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ID0310211200

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    Deutscher Bundestag 102. Sitzung Bonn, den 17. Februar 1960 Inhalt: Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Wittmann und Dr. Böhm . . . . 5485 A Fragestunde (Drucksache 1609) Frage des Abg. Schneider (Bremerhaven) : Filme antideutscher Tendenz im amerikanischen und kanadischen Fernsehen Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5485 C Frage des Abg. Schmitt (Vockenhausen): Verhalten des Konsuls Karl Julius Hoffmann in New York Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5485 D, 5486 A Schmitt (Vockenhausen) (SPD) . . . 5486 A Frage der Abg. Frau Dr. Hubert: Vorlage des Europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten an den Bundestag Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5486 B Frau Dr. Hubert (SPD) 5486 D. Frage des Abg. Dr. Bucher: Besetzung der deutschen Botschaft in Paris Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5487 A Frage des Abg. Lohmar: Äußerung des Abg. Gradl in der außenpolitischen Debatte des Bundestages am 10. Februar Dr. van Scherpenberg, Staatssekretär 5487 A Lohmar (SPD) . . . . . . . . . 5487 B Frage des Abg. Dr. Werber: Nichtseßhaftenfürsorge Dr. Schröder, Bundesminister 5487 C, 5488 A Dr. Werber (CDU/CSU) . . . . . 5487 D Frage des Abg. Lohmar: Verhalten des Publizisten Schlamm Dr. Schröder, Bundesminister . . 5488 A, B Lohmar (SPD) . . . . . . . . 5488 A, B Frage des Abg. Dr. Arndt: Förderung Münchens als bayerische Landeshauptstadt durch dein Bund Lücke, Bundesminister 5488 C Frage des Abg. Baier (Mosbach): Erstellung von Kinderspielplätzen Lücke, Bundesminister . . 5488 D, 5489 B Baier (Mosbach) (CDU/CSU) . . . 5489 B II Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 102. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Februar 1960 Frage des Abg. Schmitt (Vockenhausen) : Steuerfreiheit bei Abwicklung von Geschäften über Gesellschaften mit dem Sitz in Vaduz Dr. Hettlage, Staatssekretär . . . 5489 C Schmitt (Vockenhausen) (SPD) . . . 5489 C Frage des Abg. Dr. Ratzel: Förderung des Ausbaus eines Ferngasnetzes durch die Bundesregierung Dr. Westrick, Staatssekretär . . . 5489 D Frage des Abg. Ludwig: Kündigung von 350 deutschen Arbeitern des französischen Militärbetriebs BRM zum Jahresende 1959 Dr. Hettlage, Staatssekretär . . . 5490 B Frage des Abg. Bauer (Würzburg) : Vorlage des Bundeswaffengesetzes für den zivilen Bereich durch die Bundesregierung Dr. Westrick, Staatssekretät 5490 D, 5491 A Bauer (Würzburg) (SPD) . . . . . 5491 A Frage des Abg. Dr. Bechert: Aufklärung der Käufer von Freibankfleisch Schwarz, Bundesminister . 5491 B, 5492 A Dr. Bechert (SPD) . . . 5491 C, 5492 A Frage des Abg. Seidel (Fürth): Weiterführung von Karteikarten aus der Zeit vor 1945 bei der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Blank, Bundesminister . . . . . 5492 B Seidel (Fürth) (SPD) 5492 C Frage des Abg. Jahn (Marburg) : Veröffentlichung von Urteilen im Bundesversorgungsblatt Blank, Bundesminister . 5492 D, 5493 A Jahn (Marburg) (SPD) 5493 A Frage des Abg. Brück: Beeinträchtigung des Königsforstes durch die geplante Bundesstraße 55 Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5493 B Frage des Abg. Brück: Linienführung der Umgehungsstraße von Bensberg zur B 55 Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5493 C Frage des Abg. Schmitt (VOckenhausen): Einführung von Parkscheiben Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5493 D Frage des Abg. Baier (Mosbach) : Unfälle auf der Autobahn Frankfurt— Mannheim und Mannheim—Heidelberg Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5494 B Frage des Abg. Hübner: Einrichtung einer 1. Klasse im Flugverkehr zwischen Berlin und dem Bundesgebiet Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5495 C Frage des Abg. Schmidt (Hamburg) : Besetzung der Radargeräte im Bereich der Bundesanstalt für Flugsicherung Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 5495 D, 5496 B Schmidt (Hamburg) (SPD) . . . . 5496 A Große Anfrage der Fraktion der SPD betr. Neuregelung der sozialen Krankenversicherung (Drucksache 1298); verbunden mit Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetz — KVNG) (Drucksache 1540) — Erste Beratung — Rohde (SPD) 5497 A Blank, Bundesminister . 5498 D, 5527 A Stingl (CDU/CSU) 5508 B Dr. Schellenberg (SPD) 5517 B Dr. Stammberger (FDP) 5527 D Frau Kalinke (DP) 5532 C Dr. Franz (CDU/CSU) 5545 A Frau Dr. Hubert (SPD) 5547 C Schneider (Hamburg) (CDU/CSU) 5550 B Dr. Bärsch (SPD) . . . . . . . 5554 C Mischnick (FDP) . . . . . . . 5558 D Geiger (Aalen) (SPD) 5560 C Frau Korspeter (SPD) 5566 B Frau Döhring (Stuttgart) (SPD) . . 5568 A Ruf (CDU/CSU) . . . . . . . 5569 B Börner (SPD) 5571 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . 5572 D Anlage 5573 Deutscher Bundestag - 3. Wahlperiode — 102. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Februar 1960 5485 102. Sitzung Bonn, den 17. Februar 1960 Stenographischer Bericht Beginn: 9.03 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Frau Albertz 29. 2. Bauereisen 19. 2. Behrisch 18. 2. Benda 19. 2. Dr. Birrenbach 19. 2. Brand 19. 2. Brüns 2. 7. Deringer 19. 2. Eberhard 27. 2. Dr. Eckhardt 28. 2. Eilers (Oldenburg) 19. 2. Even (Köln) 29. 2. Frau Friese-Korn 27. 2. Geiger (München) 19. 2. D. Dr. Gerstenmaier 17. 2. Glüsing (Dithmarschen) 19. 2. Dr. Greve 17. 2. Dr. Gülich 16. 4. Haage 19. 2. Dr. von Haniel-Niethammer 19. 2. Hellenbrock 19. 2. Dr. Höck (Salzgitter) 20. 2. Horn 19. 2. Hübner 19. 2. Abgeordnete() beurlaubt bis einschließlich Illerhaus 17. 2. Jacobs 7. 3. Jahn (Frankfurt) 23. 4. Dr. Jordan 19. 2. Kalbitzer 19. 2. Frau Klemmert 15. 5. Koch 19. 2. Leukert 19. 2. Dr. Lindenberg 19. 2. Lulay 29. 2. Maier (Freiburg) 16. 4. Metzger 18. 2. Mühlenberg 19. 2. Müser 20. 2. Probst (Freiburg) 17. 2. Ramms 19. 2. Scheel 17. 2. Schlick 20. 2. Schultz 17. 2. Dr. Starke 19. 2. Dr. Steinmetz 19. 2. Wehr 23. 4. Frau Welter (Aachen) 27. 2. Werner 24. 2. Dr. Willeke 1. 3. b) Urlaubsanträge Frau Berger-Heise 27. 2. Dr. Leverkuehn 25. 2. Spitzmüller 8. 3.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Ernst Schellenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Rede des Herrn Kollegen Stingl habe ich mich gefragt, ob wir denn heute die erste Lesung eines Gesetzentwurfs der Regierung durchführen, die von der CDU getragen wird, oder ob wir uns in einem allgemeinen Gespräch über einen unverbindlichen Referentenentwurf befinden.

