Protokoll:
18009

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 9

  • date_rangeDatum: 17. Januar 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 13:58 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/9 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 9. Sitzung Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 15: Vereinbarte Debatte: zum Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission . . . . . . . . . . 503 B Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . . 503 B Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 505 A Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 506 C Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 C Michael Roth, Staatsminister  AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 A Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 C Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 511 D Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 B Detlef Seif (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 A Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . 513 C Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 D Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 D Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) . . . . . . . . . 517 B Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 518 C Norbert Spinrath (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 C Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 522 A Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 C Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . 524 B Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Das Massen- sterben an den EU-Außengrenzen been- den – Für eine offene, solidarische und hu- mane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union Drucksache 18/288 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 525 A Charles M. Huber (CDU/CSU) . . . . . . . . . 525 D Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 528 A Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 A Christina Kampmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . 532 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 533 D Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 534 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 C Harald Petzold (Havelland)  (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . 536 D Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 A Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . . 539 A Marian Wendt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 540 C Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 B Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 544 B Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 546 A Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Julia Verlinden, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europarechts- konforme Regelung der Industrievergüns- tigungen auf stromintensive Unternehmen im internationalen Wettbewerb begrenzen und das EEG als kosteneffizientes Instru- ment fortführen Drucksache 18/291 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 B Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 B Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 548 D Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 A Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 552 A Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 553 B Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 555 D Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 C Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 559 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 503 (A) (C) (D)(B) 9. Sitzung Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 Beginn: 9.00 Uhr
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    (D) Berichtigung 8. Sitzung, Seite 462 A, dritter Absatz, der fünfte Satz ist wie folgt zu lesen: Der Hohe Kurdische Rat im Norden verlangt nicht mehr und nicht weniger, als auch eine Dele- gation entsenden zu dürfen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 559 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D)  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 17.01.2014 Bertram, Ute CDU/CSU 17.01.2014 Burkert, Martin SPD 17.01.2014 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 17.01.2014 Dr. Freudenstein, Astrid CDU/CSU 17.01.2014 Gutting, Olav CDU/CSU 17.01.2014 Dr. Harbarth, Stephan CDU/CSU 17.01.2014 Heller, Uda CDU/CSU 17.01.2014 Henn, Heidtrud SPD 17.01.2014 Hinz (Herborn), Priska BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 17.01.2014 Klimke, Jürgen CDU/CSU 17.01.2014 Krellmann, Jutta DIE LINKE 17.01.2014 Lenkert, Ralph DIE LINKE 17.01.2014 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 17.01.2014 Dr. Malecha-Nissen, Birgit SPD 17.01.2014 Marwitz, Hans-Georg von der CDU/CSU 17.01.2014 Mattfeldt, Andreas CDU/CSU 17.01.2014 Movassat, Niema DIE LINKE 17.01.2014 Pilger, Detlev SPD 17.01.2014 Pronold, Florian SPD 17.01.2014 Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 17.01.2014 Schieder (Schwandorf), Marianne SPD 17.01.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 17.01.2014 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 918. Sitzung am 19. De- zember 2013 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Programm „Europa für Bürgerin- nen und Bürger“ für den Zeitraum 2014–2020 – Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (13. SGB V-Änderungs- gesetz – 13. SGB V-ÄndG) Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit- geteilt, dass sie den Antrag Operation Active Endea- vour beenden auf Drucksache 18/99 zurückzieht. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdo- kumente zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Petitionsausschuss Drucksache 17/13340 Nr. A.1 EP P7_TA-PROV(2013)0062 Auswärtiger Ausschuss Drucksache 17/12244 Nr. A.5 EuB-BReg 3/2013 Drucksache 17/13340 Nr. A.4 EuB-BReg 30/2013 Rechtsausschuss Drucksache 17/10710 Nr. A.22 Ratsdokument 11180/12 Schmidt (Ühlingen), Gabriele CDU/CSU 17.01.2014 Steinbach, Erika CDU/CSU 17.01.2014 Dr. Tackmann, Kirsten DIE LINKE 17.01.2014 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 17.01.2014 Dr. Ullrich, Volker CDU/CSU 17.01.2014 Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 17.01.2014  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 560 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 (A) (C) (D)(B) Haushaltsausschuss Drucksache 17/13830 Nr. A.5 Ratsdokument 9166/13 Drucksache 17/13830 Nr. A.6 Ratsdokument 9167/13 Drucksache 17/13994 Nr. A.2 Ratsdokument 9327/13 Drucksache 17/13994 Nr. A.3 Ratsdokument 9336/13 Drucksache 17/13994 Nr. A.4 Ratsdokument 10148/13 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 17/13830 Nr. A.7 Ratsdokument 9187/13 Drucksache 17/13830 Nr. A.8 Ratsdokument 9308/13 Drucksache 17/13830 Nr. A.9 Ratsdokument 9343/13 Drucksache 17/13830 Nr. A.10 Ratsdokument 9346/13 Drucksache 17/13830 Nr. A.11 Ratsdokument 10201/13 Drucksache 17/13994 Nr. A.5 Ratsdokument 8874/13 Drucksache 17/13994 Nr. A.6 Ratsdokument 10048/13 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Drucksache 17/5822 Nr. A.40 Ratsdokument 8989/11 Drucksache 17/13830 Nr. A.12 Ratsdokument 9459/13 Drucksache 17/13830 Nr. A.13 Ratsdokument 9464/13 Drucksache 17/13830 Nr. A.14 Ratsdokument 9468/13 Drucksache 17/13830 Nr. A.15 Ratsdokument 9527/13 Drucksache 17/13830 Nr. A.16 Ratsdokument 9574/13 Drucksache 17/13994 Nr. A.7 Ratsdokument 10726/13 Offsetdruc sellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 K Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Drucksache 17/6176 Nr. A.18 Ratsdokument 10168/11 Drucksache 17/13340 Nr. A.20 EP P7_TA-PROV(2013)0074 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Drucksache 17/7918 Nr. A.18 Ratsdokument 15629/11 Drucksache 17/8426 Nr. A.44 Ratsdokument 18008/11 Drucksache 17/8426 Nr. A.46 Ratsdokument 18010/11 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 17/7549 Nr. A.10 Ratsdokument 14749/11 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 17/13830 Nr. A.19 EP P7_TA-PROV(2013)0179 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 17/11108 Nr. A.25 Ratsdokument 12444/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.27 Ratsdokument 13228/12 Drucksache 17/11919 Nr. A.25 Ratsdokument 14871/12 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 17/13595 Nr. A.23 Ratsdokument 8541/13 kerei, Bessemerstraße 83–91, 1 öln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 22 9. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 15 Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission TOP 16 Flüchtlingspolitik der Europäischen Union TOP 17 Anbau von genetisch verändertem Mais in der EU Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800900000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Ich begrüße Sie zu unserer Plenarsitzung und möchte
Sie davon in Kenntnis setzen, dass es eine interfraktio-
nelle Vereinbarung gibt, in der nächsten Sitzungswoche
keine Befragung der Bundesregierung, keine Frage-
stunde und auch keine Aktuellen Stunden stattfinden zu
lassen. Der Hintergrund ist schlicht die übliche Verein-
barung, dass in Haushaltswochen oder bei Regierungser-
klärungen mit ganzwöchiger Plenardebatte Fragestunde
und Regierungsbefragung entfallen. Ich vermute einmal,
dass Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden sind. –
Das ist offenkundig der Fall.

Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 15 auf:

Vereinbarte Debatte

zum Arbeitsprogramm der Europäischen
Kommission

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Axel Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1800900100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am

25. Mai 2014 wird das Europäische Parlament direkt ge-
wählt. Als Ergebnis dieser Wahl wird der Präsident der
EU-Kommission ins Amt gebracht. Das ist eine histori-
sche Entscheidung. Deshalb wird das eine historische
Wahl sein. Es ist gut, dass wir uns alle darauf vorberei-
ten. Ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen in
diesem Haus für die Bereitschaft, aus Respekt vor dieser
Wahl und auch aus Respekt vor dem Europäischen Par-
lament unsere eigene Sitzungswoche im Mai zu ver-
schieben, damit auch wir als Abgeordnete zeigen kön-
nen, wie wichtig uns dieser Tag ist und dass wir uns an
den Wahlkämpfen unserer Parteien beteiligen wollen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


An 25. Mai finden in Deutschland – das gab es nie zu-
vor – Kommunalwahlen in insgesamt zehn Ländern
statt. Auch da wollen wir deutlich machen – unabhängig
von den Inhalten und auch den Verschiedenheiten, die es
hier im Haus gibt –, dass Europa vor Ort beginnt und
dass wir dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Die SPD hat sich vorgenommen, Europa zu verbes-
sern.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Oje! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Fangt erst mal in Deutschland an!)


Wir tun das nach der Melodie zur Kinderhymne von
Bert Brecht:

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s.
Und das Liebste mag’s uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.

Das gilt genauso für Europa; so wollen wir es halten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Europäische Kommission hat jetzt ein Arbeits-
programm vorgelegt, über das wir diskutieren. Es ist
eine gute Tradition und es ist auch eine Notwendigkeit,
dass wir abgleichen, was unsere Politik sein soll – für
uns ist das natürlich im Koalitionsvertrag festgehalten –
und was wir gegenüber der Bundesregierung dabei an
Kontrollrechten in der Umsetzung nutzen. Gleichzeitig
ist zu klären, wo wir uns als Parlamentarier rechtlich zur
Kooperation mit unseren Kolleginnen und Kollegen im
Europäischen Parlament verpflichten. Es ist gut, dass wir
Parlamentarier aus diesem Hause direkt am Montag da-
mit anfangen, nach Art. 13 des Fiskalpakts gemeinsam
mit Parlamentarierkollegen aus Brüssel an diesem Eu-
ropa zu arbeiten.

Wir werden das auf der Grundlage der Übereinstim-
mung in Sachfragen tun, was in diesem Haus selten vor-
kommt. Dieses Haus – in der letzten Legislaturperiode





Axel Schäfer (Bochum)



(A) (C)



(D)(B)

gab es hier fünf Fraktionen, jetzt sind es vier – hat es ge-
schafft, die Rechte des Deutschen Bundestages gegen-
über der Bundesregierung in einer gemeinsamen An-
strengung, verbunden mit einem Kompromiss im
Rahmen von Begleitgesetzen wie dem EUZBBG, zu re-
geln. Das sollten wir gemeinsam nutzen, egal wer aktuell
die Regierungs- oder die Oppositionsrolle innehat.

Bezogen auf das Arbeitsprogramm der Kommission
heißt das konkret: Ja, wir wollen darauf drängen, dass
dieses Programm auf Ausbildung und Beschäftigung,
auf Qualifikation und Weiterbildung ausgerichtet wird.
Das muss im Mittelpunkt stehen. Ziel ist ein soziales Eu-
ropa der Beschäftigung der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer und der Chancen für die Jugend. Das ist
unser Anliegen als Sozialdemokratinnen und Sozialde-
mokraten.


(Beifall bei der SPD – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ist es aber nicht!)


Deshalb haben wir uns in diesem Koalitionsvertrag
eine ganz konkrete Selbstverpflichtung auferlegt. Sie
lautet: Wir wollen ein deutsch-griechisches Jugendwerk
nach dem Vorbild des Deutsch-Französischen und des
Deutsch-Polnischen Jugendwerkes schaffen. Das ist
wirklich eine Innovation. Ich erwarte von der Bundesre-
gierung, dass sie mit uns alle Anstrengungen für eine zü-
gige Umsetzung unternimmt. Hier wird ein praktisches
Zeichen von Solidarität gesetzt und nicht nur darüber ge-
redet. Das ist unser gemeinsames Interesse.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen das im kritischen Bewusstsein dessen
tun, was erreicht und was nicht erreicht worden ist. Es ist
erreicht worden, dass mit Lettland das 18. Land Mitglied
der Euro-Zone geworden ist. Das ist deshalb so wichtig,
weil noch vor einigen Jahren viele Menschen behauptet
haben, dass am 31. Dezember 2011, 2012 oder 2013 die
Euro-Zone zusammenbrechen werde, dass das keine Zu-
kunft habe, dass wir zu nationalen Währungen zurück-
kommen würden. Wir praktizieren das Gegenteil, indem
wir Europa tatsächlich zu einer Währungsgemeinschaft
ausbauen. Diese funktioniert aber nur, wenn dieses Eu-
ropa gleichzeitig eine Sozialgemeinschaft wird – von der
Sache her, aber auch durch die Zustimmung der Bürge-
rinnen und Bürger.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU])


Deshalb ist es so wichtig, dass sich jetzt alle Parteien-
familien für die Europawahl aufstellen. Ich finde es gut,
dass die Grünen europaweit im Rahmen von Onlineab-
stimmungen etwas ganz Neues ausprobieren und dabei
natürlich auch die Mühen der Ebene erleben. Ich finde es
auch richtig, dass die Mühen auf höherer Ebene bei der
Suche der EVP nach einem Spitzenkandidaten bzw. ei-
ner Spitzenkandidatin fortgesetzt werden. Das dokumen-
tiert: Wir rücken davon ab, dass das Europäische Parla-
ment letztendlich nur dem zustimmt, was die Staats- und
Regierungschefs entschieden haben, und kommen dahin,
dass das Europäische Parlament aus seiner Mitte auf-
grund des Wahlergebnisses den Kommissionspräsiden-
ten wählt. Wir Sozialdemokraten haben das ja bekannt-
lich vorgemacht.

Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken haben
jetzt einen Programmentwurf vorgelegt. Ich zitiere mit
Genehmigung des Herrn Präsidenten:


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Haben Sie das genehmigt, Herr Präsident?)


Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht wurde
die EU zu einer neoliberalen, militaristischen und
weithin undemokratischen Macht …

Für alle, die es schon vergessen haben: In dem zentra-
len Reformvertrag von Maastricht wurden 1992 nicht
nur die Chancen für ein sozialeres Europa mit aufge-
nommen, sondern wir haben es erstmals in der modernen
Staatsgeschichte geschafft – das ist nämlich Demokratie –,
dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger auf kom-
munaler Ebene, egal ob sie aus Griechenland, Portugal,
Spanien oder Frankreich stammen – jetzt muss man noch
hinzufügen: Polen und Tschechien –, wählen und ge-
wählt werden können. Das gibt es nirgendwo auf der
Welt. Darauf sind wir gemeinsam stolz, und das prakti-
zieren wir auch.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Als Gewerkschafter sage ich: Wir haben 1994 mit den
Europäischen Betriebsräten etwas erreicht, was Gewerk-
schaften immer gefordert haben, nämlich den multina-
tionalen Konzernen einen Machtfaktor der gewählten
Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmervertreter entge-
genzusetzen. Das war nur in Europa möglich.

Dass das natürlich weiter verbessert werden muss, ist
klar. Aber wir entscheiden bei Europa nicht über die In-
stitution; wir entscheiden bei Europa darüber, wie viel
eher linke oder eher konservative Politik es gibt. Dass
wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
diese nach links führen wollen, ist selbstverständlich.
Darum werden wir uns auch bemühen.


(Beifall bei der SPD – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Davon steht aber im Koalitionsvertrag nichts drin!)


– Im Koalitionsvertrag steht zu Recht: Die wichtigste
Aufgabe deutscher Politik bleibt das europäische Eini-
gungswerk.

Wir leisten auch hier einen ganz praktischen Beitrag.
Kollege Strobl und ich sind uns einig – ich glaube, für
die Kolleginnen und Kollegen von Grünen und Links-
partei gilt das auch –: Wir wollen nach der Europawahl
den von Deutschland vorzuschlagenden Kandidaten für
den Kommissar wieder im Europaausschuss oder im
Bundestag öffentlich anhören. Wir haben es mit Günther
Oettinger so gemacht; das war ein großer Erfolg. Ich
hoffe, wir werden es mit Martin Schulz so machen, weil
es Zeit ist, dass wir nach dem Christdemokraten Walter
Hallstein wieder einen deutschen Kommissionspräsiden-
ten, den Sozialdemokraten Martin Schulz, bekommen.
Das wäre gut für unser Land. Das wäre gut für die Euro-
päische Union.

Glück auf!


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800900200

Das Wort erhält nun der Kollege Alexander Ulrich für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Alexander Ulrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800900300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Schäfer, Sie haben hier von historischen Europa-
wahlen geredet. Da Sie sich solcher Worte bedienen,
muss ich sagen: Die gegenwärtige Situation der Europäi-
schen Union ist historisch schlecht. Der soziale Zusam-
menhalt ist historisch schlecht. Die Zustimmung zur Eu-
ropäischen Union ist historisch niedrig.


(Gustav Herzog [SPD]: Die Linke ist historisch schlecht!)


Das ist das Ergebnis der Politik der Troika und insbeson-
dere der Bundesregierung in den letzten Jahren. Für die
aktuelle Bundesregierung hat man im Koalitionsvertrag
das Weiter-so festgeschrieben.

Anfang 2013 hat Kommissionspräsident Barroso die
Krise für beendet erklärt. Hier einmal ein paar Zahlen,
damit klar ist, über was wir reden:

In Portugal ist die Wirtschaftsleistung wieder um
1,8 Prozent gesunken. Die griechische Wirtschaftsleis-
tung ist um 4 Prozent und die zyprische ist um weitere
8,7 Prozent gesunken.

Die öffentliche Verschuldung ist in allen ESM-Pro-
grammländern weiter gestiegen. In Griechenland beträgt
sie mittlerweile 175 Prozent. Als die Troika aus EU-
Kommission, EZB und IWF angefangen hat, Griechen-
land – in Anführungszeichen – „zu retten“, waren es
107 Prozent. Einen deutlicheren Beweis dafür, dass die
Troika-Politik die Krise verschärft und nicht bekämpft,
gibt es nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


In Spanien zahlen kleine und mittlere Unternehmen
immer noch rund 6 Prozent Zinsen auf mittelfristige
Kredite. Dort gibt es heute über 200 000 Unternehmen
weniger als zu Beginn der Krise. Viele sind pleite, weil
die Kreditklemme immer noch nicht überwunden ist.

Entsprechend steigt die Arbeitslosigkeit. Ende 2013
betrug sie in Griechenland 27,4 Prozent, in Spanien
26,7 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in den
Ländern bei über 50 Prozent. In der gesamten Euro-Zone
haben wir 19,5 Millionen Arbeitslose. Das sind über
8 Millionen mehr als zu Beginn der Krise. Was da histo-
risch sein soll, Herr Axel Schäfer, bleibt Ihr Geheimnis.


(Beifall bei der LINKEN – Gustav Herzog [SPD]: So ein Unsinn!)


Die Krise war vor einem Jahr nicht beendet; sie ist
auch jetzt nicht beendet. Was die Politik macht, was die
Troika in diesen Ländern macht, sehen wir: Die Renten,
Löhne und Gehälter werden gekürzt. Die Arbeitslosen-
unterstützung wird gekürzt. Die Gesundheitssysteme
werden zerstört – mit katastrophalen Folgen. Auch hier
nur einmal eine Zahl, damit klar ist, über was wir reden:
In Griechenland ist im Zuge der Krise die Zahl der HIV-
Infektionen um das 30-Fache gestiegen, weil man im
Gesundheitswesen spart. Das ist das Ergebnis der
Troika-Politik, die von der SPD auch in dieser neuen Re-
gierung mitgetragen wird.

Was macht die EU-Kommission? Herr Schäfer, Sie
haben über das Programm der EU-Kommission gar nicht
geredet; möglicherweise haben Sie es gar nicht gelesen.
Was die EU-Kommission da festschreibt, ist ein Weiter-
so der Politik der letzten Jahre.

Wenn man über die Bankenrettung und die Banken-
union redet, wie sie derzeit verhandelt wird, heißt es
auch wieder: Es sollen weiterhin die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler für die Spekulationsverluste in Geisel-
haft genommen werden. Wenn der Abwicklungsmecha-
nismus tatsächlich irgendwann bereitsteht, sollen
55 Milliarden Euro verfügbar sein. Wir wissen, dass in
der Euro-Zone bei den Banken faule Kredite von
1 000 Milliarden Euro, also von 1 Billion Euro, lauern.
Das zeigt, dass diese Summe viel zu niedrig ist, sodass
auch weiterhin die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
dafür in Haftung genommen werden. Deshalb fordern
wir als Linke eine Schrumpfung und strikte Regulierung
des Finanzsektors. Banken müssen endlich unter demo-
kratische Kontrolle, damit Europa wieder eine wirt-
schaftliche Perspektive hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Arbeitsprogramm ist auch ein Weiter-so, was den
Sozialabbau unter dem Vorwand der Haushaltskonsoli-
dierung angeht. Man konsolidiert aber keine Haushalte,
indem man den einfachen Menschen ihr Einkommen
raubt. Das führt in die Rezession, wie wir es in Grie-
chenland und anderen Ländern sehen. Aus einer Rezes-
sion heraus kann man keine Schulden abbauen.

Es gibt ein Weiter-so bei den Attacken gegen Arbeit-
nehmerrechte. Mit dem REFIT-Programm will die Kom-
mission Regeln abschaffen, die laut Wirtschaftslobbyis-
ten überflüssig sind. Dabei geht es häufig auch um
Themen wie Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.

Ebenso bedeutet das Programm ein Weiter-so mit der
bedingungslosen Orientierung auf die Wettbewerbsfä-
higkeit, also mit Arbeitsmarktderegulierung und Steuer-
senkungen für Unternehmen.

Aber Europa braucht gerade kein Weiter-so, sondern
eine 180-Grad-Wende. Das Wahlprogramm der SPD
wäre dafür übrigens keine schlechte Grundlage gewesen,
Herr Schäfer. Da heißt es zum Beispiel:

Wir wollen … eine klare Trennung von Investment-
und Geschäftsbanken.

Auf der gleichen Seite heißt es:

Rein spekulative Finanzprodukte … wollen wir
verbieten.

Auf Seite 105 fordert die SPD „existenzsichernde
Mindestlöhne“ für die gesamte EU und gar eine echte
Sozialunion. Bei den Koalitionsverhandlungen hat die
SPD jedoch beim Thema der Europäischen Union sofort
zugestimmt. Sie haben einfach ein Weiter-so der Arbeit





Alexander Ulrich


(A) (C)



(D)(B)

von Schwarz-Gelb unterschrieben. Was Sie mit dem Ko-
alitionsvertrag machen, ist Wahlbetrug.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir Linke streiten für eine solidarische, demokrati-
sche und soziale Europapolitik. Dazu gehört eine
EU-weite Vermögensabgabe. Die Vermögen des reichs-
ten 1 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger über-
steigt die gesamte öffentliche Verschuldung bei weitem.
Diese Topvermögen sind sogar in der Krise rasant weiter
gestiegen. Aber da trauen Sie sich nicht heran.

Dazu gehört auch die ernste Bekämpfung von Steuer-
flucht und Steuerhinterziehung. Laut EU-Kommission
gehen den Mitgliedstaaten jährlich 1 Billion Euro wegen
Steuerbetrugs durch die Lappen. Statt eine polemische
Debatte um Armutszuwanderung anzuzetteln, liebe Kol-
legen von der CSU, sollten Sie sich einmal mit den
Reichtumsauswanderern beschäftigen. Denn das Pro-
blem in unserem Land sind weniger die Zuwanderer aus
Rumänien und Bulgarien, sondern eher Menschen wie
Uli Hoeneß. Um diese müssen Sie sich einmal kümmern,
denn sie sind im Hinblick auf die Belastung der Finan-
zen unserer Haushalte eher ein Problem.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Ihre Aussage, „Wer betrügt, der fliegt“, gilt, dann
wird es auf der Ehrentribüne des FC Bayern in Zukunft
ziemlich leer aussehen, ebenso in der CSU-Landes-
gruppe, Stichwort „Amigo“.

Zu einer sinnvollen Europapolitik gehören auch mas-
sive öffentliche Investitionen. Eine Krise überwindet
man nicht, indem man die Wirtschaft kaputtspart, son-
dern nur, indem man sie durch sinnvolle Investitionen
ankurbelt. Dazu gehören endlich auch wieder anständige
Löhne und Gehälter in Deutschland. Die Außenhandels-
überschüsse müssen abgebaut werden. Wir brauchen
endlich einen Mindestlohn in Deutschland, nicht erst
2017 und mit vielen Lücken, sondern jetzt und ohne
Ausnahme.


(Beifall bei der LINKEN)


Damit auch das nicht vergessen wird: Wir tun immer
so, als wäre die Krise bei uns vorbei; wir hätten nichts
mehr damit zu tun und könnten anderen Ländern vor-
schreiben, was sie zu tun haben. Deutschland ist mit sei-
ner Politik, auch durch die Außenhandelsüberschüsse,
Mitverursacher der Krise; denn unsere Außenhandels-
überschüsse sind die Schulden der anderen Länder. Das
wird Ihnen jeder Ökonom erklären können. Deshalb darf
Deutschland nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern muss anfangen, seine eigene Wirtschaftspolitik
zu verändern, indem es seine Außenhandelsüberschüsse
abbaut.

Wir hoffen, dass die EU-Kommission da weiterhin
Druck auf die Bundesregierung macht. Wenn hier im
Parlament oder in der Regierung einige sagen, die EU-
Kommission mache da etwas verkehrt, soll der Hinweis
gestattet sein: Alles, was die EU-Kommission in Brüssel
macht, alle Verträge, die da geschlossen worden sind,
kommen nur mit der Beteiligung Deutschlands zustande.
Sie haben die Verträge mit unterschrieben, und darin ste-
hen auch die 6 Prozent Außenhandelsüberschüsse. Also
arbeiten Sie daran; sonst wird Europa zusammenbre-
chen, und dann fällt die Europawahl wirklich in ein his-
torisches Zeitfenster, Herr Schäfer.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Jetzt werde ich auch noch gesiezt!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800900400

Gunther Krichbaum ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1800900500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,

die Europäische Kommission hat sich in ihrem Arbeits-
programm viel vorgenommen. Dazu gehört im Wesentli-
chen die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion. Man plant Initiativen zur Förderung von
Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Die Klima- und
Energiepolitik und die Weiterentwicklung digitaler
Technologien stehen auf ihrer Agenda. Auch der Bereich
der Sicherheitspolitik und der Justizpolitik wird nicht
ausgespart. Man hat sich das Thema der Europäischen
Staatsanwaltschaft auf die Agenda gesetzt, genauso die
Entwicklung der Außenwirtschafts- und der Außenpoli-
tik.

Wenn Sie jetzt fragen, wie das die Kommission ei-
gentlich alles schaffen möchte – denn das waren nur die
Überschriften –, dann besteht diese Frage ohne jeden
Zweifel zu Recht. Denn bei Lichte besehen wird dieses
Arbeitsprogramm 2014 nur bis Mai halten; denn dann
finden – Kollege Axel Schäfer hat es schon angespro-
chen – die Wahlen zum Europäischen Parlament statt.
Auch wenn die Amtszeit der Europäischen Kommission
bis Oktober dauert, wird dann in Brüssel sicherlich nicht
mehr unbedingt der Zustand herrschen, dass der Kom-
mission die Schweißperlen auf der Stirn stehen. Deswe-
gen muss man auch von deutscher Seite darauf schauen,
wie die Dinge umgesetzt werden. Auffällig ist in jedem
Fall, dass die Europäische Union, dass die Europäische
Kommission weg von der Krisenbewältigungspolitik
und hin zu einer stärkeren Zukunftspolitik möchte, und
dieser Schritt ist richtig.

Lieber Kollege Ulrich, es ist geradezu das Markenzei-
chen der Europäischen Union, dass wir durch Wettbe-
werbsfähigkeit die Arbeitsplätze von morgen schaffen
müssen, mit einem Mehr an Forschung und Technologie.
Denn wie wollen wir angesichts der Globalisierung, dem
Thema des 21. Jahrhunderts, im Wettbewerb bestehen,
wenn es uns nicht gelingt, diese Herausforderungen an-
zunehmen und zu bewältigen?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])






Gunther Krichbaum


(A) (C)



(D)(B)

Mit Blick auf die Staatsschuldenkrise einiger EU-
Länder, die tatsächlich die gesamte europäische Wäh-
rungsunion, ja, auch unsere Wirtschaft, in eine Schief-
lage gebracht haben, fällt doch auf, dass wir mehr als nur
vorangekommen sind. Denn noch vor zwei oder drei
Jahren mussten wir tatsächlich noch ganz andere The-
men diskutieren: Es wurde offen darüber diskutiert, ob
die Euro-Zone eventuell auseinanderbrechen könnte, ob
die ganze Europäische Union auseinanderbrechen
könnte. Und nein, diese Europäische Union hat zusam-
mengehalten, hat sich gegenüber jenen Staaten als soli-
darisch erwiesen, die sich in Schieflage befanden. Aber
es war eben auch richtig, dass Bundeskanzlerin Angela
Merkel damals sagte: Nein, diese Hilfen und Unterstüt-
zungen werden nicht bedingungslos ausgereicht; wir for-
dern von diesen Staaten eigene Bemühungen, eigene
Anstrengungen ein. Diese haben sich, wie man sieht, ge-
lohnt. Deswegen diskutieren wir heute ganz andere The-
men.

Heute freuen wir uns darüber, dass Irland als erstes
Land den Rettungsschirm hat verlassen können, dass
sich Spanien auf einem guten Weg befindet, dass die Ar-
beitslosigkeit sinkt und die Hilfsprogramme der Euro-
päischen Union nicht mehr in Anspruch genommen wer-
den müssen. All diese Länder befinden sich auf einem
sehr guten Weg, einschließlich Griechenland. In Grie-
chenland gibt es einen sogenannten Primärüberschuss.
Das heißt, dass in diesem Land nach Abzug der Zinsen
mittlerweile ein Haushaltsüberschuss besteht. Das ist
eine ganz wichtige volkswirtschaftliche Kerngröße, um
erkennen zu können, ob sich dieses Land auf dem richti-
gen Weg befindet. Ja, es tut es.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen wäre es richtiger, Herr Kollege Ulrich, die
Anstrengungen dieser Länder insgesamt anzuerkennen.
Wir unterstützen sie weiter auf diesem Weg, wir erwei-
sen uns hier als solidarisch, aber es wird ohne diese
schmerzvollen Anpassungsprozesse natürlich nicht
funktionieren.

Ein Weiteres. Ja, es ist wahr: Natürlich hätten viele
dieser Maßnahmen bereits in den Vertrag von Maastricht
eingefügt werden müssen. Aber damals, vor über 20 Jah-
ren, ist niemand davon ausgegangen, dass all diese Ent-
wicklungen die Währungsunion schier auseinanderrei-
ßen könnten. Deswegen ist es umso anerkennenswerter,
dass es gelungen ist, an einem bestehenden Haus eine
Kernsanierung durchzuführen, nachträglich Stahlträger
einzuziehen, sodass wir jetzt in Europa eine Finanzarchi-
tektur haben, die sich als stabil erweist. Der Euro ist,
weltweit betrachtet, die Leitwährung neben dem US-
Dollar. Das Vertrauen kehrt zurück. Daran müssen wir
weiter arbeiten, und wir müssen alles dafür tun, dass sich
dieser Weg fortsetzt, und da bin ich sehr zuversichtlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte ein weiteres Thema anschneiden, das die
Europäische Kommission auf ihre Agenda gesetzt hat
– es geht um das Justizwesen, das früher als dritte Säule
bezeichnet wurde –: die Europäische Staatsanwaltschaft.
Bei Licht betrachtet müssen wir als Bundestag kritisch
feststellen, dass wir erst jetzt, Ende Januar 2014, über
das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission
diskutieren, obwohl es bereits seit Oktober 2013 auf dem
Tisch liegt. Während in der Zwischenzeit viele nationale
Parlamente die sogenannte Subsidiaritätsrüge erhoben
haben – übersetzt gesprochen heißt das, dass sie darauf
hingewiesen haben, dass die nationalen Mitgliedstaaten
dieses Problem besser lösen können als die Europäische
Union –, hat sich der Deutsche Bundestag als sprachlos
erwiesen.


(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hatten ja keine Sitzungen!)


Ja, national betrachtet können wir sicherlich bei man-
chen nationalen Gesetzesprojekten die Uhr anhalten; auf
internationaler Ebene, vor allem in europapolitischer
Hinsicht funktioniert das aber nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir konnten nicht voraussehen, dass die Regierungs-
bildung so viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Es ist
richtig, dass dabei Gründlichkeit vor Schnelligkeit geht;
aber wir müssen aus dieser Erfahrung die richtigen
Schlüsse für die Zukunft ziehen. Der Hauptausschuss,
den wir eingesetzt haben, war in dieser Zeit sicherlich
hilfreich, aber er darf nicht als Blaupause für die Zukunft
dienen. In der Phase zwischen der Bundestagswahl und
der Neukonstituierung der Ausschüsse, insbesondere des
Europaausschusses, müssen wir weiter Europapolitik be-
treiben. Unsere Verfassung bietet uns die Möglichkeit
dazu. Der Europaausschuss kann schon heute plenarer-
setzend tagen, aber er macht es nicht. Deswegen müssen
wir in dieser Legislaturperiode kritisch reflektieren, ob
und inwieweit das hilfreich war. Wir müssen für die Zu-
kunft andere Möglichkeiten finden, damit wir in der Eu-
ropapolitik parlamentarisch handlungsfähig bleiben.
Aufgrund des Vertrages von Lissabon und der sogenann-
ten Begleitgesetze, die uns als Bundestag mehr Rechte
gegeben haben, ist der Deutsche Bundestag, ist der Euro-
paausschuss in der Verantwortung. Er muss diese Rechte
ausüben. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten das von
uns.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zurück zur Europäischen Staatsanwaltschaft. Ich per-
sönlich unterstütze die Bundesregierung ganz klar in ih-
rem Bemühen, die Europäische Kommission dazu zu be-
wegen, die vorgetragenen Bedenken der Parlamente zu
berücksichtigen. Nach meinem Kenntnisstand haben im-
merhin 19 Parlamente gerügt. Man muss hinzufügen
– damit das richtig verstanden wird –: Nicht nur Parla-
mente wie der Deutsche Bundestag, sondern auch die so-
genannten zweiten Kammern sind rügeberechtigt. Die
Agenda, die von den anderen Parlamenten auf den Tisch
gelegt wurde, muss umgesetzt werden.

Last but not least möchte ich auf die Erweiterungs-
politik, die sich nicht explizit unter den genannten vier
Punkten befindet, zu sprechen kommen. Auch an diesem





Gunther Krichbaum


(A) (C)



(D)(B)

Thema müssen wir dranbleiben. In dieser Legislaturpe-
riode wird es aller Voraussicht nach keinen weiteren Bei-
tritt eines neuen Mitgliedslandes geben – eine Ausnahme
ist vielleicht Island; aber wir kennen die Voraussetzun-
gen. Das heißt aber nicht, dass wir an diesem Thema
nicht dranbleiben müssen. Gerade der sogenannte west-
liche Balkan ist nach wie vor eine sehr vielschichtige
und schwierige Region. In 2014, 100 Jahre nach dem
Ausbruch des Ersten Weltkriegs – wir wissen ganz ge-
nau, wie schwierig die Bedingungen in dieser Region
des Balkans damals waren –, ist es aller Ehren wert, ein
Auge darauf zu werfen. Das heißt, wir brauchen weiter-
hin regionale Strategien, die Vertrauen zwischen den
Staaten untereinander schaffen. Die Donauraumstrategie
ist und kann weiterhin ein ganz wichtiger Ansatzpunkt
dafür sein, dass die Staaten grenzüberschreitend enger
miteinander kooperieren. Und es gilt, weiter die Hand zu
reichen in der Strategie der Östlichen Partnerschaft.
Diese – das hatte ich in meiner letzten Rede schon darge-
stellt – ist natürlich von der Zwischenbilanz her zunächst
einmal etwas ernüchternd.

Aber es gibt auch positive Beispiele – trotz aller Pres-
semäkelei. Ich nenne als ein Beispiel die Republik Mol-
dau,


(Beifall der Abg. Manfred Grund [CDU/CSU] und Petra Ernstberger [SPD])


die ganz schwierigen Voraussetzungen gegenübersteht.
Wir thematisieren zwar ständig den Druck Russlands auf
die Ukraine, übersehen dabei aber völlig, welch enormer
Druck auch auf die Republik Moldau ausgeübt wird. Sie
kann beispielsweise ihren Wein, eines der wichtigen
Agrargüter dieses Landes, nicht mehr nach Russland ex-
portieren. Hier haben wir als EU reagiert. Wir haben die
Grenzen Europas dafür geöffnet. Das ist ein wichtiges
Signal. Man schaut aus diesem Land heraus sehr stark
auf uns – Kollege Manfred Grund weiß davon zu berich-
ten –, und zwar nicht nur auf uns als Europäische Union,
sondern insbesondere auch auf Deutschland. Dieses
Land hat weiterhin unsere Unterstützung verdient, wie
auch alle anderen Länder, die sich aufmachen, die Stan-
dards der Europäischen Union mehr und mehr umzuset-
zen.

Deswegen noch eine letzte Anmerkung zur Ukraine
und ein kurzer Satz zu Mazedonien. Gerade die Ukraine
sollte weiter auf unserer Agenda bleiben. Die dortigen
demokratischen Kräfte, die ein anderes Land in unserem
Sinne schaffen wollen, haben alle Unterstützung ver-
dient,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und sie sehen sich dabei schwierigen Voraussetzungen
gegenüber, vor allem die NGOs und die Bürgerbewe-
gungen.

Last but not least Mazedonien: bei Lichte besehen lei-
der ein Trauerspiel. Wir könnten mit Mazedonien schon
längst Beitrittsverhandlungen führen, tun es aber nicht,
weil Griechenland diesen möglichen Fortschritt mit ei-
nem bizarren, absurden Namensstreit blockiert. Nein, es
muss Schluss damit sein, dass aus zwischenstaatlichen
Streitigkeiten ein Faustpfand erhoben wird, dass andere
Länder geradezu erpresst werden. Deswegen wünsche
ich mir, dass es auch hier endlich vorangeht und dass wir
ein deutliches Signal setzen auch gegenüber einem
Land, das gegenwärtig die Ratspräsidentschaft innehat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800900600

Ich erteile das Wort dem Kollegen Manuel Sarrazin,

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800900700

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Verehrter Herr Kollege Krichbaum, ich stelle
nicht in Abrede, dass es gewisse Zeichen der Erholung
gibt. Die Auktionen von Irland und Portugal in der letz-
ten Woche waren sehr erfolgreich. Die Entwicklung der
Arbeitslosenzahlen über das letzte Jahr zum Teil laut
Eurostat auch: in Irland minus 2 Prozent, in Lettland mi-
nus 2 Prozent, in Portugal minus 1,5 Prozent, in Ungarn,
auch ein Krisenstaat, minus 1,5 Prozent. Aber wir müs-
sen doch auch sehen, dass diese Entwicklung der Ar-
beitslosenzahlen immer noch auf einem unglaublich ho-
hen Niveau stattfindet. Deswegen muss uns klar sein,
dass es im Jahr 2014 wichtig ist, diese Entwicklung nicht
nur zu beschreiben, sondern auch zu handeln.

Das Arbeitsprogramm der Kommission, das ja schon
im Herbst veröffentlicht wurde, hat das meiner Ansicht
nach dargestellt. Stabilität und kluges vorausschauendes
Handeln, das ist das, was Europa jetzt braucht. Denn
– das kann ich hier im Haus wirklich nur unterstreichen –
das Projekt Europa steht unter Druck. Die antieuropäi-
schen Populisten sind Monate vor der Europawahl in ei-
ner Situation, dass sie nicht nur wie sonst oft die Stim-
mung in vielen Nationalstaaten beeinflussen, sondern
dass sie – diese Gefahr droht, ich will sie nicht herbeire-
den – auch in eine relevante Position kommen, in der sie
nach der Europawahl entschiedenes proeuropäisches
Handeln im europäischen Interesse zumindest verlangsa-
men, wenn nicht sogar lähmen können. Deswegen ist es
wichtig, dass wir uns im Rahmen des europäischen Ver-
fassungsbogens dagegen positionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte Ihnen sagen: Ich glaube, dass eine Verän-
derung der Europapolitik dieser Bundesregierung not-
wendig ist. Ich glaube, das Argument der Alternativlo-
sigkeit, diese Begründung der Europapolitik der alten
und meiner Ansicht nach leider auch der neuen Bundes-
regierung, treibt die Menschen letztlich auch in die
Arme von Populisten. Das liegt daran, dass es die Kanz-
lerin seit Jahren versäumt hat, die guten Argumente für
gemeinsames europäisches Handeln stark und mutig zu
vertreten. Auch deswegen glaubt man jetzt, es gebe ein-
fache Argumente gegen pro-europäisches Interesse.





