Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Ich begrüße Sie zu unserer Plenarsitzung und möchte
Sie davon in Kenntnis setzen, dass es eine interfraktio-
nelle Vereinbarung gibt, in der nächsten Sitzungswoche
keine Befragung der Bundesregierung, keine Frage-
stunde und auch keine Aktuellen Stunden stattfinden zu
lassen. Der Hintergrund ist schlicht die übliche Verein-
barung, dass in Haushaltswochen oder bei Regierungser-
klärungen mit ganzwöchiger Plenardebatte Fragestunde
und Regierungsbefragung entfallen. Ich vermute einmal,
dass Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden sind. –
Das ist offenkundig der Fall.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 15 auf:
Vereinbarte Debatte
zum Arbeitsprogramm der Europäischen
Kommission
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am25. Mai 2014 wird das Europäische Parlament direkt ge-wählt. Als Ergebnis dieser Wahl wird der Präsident derEU-Kommission ins Amt gebracht. Das ist eine histori-sche Entscheidung. Deshalb wird das eine historischeWahl sein. Es ist gut, dass wir uns alle darauf vorberei-ten. Ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen indiesem Haus für die Bereitschaft, aus Respekt vor dieserWahl und auch aus Respekt vor dem Europäischen Par-lament unsere eigene Sitzungswoche im Mai zu ver-schieben, damit auch wir als Abgeordnete zeigen kön-nen, wie wichtig uns dieser Tag ist und dass wir uns anden Wahlkämpfen unserer Parteien beteiligen wollen.
An 25. Mai finden in Deutschland – das gab es nie zu-vor – Kommunalwahlen in insgesamt zehn Ländernstatt. Auch da wollen wir deutlich machen – unabhängigvon den Inhalten und auch den Verschiedenheiten, die eshier im Haus gibt –, dass Europa vor Ort beginnt unddass wir dazu einen wichtigen Beitrag leisten.Die SPD hat sich vorgenommen, Europa zu verbes-sern.
Wir tun das nach der Melodie zur Kinderhymne vonBert Brecht:Und weil wir dies Land verbessernLieben und beschirmen wir’s.Und das Liebste mag’s uns scheinenSo wie andern Völkern ihrs.Das gilt genauso für Europa; so wollen wir es halten.
Die Europäische Kommission hat jetzt ein Arbeits-programm vorgelegt, über das wir diskutieren. Es isteine gute Tradition und es ist auch eine Notwendigkeit,dass wir abgleichen, was unsere Politik sein soll – füruns ist das natürlich im Koalitionsvertrag festgehalten –und was wir gegenüber der Bundesregierung dabei anKontrollrechten in der Umsetzung nutzen. Gleichzeitigist zu klären, wo wir uns als Parlamentarier rechtlich zurKooperation mit unseren Kolleginnen und Kollegen imEuropäischen Parlament verpflichten. Es ist gut, dass wirParlamentarier aus diesem Hause direkt am Montag da-mit anfangen, nach Art. 13 des Fiskalpakts gemeinsammit Parlamentarierkollegen aus Brüssel an diesem Eu-ropa zu arbeiten.Wir werden das auf der Grundlage der Übereinstim-mung in Sachfragen tun, was in diesem Haus selten vor-kommt. Dieses Haus – in der letzten Legislaturperiode
Metadaten/Kopzeile:
504 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Axel Schäfer
(C)
(B)
gab es hier fünf Fraktionen, jetzt sind es vier – hat es ge-schafft, die Rechte des Deutschen Bundestages gegen-über der Bundesregierung in einer gemeinsamen An-strengung, verbunden mit einem Kompromiss imRahmen von Begleitgesetzen wie dem EUZBBG, zu re-geln. Das sollten wir gemeinsam nutzen, egal wer aktuelldie Regierungs- oder die Oppositionsrolle innehat.Bezogen auf das Arbeitsprogramm der Kommissionheißt das konkret: Ja, wir wollen darauf drängen, dassdieses Programm auf Ausbildung und Beschäftigung,auf Qualifikation und Weiterbildung ausgerichtet wird.Das muss im Mittelpunkt stehen. Ziel ist ein soziales Eu-ropa der Beschäftigung der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer und der Chancen für die Jugend. Das istunser Anliegen als Sozialdemokratinnen und Sozialde-mokraten.
Deshalb haben wir uns in diesem Koalitionsvertrageine ganz konkrete Selbstverpflichtung auferlegt. Sielautet: Wir wollen ein deutsch-griechisches Jugendwerknach dem Vorbild des Deutsch-Französischen und desDeutsch-Polnischen Jugendwerkes schaffen. Das istwirklich eine Innovation. Ich erwarte von der Bundesre-gierung, dass sie mit uns alle Anstrengungen für eine zü-gige Umsetzung unternimmt. Hier wird ein praktischesZeichen von Solidarität gesetzt und nicht nur darüber ge-redet. Das ist unser gemeinsames Interesse.
Wir müssen das im kritischen Bewusstsein dessentun, was erreicht und was nicht erreicht worden ist. Es isterreicht worden, dass mit Lettland das 18. Land Mitgliedder Euro-Zone geworden ist. Das ist deshalb so wichtig,weil noch vor einigen Jahren viele Menschen behauptethaben, dass am 31. Dezember 2011, 2012 oder 2013 dieEuro-Zone zusammenbrechen werde, dass das keine Zu-kunft habe, dass wir zu nationalen Währungen zurück-kommen würden. Wir praktizieren das Gegenteil, indemwir Europa tatsächlich zu einer Währungsgemeinschaftausbauen. Diese funktioniert aber nur, wenn dieses Eu-ropa gleichzeitig eine Sozialgemeinschaft wird – von derSache her, aber auch durch die Zustimmung der Bürge-rinnen und Bürger.
