem Arbeitsministerium zu wenig Mittel zur Verfügung gestellt, wir waren zu knauserig. Hier hätten wir großzügiger sein sollen, hier hätten wir mehr tun sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei der DP.)

Meine Kollegen vom Haushaltsausschuß, wenn hier der Vorwurf erhoben wird, daß die Gebührenordnung oder dieses oder jenes noch nicht da sei, dann muß ich Ihnen einmal sagen: Sie muten hier zu, daß vier Männer, vier junge Männer alle diese hundert Dinge schaffen sollen. Klopfen wir auch hier an unsere Brust! Wir hätten rechtzeitig dafür sorgen sollen, daß dieses Referat entsprechend hätte erweitert werden können, Das ist nicht die Schuld dieser Herren; die haben wahrhaftig das Mögliche getan, und sie sind bis an die Grenze ihrer Kraft gegangen.
Und nun Herr Kollege Schellenberg,

(Abg. Dr. Schellenberg: Nun sagen Sie doch mal, was die CDU jetzt will!)

- Wunderbar, das hätte ich beinahe vergessen! Es ist sehr wichtig, daß ich sage, was die CDU will, daß die Grundsätze des Regierungsentwurfs, die Minister Blank heute früh hier im Hause wiedergegeben hat und die in diesem Entwurf niedergelegt sind, bei der zweiten und dritten Beratung verwirklicht werden.

(Abg. Dr. Schellenberg: Inanspruchnahme? Beteiligung?)

Mein Kollege Stingl hat mit Recht gesagt, daß man über das Wie der Verwirklichung reden kann. Dazu sind wir ja bereit, und wir werden im Ausschuß darüber sprechen. Aber von den Grundsätzen der unbeschränkten Zulassung, der Bezahlung nach Einzelleistung, der Rechnung für den Versicherten, der Kostenbeteiligung, der zumutbaren Kostenbeteiligung, aber auch einer wirksamen Kostenbeteiligung werden wir nicht abgehen und dafür werden wir in unserer Fraktion kämpfen.

(Beifall bei der CDU CSU und der DP.)


Ruf
ich weiß, daß wir zu dem einen oder anderen Punkt Meinungsverschiedenheiten haben. Das ist eine ganz natürliche Sache; darüber braucht sich niemand aufzuregen, damit werden wir schon fertig werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das war nur Ihre Auffassung!)

-- Nehmen Sie mir doch bitte von diesen zehn Minuten nichts weg!

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310219100
Ihre zehn Minuten sind bereits abgelaufen!

Thomas Ruf (CDU):
Rede ID: ID0310219200
Ich komme zum Schluß. Ich will mir einige schöne Sachen für eine spätere Gelegenheit aufbewahren. — Ich halte mich hier an ein altes Wort von Bismarck. Dieses Wort habe ich nicht ausgegraben, ich habe es, weil ich in der letzten Zeit sehr viele Arztebücher gelesen habe, in einer Schrift des von mir sehr verehrten Ehrenpräsidenten des Hartmann-Bundes, Dr. Thieding, gelesen. Er hat das Wort Bismarcks zitiert, daß alle Reformen die Frucht mühsamer Arbeiten und gegenseitigen Entgegenkommens sind. Wir wissen, welche mühselige Arbeit wir draußen und drinnen haben werden. Wir werden an die Arbeit gehen, wir werden uns zusammensetzen und wir werden uns gegenseitig entgegenkommen, wie es sich gehört. Wir werden eine gute Sache schaffen, damit unsere Versicherten in Zukunft im Falle schwerer Krankheit einen besseren Schutz haben, als sie ihn heute haben.

(Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der FDP.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310219300
Das Wort hat der Abgeordnete Börner.

Holger Börner (SPD):
Rede ID: ID0310219400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind im Laufe des heutigen Tages sehr viele Worte über das große Gebiet der Neuregelung der Krankenversicherung hier in diesem Hause gemacht worden. Aber eines, meine Damen und Herren von der Mehrheit, haben Sie vergessen uns einmal sehr deutlich zu sagen, nämlich, wie ein Versicherter, wie ein Arbeitnehmer, der das von Ihnen zitierte Monatseinkommen von 450 DM hat, mit den Belastungen dieses Gesetzes fertig werden soll. Solange Sie, meine Damen und Herren, hierauf keine klare Antwort gegeben haben, müssen Sie sich gefallen lassen, daß die Unruhe in der deutschen Öffentlichkeit bleibt; und ich kann Ihnen schon heute sagen: solange die Unruhe — die Sie heute durch Ihre Ausführungen nicht beseitigen konnten — noch da ist, wird es auch weiterhin zu Aktionen kommen, die heute von Ihnen so verurteilt worden sind.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Ich möchte nur das eine sagen: denjenigen in diesem Hause — einschließlich der Herren vom Bundesarbeitsministerium —, die hier immer so viel von Selbstverantwortung gesprochen haben, wünsche ich
einmal das Monatseinkommen von 450 DM und die Sorgen einer vier- oder fünfköpfigen Familie,

(Zurufe von der CDU/CSU)

damit sie endlich einmal zwischen Ideologie und Wirklichkeit unterscheiden lernen.