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

Die Regierung hat außerdem, sozusagen aus dem
Machtinteresse des Kanzleramts heraus, versucht, die
Prozesse so zu steuern, dass dieses Thema den parla-
mentarischen Debatten, vor allem im Europäischen Par-
lament, zum Teil aber auch im Bundestag, entzogen
wird; gegen diese Unionsmethode haben wir erfolgreich
gekämpft. Man muss konstatieren, dass das der Europäi-
schen Union insofern schadet, als dass das Wichtigste
nicht stattgefunden hat, nämlich den Menschen zu zei-
gen: Über Europa darf man streiten, auch als Pro-Euro-
päer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nur: Auf Populismus müssen wir antworten. Folgen-
des möchte ich besonders an die Kolleginnen und Kolle-
gen der CSU richten: Wenn wir gegen den Populismus
von Rechts und von Links vorgehen wollen, dann müs-
sen wir klarmachen, dass die Vorurteile gegenüber ei-
nem zentralistischen Superstaat, einer überbordenden
Demokratie und allem „Bösen“, das immer aus Brüssel
kommt, nicht stimmen, und sie beantworten. Wir dürfen
nicht selbst mit dieser Melodie in den Wahlkampf zie-
hen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte einen Satz zur Freizügigkeit sagen. Ich
glaube, dass Sie unterschätzen, wie wichtig dieses Nar-
rativ in der Europäischen Union ist. Meiner Ansicht
nach gehört die Idee der Freizügigkeit, auch der Perso-
nenfreizügigkeit, zu Europa, genauso wie die Lederhose
aus Ihrer Sicht zu Bayern gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Ich habe keine Lederhose! Noch nie getragen!)


Ich möchte ein Beispiel nennen: Ich habe vor einigen
Wochen eine junge Ungarin getroffen. Sie hat gesagt, sie
findet das Narrativ, dass Europa Frieden bedeutet, gut
und schön, aber nicht hinreichend für sie.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist doch Populismus!)


Denn ihr persönliches Narrativ von Europa ist, dass sie
dank der Europäischen Union heute in Berlin leben und
arbeiten darf. Dieses Narrativ dürfen Sie nicht infrage
stellen, wenn Sie über Freizügigkeit sprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Es gibt in Bayern sehr viele, die sehr gut arbeiten! Auch aus Ungarn!)


Sie wissen: 2014 wird ein sehr entscheidendes Jahr.
Eines der wichtigsten Dossiers, das jetzt behandelt wird,
betrifft die Bankenunion. Ich glaube, wir müssen diese
Phase der leicht positiven Entwicklung, die uns gute Ar-
gumente dafür liefert, mehr Europa zu machen und am
Euro festzuhalten, jetzt nutzen, um entschieden gegen
die sozialen Verwerfungen der Krise vorzugehen. Wir
müssen aber auch das tun, was notwendig ist, um die
Stabilität in der Euro-Zone weiterhin zu garantieren.
Man muss sagen, dass die Verhandlungsstrategie der
Bundesregierung im Hinblick auf das Dossier zur Ban-
kenunion, zum Abwicklungsmechanismus und Abwick-
lungsfonds meiner Ansicht nach genau das Gegenteil da-
von ist. Was Deutschland in Brüssel verhandelt, sind
keine starken europäischen Strukturen, die es ermögli-
chen, im Krisenfall rasch und im europäischen Interesse
zu handeln. Das, was jetzt verhandelt wird, sind unklare
Entscheidungsstrukturen: 100 Personen sollen im Falle
einer Krise über ein Wochenende entscheiden, ob eine
Bank geschlossen werden soll oder nicht oder ob sie ge-
rettet werden soll und, wenn ja, wie. Das kann doch
nicht funktionieren.

Die Politik, die Sie in Brüssel betreiben, erinnert mich
an die Die drei kleinen Schweinchen.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Bitte?)


Sie kennen den Cartoon von Walt Disney.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN – Andrej Hunko [DIE LINKE]: Nee, erzähl mal! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Erzähl mal, genau! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt wird es aber spannend! Wie geht das jetzt weiter?)


Herr Kollege Ulrich, auch Ihnen möchte ich ganz
deutlich sagen: Es ist es in dieser Zeit wert, mit aller An-
strengung ein gemeinsames europäisches Haus zu
bauen. Es soll sich nicht jedes Schweinchen in sein eige-
nes nationales Häuschen zurückziehen. So ist das näm-
lich, und das gilt auch für Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In Richtung der Regierung möchte ich sagen: Denken
Sie daran, welche Schweinchen in diesem Märchen ge-
fressen werden. Es sind die Schweinchen, die ihr Haus
aus Stroh und aus Holz bauen. Deswegen sage ich Ihnen:
Wenn der EZB-Stresstest dafür sorgen sollte, dass es
nicht mehr so glimpflich zugeht, dann möchte ich, dass
Sie sich daran erinnern, was ich Ihnen heute vorgetragen
habe, nämlich dass Ihre Politik an folgendes Zitat erin-
nert:

Ich bin ja heut so froh.
Ich bau‘ mein Haus aus Stroh. 
Und lebe drin, wie‘s mir gefällt 
und pfeife auf die Welt.

Das ist die Politik der Bundesregierung in Sachen
Bankenunion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ein Sozialdemokrat hätte das gesungen!)


Ich sage Ihnen auch: Die echten Pro-Europäer bei der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben eine andere Vor-
stellung. Wissen Sie eigentlich, warum wir eine starke
europäische Bankenunion mit starken europäischen In-
stitutionen wollen? Schweinchen Schlau sagt:

Ich bau‘ mein Haus aus Stein;
denn haltbar muss es sein.





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

Das ist das, was 2014 in der Europapolitik gebraucht
wird. Das ist grüne Europapolitik.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU)

aber eine schweinische Rede! – Axel Schäfer
[Bochum] [SPD]: Das ist natürlich voll gegen
die Vegetarier gerichtet! – Gunther Krichbaum
[CDU/CSU]: Da haben die Grünen mal wieder
richtig die Sau rausgelassen! – Heiterkeit)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800900800

Ich teile die Begeisterung, aber so etwas Ähnliches ist

auch schon einmal in gesungener Form hier vorgetragen
worden.


(Heiterkeit und Beifall – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist uns Gott sei Dank heute erspart geblieben! – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Besser nicht! Besser nicht!)


Für die Bundesregierung spricht jetzt der Staatsminis-
ter Michael Roth.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gunther Krichbaum [CDU/ CSU]: Der singt jetzt!)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1800900900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist für uns
ein ganz besonderes Jahr. Wir erinnern uns an den Ersten
Weltkrieg, der vor 100 Jahren ausgebrochen ist. Wir er-
innern uns daran, dass Deutschland vor 75 Jahren Polen
überfallen hat und damit den Zweiten Weltkrieg zu ver-
antworten hat. Und wir erinnern uns daran, dass vor
25 Jahren die kommunistische Diktatur zusammenbrach,
Europa und Deutschland sich wiedervereinigen konnten.

Diese drei Ereignisse haben ganz viel mit Europa zu
tun. Sie sind das Fundament, auf dem dieses Europa
steht. Vielleicht sollten wir uns diese Ereignisse – man-
che sind tragisch, manche schön – in Erinnerung rufen,
wenn wir gelegentlich im Alltag des Kleinmuts sind.
Das ist auch deshalb wichtig, weil das derzeit keine gu-
ten Jahre für Europa sind. Europa ist immer noch in der
Krise. Da gibt es auch überhaupt nichts schönzureden.

Selbstverständlich – das freut die Bundesregierung –
haben wir erste zarte Pflänzchen – der Kollege Axel
Schäfer sprach davon –: Lettland ist dem Euro beigetre-
ten. Die Nachrichten, die wir aus Portugal oder auch aus
Irland erhalten, machen deutlich: Es gibt Wege aus der
Krise.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nur nicht mit Ihnen!)


Dennoch: Für die Bundesregierung ist die Bekämpfung
der dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit in Europa
eines der zentralen Projekte, das wir mit aller Anstren-
gung und mit viel Kreativität angehen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen der jungen Generation in Europa deutlich
machen: Europa ist ein Problemlöser und kein Problem-
verschärfer. Wir dürfen nicht ruhen, wenn 60 Prozent der
jungen Menschen in Griechenland ohne Arbeit und Per-
spektive sind. Wir dürfen nicht ruhen, wenn 60 Prozent
der jungen Menschen in Spanien ohne Job und Perspek-
tive sind.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800901000

Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Haßelmann?


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1800901100

Ja, na klar. – Bitte, Frau Kollegin.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800901200

Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank, Herr

Staatsminister. – Gerade weil ich Ihrer Auffassung so
sehr zustimme, was die Bedeutung Europas und auch
unsere nationale Verantwortung angeht, möchte ich Sie
als Mitglied der Bundesregierung gerne fragen – wir
sprechen heute über das Arbeitsprogramm der Europäi-
schen Kommission –: Können Sie sich erklären, warum
in dieser Debatte zur Kernzeit so wenige Mitglieder der
Bundesregierung vertreten sind?


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1800901300

Erst einmal freue ich mich sehr darüber, dass im Ge-

gensatz zu früheren Jahren die Kolleginnen und Kolle-
gen des Deutschen Bundestages so zahlreich an dieser
Diskussion teilnehmen;


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


das freut mich sehr. Wenn ich zur Regierungsbank
schaue, sehe ich: Dort sitzen hochengagierte Kollegin-
nen und Kollegen, die ganz wichtige Ressorts vertreten.
Deshalb darf ich sagen: Auch die Bundesregierung ist
gut vertreten. Ich hoffe, Sie akzeptieren diese junge,
hoffnungsvolle Riege, die dort die Bundesregierung ver-
tritt.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Europa ist eben Jugend, und Europa ist Hoffnung für
die Jugend. Jedenfalls wollen wir in der Bundesregie-
rung nach Kräften daran arbeiten, dass das auch wieder
mit einem großen, konkreten Hoffnungsversprechen für
die jüngere Generation verbunden ist.

Die Europäische Kommission hat ihr Arbeitspro-
gramm zu Recht mit „Jahr der Ergebnisse“ überschrie-
ben. Wir wissen selber, dass das Zeitfenster für konkrete
Entscheidungen relativ kurz ist: Wir haben die Wahlen
zum Europäischen Parlament; die Kommission wird neu
gewählt. Insofern müssen wir jetzt mit aller Anstrengung
dafür sorgen, dass wichtige Dossiers noch rechtzeitig
vor den Wahlen zum Europäischen Parlament vollzogen
werden.





Staatsminister Michael Roth


(A) (C)



(D)(B)

Der erste Punkt – er schließt unmittelbar an die dra-
matisch hohe Jugendarbeitslosigkeit an –: Wir müssen
die Reformen in Europa selbstverständlich fortsetzen.
Wir brauchen Strukturreformen. Wir brauchen vor allem
auch Investitionen in Bildung, in Qualifizierung, in In-
frastruktur, gerade in den krisengeschüttelten Staaten. Es
geht nicht allein um Sparprogramme oder um die Libera-
lisierung der Märkte. Wir brauchen einen umfassenden
politischen Ansatz, der der angespannten sozialen und
wirtschaftlichen Lage in Europa Rechnung trägt. Deswe-
gen wird die Bundesregierung einen neuen Akzent auf
den sozialen Zusammenhalt setzen und Impulse für
Wachstum und Beschäftigung nach Kräften unterstützen.

Der zweite große Punkt auf unserer politischen
Agenda ist der Aufbau der Bankenunion. Wir müssen
dafür sorgen, dass nicht länger die Steuerzahler für die
Risiken der Banken geradestehen müssen. Deshalb soll-
ten wir den auf dem Europäischen Rat vom Dezember
vergangenen Jahres gefundenen Kompromiss zur Ban-
kenunion – mit dem einheitlichen Abwicklungsmecha-
nismus – unterstützen. Ich kann nur an alle Verantwortli-
chen in Brüssel appellieren, die Verhandlungen zügig
und erfolgreich abzuschließen. Wir dürfen hier eine Ver-
zögerung von bis zu einem Jahr, wie sie droht, nicht dul-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ein großes Anliegen – nicht nur der Europäischen
Kommission, sondern auch der Bundesregierung – ist
das klare Bekenntnis dazu, dass die Europäische Union
eine Werteunion ist. Der innere Zusammenhalt Europas
beruht weniger auf dem Funktionieren des Binnenmark-
tes und weniger auf der Idee des Wettbewerbs als viel-
mehr auf gemeinsamen Werten: Demokratie, Rechts-
staatlichkeit, Akzeptanz von Minderheiten, kulturelle
und religiöse Vielfalt, das macht Europa stark und das
macht die Idee Europas zu einem Exportschlager in der
Welt. Wir brauchen in der Europäischen Union einen
wirksamen Mechanismus, der die Wertegemeinschaft
dort schützt, wo sie in Gefahr ist. Das ist auch eine Frage
der Glaubwürdigkeit. Die Europäische Union kann ihre
Werte nur dann selbstbewusst nach außen – das heißt im
globalen Maßstab – vertreten, wenn sie diese Werte auch
konsequent nach innen lebt. Sie alle wissen, dass es in
den vergangenen Jahren in einer Reihe von Staaten
Schwierigkeiten gegeben hat. Diesen Staaten wollen wir
helfen durch gemeinsame, verbindliche Standards und
durch einen entsprechenden Mechanismus.

Lassen Sie mich angesichts der Diskussion um das
Thema Migration für die Bundesregierung ein ganz kla-
res Bekenntnis abgeben: Freizügigkeit ist eine der größ-
ten europäischen Errungenschaften. Die Bundesregie-
rung wird diese europäische Errungenschaft konsequent
verteidigen. Wir können alle Verantwortlichen nur da-
rum bitten, sachlich, ohne Polemik und mit Augenmaß
über dieses Thema zu diskutieren. Deutschland profitiert
von der Freizügigkeit wie nur wenige andere Staaten in
der Europäischen Union.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir tragen Verantwortung für dieses Europa, und wir
tragen diese Verantwortung nicht allein. Insofern wird
die Bundesregierung sehr darauf achten, dass wir in der
Europäischen Union alle Mitgliedstaaten mitnehmen. Es
geht nicht um groß oder klein. Manche kleinen Staaten
– ich erinnere an Luxemburg – sind groß: weil sie mit
Engagement, mit Kreativität und Mut und Entschieden-
heit dieses Integrationsprojekt vorangebracht haben. Wir
reichen allen unseren Partnerländern in Europa die Hand
zur Zusammenarbeit. Europa braucht keinen deutschen
Oberlehrer oder Schulmeister, Europa braucht ein
Deutschland, das in Solidarität Verantwortung trägt und
die kleinen und die mittleren und die großen Staaten mit-
nimmt.

Das geht nicht ohne eine ganz enge Kooperation mit
Frankreich und mit Polen. Mit großer Freude haben wir
das Bekenntnis von Präsident Hollande zu mehr Europa
– vor allem zu einem besseren Europa – vernommen.
Wir wollen unsere französischen Freunde dabei tatkräf-
tig unterstützen. Ich sage das bewusst heute, wenige
Tage vor dem Deutsch-Französischen Tag, ich sage das
aber auch in Richtung Polen. Das Weimarer Dreieck
– hier im Bundestag sitzen viele Kolleginnen und Kolle-
gen, die das Weimarer Dreieck über die Jahre mit Leben
erfüllt haben – ist für uns ein wichtiger Anker, eine
wichtige Säule für den Erfolg; denn wir müssen – ich
sage das gerade mit Blick auf Mittel- und Osteuropa –
die Partnerländer mitnehmen, wir müssen sie davon
überzeugen, dass Europa kein Projekt für den Westen ist,
sondern ein Projekt, das den Süden, den Norden, aber
auch den Osten gleichwertig einschließt.

Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass deutsche
Führungsverantwortung nicht heißt, dass wir unsere
wirtschaftliche und politische Stärke zu dominant aus-
spielen – das ist uns in der Geschichte nicht gut bekom-
men. Insofern möchte ich hier noch einmal deutlich ma-
chen: Es geht um solidarische Führungsverantwortung.

Die Bundesregierung wird alles in ihren Möglichkei-
ten Stehende tun, um Europa aus der Krise zu führen;
denn das Europa, für das wir eintreten, ist ein Europa der
Solidarität, des sozialen Zusammenhalts und der ge-
meinsamen Werte. Dieses bessere Europa werden wir
gemeinsam mit unseren Partnern bauen. Ich bitte Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, um Ihre tatkräftige Un-
terstützung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800901400

Andrej Hunko ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800901500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Staatsminister Link, Entschuldigung, Herr Staatsminis-
ter Roth – –





Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)


(Michael Roth, Staatsminister: Ich darf ihn herzlich grüßen! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber ein Kompliment und keine Beleidigung!)


Einen Moment bitte, das Pult fährt immer weiter
hoch.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800901600

Solange Sie noch zu sehen sind, Herr Kollege, hören

wir Sie auch.


(Heiterkeit)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800901700

He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1800901800
Er ist ausgebro-
chen. – Ich denke, er ist Ergebnis einer spezifischen
Politik insbesondere von deutscher Seite gewesen. Aber
ich darf Ihnen sagen: Die Linke ist die Partei, die in der
Tradition derjenigen steht, die sich schon damals gegen
den Ersten Weltkrieg gestellt haben – in Deutschland, in
Frankreich, in Russland und in vielen anderen europäi-
schen Ländern.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sind ebenfalls entschieden in der Tradition derjeni-
gen, die sagen, dass so etwas nicht wieder passieren darf
und dass wir eine entsprechende europäische Zusam-
menarbeit, eine entsprechende europäische Integration
als Teil einer internationalen Zusammenarbeit brauchen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn in Deutschland über Europa diskutiert wird
– wir diskutieren heute ja über das Arbeitsprogramm der
Europäischen Kommission –, wird es manchmal etwas
absurd. Mir schrieb vor einigen Tagen ein Luxemburger
Genosse von déi Lénk, der Linken in Luxemburg: Ich
verstehe eure Debatte in Deutschland nicht. Wir in
Luxemburg haben mehr oder weniger das gleiche Wahl-
programm, aber niemand käme hier auf die Idee, uns als
antieuropäisch zu diffamieren.

Wenn wir zum Beispiel in Hamburg darüber diskutie-
ren, was in Hamburg falsch läuft, wenn wir die Verhält-
nisse dort kritisieren – das machen wir in diesen Tagen
zu Recht –, dann kommt doch niemand auf die Idee, zu
fragen, ob das antihamburgisch ist. Aber wenn wir auf
europäischer Ebene Dinge kritisieren, dann kommt der
Vorwurf – er wird wahrscheinlich gleich von Herrn
Sarrazin kommen –, wir seien antieuropäisch.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Zu Recht!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800901900

Genau dies wollen wir jetzt klären: ob das die mögli-

che Frage des Kollegen Sarrazin ist. – Bitte schön.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Der Vorwurf besteht zu Recht! Ich kann das vorlesen!)



Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800902000

Vielen Dank. – Kollege Hunko, sind Sie bereit, zur

Kenntnis zu nehmen – auch als in Dortmund geborener
Hamburger –, dass man sich in Hamburg immer nur ge-
genseitig vorwirft, nicht hanseatisch, aber niemals, nicht
hamburgisch zu sein?


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da hat er recht!)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800902100

Ich bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Die

spezifischen Befindlichkeiten in Hamburg kenne ich
nicht näher.

Ich will nun auf das Arbeitsprogramm der Europäi-
schen Kommission zu sprechen kommen. Einiges ist
schon gesagt worden; aber ein Punkt ist noch nicht ange-
sprochen worden. Die Europäische Kommission schreibt
in ihrem Arbeitsprogramm, dass eines ihrer wichtigen
Ziele die Verhandlungen für das sogenannte Freihandels-
abkommen TTIP oder TAFTA sind. Das ist einer der
Gründe, warum viele Menschen so kritisch auf die Euro-
päische Kommission und auf europäische Strukturen
schauen.

Was ist das sogenannte Freihandelsabkommen, das
eigentlich ein Konzernschutzabkommen ist? Dieses Ab-
kommen wird hinter verschlossenen Türen zwischen der
Europäischen Kommission und Vertretern der USA und
anderer NAFTA-Staaten verhandelt. Worum geht es da-
bei? Es soll US-Konzernen in Europa und europäischen
Konzernen in den USA ermöglichen, an Standards die-
ser Staaten vorbei Investitionen zu tätigen. Als Beispiele
nenne ich die sogenannten Chlorhühnchen, das Hormon-
fleisch oder das Fracking. Es soll ein neuer Gerichtshof
geschaffen werden, vor dem man Staaten, die bestimmte
Investitionen verbieten – zum Beispiel, wenn in
Deutschland Fracking verboten wird –, auf entgangene
Profite verklagen kann.

Wir lehnen dieses Freihandelsabkommen ab, und wir
lehnen es auch ab, dass solche Abkommen durch die
EU-Kommission in völlig intransparenter Weise hinter
verschlossenen Türen verhandelt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Lassen Sie mich zum Abschluss ein paar Worte zu der
Tragödie an den europäischen Außengrenzen sagen: Wir
haben vor einigen Wochen und Monaten erlebt, was vor
Lampedusa passiert ist. In den letzten 20 Jahren mussten
wir weit mehr als 10 000 tote Flüchtlinge an den euro-
päischen Außengrenzen konstatieren. Das ist eine un-
glaubliche Tragödie, und ich finde es unerträglich, dass
jedes Flüchtlingsschicksal benutzt wird, um das europäi-
sche Grenzregime noch weiter zu perfektionieren, zum
Beispiel durch die Einführung von EUROSUR, anstatt
endlich auch auf europäischer Ebene zu einer solidari-
schen Flüchtlingspolitik zu kommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist eine unerträgliche Politik und eine Schande für
die Europäische Union, die sich immer als Wertegemein-
schaft darstellt.

Es ist angesprochen worden: Am 25. Mai 2014 findet
die Europawahl statt. Ich freue mich, dass wir als Linke





Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)

gemeinsam mit unseren Genossen von SYRIZA in Grie-
chenland, von der Izquierda Unida in Spanien, vom
Bloco de Esquerda in Portugal und von der Red-Green
Alliance in Dänemark eine Kampagne für ein anderes,
ein soziales, ein solidarisches Europa machen und dass
wir mit Alexis Tsipras einen gemeinsamen Spitzenkan-
didaten haben. Darauf bin ich stolz. Ich freue mich auf
die Auseinandersetzungen und die Kampagne.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800902200

Detlef Seif ist der nächste Redner für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Detlef Seif (CDU):
Rede ID: ID1800902300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wirt-

schaftlichen Eckdaten belegen – manche sprechen vom
zarten Pflänzchen –, dass es in Europa wieder aufwärts-
geht. Die teils harten Strukturmaßnahmen in den einzel-
nen Ländern waren erforderlich. In diesem Zusammen-
hang, Herr Ulrich und Herr Hunko, möchte ich Ihnen
sagen: Ich kann es nicht mehr hören. Sie verwechseln
Ursache und Wirkung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Dann hören Sie doch weg! Dann sind Sie das Problem los!)


Die Probleme in Griechenland sind die Folge der Fi-
nanzkrise, des ständigen Konsums und einer Staats-
schuldenkrise.


(Zurufe des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Man konnte sich auf dem Kapitalmarkt nicht mehr refi-
nanzieren.

Deshalb haben wir Europäer solidarisch Unterstüt-
zung geleistet. Das konnten wir aufgrund unserer Ver-
antwortung gegenüber anderen Ländern und unseren Fi-
nanzen und auch, weil wir wollen, dass es tatsächlich
vorwärtsgeht, nicht dadurch tun, dass wir sagen: „Hier
ist ein Sack mit Geld, den wir euch zur Verfügung stel-
len“, sondern das muss streng konditionalisiert gesche-
hen. Hier sind wir auf dem richtigen Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


Aber eines ist klar – das ist uns allen auch bewusst –:
Sparmaßnahmen, eine makroökonomische Steuerung
und eine gute Haushaltspolitik reichen nicht, um Ar-
beitsplätze zu generieren. Die Überwindung der hohen
Arbeitslosigkeit stellt die EU vor eine besonders große
Herausforderung. Circa 27 Millionen Menschen in der
EU sind arbeitslos; rund 6 Millionen davon sind unter
25 Jahre alt.

Die hohe Jugendarbeitslosigkeit – Herr Sarrazin, Sie
haben das verdeutlicht – bringt uns alle in Europa in
große Gefahr. Die Demokratie ist gefährdet. Wenn hoch-
motivierte junge Menschen keine Anstellung finden,
dann sind sie eher zugänglich für radikale Kräfte. Des-
halb ist es richtig, dass die EU-Kommission in ihrem Ar-
beitsprogramm 2014 den Schwerpunkt tatsächlich auf
die Überwindung der Arbeitslosigkeit und auf Beschäfti-
gung legt.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Unverbindlich!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800902400

Herr Kollege Seif, darf der Kollege Dehm Ihnen eine

Zwischenfrage stellen?


Detlef Seif (CDU):
Rede ID: ID1800902500

Ja, wenn sie sachlich ist, gerne.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800902600

Das wissen wir, sobald wir die Frage gehört haben. –

Bitte schön, Herr Kollege Dehm.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800902700

Davon können Sie doch bei mir immer ausgehen. –

Da Sie das, was der Kollege Hunko und der Kollege
Ulrich gesagt haben, offenbar nicht mehr hören können
– Sie sagen, der Konsum in Griechenland sei schuld –,
möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass im Staatsapparat in Griechenland die
Selbstbediener in Ihrer Bruderpartei unter Karamanlis in
Koalition mit den Sozialdemokraten einen großen Anteil
an diesem Konsum hatten? Sind Sie bereit, den Anteil
am Konsum dieser staatlichen Selbstbediener, der Ree-
der, die steuerlich freigestellt wurden, und derjenigen,
die 200 Milliarden Euro in die Schweiz, Luxemburg und
in andere Steuerparadiese gebracht haben, anzuerken-
nen?


Detlef Seif (CDU):
Rede ID: ID1800902800

Herr Dehm, auch hier verwechseln Sie Ursache und

Wirkung.


(Lachen des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


In Griechenland hat man wenig investiert. Man hat Grie-
chenland aufgrund des Solidarverbundes in Europa billi-
ges Geld zur Verfügung gestellt. Diese Gelder sind in
Griechenland leider überwiegend in den Konsum und
nicht in Investitionen geflossen. Das ist das Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Und wer hat regiert? Wer war an der Macht?)


Die Kommission macht sich zu Recht intensive Ge-
danken. Sie hat die sogenannte Jugendgarantie auf den
Weg gebracht. Das heißt, Menschen unter 25 Jahren soll
binnen vier Monaten ein Ausbildungsplatz oder ein Ar-
beitsplatz zur Verfügung gestellt werden. Sie sollen ein
Praktikum machen können. Die Zusammenarbeit der Ar-
beitsämter muss verbessert werden, um freie Stellen tat-





Detlef Seif


(A) (C)



(D)(B)

sächlich an die arbeitslosen Jugendlichen zu vermitteln.
Wir müssen die Jugendlichen auch dazu bringen, mobi-
ler zu sein. Wir müssen in Bildung investieren. All das
ist gut und richtig. Aber reichen diese Maßnahmen wirk-
lich aus, um neue Arbeitsplätze zu generieren? Reichen
sie aus, um 6 Millionen junge Menschen in Lohn und
Brot zu bringen? Wo werden denn Arbeitsplätze gene-
riert, außer in der öffentlichen Verwaltung und in den
Verbänden? Doch wohl in Unternehmen, in Betrieben.
Deshalb ist eine ganz wesentliche Frage: Haben wir in
Europa für expandierende und neu gegründete Unterneh-
men die richtigen Bedingungen?

Die Industrie hat in Europa in den letzten Jahren Ar-
beitsplätze abgebaut. Die Wettbewerbsfähigkeit – das
kommt in dem Programm der EU-Kommission klar zum
Ausdruck – ist zumindest in eine Schieflage geraten; sie
ist gefährdet. Kleine und mittlere Unternehmen, gerade
auch in den Programmländern, haben erhebliche Pro-
bleme, Kredite für dringend erforderliche Investitionen
zu erhalten. Die Arbeit der Europäischen Investitions-
bank in allen Ehren, aber die anfallenden Risikozu-
schläge und die fehlende Kreditvergabe wegen mangeln-
der Sicherheiten sind doch gerade für die kleinen und
mittleren Unternehmen ein ganz großes Problem.

Die Kommission ist hier mit dem sogenannten
REFIT-Programm auf dem richtigen Weg. Damit sollen
Vorschriften daraufhin überprüft werden, ob sie eine
Überregulierung für Industrie und Betriebe darstellen.
Der Ansatz ist richtig. Aber wenn Sie in die Anlagen des
Arbeitsprogramms schauen, weil Sie sich fragen, wo die
Initiativen sind, mit denen diese Idee engagiert und kon-
kret umgesetzt wird, dann stellen Sie fest: Da ist nicht
viel zu finden. Lediglich im Anhang II unter Punkt 23
findet sich eine neue Initiative. Da heißt es: Möglicher-
weise ist eine Anpassung oder Änderung der Rahmenbe-
dingungen und eine Regulierung der Finanzmärkte er-
forderlich, um dieses Ziel sicherzustellen. – Mit
„möglicherweise“ kommen wir nicht weiter. Hier hätte
man einen konkreten Vorschlag aufnehmen müssen. Wie
können wir erreichen, dass Kredite an kleinere und mitt-
lere Unternehmen schneller und einfacher vergeben wer-
den?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


– Ja, Sie dürfen klatschen, Herr Dehm, gerne.

Fehlende Sicherheiten haben zumindest Risikozu-
schläge zur Folge; häufig erfolgt eine Kreditvergabe gar
nicht. Hier muss die Kommission ansetzen. Hierzu er-
warte ich einen Regelungsvorschlag. Das ist ein dringen-
des Problem in den Programmländern; das muss ange-
gangen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nun komme ich zu einem anderen Punkt. Ich bin mir
ziemlich sicher, dass auch die Vertreter von Bündnis 90/
Die Grünen etwas dazu sagen möchten. Die Maßnahmen
zum Klima- und Umweltschutz und die Belastungen aus
der Energiewende können für die Unternehmen in Eu-
ropa existenzbedrohend werden. Die Abwanderung von
Betrieben in Regionen, die geringere Anforderungen
stellen und vor allen Dingen schlechtere Umweltstan-
dards haben, ist die Folge. Gerade die Schwerindustrie in
Europa ist gefährdet. Im Koalitionsvertrag wird zu Recht
betont, dass die Erreichung ambitionierter Klimaschutz-
ziele nicht zum Nachteil für energieintensive Betriebe
und vor allen Dingen für Betriebe führen darf, die – der
Kollege Krichbaum hat das schon angedeutet – im glo-
balen Wettbewerb mit anderen Unternehmen in dieser
Welt stehen.

Was für Deutschland gilt, muss aber auch für die EU
gelten. Es gibt jedoch ein Problem bei der Klimapolitik
– ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben –: Wir
haben leider keine ambitionierte internationale Regelung
gefunden. Das heißt, dass wir das 2-Grad-Ziel nicht
mehr erreichen können. Es gibt weltweit Volkswirtschaf-
ten wie Indien und China, die mehr emittieren, als wir je
gedacht hätten. Das heißt, der Klimawandel, der von
Menschenhand mitverursacht ist, wird nicht mehr ver-
meidbar sein.

Warum sage ich das? Bei jeder industriepolitischen
Entscheidung in Europa muss man zukünftig darüber
nachdenken, ob wir es uns leisten können, mit der Be-
hauptung, dass wir etwas für den Klimaschutz tun, Un-
ternehmen aus Europa in Regionen zu verdrängen, in de-
nen überhaupt kein Umweltschutz betrieben wird oder
nur ein geringer Standard gilt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Bitte schön.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800902900

Frau Kollegin Baerbock, Sie haben die Möglichkeit

einer Zwischenbemerkung.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank. – Herr Seif, Sie haben gesagt, wir hätten
leider keine internationale Vereinbarung zu Klimazielen
gefunden. Ist Ihre Schlussfolgerung, dass, weil wir inter-
national noch nicht auf dem Weg sind – selbst wenn wir
uns für 2015 noch vorbereiten –, die EU selber keine
ambitionierten Klimaziele mehr aufrechterhalten soll?


Detlef Seif (CDU):
Rede ID: ID1800903000

Ich danke Ihnen. Sie haben im Prinzip den Punkt vor-

weggegriffen, den ich hier noch vorgesehen habe. – Das
bedeutet nicht, dass wir als Deutschland und als Europa
keine Vorreiterrolle im Bereich Umwelt- und Klima-
schutz einnehmen sollten. Das dient den Menschen; das
dient der Umwelt, und vor allen Dingen dient das auch
der Ressourcenschonung. Wenn irgendwo Klimaschutz
draufsteht, dann heißt das aber nicht automatisch, dass
das gut ist. Ich erwarte – auch von Bündnis 90/Die Grü-
nen –, dass wir bei jeder Frage und insbesondere bei den
Fragen, die die Wettbewerbsfähigkeit in Europa ange-
hen, eine vernünftige Abwägung vornehmen. Dabei ha-
ben Umweltschutz und Klimaschutz eine große Bedeu-





Detlef Seif


(A) (C)



(D)(B)

tung. Aber es sind nicht die einzigen Punkte, die
Bedeutung haben. Wir müssen abwägen, ob wir in Eu-
ropa Beschäftigung wünschen, und unter Umständen
auch einmal die eine oder andere Entscheidung zuguns-
ten der Industrie und der wirtschaftlichen Entwicklung
treffen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich bringe den Gedanken noch zu Ende: Die EU-
Kommission hat recht, wenn sie sich in dem Punkt de-
zent zurückhält. Denn genau das ist zurzeit der Gewis-
senskonflikt; das sagt man als Kommissar natürlich
nicht. Man will Beschäftigung und Wachstum generie-
ren, aber doch nicht dadurch, dass man sagt: Wir setzen
Ziele im Bereich des Ausbaus der erneuerbaren Energien
und im Klimaschutz, egal, welche Auswirkungen sie ha-
ben.

Wenn ein Denkprozess in Europa einsetzt, gilt: Der
Klimaschutz spielt eine wichtige Rolle, aber er ist nicht
der einzige Punkt. Das müssen wir im Zusammenhang
sehen.

Meine Damen und Herren, das Thema „mehrjähriger
Finanzrahmen von 2014 bis 2020“ und die Förderpro-
gramme streift das Arbeitsprogramm nur am Rande. Das
ist auch verständlich, weil es dazu bereits seit Dezember
Verordnungen gibt – sechs an der Zahl –, die die zukünf-
tige Förderung in Europa festlegen. Die bisherigen euro-
päischen Struktur- und Investitionsfonds wurden zusam-
mengefasst. Sie sollen konsequenter auf die Stärkung
der Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung ausge-
richtet werden.

Vieles wurde vereinfacht; aber die Rechtsvorschriften
sind nach wie vor sehr komplex. Sie sind sogar undurch-
sichtiger und komplizierter als das deutsche Steuerrecht.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Die Bemü-
hungen der EU-Kommission in Bezug auf den Bürokra-
tieabbau und die Vereinfachung von Vorschriften in allen
Ehren; aber wir sind erst am Anfang des Weges. Hier
müssen wir deutlich nachbessern.

Bei der Bewertung, Annahme und Änderung von Pro-
jekten sollen in transparenten Verfahren die Mittelver-
gabe und die Mittelverwendung überwacht werden.
Wenn, wie im letzten Jahr, eine zweckwidrige Mittelver-
wendung erst im Rahmen einer Prüfung des Europäi-
schen Rechnungshofs auffällt – bei Stichproben naturge-
mäß nur in Einzelfällen –, dann ist das zu spät.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Fehlerquote hat in den vergangenen Jahren zuge-
nommen und lag nach Schätzungen des Europäischen
Rechnungshofs 2012 bei 4,6 Prozent; das entspricht
6,5 Milliarden Euro.

Der Anspruch auf Förderung aus dem Strukturfonds
setzt neben einem Antrag des jeweiligen Mitgliedstaats
auch stets eine Selbstbeteiligung voraus. Man muss sich
im Rahmen einer Kofinanzierung einbringen. Aber was
machen wir mit den Ländern, die am Boden liegen, die
noch nicht einmal die Kofinanzierung aufbringen kön-
nen? Was machen wir mit Ländern, denen die Verwal-
tungsstrukturen fehlen, um überhaupt Anträge stellen zu
können? Das war in der Vergangenheit ein großes Pro-
blem. Hier müssen wir, hier muss die EU-Kommission
deutlich nachbessern, damit diejenigen, die die Mittel
dringend benötigen, diese auch erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wichtig wird auch sein, dass wir dafür sorgen, dass
die Kommission einen vernünftigen Zuschnitt erhält. Es
gibt immer noch 28 Kommissare. Eigentlich war eine
Reduzierung um ein Drittel vorgesehen. Die ist erst ein-
mal vom Tisch. Man erkennt auch am Arbeitsprogramm,
dass zu viele Köche den Brei verderben. Es gibt zu viele
Kompetenzen. Die Zahl der Kommissare ließe sich deut-
lich verschlanken, und zwar auf rund 15.

Herr Präsident, ich weiß, dass die Uhr läuft. Ich
komme daher zum Schluss. – Die EU-Kommission er-
hebt in ihrem Arbeitsprogramm das Jahr 2014 zu einem
Jahr der Entscheidung und Umsetzung. Klingt toll! Das
angekündigte Programm wird diesem Anspruch aber
nicht gerecht und kann, wie Herr Schäfer in der ersten
Rede angedeutet hat, diesem auch gar nicht gerecht wer-
den. Die Europawahl steht an. Es gibt weniger Initiati-
ven und auch nicht mehr so viele qualitativ hochwertige
Programme.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie wollen doch nicht die Redezeit auf die der Regierung ausdehnen?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800903100

Herr Kollege!


Detlef Seif (CDU):
Rede ID: ID1800903200

Ich bin eigentlich fertig. Nur noch zwei Sätze, Herr

Präsident.