Deshalb ist es so wichtig, dass sich jetzt alle Parteien-familien für die Europawahl aufstellen. Ich finde es gut,dass die Grünen europaweit im Rahmen von Onlineab-stimmungen etwas ganz Neues ausprobieren und dabeinatürlich auch die Mühen der Ebene erleben. Ich finde esauch richtig, dass die Mühen auf höherer Ebene bei derSuche der EVP nach einem Spitzenkandidaten bzw. ei-ner Spitzenkandidatin fortgesetzt werden. Das dokumen-tiert: Wir rücken davon ab, dass das Europäische Parla-ment letztendlich nur dem zustimmt, was die Staats- undRegierungschefs entschieden haben, und kommen dahin,dass das Europäische Parlament aus seiner Mitte auf-grund des Wahlergebnisses den Kommissionspräsiden-ten wählt. Wir Sozialdemokraten haben das ja bekannt-lich vorgemacht.Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken habenjetzt einen Programmentwurf vorgelegt. Ich zitiere mitGenehmigung des Herrn Präsidenten:
Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht wurdedie EU zu einer neoliberalen, militaristischen undweithin undemokratischen Macht …Für alle, die es schon vergessen haben: In dem zentra-len Reformvertrag von Maastricht wurden 1992 nichtnur die Chancen für ein sozialeres Europa mit aufge-nommen, sondern wir haben es erstmals in der modernenStaatsgeschichte geschafft – das ist nämlich Demokratie –,dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger auf kom-munaler Ebene, egal ob sie aus Griechenland, Portugal,Spanien oder Frankreich stammen – jetzt muss man nochhinzufügen: Polen und Tschechien –, wählen und ge-wählt werden können. Das gibt es nirgendwo auf derWelt. Darauf sind wir gemeinsam stolz, und das prakti-zieren wir auch.
Als Gewerkschafter sage ich: Wir haben 1994 mit denEuropäischen Betriebsräten etwas erreicht, was Gewerk-schaften immer gefordert haben, nämlich den multina-tionalen Konzernen einen Machtfaktor der gewähltenArbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmervertreter entge-genzusetzen. Das war nur in Europa möglich.Dass das natürlich weiter verbessert werden muss, istklar. Aber wir entscheiden bei Europa nicht über die In-stitution; wir entscheiden bei Europa darüber, wie vieleher linke oder eher konservative Politik es gibt. Dasswir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratendiese nach links führen wollen, ist selbstverständlich.Darum werden wir uns auch bemühen.
– Im Koalitionsvertrag steht zu Recht: Die wichtigsteAufgabe deutscher Politik bleibt das europäische Eini-gungswerk.Wir leisten auch hier einen ganz praktischen Beitrag.Kollege Strobl und ich sind uns einig – ich glaube, fürdie Kolleginnen und Kollegen von Grünen und Links-partei gilt das auch –: Wir wollen nach der Europawahlden von Deutschland vorzuschlagenden Kandidaten fürden Kommissar wieder im Europaausschuss oder imBundestag öffentlich anhören. Wir haben es mit GüntherOettinger so gemacht; das war ein großer Erfolg. Ichhoffe, wir werden es mit Martin Schulz so machen, weiles Zeit ist, dass wir nach dem Christdemokraten WalterHallstein wieder einen deutschen Kommissionspräsiden-ten, den Sozialdemokraten Martin Schulz, bekommen.Das wäre gut für unser Land. Das wäre gut für die Euro-päische Union.Glück auf!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 505
(C)
(B)
Das Wort erhält nun der Kollege Alexander Ulrich für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Schäfer, Sie haben hier von historischen Europa-wahlen geredet. Da Sie sich solcher Worte bedienen,muss ich sagen: Die gegenwärtige Situation der Europäi-schen Union ist historisch schlecht. Der soziale Zusam-menhalt ist historisch schlecht. Die Zustimmung zur Eu-ropäischen Union ist historisch niedrig.
Das ist das Ergebnis der Politik der Troika und insbeson-dere der Bundesregierung in den letzten Jahren. Für dieaktuelle Bundesregierung hat man im Koalitionsvertragdas Weiter-so festgeschrieben.Anfang 2013 hat Kommissionspräsident Barroso dieKrise für beendet erklärt. Hier einmal ein paar Zahlen,damit klar ist, über was wir reden:In Portugal ist die Wirtschaftsleistung wieder um1,8 Prozent gesunken. Die griechische Wirtschaftsleis-tung ist um 4 Prozent und die zyprische ist um weitere8,7 Prozent gesunken.Die öffentliche Verschuldung ist in allen ESM-Pro-grammländern weiter gestiegen. In Griechenland beträgtsie mittlerweile 175 Prozent. Als die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF angefangen hat, Griechen-land – in Anführungszeichen – „zu retten“, waren es107 Prozent. Einen deutlicheren Beweis dafür, dass dieTroika-Politik die Krise verschärft und nicht bekämpft,gibt es nicht.
In Spanien zahlen kleine und mittlere Unternehmenimmer noch rund 6 Prozent Zinsen auf mittelfristigeKredite. Dort gibt es heute über 200 000 Unternehmenweniger als zu Beginn der Krise. Viele sind pleite, weildie Kreditklemme immer noch nicht überwunden ist.Entsprechend steigt die Arbeitslosigkeit. Ende 2013betrug sie in Griechenland 27,4 Prozent, in Spanien26,7 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in denLändern bei über 50 Prozent. In der gesamten Euro-Zonehaben wir 19,5 Millionen Arbeitslose. Das sind über8 Millionen mehr als zu Beginn der Krise. Was da histo-risch sein soll, Herr Axel Schäfer, bleibt Ihr Geheimnis.