    (Sehr gut! und Heiterkeit bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, das nötigt mich leider, einige Dinge über die Entwicklung dieses Gesetzentwurfs voranzustellen, weil der CDU-Fraktion offenbar manches nicht mehr im Gedächtnis ist.
    Seitdem auf dem Kieler Parteitag 1957 das Wort von den Grenzen des Sozialstaates gefallen ist, ist es in der CDU um den Stilwandel der Sozialpolitik nicht mehr ruhig geworden. Der Herr Bundesarbeitsminister war und ist der Repräsentant für die Bemühungen der CDU.
    Die Bundesregierung ist dann sehr bald darangegangen, diese Vorstellungen zu konkretisieren, hier für den Bereich der sozialen Krankenversicherung. Das hat der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung angekündigt. Dann wurden sehr bald, im Jahre 1958, Beschlüsse des Sozialkabinetts über die Neuordnung der sozialen Krankenversicherung veröffentlicht, denen, so weit ich die Zeitschriften und Zeitungen verfolgt habe, die Sprecher der CDU voll und ganz zugestimmt haben.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Um die Jahreswende 1958/59 wurde der Referentenentwurf veröffentlicht. Er war Gegenstand einer lebhaften öffentlichen Aussprache und vielfacher Kritik. Soweit sich aber Sprecher der CDU dazu geäußert haben, haben sie sich nicht nur zu den Grundzügen des Referentenentwurfes bekannt, sondern auch

    (Abg. Schüttler: Auch heute!)

    — das werden wir gleich sehen — zu den Vorschlägen im einzelnen. Der Herr Bundesarbeitsminister hat damals zwar — das wurde vorhin schon erwähnt — erklärt: Jawohl, warten Sie einmal ab, das ist nicht mein Entwurf. Aber wir haben schon gehört, daß dann mit Unterstützung des Bundesarbeitsministeriums — wie weit die Unterstützung auch finanziell bis zum Bundespresseamt ging, kann man vielleicht im Ausschuß klären — jene berühmte Schrift „Wer soll das bezahlen?" herauskam. In dieser Schrift wurde konkret dargelegt, welche Vorstellungen die Referenten des Bundesarbeitsministeriums oder, ich weiß nicht, die Regierung oder jedenfalls die offiziellen Stellen zu der Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
    Dann kam der große Tag des Beschlusses der Bundesregierung über den überarbeiteten, aber in seinen Grundgedanken erhalten gebliebenen Referentenentwurf.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Es ist doch sehr interessant, sich heute daran zu erinnern, was der Herr Bundesarbeitsminister damals der Presse und damit der Öffentlichkeit erklärte. Ich möchte es zitieren — Pressemitteilung vom 24. November 1959 —:
    Der Bundesarbeitsminister erschien nach der Kabinettssitzung vor der Bundespressekonferenz mit strahlendem Lächeln.

    (Abg. Frau Kalinke: Das ist immer gut!)

    Er erklärte, man habe in der Politik nicht oft Freude.

    (Abg. Frau Kalinke: Therapie!)




    Dr. Schellenberg
    „Aber heute habe ich einen freudigen Tag!" Theodor Blank meinte, er sei von tiefer Freude erfüllt, daß das Bundeskabinett den Gesetzentwurf einstimmig und ohne Änderungen verabschiedet hat.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Es ist doch immerhin interessant, sich heute daran zu erinnern,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Ein Grund zur Freude!)

    daß dies vor einem Vierteljahr gesagt wurde. Ich will hier nicht untersuchen, ob diese Erklärung des Herrn Bundesarbeitsministers in Einklang mit § 22 der Geschäftsordnung der Bundesregierung stand, die nämlich zu einer Vertraulichkeit auch über das Abstimmungsergebnis in der Bundesregierung verpflichtet. Das mag der Herr Bundesarbeitsminister mit dem Herrn Bundeskanzler ausmachen. Politisch ist für uns und für die Öffentlichkeit entscheidend, daß die Bundesregierung in Kenntnis der scharfen öffentlichen Kritik am Referentenentwurf einstimmig unverändert die Vorschläge des Bundesarbeitsministeriums akzeptiert hat.

    (Abg. Dr. Seffrin: Na und!?)

    Dann ging der Regierungsentwurf in die Öffentlichkeit. Die Stimmen der Kritik erhoben sich nochmals nachdrücklich. Er wurde im Bundesrat beraten. Der Bundesrat hat eine ganze Reihe — über 130 — Änderungsvorschläge gemacht. Das war für die Bundesregierung eine Gelegenheit, die Konzeption und die praktische Durchführung unter Berücksichtigung der Kritik noch einmal zu überprüfen. In verschiedenen Fragen technischer Art ist die Bundesregierung ,den Anregungen des Bundesrates gefolgt. Aber in allen neuralgischen Punkten, zu denen heute die CDU eine sehr merkwürdige Stellung eingenommen hat,

    (Oho!-Rufe bei der CDU/CSU)

    hat die Bundesregierung erklärt — an über 20 Stellen, ich möchte es wörtlich zitieren —: „Eine Stellungnahme ist nicht veranlaßt!"
    Man hätte annehmen können, daß damit die politische Situation bezüglich der Vorstellungen der Bundesregierung über die Reform der Krankenversicherung klar und eindeutig wäre. Aber nachdem der Regierungsentwurf diesem Hause mit den Änderungsvorschlägen des Bundesrats und der Stellungnahme der Bundesregierung zugegangen ist, haben sich einige eigenartige Dinge ereignet.
    Die scharfe Kritik der Ärzte hat dazu geführt — Kollege Rohde deutete es schon an —, daß der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion in einer offiziellen Fraktionserklärung das Verhalten von Ärzteorganisationen als staatsabträglich bezeichnete. Das ist ein böses und gefährliches Wort.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Wieso denn? — Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] : Das Verhalten der Organisationen ist gefährlich!)

    Es kann nicht hingenommen werden, daß in solcher
    Weise von dem Repräsentanten der CDU der Versuch unternommen wird, die Wahrnehmung berechtigter gesundheitspolitischer, standespolitischer und natürlich auch wirtschaftlicher Interessen zu diskriminieren.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Stingl: Das verwehrt niemand! Es kommt auf die Art und Weise der Wahrnehmung an! Halten Sie solche Flugblätter für berechtigte Interessenwahrnehmung?!)

    — Es kommt nicht darauf an, in welcher Form im einzelnen solche Propaganda gemacht wird. Darüber kann man streiten. Grundsätzlich muß es aber dem, der sich in der Öffentlichkeit zu Wort meldet, überlassen bleiben, in welcher Art und Weise

    (Abg. Stingl: Nein!)

    er sich Gehör verschaffen zu können glaubt. Grundsätzlich steht ihm das frei.

    (Beifall bei der SPD: — Abg. Stingl: Und es steht jedem frei, es als das zu bezeichnen, was es ist!)

    Die Angelegenheit wird noch interessanter. Nachdem der Entwurf uns zugeleitet worden ist, ist in den letzten Tagen der Herr Bundesarbeitsminister in der Öffentlichkeit aktiv geworden. Er hat sich — das ist sein gutes Recht — im Fernsehen scharf mit der Kritik am Entwurf auseinandergesetzt. Ferner hat er erklärt — das muß ich auch wieder zitieren, weil es für die weitere Entwicklung beachtlich ist —: „Ob der Entwurf verändert oder unverändert verabschiedet wird, das entscheidet allein das Parlament." Auch heute hat der Herr Bundesarbeitsminister — das muß ich anerkennen — von dem Respekt gegenüber dem Parlament gesprochen. Aber zwischen der Erklärung im Fernsehen vom 8. Februar und der Äußerung von dem Respekt vor dem Parlament, die heute Vormittag gemacht worden ist, liegen noch einige andere Erklärungen des Bundesarbeitsministers, die es jedenfalls in Frage stellen, ob das Parlament so respektiert worden ist. Der Bundesarbeitsminister hat nämlich einen Tag nach jener Rundfunkerklärung im Auftrag des Herrn Bundeskanzlers einen Brief an die gleichen Persönlichkeiten geschrieben, deren Aktionen der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion als staatsabträglich bezeichnet hat. Der Minister hat einen Brief geschrieben und erklärt, daß er sich dafür einsetzen werde, einen umstrittenen Punkt — es handelt sich um die Höchstgrenze der Kostenbeteiligung — im Zuge der Beratungen abzuändern.
    In der gleichen Woche ist der Herr Bundesarbeitsminister auch in Erklärungen vor der Presse aktiv geworden und ist — das war jedenfalls der allgemeine Eindruck in der Öffentlichkeit — weiter von dem Inhalt des Entwurfs, den wir jetzt beraten sollen, abgerückt, beispielsweise hinsichtlich der Möglichkeit einer staatlichen Festsetzung der Gebührenordnung. Weiter hat der Minister erklärt, das Kontrollarztsystem könne man doch lockerer gestalten usw.
    Ich habe volles menschliches Verständnis dafür, daß der Herr Bundesarbeitsminister, der so unter eine öffentliche Kritik genommen wurde, in einer solchen Situation versucht, in dieser oder jener Hinsicht einen Rückzieher zu machen und zu retten,