Das Programm ist in den wichtigen Bereichen Wachs-
tum und Beschäftigung leider nicht ambitioniert genug.
Ein inhaltlicher Erfolg wird davon abhängen, ob die
Kommission teilweise umsteuert und die richtigen Im-
pulse setzt. Ich denke, ich spreche in Ihrem Sinne: Wir
werden die Kommission hierbei tatkräftig unterstützen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800903300

Nun hat das Wort die Kollegin Annalena Baerbock

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Die EU-Kommission hat für 2014 ei-
nen engagierten Plan vorgelegt. Neben der Banken-
union, die Manuel Sarrazin schon angesprochen hat,
bezieht sich das auch auf die Vollendung des Binnen-
marktes. Es gehört aus meiner Sicht schon einiges dazu,
wenn Teile der Regierungskoalition einige Tage, nach-
dem die Bundeskanzlerin hier im Hause in ihrer Regie-
rungserklärung gesagt hat, Deutschland werde einen ent-





Annalena Baerbock


(A) (C)



(D)(B)

scheidenden Anteil bei der weiteren Integration und der
Vollendung des Binnenmarkts spielen, einen populisti-
schen Angriff auf einen dieser Pfeiler startet, nämlich
auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das gehört sich nicht; denn das ist nicht nur nicht im
Sinne Europas, sondern auch nicht im Sinne einer ver-
nünftigen Regierungsführung. Ich bin dem Kollegen
Staatsminister Roth sehr dankbar – manchmal hilft es
vielleicht auch, dass jüngere Menschen auf gewissen
Bänken sitzen –, dass er zu Beginn des Jahres deutliche
Worte dazu gefunden hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Ich zitiere, was Sie, Herr Kollege Roth, zu dem gesagt
haben, was da aus Bayern kam: „Das ist nicht das Ni-
veau, auf dem die Große Koalition arbeiten darf.“ Ich
stimme Ihnen darin voll und ganz zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Den Anstand, den Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der CSU, gegenüber einem der größten Betrüger
in Ihrem Bundesland eingefordert haben – das wurde
von der Linken schon angesprochen –, sollten Sie gegen-
über Menschen walten lassen, die vor massiver Diskri-
minierung in unser Land flüchten. So viel Arbeitslosen-
geld und so viel Kindergeld muss man erst einmal
erhalten, dass man auf 3,2 Millionen Euro in einem ein-
zigen Leben kommt. Mir ist zwar klar, dass dieser Ver-
gleich hinkt. Aber es handelt sich hier um eine Form von
Populismus, die von einer europafreundlichen Partei
nicht zu unterstützen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Wir Grüne sind – das sind wir nicht sehr oft – in die-
sem Sinne ganz beim DIHK und auch beim BDI. Wir
brauchen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Eu-
ropa gerade unter dem Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit
Freizügigkeit für alle Menschen in der Europäischen
Union. Man kann nicht sagen: Die einen passen uns und
die anderen nicht. – Wenn Sie sich die Zahlen genau an-
schauen, dann stellen Sie fest, dass Ihre Verlautbarungen
nicht stimmen. Gerade Rumänen und Bulgaren sind
überdurchschnittlich qualifiziert. Sie sind außerdem
überdurchschnittlich in die Beschäftigung in Deutsch-
land eingebunden. Schon damals bei der Osterweiterung
sind Sie das Thema der Freizügigkeit falsch angegangen.
Sie haben über Jahre den Zugang für Menschen blo-
ckiert, die hier sozialversicherungspflichtig beschäftigt
sein wollten. Das verschärfte gerade das Problem der
Schwarzarbeit. Das heißt, die Wurzel des ganzen Pro-
blems liegt nicht in der Armutszuwanderung, sondern
darin, dass Sie über Jahre den Arbeitsmarkt in Deutsch-
land abgeschottet haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das heißt nicht, dass wir negieren, dass es Probleme
etwa in Duisburg, Gelsenkirchen oder Berlin gibt. Aber
die EU ist nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lö-
sung. Sie von den Koalitionsfraktionen sind gefordert,
endlich die Mittel, die auf europäischer Ebene bereitge-
stellt werden, um solchen Herausforderungen Herr zu
werden, freizugeben. Im Rahmen des ESF liegen mehr
als 3 Milliarden Euro auf Halde, die Sie nicht freigeben,
um die Kommunen vor Ort zu unterstützen. Nicht Ihr
populistisches Herumgeschreie, sondern diese Mittel
sollten Ihre Antwort auf die Herausforderungen vor Ort
sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Umgang mit der Freizügigkeit in Europa ist nicht
das einzige Problem. Wir führen eine rein nationale Dis-
kussion und müssen uns die Frage stellen, wie der Bund
in Zukunft eigentlich die Kommunen bei der Wahrneh-
mung ihrer sozialen Aufgaben unterstützen will.

Ein weiterer Punkt, dem ich mich hier gerne widmen
möchte, ist die Jugendarbeitslosigkeit. Die alte Koalition
hatte dazu große Ankündigungen gemacht. Ich glaube,
wir müssen weitere intensive Debatten darüber in die-
sem Haus führen; denn die Zahlen in diesem Bereich
spotten jeder Beschreibung. Gerade einmal 137 Euro
werden jedem Jugendlichen zur Verfügung gestellt, wäh-
rend wir knapp 300 Euro pro Hektar für eine verfehlte
Landwirtschaftspolitik in Europa ausgeben. So kann nun
wirklich nicht eine an Zukunft und Wettbewerbsfähig-
keit ausgerichtete Politik der Europäischen Union ausse-
hen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Lieber Herr Hunko, nun zum Punkt der Verhältnismä-
ßigkeit. Ich hoffe, dass Sie das, was Sie vorhin zur pro-
europäischen Ausrichtung Ihrer Partei vorgetragen ha-
ben, auf Ihrem Parteitag deutlich machen werden. Da Sie
sagen, dass Ihre Partei proeuropäisch aufgestellt ist, ver-
wundert es mich, wenn Ihre stellvertretende Fraktions-
vorsitzende sich öffentlich mit Verlautbarungen wie
„Der Euro schürt Hass zwischen den Völkern“ zitieren
lässt. Ich weiß nicht, wie wir angesichts dessen weiterhin
gemeinsam in diesem Hause in eine proeuropäische
Richtung gehen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Herr Seif, Sie haben richtig geraten: Ja, ich komme
nun auch auf die Energiepolitik zu sprechen. Wir Grüne
kommen zu komplett anderen Schlussfolgerungen als
Sie. Da sieht man doch, dass unsere Positionen auf man-
chen Gebieten sehr weit auseinandergehen. Die Pläne,
die EU-Energiekommissar Oettinger derzeit vorschlägt,
nämlich dass wir uns von den verbindlichen Zielen für
die CO2-Einsparungen und den Ausbau der erneuerbaren
Energien und der Energieeffizienz verabschieden soll-
ten, stellen nicht nur einen Angriff auf den Klimaschutz
und die Wettbewerbsfähigkeit in Europa, sondern auch
einen Angriff auf Ihre Bundeskanzlerin dar. Denn es war
Angela Merkel, die unter deutscher Ratspräsidentschaft
dafür gesorgt hat, dass wir verbindliche Ziele für 2020





Annalena Baerbock


(A) (C)



(D)(B)

haben, und zwar in allen Bereichen, auch beim Ausbau
der erneuerbaren Energien. Vielleicht sollten Sie sie
noch einmal konsultieren, bevor Sie sagen, Europas
Wettbewerbsfähigkeit werde völlig konterkariert, wenn
wir an dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Europa
festhielten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie sich die Zahlen genau anschauen, dann
müssen Sie sich doch fragen, was das für eine Wettbe-
werbsfähigkeit ist, bei der pro Jahr Importe von fossilen
Energieträgern in Höhe von 406 Milliarden Euro getätigt
werden. Das entspricht 3,2 Prozent des BIP.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800903400

Frau Kollegin, würden Sie freundlicherweise einen

Blick auf die Uhr werfen?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja. – Wenn wir diese Mittel in andere Formen lenken
würden, zum Beispiel in den Ausbau der erneuerbaren
Energien, dann würden wir – das sind Zahlen der Kom-
mission – 1,25 Millionen neue Arbeitsplätze in Europa
schaffen. Das ist, glaube ich, eine Politik hin zu einer
nachhaltigeren Wettbewerbsfähigkeit und zu nachhalti-
geren Jobs in Europa, eine Politik, die mehr Jobs als zum
Beispiel das Freihandelsabkommen – die Zahlen liegen
weitaus darunter – schaffen wird.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800903500

Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Schmidt für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800903600

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich als
Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales freue
mich besonders, zu einem europapolitischen Tagesord-
nungspunkt reden zu dürfen; denn das zeigt zum einen,
dass Europapolitik in diesem Hause nicht nur Politik ei-
nes einzigen Fachausschusses ist, und zum anderen, dass
gerade für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten das soziale Europa eine wichtige Aufgabe ist.


(Beifall bei der SPD)


Das ist es nicht nur in Zeiten wie diesen; aber aktuell
sind die Fragen, die den europäischen Arbeitsmarkt, die
Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechte, den sozia-
len Zusammenhalt und die gesellschaftliche Teilhabe be-
treffen, von ganz besonderer Bedeutung.

Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hat ihre Spu-
ren hinterlassen. Sowohl im Arbeitsprogramm als auch
in unserem Koalitionsvertrag sind zwei große Aufgaben
beschrieben. Die eine – das steht leider oft im Mittel-
punkt, auch wenn andere Fragen vielleicht von noch grö-
ßerer Bedeutung sind – sind natürlich die Reformen zur
Haushaltssanierung. Die andere aber sind die klugen In-
vestitionen, die wir brauchen, die klugen Investitionen in
soziale Sicherheit und Nachhaltigkeit sowie eine Wachs-
tumsstrategie, die die sozialen Folgen der europäischen
Krise bewältigen.

Europa wird nur dann erfolgreich sein, wenn die
Menschen in Europa die Europäische Union positiv
wahrnehmen. Die europäische Wirtschaft wird nur erfolg-
reich sein, wenn sie das Versprechen eines gemeinsamen
wirtschaftlichen Erfolgs erfüllt, an dem alle teilhaben, und
Nationalstaaten nicht gegeneinander, sondern miteinan-
der agieren.


(Beifall bei der SPD)


Das heißt konkret: Auch eine gerechte Lastenverteilung
ist grenzüberschreitend. Reiche Griechen und reiche
Deutsche müssen mehr zur Krisenbewältigung beitragen
als der Athener Taxifahrer oder die deutsche Kranken-
schwester.


(Beifall bei der SPD)


Das heißt auch, dass gerechte Löhne, Arbeitnehmer-
rechte und Sozialleistungen weder einem Dumpingwett-
bewerb ausgesetzt noch auf dem Altar der europäischen
Finanzmarktkrise geopfert werden dürfen. Der gemein-
same wirtschaftliche Erfolg in Europa bleibt das wich-
tige Ziel.

Von diesem notwendigen gemeinsamen wirtschaftli-
chen Erfolg möchte ich eine Brücke zu einem Thema
schlagen, das direkt mit diesem zu tun hat und das in der
heutigen Debatte schon angesprochen wurde, das Thema
„Freizügigkeit in der Europäischen Union“. Auch ich
bin Herrn Staatsminister Roth für die deutlichen Worte,
die er gesprochen hat, dankbar.

Im Jahr der Europawahl haben wir als Politikerinnen
und Politiker eine besondere Verantwortung, nämlich die
Verantwortung, das gesteigerte Interesse an Europa zur
Aufklärung über Europa und zum Werben für die euro-
päische Idee zu nutzen. Vorneweg: Probleme müssen be-
nannt werden, und die Zusammenballung von sozialen
Problemen in einigen deutschen Städten hat den Anlass
für eine Debatte über das Recht auf Freizügigkeit gebo-
ten. Uns ist klar: Kommunen mit besonderen sozialen
Schwierigkeiten dürfen bei der Bewältigung der Pro-
bleme nicht alleingelassen werden.


(Beifall bei der SPD)


Aber genau darum hat die SPD in den Koalitionsver-
handlungen nicht nur auf eine finanzielle Entlastung der
Kommunen insgesamt gedrängt, sondern konkret die
deutliche Aufstockung des Programms „Soziale Stadt“
durchgesetzt. Wir werden die Kommunen bei der Bewäl-
tigung ihrer sozialen Probleme nicht alleinlassen.


(Beifall bei der SPD)


Ebenfalls vorneweg: Wer Gesetze bricht – das gilt für
Sozialhilfebetrug genauso wie für Diebstahl und für
Steuerhinterziehung –, der muss verfolgt und bestraft
werden. Das ist im Rechtsstaat eine Selbstverständlich-
keit.





Dagmar Schmidt (Wetzlar)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das falsche Bild vom angeblichen rumänischen und
bulgarischen Sozialtourismus muss allerdings der Men-
schen und der Fakten wegen berichtigt werden.


(Beifall bei der SPD)


Geringqualifizierte, Besserverdienende und Akademike-
rinnen und Akademiker aus Rumänien und Bulgarien
nehmen zu Recht von sich an, dass sie unter besseren
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit ihren Fähig-
keiten ein besseres Einkommen und eine bessere Le-
bensqualität erreichen können. Das ist ihr Recht in Eu-
ropa, und diese Mobilität ist gewollt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein Zusammenhang zwischen hohen Leistungen für
Arbeitslose und Wanderungsbewegungen hingegen lässt
sich empirisch nicht nachweisen. Im Vergleich zur aus-
ländischen Bevölkerung insgesamt nehmen Rumänen
und Bulgaren nur in geringem Umfang Sozialleistungen
in Anspruch. Selbst wenn sie dies tun, so hat das keines-
wegs zwingend etwas mit dem mangelnden Willen, Ar-
beit aufzunehmen, zu tun. Im Gegenteil, das Problem be-
steht eher andersherum: Viele Arbeitsmigrantinnen und
-migranten aus Rumänien und Bulgarien sind in beson-
derer Weise von Ausbeutung betroffen, arbeiten für mi-
serable Löhne, werden von deutschen Tochterunterneh-
men in ihren Herkunftsländern eingestellt und arbeiten
dann in Deutschland, aber zu rumänischen und bulgari-
schen Löhnen, werden in die Scheinselbstständigkeit ge-
drängt usw.

Die Freizügigkeit in Europa, die Freiheit, entscheiden
zu können, in welchem Land man arbeiten und leben
möchte, ist eine der tragenden Säulen der europäischen
Einigung und des europäischen Binnenmarkts.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Sie sorgt dafür, dass Angebot und Nachfrage nach Ar-
beitskräften zur Deckung gebracht werden können. Ge-
rade Deutschland ist darauf angewiesen, für Einwande-
rer und Einwanderinnen attraktiv zu sein. Auch deshalb
hat sich die deutsche Wirtschaft sehr kritisch zu den Pa-
rolen und undifferenzierten Behauptungen in Bezug auf
die Einwanderung von Rumänen und Bulgaren geäußert.
Vorurteile und Ängste zu schüren, schadet auch dem
deutschen Wirtschaftsstandort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber richtig ist auch: Freizügigkeit braucht soziale
Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern. Sozial-
standards und Arbeitsrecht in den Herkunftsländern
müssen gewährleisten, dass Auswanderung eben nicht
der einzige Ausweg aus Armut ist, sondern dass es eine
freie Entscheidung ist, sein Land zu verlassen und das
Glück woanders zu suchen.
Wir tragen in Deutschland eine besondere Verantwor-
tung für Europa. Als gute Europäerinnen und Europäer
sollten wir im Wahljahr mit gutem Beispiel vorangehen.
Die Freiheit, sich in Europa frei zu bewegen und persön-
lich und wirtschaftlich zu entfalten, die Gerechtigkeit,
die sozialen Folgen der Krise den Verursachern in Rech-
nung zu stellen und die kleinen Leute zu schützen, und
die Solidarität mit denen, die Hilfe brauchen, um wieder
auf die Beine zu kommen – wenn all das gewährleistet
ist, dann ist mir um die Zukunft der großartigen Idee von
einem starken und einigen Europa nicht bange.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800903700

Frau Kollegin Schmidt, ich gratuliere herzlich zu Ih-

rer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche
Ihnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit.


(Beifall)


Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Hardt für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1800903800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Schweinchen-Schlau-Zitate von Manuel Sarrazin geben
mir Gelegenheit, hier mitzuteilen, dass er in den letzten
Jahren offensichtlich nicht nur Comics gelesen, Kinder-
fernsehen geschaut und Politik gemacht, sondern auch
studiert hat. Er hat sein Geschichtsstudium erfolgreich
abgeschlossen, und dazu gratulieren wir alle herzlich.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich hatte nie einen Zweifel daran, dass das gelingen
würde; schließlich hat er mir letztes Jahr einen profun-
den Vortrag über die deutsch-polnische Geschichte ge-
halten, den man hätte drucken können. Aber der eine
oder andere hatte halt doch Sorge, ob es etwas mit dem
Studiumabschluss wird. Insofern sind wir alle sehr froh.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wirklich nett!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Jahr 2014 ist
natürlich nicht nur für die Europäische Kommission
wichtig, sondern auch wegen der Europawahl und der
daraufhin zu erfolgenden Bildung der neuen EU-Kom-
mission. Aber es ist auch ein Jahr, in dem wir nach fünf
Jahren der Rezession und vier Jahren der Euro-Krise
eine Chance nutzen können. Wir durften erleben, dass
wir sowohl bei den Wachstumszahlen als auch bei der
Euro-Rettung gut vorankommen. Es besteht die Hoff-
nung, dass wir im Jahr 2014 die Stimmung in der euro-
päischen Öffentlichkeit zum Thema Europa ein Stück
weit zum Guten wenden. Es wäre, glaube ich, des
Schweißes aller Fraktionen hier im Hause wert, wenn es





Jürgen Hardt


(A) (C)



(D)(B)

uns im Rahmen der Kampagne zur Europawahl und im
Rahmen der Diskussion über Europa gelingen könnte,
die Wahlbeteiligung bei der Europawahl gegenüber die
mageren 43 Prozent im Jahr 2009 – Deutschland lag da
im Ürigen nur knapp über dem europäischen Durch-
schnitt –, zu steigern.


(Beifall des Abg. Michael Stübgen [CDU/ CSU])


Es ist in jedem Fall wahr, was Angela Merkel immer
sagt: Wenn wir als Europäer 7 Prozent der Weltbevölke-
rung stellen, 25 Prozent des globalen Bruttosozialpro-
dukts erwirtschaften und 50 Prozent der weltweiten So-
zialausgaben leisten, dann brauchen wir als Deutsche
nicht zu glauben, dass wir uns ohne einen engeren und
festeren europäischen Zusammenschluss in der Welt be-
haupten könnten. Wir als Deutsche brauchen Europa, da-
mit auch im 21. Jahrhundert unser Lebensstil, unser
Wohlstand und unsere Freiheit entsprechend bewahrt
werden können.

Ich finde, wir sollten das Jahr 2014 nutzen, mit dem
Europa-Bashing aufzuhören, insbesondere dort, wo es
ungerechtfertigt ist. Dabei denke ich zum Beispiel an die
aktuelle Diskussion um die Einführung von SEPA. Sie
erinnern sich, wir haben vor zwei Jahren hier im Hause
eine Entschließung gefasst, wie wir uns die SEPA-Um-
stellung vorstellen. Wir haben die Voraussetzungen ge-
schaffen, damit die SEPA-Umstellung sowohl für die
Verbraucher als auch für Schatzmeister von Vereinen
oder Parteien, für die Gewerbetreibenden, also alle dieje-
nigen, die viele Lastschriften einzuholen haben, ordent-
lich abläuft. Aber die Informationskampagne, die wir
uns von den deutschen Banken zu diesem Thema erhofft
haben, ist viel zu spät erfolgt.

Wir haben heute den 17. Januar 2014. Ich habe immer
noch eine EC-Karte in meinem Portemonnaie, die ich im
Übrigen vor drei Monaten bekommen habe, auf der
meine IBAN-Nummer nicht steht. Ich finde, das ist ein-
fach ein Skandal. Jeder kann ja einmal nachschauen. Die
Sparkasse Rostock hat die IBAN-Nummer schon seit
Jahren auf ihren Karten, eine Großbank, die Deutsche
Bank, bei der ich mein Konto habe, nicht. Ich finde es
vor allem schade, dass jetzt an den Schaltern gesagt
wird: Das ist wieder so ein Projekt, das sich die in Brüs-
sel ausgedacht haben. – Die Brüsseler und die deutsche
Bundesregierung haben es so konstruiert, dass es eigent-
lich reibungslos laufen könnte. Aber leider wird es in der
Praxis nicht richtig umgesetzt.

Ich möchte uns von den positiven Effekten in der
Europäischen Union den Effekt der Euro-Rettung noch
einmal kurz vor Augen führen. Wir haben uns in Talk-
shows von berufenen und selbsternannten Wissenschaft-
lern anhören müssen, die Rettungsschirme – erst der
EFSF, dann der ESM – wären alle viel zu klein, sie wür-
den in kürzester Zeit aus dem Ruder laufen, es wäre Un-
sinn, diesen Weg zu beschreiten.

Wir sind heute in der Situation, dass von dem insge-
samt rund 700 Milliarden Euro umfassenden Haftungs-
rahmen, zu dem sich die Europäische Union bereit er-
klärt hat, lediglich 30 Prozent in Anspruch genommen
worden sind. Wir wissen, dass die Iren und die Spanier
ihre Bürgschaften zurückgeben werden. Wir dürfen also
feststellen, dass wir mit unserer Vorstellung recht behal-
ten, dass dieser Weg der Euro-Rettung sinnvoll ist und
dass es aller Mühen wert war, diesen Weg zu gehen.

Ich würde jetzt erwarten, dass der eine oder andere
Wissenschaftler, der nun vielleicht eingestehen muss,
dass seine Theorie den Praxistest nicht bestanden hat,
dies auch offen zugibt. Ich habe in Heidelberg studiert.
Max Weber hat gesagt: Eine Theorie ist dann wissen-
schaftlich, wenn sie im Prinzip widerlegbar ist. Ich
finde, wenn wissenschaftliche Theorien in der Praxis wi-
derlegt werden, sollten die Wissenschaftler das auch ein-
gestehen und ihre Theorie gegebenenfalls modifizieren.
Wenn man in die Gesichter des einen oder anderen Pro-
fessors schaut, hat man fast das Gefühl, er sei ein biss-
chen sauer darüber, dass die Wirklichkeit sich anders
entwickelt hat. Ich würde mir wünschen, dass man sich
einfach darüber freut, dass es offensichtlich doch gelin-
gen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir den Euro-Rettungskurs nicht beschritten
hätten, dann wäre nichts gewesen mit Wirtschaftswachs-
tum und Abbau von Arbeitslosigkeit in Deutschland,
dann wäre nichts gewesen mit der Konsolidierung der
Haushalte in den Krisenstaaten, die ja überall auf dem
Weg ist. Es wäre vor allem so, dass die ganze Welt über
Europa lachen würde und ganz Europa Deutschland da-
für verfluchen würde, dass wir in der Zeit der Not, als
unsere Solidarität gefragt war, nicht solidarisch zu Eu-
ropa gestanden haben. Deswegen war es gut, dass wir im
Deutschen Bundestag eine breite Parlamentsmehrheit für
alle Euro-Rettungsprojekte gefunden haben. Ich glaube,
sie lag immer in der Größenordnung von 80 Prozent. Ich
bin mir sicher, dass wir das auch so fortsetzen können.

Zum Arbeitsprogramm der Kommission haben meine
Vorrednerinnen und Vorredner schon viel Richtiges und
Wichtiges gesagt. Ich finde das Projekt der Bankenunion
enorm wichtig. Es ist von seiner konkreten Auswirkung
auf Europa her vergleichbar mit der Schaffung des Bin-
nenmarkts 1992 und der Einführung des Euro 1999 bzw.
2002. Es ist eine ganz wesentliche Säule der Europäi-
schen Union. Ich kann die Bundesregierung nur be-
glückwünschen, dass sie dazu einen so wichtigen und
substanziellen Beitrag leisten konnte. Ich glaube, dass
das ein Projekt ist, das ganz oben steht.

Das Projekt der Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-
keit ist meines Erachtens das zweite zentrale Projekt für
2014. Kollege Seif und viele andere haben darauf hinge-
wiesen, was es bedeutet, wenn junge Menschen nach der
Schule keine Chance haben, das Erlernte entsprechend
umzusetzen. Wir haben einen Finanztopf zur Bekämp-
fung der Jugendarbeitslosigkeit aufgemacht. Ich würde
mir wünschen, dass wir, bevor wir darüber reden, wie
wir die einzelnen EU-Programme innerhalb des neuen
Finanzrahmens ausgestalten, diese Mittel jetzt pragma-
tisch und zügig bewilligen, damit da nicht noch Wochen
und Monate ins Land gehen, sondern sofort Wirkung er-
zielt wird. Die jungen Menschen, insbesondere in Süd-





Jürgen Hardt


(A) (C)



(D)(B)

europa, haben es wirklich verdient, dass Europa ihnen
jetzt solidarisch zur Seite steht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es gibt natürlich auch jenseits der Arbeit der Kom-
mission Dinge, die das Wachstum in Südeuropa hem-
men. Die Kreditvergabepraxis der Banken zum Beispiel
in Griechenland erfüllt mich schon mit Sorge. Zum Bei-
spiel bekommt ein junger Kfz-Mechaniker, der dort
20 000 Euro für eine Hebebühne braucht, um dann drei
oder vier Leute in seinem Betrieb zu beschäftigen, dieses
Geld schlicht nicht, obwohl wir alle das eigentlich wol-
len und wissen, dass er damit klug umgehen wird. Ich
glaube, dass wir im Jahr 2014 auch hier noch eine ganze
Reihe von Feinsteuerungen vornehmen müssen.

Überhaupt ist Wachstum natürlich der Schlüssel zur
Lösung der Finanzprobleme; denn es kann nicht so viel
gespart werden, wie durch gutes Wachstum letztlich ein-
genommen werden kann.

Ich finde auch das Programm REFIT wichtig. Das
klingt zwar ein bisschen wie eine Zappelbudenkette, ist
aber in Wirklichkeit das Entbürokratisierungsprogramm
der Europäischen Union. Ich würde mir halt nur wün-
schen, dass REFIT nicht nur als Etikett im Wahljahr da-
steht: „Die Europäische Union bemüht sich um eine effi-
zientere Gesetzgebung, um weniger Bürokratie“,
sondern dass wir auch im Europawahljahr den einen
oder anderen Erfolgspunkt setzen können.

Wichtig ist weiter, dass wir in der Außenhandelspoli-
tik der Europäischen Union vorankommen; ich nenne
vor allem das Abkommen mit den USA. Dabei dürfen
wir nicht vergessen, dass Nordamerika ein wichtiger
zentraler Markt für uns ist, aber andere Teile der Welt als
Handelsregionen für uns genauso wichtig sind. Der Fo-
kus darf nicht einseitig auf Nordamerika liegen. Wir als
Europäer müssen weltweit Freihandel anstreben.

Ich möchte schließen mit einer kleinen Mahnung an
alle, die in Europa politisch Verantwortung tragen, natür-
lich insbesondere an die Kommission. Das Jahr 2014 er-
fordert so viele schnelle, effiziente Entscheidungen, dass
wir es uns nicht leisten können, dass sich das Parlament
oder einzelne Kommissare vor der Zeit aus der politi-
schen Arbeit in der Europäischen Union abmelden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es hat 2008/2009 eine solche Entwicklung gegeben. Es
gibt Anzeichen dafür, dass auch jetzt der eine oder an-
dere Kommissar sich auf nationale Aufgaben konzen-
trieren will. Ich halte das für falsch. Die Kommission ist
bis Oktober im Amt.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Genau!)


Sie wird bis zur letzten Minute arbeiten müssen. Ich
würde mir auch wünschen, dass zwischen dem Europäi-
schen Parlament und den Staats- und Regierungschefs
dann auch rasch eine Einigung über die Zusammenset-
zung der neuen Kommission zustandekommt, dass wir
nicht erleben, dass die zweite Hälfte des Jahres 2014
eine Phase der Lähmung und des Stillstands in Europa
wird. Vielleicht könnte das Jahr 2014, in dem ganz kom-
plizierte Dinge zu klären sind, beispielgebend auch für
zukünftige Wahljahre sein.

Das Kommissionsprogramm ist ein guter Treibstoff
für das komplizierte europäische Getriebe im Jahr 2014.
Wir sollten die Bundesregierung unterstützen, wenn sie
ihrerseits die Kommission unterstützt, das Programm
umzusetzen.

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800903900

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Norbert

Spinrath für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Norbert Spinrath (SPD):
Rede ID: ID1800904000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Europa hat, denke ich,
dauerhaft nur eine Chance, wenn die Bürgerinnen und
Bürger dieses Europa aktiv für sich begreifen und sich
auch damit identifizieren.


(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Das gilt natürlich insbesondere im Mai dieses Jahres,
wenn die Bürger in Europa erneut die Wahl haben und
wieder mit Europa in Berührung kommen. Es reicht aber
nicht aus, das immer nur in Wahljahren zu betonen. Viel-
mehr müssen sich Europa und die europäische Idee für
die Bürgerinnen und Bürger verstetigen. Schon aus die-
sem Grunde muss Europa sozialer, demokratischer und
damit auch solidarischer werden.


(Beifall bei der SPD)


Meine Kollegin Dagmar Schmidt hat eben schon
deutlich gemacht, dass wir uns vor einer Armutszuwan-
derung nicht fürchten müssen. Schon die große Erweite-
rungsrunde im Jahr 2004, als die Europäische Union um
zehn Mitgliedstaaten anwuchs, hat bewiesen, dass Vor-
urteile und Besorgnisse unberechtigt waren. Dies gilt für
den Arbeitsmarkt genauso wie für die sozialen Siche-
rungssysteme und für die Kriminalitätsentwicklung, die
ich als Polizeibeamter damals besonders im Auge hatte.

Dabei – das sage ich ein wenig mahnend – ist es nicht
hilfreich, Ängste zu schüren und Ressentiments aufzu-
bauen. Die Töne der letzten Wochen aus dem Süden der
Republik sind dem europäischen Gedanken nicht gerade
förderlich,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


und – das sage ich in aller Deutlichkeit – sie sind nicht
angemessen. Sie zeugen eher von fehlender Sensibilität
und – das ist für mich besonders bedauerlich – von feh-
lender Kenntnis des EU-Rechts und des nationalen
Rechts.

Oftmals wird Europa als Alibi genutzt oder schlicht
verschwiegen: in diesem Hohen Haus, in den Länderpar-
lamenten, in den Regierungen in Bund und Ländern.
Wenn es etwas Positives für die Bürgerinnen und Bürger





Norbert Spinrath


(A) (C)



(D)(B)

zu vermelden gibt, dann fehlt oft der Hinweis darauf,
dass man lediglich europäisches Recht in nationales um-
gesetzt hat. Bei den die Bürger belastenden Vorgängen
versteckt man sich hingegen oft gerne dahinter, dass man
gezwungen war, europäisches Recht auf nationaler
Ebene umzusetzen: „Die da in Brüssel sind schuld“, lau-
tet oft die Rechtfertigung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir,
dass wir alle miteinander ehrlicher werden. Hand aufs
Herz: Jeder hier im Saal weiß, dass in Brüssel nichts
läuft, was nicht vorher in Berlin abgenickt wurde.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Hört! Hört!)


Ich will damit sagen: Wir brauchen eine bessere
Kommunikation über Europa, aber vor allen Dingen mit
den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam zu Europa.
Wir müssen erklären, was Europa bedeutet. Europa ent-
scheidet eben nicht nur über die Krümmung der Banane,
sondern hat oftmals auch auf unsere Forderung hin we-
sentliche Verbraucherrechte entscheidend gestaltet und
ausgebaut. Das ist, denke ich, in einer Welt des globali-
sierten Handels wichtig.

Europa muss eben nicht nur Krisen bewältigen. Es
muss den Euro nicht nur retten, sondern hat mit dieser
Währung auch viele Vorteile für die Menschen und die
Unternehmen geschaffen, die grenzenlos reisen, handeln
oder schlicht die Preise vergleichen wollen. Europa kos-
tet die Steuerzahler eben nicht nur viel Geld, sondern ist
Motor für unsere Wirtschaft und damit auch Motor für
den Arbeitsmarkt in Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir dürfen den Menschen nicht nur Finanztheorien er-
läutern und Fachchinesisch vorbeten, sondern müssen
ihnen direkt und klar sagen, dass zum Beispiel deutsche
Automobilhersteller Arbeitskräfte in Deutschland entlas-
sen müssten, wenn deren Autos in Griechenland, Portu-
gal oder Spanien nicht mehr gekauft werden können,
weil viele Menschen dort um ihre Existenz fürchten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Europa will eben nicht nur die Vorratsdatenspeiche-
rung, sondern Europa hat auch einen einzigartigen Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geschaffen,
im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und ihres An-
rechts auf Freizügigkeit und auf Sicherheit im Alltag.

Die Europäische Union wird durch ihre Erweiterun-
gen nicht in ihren Grundwerten bedroht, sondern erlebt
einen Zuwachs an kultureller Vielfalt, von dem unsere
Gesellschaften nur profitieren können.

Europa darf nicht nur an seinen Krisen und den Kos-
ten zu deren Bewältigung gemessen werden, sondern
daran, wie viel Mut alle Beteiligten aufbringen, die
Haushalte einiger Mitgliedstaaten nicht nur durch Spar-
zwänge, sondern auch gleichberechtigt zu konsolidieren,
also über Programme für Wachstum und Beschäftigung
dafür Sorgen zu tragen, dass es dort wieder aufwärts
geht. Dabei sind aber auch – ich sage das mit allem
Nachdruck – diejenigen an den Kosten zu beteiligen, die
sie verursacht haben.


(Beifall bei der SPD – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ja! Da fehlt aber noch was!)


Europa darf nicht ausschließlich auf den nächsten
Haushalt und auf Austerität schielen, also auf Sparen um
jeden Preis, sondern muss Sorge dafür tragen, dass dieje-
nigen, für die die Zukunft Europas gestaltet wurde, diese
Zukunft auch erleben und an ihr teilhaben können, näm-
lich die Jugend Europas.


(Beifall bei der SPD)


Die Europäische Kommission scheint einiges davon
verstanden zu haben. Für ihr Arbeitsprogramm hat sie
nicht mehr viel Zeit. Ich bewerte es aber als sehr positiv,
dass die Förderung von Wachstum und Beschäftigung,
insbesondere die Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-
keit, stärker in den Blickpunkt gerückt wurde. Denn die
größte Bedrohung für den sozialen Frieden innerhalb
Europas ist – neben dem Verlust des Arbeitsplatzes – die
Perspektivlosigkeit junger Menschen. Denn wie soll je-
mand, der schon selbst keine Perspektiven hat, für künf-
tige Generationen Perspektiven schaffen?


(Beifall bei der SPD)


Daher muss sichergestellt werden, dass die entsprechen-
den Mittel zügig eingesetzt werden.

Die Jugend ist Europas Zukunft; das habe ich schon
gesagt. Gerade für sie müssen wir etwas tun, gerade für
sie müssen wir Chancen eröffnen. Dies ist nicht nur un-
sere Verantwortung; es ist auch unsere soziale Verpflich-
tung. Nur wenn die Jugend, wenn die Menschen insge-
samt in sozialer Sicherheit leben können, ist auch der
soziale Friede in Europa gesichert, und nur dort, wo so-
zialer Friede herrscht, kann auch wirtschaftlicher Wohl-
stand wachsen. Deshalb sollten wir über gute Pro-
gramme nicht nur reden, sondern auch alles tun, um sie
schnellstmöglich umzusetzen. Die Zeit, die der Kommis-
sion für ihr Arbeitsprogramm zur Verfügung steht, ist
kurz.

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Europa hat
nur dann eine Chance – das habe ich eben gesagt –,
wenn wir die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Wir
müssen darauf drängen, dass die Kommission nun
schnell die wesentlichen Maßnahmen umsetzt. Wenn
dies nicht gelingt, verlieren viele Menschen in Europa
viel Zeit zur Lösung ihrer Probleme. Damit verlieren sie
auch ihre Perspektiven. Ich denke, es ist unerlässlich,
dass Maßnahmen für mehr Wachstum und Beschäfti-
gung und zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit
gleichberechtigt neben Maßnahmen zur Haushaltskonso-
lidierung stehen, dass die aus der Sparpolitik resultieren-
den Belastungen gleichmäßig verteilt werden und nicht
einseitig von den sogenannten kleinen Leuten getragen
werden müssen.

Mit meinem Dank für die Aufmerksamkeit äußere ich
noch einen Wunsch: Ich will weiter für ein soziales Eu-
ropa arbeiten und daran glauben, dass es ein Europa der





Norbert Spinrath


(A) (C)



(D)(B)

Bürgerinnen und Bürger gibt. Dieses Europa soll nicht
nur Banken retten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800904100

Auch Ihnen, Herr Kollege Spinrath, gratuliere ich

herzlich zu Ihrer ersten Rede. Wir freuen uns auf die Zu-
sammenarbeit.


(Beifall)


Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Gauweiler für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1800904200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen! Ich

schließe mich dem Glückwunsch für meinen Herrn Vor-
redner zu seiner Jungfernrede an. Das gibt mir die Gele-
genheit, zu dem Punkt aus dem Themenkatalog der
CSU, der heute ein wenig leise Kritik von Ihnen auf sich
gezogen hat, den Herrn Fraktionsvorsitzenden der SPD,
unseren Kollegen Oppermann, zu zitieren. Er hat sich
vor wenigen Tagen dazu geäußert, nachdem die Bundes-
regierung auf unsere gemeinsame Initiative hin einen
Staatssekretärsausschuss eingesetzt hat – ich zitiere –:

Es darf kein EU-Recht geben, das Anreize für Ar-
mutseinwanderung schafft. Wir wollen nicht, dass
Menschen nur deshalb nach Deutschland kommen,
weil hier die Sozialleistungen höher sind als an-
derswo. Das würde unser soziales Sicherungssys-
tem nicht aushalten. Deshalb wollen wir hier
Klarheit schaffen, auch in Gesprächen mit der Eu-
ropäischen Union.

Besser kann man es nicht ausdrücken, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich teile Ihre Auffassung, dass uns eine Strategie der
diffamierten Negativgruppen nicht weiterhilft, sondern
auf allen Seiten zum Scheitern verurteilt ist. „Populisti-
sches Herumgeschreie“, wie Frau Kollegin Baerbock es
ausgedrückt hat, brauchen wir nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich darf in diesem Zusammenhang aber an eine Debatte
aus der Zeit von Rot-Grün erinnern, auch wenn die
lichten Tage der rot-grünen Regierung unter Kanzler
Schröder und Vizekanzler Fischer ja schon einige Zeit
vorbei sind. Damals hat der Regierungschef von Rot-
Grün in der Debatte über die Notwendigkeit aufenthalts-
beendender Maßnahmen erklärt: „Raus, aber schnell.“
Zu derart sensiblen Äußerungen waren wir bisher nicht
in der Lage.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


– Wo bleibt der Beifall?
Es ist auch richtig, dass niemand ein Interesse daran
haben kann, die Menschen, die aus den Donau-Ländern
zu uns kommen, herunterzureden, zu diskreditieren. Wir
wollen dies nicht, und wir wehren uns dagegen. Wir in
Bayern sind stolz darauf, dass sich diese Menschen in so
großer Zahl im Freistaat niederlassen und sich, wenn alle
Umfragen stimmen, bei uns ziemlich wohlfühlen, nicht
so wohl wie in Dortmund oder Essen, aber immerhin,
wir arbeiten daran.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind ge-
gen „populistisches Herumgeschreie“, aber auch gegen
gutmenschliche Heuchelei.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn wir uns auf dieses beides einigen können, dann
können wir weiterkommen. Ich muss aber auch ganz of-
fen sagen: Wir werden bei dieser Thematik keine Ruhe
geben. Das sollten Sie auch nicht. Wir erwarten, dass der
Bericht des Staatssekretärsausschusses zügig vorgelegt
wird. Wir erwarten auch, dass nicht nur die Regierungen
Bulgariens und Rumäniens, die sich letztlich noch im
Aufbau befinden, sondern auch die EU-Kommission und
insbesondere der presseerklärungsfreudige EU-Kommis-
sar Andor alles tun, dass der derzeitige skandalöse Zu-
stand, dass von dem Etat von 27 Milliarden Euro, den die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union für Bulgarien
und Rumänien für Maßnahmen zur Arbeitsintegration,
für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Sozialhilfe zur
Verfügung gestellt haben, wovon 10 Milliarden Euro die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler der Bundesrepublik
Deutschland bezahlt haben, nicht länger über 50 Prozent
auf der hohen Kante liegen, sondern endlich eingesetzt
werden. Sie sollten uns unterstützen, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren, wenn wir das verlangen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An die eigene Nase fassen!)


– Ich verstehe offen gesagt kein Wort.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich meine das wirklich nur akustisch.

Das hängt auch damit zusammen, dass es doch über-
haupt kein Argument ist, dass auch bei uns solche Mittel
nicht abgerufen werden. Auch der Städtetag muss sich
diese Fragen gefallen lassen. Er hat einen Brandbrief mit
drastischen Formulierungen – ich möchte sie aus Zeit-
gründen nicht wiederholen – an alle Parteien geschrie-
ben.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Dieser Brief ging auch an Sie. Der Städtetag fordert: Tut
endlich etwas; wir brauchen die Geldmittel. Doch dann
erfährt man – Stichwort „eigene Nase“ –, dass große Be-
träge nicht abgerufen worden sind. Das ist doch zum
Verzweifeln. Da braucht man sich doch nicht zu wun-
dern, dass die Betroffenen fragen: Wie ist es um das
politische Management in unserer Gesellschaft und die
politische Klasse überhaupt bestellt? Die Beteiligten tä-
ten gut daran – ich sage das als Kontrapunkt zu dieser





Dr. Peter Gauweiler


(A) (C)



(D)(B)

Debatte –, baldmöglichst einen Bericht vorzulegen, wie
diese Mittel endlich eingesetzt werden können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege
Sarrazin hat in einem Beitrag eines Historikers etwas ge-
sagt, was ich hier aufgreifen möchte. Er hat gesagt, es
wird versäumt, die guten Argumente für Europa – wir
reden hier über das Arbeitsprogramm der Kommission
für 2014 – stark zu machen. Er hat aber auch gesagt,
dass man über Europa streiten können muss; das heißt,
dass nicht jede Abweichung um einen Millimeter vom
Papier sofort mit dem Verdikt „Europafeind“ belastet
wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn ein Klima geschaffen wird, dass man an der
Europäischen Kommission keine Kritik mehr üben kann,
ohne den Vorwurf auf sich zu ziehen, sich in blindem
Nationalismus zu ergehen, dann tun Sie der Diskussion
keinen Gefallen. Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit
sind der Ausgangspunkt des Zusammenschlusses, und
Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit sind durch Überre-
gulierungs-, Verbots- und Vorschriftenwahn aus Brüssel
schwer in Bedrängnis gekommen. Wer dies nicht sieht,
egal ob er links oder rechts ist, ist blind und taub.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen muss die Entbürokratisierung bei der Eu-
ropäischen Union anfangen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Herrn Stoiber hinschicken!)