Die Krise war vor einem Jahr nicht beendet; sie istauch jetzt nicht beendet. Was die Politik macht, was dieTroika in diesen Ländern macht, sehen wir: Die Renten,Löhne und Gehälter werden gekürzt. Die Arbeitslosen-unterstützung wird gekürzt. Die Gesundheitssystemewerden zerstört – mit katastrophalen Folgen. Auch hiernur einmal eine Zahl, damit klar ist, über was wir reden:In Griechenland ist im Zuge der Krise die Zahl der HIV-Infektionen um das 30-Fache gestiegen, weil man imGesundheitswesen spart. Das ist das Ergebnis derTroika-Politik, die von der SPD auch in dieser neuen Re-gierung mitgetragen wird.Was macht die EU-Kommission? Herr Schäfer, Siehaben über das Programm der EU-Kommission gar nichtgeredet; möglicherweise haben Sie es gar nicht gelesen.Was die EU-Kommission da festschreibt, ist ein Weiter-so der Politik der letzten Jahre.Wenn man über die Bankenrettung und die Banken-union redet, wie sie derzeit verhandelt wird, heißt esauch wieder: Es sollen weiterhin die Steuerzahlerinnenund Steuerzahler für die Spekulationsverluste in Geisel-haft genommen werden. Wenn der Abwicklungsmecha-nismus tatsächlich irgendwann bereitsteht, sollen55 Milliarden Euro verfügbar sein. Wir wissen, dass inder Euro-Zone bei den Banken faule Kredite von1 000 Milliarden Euro, also von 1 Billion Euro, lauern.Das zeigt, dass diese Summe viel zu niedrig ist, sodassauch weiterhin die Steuerzahlerinnen und Steuerzahlerdafür in Haftung genommen werden. Deshalb fordernwir als Linke eine Schrumpfung und strikte Regulierungdes Finanzsektors. Banken müssen endlich unter demo-kratische Kontrolle, damit Europa wieder eine wirt-schaftliche Perspektive hat.
Das Arbeitsprogramm ist auch ein Weiter-so, was denSozialabbau unter dem Vorwand der Haushaltskonsoli-dierung angeht. Man konsolidiert aber keine Haushalte,indem man den einfachen Menschen ihr Einkommenraubt. Das führt in die Rezession, wie wir es in Grie-chenland und anderen Ländern sehen. Aus einer Rezes-sion heraus kann man keine Schulden abbauen.Es gibt ein Weiter-so bei den Attacken gegen Arbeit-nehmerrechte. Mit dem REFIT-Programm will die Kom-mission Regeln abschaffen, die laut Wirtschaftslobbyis-ten überflüssig sind. Dabei geht es häufig auch umThemen wie Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.Ebenso bedeutet das Programm ein Weiter-so mit derbedingungslosen Orientierung auf die Wettbewerbsfä-higkeit, also mit Arbeitsmarktderegulierung und Steuer-senkungen für Unternehmen.Aber Europa braucht gerade kein Weiter-so, sonderneine 180-Grad-Wende. Das Wahlprogramm der SPDwäre dafür übrigens keine schlechte Grundlage gewesen,Herr Schäfer. Da heißt es zum Beispiel:Wir wollen … eine klare Trennung von Investment-und Geschäftsbanken.Auf der gleichen Seite heißt es:Rein spekulative Finanzprodukte … wollen wirverbieten.Auf Seite 105 fordert die SPD „existenzsicherndeMindestlöhne“ für die gesamte EU und gar eine echteSozialunion. Bei den Koalitionsverhandlungen hat dieSPD jedoch beim Thema der Europäischen Union sofortzugestimmt. Sie haben einfach ein Weiter-so der Arbeit
Metadaten/Kopzeile:
506 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Alexander Ulrich
(C)
(B)
von Schwarz-Gelb unterschrieben. Was Sie mit dem Ko-alitionsvertrag machen, ist Wahlbetrug.
Wir Linke streiten für eine solidarische, demokrati-sche und soziale Europapolitik. Dazu gehört eineEU-weite Vermögensabgabe. Die Vermögen des reichs-ten 1 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger über-steigt die gesamte öffentliche Verschuldung bei weitem.Diese Topvermögen sind sogar in der Krise rasant weitergestiegen. Aber da trauen Sie sich nicht heran.Dazu gehört auch die ernste Bekämpfung von Steuer-flucht und Steuerhinterziehung. Laut EU-Kommissiongehen den Mitgliedstaaten jährlich 1 Billion Euro wegenSteuerbetrugs durch die Lappen. Statt eine polemischeDebatte um Armutszuwanderung anzuzetteln, liebe Kol-legen von der CSU, sollten Sie sich einmal mit denReichtumsauswanderern beschäftigen. Denn das Pro-blem in unserem Land sind weniger die Zuwanderer ausRumänien und Bulgarien, sondern eher Menschen wieUli Hoeneß. Um diese müssen Sie sich einmal kümmern,denn sie sind im Hinblick auf die Belastung der Finan-zen unserer Haushalte eher ein Problem.
Wenn Ihre Aussage, „Wer betrügt, der fliegt“, gilt, dannwird es auf der Ehrentribüne des FC Bayern in Zukunftziemlich leer aussehen, ebenso in der CSU-Landes-gruppe, Stichwort „Amigo“.Zu einer sinnvollen Europapolitik gehören auch mas-sive öffentliche Investitionen. Eine Krise überwindetman nicht, indem man die Wirtschaft kaputtspart, son-dern nur, indem man sie durch sinnvolle Investitionenankurbelt. Dazu gehören endlich auch wieder anständigeLöhne und Gehälter in Deutschland. Die Außenhandels-überschüsse müssen abgebaut werden. Wir brauchenendlich einen Mindestlohn in Deutschland, nicht erst2017 und mit vielen Lücken, sondern jetzt und ohneAusnahme.