    g

    Dr. Schellenberg
    was zu retten ist oder, wie wir heute feststellen müssen, was nicht mehr zu retten ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Aber politisch kann es nach Ansicht meiner Fraktion nicht hingenommen werden, daß, nachdem der Gesetzentwurf dem Hause zugegangen ist, der Herr Bundesarbeitsminister sich in dieser oder jener Weise davon zu distanzieren versucht. Es geht selbstverständlich nicht um den materiellen Inhalt dessen, was gesagt worden ist. Nach unserer Auffassung aber ist es nicht angängig, uns einen Entwurf zur Beratung vorzulegen und gleichzeitig in der Öffentlichkeit selber Änderungsvorschläge dazu zu machen.
    Das muß deshalb gesagt werden, weil jahrelang Zeit gewesen ist, alle die Punkte, die in dem Gesetzentwurf behandelt werden, sorgfältig und gründlich zu überlegen, und zwar in vier Stadien: Beschluß des Sozialkabinetts, Referentenentwurf, Beschluß der Regierung und dann noch einmal Stellungnahme zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates. In allen diesen vier Stadien ist die Bundesregierung, ich muß es heute sagen, immer uneinsichtig und — man muß den harten Ausdruck gebrauchen — stur gewesen.
    Bei dieser Sachlage ist es doch sehr erstaunlich, daß der Herr Bundesarbeitsminister, nachdem der Entwurf beschlossen wurde, plötzlich beweglich wird und in der Öffentlichkeit eine Taktik anwendet, die Zweifel darüber aufkommen läßt, ob und wieweit er hinter dem steht, wozu sich der Minister bei der Verabschiedung des Entwurfs durch das Kabinett so stark bekannt hat.
    Aber nun zu den Erklärungen des Kollegen Stingl, die er namens seiner Fraktion abgegeben hat. Herr Kollege Stingl hat unter anderem gesagt
    — ich habe mir das mitgeschrieben, und wir alle haben es, nehme ich an, so vernommen —, die CDU/CSU-Fraktion wolle prüfen, ob die Grundgedanken der CDU/CSU in dem Entwurf ausreichend berücksichtigt sind.

    (Heiterkeit bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)

    — Ja, meine Damen und Herren, da muß man wirklich den Kopf schütteln. Bekanntlich beraten wir heute einen Gesetzentwurf, der von der Bundesregierung unter Vorsitz des Bundeskanzlers, der gleichzeitig Vorsitzender der CDU ist, einstimmig verabschiedet worden ist, und dann wird gesagt: Wir wollen prüfen, ob der Gesetzentwurf die Grundsätze der CDU ausreichend berücksichtigt!
    Nach all dem, was der Herr Bundesarbeitsminister in den letzten Tagen schon getan hat oder vielleicht auch tun mußte - ich kann das nicht beurteilen —, mußten wir erwarten, daß Sie von der CDU heute versuchen würden, ein taktisches Rückzugsmanöver anzutreten. Aber daß Sie jetzt in der zweiten Halbzeit des Bundestages in einem der entscheidendsten sozialpolitischen Bereiche die volle Flucht ergreifen, das konnten wir wirklich nicht erwarten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir sind beglückt darüber. Herr Kollege Stingl, die
    Anerkennung und Hochachtung, die ich vor Ihnen
    habe, hat sich heute noch verstärkt, nachdem Sie es auf sich genommen haben, die Regierung in dieser Weise zu desavouieren. Also wirklich: meine persönliche Anerkennung.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Stingl: Wir fassen es anders auf! — Weitere Zurufe von der Mitte.)

    — Meine Damen und Herren, Sie müssen sich doch bewußt sein, welche starken Worte in den letzten Jahren und Monaten bei der Behandlung dieser Frage gefallen sind. Die Öffentlichkeit mußte doch erwarten, daß Sie uns heute sagen, wie Sie sich beispielsweise die Gestaltung der Kostenbeteiligung im Gesetz praktisch denken.

    (Zurufe von der Mitte: Ausschuß!)

    Die Ärzte mußten doch erwarten, daß ihnen gesagt wird, wie Sie sich zu ihren Einwendungen gegenüber der gesetzlichen Regelung stellen. Sie sind allen Problemen, den neuralgischen und kritischen Punkten und der Frage, wie Ihre Vorstellungen im Gesetz verwirklicht werden sollen, ausgewichen.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Stingl: Wir haben noch keine Ausschußberatungen gehabt!)

    Darin zeigt sich das Ausmaß der Verwirrung, in der Sie sich befinden.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Die logische Konsequenz wäre gewesen, daß Sie die Regierung ersucht hätten, den Gesetzentwurf nach den jetzt reichlich verspätet gewonnenen und reichlich unklaren Erkenntnissen zurückzuziehen und von der Regierung überarbeiten zu lassen.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Stingl: Nein! Keine Spur! — Abg. Dr. Dittrich: Das hätte die Reform verzögert!)

    Sie hätten in den Jahren der Vorbereitung die Verpflichtung gehabt, sich vor Einbringung des Gesetzentwurfs eine Meinung über die Gestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung zu bilden, wie wir alle uns eine Meinung darüber bilden mußten und gebildet haben. Hätten Sie das getan, dann hätten Sie sich nicht in eine solch peinliche Lage gebracht. Sie haben es nicht getan. Deshalb werden wir Sie immer wieder mit den Vorschriften des Gesetzentwurfs Ihrer Regierung konfrontieren und Sie zu einer klaren Stellungnahme zwingen.

    (Abg. Stingl: Aber selbstverständlich!)

    Darum kommen Sie nicht so leicht herum.

    (Abg. Stingl: Dazu bedarf es Ihrer Aufforderung nicht, das werden wir selber tun!)

    Ich will Ihnen sagen, wie die Sozialdemokraten zu den einzelnen Fragen stehen.

    (Zurufe von der Mitte: Ah, ah!)

    — Jawohl, selbstverständlich. Wir haben uns nämlich unsere Auffassung gebildet.

    (Abg. Stingl: Sie haben es leichter, Sie brauchen nur nein zu sagen; wir müssen auch immer sagen, was! — Lachen und Oh-Rufe bei der SPD.)


    Dr. Schellenberg
    — Herr Kollege Stingl, ich glaube, Sie werden mir nicht nachsagen können, daß ich in sozialpolitischen Fragen nein sage. Sie werden das auch meinen Kollegen nicht nachsagen können. Es ist sehr billig, uns nach einer jahrelangen gemeinsamen Arbeit an der Sozialpolitik so etwas zu sagen.

    (Abg. Stingl: Hinsichtlich der Arbeit im Ausschuß gebe ich Ihnen recht!)