Ich zitiere wieder einen Kollegen aus Ihrer Mitte: Des-
wegen müssen wir auch ein Programm entwickeln, Auf-
gaben von der Europäischen Union wieder auf die tiefere
Ebene herunterzulegen. – Martin Schulz, der Präsident
des Europaparlaments.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800904300

Herr Kollege Gauweiler, darf die Kollegin Brantner

Ihnen eine Zwischenfrage stellen?


Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1800904400

Wenn ich den einen Satz noch beenden darf.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800904500

Aber klar.


Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1800904600

Herr Schulz hat recht, wenn er sagt:

… viele Leute haben den Eindruck, dass … die
Kommission in Brüssel sich zu oft in Dinge ein-
mischt. Das ist alles richtig, das kann ich alles nach-
vollziehen, aber das kann man ja reformieren durch
Subsidiarität, indem wir Maßnahmen, die wirklich
in Brüssel nicht notwendig sind, zurückübertragen
auf die Mitgliedstaaten.

Wir erwarten hier einen Arbeitskatalog über die The-
menbereiche, die wieder an die Mitgliedstaaten zurück-
gegeben werden können.

Bitte, Frau Kollegin.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie Sie wissen, ist in Brüssel für die Entbürokratisie-
rung Ihr Kollege Stoiber zuständig. Wenn Sie das hier
einfordern und sagen: „Da passiert nicht genug“, würden
Sie dann also zugeben, dass Herr Stoiber die letzten
Jahre – er ist ja schon seit Jahren dort – nicht gut genug
die Arbeit vorangetrieben hat?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1800904700

Das war ja hammerhart.


(Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800904800

Aber parlamentarisch zulässig, Herr Kollege

Gauweiler.


(Heiterkeit – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/ CSU]: Hammerhart an der Grenze!)



Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1800904900

Das war ja durchaus liebevoll von mir. „Parlamenta-

risch zulässig“. Sie bräuchten Hundert Stoibers, wenn
ich Ihnen das ganz offen sagen darf, um das anzugehen.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und einen Transrapid!)


Frau Kollegin, ich darf jemanden zitieren, der Ihnen
vielleicht noch näher ist als ich, und zwar den Philoso-
phen Jürgen Habermas. Er sagte in einem Vortrag mit
dem Titel „Wie demokratisch ist die EU?“:

Das … Netz supranationaler Organisationen weckt
seit Langem die Befürchtung, dass der im National-
staat gesicherte Zusammenhang von Menschen-
rechten und Demokratie zerstört [wird].

Deshalb erwarte ich mir von Ihnen nicht nur geistreiche
Zwischenfragen, sondern ein aktives Eintreten auch von
Ihnen als Grüne, dass Sie sagen: Mit einem Superstaat
ist das Problem der Demokratie nicht gelöst, sondern da-
rin kann auch eine Gefährdung liegen.

Ich wollte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der
dies fortsetzt. In dem EU-Arbeitsprogramm, über das
wir reden, wird das geplante Freihandelsabkommen mit
den USA ganz kurz angesprochen. Wir begrüßen dieses
Freihandelsabkommen. Wir hatten den amerikanischen
Botschafter zu unserer Tagung im Tegernseer Tal einge-
laden. Aber dieses Abkommen hat viele Probleme: Die
Verhandlungen werden in einem absoluten Geheimver-
fahren geführt. Im Oktober soll ein Vertrag unterschrie-
ben werden. Das Papier umfasst jetzt, wie man hört,
1 000 Seiten. Es kann nicht angehen, dass der Bundestag
dann nach bekanntem Muster im Oktober wieder drei
Tage bekommt, um die Sache schnell zu überprüfen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Peter Gauweiler


(A) (C)



(D)(B)

In diesem Vertrag sind sogenannte Schiedsgerichte
vorgesehen. Diese gelten für alle amerikanischen Frei-
handelsabkommen. Vor einem solchen Schiedsgericht
kann dann der Investor gegen den Staat wegen Benach-
teiligung aller Art klagen, aber der umgekehrte Weg ist
nicht möglich. Auch diese Verhandlungen sind geheim.
Sie können auf diesem Wege die örtlichen Rechtssitua-
tionen, Umweltschutzrecht, Datenschutzrecht, alles, was
hier uns allen gemeinsam hoch und wichtig ist, aushe-
beln. Sie können die örtliche Gerichtsbarkeit der Mit-
gliedstaaten aushebeln.

Ich halte das bei aller Liebe zum Zentralismus, zum
Großstaat, zu diesem Erdteil, „Alle sprechen nur mit ei-
ner Stimme“, für einen gefährlichen Weg. Deswegen ha-
ben wir uns in der Großen Koalition entschlossen, im
Koalitionsvertrag festzulegen, dass die Voraussetzung
für dieses Abkommen nicht nur die Einhaltung demokra-
tischer Normen ist – das ist ja eine Selbstverständlich-
keit –, sondern auch der Erhalt unserer Gerichtsbarkeit
und die Verteidigung unserer Rechtssituation. Wir müs-
sen nach Unterzeichnung dieses Abkommens immer
noch unsere örtlichen Regeln in Bayern, in Nordrhein-
Westfalen oder sonst wo ändern oder unter Umständen
verschärfen können. Wir erwarten, dass die Bundesre-
gierung alsbald verlangt – sie hat es bereits angekündigt;
aber bisher noch nicht getan –, dass die EU den Rat und
die nationalen Parlamente über den Stand der Verhand-
lungen und den Inhalt dieses Abkommens informiert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800905000

Herr Kollege Gauweiler, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Herrn Kollegen Gehrcke?


Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1800905100

Immer.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800905200

Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Herzlichen Dank,

Kollege Gauweiler. Habe ich Ihre klare Begründung der
Ablehnung eines Abschlusses des Freihandelsabkom-
mens richtig verstanden, dass Sie also der Meinung sind,
dass es, wenn es so bleibt – so haben Sie es formuliert –,
eigentlich Aufgabe des Bundestages wäre, die Bundesre-
gierung aufzufordern, ein solches Freihandelsabkommen
im Rahmen der EU nicht zu unterstützen und die Ver-
handlungen abzubrechen?


Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1800905300

Da haben Sie mich richtig verstanden. Sie haben aber

außerdem gesehen: Ich habe es als Erfolg dargestellt,
dass die Große Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung
genau an dieser Stelle den Finger in die Wunde gelegt
hat und Voraussetzungen geschaffen hat, die für die Zu-
stimmung zu diesem Abkommen unabdingbar sind.
Wenn uns die Linke hier unterstützt, dann freut sich die
CSU besonders darüber.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Ich wollte noch eine ganze Menge zu Ihnen sagen,
zum Beispiel zu strengeren Regeln auf den Finanzmärk-
ten, zur Außenpolitik und zur notwendigen Entschla-
ckung des Auswärtigen Dienstes der EU – es ist völlig
verrückt, hier eine Institution mit 6 000 oder 9 000 Plan-
stellen vorzusehen –, zu unserem lieben Euro und zur
Unmöglichkeit, eine Bankenrettung direkt aus Mitteln
des Europäischen Stabilitätsmechanismus zu bezahlen.

Ich sehe gerade, dass der Herr Präsident das Lämp-
chen blinken lässt.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800905400

Die Frau Präsidentin! Aber das Blinken bleibt das

gleiche.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1800905500

Das ist eine Jungfernunterbrechung durch diese Präsi-

dentin, wenn ich das einmal sagen darf.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Vielen herzlichen Dank, Frau Präsidentin, ich habe den
Präsidentenwechsel nicht bemerkt. Selbst wir können
nicht nach hinten schauen.


(Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800905600

Aber ich kann Sie von hinten beobachten, keine

Angst.


Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1800905700

Ich freue mich sehr, wenn es gelungen ist, einige we-

nige Punkte eines sehr schwierigen Themas zu klären.
Wir wollen mit der Europäische Union zusammenarbei-
ten. Wir schätzen diese Institution als, wenn Sie so wol-
len, Jahrhunderterfindung der Politik. Wir meinen aber
auch, dass die Europäische Union und ihre Instanzen fol-
genden alten Spruch, der im gesellschaftlichen, im be-
ruflichen und im privaten Leben immer gilt, berücksich-
tigen sollten: Weniger kann manchmal mehr sein.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800905800

Vielen Dank, Herr Dr. Gauweiler.

Mit unserem streitbaren Kollegen Gauweiler schließe
ich die Aussprache.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Katrin Kunert, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Das Massensterben an den EU-Außengrenzen
beenden – Für eine offene, solidarische und
humane Flüchtlingspolitik der Europäischen
Union
Drucksache 18/288
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die
Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre und sehe
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Ulla
Jelpke von der Linken.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800905900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der ak-

tuelle Anlass für den vorliegenden Antrag der Fraktion
Die Linke sind die tragischen Schiffsunglücke auf Lam-
pedusa und anderswo, die im Herbst vergangenen Jahres
im Mittelmeer weit über 500 Flüchtlingen das Leben ge-
kostet haben.

Betroffenheit war allgemein zu spüren. Herr Gabriel
zum Beispiel sprach davon, dass es eine große Schande
für die Europäische Union sei. Der italienische Präsident
Napolitano sprach von einem Massaker, EU-Kommis-
sionspräsident Barroso von einem europäischen Not-
stand, und der Papst prangerte die Gleichgültigkeit in
den Industriestaaten an.

Leider sind die Tragödien vor Lampedusa alles andere
als einzigartig. Seit 1988 starben etwa 20 000 Flüchtlinge
entlang der europäischen Außengrenzen, die meisten im
Mittelmeer. Die Toten sind Ergebnis der Abschottungs-
politik der Europäischen Union. Daher will ich zu Be-
ginn ganz klar sagen: Es genügt eben nicht, sich nur er-
schüttert zu zeigen, sondern es müssen endlich Taten
folgen, um eine Wiederholung solcher Katastrophen zu
vermeiden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


Das heißt in erster Linie, dass Asylsuchende eine le-
gale und sichere Möglichkeit haben müssen, nach
Europa einzureisen. Aber daran, meine Damen und Her-
ren, denken die Innenminister der EU überhaupt nicht.
Die Leichen von Lampedusa waren noch nicht gebor-
gen, da nutzten die Innenminister diese Tragödie als Vor-
wand, einen weiteren Ausbau der Festung Europa fest-
zulegen. Nicht „Hilfen für Flüchtlinge“ ist ihre Devise,
sondern „Noch mehr Abschottung“.

Kürzlich hat die EU das milliardenteure Grenzüber-
wachungssystem EUROSUR in Betrieb genommen.
Polizei, Geheimdienste, Militär sollen mit Satelliten und
Drohnen die Seeüberwachung perfektionieren. Fakt ist:
Nicht die Rettung Schiffbrüchiger steht hier im Vorder-
grund, sondern das Abfangen von Flüchtlingsschiffen,
lange bevor sie die EU-Grenzen erreichen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das stimmt so nicht!)


Deswegen wird die libysche Grenzpolizei beispielsweise
mithilfe der EU und NATO aufgerüstet. Deswegen ma-
chen die ägyptischen und libyschen Küstenwachen Jagd
auf Flüchtlingsboote. Solange die EU keine Anstren-
gung unternimmt, Kriege und ökonomische Not als
Fluchtursachen anzuerkennen und diese auch endlich zu
bekämpfen, und solange sie keine Hilfe leistet, ist diese
Abschottungspolitik einfach nur skrupellos, menschen-
verachtend und beschämend.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es gibt noch mehr Beispiele. Derzeit wird in der EU
über eine neue Frontex-Verordnung diskutiert. Im Rah-
men von Frontex-Operationen auf hoher See sollen auf-
gebrachte Schiffe in den Staat zurückgebracht werden,
von dem sie gestartet sind. Flüchtlingsschutz auf hoher
See gibt es in dieser Realität schlicht nicht; das Beispiel
Griechenland zeigt es. Pro Asyl spricht hier beispiels-
weise von systematischen völkerrechtswidrigen Men-
schenrechtsverstößen und einer erschreckenden Brutali-
tät der griechischen Küstenwache gegenüber den
Flüchtlingen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800906000

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Huber?


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800906100

Ja, gern.


Charles M. Huber (CDU):
Rede ID: ID1800906200

Frau Kollegin Linke – –


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800906300

Jelpke.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800906400

Jelpke. „Linke“ wäre auch nett, aber – –


(Zuruf von der CDU/CSU: Jelpke von den Linken!)



Charles M. Huber (CDU):
Rede ID: ID1800906500

Frau Kollegin Jelpke, Entschuldigung; aber ich habe

hier „Linke“ gelesen. Entschuldigen Sie!


(Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen Hause – Katja Kipping [DIE LINKE]: „Linke“ ist okay!)


Folgendes: Es macht uns natürlich betroffen, wenn
wir diese Flüchtlingsszenarien vor Lampedusa sehen.
Aber ich sage Ihnen: Betroffenheit ist noch lange kein
politisches Konzept.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ein Antrieb!)






Charles M. Huber


(A) (C)



(D)(B)

Vorhin ging es einmal um die Frage: Was ist Ursache,
und was ist Wirkung? So wie Sie dieses Thema aufberei-
ten, habe ich ein bisschen den Eindruck, dass Sie sich
sehr der Wirkung, aber weniger den Ursachen widmen.

Dass wir eine Verantwortung für in Not geratene
Menschen haben, ist natürlich prinzipiell richtig. Aber
ich denke, dass es prinzipiell gleichermaßen wichtig ist,
die Verantwortung nicht von denen zu nehmen, die diese
Situation durch die politischen und gesellschaftspoliti-
schen Rahmenbedingungen in ihren eigenen Ländern,
den Ursprungsländern der Flüchtlinge, verursacht haben
und die kein Konzept für eine solide Staatsführung ha-
ben.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800906600

Herr Kollege, würden Sie zu Ihrer Frage kommen?

Das ist nämlich eigentlich so gedacht.


Charles M. Huber (CDU):
Rede ID: ID1800906700

Meine Frage ist: Ist es in erster Linie die Verantwor-

tung der Bundesregierung bzw. der europäischen Staa-
ten, sich um diese Flüchtlinge zu kümmern, oder ist es
gleichermaßen auch die Verantwortung der Länder bzw.
der politisch Verantwortlichen in den Länder, aus denen
die Flüchtlinge nach Europa kommen?


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800906800

Ich will die Frage gern beantworten; damit es nicht

von meiner Redezeit abgeht, müssen Sie stehen. – Ich
will Ihnen ganz deutlich sagen: Die europäischen Staa-
ten, aber auch viele andere Staaten, etwa Amerika, ha-
ben Anteil an der Schaffung von Fluchtursachen. Daraus
ergibt sich eine klare Mitverantwortung. Flüchtlinge, die
aus Libyen zu uns gekommen sind, haben uns berichtet,
wie die Bomben der NATO über ihnen gefallen sind; ei-
nige waren bereits vorher auf der Flucht. Deswegen ste-
hen die Länder, die in der NATO sind, auch mit in der
Verantwortung, die Ursachen von Flucht zu bekämpfen
bzw. Flüchtlingen zu helfen.

Man kann nicht einfach so tun, als wäre man nicht be-
teiligt an der Politik, die zur Ausbeutung vieler Länder
beigetragen hat. Ich nenne als Stichworte nur: Nord-
afrika, EU-Fischfangflotte. Die europäischen Konzerne
fischen den Menschen vor Ort seit Jahren den Fisch vor
der Küste weg. Also fliehen die Menschen. Auch so
schafft man Fluchtursachen. Man muss in diesen Fragen
konsequent eine andere Politik machen; dann wird es
auch nicht mehr so viele Flüchtlinge geben. Ich sage es
Ihnen ganz deutlich: Die meisten Menschen kommen
nicht aus Lust und Laune nach Europa, sondern müssen
vor Krieg oder Umweltkatastrophen fliehen oder sind in
wirtschaftlicher Not. Deswegen hat die Europäische
Union dafür, dass Flüchtlinge hierher kommen, eine
Mitverantwortung.

Wenn man es Flüchtlingen durch Verschärfung der Si-
cherheitsbestimmungen immer schwerer macht, ist man
mit dafür verantwortlich, dass sie nach immer neuen We-
gen, über die Meere, suchen. Man müsste stattdessen
darüber diskutieren, wie es Flüchtlingen ermöglicht wer-
den kann, nach Europa einzureisen und ein Schutzge-
such zu stellen. Das ist derzeit nicht möglich. Man muss
gewissermaßen vom Himmel fallen, wenn man in die-
sem Land überhaupt einen Asylantrag stellen möchte.
Das kritisieren die Flüchtlingsgruppen zu Recht. Ich
meine, es ist an der Zeit, nicht nur in Sachen Sicherheit
zu arbeiten, sondern Wege zu finden, um den Flüchtlin-
gen zu helfen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800906900

Danke schön. Jetzt geht die reguläre Rede weiter.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800907000

Angesichts der zunehmenden Abschottung der Au-

ßengrenzen hat die Linke schon immer gefordert: Fron-
tex muss abgeschafft werden; diese Einrichtung ist nicht
kontrollierbar. Wer vor den Küsten Europas gerettet
wird, muss Zugang zu einem Asylverfahren in Europa
bekommen.

Auch innerhalb der EU herrschen schlimme Zu-
stände: In Griechenland, Bulgarien, Italien gibt es keine
funktionierenden Asylsysteme. Hier hätte Europa, auch
Deutschland, längst viel mehr Druck ausüben müssen.
Das zeigt das Beispiel der Flüchtlinge, die über Lam-
pedusa nach Hamburg gekommen sind. Sie haben erlebt,
wie Libyen bombardiert wurde, und hofften, hier endlich
wieder Sicherheit zu finden. Doch was passiert in Ham-
burg? Anstatt dass man ihnen Hilfe leistet, werden die
Flüchtlinge dort systematisch zermürbt, ständig kontrol-
liert usw., usw., um sie zur Rückkehr zu zwingen. Das
hält die Linke für grundsätzlich falsch.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke hat großen Respekt vor dem Mut der
Flüchtlinge, nicht nur der Flüchtlinge in Hamburg, son-
dern auch der Flüchtlinge, die hier in Berlin am Oranien-
platz oder in anderen Städten Aktionen für ihre Rechte
durchführen und sich diesem Ausgrenzungsregime nicht
beugen wollen. Sie verdienen unsere volle Solidarität.
Man darf sie nicht weiter ausgrenzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, die EU steckt Milliarden
in den Ausbau der Festung Europa, doch sie bleibt taten-
los, wenn es um Verbesserungen des Flüchtlingsschutzes
innerhalb der EU geht. Es gibt zum Beispiel keine ge-
meinsamen Anstrengungen zur Aufnahme von Flücht-
lingen aus Syrien. Natürlich weiß ich, dass Deutschland
– immerhin – 5 000 Flüchtlinge aufgenommen hat und
jetzt weitere 5 000 aufnehmen will; aber auch das ver-
läuft viel zu schleppend: Die Bürokratie hat es in acht
Monaten gerade einmal geschafft, 1 700 Flüchtlinge aus
Syrien aufzunehmen.

Statt konkreter Hilfe erleben wir eine zunehmend
rechtspopulistische Hetze – übrigens aus den Reihen der
Union, insbesondere aus der CSU – gegen Migrantinnen
und Migranten aus Bulgarien und Rumänien. An dieser
Stelle bin ich ausnahmsweise einmal einig mit der EU-





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

Kommission, die klargestellt hat, dass die Behauptun-
gen, wie sie aus der CSU kommen, in keiner Weise
durch Zahlen gestützt sind.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800907100

Frau Jelpke, entschuldigen Sie, aber gestatten Sie eine

zweite Zwischenfrage von Herrn Huber?


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800907200

Ja, gerne.


Charles M. Huber (CDU):
Rede ID: ID1800907300

Kollegin Jelpke – jetzt sage ich Ihren Namen richtig –,

Sie haben gerade über die CSU gesprochen. Ich hatte
– das sage ich, weil Sie zu diesem Thema reden – vor
kurzem ein Interview für die Süddeutsche Zeitung genau
zu diesem Thema, zum Thema Flüchtlinge in Bayern.
Was passiert denn in den Herkunftsländern, zum Bei-
spiel auch in einem Land wie Senegal? Es werden unter
anderem die Küsten leergefischt. Das betrifft auch Sene-
gal. Das nur zu den Ursachen: Die Fischereirechte wer-
den von den dortigen politischen Eliten an die Fangflot-
ten der EU und andere verkauft. Das heißt, das ist
außerhalb der Verantwortlichkeit der Europäer.

Tatsache ist: Man hat in diesem Zusammenhang ein
Land als Beispiel genommen, von dem man sagt, dass
Menschen politisch verfolgt werden, wenn sie eine an-
dere politische oder religiöse Orientierung haben. Das
stimmt so nicht. Ich denke, dass Sie dieses Thema sehr
stark pauschalisieren, zum Teil ohne Kenntnis der Situa-
tion vor Ort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist wichtig und richtig, Menschen aus Krisengebieten
aufzunehmen. Aber ich denke, dass Sie einen dezidierten
Unterschied machen müssen zwischen Menschen in
wirtschaftlicher Not und Leuten, die tatsächlich aus
Kriegsgebieten kommen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800907400

Darf ich Sie nochmals bitten, eine Frage zu formulie-

ren, wohlwissend, dass Sie jetzt schon eine Zwischenbe-
merkung gemacht haben?


Charles M. Huber (CDU):
Rede ID: ID1800907500

Dann möchte ich eine Frage formulieren: Sind Sie zu-

künftig willens, eine Differenzierung zu machen zwi-
schen Menschen, die tatsächlich Asyl brauchen, weil sie
aus Krisengebieten oder Kriegsgebieten kommen, und
Wirtschaftsflüchtlingen, denen Sie genau dieselbe Not
unterstellen, für die die Europäische Union bzw.
Deutschland verantwortlich sein soll?


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800907600

Danke, Herr Kollege. – Frau Jelpke, bitte.

Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800907700

Herr Kollege, ich war, und zwar nicht nur alleine,

sondern auch im Rahmen vieler Delegationsreisen des
Innenausschusses, in Griechenland, Italien und vielen
anderen Ländern. Ich kann Ihnen versichern: Ich kenne
die Situation vor Ort sehr gut.

Es kann einfach nicht sein, dass Menschen, die
Schutz suchen, zum Beispiel in Griechenland bis zu
18 Monaten einfach inhaftiert werden, ohne je ein Ver-
fahren gehabt zu haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen natürlich immer wieder überprüfen, wer
Asyl haben muss. Natürlich unterscheide ich zum Bei-
spiel zwischen Ländern wie Bulgarien und Rumänien.
Aber angesichts Ihrer Parole „Wer betrügt, fliegt“, muss
man hier die Frage stellen: Wer betrügt hier eigentlich,
und wer sollte eigentlich fliegen?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will Ihnen deutlich sagen: Es geht um 400 000 Men-
schen, die seit 2010 eingereist sind, und um 38 000 Men-
schen, die noch keine Arbeit gefunden haben. Sie ma-
chen daraus eine Kampagne. Daraus werden Brandstifter
in dieser Republik. Ich kann Sie nur warnen, hier weiter
diese Linie zu fahren. Differenzieren Sie erst einmal:
Was wollen Sie hinsichtlich der Freizügigkeit in der Eu-
ropäischen Union und hinsichtlich der Aufnahme von
Zuwanderern, die Deutschland in der Tat braucht? Dann
können wir uns vielleicht im Einzelnen weiter unterhal-
ten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss meiner Rede. Zusammenfas-
send möchte ich sagen, dass die Europäische Union und
damit auch Deutschland eine große Mitverantwortung
tragen für Tod und Elend der Flüchtlinge. Deswegen for-
dert die Linke eine grundlegende Wende bei der europäi-
schen Flüchtlingspolitik. Dazu gehört natürlich auch die
Bekämpfung von Fluchtursachen; darauf wird mein Kol-
lege später noch eingehen. Schutzsuchende müssen eine
Möglichkeit bekommen, nach Europa einzureisen. Es
muss vor allen Dingen die Asylrichtlinie überarbeitet
werden, damit es in allen EU-Staaten wirklich gleiche
Standards gibt.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800907800

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800907900

Ja, mein letzter Satz. – Die Botschaft der Linken ist:

Wir wollen ein Europa der offenen Grenzen für Men-
schen in Not.


(Beifall bei der LINKEN)

Das muss möglich sein, wenn man von Solidarität und
von Freizügigkeit spricht.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800908000

Der nächste Redner ist Thomas Silberhorn für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1800908100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir alle haben die schockierenden Bilder vom Herbst
letzten Jahres in Erinnerung. Das Schicksal der ertrunke-
nen Flüchtlinge, der Opfer, kann niemanden kaltlassen.
Viele Tausend Menschen sind in den letzten Jahren bei
dem Versuch, nach Europa zu kommen, im Mittelmeer
ertrunken. Im Mittelmeer spielt sich in der Tat eine Tra-
gödie ab.

Unser Ziel muss sein, dass sich Flüchtlinge gar nicht
erst in diese lebensbedrohliche Situation begeben. Wie
schwierig es ist, dieses Ziel zu erreichen, zeigt allein ein
Blick auf diese Debatte in den letzten Jahren, die uns ja
schon seit Innenminister Schily parteiübergreifend be-
schäftigt.

Die Motive der Flüchtlinge sind durchaus nachvoll-
ziehbar. Wenn Familien vor dem Bürgerkrieg in Syrien
flüchten, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten,
dann gibt es wohl niemanden, der dafür kein Verständnis
aufbringen kann. Gleiches gilt für Menschen, die
schlicht auf ein besseres Leben in Europa hoffen und
sich vor Hungersnöten, Bürgerkrieg oder einfach bitterer
Armut auf den langen Weg zu uns machen wollen.

Wer sich die Flüchtlingsberichte näher ansieht, der
versteht schnell, wie es zur Flucht kommen kann. Nur
ein Beispiel von vielen, wie sie täglich stattfinden: Eine
Frau, die in Somalia Fußball spielt, wird von Milizen be-
droht, die das als unislamisch ansehen. Der Ehemann
wird ermordet. Deswegen flieht die Frau mit Kind in ein
Flüchtlingslager. Dort trifft sie auf einen Schleuser, der
viel Geld verlangt und ein besseres Leben in Europa ver-
spricht.

Damit sind wir schon beim Kern des Problems: Es
sind die Schleuser, die den Menschen in Flüchtlingsla-
gern in Afrika häufig das Blaue vom Himmel verspre-
chen. Sie locken Flüchtlinge mit falschen Versprechun-
gen und fordern Tausende von Dollar für die Schleusung
nach Europa. Nach Schätzungen des Bundesnachrich-
tendienstes werden heute weltweit bereits mehrere Mil-
liarden Euro mit Schleusung und Menschenschmuggel
verdient.

Deshalb müssen wir diese Dinge sehr konzentriert an-
gehen. Wer sich mit den Berichten zu Fluchten über das
Mittelmeer und dem Schicksal der Flüchtlinge näher be-
fasst, der wird auf ganz ungeheuerliche Berichte stoßen:
defekte oder überfüllte Boote, katastrophale hygienische
Verhältnisse und die Tatsache – das ist für mich eine der
schlimmsten Nachrichten –, dass Schleuser die Flücht-
linge, die sie für viele Tausend Dollar an Bord genom-
men haben, teilweise sogar ins Meer werfen, wohlwis-
send, dass sie gar nicht schwimmen können.

Diesem Unwesen müssen wir entschlossen entgegen-
treten. Wir müssen dieses Übel an der Wurzel packen
und den Schleppern und den skrupellosen Banden das
Handwerk legen. Diese Forderung vermisse ich im An-
trag der Linken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Sie schlagen eine erleichterte Zuwanderung in die Eu-
ropäische Union vor. Wir wollen auch Zuwanderung,
aber qualifizierte Zuwanderung, wie es Innenminister de
Maizière bei der Vorstellung des Migrationsberichtes
2012 erst am Mittwoch hier unterstrichen hat.

Es gibt bereits jetzt Möglichkeiten legaler Zuwande-
rung in die Europäische Union. Die Europäische Union
hat das Modell der Bluecard eingeführt. Dieses gibt es
seit August 2012 auch in Deutschland. Der Kerngedanke
dieser Bluecard ist aber eben, dass qualifizierte Zuwan-
derung nach Europa erfolgt.

Sie wollen das losgelöst von jeglicher Qualifikation.
Ich glaube, es darf nicht sein, dass wir nicht mehr selbst
entscheiden, wer zu uns nach Europa kommen darf.
Auch diejenigen, die ein festes Kontingent für die Euro-
päische Union festlegen wollen, müssen sich die Frage
stellen, ob das wirklich hilfreich ist; denn wenn dieses
Kontingent erschöpft ist, werden sie ja wohl kaum einen
verzweifelten Menschen auf der Flucht auf das nächste
Jahr vertrösten können. Das wäre völlig lebensfremd.

Wenn wir das Qualifikationserfordernis aufgeben
würden, dann würden wir eine Sogwirkung erzeugen,
die das Problem nicht lösen, sondern sogar noch ver-
schärfen würde. Die Ursachen der Flucht lassen sich
nicht durch Auswanderung lösen.

Ich warne auch vor einem Blick durch die rein natio-
nale Brille. Es geht auch um die europäische Sicht. An-
deren Mitgliedstaaten der Europäischen Union geht es in
wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht nicht so gut wie
Deutschland. Deshalb muss die Zuwanderung in die EU
auch weiterhin begrenzt und gesteuert werden. Die Pro-
bleme, die in Afrika oder Syrien herrschen, sind von ei-
ner so gewaltigen Dimension, dass wir eben nicht alle
Betroffenen nach Europa holen können.

Die Grenzschutzagentur Frontex der Europäischen
Union erfüllt eine wichtige und sehr sinnvolle Arbeit. Es
ist wenig überraschend, dass sie von den Linken verteu-
felt wird und dass diese Frontex gerne abschaffen möch-
ten. Sie übersehen dabei eines: Frontex hat in den
Einsätzen in den letzten beiden Jahren rund 40 000 Men-
schen aus Seenot im Mittelmeer gerettet. Frontex ver-
schließt nicht die Augen, sondern hilft dort, wo sie kann.
Deshalb ist Frontex eine wichtige und gute Einrichtung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aus den bisher gesammelten Erfahrungen wird deut-
lich, dass die Einbindung von Frontex bei Maßnahmen
zum Schutz der EU-Außengrenzen notwendig ist, denn
damit sind Gastbeamte der Europäischen Union vor Ort
an den Brennpunkten der Migration präsent. Es ist für ei-
nen nationalen Grenzschutzbeamten viel leichter, Stan-
dards zu missachten, wenn ihm dabei nicht ein interna-
tionaler Kollege über die Schulter schaut. Aber damit die
Standards geachtet werden, ist es eben wichtig, dass na-





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

tionale Grenzschützer und Frontex-Beamte zusammen-
arbeiten. Das sichert die Einhaltung von Menschenrech-
ten. Deswegen sind wir in der Europäischen Union auf
dem richtigen Weg. Europa darf sich nicht zurückziehen,
sondern muss vor Ort präsent sein.

Das Dublin-System hat sich bewährt. Sie von der Lin-
ken wollen es im Kern abschaffen. Das überrascht nicht.
Auch da ist es aber wichtig, den Tatsachen ins Auge zu
blicken. Deutschland nimmt zum Beispiel deutlich mehr
Asylbewerber auf als Italien. Der Eindruck, der oft er-
weckt wird, dass die südeuropäischen Staaten viel stär-
ker belastet werden als beispielsweise Deutschland, ist
schlicht falsch. Deutschland hat 2012 nicht nur in abso-
luten Zahlen die meisten Asylbewerber aller Mitglied-
staaten der Europäischen Union aufgenommen, sondern
pro Kopf der Bevölkerung sind es dreimal mehr als in
Italien. Allein im letzten Jahr, 2013, haben über 100 000
Menschen Asyl in Deutschland beantragt.

Wir haben auch an den Brennpunkten ganz praktisch
Solidarität geübt, indem wir Malta und Griechenland un-
terstützt haben. Deshalb ist das Dublin-System sinnvoll.
Dieses System verpflichtet jeden Mitgliedstaat dazu, die
europäischen Standards zu achten, etwa im Asylverfah-
ren und bei der Durchführung dieses Verfahrens. Wir
verteidigen deshalb unsere europäischen Rechtsstan-
dards, von Finnland bis zur Ägäis und eben nicht nur bis
zu den Alpen.

Unser Ansatz ist zunächst: Wir brauchen eine bessere
Seenotrettung. Wenn Boote im Mittelmeer kentern, dann
ist es die erste und oberste Pflicht, Menschenleben zu
retten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist nicht nur ein altes Gebot in der Seefahrt, sondern
das ist auch eine humanitäre Verpflichtung. Deswegen
haben wir in unserem Koalitionsvertrag ganz bewusst
vereinbart:

Der Grundsatz der Nichtzurückweisung und die
Pflicht zur Seenotrettung müssen umfassend geach-
tet werden.

Das ist in der Koalition unsere Arbeitsgrundlage. Auch
hier gilt das alte Motto des Arbeiterpriesters Carl Son-
nenschein:

Mit Menschen in Not soll man nicht diskutieren.
Man soll ihnen helfen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Sehr gut! Ich werde Sie daran erinnern!)


Genau das tun wir in der Bundesregierung und in der
Europäischen Union. Frontex hat ihre Aktivitäten im
Mittelmeer und in der Ägäis bereits jetzt intensiviert.
Die Europäische Union hat dafür kurzfristig mehr Mittel
bereitgestellt.

Wir brauchen neben dieser Verbesserung der Seenot-
rettung eine Reihe weiterer Maßnahmen auf europäi-
scher Ebene, die der Rat der Justiz- und Innenminister
im Herbst 2013 mit der Bildung einer Task Force Mittel-
meer auf den Weg gebracht hat.

Erstens. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit
mit den Herkunfts- und den Transitstaaten in Afrika. Wir
pflegen einen umfassenden Dialog. Wir haben Mobili-
tätspartnerschaften geschlossen, zum Beispiel mit Ma-
rokko, Tunesien oder Jordanien. Wir leisten einen Bei-
trag zur Stabilisierung der Lage in Libyen. Aber auch die
nordafrikanischen Staaten haben ein hohes Maß an Ver-
antwortung, zum Beispiel dafür, seeuntaugliche Nuss-
schalen und Boote mit Hunderten von Flüchtlingen nicht
in See stechen zu lassen.

Zweitens. Wir müssen Menschenhandel, Schleuser-
kriminalität und organisierte Kriminalität entschlossen
bekämpfen.

Drittens. Wir müssen auch die Grenzüberwachung
verstärken, damit wir ein besseres Lagebild über die Si-
tuation auf See erzielen, auch damit Flüchtlingen in See-
not schneller geholfen werden kann.

Viertens. Wir müssen den Menschen vor Ort eine bes-
sere Lebensperspektive bieten.

Diese Punkte können wir nicht alleine, sondern nur in
Kooperation mit den Herkunftsstaaten in Afrika errei-
chen. Das ist eben nicht allein unsere Aufgabe, sondern
auch die der betroffenen Länder in Afrika und der regio-
nalen Organisationen wie der Afrikanischen Union.
Diese Länder brauchen Stabilität. Sie brauchen gute Re-
gierungsführung, freie Parlamente, eine unabhängige
Justiz und eine funktionierende Verwaltung. Das sind die
Grundlagen für eine gute Entwicklung. Die Europäische
Union kann einen wichtigen Beitrag leisten, um diese
Prozesse zu unterstützen. Aber wir werden das nicht al-
leine tun können.

Wir perfektionieren nicht eine Abschottung Europas,
sondern Europa ist eben, gerade im Verhältnis zu unse-
rem Nachbarkontinent, ein Hort für friedliche Entwick-
lung, für die Achtung der Menschenrechte, für wirt-
schaftlichen Wohlstand und für soziale Gerechtigkeit.

Wir helfen dort, wo wir können. Aber wir begeben
uns nicht in einen blinden und naiven Aktionismus. Die
Koalition macht sich auf den Weg, um die humanitären
Wege zu verbreitern. Ich weise darauf hin, dass wir ver-
einbart haben, das Bleiberecht für geduldete Ausländer
auszuweiten, wenn sie ihren Lebensunterhalt überwie-
gend selbst bestreiten können. Von daher brauchen wir
keine Nachhilfe in Sachen Flüchtlingspolitik. Ich setze
volles Vertrauen in Bundesinnenminister de Maizière.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der heute nicht einmal da ist!)


Wir werden den Koalitionsvertrag konsequent umsetzen
und gemeinsam an einer Flüchtlingspolitik in Europa ar-
beiten, die hilft, Menschenleben zu retten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800908200

Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Silberhorn. –

Die nächste Rednerin ist Luise Amtsberg für Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800908300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte der Fraktion der
Linken erst einmal ausdrücklich dafür danken, dass Sie
gleich zu Beginn der Legislaturperiode dieses für uns
sehr wichtige Thema auf die Tagesordnung geholt ha-
ben. Absolut zutreffend problematisiert Ihr Antrag die
Fehlleitungen der europäischen Asyl- und Flüchtlings-
politik, die bereits viele Menschen das Leben gekostet
hat. Er problematisiert den unerträglichen Umgang mit
den vor der ständig wachsenden Zahl an bewaffneten
Konflikten sowie vor Verfolgung, Diskriminierung oder
existenzieller Armut flüchtenden Menschen.

Seitdem die griechisch-türkische Landesgrenze unter
anderem mithilfe deutscher Beamter der Frontex-Mis-
sion Poseidon in den letzten Jahren immer stärker abge-
riegelt wurde, bleibt Flüchtlingen neben dem Landweg
von der Türkei nach Bulgarien nur noch der lebensge-
fährliche Weg über das Mittelmeer, um in die Europäi-
sche Union zu gelangen. Die grausame Realität, dass
dieser Weg in vielen Fällen tödlich endet, haben uns die
Bilder von Hunderten nebeneinander aufgereihten Sär-
gen in Lampedusa wieder ins Bewusstsein gerufen.

Viele Politiker und Politikerinnen der EU, auch hier
in der Bundesrepublik, hielten für einen Moment inne
und gaben Versprechen ab, dass Tragödien wie diese nie
wieder geschehen dürfen. Nur acht Tage nach dem ers-
ten Bootsunglück geriet ein weiteres Boot in Seenot.
250 Menschen verloren ihr Leben einen Steinwurf von
Lampedusa entfernt, weil die italienischen Behörden
zwar den Notruf erhielten, aber das Boot sich in maltesi-
schen Hoheitsgewässern befand.