Damit auch das nicht vergessen wird: Wir tun immerso, als wäre die Krise bei uns vorbei; wir hätten nichtsmehr damit zu tun und könnten anderen Ländern vor-schreiben, was sie zu tun haben. Deutschland ist mit sei-ner Politik, auch durch die Außenhandelsüberschüsse,Mitverursacher der Krise; denn unsere Außenhandels-überschüsse sind die Schulden der anderen Länder. Daswird Ihnen jeder Ökonom erklären können. Deshalb darfDeutschland nicht mit dem Finger auf andere zeigen,sondern muss anfangen, seine eigene Wirtschaftspolitikzu verändern, indem es seine Außenhandelsüberschüsseabbaut.Wir hoffen, dass die EU-Kommission da weiterhinDruck auf die Bundesregierung macht. Wenn hier imParlament oder in der Regierung einige sagen, die EU-Kommission mache da etwas verkehrt, soll der Hinweisgestattet sein: Alles, was die EU-Kommission in Brüsselmacht, alle Verträge, die da geschlossen worden sind,kommen nur mit der Beteiligung Deutschlands zustande.Sie haben die Verträge mit unterschrieben, und darin ste-hen auch die 6 Prozent Außenhandelsüberschüsse. Alsoarbeiten Sie daran; sonst wird Europa zusammenbre-chen, und dann fällt die Europawahl wirklich in ein his-torisches Zeitfenster, Herr Schäfer.
Vielen Dank.
Gunther Krichbaum ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,die Europäische Kommission hat sich in ihrem Arbeits-programm viel vorgenommen. Dazu gehört im Wesentli-chen die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Wäh-rungsunion. Man plant Initiativen zur Förderung vonWachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Die Klima- undEnergiepolitik und die Weiterentwicklung digitalerTechnologien stehen auf ihrer Agenda. Auch der Bereichder Sicherheitspolitik und der Justizpolitik wird nichtausgespart. Man hat sich das Thema der EuropäischenStaatsanwaltschaft auf die Agenda gesetzt, genauso dieEntwicklung der Außenwirtschafts- und der Außenpoli-tik.Wenn Sie jetzt fragen, wie das die Kommission ei-gentlich alles schaffen möchte – denn das waren nur dieÜberschriften –, dann besteht diese Frage ohne jedenZweifel zu Recht. Denn bei Lichte besehen wird diesesArbeitsprogramm 2014 nur bis Mai halten; denn dannfinden – Kollege Axel Schäfer hat es schon angespro-chen – die Wahlen zum Europäischen Parlament statt.Auch wenn die Amtszeit der Europäischen Kommissionbis Oktober dauert, wird dann in Brüssel sicherlich nichtmehr unbedingt der Zustand herrschen, dass der Kom-mission die Schweißperlen auf der Stirn stehen. Deswe-gen muss man auch von deutscher Seite darauf schauen,wie die Dinge umgesetzt werden. Auffällig ist in jedemFall, dass die Europäische Union, dass die EuropäischeKommission weg von der Krisenbewältigungspolitikund hin zu einer stärkeren Zukunftspolitik möchte, unddieser Schritt ist richtig.Lieber Kollege Ulrich, es ist geradezu das Markenzei-chen der Europäischen Union, dass wir durch Wettbe-werbsfähigkeit die Arbeitsplätze von morgen schaffenmüssen, mit einem Mehr an Forschung und Technologie.Denn wie wollen wir angesichts der Globalisierung, demThema des 21. Jahrhunderts, im Wettbewerb bestehen,wenn es uns nicht gelingt, diese Herausforderungen an-zunehmen und zu bewältigen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 507
Gunther Krichbaum
(C)
(B)
Mit Blick auf die Staatsschuldenkrise einiger EU-Länder, die tatsächlich die gesamte europäische Wäh-rungsunion, ja, auch unsere Wirtschaft, in eine Schief-lage gebracht haben, fällt doch auf, dass wir mehr als nurvorangekommen sind. Denn noch vor zwei oder dreiJahren mussten wir tatsächlich noch ganz andere The-men diskutieren: Es wurde offen darüber diskutiert, obdie Euro-Zone eventuell auseinanderbrechen könnte, obdie ganze Europäische Union auseinanderbrechenkönnte. Und nein, diese Europäische Union hat zusam-mengehalten, hat sich gegenüber jenen Staaten als soli-darisch erwiesen, die sich in Schieflage befanden. Aberes war eben auch richtig, dass Bundeskanzlerin AngelaMerkel damals sagte: Nein, diese Hilfen und Unterstüt-zungen werden nicht bedingungslos ausgereicht; wir for-dern von diesen Staaten eigene Bemühungen, eigeneAnstrengungen ein. Diese haben sich, wie man sieht, ge-lohnt. Deswegen diskutieren wir heute ganz andere The-men.Heute freuen wir uns darüber, dass Irland als erstesLand den Rettungsschirm hat verlassen können, dasssich Spanien auf einem guten Weg befindet, dass die Ar-beitslosigkeit sinkt und die Hilfsprogramme der Euro-päischen Union nicht mehr in Anspruch genommen wer-den müssen. All diese Länder befinden sich auf einemsehr guten Weg, einschließlich Griechenland. In Grie-chenland gibt es einen sogenannten Primärüberschuss.Das heißt, dass in diesem Land nach Abzug der Zinsenmittlerweile ein Haushaltsüberschuss besteht. Das isteine ganz wichtige volkswirtschaftliche Kerngröße, umerkennen zu können, ob sich dieses Land auf dem richti-gen Weg befindet. Ja, es tut es.