(Abg. Pelster: Das haben wir alles hinter uns!)

— Nun, wenn Sie das hinter sich haben, Herr Kollege, dann bedauere ich nur, daß Sie ein so kurzes Gedächtnis haben.
Wir werden uns im Ausschuß über diese Dinge noch unterhalten, und wir werden uns auch weiterhin in der Öffentlichkeit unterhalten. Aber diese Debatte darf nicht vorübergehen, ohne daß noch einige Worte zu einem Fragenkomplex gesagt werden, der zu den Grunddingen dieser Reform gehört, nämlich zu der Frage der echten Lohnfortzahlung. Hier wäre ein klärendes Wort des Herrn Ministers heute vormittag am Platze gewesen. Herr Kollege Stingl hat in seinem Diskussionsbeitrag davon gesprochen, daß man diese Frage prüfen wolle und daß man eventuell darüber reden könne. Nun, meine Damen und Herren, Sie können sicher sein, daß von der sozialdemokratischen Fraktion die Frage der Lohnfortzahlung zu einer entscheidenden Frage bei der Beratung dieses Gesetzes gemacht werden wird.

(Beifall bei der SPD.)

Warum? Weil man nicht von Selbstverantwortung und Mündigkeit reden und im gleichen Atemzug die Karenztage im Gesetz belassen kann, und weil man nicht davon reden kann, daß der Arbeiter mündig geworden sei, und ihm gleichzeitig die echte Gleichstellung mit dem Angestellten — dem wir diese Regelung gönnen — verweigern kann.
Es geht hier doch darum, daß man der Gruppe unseres Volkes, die entscheidend die Basis für die wirtschaftliche Blüte unseres Vaterlandes mit hat schaffen helfen, nun endlich einmal die sozialpolitische Gerechtigkeit widerfahren läßt, die ihr gebührt.
Das ist ein Problem, zu dem — ich kann in der kurzen Zeit nur darauf hinweisen — auch schon Äußerungen Ihrer Fraktion von 1956, 1957 und 1958 vorliegen. Es waren, glaube ich, zuletzt der Herr Kollege Dittrich und der Herr Kollege Schüttler, die am 14. Februar 1958 gesagt haben, daß Sie dieses Problem bei dieser Reform lösen wollten. Warum also in dem Gesetzentwurf Ihrer Regierung keine eindeutige Äußerung zu diesem wichtigen Fragenkomplex?
Wenn hier jemand aufsteht und sagt, das sei wirtschaftlich nicht tragbar, muß ich erwidern: Unsere Volkswirtschaft hat in den vergangenen Jahren eine solche Entwicklung genommen, daß diese Belastung verkraftet werden kann. Es muß auch gesagt werden, daß es schon Unternehmer gibt, die diese Frage für ihren Bereich zufriedenstellend gelöst haben. Auch in unserem Antrag von 1956 ist schon eine Möglichkeit der Lösung dieses Problems besonders für den Klein- und Mittelbetrieb angedeutet worden. Warum also von Ihrer Seite hierzu keine klare Stellungnahme?



Börner
Nun, Sie können sicher sein, daß wir uns mit dem, was heute an unverbindlichen und freundlichen Worten über diesen Komplex gesagt worden ist, nicht zufriedengeben werden,

(Zurufe von der Mitte)

sondern daß die Ausschußberatungen für uns der Anlaß sein werden, die echte Lohnfortzahlung für alle Arbeiter durch den Betrieb zu fordern. Wir werden Möglichkeiten erwägen, auch in diesem Gesetz die Krankenkassen von diesem Komplex zu entlasten. Sie können sicher sein, daß wir uns bei der Beratung dieser Frage nicht darauf verlassen werden, daß der eine oder andere von Ihnen vielleicht mit uns in dieser Frage ,übereinstimmt, sondern entscheidend wird sein, daß Ihre Fraktion, die CDU/CSU, als Ganzes einmal zu dieser Frage Stellung nimmt. Ich sage Ihnen heute zum Abschluß dieser Debatte: von unserer Seite können Sie versichert sein, daß das Problem Lohnfortzahlung nicht mehr von der Tagesordnung dieses Hauses bis zu seiner endgültigen Lösung verschwinden wird.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0310219500
Meine Damen und Herren, die Rednerliste ist erschöpft.

(Zurufe: Wir auch!)

Ich darf die Beratung des Gesetzentwurfes zur Neuregelung der Krankenversicherung nach elfstündiger Dauer beschließen.
Ich schlage Ihnen vor, den Gesetzentwurf Drucksache 1540 an den Ausschuß für Sozialpolitik — federführend — und an die Ausschüsse für Gesundheitswesen und Haushalt zur Mitberatung zu überweisen. Widerspruch erfolgt nicht; dann ist diese Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, der dritte Punkt der Tagesordnung kann heute nicht mehr beraten werden. Er wird morgen im Anschluß an Punkt vier der gemeinsamen Tagesordnung erledigt werden.
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Donnerstag, den 18. Februar 1960, 14.30 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.