    Wir haben zu allen Fragen der Sozialpolitik klar und eindeutig gesagt, was wir meinen, und dazu auch die entsprechenden Vorschläge gemacht.
    Ich beginne mit den tatsächlichen und mit den angeblichen Leistungsverbesserungen des Gesetzentwurfs. Wir erkennen an, daß die erleichterte Zulassung der Ärzte ein Fortschritt ist. Wir müssen darauf hinweisen, daß das Bundesverfassungsgericht wahrscheinlich sehr bald über die Frage der unbedingten Zulassungsfreiheit entscheiden wird.
    Wir begrüßen es ferner, daß ein Teil der Leistungsverbesserungen, die wir 1957 in einem Gesetzentwurf beantragt haben, jetzt verwirklicht werden soll.
    Ich komme zu den Leistungen der Vorsorgehilfe. Niemand wird bestreiten können, daß die Sozialdemokraten auf diese Leistungen der Vorsorgehilfe seit vielen Jahren, auch hier im Hause, mit besonderem Nachdruck hingewiesen haben. Der Gesetzentwurf sieht allgemeine Vorsorgeuntersuchungen als Regelleistung vor. Das ist ein Fortschritt. Aber bei dem Versicherten, der das 40. Lebensjahr vollendet hat, soll nur eine Vorsorgeuntersuchung innerhalb dreier Jahre erfolgen. Wir sind der Auffassung, daß dies angesichts der gesundheitlichen Aufgaben unzureichend ist.
    Vorsorgekuren sind als Kann-Leistung vorgesehen. Aber das, was in dieser Hinsicht in dem Gesetzentwurf steht, entspricht praktisch dem geltenden Recht; das ist keine Leistungsverbesserung. Auch das, was sonst bezüglich Vorsorgemaßnahmen in dem Gesetzentwurf steht, können Sie in gleicher Weise schon in den Vorschriften der RVO lesen. Das wird in der gleichen Weise schon heute von den Versicherungsträgern praktiziert.
    Ich komme zu den Fragen der Krankenhauspflege und der zeitlich unbegrenzten Gewährung gesundheitsfördernder Leistungen. Hinsichtlich der ärztlichen Behandlung ist dies, um es ganz klarzustellen, bereits seit langem geltendes Recht. Neu ist, daß durch diesen Gesetzentwurf die Krankenhauspflege als Regelleistung festgelegt und die Gewährung von Krankengeld auf die Dauer von 78 Wochen verlängert wird. Das ist ein Fortschritt, den wir anerkennen. Wir müssen jedoch darauf aufmerksam machen, daß damit die Aussteuerung nicht beseitigt ist, insbesondere deshalb nicht, weil nach dem Gesetzentwurf Bezug von Krankengeld und späterer Krankenhausaufenthalt zusammengerechnet werden, so daß derjenige, der aus dem Arbeitsleben ausscheidet und erwerbsunfähiger Rentner wird, unter Umständen weiterhin von der Aussteuerung betroffen wird.
    Wir können die Begründung, die die Bundesregierung dafür gegeben hat, nicht hinnehmen. Sie lautet: Die Versichertengemeinschaft darf nicht über Gebühr belastet werden. Wir sind der Auffassung, daß es Aufgabe der Versichertengemeinschaft ist, gerade demjenigen, der von einem so schweren Schicksalsschlag getroffen wird, lange Zeit im Krankenhaus liegen zu müssen, wenigstens die wirtschaftlichen Sorgen zu nehmen.
    Zur Bewertung der Dinge ist aber noch ein Blick auf die finanzielle Begründung des Gesetzentwurfs notwendig. Es ist für die auf bis zu 78 Wochen erstreckte Krankenhauspflege ein Mehraufwand von 35 Millionen DM angesetzt. Auf der anderen Spalte aber steht ein Minderaufwand für Krankenhauspflege von 82 Millionen DM infolge der Kostenbeteiligung.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Es ergibt sich also, wenn man den Schlußstrich zieht, daß das Leistungsvolumen für Krankenhauspflege nicht verbessert, sondern verschlechtert wird.

    (Sehr wahr! bei der SPD. — Abg. Arndgen: So kann man es auch sagen!)

    Nun zur Familienhilfe. Sowohl zur Krankenhauspflege wie zur Familienhilfe werden meine Kollegen noch Stellung nehmen; das muß geschehen. Ich möchte aber schon jetzt darauf hinweisen, daß in der Familienhilfe gleiche Leistungen für Versicherte und Angehörige, wie sie hier vorgesehen sind, von einem großen Teil der Kassen als Kann-Leistung bereits gewährt werden. Wir begrüßen selbstverständlich, daß das jetzt Regel-Leistungen werden sollen. Wir machen aber darauf aufmerksam, daß diesen Leistungsverbesserungen Kostenbeteiligungen gegenüberstehen, so daß also, wenn man auf die Familie schaut, das Gesetz Anlaß zu manchen Sorgen gibt.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, das ist überhaupt, ich möchte sagen, die Grundtendenz der Leistungsgestaltung. Nahezu alle Leistungsverbesserungen sind heute schon als Kann-Leistungen möglich und werden — auch darauf wird noch einzugehen sein — für einen großen Teil der Versicherten gewährt. Wir begrüßen, wie gesagt, daß daraus zum Teil RegelLeistungen werden sollen; das ist ein Fortschritt. Wir müssen aber darauf aufmerksam machen, daß bei nahezu jeder Leistungsverbesserung Eingriffe in das Leistungsgefüge gegenüberstehen.
    Dennoch behauptet das Bundesarbeitsministerium - auch das muß ich vorlesen —:
    Wenn die vorgesehenen Leistungsverbesserungen in der Krankenversicherung Gesetz werden, so würde dies den größten Fortschritt seit 75 Jahren bedeuten, nämlich seit der Einführung der sozialen Krankenversicherung in Deutschland.
    Meine Damen und Herren, wer die Geschichte der deutschen Sozialversicherung etwas kennt, der muß



    Dr. Schellenberg
    das als eine Irreführung der Öffentlichkeit bezeichnen.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Wir haben in den 75 Jahren schon wesentlich wichtigere Leistungsverbesserungen gehabt als die, die jetzt kommen sollen.
    Um das Gewicht dieser Dinge zu ermessen, bitte ich Sie, sich in der finanziellen Übersicht darüber zu vergewissern, daß, wenn man von den Leistungen für notwendigen Zahnersatz, beginnend ab 1967 — das wurde in der Propaganda des Bundesarbeitsministeriums anders behauptet —, einmal absieht - bis 1967 wird in der deutschen Krankenversicherung hoffentlich noch einiges verbessert —, nach den Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums sich eine Leistungsverbesserung von 356 Millionen ergeben soll. Die Verbesserungen betragen, wenn man die Leistungsverschlechterungen und die Kostenbeteiligung außer acht läßt, 356 Millionen DM. In diesem Rahmen halten sich die echten Leistungsverbesserungen, wobei ich als richtig unterstelle, daß das Bundesarbeitsministerium diese Zahlen richtig errechnet hat.
    Das bedeutet aber — und das ist für die Bewertung des Gewichts der Leistungsverbesserung wichtig —, daß der Leistungsstand um 5 % über den gegenwärtigen Leistungsstand der Krankenversicherung hinaus verbessert werden soll. Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß eine Verbesserung in einer solchen Größenordnung von 5 % auch ohne Kostenbeteiligung, ohne einen Gesetzentwurf von 300 Paragraphen und ohne das große Wort von der „Reform der Krankenversicherung" hätte verwirklicht werden können — wenn man es will.

    (Beifall bei der SPD.)

    Nun kommt natürlich die Frage: Wie soll das finanziert werden? Die Bundesregierung hat uns in der Begründung zu dem Unfallversicherungsgesetz der zweiten Legislaturperiode einen Ratschlag gegeben, den ich Ihnen vorlesen möchte. Die Bundesregierung schrieb nämlich damals in der Begründung:
    Es ist nicht angängig, die Arbeitnehmer indirekt über den Krankenversicherungsbeitrag zu Lasten der Unfallversicherung heranzuziehen.
    Wenn die Bundesregierung diese Auffassung, die sie in der zweiten Legislaturperiode hatte, jetzt aufrechterhielte, dann hätten wir die Leistungsverbesserung von 356 Millionen finanziert, und zwar ohne Kostenbeteiligung, ohne „Stilwandel" in der Sozialpolitik.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Herr Kollege Stingl, man hätte auch etwas anderes finanziell tun können. Sie haben es heute so zart anklingen lassen, indem Sie erklärten, Leistungen der Mutterschaftshilfe seien keine Leistungen für Krankheit. Auch hier könnte man nach einem Weg suchen. Aber dann wäre ein Stilwandel der Sozialpolitik zur Sicherung höherer Leistungen nicht notwendig.
    Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt. Bei all dem, was sich hier vollziehen soll, geht es zentral nicht um Leistungsverbesserungen, sondern handelt es sich um das, was Sie mit Stilwandel der Sozialpolitik bezeichnen. Darauf werden wir im einzelnen noch eingehen. Das ist der Kardinalpunkt, und das wollen wir sehr deutlich machen. Es würde aber die weiteren Auseinandersetzungen vielleicht erleichtern, wenn Sie bereit wären, voll zu den Leistungsverbesserungen zu stehen und bei den Beratungen all das wegzulassen, worüber Sie sich, wie wir heute hörten, immer noch nicht klar geworden sind; dann wäre das eine Ausgangsposition.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Ich komme jetzt zu dem Zentralpunkt dieser Vorlage, dem Stilwandel in der Sozialpolitik, der, als die Dinge begannen, mit „Mißbrauch der Sozialleistungen" begründet wurde. Heute hat sich der Herr Bundesarbeitsminister in dieser Hinsicht nicht so klar und deutlich ausgedrückt. Er befand sich also schon ein bißchen auf der Rückzugslinie, was dann Herr Kollege Stingl in die Flucht nach rückwärts verwandeln mußte.