Deswegen wäre es richtiger, Herr Kollege Ulrich, dieAnstrengungen dieser Länder insgesamt anzuerkennen.Wir unterstützen sie weiter auf diesem Weg, wir erwei-sen uns hier als solidarisch, aber es wird ohne dieseschmerzvollen Anpassungsprozesse natürlich nichtfunktionieren.Ein Weiteres. Ja, es ist wahr: Natürlich hätten vieledieser Maßnahmen bereits in den Vertrag von Maastrichteingefügt werden müssen. Aber damals, vor über 20 Jah-ren, ist niemand davon ausgegangen, dass all diese Ent-wicklungen die Währungsunion schier auseinanderrei-ßen könnten. Deswegen ist es umso anerkennenswerter,dass es gelungen ist, an einem bestehenden Haus eineKernsanierung durchzuführen, nachträglich Stahlträgereinzuziehen, sodass wir jetzt in Europa eine Finanzarchi-tektur haben, die sich als stabil erweist. Der Euro ist,weltweit betrachtet, die Leitwährung neben dem US-Dollar. Das Vertrauen kehrt zurück. Daran müssen wirweiter arbeiten, und wir müssen alles dafür tun, dass sichdieser Weg fortsetzt, und da bin ich sehr zuversichtlich.
Ich möchte ein weiteres Thema anschneiden, das dieEuropäische Kommission auf ihre Agenda gesetzt hat– es geht um das Justizwesen, das früher als dritte Säulebezeichnet wurde –: die Europäische Staatsanwaltschaft.Bei Licht betrachtet müssen wir als Bundestag kritischfeststellen, dass wir erst jetzt, Ende Januar 2014, überdas Arbeitsprogramm der Europäischen Kommissiondiskutieren, obwohl es bereits seit Oktober 2013 auf demTisch liegt. Während in der Zwischenzeit viele nationaleParlamente die sogenannte Subsidiaritätsrüge erhobenhaben – übersetzt gesprochen heißt das, dass sie daraufhingewiesen haben, dass die nationalen Mitgliedstaatendieses Problem besser lösen können als die EuropäischeUnion –, hat sich der Deutsche Bundestag als sprachloserwiesen.
Ja, national betrachtet können wir sicherlich bei man-chen nationalen Gesetzesprojekten die Uhr anhalten; aufinternationaler Ebene, vor allem in europapolitischerHinsicht funktioniert das aber nicht.
Wir konnten nicht voraussehen, dass die Regierungs-bildung so viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Es istrichtig, dass dabei Gründlichkeit vor Schnelligkeit geht;aber wir müssen aus dieser Erfahrung die richtigenSchlüsse für die Zukunft ziehen. Der Hauptausschuss,den wir eingesetzt haben, war in dieser Zeit sicherlichhilfreich, aber er darf nicht als Blaupause für die Zukunftdienen. In der Phase zwischen der Bundestagswahl undder Neukonstituierung der Ausschüsse, insbesondere desEuropaausschusses, müssen wir weiter Europapolitik be-treiben. Unsere Verfassung bietet uns die Möglichkeitdazu. Der Europaausschuss kann schon heute plenarer-setzend tagen, aber er macht es nicht. Deswegen müssenwir in dieser Legislaturperiode kritisch reflektieren, obund inwieweit das hilfreich war. Wir müssen für die Zu-kunft andere Möglichkeiten finden, damit wir in der Eu-ropapolitik parlamentarisch handlungsfähig bleiben.Aufgrund des Vertrages von Lissabon und der sogenann-ten Begleitgesetze, die uns als Bundestag mehr Rechtegegeben haben, ist der Deutsche Bundestag, ist der Euro-paausschuss in der Verantwortung. Er muss diese Rechteausüben. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten das vonuns.
Zurück zur Europäischen Staatsanwaltschaft. Ich per-sönlich unterstütze die Bundesregierung ganz klar in ih-rem Bemühen, die Europäische Kommission dazu zu be-wegen, die vorgetragenen Bedenken der Parlamente zuberücksichtigen. Nach meinem Kenntnisstand haben im-merhin 19 Parlamente gerügt. Man muss hinzufügen– damit das richtig verstanden wird –: Nicht nur Parla-mente wie der Deutsche Bundestag, sondern auch die so-genannten zweiten Kammern sind rügeberechtigt. DieAgenda, die von den anderen Parlamenten auf den Tischgelegt wurde, muss umgesetzt werden.Last but not least möchte ich auf die Erweiterungs-politik, die sich nicht explizit unter den genannten vierPunkten befindet, zu sprechen kommen. Auch an diesem
Metadaten/Kopzeile:
508 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Gunther Krichbaum
(C)
(B)
Thema müssen wir dranbleiben. In dieser Legislaturpe-riode wird es aller Voraussicht nach keinen weiteren Bei-tritt eines neuen Mitgliedslandes geben – eine Ausnahmeist vielleicht Island; aber wir kennen die Voraussetzun-gen. Das heißt aber nicht, dass wir an diesem Themanicht dranbleiben müssen. Gerade der sogenannte west-liche Balkan ist nach wie vor eine sehr vielschichtigeund schwierige Region. In 2014, 100 Jahre nach demAusbruch des Ersten Weltkriegs – wir wissen ganz ge-nau, wie schwierig die Bedingungen in dieser Regiondes Balkans damals waren –, ist es aller Ehren wert, einAuge darauf zu werfen. Das heißt, wir brauchen weiter-hin regionale Strategien, die Vertrauen zwischen denStaaten untereinander schaffen. Die Donauraumstrategieist und kann weiterhin ein ganz wichtiger Ansatzpunktdafür sein, dass die Staaten grenzüberschreitend engermiteinander kooperieren. Und es gilt, weiter die Hand zureichen in der Strategie der Östlichen Partnerschaft.Diese – das hatte ich in meiner letzten Rede schon darge-stellt – ist natürlich von der Zwischenbilanz her zunächsteinmal etwas ernüchternd.Aber es gibt auch positive Beispiele – trotz aller Pres-semäkelei. Ich nenne als ein Beispiel die Republik Mol-dau,