Wie ein schlechter Scherz klangen die klagenden
Worte des italienischen Ministerpräsidenten Letta, der
sagte, die Menschen, die vor Lampedusa ihr Leben ver-
loren haben, seien ab diesem Tage Italiener. Die Über-
lebenden wurden hingegen laut Informationen der
Menschenrechtsorganisation borderline-europe über
100 Tage illegal in Lampedusa festgehalten und erst am
vergangenen Sonntag als Zeugen zu einer Gerichtsanhö-
rung nach Sizilien gebracht. Auch bedurfte es erst der
schockierenden Videoaufnahmen aus dem privat betrie-
benen Aufnahmezentrum in Lampedusa – auf denen war
zu sehen, dass Flüchtlinge nackt ins Freie getrieben und
desinfiziert wurden –, bis die unmenschlichen Bedin-
gungen in solchen Zentren in das öffentliche Bewusst-
sein gerückt wurden.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, von dem Mitge-
fühl und dem schlechten Gewissen nach dem 3. Oktober
haben zynischerweise nicht die Überlebenden profitiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deswegen müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen,
dass das Sterben die Folge unserer europäischen Flücht-
lingspolitik ist, ein System, das seit vielen Jahren auf
Abschreckung und eine militärisch hochgerüstete Ab-
schottungspolitik setzt statt auf den Schutz von Men-
schen in einem Europa der Menschenrechte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deswegen sage ich Ihnen: Wenn diese Trauerbekun-
dungen und die Scham über diese Unglücke keine blo-
ßen Lippenbekenntnisse bleiben sollen, dann müssen wir
an dieser Politik nahezu alles ändern, was möglich ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Rüdiger Veit [SPD]: Nicht alles, aber viel!)


Europa kommt bei dem Ziel einer gemeinsamen
Asylpolitik nicht voran. Wenn es aber um Grenzüberwa-
chung oder Maßnahmen der Grenzsicherung geht, dann
fließen die Millionen, und die europäischen Staatschefs
freuen sich über so wahnsinnig viel gemeinschaftliches
Handeln. Das ist kaum zu ertragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Seit einigen Wochen ist das Europäische Grenzüber-
wachungssystem EUROSUR in Kraft. Mit ihm möchte
man glaubhaft machen, dass es dazu dient, Katastrophen
wie vor Lampedusa zu verhindern. Ich sage Ihnen nach
den letzten Jahren mit Blick auf die Flüchtlingspolitik
ganz ehrlich: Ich habe die Nase voll, mir an der Stelle
ein X für ein U vormachen zu lassen


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und zu glauben, die Taskforce Mittelmeer, EUROSUR,
Frontex oder nationale Militäroperationen wie das italie-
nische Mare Nostrum wurden auf den Weg gebracht, um
Flüchtlinge zu retten.

Wir wissen genau, dass Frontex über Jahre hinweg
Flüchtlingsboote zurück- und abgedrängt hat. Die Auf-
gaben und das Budget der Grenzschutzagentur Frontex
werden fortlaufend ausgeweitet, während die Agentur
sich weigert, einen wirksamen Beschwerdemechanismus
zu ermöglichen. Dabei streitet Frontex nicht einmal
mehr ab, dass sie an völkerrechtswidrigen Zurückwei-
sungen beispielsweise vor der Küste Griechenlands be-
teiligt war.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen: Deutschland
hat derzeit den Vorsitz im Frontex-Verwaltungsrat inne.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich für
eine Überprüfung dieser Vorwürfe und für eine schärfere
parlamentarische Kontrolle einsetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir können einfach nicht dulden, dass europäische Insti-
tutionen völkerrechtswidrige Praktiken anwenden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein paar Worte zu
Dublin III. Ich habe vor kurzem Europas größtes Flücht-
lingscamp in Mineo auf Sizilien besucht, das statt der
maximalen Kapazität von 2 000 Menschen derzeit
4 000 Menschen im Nirgendwo isoliert. Im Gespräch





Luise Amtsberg


(A) (C)



(D)(B)

mit Flüchtlingen fand ich heraus, dass es bis zu 14 Mo-
nate dauert, bis der Antrag auf ein Asylverfahren bear-
beitet wird. In der Zwischenzeit müssen Menschen unter
desolaten Zuständen in völlig überfüllten Lagern aushar-
ren. Wer das Lager verlässt, wird aufgrund des Fehlens
jedweder sozialer Leistungen in die Obdachlosigkeit ge-
drängt. Gespräche mit Präfekten, aber auch dem italieni-
schen Innenministerium haben verdeutlicht, wie schwie-
rig es für Italien ist, dieser Situation dauerhaft und vor
allen Dingen auf sich allein gestellt gerecht zu werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-
rung muss endlich bereit sein, anzuerkennen, dass das
Schicksal dieser Menschen nicht nur eine italienische
Angelegenheit ist. Wir tragen gemeinsam Verantwor-
tung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Allein die nackten Zahlen sollten Ihnen eigentlich
verdeutlichen, dass das Dublin-System nicht mehr zu
rechtfertigen ist. Eine Rückschiebung von Deutschland
nach Griechenland wurde gerade im vierten Jahr in
Folge ausgesetzt – zu Recht, sage ich da nur. Italien,
Bulgarien und weitere EU-Mitgliedstaaten werden fol-
gen; denn bereits jetzt wird ein Viertel der Rücküberstel-
lungen nach Italien von Verwaltungsgerichten gestoppt,
da Dublin-Rückkehrer im Erstaufnahmeland unter men-
schenunwürdigsten Bedingungen leben müssen.

Statt 30 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt zur
Stärkung der italienischen Militärpräsenz im Mittelmeer
mitzuzeichnen, wäre das Geld viel besser angelegt, die
Seenotrettung durch die zivile Küstenwache gezielt zu
stärken und die Anzahl der Flüchtlingsunterbringungen
zu erhöhen sowie deren Qualität zu verbessern.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Das Ziel der Grünenfraktion ist die Schaffung eines
gemeinsamen europäischen Schutzraumes, in dem ein-
heitliche und hohe Standards für die Unterbringung und
den Schutz von Flüchtlingen endlich Realität werden.
Gleichermaßen müssen wir auch die Bedürfnisse der
Flüchtlinge besser berücksichtigen. Sie sollen die Mög-
lichkeit haben, in dem Mitgliedstaat Asyl zu beantragen,
in dem sie bereits familiäre Bindungen oder soziale
Netze haben, dessen Sprache sie sprechen oder dem sie
sich kulturell nahe fühlen.

Für einen Paradigmenwechsel in der europäischen
Asyl- und Flüchtlingspolitik muss der erste Schritt also
sein, Maßnahmen zu ergreifen, die verhindern, dass das
Mittelmeer zu einem Massengrab wird. Ich sage ganz
klar: Der erste Schritt, den wir unternehmen müssen, ist,
die Abschottungspolitik zu beenden. Vor allen Dingen
das Fehlen legaler Einreisemöglichkeiten muss ein Ende
haben. Meine Fraktion ist der Auffassung, dass dies
auch gelingen kann, wenn man sich mit den anderen
europäischen Staaten austauscht. Es ist wichtig, dass
sich die gesamte Europäische Union verantwortlich
zeigt. Das unsägliche Hin-und-her-Geschiebe von Men-
schen in Europa muss aufhören; denn das wird der euro-
päischen Idee nicht gerecht.
Militärische Hochrüstung oder Überwachungssys-
teme wie EUROSUR, mithilfe derer wir unsere Grenzen
sozusagen auf den afrikanischen Kontinent verlagern
und Verantwortung an Staaten wie Libyen abgeben, sind
ganz sicher nicht der richtige Weg. Es ist schon richtig:
Man muss den Blick auch auf die Herkunftsländer rich-
ten, aber meine Hoffnung, dass da in nächster Zeit viel
passiert, ist sehr gering. Die Frage ist: Was machen wir
mit den Menschen, die in der Zwischenzeit Schutz su-
chen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Darauf müssen wir eine Antwort geben. Zu sagen: „Wir
warten darauf, dass es endlich eine Lösung vor Ort gibt“,
ist schlichtweg verantwortungslos und unmenschlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Innenminister de Maizière ist gerade nicht anwe-
send. Am Mittwoch bei der Befragung der Bundesregie-
rung hat er deutlich gemacht, dass Deutschland Einwan-
derung braucht. Auch wir sind dieser Auffassung.
Deutschland hat immer von Einwanderung profitiert.
Zudem spricht die demografische Entwicklung der Bun-
desrepublik eine klare Sprache. Ich sage ausdrücklich:
Auch Menschen, die eine Flüchtlingsgeschichte haben,
bereichern unsere Gesellschaft und können Teil unseres
Arbeitsmarktes sein. Deshalb könnten wir überlegen, die
Integrations- und Sprachkurse auszuweiten, um diesen
Menschen eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben
zu geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich rate Herrn de Maizière, die Chance des Neube-
ginns für diese Regierung zu nutzen und sich von der
Politik seines Vorgängers zu distanzieren. Ich kann für
meine Fraktion versprechen: Wir stehen als konstruktive
Kraft an der Seite des Innenministers. Der Startpunkt für
eine Zusammenarbeit ist für uns allerdings einzig und al-
lein die Bereitschaft, dass Deutschland seine Blockade-
politik innerhalb der EU aufgibt, über legale Einreise-
möglichkeiten für Flüchtlinge in die EU berät und die in
Dublin III manifestierte Ignoranz gegenüber den südeu-
ropäischen Staaten endlich aufgibt. Ohne das wird dem
Sterben auf dem Mittelmeer kein Einhalt geboten.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800908400

Wir danken Ihnen und gratulieren Ihnen zu Ihrer ers-

ten, sehr engagierten Rede im Bundestag. Wir alle wün-
schen Ihnen viel Kraft und viel Erfolg bei dieser sehr
verantwortungsvollen Arbeit.


(Beifall)


Jetzt freue ich mich auf die nächste Rednerin. Das ist
Christina Kampmann für die SPD.





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christina Kampmann (SPD):
Rede ID: ID1800908500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich kann mich noch gut an die Katastrophe
vor Lampedusa erinnern. Es waren Bilder des Schre-
ckens, die uns erreichten, Bilder, die man nicht vergisst
und die vor allem nicht in Vergessenheit geraten dürfen.
Es waren Bilder, die mich gerade deshalb zutiefst be-
rührt haben, weil sie uns das Versagen der europäischen
Flüchtlingspolitik so eindrucksvoll vor Augen geführt
haben, dass ich dachte: Jetzt kann man selbige doch ei-
gentlich nicht mehr vor dem Elend dieser Menschen ver-
schließen. Am 3. Oktober 2013 – damals war ich noch
keine zwei Wochen Mitglied des Bundestags – wusste
ich, dass nun auch ich eine ganz besondere Verantwor-
tung für das Leben dieser Menschen trage.

Die Ereignisse vor Lampedusa waren jedoch nur in
ihrem Ausmaß einzigartig. In ihrer Grausamkeit sind
diese dagegen fast traurige Alltäglichkeit; denn der
3. Oktober 2013, an dem mehrere Hundert Menschen
vor Lampedusa ertranken, ist kein Einzelfall. Das ist die
bedrückende Konsequenz der Ungleichheit der Lebens-
verhältnisse in unserer Welt. Seit diesem Tag sind viele
Wochen vergangen, in denen viel hätte passieren kön-
nen, in denen jedoch nichts passiert ist.


(Beifall bei der SPD)


Genau deshalb begrüße ich den Antrag der Fraktion
Die Linke, der uns an unsere gemeinsame europäische
Verantwortung für eine Flüchtlingspolitik erinnert, die
Menschlichkeit anstelle von Herabsetzung und Objekti-
vierung und die Solidarität anstelle von Verantwortungs-
entzug und Rückbesinnung auf nationale Interessen set-
zen sollte.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genau das sind aber auch die Gründe dafür, weshalb
der Antrag zwar einige in die richtige Richtung gehende
Aspekte aufzeigt, an anderen Stellen jedoch Vorschläge
enthält, die gerade das konterkarieren, was unserer Mei-
nung nach wichtig ist. So muss die Rettung von in See-
not geratenen Menschen, wie sie unter II. e) des Antrags
der Linken angesprochen wird, natürlich ein selbstver-
ständliches Gebot menschlicher Achtung voreinander
sein; denn alles andere widerspricht nicht nur unseren
moralischen Wertvorstellungen, sondern auch den völ-
kerrechtlichen Verträgen. Dass an dieser Selbstverständ-
lichkeit Zweifel aufgekommen sind, müssen wir ernst
nehmen und dafür Sorge tragen, dass Seenotrettung
künftig weder an Kompetenzstreitigkeiten noch an Sank-
tionen gegen mögliche Retter scheitert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es darf keine Kriminalisierung von Menschen geben, die
andere Menschen retten; das sage ich mit aller Aus-
drücklichkeit. Alles andere ist ein Skandal, den wir nicht
zulassen dürfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für die Achtung des im Koalitionsvertrag genannten
Grundsatzes der Nichtzurückweisung und der Pflicht zur
Seenotrettung werden wir deshalb auf europäischer
Ebene entschieden eintreten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben
auch recht, wenn es darum geht, die Arbeit von Frontex
kritisch zu begleiten. Wer aber so wie Sie die Arbeit von
Frontex pauschal ablehnt und für eine Auflösung plä-
diert, der verkennt zweifellos die wichtige ordnungspoli-
tische Funktion. Unsere Antwort muss stattdessen eine
strenge Verpflichtung zu einem gemeinsamen europäi-
schen Grenzschutz durch die EU sein, die unserem euro-
päischen Wertesystem gerecht wird.

In die falsche Richtung geht aber vor allem einer der
Kernpunkte des Antrags, zumindest dann, wenn man
sich die Mühe macht, diesen zu Ende zu denken. Der
Vorschlag, dass Asylsuchende künftig die freie Entschei-
dung haben sollen, in welchem Mitgliedstaat sie ein
Asylverfahren durchführen wollen, klingt aus Sicht der
Asylsuchenden zwar ziemlich verlockend, ist dies aber
tatsächlich nur sehr vordergründig; denn abgesehen von
der praktischen Umsetzbarkeit eines solchen Free-
Choice-Verfahrens muss mit einem Unterbietungswett-
bewerb der betroffenen Staaten in puncto Aufnahme und
Verfahrensbedingungen nach unten gerechnet werden,
frei nach dem Motto: Wer die schlechtesten Bedingun-
gen anbietet, der macht sich auch am unattraktivsten für
Asylsuchende. – Bei aller berechtigten Kritik an Dub-
lin II und Dublin III kann und sollte ein solches Verfah-
ren nicht das Ziel europäischer Zusammenarbeit sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir über eine europäische Flüchtlingspolitik re-
den, dann geht es zunächst einmal um die Menschen, die
bei uns Schutz vor Verfolgung, vor Krieg und Diskrimi-
nierung suchen. Niemand verlässt sein Zuhause, seine
Freunde und Familie unter Gefährdung des eigenen Le-
bens einfach so. Diejenigen, die zu uns kommen, sind
zunächst einmal weder eine Last noch ein Kostenfaktor,
sondern das sind Menschen, die bei uns Schutz suchen
und deshalb unseren Respekt verdienen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Verantwortung können wir aber nur dann ernsthaft
übernehmen, wenn wir eine Flüchtlingspolitik in Europa
gestalten, die Solidarität auch wirklich ernst meint, die
Probleme nicht auf den Schultern geografisch zufällig
günstig gelegener Länder ablädt, sondern die ein echtes
Interesse an einer gemeinsamen europäischen Lösung
hat.





Christina Kampmann


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zugegeben, eine optimale Lösung gibt es nicht. Dass
es so nicht weitergehen kann, ist aber offensichtlich. Die
Umstände, in denen Flüchtlinge, insbesondere in Grie-
chenland, leben müssen, sind alles, aber mit Sicherheit
nicht menschenwürdig. Völlig überfüllte Lager, in denen
die Asylsuchenden unter unmenschlichen Bedingungen
leben müssen, gehören dort zum Alltag. Schätzungen ge-
hen davon aus, dass bis zu 10 Prozent der griechischen
Bevölkerung Flüchtlinge sind. Stellen Sie sich einmal
vor, das wäre bei uns der Fall. Stellen Sie sich einmal
vor, 10 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen
würden hier Asyl suchen. Was glauben Sie, was hier los
wäre? Griechenland ist damit vollkommen überfordert
und fühlt sich zu Recht von uns alleingelassen.

Egal ob Dublin II oder III: Das Kernproblem der
extrem ungleichen Verteilung von Asylbewerberinnen
und Asylbewerbern in der Europäischen Union besteht
weiterhin und bliebe im Übrigen auch dann bestehen,
wenn wir dem Antrag der Linken in dieser Form zustim-
men würden,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


mit allen Problemen, die für Flüchtlinge und für die da-
von betroffenen Länder damit verbunden sind.

Das kann und das darf so nicht weitergehen. Es liegt
in unserer gemeinsamen Verantwortung, hier endlich ak-
tiv zu werden und eine Lösung zu finden, die genau das
widerspiegelt, was wir immer wieder gerne sagen, wo-
nach wir aber nicht immer handeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Solidarität in Europa muss unser gemeinsames Anlie-
gen sein. Wir lehnen Dublin II und III in seiner jetzigen
Form deshalb ab, weil es unsozial ist, weil es unsolida-
risch ist und weil es ungerecht ist. Stattdessen setzt die
SPD auf Verantwortungsteilung, ohne der Illusion zu er-
liegen, dass es eine einfache Lösung geben kann.

Quoten analog dem Königsteiner Schlüssel in Verbin-
dung mit einem finanziellen Ausgleich bei Überschrei-
tung selbiger können aber ein sinnvoller Ansatz sein;
denn das entspricht erstens einer gemeinsamen europäi-
schen Lösung, die solidarisch und gerecht ist, es trägt
zweitens den Bedürfnissen der Migrantinnen und Mi-
granten hinsichtlich Familienzugehörigkeit und Sprach-
kenntnissen zumindest besser, als es derzeit der Fall ist,
Rechnung, und es ermöglicht drittens eine Harmonisie-
rung der Schutzstandards, die nicht nur auf dem Papier
steht, sondern die auch faktisch umgesetzt werden kann.


(Beifall bei der SPD)


Angesichts der menschenunwürdigen Bedingungen,
wie wir sie heute in einigen Ländern vorfinden, ist genau
das mehr als notwendig. Mit diesem Ansatz wäre es
möglich, die Bedürfnisse der Asylsuchenden mit der
Notwendigkeit einer solidarischen und gerechten Flücht-
lingspolitik auf europäischer Ebene bestmöglich zu ver-
binden. Fest steht, dass wir uns diese Debatte nicht
leichtmachen dürfen, fest steht aber auch, dass wir
schnell zu Lösungen kommen müssen, die eine so
extrem ungleiche Verteilung, wie wir sie derzeit in
Europa erleben, endlich beenden.

Bereits vor zehn Jahren hat Kofi Annan gesagt – ich
zitiere –:

Einwanderer brauchen Europa, aber Europa braucht
auch Einwanderer. Diese stille Krise der Menschen-
rechte beschämt unsere Welt.

Seitdem sind viele Menschen auf dem Seeweg nach
Europa ertrunken. Sie haben sich auf den Weg gemacht,
weil sie verfolgt werden, weil sie Angst um ihr Leben
haben oder weil sie in ihrer Heimat ganz einfach keine
Perspektive für sich sehen und in Europa auf ein besse-
res Leben hoffen. Was sie hier erwartet, sollte uns alle
beschämen. Das sollte uns nachdenklich werden lassen,
das sollte uns handeln lassen.

Deshalb wünsche ich mir, dass wir uns – damit meine
ich ausdrücklich auch die Fraktion Die Linke – unserer
Verantwortung als Europäerinnen und Europäer stellen
und eine solidarische Lösung finden, die vor allem ei-
nem gerecht wird: der Würde der Menschen, die bei uns
Zuflucht suchen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800908600

Vielen Dank, liebe Kollegin Christina Kampmann.

Auch Ihnen Gratulation des ganzen Hauses zu Ihrer ers-
ten, sehr engagierten Rede.


(Beifall)


Aller guten Dinge sind drei: Später hören wir eine
weitere erste Rede.

Aber zunächst spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Es ist nicht seine erste Rede, wahrscheinlich auch nicht
seine letzte.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800908700

Schönen Dank, Frau Präsidentin. Ich hatte natürlich

erwartet, dass Sie jetzt sagen, dass Sie sich auf mich
freuen. Aber wahrscheinlich ist das eine Selbstverständ-
lichkeit. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Mit Lampedusa und mit den Abschiebeknästen
bringt sich europäische Flüchtlingspolitik auf den Be-
griff. Lampedusa, das ist die Insel, an deren Stränden die
Leichen angeschwemmt werden. Lampedusa, das ist die
Insel, an der die europäische Menschenrechtspolitik zer-
schellt. Das ist der Ausgangspunkt.

Ich würde mich sehr freuen, wenn man den großen
Gedanken des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen
ist unantastbar“ – das gilt natürlich auch für die Würde
des Flüchtlings –, „Sie zu schützen und zu achten ist





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

Aufgabe aller staatlichen Gewalt“ endlich im eigenen
Land umsetzen würde.


(Beifall bei der LINKEN)


Flüchtlinge sind auch in diesem Land unerwünscht. Sie
werden drangsaliert. Sie haben offensichtlich keine un-
veräußerlichen Rechte. Sie werden in Lager gepfercht
und mit Arbeits- und Bewegungsverboten belegt. Das al-
les entspricht nicht dem Grundgesetz.

Der Brief der Bürgermeisterin von Lampedusa hat
mir schlaflose Nächte bereitet. Ich habe selten ein so er-
schütterndes Dokument gelesen. Kurz nach ihrer Wahl
spricht sie von einem Massaker, bei dem Menschen ster-
ben, als sei es ein Krieg. Was in der Flüchtlingspolitik
passiert, ist in der Tat ein Krieg der Reichen gegen die
Armen dieser Welt.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie hat gesagt – ich will es Ihnen vortragen –, dass sie
überzeugt ist, dass die europäische Einwanderungspoli-
tik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um Migrations-
flüsse einzudämmen. Sie meint, dass das eine Schande
für Europa und die europäischen Regierungen ist. Ich
finde in der Tat, das ist auch ganz konkret eine Schande
für die Bundesregierung, für die vorangegangene und
die jetzige,


(Beifall bei der LINKEN)


eine Schande, mit der man sich nicht abfinden darf, eine
Schande, weil europäische Flüchtlingspolitik das Flücht-
lingselend der Armen als Grundlage akzeptiert. Sie
reagiert darauf vor allem mit Gewalt, Waffen und Men-
schenjägern. Ich möchte, dass Frontex – eine Agentur,
die geschaffen worden ist, um Fluchtbewegungen einzu-
dämmen und zu verhindern – abgeschafft und durch ein
anderes politisches System ersetzt wird. Das ist die ein-
zig logische Schlussfolgerung daraus.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin überzeugt davon, dass man über Ursachen von
Flucht reden muss, damit endlich die Heuchelei aufhört,
wie sie in Sonntagsreden zum Ausdruck kommt, wenn
wieder etwas Furchtbares passiert ist. Diese Reden dre-
hen einem wegen ihrer Substanzlosigkeit ja nur den Ma-
gen um.

Reden wir doch einmal über Fluchtursachen. Men-
schen fliehen, weil sie in ihren Heimatländern dem Hun-
gertod ausgesetzt sind. 57 000 Menschen verhungern
jeden Tag, während gleichzeitig an den Börsen mit Nah-
rungsmitteln spekuliert wird, auch von deutschen Ban-
ken. Das ist die Ursache für Flucht.


(Beifall bei der LINKEN)


Menschen fliehen vor Krieg und Gewalt. Mit Krieg und
Gewalt sind immer auch geostrategische Interessen ver-
bunden. Es geht um den Griff nach Naturressourcen.

Menschen fliehen vor politischen Verfolgungen und
vor den Folgen von Klimaveränderungen, die auch mit
unserer Produktionsweise zu tun haben. All das sind in
vielen Teilen der Welt letztlich Folgen des Kampfes um
Ressourcen und geopolitischen Einfluss. Ressourcen
und Macht wollen sich die Reichen dieser Welt sichern.
Ich sage Ihnen sehr zugespitzt: Ein Wirtschaftssystem,
das das Streben nach Profiten zur Grundlage hat, ist auch
für die Fluchtbewegungen dieser Welt verantwortlich.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin dafür, dass dieses kapitalistische Wirtschaftssys-
tem endlich überwunden und durch ein gerechtes System
ersetzt wird. Das ist für mich eine der Konsequenzen aus
dem menschenverachtenden Umgang.


(Beifall bei der LINKEN)


Sogar in Europa werden Menschen diskriminiert. Lei-
der ist der Kollege Gauweiler jetzt nicht mehr da. Ich
hätte ihn gern direkt angesprochen. Deswegen wende ich
mich an die anderen Kollegen von der Union. Ich hatte
gehofft, dass Sie sich endlich aus dieser rechtspopulisti-
schen Bewegung lösen.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Oh!)


Sie bleiben aber bei der Linie von Roland Koch gegen
die doppelte Staatsbürgerschaft. Erinnern Sie sich noch
an den Satz: „Wo kann man hier gegen Ausländer unter-
schreiben?“ Sie bleiben bei der Linie von Rüttgers:
„Kinder statt Inder“. Ihr Spruch „Wer betrügt, der fliegt“
ist nicht viel besser. Sie setzen auf Rechtspopulismus.
Die Linke ist dafür, dass Rechtspopulismus entschieden
bekämpft wird, wenn möglich, gemeinsam.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir finden uns nicht damit ab. „Wer betrügt, der
fliegt“: Diese Losung sollten wir ernst nehmen; ich
möchte sie einmal gegen die Banker und gegen die Poli-
tiker aus Ihren Reihen gerichtet sehen, die im Bayeri-
schen Landtag betrogen haben, aber nicht gegen Men-
schen, die in dieses Land kommen, um hier leben zu
können. Das würde Sinn machen.

Danke sehr.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800908800

Danke, Herr Kollege Gehrcke. – Stephan Mayer von

der CDU/CSU-Fraktion hat als Nächster das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1800908900

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die schrecklichen Bilder
von den Schiffskatastrophen vor Lampedusa, die auch
über die Fernsehbildschirme in den deutschen Stuben
liefen, können niemanden kaltlassen, der nur ein biss-
chen Herz hat. Diese Schiffskatastrophen sind schreck-
lich, sie sind erschütternd und sie dürfen uns auch nicht
ruhig lassen: Sie dürfen uns hier im Deutschen Bundes-
tag nicht ruhig lassen, sie dürfen die Bundesregierung
nicht ruhig lassen, sie dürfen aber auch ganz Europa
nicht ruhig lassen. Wir dürfen die Verantwortung nicht
nur Italien, Griechenland oder Malta überlassen. Es ist





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

ein europäisches Thema, die Flüchtlingssituation insge-
samt zu verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen
– da wird der Applaus nicht mehr so groß sein –,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So war es ja wohl gedacht!)


Deutschland wird dieser Verantwortung gerecht. Wir
sind solidarisch.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frau Kollegin Jelpke, es kann nicht sein, dass
man nur aus dem Flieger steigen muss, um in Deutsch-
land Asyl zu bekommen. Kein Land in der Europäischen
Union nimmt so viele Asylbewerber und Flüchtlinge auf
wie Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im letzten Jahr waren es insgesamt 109 000 Flüchtlinge
und Asylbewerber, die einen Erstantrag in Deutschland
gestellt haben.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele werden abgelehnt?)


Das bedeutet allein von 2012 bis 2013 eine Steigerung
um 70 Prozent. Deutschland kann sich, glaube ich, hier
wirklich sehen lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-
tion, mich würde es wirklich freuen, wenn Sie einmal die
Länder stärker in die Verantwortung nehmen würden,
die hier ihren Anteil noch nicht leisten. In Deutschland
kommen zum Beispiel auf 1 Million Einwohner
950 Asylbewerber. In Italien sind es gerade einmal 250.
Die Beschwerde der italienischen Regierung, Italien
werde über Gebühr belastet, ist also vollkommen ver-
fehlt.

Mich wundert auch, dass Sie sich in Ihrem Antrag
nicht über das sogenannte Bossi-Fini-Gesetz echauffie-
ren. Dieses Gesetz, das unter der italienischen Vorgän-
gerregierung beschlossen wurde, sieht vor, dass ein
Fischer, der einem Schiffbrüchigen hilft, sich wegen
Schleppung strafbar macht. Es ist ein unmenschliches
und verfassungswidriges Gesetz, das auch nicht im Ein-
klang mit dem Völkerrecht und der Europäischen Men-
schenrechtskonvention steht. Wo bleibt denn Ihr Appell
an die italienische Regierung oder an das italienische
Abgeordnetenhaus, dieses unsägliche Bossi-Fini-Gesetz
abzuschaffen?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800909000

Herr Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Beck?

Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1800909100

Sehr gerne, selbstverständlich.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800909200

Herr Beck, bitte.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800909300

Vielen Dank, Herr Kollege Mayer. – Ich glaube, wir

sind uns hier im Hause einig, dass wir alle die flücht-
lingsrechtliche Situation in Italien verurteilen. Ich hoffe
zumindest, dass es bei der Linksfraktion auch so ist.


(Zustimmung bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich finde, es ist eigentlich Aufgabe der Bundesregie-
rung, im JI-Rat durch den Bundesinnenminister dafür zu
sorgen, dass die Standards der Genfer Flüchtlingskon-
vention und des europäischen Flüchtlingsrechtes von
allen Mitgliedstaaten eingehalten werden. Da die CSU ja
in der letzten Wahlperiode den Bundesinnenminister ge-
stellt hat, möchte ich gerne von Ihnen wissen: Welche
Initiativen im JI-Rat in Brüssel hat der Bundesinnen-
minister ergriffen, um Länder wie Italien, aber auch
Griechenland anzuhalten, sowohl im Verfahrensrecht als
auch bei der materiellen Versorgung von Flüchtlingen
endlich das Flüchtlingsrecht zu akzeptieren?

Ich habe auf dem Oranienplatz gesehen: Die Leute
kriegen 500 Euro in die Hand, damit sie hierherkommen;
aber sie erhalten keine Versorgung mit Wohnraum und
Nahrung, keinen Lebensunterhalt in Italien. Das ent-
spricht nicht unseren Standards. Wir sind in der EU Ver-
tragspartner der Italiener. Es gibt Möglichkeiten für Ver-
tragsverletzungsverfahren. Die Bundesregierung hat hier
meines Wissens nichts getan. Aber vielleicht können Sie
mich darüber aufklären, was der Bundesinnenminister in
den letzten vier Jahren getan hat, um unsere Standards
durchzusetzen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800909400

Herr Mayer, bitte.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1800909500

Lieber Herr Kollege Beck, ich danke Ihnen sehr herz-

lich für Ihre Frage. Ich muss gestehen: Es entzieht sich
meiner Kenntnis – ich war nie in Sitzungen des JI-Rats –,
ob der vormalige Bundesinnenminister an seinen italie-
nischen Amtskollegen die Botschaft adressiert hat, dass
das Bossi-Fini-Gesetz abzuschaffen ist.

Ich sage nur: Wir debattieren hier im Hohen Haus
heute über einen Antrag der Linksfraktion, der sehr aus-
führlich die Vorstellungen der Linksfraktion zur europäi-
schen Flüchtlingspolitik darstellt. Da vermisse ich ganz
konkret zum Beispiel Forderungen an die italienische
Adresse, die Gesetzeslage in Italien an europäische
Menschenrechtsstandards anzugleichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht: Es muss unser
gemeinsames Interesse sein, dass wir in den 28 Mit-
gliedsländern der Europäischen Union einheitliche
Standards schaffen, was das Asylverfahren und was die





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

Bedingungen in den Asylunterkünften anbelangt. Nur
wundert es mich wieder, dass die Linksfraktion bean-
tragt, dass der Asylbewerber sich aussuchen kann, in
welchem Mitgliedsland er seinen Asylantrag stellt.
Liebe Frau Kollegin Jelpke, ich billige Ihnen ja zu, dass
Sie sich auch vor Ort kundig machen. Wir waren schon
gemeinsam sowohl in Italien als auch in Griechenland
und haben uns dort die Asylunterkünfte angesehen. Es
ist erschreckend, es ist unmenschlich, es ist teilweise ei-
nes modernen westlichen Landes nicht würdig, wie dort
Asylbewerber und Flüchtlinge untergebracht werden.
Nur, was wäre die Folge, wenn Ihr Vorschlag greifen
würde, dass sich ein Asylbewerber oder Flüchtling aus-
suchen kann, in welches Land er kommt? Der Anreiz für
Griechenland und Italien, sich an europäische Standards
anzugleichen und endlich einmal für ordentliche huma-
nitäre Bedingungen zu sorgen, wäre noch geringer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800909600

Herr Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Petzold?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1800909700

Sehr gern, selbstverständlich.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800909800

Danke schön. – Herr Petzold, bitte.


Harald Petzold (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800909900

Herr Kollege Mayer, wären Sie denn bereit, hier im

Deutschen Bundestag gemeinsam einen solchen Aufruf
an das italienische Parlament zu richten? Die Initiative
würden wir sofort ergreifen, wenn die Union dabei mit-
machen würde. Können Sie sich vorstellen, dass Ihre
Fraktion dabei wäre?


(Beifall bei der LINKEN)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1800910000

Lieber Herr Kollege Petzold, ich hätte überhaupt kein

Problem mit einem derartigen Aufruf.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, an die LINKE gewandt]: Ja, dann los!)


Sie versuchen immer, uns, insbesondere der CSU, zu un-
terstellen, also zu insinuieren, wir würden hier Rechts-
populismus fördern. Überhaupt nicht! Das Gegenteil ist
der Fall. Ich bin der festen Überzeugung, dass es genau
unsere Aufgabe ist, die italienischen Kollegen in der Ca-
mera dei deputati an ihre Verantwortung zu erinnern,
dass sie das genannte Gesetz endlich abschaffen.


(Beifall der Abg. Rüdiger Veit [SPD] und Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, nun
aber noch einmal zum Beitrag Deutschlands, insbeson-
dere was die aus meiner Sicht größte humanitäre Kata-
strophe anbelangt, die sich derzeit in unserer Nähe, in
Syrien, abspielt. Es sind derzeit knapp 3 Millionen syri-
sche Bürger auf der Flucht; es sind zum Teil Binnen-
flüchtlinge, und zum Teil sind die Flüchtlinge sogar au-
ßerhalb des Landes. Hier muss uns eines bewusst sein:
Wir können nicht alle Probleme, die in Syrien bestehen,
in Deutschland lösen. Aber auch hier zeigt sich Deutsch-
land vorbildlich. Wir haben seit 2011 insgesamt über
26 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Kein Land in
der Europäischen Union hat so viele syrische Flüchtlinge
aufgenommen wie Deutschland. Schweden und Deutsch-
land allein haben über 60 Prozent aller syrischen Flücht-
linge aufgenommen. Wo bleibt der Beitrag der anderen
Länder?, das ist die Frage.

Hier vermisse ich wiederum, liebe Frau Kollegin
Jelpke, Ihren Appell an die zuständige EU-Kommissarin
Malmström, endlich einmal eine Konferenz einzuberu-
fen, um zu erreichen, dass sich wirklich alle europäi-
schen Länder an ihre Verantwortung gebunden fühlen.
Es kann nicht sein, dass nur Deutschland in Vorleistung
geht; die anderen Mitgliedsländer sollten sich einmal ein
Beispiel an uns nehmen und auch entsprechende Kontin-
gente für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge zur Verfü-
gung stellen. Wohlgemerkt: Noch kein einziger syrischer
Flüchtling, der Aufnahme in Deutschland begehrt hat, ist
abgelehnt worden. Auch hier, glaube ich, kann sich
Deutschland wirklich sehen lassen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800910100

Herr Mayer, die Kollegen sind neugierig. Erlauben

Sie noch eine Zwischenfrage, jetzt vom Kollegen
Gehrcke?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1800910200

Ja, selbstverständlich.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wo Sie schon gemeinsame Anträge schreiben! – Heiterkeit)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800910300

Danke.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800910400

Ich weiß, dass ich durch meine Frage Ihre Redezeit

verlängere; aber eine Antwort kann ja aufklärend sein. –
Ich bin froh, dass die Bundesregierung sich mittlerweile
entschlossen hat, 10 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Es
sind aber erst 2 500 ins Land gekommen. Der Prozess
dauert unendlich lange. Ich habe syrischen Flüchtlingen
im Libanon geholfen, nach Deutschland zu kommen,
mithilfe des Auswärtigen Amtes. Ich bitte Sie, die Maß-
stäbe richtig zu sehen. Der Libanon hat 4,5 Millionen
Einwohner, und dort sind 1 Million Flüchtlinge.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800910500

Es sind mehr.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800910600

Wenn es mehr sind, nehme ich die Korrektur durch

die Präsidentin natürlich entgegen. – Nach meiner
Kenntnis sind es 1 Million Flüchtlinge, und das bei
4,5 Millionen Einwohnern. Können Sie sich vorstellen,





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

was in Deutschland los wäre, wenn man ähnliche Maß-
stäbe anlegen würde? Ich will das ja gar nicht; aber ich
bin gegen die Selbstgerechtigkeit, angesichts dieser Ka-
tastrophe zu sagen, wir seien besser als andere. Dafür
schäme ich mich. Ich möchte, dass wir Druck auf die an-
deren ausüben und selber vorangehen, indem unser Land
sich vor der Genfer Friedenskonferenz endlich mehr für
syrische Flüchtlinge öffnet.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800910700

Das war jetzt eine verschlüsselte Frage, Herr Mayer.

Sie können gerne darauf antworten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Er übersetzt das bestimmt richtig!)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1800910800

Lieber Herr Kollege Gehrcke, ich habe nur darge-

stellt, wie die Leistung und der Beitrag Deutschlands
derzeit aussehen. Ich möchte beileibe nicht den Eindruck
erwecken, dass wir selbstgerecht sein dürften; ganz im
Gegenteil. Es ist ein kleiner Teil, den Deutschland hier
leistet; aber ich glaube, dieser kann sich durchaus sehen
lassen. Ich würde mir wirklich wünschen, dass sich an-
dere Länder zumindest einmal auf das Niveau begäben,
das wir in Deutschland haben.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das fordern wir auch!)


Sie haben natürlich vollkommen recht: Es steht in
keinem Verhältnis zu dem, was sich derzeit in den Anrai-
nerstaaten Syriens, insbesondere im Libanon und in Jor-
danien, aber auch in der Türkei, abspielt. Frau Kollegin
Jelpke, wir waren ja gemeinsam an der syrisch-türki-
schen Grenze. Auch die Türken haben mittlerweile weit
über 500 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Es
würde mich freuen, wenn Sie dazu in Ihrem Antrag ein-
mal einen Dank formulierten: an Jordanien, an die Tür-
kei, an den Libanon.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das machen wir dann gemeinsam!)


Denn die Leistungen – Sie haben es richtigerweise er-
wähnt –, die in diesen Ländern erbracht werden, sind
wirklich bemerkenswert.

Aber auch hier leistet Deutschland seinen Beitrag.
Zur Stunde sind 15 deutsche THW-Helfer in Jordanien
in einem Flüchtlingslager im Einsatz. Wir werden jetzt
gemeinsam mit dem THW ein neues Flüchtlingslager im
Nordirak aufbauen. Das heißt, Deutschland nimmt nicht
nur syrische Flüchtlinge auf, sondern wir bringen uns
auch in starkem Maße bei der Verbesserung der Situation
vor Ort ein. Nach den USA ist Deutschland der zweit-
größte Geldgeber, was die humanitäre Hilfe für Syrien
anbelangt.

Ich möchte, wie gesagt, lieber Herr Kollege Gehrcke,
beileibe nicht selbstgerecht, überheblich oder arrogant
wirken; aber was Deutschland sowohl im Inland als auch
im Ausland leistet, kann sich sehen lassen.

(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Da klatschen ja nicht mal die eigenen Leute!)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
haben uns mit weiteren Vorschlägen der Linksfraktion
auseinanderzusetzen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich
halte es wirklich für verantwortungslos und zynisch,
wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, Frontex und EURO-
SUR abzuschaffen. Allein durch Frontex-Beamte sind in
den letzten zwei Jahren über 40 000 Flüchtlinge in See-
not gerettet worden. Seit dem 3. Oktober letzten Jahres,
also dem Tag der großen Schiffskatastrophe vor Lam-
pedusa, haben Frontex-Beamte über 16 000 Flüchtlinge
in Seenot gerettet. Frontex ist kein Abschottungsinstru-
ment, sondern in vielen Bereichen ein Hilfsinstrument.
Gleiches trifft auf EUROSUR zu. EUROSUR ist ein
Grenzüberwachungssystem, das dazu beitragen soll,
dass Schiffbrüchige schneller gefunden, schneller detek-
tiert werden. Deshalb würde ich es für fatal halten, wenn
man EUROSUR und Frontex abschaffen würde.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
sollten uns aber auch dem zentralen Thema in dieser
Frage zuwenden: Was muss unternommen werden, um
die Fluchtursachen zu bekämpfen? Auch hier ist die Eu-
ropäische Union schon tätig. Aber nichts ist so gut, dass
man es nicht noch verbessern oder erweitern könnte. Es
gibt Informationskampagnen, regionale Schutzpro-
gramme, Mobilitätspartnerschaften, aber auch Rück-
kehrprogramme.