    (Erneute Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Ich möchte Ihnen deshalb einmal vorlesen, was der Bundesarbeitsminister damals, als er mit der Reform begann, sagte. Ich zitiere aus dem Bulletin der Bundesregierung vom 30. Oktober 1958 — als Mitteilung des Bundesarbeitsministers —:
    Das System, die Ausgaben für die Krankenpflege nur durch Beiträge zu finanzieren, führt dazu, daß ein großer Teil der Versicherten bestrebt ist, aus der Krankenkasse herauszuholen, was möglich ist. Dieses Bestreben führt zu vielen Mißbräuchen.
    Dann heißt es weiter:
    Das System der kostenlosen ärztlichen Behandlung führt dazu, daß der Arzt oft unnötig und leichtfertig in Anspruch genommen wird.
    Das also waren die entscheidenden Gründe, die das Bundesarbeitsministerium damals in der Begründung für die Einführung der Selbstbeteiligung gegeben hat.
    Meine Damen und Herren, daß es in der sozialen Krankenversicherung eine mißbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen gibt, bestreite ich nicht. Die gleichen Erscheinungen gibt es aber auch in der privaten Krankenversicherung. Nur spricht man in der öffentlichen Kritik davon nicht so laut wie von den Mißständen in der sozialen Krankenversicherung. In allen Bereichen des öffentlichen Lebens, nämlich dort, wo es Spannungen zwischen den Interessen des einzelnen und den Aufgaben der Gemeinschaft gibt, besteht in noch höherem Maße die Gefahr, daß Mißbräuche vorkommen. Aber, meine Damen und Herren, das passiert nicht nur bei der Abholung von Krankenscheinen, sondern, um ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich zu nennen, auch bei der Abgabe von Steuererklärungen.

    (Beifall bei der SPD.)




    Dr. Schellenberg
    Hier muß ich auf einen Artikel hinweisen, der in den letzten Tagen durch die Presse gegangen ist. Er stammt von einem der profiliertesten Sprecher der sozialen Marktwirtschaft, Herrn Professor Schmölders, der eine Äußerung positiv zitiert hat, daß die Zahl der schuldhaft unrichtigen Steuererklärungen nur wenig unter der Zahl der abgegebenen bleibt.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Ganz so schlimm ist es in der sozialen Krankenversicherung mit den Krankenscheinen Gott sei Dank nicht.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wahrscheinlich liegt das daran, daß bei ungerechtfertigter Abnahme eines Krankenscheins eine andere wirtschaftliche Größenordnung im Spiele ist.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, wogegen wir uns verwahren -- da beginnt die Auseinandersetzung ernsthaft zu werden —, ist die Behauptung, daß ein großer Teil der Versicherten Mißbrauch mit sozialen Leistungen treibt. Dagegen verwahren wir uns deshalb, weil dadurch die überwiegende Mehrzahl der versicherten Arbeiter und Angestellten diffamiert wird.

    (Abg. Arndgen: Das hat doch keiner behauptet!)

    — Haben Sie es nicht gehört, Herr Kollege Arndgen? Da müssen Sie noch einmal das Bulletin lesen und es sich in Vergrößerung an die Wand hängen. Darin heißt es, daß ein großer Teil der Versicherten bestrebt sei, aus der Krankenkasse das Mögliche herauszuholen, das führe zu vielen Mißbräuchen, und der Arzt werde oft unnötig und leichtfertig in Anspruch genommen. Das ist eine Verallgemeinerung, aus der Sie dann durch Selbstbeteiligung die praktischen Konsequenzen ziehen wollen.
    Wir wenden uns gegen die Art der Verallgemeinerung, die eine Grundlage des Gesetzentwurfes bildet. Denn wenn es sich nach Ihrer Meinung nicht um allgemeine Erscheinungen, sondern um Einzelerscheinungen handelte, würden Sie wohl nicht vorschlagen, gegen alle Versicherten mit diesen Maßnahmen vorzugehen. Durch diese Konzeption werden praktisch nicht nur die Versicherten in großem Umfang verdächtigt, Mißbrauch zu treiben, sondern der Verdacht richtet sich in gleicher Weise gegen die Ärzte, und zwar deshalb, weil jede Leistung in der sozialen Krankenversicherung erst durch eine Bescheinigung des Arztes ermöglicht wird. Deshalb — auch deshalb — haben sich die Ärzte dagegen verwahrt.
    Der Bundesarbeitsminister hat heute sehr wenig über den Mißbrauch gesprochen. Er hat seine allgemeine Konzeption entwickelt. Wenn man das hört, klingt es eigentlich ganz sinnvoll; das will ich nicht bestreiten. So hat der Herr Bundesarbeitsminister z. B. gesagt: Der Arzt soll mehr Zeit für den Kranken haben, der Versicherte soll den Wert der ärztlichen Leistung für seine Gesundheit besser würdigen, durch die Kostenbeteiligung soll das Vertrauen zwischen Arzt und Patient gestärkt werden.
    Das Entscheidende ist aber nun: wer Pläne entwirft, muß realistisch vorgehen, der darf sich nicht nur begeistern an den Zielen, die er erreichen will, sondern muß auch sehr nüchtern untersuchen, ob nicht die Verwirklichung seiner Vorstellungen Nachteile nach sich zieht. Wir machen der Bundesregierung den Vorwurf, daß sich die Dinge nicht realistisch gesehen hat. Hätte sie das getan, so hätte sie erkennen müssen, daß die Schwächen des gegenwärtigen Systems geringfügig sind gegenüber den sozialen und gesundheitlichen Gefahren, die bei einer Verwirklichung der Vorstellungen des Bundesarbeitsministers auf uns zukommen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich möchte jetzt einige Bemerkungen zu den neuralgischen Punkten machen; meine Kollegen werden weiteres dazu sagen. Wir werden so lange — heute und in den nächsten Wochen und Monaten — zu dieser Sache sprechen, bis Sie die praktischen Folgerungen ziehen und sich nicht nur in allgemeinen Erklärungen etwa wie die des Kollegen Stingl ergehen: Wir wollen die Probleme überlegen. Es muß dahin kommen, daß Sie sagen: Wir wollen zugeben, daß die Konzeption der Bundesregierung falsch ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Gestatten Sie mir eine erste Bemerkung. Nach dem Entwurf soll der Versicherte durch die Inanspruchnahmegebühr vor Inanspruchnahme des Arztes zu eigenwirtschaftlichen Überlegungen veranlaßt werden, er soll bei den ersten Krankheitserscheinungen, wenn er z. B. Kopfschmerzen, Halsschmerzen oder Magenschmerzen hat, prüfen, ob er zur Ersparnis von Geldausgaben nicht lieber warten sollte, wie sich die Sache entwickelt. Von dieser Konzeption geht doch der Entwurf bei der Inanspruchnahmegebühr aus.
    Ich möchte Sie bitten, meine Damen und Herren, sich folgendes klarzumachen. In unserer Zeit der hochspezialisierten Wissenschaft und Technik soll in einer für das Leben des Menschen so wichtigen Frage wie Gesundheit oder Krankheit der Laie — in medizinischer Hinsicht — veranlaßt werden, nicht sogleich zum Fachmann zu gehen, sondern erst einmal abzuwarten. Man kommt mit dem Hinweis, der immer wieder — gerade von Ihnen, Herr Kollege Ruf — vorgebracht wurde, der Mensch solle doch nicht wegen jeder Bagatelle zum Arzt laufen. Das hört sich wunderschön an. Aber, meine Damen und Herren, leider beginnen die meisten Krankheiten als Bagatelle; ob es jedoch eine Bagatelle war oder nicht, weiß man erst nachher.

    (Lebhafte Zustimmung bei der SPD.)

    Natürlich wird der Versicherte, wenn sich sein Zustand verschlechtert, ungeachtet der Kostenbeteiligung den Arzt aufsuchen. Das bestreite ich nicht. Das Entscheidende an der gesetzlichen Regelung ist aber doch, daß Sie, meine Damen und Herren, den Versicherten und seine Angehörigen, soweit sie eine Beteiligungsgebühr zu zahlen haben, veranlassen wollen, den Arzt nicht mehr im frühesten Stadium einer Erkrankung, sondern in einem späteren aufzusuchen. Das ergibt sich aus der Regelung.