die ganz schwierigen Voraussetzungen gegenübersteht.Wir thematisieren zwar ständig den Druck Russlands aufdie Ukraine, übersehen dabei aber völlig, welch enormerDruck auch auf die Republik Moldau ausgeübt wird. Siekann beispielsweise ihren Wein, eines der wichtigenAgrargüter dieses Landes, nicht mehr nach Russland ex-portieren. Hier haben wir als EU reagiert. Wir haben dieGrenzen Europas dafür geöffnet. Das ist ein wichtigesSignal. Man schaut aus diesem Land heraus sehr starkauf uns – Kollege Manfred Grund weiß davon zu berich-ten –, und zwar nicht nur auf uns als Europäische Union,sondern insbesondere auch auf Deutschland. DiesesLand hat weiterhin unsere Unterstützung verdient, wieauch alle anderen Länder, die sich aufmachen, die Stan-dards der Europäischen Union mehr und mehr umzuset-zen.Deswegen noch eine letzte Anmerkung zur Ukraineund ein kurzer Satz zu Mazedonien. Gerade die Ukrainesollte weiter auf unserer Agenda bleiben. Die dortigendemokratischen Kräfte, die ein anderes Land in unseremSinne schaffen wollen, haben alle Unterstützung ver-dient,
und sie sehen sich dabei schwierigen Voraussetzungengegenüber, vor allem die NGOs und die Bürgerbewe-gungen.Last but not least Mazedonien: bei Lichte besehen lei-der ein Trauerspiel. Wir könnten mit Mazedonien schonlängst Beitrittsverhandlungen führen, tun es aber nicht,weil Griechenland diesen möglichen Fortschritt mit ei-nem bizarren, absurden Namensstreit blockiert. Nein, esmuss Schluss damit sein, dass aus zwischenstaatlichenStreitigkeiten ein Faustpfand erhoben wird, dass andereLänder geradezu erpresst werden. Deswegen wünscheich mir, dass es auch hier endlich vorangeht und dass wirein deutliches Signal setzen auch gegenüber einemLand, das gegenwärtig die Ratspräsidentschaft innehat.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Manuel Sarrazin,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Verehrter Herr Kollege Krichbaum, ich stellenicht in Abrede, dass es gewisse Zeichen der Erholunggibt. Die Auktionen von Irland und Portugal in der letz-ten Woche waren sehr erfolgreich. Die Entwicklung derArbeitslosenzahlen über das letzte Jahr zum Teil lautEurostat auch: in Irland minus 2 Prozent, in Lettland mi-nus 2 Prozent, in Portugal minus 1,5 Prozent, in Ungarn,auch ein Krisenstaat, minus 1,5 Prozent. Aber wir müs-sen doch auch sehen, dass diese Entwicklung der Ar-beitslosenzahlen immer noch auf einem unglaublich ho-hen Niveau stattfindet. Deswegen muss uns klar sein,dass es im Jahr 2014 wichtig ist, diese Entwicklung nichtnur zu beschreiben, sondern auch zu handeln.Das Arbeitsprogramm der Kommission, das ja schonim Herbst veröffentlicht wurde, hat das meiner Ansichtnach dargestellt. Stabilität und kluges vorausschauendesHandeln, das ist das, was Europa jetzt braucht. Denn– das kann ich hier im Haus wirklich nur unterstreichen –das Projekt Europa steht unter Druck. Die antieuropäi-schen Populisten sind Monate vor der Europawahl in ei-ner Situation, dass sie nicht nur wie sonst oft die Stim-mung in vielen Nationalstaaten beeinflussen, sonderndass sie – diese Gefahr droht, ich will sie nicht herbeire-den – auch in eine relevante Position kommen, in der sienach der Europawahl entschiedenes proeuropäischesHandeln im europäischen Interesse zumindest verlangsa-men, wenn nicht sogar lähmen können. Deswegen ist eswichtig, dass wir uns im Rahmen des europäischen Ver-fassungsbogens dagegen positionieren.
Ich möchte Ihnen sagen: Ich glaube, dass eine Verän-derung der Europapolitik dieser Bundesregierung not-wendig ist. Ich glaube, das Argument der Alternativlo-sigkeit, diese Begründung der Europapolitik der altenund meiner Ansicht nach leider auch der neuen Bundes-regierung, treibt die Menschen letztlich auch in dieArme von Populisten. Das liegt daran, dass es die Kanz-lerin seit Jahren versäumt hat, die guten Argumente fürgemeinsames europäisches Handeln stark und mutig zuvertreten. Auch deswegen glaubt man jetzt, es gebe ein-fache Argumente gegen pro-europäisches Interesse.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 509
Manuel Sarrazin
(C)
(B)
Die Regierung hat außerdem, sozusagen aus demMachtinteresse des Kanzleramts heraus, versucht, dieProzesse so zu steuern, dass dieses Thema den parla-mentarischen Debatten, vor allem im Europäischen Par-lament, zum Teil aber auch im Bundestag, entzogenwird; gegen diese Unionsmethode haben wir erfolgreichgekämpft. Man muss konstatieren, dass das der Europäi-schen Union insofern schadet, als dass das Wichtigstenicht stattgefunden hat, nämlich den Menschen zu zei-gen: Über Europa darf man streiten, auch als Pro-Euro-päer.