Ich denke, dass es ganz entscheidend darauf an-
kommt, die Fluchtursachen und insbesondere die
schreckliche Schleuserkriminalität und den Menschen-
handel zu bekämpfen. Dass der Bootsführer – ich
möchte ihn gar nicht Kapitän nennen – des Schiffes, das
am 3. Oktober letzten Jahres vor Lampedusa unterge-
gangen ist, für seine „Dienstleistung“ – in Anführungs-
zeichen – 500 000 Dollar bekommen hat, ist wirklich er-
schreckend und zeigt deutlich auf, um was es hier
konkret geht, nämlich um organisierte Kriminalität.

Es geht um organisierten Menschenhandel. Leidtra-
gende sind die Flüchtlinge, die 2 000 oder 3 000 Dollar
berappen müssen; die ganze Familie muss sparen, um es
zu ermöglichen, dass ein Familienmitglied den Weg an-
tritt. Wir müssen auch in Zusammenarbeit mit den Her-
kunftsländern stärker gegen dieses organisierte Verbre-
chen, gegen diesen Menschenhandel vorgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Aufkündigung von Dublin II bzw. Dublin III
wäre ebenfalls verantwortungslos und stünde deutschen
Interessen diametral entgegen.

Ich sage zum Abschluss: Es ist richtig und gut, dass
wir uns hier mit diesem wichtigen Thema auseinander-
setzen. Nur sind die Vorschläge, die Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Linksfraktion, unterbreiten, in
keiner Weise zielführend und in vielen Bereichen sogar
diametral gegen deutsche Interessen gerichtet.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800910900

Vielen Dank, Herr Kollege Mayer. – Der nächste

Redner ist Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800911000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Nach der Katastrophe von Lampedusa war es
für jeden offensichtlich – das hat auch jede Rednerin und
jeder Redner heute gesagt –, dass etwas passieren muss,
und zwar eine organisierte europäische Antwort. Denn
es geht hier um die europäische Außengrenze. Man kann
die Freizügigkeit immer wieder preisen – das ist eine
gute Sache –; aber dadurch werden die Außengrenzen
der Europäischen Union definiert. Das, was an diesen
Außengrenzen passiert, liegt in europäischer Verantwor-
tung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb hatte man eine organisierte europäische Ant-
wort erwartet. Das, was herausgekommen ist, ist aber
eine organisierte Verantwortungslosigkeit der einzelnen
Länder, vor allem Deutschlands.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Denn das Land, das von Dublin II am meisten profitiert,
ist Deutschland.

Mein Vorredner hat eben gesagt, man müsse auch die
deutschen Interessen berücksichtigen. Ja, ja, das Inte-
resse des Innenministers war nicht ein europäisches Inte-
resse an einem geordneten Asylverfahren, an Mensch-
lichkeit an den europäischen Grenzen, sondern das
Interesse an einer Abschottung Deutschlands.

Wenn Italien die Europäische Union auffordert, zu
helfen, wenn Griechenland die Europäische Union auf-
fordert, zu helfen, dann geht es da nicht primär um die
Anzahl aufzunehmender Asylbewerber, sondern um das
Verfahren. Die Katastrophe ist doch das Asylverfahren,
also die Zeit, bis den Betroffenen überhaupt eine Ent-
scheidung vorliegt. Da fehlt es in Griechenland und in
Italien in hohem Maße.

Jetzt wird in den Antworten – das kam auch in Ihrer
Rede vor, Herr Mayer – immer wieder auf die Schlep-
perkriminalität verwiesen; da müsse man etwas machen.
Aber das hilft den Flüchtlingen selbst gar nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das hat nichts mit den Fluchtursachen zu tun!)


Das eigentliche Problem ist, dass es keine europäische
Agentur zum Schutz der Flüchtlinge gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es gibt lediglich eine Agentur zum Schutz und zur Über-
wachung der Grenzen.
Was wird jetzt gemacht? Die Grenzen werden weiter
nach außen verschoben, immer weiter in die – wie Sie
sagen – Herkunftsländer. In Wirklichkeit sind es Transit-
länder; denn diejenigen, die auf dem Weg nach Lam-
pedusa scheitern oder dort ankommen, sind nicht Libyer
oder Tunesier, sondern Eritreer, Somalier, Syrer oder so-
gar Afghanen. Die Länder werden in windigen Abkom-
men dazu aufgefordert, ihrerseits das Nötige zu tun, um
eine Flucht nach Europa zu verhindern. Wie es dann je-
nen geht, die schon in Libyen Flüchtlinge sind, darum
kümmert sich die EU nicht. Das läge aber in ihrer Ver-
antwortung.

Ich glaube, dass die „Mobilitätspartnerschaft“, das
Mittel der Wahl der Europäischen Kommission – im Mi-
grationsbericht kam es nicht so recht vor –, das Potenzial
zum Unwort des Jahres 2014 hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Denn das, was eigentlich gemacht wird, ist eine organi-
sierte Verantwortungslosigkeit der Europäischen Union,
die sagt: Wir nicht! Mit denen haben wir nichts zu tun.
Macht ihr das!

Was die einzelnen Länder machen, das sieht man ja.
Die damals mit Gaddafi geschlossene Partnerschaft zwi-
schen Italien und Libyen wird gegenwärtig fortgesetzt.
In Libyen gibt es keinerlei Gesetzgebung zum Schutz
von Asylbewerbern.

Die Vereinbarung über die Rückübernahme von
Flüchtlingen aus Drittstaaten, über die mit der Türkei
verhandelt wird, ist ebenfalls sehr zweifelhaft. Denn
auch in der Türkei gibt es keine entsprechende Gesetzge-
bung zum Schutz von Flüchtlingen. Noch vor zwei Jah-
ren haben die Türken Flüchtlinge aus dem Iran in den
Iran zurückgeschoben. Wollen wir das? Wollen wir wei-
ter dafür verantwortlich sein? Ich glaube, nein.

Im Koalitionsvertrag steht richtigerweise: Am Non-
Refoulement halten wir fest. – Davon dürfen wir nicht
abrücken, auch nicht auf dem Weg durch die Hintertür,
über Mobilitätspartnerschaften mit Marokko, Moldau,
Georgien, Armenien, Libyen, Ägypten, Algerien, Liba-
non, mit all den Ländern, mit denen das ausgehandelt
wird. Denn gerade diese Länder schützen Flüchtlinge
nicht vor massiver Diskriminierung. Das gilt übrigens
auch für den Kosovo. In Tunesien werden die Flücht-
linge sogar in die Wüste getrieben. Das ist kein Schutz
für die Flüchtlinge, sondern das ist eine Kampagne ge-
gen die Flüchtlinge. Das zeigt, dass man aus Lampedusa,
dieser offenen Wunde der europäischen Verantwortung,
keine Konsequenzen gezogen hat. Das ist vielmehr orga-
nisierte Verantwortungslosigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800911100

Vielen Dank, Tom Koenigs. – Die nächste Rednerin

in der Debatte ist Sabine Bätzing-Lichtenthäler.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Sabine Bätzing (SPD):
Rede ID: ID1800911200

Herzlichen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich liebe meine Hei-
mat. Das ist kein Wahlkampfslogan. Das ist eine Fest-
stellung. Meine Heimat ist das, was mich geprägt hat,
die Region, in der ich aufgewachsen bin, in der meine
Familie verwurzelt ist. Sosehr ich meine Arbeit im Bun-
destag und auch die Zusammenarbeit mit Ihnen allen
schätze, so freue ich mich doch jedes Mal, wenn ich
nach einer Sitzungswoche die mir vertraute Landschaft
des Westerwaldes, meiner Heimat, wiedersehe. Ohne
meine Heimat, ohne diesen Ort, an den ich zurückkehren
kann, würde mir etwas fehlen. So unterschiedlich wir,
die wir hier zusammensitzen, auch sind, ich bin mir si-
cher: Es geht Ihnen allen ähnlich.

Dostojewski hat gesagt, dass ohne Heimat zu sein, zu
leiden hieße. Dem kann ich mich nur anschließen. Ich
frage mich: Wie verzweifelt muss man also sein, um sei-
ner Heimat den Rücken zu kehren? Wie brutal muss die
eigene Existenz über den Haufen geworfen werden, da-
mit man die eigenen Wurzeln zurücklässt? Wie groß
muss die Angst sein, wenn man das eigene Leben ris-
kiert, um von dem Ort wegzukommen, an dem man das
Leben begonnen hat?

Was in den Menschen vorgeht, die ihre Heimat ver-
lassen müssen, die fliehen müssen, können wir uns hier
vermutlich intellektuell erschließen. Wir können auch
die rationale Entscheidung, das eigene Leben schützen
zu wollen, verstehen. Wir können akzeptieren, dass
Menschen in anderen Ländern ein besseres Leben su-
chen. Auf dieser rationalen Ebene ist es für uns leicht,
über Menschen und ihre Motivation zu diskutieren. Aber
ich bezweifle, dass wir auf emotionaler und psychologi-
scher Ebene verstehen, was in Menschen vorgeht, die
keine andere Wahl haben, als ihr Heimatland zu verlas-
sen, die ihre Familie, ihre Freunde, ihre Stadt, ihre Re-
gion, ihr Land, ihre Kultur, ihr bisheriges Leben zurück-
lassen, weil sie es müssen, die ihre Zukunft
Schleuserbanden, zwielichtigen Gestalten, fragwürdi-
gen Mittelsmännern und gefährlichen Routen anver-
trauen, weil ihnen keine Wahl bleibt.

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir in
der Debatte um Flüchtlinge und Migration nicht verges-
sen. Die Menschen, die ihrer Heimat den Rücken keh-
ren, tun dies nicht aus Langeweile und Abenteuerlust.
Sie tun es aus Not, sie tun es aufgrund von Gefährdung,
und sie tun es aus Mangel an Alternativen. Wenn wir
eine ehrliche Debatte über Flucht und Migration führen
wollen, müssen wir uns dessen bewusst sein. Andern-
falls laufen wir Gefahr, platten Parolen aufzusitzen und
jeden Menschen, der versucht, hier Zuflucht zu finden,
als Bedrohung anzusehen. Das dürfen wir nicht zulassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir dürfen auf der anderen Seite auch rationale Erwä-
gungen nicht außen vor lassen. Daraus folgt ganz ein-
deutig, dass wir einen Kompromiss finden müssen zwi-
schen dem, was wir wollen, und dem, was wir können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie ha-
ben recht, wenn Sie sagen, dass wir mehr tun können, als
wir derzeit tun. Unsere SPD-Fraktion hat wiederholt
eine Flüchtlingspolitik gefordert, die Würde und Sicher-
heit der Flüchtenden in den Mittelpunkt rückt. Dies ha-
ben wir als Arbeitsauftrag in den Koalitionsvertrag ge-
schrieben. Wir werden mit aller Kraft dafür arbeiten,
dass dies konkret Umsetzung findet. Wir wollen mehr
Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union hinsichtlich der Aufnahme und Verteilung
von Flüchtlingen. Die Mittelmeeranrainer fühlen sich
schließlich nicht zu Unrecht alleingelassen mit dem Pro-
blem, Tausende Flüchtlinge, die an ihren Küsten anlan-
den, zu versorgen. Eine bessere Verteilung, ein Mehr an
Solidarität unter den Mitgliedstaaten ist dringend nötig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Wenn man ein Ranking der EU-Mitgliedstaaten er-
stellen würde, das das Verhältnis von Einwohnern zu
aufgenommenen Flüchtlingen aufzeigt – mich hat die
eine oder andere Zahl, die ich hier heute Vormittag ge-
hört habe, durchaus gewundert –, käme die Bundesrepu-
blik auf einen bescheidenden achten Platz. Da ist noch
Luft nach oben. Griechenland ist mittlerweile ein Bei-
spiel für das absolut gegenteilige Extrem. Eine Kollegin
hat es vorhin schon erwähnt: Jeder zehnte Mensch dort
ist Flüchtling, und das in einem Land, das sich ohnehin
in einer prekären Lage befindet. Da können wir uns doch
nicht auf unserem Wohlstand und unserer vielleicht
günstigeren geografischen Lage ausruhen.

Unsere SPD-Innenminister fordern schon lange, in
diesem Bereich wirklich etwas voranzubringen. Mit der
Übernahme der Regierungsverantwortung auf Bundes-
ebene sind wir jetzt in der Lage, mehr zu tun. Denn die
europäische Flüchtlingspolitik ist wahrlich kein Feld,
das uns bisher mit Stolz erfüllt. Alle Rednerinnen und
Redner vor mir haben das tragische Unglück vom Okto-
ber letzten Jahres angesprochen. Es hat der europäischen
Öffentlichkeit auf dramatische Weise vor Augen geführt,
wie groß die Problematik von über den Seeweg flüchten-
den Menschen wirklich ist. Auch das ist ein Hinweis,
wie verzweifelt diese Menschen sind. Sie wissen, dass
sie sich in Lebensgefahr begeben, wenn sie in überfüll-
ten Booten in See stechen.

Im vorliegenden Antrag fordern die Kolleginnen und
Kollegen der Linken, dass die Seenotrettung nicht durch
Straf- und Sanktionsandrohungen behindert wird. In die-
sem Punkt herrscht hier sicherlich Einigkeit; denn dieses
Mindestmaß an Mitmenschlichkeit darf nicht durch ver-
meintliche politische Vorgaben kompromittiert werden.
Daher werden wir auch diesem Punkt, der sich an ent-
sprechender Stelle im Koalitionsvertrag wiederfindet,
Nachdruck verleihen und ihn umsetzen. Wir werden uns
dafür einsetzen, dass niemand mehr zurück ins Meer ge-
trieben oder in Seenot seinem Schicksal überlassen wird.
Das ist das Minimum, und das sind wir nicht nur den Be-
troffenen, den Flüchtlingen, schuldig, sondern auch uns
selbst.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Sabine Bätzing-Lichtenthäler


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
schreiben in dem vorliegenden Antrag ganz richtig, dass
auch Fluchtursachen beseitigt werden müssen. Auch
dies ist nachvollziehbar. Durch eine bessere Abstim-
mung zwischen den verschiedenen Ressorts auf nationa-
ler und europäischer Ebene lassen sich langfristig
voraussichtlich einige Ursachen für unfreiwillige Migra-
tion ausräumen. Auch dies haben wir im Koalitionsver-
trag vereinbart. Ich lade Sie alle ein: Lassen Sie uns ge-
meinsam daran arbeiten, diese Missstände wirklich zu
beseitigen. Zeigen wir auch hier gemeinsam Solidarität.

Der Antrag der Linken ist in einem Punkt für uns so
nicht zustimmungsfähig; auch das wurde schon mehr-
fach angesprochen. Es geht um die recht pauschale For-
derung, Frontex aufzulösen. Sie fordern sehr pauschal
die Auflösung von Frontex, ohne eine Alternative aufzu-
zeigen, wie eine gemeinsame europäische Grenzsiche-
rung aussehen könnte. Frontex ist der Öffentlichkeit vor
allem durch die Grenzschutzfunktion und die Rückfüh-
rung von Flüchtlingen bekannt. Allerdings wird durch
Frontex auch die Ausbildung von Grenzschutzbeamten
in den Mitgliedstaaten unterstützt; zudem werden Stan-
dards der Ausbildung festgelegt. Mit anderen Worten:
Wenn uns daran gelegen ist, die Behandlung von Flücht-
lingen an Europas Grenzen einheitlich zu gestalten und
vor allem zu verbessern, dann wäre Frontex hier viel-
leicht sogar ein guter Ansatzpunkt. Dies soll uns natür-
lich nicht davon abhalten, die Arbeit kritisch zu beglei-
ten.

Auch beim Thema der freien Wahl des Landes, in
dem ein Asylantrag gestellt wird, sind wir anderer Mei-
nung als Sie. Nicht dass Sie uns missverstehen: Dublin II
und III sind nicht perfekt – das ist bei Kompromissen ja
meistens so –, und es gibt Veränderungsbedarf; auch das
haben wir hier gehört. Aber durch die Verordnungen
wurde zumindest erreicht, dass sich die Mitgliedstaaten
kein Race to the Bottom liefern, um sich als möglichst
wenig attraktiv für Flüchtlinge darzustellen.

Im vergangenen Jahr fuhren durch Großbritanniens
Straßen Lkw, beklebt mit Plakaten, die illegale Einwan-
derer zur Heimreise aufforderten. Diese waren nicht
etwa Wahlkampfflaggschiffe rechtsextremer Parteien,
sondern sie waren Teil einer offiziellen Kampagne der
Regierung, um die Zahl unerwünschter Einwanderer zu
reduzieren. So unglaublich uns diese Aktion vorkommen
mag: Solche Aktionen werden nicht weniger werden,
wenn bei der Verteilung von Flüchtlingen keine Koordi-
nierung auf europäischer Ebene erfolgt. Von daher sehen
wir die Forderung nach einer freien Wahl des Landes, in
dem ein Asylantrag gestellt wird, eher skeptisch.

Sie sehen: In vielen Punkten liegen unsere und Ihre
Positionen gar nicht so weit auseinander. Es gibt aber
auch Punkte, über die wir in den anstehenden Antragsbe-
ratungen sicher noch einmal eingehend miteinander dis-
kutieren müssen.

Erlauben Sie mir zum Abschluss meiner Rede, auf
den Begriff der Heimat zurückzukommen. Ich möchte
den Schriftsteller Robert Lee Frost zitieren. Frost sagte
einmal, dass die Heimat der Ort sei, „wo sie einen he-
reinlassen müssen, wenn man wiederkommt“. Von daher
sollten wir uns während der Debatte um die Flüchtlings-
politik immer vor Augen führen, dass die Menschen, um
die es geht, nicht freiwillig zu uns gekommen sind. Und
wahrscheinlich haben sie die Hoffnung auf ihre Heimat
nicht aufgegeben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800911300

Vielen Dank, Kollegin Bätzing-Lichtenthäler. – Der

nächste Redner ist Marian Wendt für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marian Wendt (CDU):
Rede ID: ID1800911400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren Kollegen! Wir führen heute eine De-
batte zu einem Thema, das in den Medien und in der Öf-
fentlichkeit in den letzten Wochen sehr emotional disku-
tiert wurde. Gerade als Volkspartei nehmen wir die
Stimmung der Bürgerinnen und Bürger von allen Seiten
immer wieder sehr ernst. Aber wir erleben auch, dass mit
falschen Fakten und Argumenten bestimmte Ansichten
in der Bevölkerung zum Thema Asyl und Flüchtlinge
bewusst geschürt werden. Daher rate ich zu einer Ver-
sachlichung und Differenzierung der Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gehen Sie mal auf den nächsten CSU-Parteitag!)


Leider leistet der uns vorliegende Antrag der Linken
hierzu keinen Beitrag. Die Linken werfen wie so oft mit
falschen Pauschalurteilen um sich. Da ist zum Beispiel
von einer Abschottungspolitik der Europäischen Union
die Rede.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt aber auch pauschal! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja ungeheuerlich!)


Dabei haben rund 340 000 Menschen im Jahr 2012 und
390 000 Menschen im Jahr 2013 in der EU einen Asyl-
antrag gestellt.

Weiterhin wird vorgeworfen, die europäische Grenz-
schutzagentur verhalte sich menschenrechtswidrig. Da-
bei verdanken wir gerade der Grenzschutzagentur Fron-
tex und der italienischen Küstenwache, dass allein vom
3. Oktober 2013, dem Tag der bedauerlichen und
schrecklichen Tragödie von Lampedusa, bis zum 8. Ja-
nuar dieses Jahres 17 000 Personen aus Seenot gerettet
wurden; jawohl, gerettet. Die Widerlegung falscher Tat-
sachenbehauptungen könnte ich hier noch fortführen;
doch vieles wurde bereits von meinen Vorrednern aufge-
griffen.

Ich möchte mich in meiner Rede auf drei wesentliche
Punkte konzentrieren: erstens die Ursache für Flucht und
Migration, zweitens die Maßnahmen der Bundesregie-





Marian Wendt


(A) (C)



(D)(B)

rung und der Europäischen Union sowie drittens den
Umgang mit Asylbewerbern vor Ort in unserem Land.

Erstens. Wir alle wissen, dass sich die Situation in den
Krisenherden um Europa herum in den vergangenen Jah-
ren leider nicht verbessert hat. In diesen Ländern ent-
scheiden sich die Menschen zumeist aus politischen
Gründen zur Ausreise nach Europa. Nicht weniger maß-
gebend sind wirtschaftliche und soziale Gründe für
Flucht und Migration. Armut, Hunger, Perspektivlosig-
keit und fehlende Existenzgrundlagen im Heimatland
sind nur einige der Ursachen, die Menschen den schwie-
rigen Weg aus ihrer Heimat antreten lassen. Deswegen
müssen wir dafür sorgen und uns engagieren, dass wir
diese Regionen um Europa herum stabilisieren – nicht
mit Waffen, sondern mit Diplomatie, Gesprächen und
Hilfsangeboten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


Zweitens. Was wurde in Deutschland und in der Euro-
päischen Union im Bereich Migration und Flüchtlinge
bereits unternommen? Wir sind nicht tatenlos geblieben.
Grundsätzlich wird Deutschland seinen historischen und
humanitären Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen
gerecht. Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland ist
2013 im Vergleich zum Vorjahr um 64 Prozent angestie-
gen. Im Jahr 2012 hatte unser Land rund 23 Prozent, also
knapp ein Viertel, der in der EU registrierten Asylan-
träge zu bewältigen. Das ist deutlich mehr als Deutsch-
lands Anteil an der gesamteuropäischen Bevölkerung
von 16 Prozent. Andere Länder wie etwa Spanien haben
nur 0,7 Prozent der Asylbewerberanträge angenommen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele werden denn anerkannt, Herr Kollege?)


So viel zu dem, was Deutschland bereits geleistet hat.

Gerade am Beispiel der syrischen Flüchtlinge wird
die Verantwortungsbereitschaft unseres Landes mehr als
deutlich. Im vergangenen Monat hat sich Deutschland
bereit erklärt, insgesamt 10 000 Flüchtlinge allein aus
Syrien aufzunehmen. Neben dieser Zusage für Syrien
legt Deutschland seinen Hilfsschwerpunkt in die Region
selbst. So wurde seit 2012 Unterstützung in Höhe von
432 Millionen Euro in Syrien geleistet. Diese wird für
humanitäre Hilfe, zur Krisenbewältigung und zum Auf-
bau von Strukturen im Land verwendet. Zudem leistet
das Technische Hilfswerk seit Juli 2012 eine sehr ver-
dienstvolle Arbeit in der Region, insbesondere bei der
Trinkwasserversorgung in den Flüchtlingscamps in Jor-
danien und Irak.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


Wir wollen die Ursachen vor Ort bekämpfen, damit die
Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen. Das
muss Ausgangspunkt unserer Arbeit sein.

Ebenso arbeiten wir auf europäischer Ebene sehr eng
mit unseren Partnern daran, das gesamte europäische
Asylsystem zu reformieren. Fünf Punkte seien hier er-
wähnt: eine bessere Zusammenarbeit mit Drittstaaten,
ein verbesserter Flüchtlingsschutz, die Bekämpfung von
Menschenhändlern und Schleusern, eine effizientere
Grenzüberwachung sowie größere Solidarität mit den
EU-Staaten, die unter hohem Migrationsdruck stehen.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schließt sich doch gegenseitig aus!)


Diese Maßnahmen sind nach meiner Ansicht sachdien-
lich und sollten zügig umgesetzt werden. Eine grund-
sätzliche Neuausrichtung der EU-Flüchtlingspolitik, wie
sie gefordert wird, ist fehl am Platz.

Damit komme ich zu meinem dritten und letzten
Punkt: Wie gehen wir mit Asylbewerbern hier in
Deutschland um? Viele unserer Kollegen haben in ihren
Wahlkreisen vor Ort bereits Erfahrungen mit der Unter-
bringung und dem Leben von Asylbewerbern gemacht.
Vor kurzem habe ich persönlich in meinem Wahlkreis
syrische und tschetschenische Flüchtlingsfamilien be-
sucht und kennengelernt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Wir tun gut daran, uns öfter in die Lage dieser Migranten
hineinzuversetzen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen,
ihre Motive zu verstehen. Nicht alle Asylbewerber su-
chen ein bequemes Leben in unserem Land. Viele, wie
die syrischen Flüchtlinge, sind existenziell bedroht.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Keiner dieser Menschen verlässt seine Heimat gern. Das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird mit sei-
nen Entscheidungen diesen Schicksalen gerecht, sodass
die Ablehnungsquoten für Flüchtlinge aus Ländern wie
Afghanistan, Irak und Syrien niedrig sind. So wurden
bereits seit 2011 keine Personen mehr nach Syrien abge-
schoben.

Meine Damen und Herren, wir sollten klar zwischen
den verschiedenen Gruppen und den Ursachen der Mi-
gration unterscheiden. In jedem Fall müssen wir die Mo-
tive der Asylsuchenden den Einwohnern in den Städten
und Gemeinden besser erklären. Denn gute Kommuni-
kation zwischen allen Beteiligten ist sehr wichtig, um
gemeinsam Lösungen für die Asylbewerber vor Ort zu
finden und sie zu integrieren. Gerade für mich als Christ
ist es wichtig, zu betonen, dass alle berechtigt Schutz Su-
chenden in Deutschland willkommen sind. Wir sollten
diese Menschen als Gewinn für unser Land ansehen.
Viele sind bereit, hier zu arbeiten, sich gesellschaftlich
zu engagieren und sich zu integrieren.

Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth,
die ich persönlich sehr schätze, hat hierzu einmal gesagt:

Wir dürfen nicht den Fehler machen, Flüchtlinge
nicht für leistungsfähig zu halten. Wer auf Tausen-
den von Kilometern schreckliche Strapazen über-
wunden hat, besitzt große mentale und körperliche
Stärken.


(Rüdiger Veit [SPD]: Genau!)






Marian Wendt


(A) (C)



(D)(B)

Auf der anderen Seite sollten wir aber den Asyl-
bewerbern, die keinen berechtigten Grund für eine Auf-
nahme in unserem Land haben oder gar nur hierher
kommen, um Zugang zu unseren Sozialsystemen zu be-
kommen, keine falschen Versprechungen machen. Diese
Bewerber, die keine Schutzgründe haben, müssen wir
zügig wieder ausweisen. Deutschland kann schlicht
nicht alle Migranten dieser Welt aufnehmen.

Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich
zusammenfassen: Wir müssen zwischen den Asylbewer-
bern genau differenzieren. Unser Hilfsangebot gilt den
berechtigt Schutz Suchenden. Ihnen sollten wir mit Of-
fenheit, Verständnis und Menschlichkeit begegnen; denn
schon im Neuen Testament, in der Bergpredigt, heißt es:

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt
werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800911500

Vielen herzlichen Dank, Kollege Marian Wendt. –

Nicht nur Ihre Fraktion gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten
sehr engagierten Rede, sondern auch das gesamte Haus.


(Beifall)


Wir wünschen Ihnen eine erfolgreiche Arbeit in Ihrer
neuen Funktion.

Als Nächster hat Rüdiger Veit für die SPD das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1800911600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Kollegen! Von der Bibel über Papst Franziskus
bis hin zu weiten Teilen hier im Haus herrscht Einigkeit:
Aus Gründen der Wahrung der Menschenrechte besteht
Handlungsbedarf. Warum wir mit der Fraktion der
Linkspartei nicht ganz einig sind, haben meine beiden
Kolleginnen Christina Kampmann und Sabine Bätzing-
Lichtenthäler bereits überzeugend dargelegt. Ich will nur
zwei, drei Punkte vertiefen und mit ein paar nüchternen
Zahlen einen weiteren Beitrag zu der heute im Übrigen
dankenswerterweise weitgehend sachlich verlaufenden
Debatte leisten.

Ich muss zwei Vorbemerkungen machen. Die erste
Vorbemerkung betrifft das Schleuserunwesen. Es ist
selbstverständlich, dass diese kriminellen Machenschaf-
ten zulasten von Leib und Leben der Flüchtlinge von uns
allen massiv verurteilt werden und wir bestrebt sein
müssen, solche Machenschaften überall zu bekämpfen.
Wir müssen aber auch den Zusammenhang erkennen: Je
besser, „effektiver“ – in Anführungszeichen – Europa
sich abschottet, je wirksamer die Grenzkontrollen wer-
den, je mühsamer die Wege werden und je gefährlicher
es wird, von Drittstaaten aus nach Europa zu gelangen,
desto mehr befördern wir die Konjunktur der Schleuser
und Menschenhändler.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das – das müsste jedem einleuchten – macht die Sache
so kompliziert.

Der Kollege Wendt hat in seinem Beitrag gerade von
der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit von Flücht-
lingen geredet: Derjenige, der sich – etwa durch die
Wüste – auf den Weg macht, um überhaupt ans Mittel-
meer zu kommen, wird das nicht mit Flip-Flops und
einer Flasche Mineralwasser schaffen. Über das Mittel-
meer kommt man auch nicht allein, allenfalls vielleicht
noch über den Fluss Evros, wenn dieser nicht allzu hoch
Wasser führt. Jemand, der diese Hindernisse überwinden
will, braucht Hilfe, braucht Organisation, braucht Back-
ground; ohne geht es nicht. Das müssen wir erkennen,
und wir müssen versuchen, darauf eine differenzierte
Antwort zu finden.

Die zweite Vorbemerkung, die ich machen muss: Ich
teile nicht die allgemeine Verteuflung der Grenzschutz-
agentur Frontex. Wir haben auf Reisen des Innenaus-
schusses des Deutschen Bundestages – sowohl nach
Lampedusa, 2006, Griechenland/Athen, 2009, Libyen
und Malta, 2010, Griechenland erneut, September 2011
und zuletzt im Mai 2013 – das eine oder andere Beispiel
segensreichen Wirkens von Frontex erlebt, und darauf
will ich hinweisen. Jedes Mal, glaube ich, waren die
Kollegin Ulla Jelpke und ich gemeinsam unterwegs. Bei
den drei Reisen nach Griechenland war auch der Kolle-
gen, Stephan Mayer dabei. Von der vorletzten Reise will
ich einmal das folgende Erlebnis schildern: Wir haben
gehört – von Betroffenen auf griechischer Seite, auf tür-
kischer Seite und von Menschenrechtsorganisationen –,
dass der Beitrag deutscher Bundespolizisten an der
Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland, im
Evrosgebiet, durchaus segensreich, deeskalierend und
im Sinne der betroffenen Menschen gewirkt hat. Das hat
man uns vor Ort gesagt und näher geschildert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Daran sollten wir bitte nicht zweifeln.

Wir haben übrigens auch gehört, dass die deutschen
Bundespolizisten – auch das ist anerkennenswert – an-
gesichts der katastrophalen, menschenunwürdigen Be-
dingungen in Flüchtlingsunterkünften – besser gesagt:
Gefängnissen oder Schuppen, die zu Gefängnissen um-
gebaut waren – in Tychero oder in Fylakio nicht einmal
mehr eine optische Verbindung hergestellt wissen woll-
ten zwischen deutschen Polizeiuniformen und griechi-
schen Aufnahmebedingungen.

Als wir im Hafen von Lampedusa waren, hatte ich
den leichtsinnigen Einfall, wenigstens ein Schiff der
Küstenwache zu besichtigen – mit der Konsequenz, dass
wir dann alle sieben, die da lagen, aufsuchen mussten
und die Zeit nicht reichte. Wir haben dort gesehen – auch
anhand von Videoaufnahmen –, dass die Schiffe in der
Tat bis Windstärke 7 rausfahren, um aktiv Seenotrettung
zu betreiben; davon konnten wir uns überzeugen.





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben auf Malta die quasi unbenutzten – damals
unbenutzten – neuen Boote der maltesischen Küstenwa-
che gesehen, die extra dafür ausgelegt sind, hinten auf
dem Achterdeck eine große Zahl Menschen und Flücht-
linge aufzunehmen.

Man muss das alles also sehr differenziert sehen, da
gibt es Licht und Schatten. Ich bin froh, dass wir im
Koalitionsvertrag vereinbart haben, hinsichtlich der Be-
trachtung der Aktivität von Frontex die menschenrechtli-
che Komponente in den Vordergrund zu stellen.

Das waren angesichts des Rests meiner Redezeit viel
zu lange Vorbemerkungen. Ich will trotzdem noch zwei
Punkte besonders aufgreifen:

Ich kam vorhin gerade noch rechtzeitig herein, um zu
hören, wie der Kollege Gauweiler als letzter Redner der
Debatte weniger europäische, zentrale Zuständigkeit und
dafür mehr nationale Zuständigkeit gefordert hat. Ich
muss Ihnen ehrlicherweise sagen: Wenn es um Flücht-
lingspolitik geht, sollten wir alle gemeinsam bestrebt
sein, in die Gegenrichtung unterwegs zu sein.

Seit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi-
schen Union, seit den Beschlüssen von Den Haag und
Stockholm wird immer wieder gesagt, wir bräuchten
eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik. Jetzt hat
man vereinbart, ab Mitte 2015 mit einem neuen Projekt
zur gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik – das
deutsche Kürzel ist GEAS – voranzugehen.

Seit ich dem Deutschen Bundestag angehöre, versu-
che ich aufmerksam die Passagen zur Flüchtlingspolitik
in den Berichten der JI-Räte zu lesen. Aber was erleben
wir? Was muss man jedes Mal sehen? Wer richtig zuge-
hört hat, hat das schon vernommen: Jedes Mal seit 1998,
wenn die Europäische Kommission eine Fortschreibung
in menschenrechtlich vernünftiger Weise anstrebt – in
der Regel unterstützt vom Europäischen Parlament –,
sind es die Mitgliedstaaten und ihre Minister, die versu-
chen, das zu verwässern, herunterzudrücken und herun-
terzuschrauben.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Minister denn?)


– Ich sage Ihnen, welche Minister. In fast jedem Proto-
koll bzw. in den Vor- und Nachberichten dieser JI-Räte
findet sich der Hinweis, dass es deutsche Innenminister
sind, die in dieser Weise tätig werden. So haben wir erle-
ben müssen, dass die Vorschläge zur Änderung der Qua-
lifikationsrichtlinie, der Verfahrensrichtlinie und der
Aufnahmerichtlinie, die die Kommission vorgelegt hat,
jedes Mal verwässert worden sind. Das war mit Frontex
und mit Dublin genauso.

Jetzt haben wir anhand der Zahlen folgende Situation,
die man sich einmal vor Augen führen muss: Wir haben
eine regelrechte „Schutzlotterie“, wie es Pro Asyl zu
Recht nennt; denn je nachdem, wo in Europa Flüchtlinge
ins Verfahren geraten, haben sie – gemessen an den An-
erkennungsraten – entweder hohe, höchste oder ganz
schlechte Anerkennungschancen. Das würde ich Ihnen
gerne anhand einer Statistik verdeutlichen, die im Zu-
sammenhang mit Arbeiten des Sachverständigenrates
deutscher Stiftungen für Integration und Migration ent-
standen ist.

Die Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus Afgha-
nistan, Irak, Somalia und Syrien ist in Italien mit jeweils
über 90 Prozent am höchsten, in Dänemark oder Grie-
chenland dagegen ist sie ganz niedrig. Es kann doch
nicht richtig sein, dass bei gleicher Situation in den
Herkunftsländern der eine europäische Staat vielleicht
2 oder 3 Prozent aller Flüchtlinge anerkennt und der an-
dere über 90 Prozent. Es gibt eine umfangreiche Statis-
tik, die dies belegt. Deutschland liegt übrigens immer re-
lativ im Mittelfeld, außer bei Flüchtlingen aus Syrien; da
sind wir auch bei annähernd 100 Prozent.

Diese Art von Schutzlotterie bedarf dringend einer
Überprüfung. Auch sie führt nämlich dazu, dass Flücht-
linge und Asylsuchende versuchen, in bestimmten Län-
dern ihre Anträge zu stellen und ihre Verfahren durchzu-
führen. Diese Diskrepanz kann so nicht bleiben. Hier
besteht dringender Handlungsbedarf. Ich kann hier alle
nur dazu auffordern – namentlich auch die Vertreter der
Regierung –, ganz kräftig mitzuwirken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt. Die Bedenken gegenüber Dublin,
Dublin II bzw. seit dem 1. Januar 2014 gegenüber
Dublin III sind hier schon vorgetragen worden. Auch
hier bedarf es einer dringenden Änderung.

Es gibt unterschiedliche Modelle und Gutachten zur
Berechnung von Quoten ähnlich dem Königsteiner
Schlüssel, gewichtet nach Einwohnerzahl, nach Wirt-
schaftskraft, zum Teil auch unter Einbeziehung der Maß-
stäbe Arbeitslosenquote und Flächengröße der jeweili-
gen Länder. Kollege Kammer hat darauf hingewiesen.
Daraus ergibt sich ein interessantes Bild. Absoluter Spit-
zenreiter in der Aufnahme von Flüchtlingen ist demzu-
folge Schweden. Würde man nach diesem Schlüssel eine
entsprechende Aufnahmezahl berechnen, wären in den
Jahren 2008 bis 2012 von den Schweden 42 000 Flücht-
linge aufzunehmen gewesen, tatsächlich aber waren es
153 000, damit also ein Plus von 364,3 Prozent.

Deutschland übrigens – das ist, finde ich, ganz inte-
ressant – liegt praktisch im Mittelfeld. Das Soll wären,
wenn man einen solchen Schlüssel zugrunde legen
würde, 205 000 Flüchtlinge. Das Ist war in all den Jah-
ren 201 000; im Jahr 2013 waren es mehr. Das heißt
– ich bitte Sie, darüber einmal nachzudenken –: Bei sol-
chen Quoten und ihrer strikten Anwendung wäre durch-
aus nicht zu erwarten, dass Deutschland mehr Asyl-
suchende und Flüchtlinge aufzunehmen hätte, sondern
sogar weniger, da andere Länder, die ganz unten in die-
ser Auflistung stehen, die auch nicht so besonders be-
liebt sind, wesentlich mehr aufnehmen müssten.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800911700

Herr Kollege – –


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1800911800

Ich komme gleich zum Schluss.






(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800911900

Das ist leider so, aber Sie müssen.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1800912000

Ich bedanke mich für das „leider“.


(Heiterkeit)


Noch einmal zurück zum Thema: Die SPD ist der
Auffassung, wir brauchen eine bessere und gleichmäßi-
gere Verteilung der Verantwortung, nicht der Lasten, für
Flüchtlinge innerhalb der EU. Deutschland muss deswe-
gen nicht zwangsläufig mehr Flüchtlinge aufnehmen als
heute. Wenn diese Quote dann im Einzelnen überschrit-
ten wird, muss man ernsthaft über einen angemessenen
finanziellen Ausgleich nicht nur nachdenken, sondern
denselben auch bewirken.

Das wäre jedenfalls ein gemeinsames Ziel, dem wir
uns alle hier im Haus verpflichtet fühlen sollten. Ich
wäre dankbar, wenn wir den Dialog darüber entspre-
chend fortsetzen würden.

Danke sehr, Frau Präsidentin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800912100

Danke, Herr Kollege. – Als nächster Redner spricht

Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. Herr
Heinrich, Sie haben das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1800912200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist viel gesagt worden, und bei dem, was
wir dabei denken und fühlen, gibt es eine große Schnitt-
menge.

Humanitäre Hilfe ohne Humanität wird ganz schnell
zu Bürokratismus verkommen. Humanität ohne gesetz-
lich fixierte Strukturen kann wiederum ganz schnell zu
Sozialromantik verführen.

Wer über Krankheitserreger schwadroniert, ohne die
Wunden zu verbinden, der macht sich schuldig. Doch
wer immer nur Sälbchen schmiert, ohne den Ursachen
zu begegnen, der beruhigt zwar auf der einen Seite sein
Gewissen, löst aber auf der anderen Seite das Problem
letztlich nicht. Daher braucht man beides: ganz persönli-
che emotionale Betroffenheit und ein stimmiges europäi-
sches Handlungskonzept, wie wir das von den Rednern
der verschiedensten Fraktionen übereinstimmend gehört
haben.