    Dr. Schellenberg
    Wir sind der Auffassung, daß eine solche Regelung mit dem Gedanken der Vorsorge unvereinbar ist. Ich möchte dies ganz deutlich und unmißverständlich sagen. Nach unserer Auffassung ist es besser, daß der Versicherte zehnmal zu früh als einmal zu spät zum Arzt geht. Ebenso scheint es uns auch besser zu sein, daß in den Sprechzimmern der Ärzte 40 Patienten mit leichten Erkrankungen als zehn Patienten mit schweren Erkrankungen sitzen. Ich führe dieses Beispiel an, um die Sachlage einmal klar und deutlich, vielleicht auch überspitzt darzustellen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Aus den angeführten Gründen, meine Damen und Herren, haben wir gegen die Regelung dieses Entwurfes Bedenken.
    Sie kommen weiterhin mit dem Hinweis, das Verantwortungsbewußtsein müsse gestärkt werden. Der Herr Bundesarbeitsminister hat vor einigen Tagen auf einer Pressekonferenz gesagt, daß durch seinen Gesetzentwurf das selbstverantwortliche Handeln gefördert werden solle. Niemand bestreitet, daß es gut wäre, wenn das Verantwortungsbewußtsein mancher Menschen noch stärker entwickelt würde. Wir sollten uns aber auch hier vor Verallgemeinerungen hüten. Der Bundesarbeitsminister will mit seinem Wort vom „selbstverantwortlichen Handeln in der Sozialpolitik" offensichtlich darauf hinaus, die Verhaltensweisen der Versicherten, und zwar aller Versicherten, zu beeinflussen.
    Ich möchte an den Herrn Bundesarbeitsminister und an diejenigen, die noch zu dem Entwurf stehen, die Frage richten: haben die 26 Millionen Versicherten und ihre Angehörigen in den letzten Jahren durch ihr Arbeitsleben und ihre Leistung für den Wiederaufbau nicht ihr selbstverantwortliches Handeln unter Beweis gestellt?

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Deshalb betrachten wir es, um es deutlich zu sagen, als eine Anmaßung, Millionen pflichtbewußter Menschen durch Selbstbeteiligungen und Kontrolluntersuchungen zu einem selbstverantwortlichen Handeln erziehen zu wollen. Es ist eine schlechte Sache, ausgerechnet am Krankenbett die Erziehung zu selbstverantwortlichem Handeln betreiben zu wollen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Damit muß man anderswo anfangen. Im übrigen ein Wort, das ich nicht an die Mitglieder des Hauses richten möchte — möge sich keiner getroffen fühlen —: Manche, die lautstark über mangelnde Selbstverantwortung reden, meinen immer die Selbstverantwortung der anderen und selten ihre eigene.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Und dann eine Frage, die zu überlegen ich jedes einzelne Mitglied des Hauses bitte: zeigt denn wirklich derjenige, der frühzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt, mangelnde Verantwortung,

    (Zuruf von der SPD: Im Gegenteil!)

    so daß er durch Selbstbeteiligung moralisch aufgerüstet werden muß?

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Die gleichen Argumente, die wir gegen die Selbstbeteiligung haben, haben wir gegen die Verschärfung des beratungsärztlichen Dienstes. Im Referentenentwurf hieß es, daß der Versicherte die Arbeitsunfähigkeit dem beratungsärztlichen Dienst innerhalb von 48 Stunden mitzuteilen hat. Das ist jetzt geändert worden. Es heißt jetzt: innerhalb von zwei Tagen.

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Es heißt weiter — ich zitiere aus dem einstimmig vom Bundeskabinett verabschiedeten Entwurf —:
    Wird die Mitteilung später gemacht, so ruht der Anspruch auf Krankengeld bis zum Tage des Eingangs der Mitteilung.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Eine derartige Verschärfung im System der Kontrolluntersuchung ist ein Ausdruck des Mißtrauens gegen die arbeitende Bevölkerung,

    (Beifall bei der SPD)

    Wir sind deshalb froh, daß der Herr Bundesarbeitsminister, wenn auch sehr spät, es eingesehen und in den letzten Erklärungen gesagt hat, die Kontrolle könne man lockern. Dann muß die entsprechende Formulierung im Entwurf fallen; dann können wir weiter sprechen.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Herr Bundesarbeitsminister, ich muß Sie noch an einen anderen Ausdruck erinnern, den Sie in diesen Tagen geprägt haben. Sie sagten, wir brauchen die arbeitende Bevölkerung nicht mehr so zu bevormunden wie zu Bismarcks Zeiten. Darin stimmen wir mit Ihnen überein. Aber wir haben die Befürchtung, daß in der Praxis dieser Gesetzentwurf für die arbeitende Bevölkerung zu einer stärkeren Bevormundung als zu Bismarcks Zeiten führen würde.

    (Abg. Ruf: Wo denn?)

    — Ich kenne aus der Zeit Bismarcks eine Untersuchung innerhalb von 48 Stunden vor Zahlung des Krankengeldes nicht. Vielleicht unterrichten Sie mich darüber einmal.

    (Abg. Ruf: Wo ist das vorgeschrieben, Herr Professor Schellenberg?)

    — In § 202 des Entwurfs kann man es lesen. (Heiterkeit bei der SPD.)

    § 202:
    Der Versicherte hat die Arbeitsunfähigkeit dem beratungsärztlichen Dienst innerhalb von 2 Tagen mitzuteilen.

    (Abg. Ruf: Mitzuteilen! Herr Professor Schellenberg, darf ich eine Frage dazu stellen?)

    — Bitte schön!


Rede von Thomas Ruf
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Sie kennen das bisherige Recht. Nach bisherigem Recht mußten die Versicherten ihre Krankmeldung innerhalb von drei Tagen abgeben, d. h. innerhalb von drei Tagen mußte die Meldung bei der Krankenkasse eingegangen



Ruf
sein. Haben Sie nicht gelesen, daß daran kaum eine Änderung vorgenommen wird? In Zukunft soll innerhalb von zwei Tagen die Meldung abgegangen sein. Es bleibt also in dieser Beziehung nahezu heim alten.

(Zurufe von der SPD.)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Ernst Schellenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Aber, Herr Kollege Ruf, das sollten Sie mal den Arbeitnehmern Ihrer Fraktion erzählen!

    (Beifall bei der SPD. — Zuruf des Abg. Ruf.)

    Meine Damen und Herren, wie ist die Regelung denn jetzt? Jetzt hat der Versicherte, um den Krankengeldanspruch zu erwerben, seiner Krankenkasse eine Meldung regelmäßig innerhalb von 3 Tagen zu machen. In Zukunft soll der Weg direkt zur Nachuntersuchung führen. Meine Damen und Herren, Herr Kollege Ruf, wenn das keine Verschlechterung ist, dann muß ich Sie wirklich bitten, einmal in eine Betriebsversammlung zu gehen und das dort darzulegen.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Ruf: Eine Meldung ist doch noch keine Nachuntersuchung!)

    — Aber der Vertrauensärztliche Dienst hat doch die Verpflichtung, unverzüglich zu handeln. Die Krankenkasse kann doch bei der vorgesehenen Regelung mit der Krankengeldzahlung praktisch gar nicht einsetzen, bevor die Mitteilung des Vertrauensärztlichen Dienstes da ist; das ist im System vorgesehen. — Aber darüber werden meine Kollegen aus den praktischen Erfahrungen der Krankenversicherung der Betriebe nachher noch einiges sagen, um Herrn Kollegen Ruf weiter zu unterrichten.