Nur: Auf Populismus müssen wir antworten. Folgen-des möchte ich besonders an die Kolleginnen und Kolle-gen der CSU richten: Wenn wir gegen den Populismusvon Rechts und von Links vorgehen wollen, dann müs-sen wir klarmachen, dass die Vorurteile gegenüber ei-nem zentralistischen Superstaat, einer überbordendenDemokratie und allem „Bösen“, das immer aus Brüsselkommt, nicht stimmen, und sie beantworten. Wir dürfennicht selbst mit dieser Melodie in den Wahlkampf zie-hen.
Ich möchte einen Satz zur Freizügigkeit sagen. Ichglaube, dass Sie unterschätzen, wie wichtig dieses Nar-rativ in der Europäischen Union ist. Meiner Ansichtnach gehört die Idee der Freizügigkeit, auch der Perso-nenfreizügigkeit, zu Europa, genauso wie die Lederhoseaus Ihrer Sicht zu Bayern gehört.
Ich möchte ein Beispiel nennen: Ich habe vor einigenWochen eine junge Ungarin getroffen. Sie hat gesagt, siefindet das Narrativ, dass Europa Frieden bedeutet, gutund schön, aber nicht hinreichend für sie.
Denn ihr persönliches Narrativ von Europa ist, dass siedank der Europäischen Union heute in Berlin leben undarbeiten darf. Dieses Narrativ dürfen Sie nicht infragestellen, wenn Sie über Freizügigkeit sprechen.
Sie wissen: 2014 wird ein sehr entscheidendes Jahr.Eines der wichtigsten Dossiers, das jetzt behandelt wird,betrifft die Bankenunion. Ich glaube, wir müssen diesePhase der leicht positiven Entwicklung, die uns gute Ar-gumente dafür liefert, mehr Europa zu machen und amEuro festzuhalten, jetzt nutzen, um entschieden gegendie sozialen Verwerfungen der Krise vorzugehen. Wirmüssen aber auch das tun, was notwendig ist, um dieStabilität in der Euro-Zone weiterhin zu garantieren.Man muss sagen, dass die Verhandlungsstrategie derBundesregierung im Hinblick auf das Dossier zur Ban-kenunion, zum Abwicklungsmechanismus und Abwick-lungsfonds meiner Ansicht nach genau das Gegenteil da-von ist. Was Deutschland in Brüssel verhandelt, sindkeine starken europäischen Strukturen, die es ermögli-chen, im Krisenfall rasch und im europäischen Interessezu handeln. Das, was jetzt verhandelt wird, sind unklareEntscheidungsstrukturen: 100 Personen sollen im Falleeiner Krise über ein Wochenende entscheiden, ob eineBank geschlossen werden soll oder nicht oder ob sie ge-rettet werden soll und, wenn ja, wie. Das kann dochnicht funktionieren.Die Politik, die Sie in Brüssel betreiben, erinnert michan die Die drei kleinen Schweinchen.
Sie kennen den Cartoon von Walt Disney.
Herr Kollege Ulrich, auch Ihnen möchte ich ganzdeutlich sagen: Es ist es in dieser Zeit wert, mit aller An-strengung ein gemeinsames europäisches Haus zubauen. Es soll sich nicht jedes Schweinchen in sein eige-nes nationales Häuschen zurückziehen. So ist das näm-lich, und das gilt auch für Sie.
In Richtung der Regierung möchte ich sagen: DenkenSie daran, welche Schweinchen in diesem Märchen ge-fressen werden. Es sind die Schweinchen, die ihr Hausaus Stroh und aus Holz bauen. Deswegen sage ich Ihnen:Wenn der EZB-Stresstest dafür sorgen sollte, dass esnicht mehr so glimpflich zugeht, dann möchte ich, dassSie sich daran erinnern, was ich Ihnen heute vorgetragenhabe, nämlich dass Ihre Politik an folgendes Zitat erin-nert:Ich bin ja heut so froh.Ich bau‘ mein Haus aus Stroh. Und lebe drin, wie‘s mir gefällt und pfeife auf die Welt.Das ist die Politik der Bundesregierung in SachenBankenunion.
Ich sage Ihnen auch: Die echten Pro-Europäer bei derFraktion Bündnis 90/Die Grünen haben eine andere Vor-stellung. Wissen Sie eigentlich, warum wir eine starkeeuropäische Bankenunion mit starken europäischen In-stitutionen wollen? Schweinchen Schlau sagt:Ich bau‘ mein Haus aus Stein;denn haltbar muss es sein.
Metadaten/Kopzeile:
510 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Manuel Sarrazin
(C)
(B)
Das ist das, was 2014 in der Europapolitik gebrauchtwird. Das ist grüne Europapolitik.Vielen Dank.
aber eine schweinische Rede! – Axel Schäfer[Bochum] [SPD]: Das ist natürlich voll gegendie Vegetarier gerichtet! – Gunther Krichbaum[CDU/CSU]: Da haben die Grünen mal wiederrichtig die Sau rausgelassen! – Heiterkeit)
Ich teile die Begeisterung, aber so etwas Ähnliches ist
auch schon einmal in gesungener Form hier vorgetragen
worden.
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Staatsminis-
ter Michael Roth.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist für uns
ein ganz besonderes Jahr. Wir erinnern uns an den Ersten
Weltkrieg, der vor 100 Jahren ausgebrochen ist. Wir er-
innern uns daran, dass Deutschland vor 75 Jahren Polen
überfallen hat und damit den Zweiten Weltkrieg zu ver-
antworten hat. Und wir erinnern uns daran, dass vor
25 Jahren die kommunistische Diktatur zusammenbrach,
Europa und Deutschland sich wiedervereinigen konnten.