Wir erleben eine humanitäre Katastrophe vor unserer
Haustür; anders können wir das nicht nennen. Dazu dür-
fen wir weder schweigen noch Ängste schüren.

Ihnen, meine Damen und Herren von der Linkspartei,
gebührt das Verdienst, uns mit diesem Antrag, den wir
heute in der ersten Sitzungswoche dieses Jahres debattie-
ren, in der ersten Plenarwoche nach der Konstituierung
des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe, die Dringlichkeit der Katastrophe vor Augen zu
führen. Dafür danke!


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guck mal!)


Sie müssen sich aber auch sagen lassen, dass Sie
durch die Formulierung „Massensterben“ in der Über-
schrift und auch später im Antragstext so massiv pole-
misieren, dass man versucht ist, diesen Antrag so zu
deuten, dass dies eine parteipolitisch motivierte populis-
tische Spielwiese für Sie ist. Sei es drum.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Quatsch!)


Die Menschen sind es wert, dass wir unsere Augen
nicht verschließen und alle Kräfte bündeln, wie mein
Kollege Veit es gerade gesagt hat, um das Leid an den
Grenzen der EU zu vermindern. Helfen wir den Men-
schen, und behandeln wir die Ursachen! Beginnen wir
bei den Menschen!

Lassen Sie mich, bevor ich mich einigen Zahlen zu-
wende – es sind schon viele genannt worden –, ein Er-
lebnis wiedergeben, von dem EU-Kommissionspräsident
José Manuel Barroso berichtet hat, als er hier in Berlin
war.

Ja, er als Person war umstritten, als er kurz nach der
Katastrophe nach Lampedusa ging. Aber dann erzählte
er, was sich bei ihm ins Gedächtnis eingebrannt hat, als
er die Leichen und darunter insbesondere eine sah. Er
berichtete von einer gebärenden Mutter, deren Nabel-
schnur noch nicht einmal getrennt war. Säugling und
Mutter waren tot.

Diese Bilder schockieren. Wir müssen diese Ge-
schichten kennen, uns ihnen stellen und sie uns zumuten.
Genau darum geht es. Hinter jeder dieser Statistiken und
Zahlen, von denen wir heute gehört haben und gleich
noch hören, stehen einzelne Menschen, und mit jedem
Menschen stirbt auch Hoffnung, eine Zukunft. Jeder die-
ser Menschen hat ein Recht auf Leben, auf Überleben
und auf ein Leben in Würde.

Zur Situation am 3. Oktober 2013: Der 3. Oktober ist
ein Tag, an dem wir in Deutschland jedes Jahr einen Tri-
umph der Menschenrechte feiern. Dieser Tag war 2013
ein schwarzer Tag für die Menschenrechte: über
400 Tote vor Lampedusa. Es gab öffentliche Reaktionen
– wir haben es gerade gehört – von Papst Franziskus bis
zu Vertretern aller unserer Fraktionen und weit darüber
hinaus.

In Syrien erleben wir derzeit eine schon lange andau-
ernde Katastrophe mit 2 Millionen Flüchtlingen. Ich
konnte mich unter anderem mit Kollegen aus anderen
Fraktionen davon überzeugen, wie der Libanon damit
umgeht, ein geplagtes Land, das in der Geschichte schon
häufiger Flüchtlinge aufgenommen hat. Dieses Land
muss jetzt erneut damit umgehen – übrigens auch mit
deutscher Hilfe an verschiedenen Stellen; einiges wurde
vorhin schon genannt. Darüber hinaus steht ihm mit dem
World Food Programme auch ein neues Programm zur
Verfügung, mit dem es auf ganz moderne und individu-
elle Art und Weise helfen kann. Tatsächlich möchte ich





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

hier jene Menschen in den Nachbarländern loben, die
helfen und Flüchtlingen ihre Wohnungen zur Verfügung
stellen, deren Zahl sich, wenn wir in Deutschland auf
eine ähnliche Quote wie der Libanon kommen wollten,
auf 20 Millionen Menschen belaufen würde.

Im Mittelmeer ist die Zahl der Landungen von Boots-
flüchtlingen vor Italien wieder nach oben gegangen.
2011 war diese Zahl schon einmal sehr hoch, sie lag bei
etwa 64 000. 2012 ging sie zurück. Jetzt ist diese Zahl
fast wieder genauso hoch wie vorher.

Einige Punkte aus Ihrem Antrag möchte ich gerne
aufnehmen und, wie Sie sich vorstellen können, entspre-
chend gegenhalten. Die Toten seien Opfer der Asylpoli-
tik der Bundesregierung. – Es wurde hier immer wieder
darauf hingewiesen: Die Probleme entstehen vor Ort;
auch mein Kollege Huber hat das in seiner Frage er-
wähnt. Die Flucht der Menschen vor diesen Problemen,
etwa dem Krieg in Syrien, ist meist die Folge. Die
Schleuserbanden verdienen mit der Not dieser Menschen
ein Heidengeld. Damit gilt es, auf diese Art der Krimina-
lität einen besonderen Fokus zu legen.

Sie schreiben, Frontex sei eine Abschottungsmaß-
nahme. Ich sage: 2011/2012 – mein Kollege hat es vor-
hin auch gesagt – konnten durch die Hilfe von Frontex
40 000 Menschen gerettet werden.

In Ihrem Antrag heißt es, Deutschland sei nur in abso-
luten Zahlen bei der Aufnahme von Flüchtlingen füh-
rend, nicht aber im Verhältnis zur Bevölkerung und
Wirtschaftskraft, also der Quote an Menschen, die wir
aufnehmen müssten. – Wir nehmen pro 1 Million Ein-
wohner 945, Italien 260 Asylbewerber auf. Oft entsteht
genau der entgegengesetzte Eindruck. Ja, unsere Ableh-
nungsquote beträgt 70 Prozent. Darüber müssen wir tat-
sächlich nachdenken. Insgesamt halten sich im Moment
in Deutschland 600 000 Flüchtlinge auf. Der Eindruck,
der manchmal entsteht, ist ein ganz anderer.

Ein paar Schlussfolgerungen – Sie haben in Ihrem
Antrag Forderungen gestellt –: Was braucht es also? Es
braucht unserer Meinung als Entwicklungspolitiker und
als Menschenrechtspolitiker nach in erster Linie die
Hilfe vor Ort: abgestimmte internationale humanitäre
Hilfe, im Moment besonders in Syrien. Ich habe die po-
sitive Rolle des Libanon erwähnt und möchte in diesem
Zusammenhang auch Jordanien oder Saudi-Arabien
nicht vergessen.

Es braucht einen Schwerpunkt beim Flüchtlings-
schutz und bei der Realisierung menschenrechtlicher
Standards in den Flüchtlingslagern, insbesondere in den
Anrainerstaaten der Krisengebiete, aber auch der Tran-
sitstaaten und weiterer Drittstaaten. Hin und wieder
heißt das auch – da stehen wir natürlich zu Ihnen, den
Linken, im Widerspruch – UN-mandatierte Blauhelm-
und NATO-Einsätze. Unsere internationale Verantwor-
tung bringt das mit sich.

Es braucht eine mittel- und langfristige wirtschaftli-
che Zusammenarbeit mit Afrika und eine Stabilisierung
der Krisengebiete. Ich habe mich gefreut, dass in der
EU-Kommission neu darüber nachgedacht wird – das ist
noch umstritten, aber ich kann dem Gedanken sehr viel
abgewinnen; ich las davon letzte Nacht auf Spiegel
Online –, die Exporthilfen für Exporte nach Afrika abzu-
schaffen, damit die Kleinbauern vor Ort eher eine
Chance haben und bleiben.

Dann gibt es natürlich noch die Frage nach einer ein-
heitlichen Asylpolitik in der EU. Da braucht es eine Ver-
einheitlichung auf EU-Ebene, um durch ein gemeinsa-
mes europäisches Asylrecht schnelle und faire Verfahren
zu gewährleisten. Sie können in unserem Koalitionsver-
trag lesen, dass genau dies ein Schwerpunkt unseres
Handelns ist.


(Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/ CSU])


Standards, wie im Stockholmer Programm festge-
schrieben, sind da ganz wichtig. Das Personal von Fron-
tex und EUROSUR muss dafür hinsichtlich der humani-
tären Komponente geschult werden und braucht im
Sinne einer Task Force eine noch engere Verzahnung,
möglicherweise mit dem Internationalen Roten Kreuz
oder anderen Nichtregierungsorganisationen. Es braucht
eine Stärkung der Rolle des 2011 eingerichteten EASO,
dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen
mit Sitz in Malta. Dies sind einige der Maßnahmen, die
wir tatsächlich benötigen.

Zum Abschluss ein Beispiel, das mich geprägt hat. In
der letzten Legislatur waren wir Menschenrechtspoliti-
ker mit einer Gruppe Kollegen in Uganda. Dort sind mir
Sarah und ihr Sohn Jamaal begegnet, der erst wenige
Wochen alt war und den Sarah auf dem Arm trug. Sarah
nimmt an einem Aussteigerprogramm für Prostituierte in
einem Slum von Kampala teil. Sie hat dort unter ande-
rem ein Handwerk gelernt, zum Beispiel Deckchen her-
zustellen, um mit dem Verkauf dieser Deckchen ihren
Lebensunterhalt zu finanzieren, was aber noch nicht
reicht, sodass sie sich weiterhin prostituieren muss.
Doch hält sie schon allein diese Perspektive eher in ihrer
Stadt und in ihrem Land, als sich auf den Weg zu ma-
chen und nach Europa zu fliehen. Die Perspektive hält
sie dort: ein Beispiel und ein Symbol für das, was es in
der Entwicklungszusammenarbeit braucht, um dem
Flüchtlingsstrom vorzubeugen.

Damit ihr Sohn später einmal, wenn er in die Pubertät
kommt, nicht in dem Teufelskreis eines langsamen Ster-
bens stecken bleibt oder nach Europa fliehen muss,
braucht es mehr von unserem Engagement. Wir dürfen,
um mit der Kollegin Kampmann zu sprechen, nicht mit
dem Status quo zufrieden sein. So darf es nicht weiterge-
hen. Deshalb lassen Sie uns zusammen daran arbeiten,
an welchen Stellen das konstruktiv möglich ist.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800912300

Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Heinrich. – Der

letzte Redner dieser, wie ich finde, sehr intensiven und
sehr solidarischen Debatte ist Dr. Egon Jüttner.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1800912400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Im Mittelmeerraum haben sich in den vergange-
nen Jahren zu Lande und zu Wasser schreckliche Szenen
abgespielt. Insbesondere vor der Küste Italiens und auf
Lampedusa sowie im griechischen Flüchtlingslager
Amigdalesa herrschen menschenunwürdige Zustände.
Die Überbelegung von Flüchtlingslagern, in denen oft
drei- bis viermal mehr Flüchtlinge untergebracht sind als
vorgesehen, darf nicht länger hingenommen werden. Es
ist inakzeptabel, dass Hunderte von Menschen auf über-
füllten Booten in europäischen Gewässern den Tod
finden. Was hier geschehen ist, das waren eindeutige
Menschenrechtsverletzungen, die durch nichts zu recht-
fertigen sind. In vielen Flüchtlingslagern, nicht nur auf
Lampedusa, kam es zu Zwischenfällen, die die gesamte
Europäische Union mit Scham erfüllen sollten.

Unser Mitgefühl gehört den vielen umgekommenen
und verletzten Flüchtlingen. Wir bedauern das Schicksal
dieser Menschen zutiefst. Sie haben ihre häufig von krie-
gerischen Auseinandersetzungen und Armut betroffe-
nen Herkunftsländer verlassen, um in Europa eine bes-
sere Zukunft zu finden. Ihre Flucht aber endete oft in
einem qualvollen Tod. Der Respekt vor dem Schicksal
dieser Menschen sollte Vorrang haben vor politischen
Auseinandersetzungen und Schuldzuweisungen.

Die Verantwortung für die Flüchtlingsströme und die
daraus resultierenden Probleme liegt nicht bei den EU-
Mitgliedstaaten, sondern eindeutig bei den Herkunfts-
ländern. Leider ist die politische Situation in vielen Staa-
ten besorgniserregend. In Mali, in Nigeria, in der Zen-
tralafrikanischen Republik, aber auch im Südsudan sind
teilweise staatliche Strukturen zusammengebrochen. Au-
ßerdem finden oft Willkür und Unterdrückung statt.
Häufig wird nicht einmal das Existenzminimum der
Menschen gewährleistet. Auch militante islamistische
Gruppen machen ein dauerhaft friedliches Zusammenle-
ben unterschiedlicher Volksgruppen unmöglich.

Da ist es nicht verwunderlich, dass Menschen ihre
Heimat verlassen in der Hoffnung auf ein besseres Le-
ben. Deutschland ist deshalb gemeinsam mit anderen
Staaten der Europäischen Union, ebenso wie zivile und
kirchliche Organisationen, ständig bemüht, den oft brü-
chigen Frieden in diesen Staaten wiederherzustellen und
die Grundbedürfnisse der dort lebenden Menschen zu
decken. Die Träger der Entwicklungszusammenarbeit
unternehmen alles, um im Dialog mit den politisch Ver-
antwortlichen friedenstiftende Maßnahmen zu fördern.
Geschähe dies nicht, würden noch mehr Menschen ihre
Heimatländer verlassen und wären den Gefahren einer
Flucht ausgesetzt.

Meine Damen und Herren, wir sind uns einig, dass
die südeuropäischen Staaten mit der Flüchtlingsproble-
matik nicht alleingelassen werden dürfen. Wir sind als
Europäer und als Europäische Union gemeinsam ver-
pflichtet, Asylsuchenden eine menschenwürdige Be-
handlung zu gewähren. Die EU ist deshalb ernsthaft
bemüht, das europäische Asylsystem den sich verän-
dernden Realitäten anzupassen. Dabei stehen zwei Ge-
sichtspunkte im Vordergrund der Bemühungen: zum ei-
nen die Behandlung der sich auf der Flucht befindenden
bzw. bereits in Europa angekommenen Menschen und
zum anderen die Ursachenbekämpfung in den Her-
kunftsländern.

Was Ersteres betrifft, so sind durch die Fortentwick-
lung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems im
vergangenen Jahr die Grundlagen für ein gerechtes und
realisierbares Regelwerk geschaffen worden.

Die Rangfolge der in der Dublin-Verordnung festge-
legten Kriterien trägt der Tatsache Rechnung, dass wir es
mit schutzbedürftigen Menschen zu tun haben. Wir sind
verpflichtet, deren persönliche Situation zu berücksichti-
gen.

Erster Grundsatz ist die Einheit der Familie. Handelt
es sich etwa bei einem Asylbewerber um einen unbeglei-
teten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat für die
Prüfung seines Antrags zuständig, in dem sich ein Ange-
höriger seiner Familie rechtmäßig aufhält. Ist ein Asyl-
suchender volljährig und befindet sich ein Familienmit-
glied bereits in einem Mitgliedstaat der Europäischen
Union, so hat er die Wahl, ebenfalls in diesem Mitglied-
staat einen Asylantrag zu stellen. Dies gilt selbst dann,
wenn über den Asylantrag des Familienmitglieds noch
nicht entschieden ist.

Ferner regelt die Dublin-Verordnung, welcher Mit-
gliedstaat im Einzelfall für den Asylantrag eines Asyl-
suchenden zuständig ist. Der für die Prüfung des Asyl-
antrags zuständige Mitgliedstaat darf diesen Antrag
nicht ablehnen und den Asylbewerber etwa in ein ande-
res Land schicken. Vielmehr ist er verpflichtet, den
Asylbewerber aufzunehmen und den Antrag zu bearbei-
ten.

Die neuen Regelungen zeigen eindeutig, dass die Eu-
ropäische Union der Menschenwürde der Asylsuchen-
den einen hohen Stellenwert beimisst. Die familiäre Zu-
sammenführung hat Vorrang vor allen anderen Kriterien.
Es ist den Einzelstaaten verboten, Asylsuchende wie
Spielbälle von einem Land ins andere zu schicken.

Des Weiteren haben im Oktober 2013 die Mitglied-
staaten der Europäischen Union kurzfristige Maßnah-
men zur verbesserten Seenotrettung eingeleitet. Ein ef-
fektives Seenotrettungssystem bedeutet jedoch nicht,
dass die Überquerung des Mittelmeers mit völlig unge-
eigneten und erheblich überladenen Booten sicher wird.
Es kann nur dazu dienen, das Risiko für die Migranten
auf dem Seeweg zu reduzieren.

Die zunächst zuständigen nationalen Behörden der
südeuropäischen Staaten haben die Möglichkeit, über die
EU-Grenzschutzagentur Frontex Unterstützung durch
andere EU-Mitgliedstaaten anzufordern. So konnten in
den beiden vergangenen Jahren durch von Frontex koor-
dinierte Aktionen – das wurde schon gesagt – über
40 000 Menschen aus Seenot gerettet werden. Europa
zeigt sich also in dieser Hinsicht mit seinen südlichen
Mitgliedstaaten solidarisch.

Unser Ziel muss es sein, Tragödien, wie sie in der
Vergangenheit passiert sind, in Zukunft zu verhindern.
Mit der Fortentwicklung des Gemeinsamen Europäi-





Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)

schen Asylsystems wurden im vergangenen Jahr die
Weichen dafür gestellt. Nun müssen wir die Effektivität
der beschlossenen Maßnahmen genau analysieren. Da-
bei müssen wir offen sein für weitere Reformen zuguns-
ten der betroffenen Flüchtlinge. Deshalb steht die Asyl-
politik auch beim EU-Gipfel im Juni wieder auf der
Tagesordnung. Dort wird Bilanz gezogen über die im
Herbst beschlossenen Maßnahmen und Änderungen.

Es ist falsch, die Asylpolitik der Europäischen Union
pauschal und undifferenziert zu verurteilen und den
deutschen Bundesregierungen der letzten 20 Jahre eine,
wie es im Antrag heißt – ich zitiere – „große Mitschuld“
an „Menschenrechtsverletzungen und Verdrängung von
Verantwortlichkeit auf EU-Ebene“ zu unterstellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vielmehr müssen wir den eingeschlagenen Weg zur Ver-
besserung der Situation fortsetzen. Dem Antrag der
Fraktion Die Linke können wir deshalb nicht zustim-
men.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800912500

Die Redeliste zu diesem Tagesordnungspunkt ist er-

schöpft.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/288 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Dr. Julia Verlinden, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Europarechtskonforme Regelung der Indus-
trievergünstigungen auf stromintensive Un-
ternehmen im internationalen Wettbewerb
begrenzen und das EEG als kosteneffizientes
Instrument fortführen

Drucksache 18/291
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und 
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800912600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man das Dokument zur Einleitung des Beihilfe-
verfahrens der EU-Kommission liest, dann findet man
da sehr interessante Passagen. Darin steht zum Beispiel,
dass das EEG ein sehr kosteneffizientes Instrument zum
Ausbau der erneuerbaren Energien ist,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


dass es zielgerichtet ist und erfolgreich den Ausbau der
Erneuerbaren in Deutschland vorangebracht hat, ganz im
Unterschied zu anderen EU-Staaten und zu anderen För-
dersystemen. In der Tat haben wir es in Deutschland ge-
schafft, den Anteil der erneuerbaren Energien innerhalb
von gut zehn Jahren von 4 Prozent auf 25 Prozent zu er-
höhen. Wir haben es geschafft, dass sich die Bürgerinnen
und Bürger an der Energieversorgung beteiligen, dass sie
das ganze Thema voranbringen. Das ist eine absolute Er-
folgsgeschichte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben es vor allen Dingen auch geschafft, dass
Windenergie an Land und Photovoltaik inzwischen die
preisgünstigste Form sind, eine Kilowattstunde Strom zu
produzieren, preisgünstiger als aus neuen Kohle- oder
Gaskraftwerken. Das ist eine Entwicklung, die noch vor
wenigen Jahren unvorstellbar war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn die EU-Kommission jetzt ein Verfahren einlei-
tet, so richtet sich das nicht gegen das EEG an sich, ganz
im Gegenteil. Die EU-Kommission problematisiert das
Ausnahmewesen, also die Tatsache, dass es bei den Zah-
lungen der EEG-Umlage, die die Vergütungen der Be-
treiber von Erneuerbare-Energien-Anlagen sichern, zu
überbordenden Ausnahmen gekommen ist. Das Problem
dabei ist nicht der grundsätzliche Tatbestand der Aus-
nahme. Die EU-Kommission sagt klipp und klar: Es ist
völlig in Ordnung, dass stromintensive Unternehmen ein
Stück weit befreit werden. – Ich glaube, es herrscht poli-
tischer Konsens darüber, dass ein stromintensives Unter-
nehmen wie eine Aluminiumhütte hier nicht zu Zahlun-
gen herangezogen wird. Die EU-Kommission kritisiert
aber in aller Deutlichkeit das, was insbesondere seit
2010 passiert, nämlich das ausufernde, überbordende
Ausnahmewesen zugunsten von Industrie und Gewerbe,
die mit internationalem Wettbewerb und Stromintensität
überhaupt nichts zu tun haben. Damit muss endlich
Schluss sein, wenn wir das Problem lösen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass die Zahl
von wenigen Hundert begünstigten Unternehmen auf
über 2 100 angestiegen ist. Die Politik in den letzten Jah-
ren nach dem Motto „Die Privatverbraucher wollten die
Energiewende; dann sollen sie auch dafür zahlen“ darf
nicht fortgesetzt werden. Wir brauchen hier ein Stück
weit Kostengerechtigkeit. Nun schlägt diese Politik der
Vergangenheit auf die Industrie selber zurück. Inzwi-
schen beschweren sich auch – zu Recht – die nicht be-
freiten Industriebereiche. Ich kann nicht nachvollziehen,





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

warum ein Schlachtbetrieb von der EEG-Umlage befreit
ist, ein Textilunternehmen aber nicht. Genau das proble-
matisiert die EU-Kommission. Deshalb ist das Beihilfe-
verfahren richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Große Koalition hatte die Chance, dieses Beihil-
feverfahren zu vermeiden; das wissen alle, die mit Herrn
Almunia gesprochen haben. Es gab die Chance, eine
klare Vereinbarung im Koalitionsvertrag zu treffen, wie
man das Thema der Beihilfen angehen will. Das Pro-
blem ist aber: Sie haben sich nur auf einen Prüfauftrag
verständigt, der lediglich vorsieht, dass man sich diesem
Thema widmen will. Das ist ein riesiges Problem für die
Industriebetriebe, die jetzt damit konfrontiert sind, dass
sie Rückstellungen bilden müssen. Es herrscht Verunsi-
cherung. So kann letztendlich nicht investiert werden.
Damit hat sich die gesamte Politik der letzten Jahre, die
angeblich der Industrie dienen sollte, zu einem Bume-
rang entwickelt.

Wir schlagen in unserem Antrag vor, dass Sie jetzt ak-
tiv werden; denn es kann nicht sein, dass man jetzt nur
die EU-Kommission beschimpft und sagt, sie mache al-
les falsch. Sie benennt ein richtiges Problem. Aber es ist
jetzt an der Zeit, dass die Bundesregierung konkrete
Punkte benennt. Wir sagen: Die Strompreiskompensa-
tionsliste, die die EU-Kommission im Rahmen des
Emissionshandels gemacht hat, ist eine Grundlage, an
der sich in Deutschland die Befreiungen bzw. Vergünsti-
gungen orientieren können. Das sind die Unternehmens-
bereiche Metall, Papier, Chemie usw. Diese brauchen
tatsächlich diese Vergünstigungen. Das wäre eine
Grundlage, um diesem Beihilfeverfahren zu entgehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt noch ein anderes Problem. Dadurch dass wir
jetzt über Beihilfe reden, bekommt ein anderes Verfah-
ren eine Schlagseite. Die EU will das EEG insgesamt
aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre als Bei-
hilfe definieren. Das würde dazu führen, dass wir in Zu-
kunft die Regelungen und Novellen des Erneuerbare-
Energien-Gesetzes und den Ausbau der erneuerbaren
Energien in Brüssel genehmigen lassen müssten. Ich
glaube, das kann nicht in unserem Sinne sein.

Es muss vielmehr in unserem Sinne sein – das ist die
Aufgabe der EU-Kommission und die Aufgabe von
Europa –, dass wir klare Ziele setzen, nicht nur Klima-
schutzziele, sondern auch ambitionierte Ziele für den
Ausbau der erneuerbaren Energien und Effizienzziele.
Dafür müssen wir kämpfen. Ich frage ganz offen: Wo ist
eigentlich der deutsche EU-Kommissar Herr Oettinger?
Von dem sehe ich nur, dass er die deutsche Energie-
wende und die Politik, von der ich einmal dachte, dass
sie hier konsensual getragen werde, hintertreibt und ge-
meinsame Sache mit den britischen Atomfreunden
macht, anstatt die deutsche Politik zu unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir finden: Dazu braucht es ein klares Wort der
Kanzlerin. Sie hat diese Ziele 2007 im Rahmen der deut-
schen Ratspräsidentschaft durchgesetzt. Das muss jetzt
weitergehen. Wir denken auch – das ist unser Angebot
an die Große Koalition –, dass es einen Konsens in
Deutschland geben kann, wenn wir die erneuerbaren
Energien weiter konsequent ausbauen, wenn wir sie kos-
teneffizient ausbauen und wenn wir sie kostengerecht
ausbauen, und zwar ohne Deckelung und künstliche
Bremsen für Windenergie an Land und PV. Wenn das
eine Basis sein kann, dann können wir uns auf einen ge-
meinsamen Weg verständigen.

Wenn die Basis aber ist, dass Sie die wegfallenden
Atomstrommengen der nächsten Jahre durch Braunkohle
ersetzen wollen, wie das offensichtlich Herr Seehofer
vorhat – so jedenfalls verstehe ich seine Einlassungen –,
dann wird das ein Weg sein, den wir nicht mitgehen wer-
den. Den werden wir bekämpfen. Dann haben wir deutli-
che Auseinandersetzungen. Aber wir bieten einen
gemeinsamen Weg an und fänden es gut, wenn hier tat-
sächlich eine breite politische Basis für eine langfristige
Energiewende und für Investitionssicherheit in diesem
Bereich geschaffen werden könnte.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800912700

Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1800912800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!

Meine Herren! Lieber Kollege Oliver Krischer, heute
Morgen haben Sie noch groß über die Medien verkün-
det, Sie wollten die enge Zusammenarbeit mit der Gro-
ßen Koalition und wollten gemeinsam mit uns an diesem
Projekt der Energiewende teilhaben.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Angebot!)


Ihr Antrag und Ihr Redebeitrag zeigen etwas anderes,
nämlich dass Sie in alte Grabenkämpfe verfallen und
versuchen, Konflikte aufzubauen, die es so gar nicht
gibt. Wir sind vielmehr in vielen Punkten einiger, als Sie
glauben. Viele Dinge, die Sie jetzt kritisiert haben, haben
Sie nämlich damals unter Rot-Grün, unter dem Umwelt-
minister Jürgen Trittin, selber beschlossen. Diese sind
jetzt in der Tat Bestandteil eines Verfahrens in Brüssel.
Wir werden dieses Verfahren abschließen und dafür sor-
gen, dass die Energiewende weiter gelingt und auch un-
sere Industrie weiter gesichert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bevor ich aber auf den Antrag, den Sie gestellt haben,
eingehe, möchte ich zu Beginn betonen, dass das Projekt
der Energiewende, die Energiepolitik an sich, eines der
ganz großen Themen dieser Großen Koalition ist. Es
wird eine gemeinsame Herausforderung sein, und wir
werden gemeinsam dieses Projekt anpacken. Wir wollen
an das anknüpfen, was wir die letzten vier Jahre gemacht
haben. Wir wollen dafür sorgen, dass die Grundlinien





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

unserer Energiepolitik auch weiter bestehen. Wir wollen
eine Politik machen, die umweltfreundlich ist, aber auch
die sichere Versorgung und vor allen Dingen eine be-
zahlbare, wirtschaftliche Energieversorgung für unser
ganzes Land gewährleistet, für die Menschen, für die In-
dustrie und die Wirtschaft insgesamt.

Wir wollen die Energiepolitik zu dem machen, was
sie sein muss. Sie muss Hauptbestandteil unserer Wachs-
tums- und Wohlstandsstrategie sein. Sie muss dafür sor-
gen, dass wir in den nächsten Jahren keine Arbeitsplätze
gefährden oder sogar verlieren, sondern dass wir unter
dem Strich Arbeitsplätze sichern und weiter ausbauen.
Das muss die Energiewende zum Ziel haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Insofern bin ich dankbar, dass diese Koalition die
Kompetenzen für Energiefragen im Wirtschaftsressort
gebündelt hat. Somit bekommen wir eine schlagkräftige
Einheit, um für eine wirtschaftliche Energiewende


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


zu kämpfen. Ich bin sicher, lieber Hubertus Heil, dass
wir gemeinsam mit unserem neuen Minister für Wirt-
schaft und Energie, Sigmar Gabriel, eng und vertrauens-
voll zusammenarbeiten werden.

Wir wollen Arbeitsplätze sichern. Daher müssen wir
den Ausbau der erneuerbaren Energien weiter sinnvoll
gestalten. Darüber hinaus müssen wir dafür sorgen, dass
dort, wo in der Industrie Arbeitsplätze gefährdet sind,
wo Industrien im europäischen und weltweiten Wettbe-
werb stehen, weiterhin Vergünstigungen möglich sind.
Das muss unser zentrales Ziel sein.

Damit komme ich zu Ihrem Antrag. Der Antrag der
Grünen enthält zwei Grundaussagen:

Erstens. Das EEG muss unbefristet weiter gelten. Das
haben Sie gerade eben noch einmal gefordert.

Zweitens. Die Vergünstigungen für stromintensive
Unternehmen – das ist Ihr großes Thema – müssen wei-
testgehend zusammengestrichen werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steht nicht im Antrag!)


Das würde Arbeitsplätze gefährden, lieber Oliver Krischer.
Wir sollten miteinander debattieren, um eine sinnvolle
Lösung zu finden.

Ich glaube, dass die Aussagen, die Sie in Ihrem An-
trag treffen, objektiv falsch sind. Ich zitiere aus dem ers-
ten Absatz Ihres Antrags einen Punkt, den ich ganz an-
ders sehe:

Statt der vollen … Umlage von derzeit 6,24 Cent/
kWh, zahlt ein Großteil der entlasteten Unterneh-
men lediglich eine Umlage von 0,05 Cent/kWh.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Völlig falsch! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

Das ist komplett falsch. Nur Unternehmen mit einem
Stromverbrauch ab 100 Gigawattstunden zahlen nur
noch 0,05 Cent je Kilowattstunde.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2 100!)


In der Summe sind das in Deutschland weniger als
150 Unternehmen.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: So ist das!)


Es wird Sie vielleicht überraschen, Herr Krischer: Es
sind Unternehmen, die schon damals, 2004, unter Jürgen
Trittin entlastet worden sind


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das sind genau die gleichen!)


und die seitdem von dieser Entlastung profitieren.

Sie haben, auch in dieser Debatte, den Eindruck er-
weckt, dass diese Unternehmen gar keine Abgaben zah-
len. Das stimmt ebenfalls nicht. Unternehmen, die hin-
sichtlich der EEG-Umlage zwar nicht befreit, aber
begünstigt werden – etwa ThyssenKrupp, der größte Fall
in dieser Riege –, zahlen nach heutigem Stand weiterhin
4 500 Euro EEG-Umlage pro Arbeitsplatz. Das zeigt:
Auch die großen energieintensiven Industrieunterneh-
men zahlen für die Energiewende und leisten damit auch
einen Beitrag zum Gelingen des Umstiegs, der die
nächsten Jahre gemeinsam solidarisch finanziert werden
muss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ihre Aussage, dass die EEG-Novelle von 2012 zu
massiven Mehrbelastungen führt, wie Sie sie vorhin be-
schrieben haben, ist falsch. Sie haben gesagt: Die Anzahl
der entsprechenden Unternehmen ist von 800 Unterneh-
men auf 2 100 Unternehmen gestiegen. Ich muss Sie
korrigieren: Sie ist sogar auf 2 700 Unternehmen gestie-
gen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch schlimmer!)


Ich bin stolz darauf, dass sich die Anzahl dieser Un-
ternehmen verdreifacht hat; denn der industrielle Mittel-
stand, der in besonderer Weise im Wettbewerb steht,
erfährt Vergünstigungen. Damit haben wir etwas ge-
schaffen, was vielen Unternehmen hilft und damit der
Erhaltung vieler Arbeitsplätze dient, aber auf der ande-
ren Seite nur sehr wenig kostet. Die Vergünstigung liegt
nur bei 10 Prozent. Nur 2 Prozent der EEG-Umlage, die
wir zahlen, sind für den industriellen Mittelstand reser-
viert. Damit erreichen wir, dass die Arbeitsplätze von
über 1 Million Beschäftigten nicht nur vorübergehend
gesichert, sondern auch auf Dauer erhalten bleiben. Ich
glaube, das war es wert, für den Fortbestand dieser Ver-
günstigung zu sorgen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800912900

Kollege Bareiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage

oder eine Bemerkung aus den Reihen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen?


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1800913000

Ja, gern. Natürlich. Immer doch.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800913100

Herr Meiwald, bitte.


Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800913200

Vielen Dank, Herr Bareiß, dass Sie meine Frage zu-

lassen. – Sie haben sich gerade so vehement für die Ar-
beitsplätze eingesetzt. Das finden wir grundsätzlich in
Ordnung. Arbeitsplätze sind ja für uns alle notwendig.
Aber in der Konsequenz dessen, was Sie in den letzten
vier Jahren gemacht haben und was Sie hier so in den
Himmel loben, stellt sich doch die Frage: Wie viele Ar-
beitsplätze im Braunkohletagebau entstehen oder wer-
den dadurch erhalten, dass man zum Beispiel Vattenfall
von der EEG-Umlage befreit? Wie viele Arbeitsplätze
sind in den kleinen und mittelständischen Handwerksun-
ternehmen, die massiv investiert haben, um die Energie-
wende voranzutreiben, in den letzten Jahren schon verlo-
ren gegangen? Ich denke an kleine Solarunternehmen
und ähnliche Betriebe, die jetzt vor dem Ruin stehen
bzw. schon in der Insolvenz sind.

Ich glaube, da liegt eine Schieflage vor. Das Ganze
müsste man einmal sauber gegeneinander aufrechnen
und man darf nicht sagen: Dadurch, dass wir Großunter-
nehmen und andere Vielverbraucher hier entlasten, be-
wirken wir etwas, worauf wir auch noch stolz sein kön-
nen. Die Entlastung von Braunkohletagebauen ist
natürlich auch klimapolitisch verheerend. Mich würde
interessieren, ob Sie diesbezüglich eine Bilanz aufma-
chen können.

Vielen Dank.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1800913300

Wir können gerne über den Braunkohletagebau reden.

Ich lade Sie auch gerne ein, einmal die Lausitz oder das
Ruhrgebiet zu besuchen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ins Ruhrgebiet? Die sind im Rheinland!)


– Da habe ich mich versprochen; das gebe ich zu. Das
war die alte Welt der Steinkohle.

Ich lade Sie ein, die Lausitz oder das Rheinland zu be-
suchen. Dort sind 22 000 Beschäftigte von der Braun-
kohleindustrie abhängig.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und 40 000 bei den erneuerbaren Energien!)


Wir müssen doch sehen, dass die Braunkohle der ein-
zige heimische Energieträger ist, den wir noch haben.
Ich sehe Ihre neue Stoßrichtung, die Braunkohle als
schmutzige Energie darzustellen, sehr kritisch, weil die
Braunkohle derzeit hocheffizient eingesetzt wird. In
Deutschland wurde noch nie so viel Braunkohlestrom
produziert; das ist durchaus richtig. Aber Sie verschwei-
gen immer, dass dieser Braunkohlestrom mit so wenig
CO2-Ausstoß pro Kilowattstunde wie noch nie erzeugt
wird. Wir haben hocheffiziente Braunkohlekraftwerke.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wirkungsgrad von 30 Prozent!)


Wir brauchen auch weiterhin die Verstromung der
Braunkohle, einem heimischen und günstigen Rohstoff,
als Brückentechnologie, um kostengünstig in das Zeital-
ter der regenerativen Energien zu gelangen.

Ich lade Sie wirklich einmal ein, mit mir gemeinsam
diese Regionen in Ostdeutschland zu besuchen. Dort
sind in der Braunkohleindustrie 22 000 Menschen be-
schäftigt. In der Solarindustrie jedoch, die man versucht
hat, in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt aufzu-
bauen, sind es nur noch knapp 10 000 Beschäftigte. Das
bereitet mir große Sorgen.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wohl?)


Auf der einen Seite wollen wir die Braunkohleindus-
trie mit 22 000 Beschäftigten zerstören, auf der anderen
Seite aber keine neuen Technologien in Deutschland auf-
bauen, die wir bräuchten. Hier müssen wir dringend an-
setzen. Die eine Industrie muss die andere Stück für
Stück ersetzen, aber es darf nicht so sein, wie ich es am
Anfang beschrieben habe: dass schlussendlich weniger
Arbeitsplätze vorhanden sind, als das bisher der Fall ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800913400

Ich trage nach: Das war jetzt die Beantwortung der

Frage des Kollegen Meiwald. – Ich schalte jetzt die Uhr
wieder ein.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1800913500

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Herr

Krischer, außerdem haben Sie vorhin betont, dass die
Besondere Ausgleichsregelung europarechtswidrig ist.
Sie haben gesagt, Sie hätten schon mit Herrn Almunia
gesprochen und erfahren, dass wir das Verfahren abwen-
den können. Ich muss gestehen, dass ich das bisher nicht
so wahrgenommen habe, aber vielleicht haben wir eine
unterschiedliche Wahrnehmung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie noch nicht mitbekommen, dass wir ein Beihilfeverfahren haben?)


Ich sage nur eins: Zu behaupten, dass die Reduzie-
rung einer Mehrbelastung für unsere Industrie eine Sub-
vention darstellt, halte ich für sehr gewagt. Deshalb
glaube ich auch, dass das, was Sigmar Gabriel vor weni-
gen Tagen gesagt hat, richtig ist: Die nationale Energie-
politik muss weiterhin in erster Linie Sache Deutsch-
lands und nicht Europas sein.





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

Wir brauchen auch deutsche Ideen und Konzepte. Ein
Gesetz wie das EEG und eine Mehrbelastung, wie sie
derzeit in allen Bereichen der Industrie vorhanden ist,
hat kein anderes Land. Insofern sollten wir schauen, dass
wir im Bereich der Ausgleichsregelung auch nationale
Lösungen finden.

Wir brauchen weiterhin die Besondere Ausgleichs-
regelung für die Großindustrie, aber auch für den indus-
triellen Mittelstand. Wir müssen ebenfalls schauen, wo
wir vielleicht in der EEG-Novelle, zu der in der nächsten
Woche die ersten Eckpunkte vorgelegt werden, Verände-
rungen vornehmen können. Ich habe schon in den letzten
Monaten – Sie sicherlich auch – intensive Gespräche mit
der Industrie geführt. Es gibt unterschiedliche Bereiche,
in denen wir etwas tun können. Die Schwellenwerte und
Unwuchten sollten wir sicherlich noch diskutieren. Wir
müssen auch überlegen, welche Ausgestaltung wir beim
Kriterium des Wettbewerbs vornehmen.

Ich warne aber: Wenn wir hier Veränderungen vor-
nehmen, werden auch solche Fragen gestellt wie die, ob
die Deutsche Bahn weiterhin vergünstigt werden kann.
Ich bin gespannt, welchen Beitrag die Grünen dann zu-
künftig leisten werden. Die deutsche Wirtschaft zahlt
heute schon die höchsten Industriestrompreise, nicht nur
Europas, sondern der ganzen Welt.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch gar nicht wahr!)