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Eine weitere Regelung: die wirtschaftlichen Auswirkungen! Finanziell gesehen ist die Kostenbeteiligung ein Zusatzbeitrag bei Krankheit, und eine solche Regelung ändert das finanzielle Gefüge unserer sozialen Krankenversicherung. Die Höhe der Kostenbeteiligung kann nach der Auffassung der Bundesregierung — der ich in diesem Punkt zustimme — nicht im einzelnen geschätzt werden. Ich habe die Mittelwerte zugrunde gelegt, ohne die Leistungsverschlechterungen, ohne die Regelung der Karenztage; allein für die Kostenbeteiligung ergibt sich nach den Angaben der Bundesregierung im Mittelwert eine Belastung von 564 Millionen DM.
    Bisher hat der Arbeitgeber die Hälfte der Beiträge zu zahlen. Es ergibt sich also eine Verschiebung in der Aufbringung der Mittel für soziale Leistungen von den Arbeitgebern zu Lasten der Versicherten. Das haben erfreulicherweise, aber erst in den letzten Tagen, auch Kollegen Ihrer eigenen Fraktion zugegeben. Herr Kollege Stingl hat daraus auch gewisse Folgerungen gezogen, leider noch sehr unbestimmte, Herr Kollege Stingl; das hätten Sie schon deutlicher machen müssen.
    Diese Verschiebung von den Arbeitgebern zu Lasten der Versicherten ist vielleicht mit ein Grund, weshalb sich die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände in so charmanter Weise für die Verbreitung der Schrift „Wer soll das bezahlen?" eingesetzt hat, — ein ganz ungewöhnlicher Vorgang, jene Schreiben, die Sie auch kennen, an die Redaktionen der Zeitungen, sie möchten Propaganda für die Schrift machen.
    Aber es findet nicht nur eine Verlagerung in den Sozialaufwendungen zu Lasten der kranken Versicherten statt, sondern es ergibt sich im großen und ganzen auch eine Verschiebung im Sozialaufwand von Alleinstehenden in Richtung auf die Familie, ungeachtet dessen, was der Herr Bundesarbeitsminister heute über die familienfördernde Gesinnung — so muß ich sagen, nicht: Maßnahmen — gesagt hat. Wieso? Ganz einfach: der Alleinstehende zahlt eine Kostenbeteiligung nur für sich, der Verheiratete die Kostenbeteiligung für sich und seinen Ehegatten bei ärztlicher Behandlung; also 2 mal für die Kinder gibt es zwar die Kostenbeteiligung für die Inanspruchnahme des Arztes nicht mehr, aber für Arzneien, Krankenhauspflege können Sie sie, wenn Sie wollen, mit der Hälfte oder mit einem Drittel einsetzen. Hat die Familie also drei Kinder, dann zahlt sie de facto das Dreifache der Kostenbeteiligung, die ein Alleinstehender im Durchschnitt zu zahlen hat.

    (Zurufe von der Mitte. — Abg. Frau Kalinke: Kinder sind doch ausgenommen!)

    — Aber da ist doch das System! Wir müssen ein solches System als familienfeindlich bezeichnen,

    (Beifall bei der SPD)

    wenn Sie in der Veränderung der Sozialleistungen
    die Familie stärker belasten als den Alleinstehenden.
    Es tritt noch eine andere Umschichtung ein. Wer ist denn überwiegend krank? Nicht derjenige, der auf dem Höhepunkt des Lebens steht, sondern — das ist unser gemeinsames Schicksal — die Älteren in unserem Volke sind genötigt, häufiger ärztliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Wenn Sie nun mit der ärztlichen Leistung, mit den Medikamenten, mit der Krankenhauspflege Kostenbeteiligungen verbinden, dann verlagern Sie soziale Aufwendungen zu Lasten der Alten in unserem Volke. Das halten wir für unsozial.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir sind deshalb der Auffassung, daß Kostenbeteiligung, wie sie hier vorgeschlagen ist, die unsozialste
    Form der Finanzierung von sozialen Leistungen ist,

    (Beifall bei der SPD)

    weil sie zu Lasten der Kranken, zu Lasten der Familie und zu Lasten der Alten in unserem Volke geht.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Jetzt kommt man und sagt: Es gibt doch soziale Vorschriften für eine Kostenbefreiung: Einkommensbezieher bis zu 200 DM werden von der Kostenbeteiligung befreit.

    (Abg. Killat [Unterbach] : Bedürftigkeitsprüfung!)

    Ja das kommt jetzt. - Ich lese einige Sätze aus der Begründung des Gesetzes vor. Sie sprechen nämlich für sich.



    Dr. Schellenberg
    Eine gesetzliche Befreiung für Versicherte mit
    einem monatlichen Einkommen unter 200 DM
    -- so heißt es in der Begründung —
    ist nicht angezeigt, weil es Versicherte gibt, die
    zwar ein geringes Einkommen haben, denen
    aber eine Zuzahlung zugemutet werden kann.
    Das ist, wie Herr Kollege Killat schon dazwischengerufen hat, die Einführung von Bedürftigkeitsprüfungen in der Sozialversicherung.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Wahrlich, welcher Stilwandel in unserer Sozialpolitik!

    (Beifall bei der SPD.)

    Oder eine andere Vorschrift — Begründung zu § 186 Abs. 5 —:
    Die Selbstverwaltung soll die Möglichkeit haben, durch Einführung einer Höchstbegrenzung für jeden Behandlungsfall die Kostenbeteiligung besonderen sozialen Gegebenheiten anzupassen.
    Die Selbstverwaltung soll Kostenbeteiligung besonderen sozialen Bedürfnissen anpassen, das bedeutet: Prüfung des einzelnen Falles der sozialen Gegebenheiten, Prüfung fürsorgerechtlicher Art. Anders kann man das nicht verstehen.

    (Zuruf von der SPD: Polizeistaat!)

    Im übrigen führen die Sondervorschriften über die Befreiung von der Kostenbeteiligung für die Bezieher niedriger Einkommen zu grotesken Auswirkungen. Für die Bezieher eines Einkommens unter 200 DM monatlich entfällt nämlich die Erziehung zur Selbstverantwortung durch Kostenbeteiligung. Das ist die Sonderregelung. Der Bezieher eines Einkommens von 400 DM dagegen, der das Doppelte oder das Dreifache an Beiträgen zahlt, soll durch Kostenbeteiligung zur pfleglichen Inanspruchnahme von Leistungen erzogen werden. Das ist doch die Konstruktion!
    Ein anderes Beispiel: Krankenhauspflege. Ein Angestellter, der 600 DM Gehalt hat, zahlt dreimal höhere Beitrage als der Versicherte, der 200 DM verdient. Weil er das Dreifache an Beiträgen zahlt, soll er bei Krankenhauspflege das Dreifache an Kostenbeteiligung zahlen. Das ist eine groteske Regelung. Das hat nichts mit einem sozialen Ausgleich zu tun. Meine Damen und Herren, es wird uns niemand bestreiten, daß wir immer für den sozialen Ausgleich eintreten. Das Beispiel zeigt — diese Lehre sollten Sie ziehen —, daß man ein verfehltes System nicht durch Ausnahmeregelungen sinnvoll machen kann.

    (Beifall bei der SPD.)

    Jetzt zur Gebührenordnung. Die Gebührenordnung ist deshalb wichtig, weil von ihr wesentlich die Höhe der Zuzahlung abhängt. Nach dem Regierungsentwurf soll wegen des Zusammenhanges zwischen der Höhe des Honorars und der Kostenbeteiligung eine sogenannte Leistungsansatzgebührenordnung erlassen werden. Der Bundesarbeitsminister hat diese Gebührenordnung noch nicht vorgelegt. Heute hat er sich weniger darüber ausgelassen, aber
    in der Pressekonferenz hat er erklärt, das könne er noch nicht tun, weil diese Gebührenordnung erst nach Verabschiedung des Gesetzes durch Rechtsverordnung erlassen werden solle. Das bedeutet, daß uns heute zugemutet werden soll, in erster Lesung einen Gesetzentwurf über die Neuregelung der Krankenversicherung zu verabschieden, ohne die Gebührenordnungsansätze und damit, was sozialpolitisch entscheidend ist, die Höhe der Kostenbeteiligung für den einzelnen Versicherten zu kennen.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Um es volkstümlich zu sagen: wir sollen hier die Katze im Sack kaufen!

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich darf einen Vergleich aus unserer eigenen Arbeit bringen: Herr Kollege Storch, Sie, den ich früher manchmal heftig kritisiert habe, hätten es damals nicht gewagt, uns die Rentenneuregelungsgesetze ohne eine Rentenformel vorzulegen. Heute erklärt man uns, die Gebührenordnung, die für die Höhe der Kostenbeteiligung entscheidend ist, werde erst später durch Rechtsverordnung erlassen. Das kann ich nur mit der Vorlage eines Gesetzentwurfs über die Neuregelung der Rentenversicherung vergleichen, die ohne eine Unterrichtung darüber vorgenommen wird, wie die Höhe der Rente im einzelnen berechnet werden soll.

    (Zuruf von der CDU/CSU.)

    — Nein, das weiß auch der Kollege nicht! Denn er hat sich mit dem System bisher noch nicht beschäftigt. Ich werde ihn noch darüber unterrichten.