Wir sind aber auch diejenigen, die im Bereich der er-
neuerbaren Energien am schnellsten vorankommen wol-
len. Deshalb sage ich Ihnen ganz offen: Um auch die
Akzeptanz der Menschen nicht zu verlieren, dürfen wir
nicht weiterhin Verteilungsdebatten führen, sondern
müssen schauen, wie wir das EEG in den kommenden
Jahren Schritt für Schritt reformieren, stärker an den
Markt heranbringen und somit auch erneuerbare Ener-
gien wettbewerbsfähig machen – nicht nur in Deutsch-
land, sondern auch in der Welt. Daran müssen wir ge-
meinsam arbeiten. Dazu brauchen wir auch Ehrlichkeit.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800913600

Kollege Bareiß, gestatten Sie eine weitere Frage oder

Bemerkung des Kollegen Krischer?


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1800913700

Gerne. – Bitte, Herr Krischer.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800913800

Herzlichen Dank, Herr Kollege Bareiß, dass Sie die

Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade gesagt: In
Deutschland gibt es die höchsten Industriestrompreise.
Ich vermute einmal, Sie wollten sagen, die höchsten In-
dustriestrompreise Europas. Wie erklären Sie es sich
dann, dass der Verband der Industriellen Energie- und
Kraftwirtschaft – das ist keine grüne Organisation und
auch keine der Erneuerbaren-Verbände, sondern die
Lobbyorganisation der energie- und stromintensiven In-
dustrie –, der regelmäßig Strompreisindizes veröffent-
licht, festgestellt hat, dass dieser Index in diesem Jahr
den niedrigsten Stand seit zehn Jahren erreicht hat? Wie
erklären Sie sich das nach Ihrer Aussage, dass wir – an-
geblich – die höchsten Industriestrompreise haben?

Dann müssten Sie noch erklären, wie es sein kann,
dass in den Niederlanden eine Aluhütte schließen muss,
in Insolvenz geht, mit der Begründung, dass sie gegen
den deutschen Wettbewerber, der aufgrund der Energie-
wende in Deutschland so niedrige Industriestrompreise
hat, nicht mehr konkurrieren kann. Diese Aussage müs-
sen Sie bitte erklären. Das passt nicht zu dem, was Sie
gerade gesagt haben.


(Beifall der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1800913900

Wir haben auf alle Fälle – da lasse ich einfach mal die

Zahlen sprechen – im Bereich der Verbraucher, der In-
dustrieverbraucher, die Größenordnung von 20 bis 70 Giga-
wattstunden; das ist eine Größenordnung, die 2012 ge-
messen wurde. Da lagen die Industriestrompreise bei
10,45 Cent je Kilowattstunde. In der Tat sind in Zypern,
Malta, Litauen und in der Slowakei die Industriestrom-
preise – in Anführungszeichen – noch besser als bei uns,
nämlich etwas höher. Aber davon abgesehen haben wir
mit die höchsten Preise in Europa. Das sind die Zahlen,
die mir vorliegen.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind falsch!)


Das ist meine Grundlage. Insofern ist das, was Sie sagen,
einfach nicht richtig.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie den VIK!)


– Ich werde ihn gern fragen. Aber das sind die Zahlen,
die 2012 vom statistischen Landesamt veröffentlicht
worden sind, und das sind die Zahlen, auf die ich meine
Rede aufgebaut habe, lieber Herr Krischer.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quellenangabe!)


Meine Damen und Herren, ich würde gern weiter-
kommen. Nun zum Thema Ehrlichkeit. Wir müssen, um
bei der Energiewende voranzukommen, ehrlich mitei-
nander umgehen. Wir müssen den Menschen sagen, dass
wir, wenn wir das EEG novellieren, auch schauen müs-
sen, dass wir die nächsten Jahre effizienter vorgehen.
Wir dürfen nicht mehr glauben, dass überall dort erneu-
erbare Energien aufgebaut werden, wo die höchsten Sub-
ventionen gezahlt werden. Wir müssen die erneuerbaren
Energien auch dort oder vor allem dort aufbauen, wo die
besten Grundbedingungen sind. Windräder werden also
nicht überall in Deutschland aufgestellt werden, sondern
dort, wo sie am effizientesten arbeiten können. Das wird
in den nächsten Jahren sicherlich mehr im Norden als im
Süden der Fall sein. Auch da brauchen wir einen stärke-
ren Blick auf die Effizienz.

Wir brauchen einen verbindlichen Ausbaukorridor.
Wir haben für die erneuerbaren Energien weiterhin die
höchsten Ziele in der Welt. Wir wollen bis 2025 auf bis
zu 45 Prozent und bis 2035 auf über 60 Prozent zubauen.





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

Das heißt, wir haben mit dem Koalitionsvertrag eine Pla-
nung vorgelegt, die verlässlich ist; es besteht Planungs-
sicherheit, nicht nur für die fossilen Kraftwerke und für
die erneuerbaren Energien, sondern vor allen Dingen
auch für den Netzausbau, der für die nächsten Jahre ent-
scheidend ist.

Meine Damen, meine Herren, die Ausbaukorridore
für die erneuerbaren Energien sind ambitioniert. Wir
wollen das gemeinsam angehen. Die Debatte, die wir
heute angefangen haben, wird in den nächsten Jahren
weitergehen. Wir werden weiterhin auf der Grundlage
einer umweltfreundlichen, aber auch sicheren und vor
allem bezahlbaren Energie vorangehen. Ich freue mich
auf die anstehenden Debatten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800914000

Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800914100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die deutschen Strompreise machen die Industrie kaputt
– das ist Realität –, allerdings nicht die Industrie in
Deutschland, sondern die in Holland. Die Wirklichkeit
für etliche deutsche Unternehmen schaut so aus, dass der
Industriestrompreis in Deutschland überaus niedrig ist.
Einer niederländischen Aluminiumhütte hat er gerade
die Geschäftsgrundlage geraubt. Jetzt frage ich Sie: Wol-
len Sie das? – Ihre Krokodilstränen führen da einfach zu
nichts.

Deutsche Aluhütten haben einen Wettbewerbsvorteil
gegenüber ausländischen – kein Wunder; denn sie profi-
tieren von den gesunkenen Großhandelspreisen für
Strom. Das nennt man Merit-Order-Effekt. Das ist eine
Folge des EEG-Einspeisevorrangs für Ökostrom. Für
diejenigen, die nicht aus dem Fach kommen: Das heißt
einfach, dass die teuren Kraftwerke vom Netz genom-
men werden und dann an der Börse der Strompreis sinkt;
das wird natürlich nicht an die Verbraucher weitergege-
ben.

Jetzt kommen wir zu den Industriestrompreisen, über
die Sie gestritten haben. Die liegen heute nur noch bei
3,6 Cent je Kilowattstunde, in den Niederlanden dage-
gen bei 5 Cent je Kilowattstunde und im Atomstromland
Frankreich immer noch bei 4,3 Cent je Kilowattstunde.
Inzwischen liegen wir bei den Strompreisen im Ver-
gleich mit den anderen europäischen Ländern im unteren
Drittel. Die deutschen stromintensiven Unternehmen
sind weitgehend von der EEG-Umlage befreit. Darüber
streiten wir ja andauernd. Die EEG-Umlage finanziert
Windkraft und regenerative Energien. Die privaten End-
kunden und die kleinen Unternehmen blechen für die
Ausfälle bei der Großindustrie.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Märchen!)

Wir halten das weder für sozial akzeptabel noch für öko-
logisch.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Bareiß, wenn Sie sagen: „Das fördert Wachstum
und Wohlstand“, dann müssen Sie auch sagen, welchen
Wachstum und welchen Wohlstand. Ich habe mich neu-
lich mit einem Großbäcker aus meiner Region unterhal-
ten. Er wählt Ihre Partei; ich glaube, er ist sogar Mitglied
Ihrer Partei.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Er weiß, warum! – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Guter Mann! – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Dann ist er aber selber schuld!)


Ich habe ihn gefragt, ob auch er diese EEG-Ermäßigung
bekommt. Er hat mich nur ausgelacht; ich verstehe zwar
nicht, warum er dann Ihre Partei wählt. Er hat mir ge-
sagt, er hätte diese Ermäßigung sehr gerne.

Das EEG ist für die stromintensiven Unternehmen
eine Goldgrube. Der Merit-Order-Effekt an der Strom-
börse ist mit rund 0,6 bis 1 Cent je Kilowattstunde – das
wird eingespart – um ein Vielfaches höher als die zu zah-
lende Miniumlage von 0,05 Cent. Das heißt, die Unter-
nehmen verdienen leistungslos Geld durch die Energie-
wende. Das kennen wir ja schon vom Emissionshandel,
Stichwort: Windfall Profits. Sie haben die Zertifikate da-
mals kostenlos bekommen, haben sie eingepreist, und
die Stromkunden haben das bezahlt. So ist es jetzt auch
beim EEG. Ich sage Ihnen: So fahren Sie die Energie-
wende an die Wand.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt kommen wir zum Stichwort Arbeitsplätze. Uns
wurde in der letzten Legislaturperiode aufgrund unseres
Antrages vorgeworfen, wir wollten die Unternehmen ka-
puttmachen. Das wollen wir natürlich nicht. Auch wir
wollen gute, zukunftssichere Arbeitsplätze. Deshalb
muss man genau hinschauen. Man muss schauen, welche
Unternehmen im internationalen Wettbewerb sind. Wir
haben das in unserem Antrag genau geschildert. Nicht
alle Unternehmen konkurrieren mit Firmen, die an kei-
nem Zertifikatehandel teilnehmen, die kein EEG in ih-
rem Land haben. Für mich ist das wie eine heilige Kuh:
Sobald man dieses Thema anspricht, springen Sie auf
und rufen: „Arbeitsplätze!“. Natürlich geht es um Ar-
beitsplätze, aber es geht auch um Fairness, und die sehe
ich hier in keinster Weise gegeben.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer bekommt nun diese Subventionen? Zum Beispiel
Braunkohletagebaue sind von der Zahlung befreit, und
das spricht Bände. Das sind schlicht unberechtigte Sub-
ventionen – das sage ich hier als Linke –, Subventionen
ausgerechnet für die schmutzigste Stromerzeugung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das freut den Wirtschaftsminister der Linken aber!)






Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

– Das freut mich, wenn es ihn freut. – Kurz gesagt: Die
Mindestzahlung an EEG-Umlage dürfte niemals niedri-
ger sein als der strompreissenkende Merit-Order-Effekt
an der Börse. Ansonsten verwandelt sich das EEG in
eine Gelddruckmaschine für die stromintensive Indus-
trie.

Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode ge-
warnt. Die damalige Koalition hat gesagt: Wir überprü-
fen das. – Passiert ist nichts. Jetzt ist das Kind in den
Brunnen gefallen, und nun wird genau geprüft. Wir wer-
den sehen, was dabei herauskommt. Wenn wir wollen,
dass das EEG weiterläuft, dass wir mehr regenerative
Energien haben, dann müssen wir natürlich etwas tun,
und dann muss das EU-konform geregelt werden. Ich
bin mir aber nicht sicher, dass Sie das wollen. Wenn ich
aus Bayern höre, dass man dort zum Beispiel überlegt,
die AKWs wieder länger laufen zu lassen und die Ab-
standsflächen für Windräder so groß zu machen, dass
nur noch 0,5 Windräder errichtet werden, dann zweifle
ich daran, dass Sie wirklich mehr regenerative Energien
wollen. Sie müssen das beweisen, und es muss auch für
die kleinen Leute bezahlbar sein. Das heißt natürlich,
dass die Kosten auch auf die Großindustrie umgelegt
werden müssen. Dafür stehen wir.

Ansonsten werden wir Ihrem Antrag zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800914200

Der Kollege Hubertus Heil hat für die SPD-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1800914300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,
dass auch in solch einer zugespitzten Debatte einmal der
Zeitpunkt kommt, an dem man ein bisschen differenzie-
ren sollte. Es gibt Dinge im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen, die man diskutieren kann und muss; Herr Kol-
lege Bareiß, das war auch in Ihrem Beitrag ein Thema:
Es gibt in dieser Koalition die grundsätzliche Bereit-
schaft, die Ausnahmetatbestände zu reformieren. Und
wenn ich es richtig lese, Herr Kollege Krischer, dann
wollen die Grünen sie auch reformieren. Über Art und
Umfang werden wir heftig miteinander streiten.

Frau Kollegin von der Linkspartei, es gibt einen Un-
terschied zu Ihnen: Ihre Argumentation – wenn Sie kon-
sequent sind – lässt doch den Schluss zu: Sie wollen
nicht reformieren, sondern weghauen.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Nein! Das habe ich nicht gesagt!)


Das ist ein Unterschied. Ich kann Ihnen sagen: Für eine
linke Partei wäre es einmal an der Zeit, sich zum Bei-
spiel mit Betriebsräten der IG Metall, beispielsweise in
Stahlwerken, zu unterhalten.
Ich kann ein Beispiel aus meiner Heimatstadt nennen.
Meine Heimatstadt Peine in Niedersachsen hat ein Elek-
trostahlwerk der Salzgitter AG. Das Unternehmen hat im
Moment ohnehin riesige Probleme auf den Absatzmärk-
ten, weil es von der Krise in Europa erfasst ist. Es
schmilzt Schrott ein und macht daraus Baustahlträger.
Da gibt es im Moment auf der Nachfrageseite ein Rie-
senproblem, weil der Markt von billigen Produkten
überschwemmt wurde, nachdem die Immobilienblase in
Südeuropa geplatzt ist. Wenn wir dieses Unternehmen
erheblich in die EEG-Umlage einbeziehen würden, dann
ergäbe sich ein Standortproblem, eine Gefahr für Ar-
beitsplätze in diesem Bereich. Deshalb warnt uns nicht
nur der Vorsitzende der IG BCE, sondern auch der neue
Vorsitzende der IG Metall davor, mit diesem Thema
fahrlässig umzugehen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann verstehen,
dass die tatsächlich berechtigten Ausnahmen bei der
EEG-Umlage aufgrund der Ausweitung der Ausnahme-
tatbestände durch die Vorgängerregierung in der öffentli-
chen Debatte diskreditiert werden. Deshalb müssen wir
sie auch reformieren. Was ich nicht verstehen kann
– Herr Kollege Krischer, das will ich Ihnen aber auch sa-
gen –, ist, dass Sie das Beihilfeverfahren der EU-Kom-
mission begrüßen und ihm rechtlich sozusagen Ober-
wasser geben. Ich sage: Wir haben eine ganz andere
Rechtsposition.

In der Zeit der Koalitionsverhandlungen gab es – das
wissen Sie – einen gemeinsamen Besuch von Hannelore
Kraft und Peter Altmaier bei Herrn Almunia, um ihm
von den Koalitionsverhandlungen zu berichten. Ich be-
haupte, das hat mitgeholfen, das Beihilfeverfahren in
seiner ursprünglichen Form zu entschärfen. Da war näm-
lich mehr geplant: Es sollten nicht nur die Ausnahmen
unter Beschuss genommen werden, sondern das EEG
insgesamt. Hätten die Grünen das dann eigentlich auch
begrüßt?

Wir haben eine andere Rechtsauffassung. Wir be-
fürchten, dass über das Instrument des Beihilferechts
von europäischer Seite an der einen oder anderen Stelle
in die nationale Kompetenz im Bereich der Energiepoli-
tik eingegriffen wird.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja richtig!)


Deshalb noch einmal: Die Bundesrepublik Deutschland
hat eine andere Rechtsauffassung als Herr Almunia.

Ich sage Ihnen auch: Wir haben ein gemeinsames In-
teresse daran, dass diese Auseinandersetzung mit der
Kommission nicht eskaliert.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Deshalb sage ich: Die Reform der Ausnahmetatbestände
ist das eine. Aber wer sich im Interesse der energieinten-
siven Grundstoffindustrien, die wir in Deutschland ha-
ben wollen, für eine Reform der Ausnahmetatbestände
ausspricht, der darf bitte nicht über die Notwendigkeit
einer grundlegenden Reform des EEG schweigen, Herr





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Kollege Krischer. Ich finde, da wart ihr schon mal wei-
ter. Ich zitiere mit Zustimmung der Präsidentin aus ei-
nem Beschluss der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der
2013, also vergangenes Jahr, auf der Neujahrsklausur ge-
fasst wurde:

Deshalb wollen wir das EEG weiterentwickeln und
neue Marktstrukturen aufbauen, in denen die Er-
neuerbaren zunehmend ohne Förderung ihren Platz
finden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben inzwischen ein neues Papier vorgelegt!)


Ich finde, das geht in eine vernünftige Richtung; darum
geht es bei einer grundlegenden EEG-Reform.

Um es der deutschen Öffentlichkeit klar zu sagen:
Wir stehen im ersten Halbjahr 2014 nicht unter politi-
schem Druck; es besteht keine Notwendigkeit, in der
ersten Jahreshälfte eine grundlegende EEG-Reform zu-
stande zu bringen. Aber es gibt einen Zusammenhang
zwischen dem beihilferechtlichen Verfahren der EU-
Kommission, der notwendigen Reform der Richtlinien
auf europäischer Ebene und einer EEG-Novelle.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Aber deshalb muss man proaktiv handeln!)


Deshalb stehen wir miteinander in der Verantwortung,
eine Reform nicht zu blockieren, sondern sie hinzube-
kommen.

Ich sage es noch einmal: Wir wollen Ausnahmen für
diejenigen erhalten, die sie brauchen, weil sie im interna-
tionalen Wettbewerb stehen. Denn als Industrienation
sind wir darauf angewiesen, die gesamte Wertschöp-
fungskette in den Blick zu nehmen und die Grundstoffin-
dustrien in diesem Land zu halten. Wer nicht begriffen
hat, dass das ansonsten für Arbeitsplätze und Standorte
ein Problem werden kann, der hat von Wirtschaftspoli-
tik, mit Verlaub, keine Ahnung. Deshalb: Man kann es
reformieren, aber man darf es nicht weghauen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist genau unser Antrag!)


– Ich habe ja versprochen, dass ich mich um Differenzie-
rung bemühe.

Zweitens. Oli Krischer, ich finde den Text des Antra-
ges im Gegensatz zum Beschluss von der Neujahrsklau-
sur 2013 ein bisschen strukturkonservativ: Man tut so,
als sei mit dem EEG im Moment so ziemlich alles in
Ordnung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht doch nirgendwo drin!)


Darüber weißt du auch mehr, um das einmal klar zu sa-
gen. Wir haben Überförderungstatbestände, und wir ha-
ben keine Vorstellung davon, wie das EEG alter Natur in
ein neues Marktdesign überführt werden kann. Aber ge-
nau das will diese Große Koalition leisten. Das EEG ist
eine Erfolgsgeschichte – gar keine Frage; das ist ja schon
beschrieben worden –: Ein Anteil von 25 Prozent aus er-
neuerbaren Energien wäre ohne das EEG nicht denkbar
gewesen. Aber das EEG in seiner jetzigen Form droht an
dem eigenen Erfolg zu ersticken. Das liegt an der Über-
förderung und an Problemen, die mit der Versorgungs-
sicherheit zu tun haben. Deshalb wird diese Große Ko-
alition mit der Verunsicherung, die hinsichtlich Planung
und Investitionen in den letzten Jahren in der gesamten
Energiebranche geschaffen wurde, aufräumen müssen.
Wir wollen eine sichere, eine saubere, aber eben auch
eine bezahlbare Energieversorgung, und zwar nicht nur
für die Unternehmen in Deutschland, sondern auch für
die Bürgerinnen und Bürger.

Wir dürfen im Zusammenhang mit der Frage, welche
Erwartungen an die EEG-Reform geknüpft werden, al-
lerdings nicht den Eindruck erwecken, als ginge es um
eine Senkung der EEG-Umlage; denn die Kostenstruktu-
ren der Vergangenheit – die Zusagen – werden wir wei-
ter tragen. Das heißt, der vorhandene Bestand, der So-
ckel, ist ein Stück weit Teil der zukünftigen Struktur. Es
geht um die Frage, wie wir die Kostendynamik in der
Zukunft bremsen können und wie wir dafür sorgen kön-
nen, dass die Energiewende in diesem Land auch ener-
giewirtschaftlich effizient und kostengünstig vollzogen
wird.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und klimafreundlich!)


– Das sowieso.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wichtig!)


Ich sage es an dieser Stelle noch einmal: Wir kommen
nicht weiter, wenn wir uns hinter ideologisierten Positio-
nen einmauern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine herzliche Bitte auch an Bündnis 90/Die Grünen,
die ja in einigen Bundesländern mit uns gemeinsam und
in Hessen mit anderen Regierungsverantwortung und da-
mit auch Verantwortung für das Gelingen der Energie-
wende tragen, ist, dass wir uns jetzt nicht in Schützen-
gräben verziehen. Ich bitte euch, nicht reflexartig, weil
ihr in der Opposition sitzt, auf ein Mitwirken an diesem
Prozess zu verzichten. Ich habe den letzten Satz deiner
Rede, Oliver Krischer, sehr wohl gehört, dass die Grü-
nen an dieser ganzen Geschichte mitwirken wollen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Angebot!)


– Ich hoffe, es ist ein ernst gemeintes Angebot. Das sage
ich an dieser Stelle auch. Wir haben miteinander ein In-
teresse daran, dass wir die Energiewende zum Erfolg
führen.

Weder die Energiewende darf diskreditiert werden
noch die Tatsache, dass dieses Land ein Industrieland ist.
Ich will mit einem Satz sagen, warum das kein Gegen-
satz ist: Windräder brauchen Stahl. Die gesamte Wert-
schöpfung ist in den Blick zu nehmen. Deshalb habe ich
die herzliche Bitte, dass wir in diesem Haus nicht alles





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

aus Brüssel, weil es gerade in den Kram passt, entweder
total gut oder total schlecht finden. Einige Passagen in
der Rede von Oliver Krischer fand ich ein bisschen wi-
dersprüchlich: Auf der einen Seite wird begrüßt, dass
Verfahren gegen Deutschland eingeleitet werden, auf der
anderen Seite findet man vieles, was aus Brüssel zur
Energiewende in Deutschland gesagt wird, nicht ganz
unproblematisch. Das passt nicht so ganz zusammen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber der zweite Teil! Das ist aber das Problem!)


Ich sage es noch einmal: Mit Blick auf mögliche
Rechtsfolgen – wir sind anderer Auffassung als die EU-
Kommission – müssen wir versuchen, dieses beihilfe-
rechtliche Verfahren abzuwenden. Wir müssen zusehen,
dass das nicht eskaliert. Ich will sagen, was das für die-
ses Jahr bedeutet – diesen Zeitdruck habe ich vorhin
angesprochen –: Wir wissen, dass die – berechtigten –
Ausnahmegenehmigungen für die energieintensiven Be-
triebe vor dem 18. Dezember letzten Jahres von dem zu-
ständigen Bundesamt, dem BAFA, erteilt wurden. Damit
wird es 2014 keine Wettbewerbsschwierigkeiten für die
energieintensiven Betriebe geben. Aber es gibt natürlich
eine Verunsicherung, nicht nur, was die ungeklärte Frage
der Rückstellungen für einen möglichen negativen Aus-
gang des Verfahrens angeht. Diesbezüglich scheint sich
die Lage ein bisschen zu entspannen. Die eigentliche
Frage lautet aber: Wie geht es ab dem 1. Januar 2015
weiter? Wenn wir miteinander der Meinung sind, dass
wir da etwas tun müssen, dann müssen wir bis zur Mitte
dieses Jahres Rechts- und Planungssicherheit schaffen,
damit zum 1. Januar 2015 nicht eine Situation eintritt,
die für uns als Industrienation und die Arbeitsplätze in
der Grundstoffindustrie bedrohlich ist. Deshalb ist Eile
geboten. Ich könnte es auch politischer sagen: In den
letzten vier Jahren gab es so viel Hin und Her, dass wir
jetzt zügig aufräumen müssen, damit es nicht problema-
tisch wird, und alle sind aufgerufen, mitzuhelfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt haben wir Januar. Der Bundeswirtschafts- und
Energieminister wird in den nächsten Wochen Vor-
schläge unterbreiten. Dann müssen wir in diesem Haus
zügig in den Gesetzgebungsprozess eintreten. Wir müs-
sen darauf achten, dass Bund und Länder sich an dieser
Stelle nicht verhaken. Ich will aber sagen, dass ich ganz
zuversichtlich bin, dass wir es trotz der regional unter-
schiedlichen Interessen in Sachen Energiepolitik – ma-
chen wir uns nichts vor: die Bundesländer haben sehr
unterschiedliche Interessen, was die Wertschöpfung an-
geht – schaffen, im ersten Halbjahr eine EEG-Reform
auf die Beine zu stellen, die beides leistet: Wir müssen
uns anschauen, welche Ausnahmetatbestände sinnvoll
sind und welche möglicherweise nicht sinnvoll sind. Ich
sage aber auch, dass es in Brüssel Vorstellungen hin-
sichtlich Mindestumlagen gibt, die wir nicht mittragen
können, weil das bedrohlich wäre, auch was die Kosten-
struktur betrifft. Auf der anderen Seite müssen wir das
EEG zukunftsfähig machen. Eine grundlegende Reform
ist notwendig. Wir brauchen so etwas wie ein EEG 2.0 in
diesem Land und eine Überführung in ein Marktdesign,
das langfristig dafür sorgt, dass die Erneuerbaren tat-
sächlich marktfähig werden. Das ist ein Text der Grünen
aus 2013; diesen habe ich zitiert.

Wenn wir es schaffen könnten, unterhalb dieser Über-
schriften pragmatische Lösungen im Gesetzgebungsver-
fahren zu finden, fände ich das den Schweiß der Edlen
wert. Deshalb ist meine Bitte, sich nicht schon am An-
fang des Jahres in die Schützengräben einzumauern,
sondern zu schauen, ob und wie wir zusammenkommen
können. Denn ich sage ganz deutlich: Wir alle tragen
Verantwortung für das Gelingen der Energiewende.
Nicht nur Regierungsfraktionen, sondern auch die Oppo-
sition trägt Verantwortung für die Zukunft dieses Lan-
des. Meine herzliche Einladung an zumindest diesen Teil
der Opposition, an die Grünen – nicht an die Linken, da
habe ich die Hoffnung aufgegeben –, ist, daran mitzu-
wirken.


(Widerspruch bei der LINKEN)


– Ich will es einmal ganz deutlich sagen, Frau Bulling-
Schröter: Unterhalten Sie sich doch beispielsweise ein-
mal mit Ihrem Kollegen, dem Wirtschaftsminister von
der Linkspartei in Brandenburg. Er hat eine grundlegend
andere Vorstellung von Energie- und Wirtschaftspolitik,
weil er mehr mit der Praxis von Industrie in Branden-
burg befasst ist als Sie offensichtlich hier im Deutschen
Bundestag.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800914400

Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Tiefensee [SPD])



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1800914500

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Herr Krischer, Sie haben am Anfang und auch zum
Schluss Ihrer Rede den Konsens beschworen. Das fand
ich sehr gut. In der Tat, wir haben einen breiten Konsens
in diesem Haus, nämlich dass wir die Umstellung der
Energieversorgung in Deutschland vorantreiben wollen.
Dazu brauchen wir – auch das haben Sie gesagt – die
Akzeptanz der Menschen. Wir dürfen aber mit dem Um-
bau der Energieversorgung in Deutschland – auch das
haben Sie gesagt – den Wirtschaftsstandort Deutschland
nicht gefährden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sind wir ja einer Meinung!)


Wir sind ebenfalls einer Meinung, dass Strom kein
Luxusgut werden darf, weder für die Familien noch für
die Rentnerinnen und Rentner noch für die Studenten,
aber schon gar nicht für die Unternehmen. Der Anteil
der Industrie an der Wertschöpfung in Deutschland be-
trägt nun einmal 23 Prozent. Das ist immerhin doppelt so





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)

viel wie zum Beispiel in Frankreich, in Großbritannien
oder den Vereinigten Staaten von Amerika.

Ich finde es gut, dass Sie in Ihrem Antrag eindeutig
geschrieben haben, dass Sie die besonderen Ausgleichs-
regelungen im Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht an-
greifen wollen. Sie wollen es auch dabei belassen. Sie
haben sogar geschrieben – ich zitiere –, dass es eine
„sinnvolle ordnungspolitische Maßnahme“ ist. Das be-
grüßen wir außerordentlich. Das sind ja auch Maßnah-
men, die Sie auf den Weg gebracht haben.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben!)


– Das haben Sie in Ihrem Antrag geschrieben. – Den-
noch häufen sich, Frau Lemke, wie schon in der
17. Wahlperiode die Widersprüche in Ihren Anträgen.
Der Antrag ist ja auch bloß ein bisschen „refreshed“; sie
haben ihn schon mehrmals vorgelegt. Wir haben bereits
mehrmals darüber gesprochen. Sie haben den Antrag
jetzt ein bisschen aufpoliert. Das ist völlig in Ordnung.


(Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie schreiben, dass die hohen Kosten für die EEG-
Umlage und der fortlaufende Anstieg der Kosten den
besonderen Ausgleichsregelungen für energieintensive
Unternehmen angelastet werden muss. Das ist eine Be-
hauptung. Sie behaupten auch – das können wir so nicht
stehen lassen –: Mit der EEG-Novelle 2012 wurde die
Regelung massiv ausgeweitet.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt die EU-Kommission!)


Machen wir doch einmal einen Faktencheck. Sie be-
schreiben es als überbordend und ausufernd; das haben
Sie auch in Ihrer Rede so zitiert. Die Kriterien, Herr
Krischer, sind genau die gleichen geblieben wie bei Ih-
nen:


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


die Strommenge – dazu komme ich gleich noch genauer –;
es muss produzierendes Gewerbe sein, und es muss ein
Unternehmen sein, das im internationalen Wettbewerb
steht. Wir haben in der Novelle 2012 lediglich eine Mit-
telstandskomponente hinzugefügt. Wir haben gesagt:
Die Strommenge sinkt von 10 Gigawattstunden auf 1 Gi-
gawattstunde.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Unterschied!)


– Ich komme dazu. – In der Tat sind es mehr Unterneh-
men geworden. Das ist doch Sinn und Zweck der Übung
gewesen. Aber, wie Herr Kollege Bareiß schon gesagt
hat, die Strommenge ist in vier Jahren, vom Jahre 2010
bis zum Jahre 2013, um 10 Prozent gestiegen: von genau
86,6 Gigawattstunden auf 95,3 Gigawattstunden. Das
heißt, die Novelle 2012 hatte eine Erhöhung der EEG-
Umlage von 0,2 Cent zur Folge. Das sind für einen
Durchschnittshaushalt im Monat 60 Cent. Dafür bekom-
men wir aber einen international wettbewerbsfähigen
Mittelstand und sichern die Arbeitsplätze in Familienun-
ternehmen. Das sollte es uns wert sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine absurde Milchmädchenrechnung!)


Jetzt kommen wir zu Ihrer zweiten Behauptung. Sie
sagen, die Novelle von 2012 hätte völlig neue Branchen,
insbesondere die böse Braunkohleindustrie, in diese
Liste gespült.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da nicht drin!)


– Das haben Sie so geschrieben; ich kann das zitieren. –
Machen wir einmal den Faktencheck: Vor 2012, vor der
Novelle, standen sechs Unternehmen der Braunkohlein-
dustrie auf dieser Liste. Jetzt dürfen Sie raten, wie viele
es heute sind! Sechs. Sie beklagen, dass diverse Unter-
nehmen der Fleischindustrie plötzlich dort auftauchen.
Vor 2012 waren genau die gleichen Unternehmen auch
drin.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


Sie beklagen außerdem, dass vor 2012 49 Schienen-
bahnen dort auftauchten. Heute sind es 53; das sind 4
mehr.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht alles nicht in unserem Antrag, was Sie da erzählen!)


Wieso können Sie sagen, dass neue und überbordend
viele Unternehmen in diese Liste gespült worden sind?
Das ist nicht der Fall.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sind denn dann die 100 Unternehmen, die dazugekommen sind?)


Kommen wir zu Ihrer dritten Behauptung; wir sind
bereits darauf eingegangen. Sie sagen: Alle Betriebe
zahlen lediglich 0,05 Cent pro Kilowattstunde, und die
besonderen Ausgleichsregelungen sind schuld an der
Höhe der Umlage von 6,24 Cent.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Unter anderem!)


Machen wir auch hier den Faktencheck: Es gibt eine ein-
deutige Staffelung. Bis zu 1 Gigawattstunde wird von al-
len Betrieben die volle Höhe bezahlt. Bis 10 Gigawatt-
stunden sind es 10 Prozent, und bis 100 1 Prozent. Erst
ab 100 Gigawattstunden kommen die 0,05 Cent zum
Tragen. Das heißt: Die Summe der besonderen Aus-
gleichsregelungen macht zurzeit 1,35 Cent aus. Das sind
4 Euro pro Monat pro Durchschnittshaushalt.

Herr Krischer, lassen Sie uns das einmal durchrech-
nen. Sie sagen, das ist eine Milchmädchenrechnung,
aber die Zahlen sagen etwas anderes. Würden wir die
Rücknahme dieser besonderen Ausgleichsregelungen
veranlassen und somit eine Deindustrialisierung in
Deutschland riskieren, würden wir – Stand heute – auf
eine EEG-Umlage von 5 Cent kommen, und die Haus-





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)

halte würden 4 Euro einsparen. Wollen wir das riskie-
ren? Ich denke, nein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Krischer, ich habe noch eine Empfehlung an Sie.
Machen wir einmal Folgendes – dann kommen wir näm-
lich vom Theoretischen ins Praktische –: Wir setzen uns
hin, nehmen die Liste und gucken uns alle Betriebe in al-
len Bundesländern an, die beim Bundesamt für Wirt-
schaft und Ausfuhrkontrolle verzeichnet sind. Das ma-
chen wir mit den Unternehmen in Ihrem Wahlkreis, in
meinem Wahlkreis, in allen Wahlkreisen – ohne Aus-
nahme. Wir gucken uns alle an.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Vorschlag gemacht!)


Dann sagen wir, welches Unternehmen die drei Krite-
rien, die Sie und wir eingeführt haben, nicht erfüllt.
Dann machen wir den Faktencheck und sagen: Diese
Unternehmen sollen nicht mehr von der Ausgleichsrege-
lung profitieren.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da redet gar keiner von!)


In meinem Wahlkreis gibt es zwei Papierfabriken, sie
stehen nebeneinander. Die eine hätte von einem Jahr
aufs andere 15 Millionen Euro zusätzliche Kosten;


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht wegen des Stroms!)


das betrifft übrigens ungefähr 1 000 bis 1 200 Arbeits-
plätze. Das heißt: Wenn diese Firmen die EEG-Umlage
– so ist ja Ihr Wunsch – jetzt komplett bezahlen sollen,
dann würde das eine hundertfache Erhöhung bedeuten.
Denn alle mittelständischen Papierfabriken zahlen zur-
zeit 125 000 Euro EEG-Umlage. Wenn diese Regelung
wegfallen würde, dann wären das mit einem Schlag
12,5 Millionen Euro. Wissen Sie, was die Vertreter von
UPM-Kymmene aus Finnland dann zu mir sagen? Sie
sagen schlicht und ergreifend: Das kann niemand wol-
len. – Die schließen dann ab und schmeißen den Schlüs-
sel weg, ohne sich umzudrehen. Das wird nämlich pas-
sieren, und das werden wir nicht riskieren.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800914600

Kollege Koeppen, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung des Kollegen Krischer?


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1800914700

Selbstverständlich.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800914800

Herzlichen Dank. – Herr Kollege Koeppen, was Sie

hier jetzt aufmachen, hat mit unserem Antrag alles gar
nichts zu tun. Wir schlagen schließlich vor, dass man
sich an der Strompreiskompensationsrichtlinie orientie-
ren soll. Darin werden Betriebe wie zum Beispiel die Pa-
pierindustrie erwähnt, die dann nach wie vor in den Ge-
nuss der besonderen Ausgleichsregelungen kommen. Ich
frage Sie: Warum haben Sie eben bei Ihrer Berechnung
der Kosten der besonderen Ausgleichszahlungen die Zahl
von 1,35 Cent genannt, die angeblich die Gesamtsumme
der besonderen Ausgleichsregelungen ausmacht? Ich würde
eine andere Zahl nennen – aber geschenkt.

Wie erklären Sie, dass der Börsenpreis für Strom
durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz, durch den Me-
rit-Order-Effekt, durch den Ausbau der erneuerbaren
Energien von 8 Cent im Jahr 2008 auf inzwischen unter
4 Cent gesunken ist? Davon profitieren diese Unterneh-
men. Wir haben ja die Situation, dass beispielsweise in
den Niederlanden eine Aluhütte Insolvenz anmelden
muss, weil in Deutschland die Industriestrompreise ge-
sunken sind. Wie erklären Sie diese Zusammenhänge?


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1800914900

Herr Krischer, Sie wissen doch ganz genau, dass das

Problem mit dem Differenzstrom und der Merit-Order-
Effekt die Urkrankheiten des EEG sind. Genau deswe-
gen müssen wir es doch anfassen!

Herr Krischer, wenn Sie den Börsenstrompreis als
den Industriepreis für Deutschland nehmen und sagen:
„Deutschland geht es am besten“ und dabei die übrigen
Faktoren, die auch mit in den Strompreis eingehen, igno-
rieren, dann sind Sie auf dem Holzweg. Es ist eben nicht
nur der Börsenstrompreis, der bezahlt werden muss. Es
ist in Deutschland eben auch die EEG-Umlage, die be-
zahlt werden muss. Der Grund, aus dem wir die Unter-
nehmen davon befreien wollen, ist nicht, dass wir wol-
len, dass die Haushalte 4 Euro mehr bezahlen, um die
„fette Industrie“ zu unterstützen, sondern, dass wir die
Arbeitsplätze im Land halten wollen. Denn die Unter-
nehmen würden sonst nichts anderes tun, als abzuschlie-
ßen und aus dem Land zu gehen. Sie würden sich nicht
einmal umdrehen, um zu gucken, wo der Schlüssel ist,
sondern sie würden einfach gehen. Dazu gibt es eindeu-
tige Aussagen. Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen
– auch wenn Sie alle jetzt so entrüstet den Kopf schüt-
teln: Sie müssen sich wirklich einmal mit den Industrie-
betrieben und mit den mittelständischen Betrieben unter-
halten –;


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir, verdammt noch mal!)


deswegen haben wir die Mittelstandskomponente einge-
führt.


(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ CSU])


Ich will abschließend sagen, Herr Krischer: Wenn Sie
in Ihrem Antrag schreiben, Sie wollen das EEG versteti-
gen, Sie wollen das EEG konservieren und Sie wollen es
auch zementieren – es soll also nicht angefasst werden –:
Das führt in die Sackgasse.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da alles nicht drin! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da gar nicht drin! Lesen hilft!)


– Sie haben geschrieben, dass das letztendlich so verste-
tigt werden soll.





Jens Koeppen


(A) (C)



(B)


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsch!)


Wir brauchen – darauf haben wir uns in der Koalition
verständigt – eine grundlegende – ich lege Wert darauf:
eine grundlegende – Reform des EEG. In diese Reform
muss Eingang finden, dass wir die technologischen
Innovationen nach vorne bringen. Wir müssen die Ener-
gieeffizienzmaßnahmen weiterhin im Blick haben.


(Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann tun Sie was dafür! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im EEG? Was wollen Sie denn im EEG mit Energieeffizienz machen?)


Wir müssen hin zur Vergütung der Energieversorgung
und weg von der Vergütung der reinen Installation und
Erzeugung. Wir müssen endlich wieder nutzbare Energie
fördern. Der Ausbau muss bedarfsgerecht mit der vor-
handenen, aber vielleicht auch mit der neuen Netzinfra-
struktur synchronisiert werden.

Meine Damen und Herren, ein Ausbau auf der grünen
Wiese ohne Abnehmer muss der Vergangenheit angehö-
ren. Wir brauchen die Akzeptanz der Menschen. Wir
brauchen innovative Ideen statt Besitzstandswahrung.
Wenn Sie den Konsens, den Sie vorhin beschworen ha-
ben, wollen, dann sind Sie herzlich eingeladen, mitzu-
machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800915000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/291 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages be-
rufe ich auf Mittwoch, den 29. Januar 2014, 11 Uhr, ein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bereits am Montag,
dem 27. Januar 2014, findet um 14 Uhr hier im Plenar-
saal die Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundesta-
ges für die Opfer des Nationalsozialismus statt.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen bis
dahin alles Gute.