    (Heiterkeit.)

    — Ich komme nun gleich zum Schluß, denn meine Kollegen wollen auch noch reden, und auch ich möchte vielleicht nach dem Abendessen noch einiges sagen.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Der Herr Bundesarbeitsminister hat in einer allgemein gehaltenen Erklärung seine Vorstellungen über die Ansatzgebührenordnung entwickelt. Ich möchte dazu nur einige Bemerkungen machen; man kann dazu erst Stellung nehmen, wenn man den Entwurf der Gebührenordnung kennt. Dem Gesetzentwurf liegt die Konzeption zugrunde, daß für jede einzelne Honorarposition ein Zuzahlungsbetrag geleistet werden soll, damit der Versicherte die einzelne ärztliche Leistung mit Bedacht in Anspruch nimmt. Für eine solche Gebührenordnung gibt es zwei Möglichkeiten.
    Erstens: Wegen der Vielfältigkeit der einzelnen ärztlichen Leistungen wird für jede einzelne Leistung des Arztes, beispielsweise Untersuchung, EKG, Besuch des Kranken, eine Honorarposition angesetzt, für die dann nach dem Gesetzentwurf jeweils eine Zuzahlung zu leisten wäre. Die praktische Folge muß sein, daß im Rahmen einer Konsultation unter Umständen mehrmals die Zuzahlung von 1,50 DM zu leisten ist. Über diese Auffassung hat sich der zuständige Referent des Arbeitsministeriums im „Deutschen Arzt" wie folgt geäußert:



    Dr. Schellenberg
    Hat der Arzt z. B. beim Besuch eines Patienten drei nach der Gebührenordnung berechenbare Leistungen erbracht, so ist der festgesetzte Betrag dreimal zu zahlen.
    Das ist also die eine Möglichkeit.
    Die andere Möglichkeit besteht darin, mehrere ärztliche Leistungen, z. B. Weg des Arztes zum Patienten, intravenöse Injektion, EKG usw., in einer Honorarposition zusammenzufassen. Dadurch beschränkt sich — das ist richtig — die Höhe der Zuzahlung, wenn man sie sehr stark zusammenfaßt, in der Regel auf eine Zuzahlung bei einer Konsultation.
    Aber welche Wirkung hat das? Das bedeutet de facto, daß die Honorare für vielfältige ärztliche Leistungen pauschaliert und damit nivelliert werden. Der Herr Bundesarbeitsminister hat uns heute vorgetragen, daß er einer Pauschalierung des Honorars begegnen will. Er hat uns jedoch die Gebührenordnung nicht vorgelegt, so daß wir nicht übersehen können, wie er diese Probleme nun wirklich lösen will.
    Ich würde eine dritte Möglichkeit vorschlagen, nämlich die Koppelung von Zuzahlung und ärztlicher Leistung fallenzulassen und damit einen der großen Fehler des Entwurfs zu beseitigen.
    Herr Kollege Stingl, Sie wollen von mir eine Erklärung zu dem haben, worüber Sie schmunzeln. Wenn sie konkret Stellung nehmen, geben wir Ihnen auch darauf eine Antwort. Jetzt setzen wir uns einmal mit dem Regierungsentwurf auseinander.

    (Beifall bei der SPD.)

    Sonst spreche ich noch länger, und dann falle ich Ihnen lästig.
    Der Herr Bundesarbeitsminister hat mich gezwungen, noch zu der Arzneifrage etwas zu sagen. Sonst heißt es: Der Schellenberg kneift. Aber wir fechten miteinander. Der Herr Bundesarbeitsminister hat liebenswürdigerweise den Sozialplan der SPD durcharbeiten lassen. Wir haben im Hinblick darauf, daß in Deutschland für Arzneien bereits eine Kostenbeteiligung besteht, selbstverständlich die Frage der Kostenbeteiligung zur Diskussion gestellt und uns darüber Gedanken gemacht. Aber Sie müssen den Sozialplan ganz lesen und nicht nur die Stellen herausziehen, die Ihnen willkommen sind. Wir haben im Sozialplan die Frage aufgeworfen, ob es nicht zweckmäßig ist, zwischen Heilmitteln und Linderungsmitteln zu unterscheiden, wir haben aber erklärt, daß dort, wo Linderungsmittel notwendig sind, sie als Leistungen der Sozialversicherung gewährt werden müssen.
    Was Sie, Herr Bundesarbeitsminister, aber vorschlagen, ist leider — ich muß es wieder sagen — wirklichkeitsfremd, noch wirklichkeitsfremder als — so meinen Sie — Vorstellungen, die wir einmal zur Diskussion gestellt haben. Ich möchte Ihnen darlegen, wie wirklichkeitsfremd Ihr Gesetzentwurf hinsichtlich der Beteiligung an Arzneikosten ist.
    Durch die Beteiligung soll der Arzneimittelbedarf eingeengt werden. Wenn jemand nach Ihrer Regelung Arzneien im Wert bis 5 DM bezieht, beträgt die Zuzahlung 1 DM. Die praktische Wirkung wird sein, daß jeder, der ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt und eine Arzneiverordnung erhält, seinen Arzt bitten wird, ihm eine größere Packung zu verschreiben, damit der Zuzahlungsbetrag nicht zu häufig fällig wird. Er wird den Arzt bitten, nicht zu billige Arzneien zu verschreiben; denn wenn die Arznei nur 2 DM wert ist, macht seine Kostenbeteiligung 50 % aus.

    (Abg. Stingl: So wenig vertrauen Sie den Versicherten?)

    Wissen Sie, was die praktische Wirkung sein wird? Die chemische Industrie wird Packungen im Wert von 4,95 DM produzieren, damit sich die Zuzahlung für den Versicherten lohnt. Das würde eine Folge der Regelung sein. Jeder Praktiker wird Ihnen sagen, daß dadurch der Arzneiaufwand nicht gesenkt wird.

    (Zuruf von der Mitte: Sie machen die Menschen schlechter, als sie sind!)

    Zum Schluß möchte ich nur noch hinsichtlich des Verwaltungsaufwands eine Frage an den Herrn Minister stellen. Die Kassenärztliche Vereinigung, die der Aufsicht des Herrn Bundesarbeitsministers untersteht, hat in der Öffentlichkeit erklärt, daß die Verwaltungsaufwendungen durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung um 230 Millionen DM steigen würden. Ich bitte den Herrn Bundesarbeitsminister, zu den Erklärungen dieser Körperschaft des öffentlichen Rechts, die seiner Dienstaufsicht untersteht, Stellung zu nehmen und zu erklären, ob die Behauptung richtig oder falsch ist. Ich muß nämlich daran erinnern, daß der Herr Bundesarbeitsminister am 27. Januar 1959 erklärt hat:
    Ärzteverbände und SPD
    — damals schon das, was Sie als „Einheitsfront" bezeichnet haben —
    erklären, der Referentenentwurf verursache einen Verwaltungsmehraufwand bei den Arbeitgebern, den Krankenkassen und den Ärzten. Wenn man die Stärkung der Selbstverantwortung für ein hohes Ziel hält, muß man auch grundsätzlich einen höheren Verwaltungsaufwand in Kauf nehmen.
    Soweit der Herr Bundesarbeitsminister. Wir teilen die Auffassung nicht, daß Methoden zur allgemeinen Stärkung des Verantwortungsbewußtseins entwickelt werden müssen, und sind auch der bescheidenen Auffassung, daß es der Sinn einer Sozialreform sein sollte, den Verwaltungsaufwand zu senken.
    Ich möchte kurz zusammenfassen. Wir bestreiten nicht, daß der Gesetzentwurf eine Reihe von Verbesserungen enthält.

    (Bravo! von der Mitte.)

    — Wir halten sie für unzureichend, aber darüber läßt sich noch reden. Das Entscheidende ist jedoch: Wir halten die Grundkonzeption des Gesetzentwurfs, durch den ein Stilwandel unserer Sozialpolitik erreicht werden soll, für völlig verfehlt. Die



    Dr. Schellenberg
    entscheidenden Vorschriften des Gesetzentwurfs, z. B. über die Kostenbeteiligungen und über die Kontrolluntersuchungen, werden den sozialen und gesundheitlichen Bedürfnissen in unserem Volk nicht gerecht, und sie beruhen auf einem allgemeinen Mißtrauen gegenüber den arbeitenden Menschen und seiner Familie.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD.)