Diese drei Ereignisse haben ganz viel mit Europa zu
tun. Sie sind das Fundament, auf dem dieses Europa
steht. Vielleicht sollten wir uns diese Ereignisse – man-
che sind tragisch, manche schön – in Erinnerung rufen,
wenn wir gelegentlich im Alltag des Kleinmuts sind.
Das ist auch deshalb wichtig, weil das derzeit keine gu-
ten Jahre für Europa sind. Europa ist immer noch in der
Krise. Da gibt es auch überhaupt nichts schönzureden.
Selbstverständlich – das freut die Bundesregierung –
haben wir erste zarte Pflänzchen – der Kollege Axel
Schäfer sprach davon –: Lettland ist dem Euro beigetre-
ten. Die Nachrichten, die wir aus Portugal oder auch aus
Irland erhalten, machen deutlich: Es gibt Wege aus der
Krise.
Dennoch: Für die Bundesregierung ist die Bekämpfung
der dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit in Europa
eines der zentralen Projekte, das wir mit aller Anstren-
gung und mit viel Kreativität angehen müssen.
Wir müssen der jungen Generation in Europa deutlich
machen: Europa ist ein Problemlöser und kein Problem-
verschärfer. Wir dürfen nicht ruhen, wenn 60 Prozent der
jungen Menschen in Griechenland ohne Arbeit und Per-
spektive sind. Wir dürfen nicht ruhen, wenn 60 Prozent
der jungen Menschen in Spanien ohne Job und Perspek-
tive sind.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Haßelmann?
Ja, na klar. – Bitte, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank, Herr
Staatsminister. – Gerade weil ich Ihrer Auffassung so
sehr zustimme, was die Bedeutung Europas und auch
unsere nationale Verantwortung angeht, möchte ich Sie
als Mitglied der Bundesregierung gerne fragen – wir
sprechen heute über das Arbeitsprogramm der Europäi-
schen Kommission –: Können Sie sich erklären, warum
in dieser Debatte zur Kernzeit so wenige Mitglieder der
Bundesregierung vertreten sind?
Erst einmal freue ich mich sehr darüber, dass im Ge-gensatz zu früheren Jahren die Kolleginnen und Kolle-gen des Deutschen Bundestages so zahlreich an dieserDiskussion teilnehmen;
das freut mich sehr. Wenn ich zur Regierungsbankschaue, sehe ich: Dort sitzen hochengagierte Kollegin-nen und Kollegen, die ganz wichtige Ressorts vertreten.Deshalb darf ich sagen: Auch die Bundesregierung istgut vertreten. Ich hoffe, Sie akzeptieren diese junge,hoffnungsvolle Riege, die dort die Bundesregierung ver-tritt.
Europa ist eben Jugend, und Europa ist Hoffnung fürdie Jugend. Jedenfalls wollen wir in der Bundesregie-rung nach Kräften daran arbeiten, dass das auch wiedermit einem großen, konkreten Hoffnungsversprechen fürdie jüngere Generation verbunden ist.Die Europäische Kommission hat ihr Arbeitspro-gramm zu Recht mit „Jahr der Ergebnisse“ überschrie-ben. Wir wissen selber, dass das Zeitfenster für konkreteEntscheidungen relativ kurz ist: Wir haben die Wahlenzum Europäischen Parlament; die Kommission wird neugewählt. Insofern müssen wir jetzt mit aller Anstrengungdafür sorgen, dass wichtige Dossiers noch rechtzeitigvor den Wahlen zum Europäischen Parlament vollzogenwerden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 511
Staatsminister Michael Roth
(C)
(B)
Der erste Punkt – er schließt unmittelbar an die dra-matisch hohe Jugendarbeitslosigkeit an –: Wir müssendie Reformen in Europa selbstverständlich fortsetzen.Wir brauchen Strukturreformen. Wir brauchen vor allemauch Investitionen in Bildung, in Qualifizierung, in In-frastruktur, gerade in den krisengeschüttelten Staaten. Esgeht nicht allein um Sparprogramme oder um die Libera-lisierung der Märkte. Wir brauchen einen umfassendenpolitischen Ansatz, der der angespannten sozialen undwirtschaftlichen Lage in Europa Rechnung trägt. Deswe-gen wird die Bundesregierung einen neuen Akzent aufden sozialen Zusammenhalt setzen und Impulse fürWachstum und Beschäftigung nach Kräften unterstützen.Der zweite große Punkt auf unserer politischenAgenda ist der Aufbau der Bankenunion. Wir müssendafür sorgen, dass nicht länger die Steuerzahler für dieRisiken der Banken geradestehen müssen. Deshalb soll-ten wir den auf dem Europäischen Rat vom Dezembervergangenen Jahres gefundenen Kompromiss zur Ban-kenunion – mit dem einheitlichen Abwicklungsmecha-nismus – unterstützen. Ich kann nur an alle Verantwortli-chen in Brüssel appellieren, die Verhandlungen zügigund erfolgreich abzuschließen. Wir dürfen hier eine Ver-zögerung von bis zu einem Jahr, wie sie droht, nicht dul-den.
Ein großes Anliegen – nicht nur der EuropäischenKommission, sondern auch der Bundesregierung – istdas klare Bekenntnis dazu, dass die Europäische Unioneine Werteunion ist. Der innere Zusammenhalt Europasberuht weniger auf dem Funktionieren des Binnenmark-tes und weniger auf der Idee des Wettbewerbs als viel-mehr auf gemeinsamen Werten: Demokratie, Rechts-staatlichkeit, Akzeptanz von Minderheiten, kulturelleund religiöse Vielfalt, das macht Europa stark und dasmacht die Idee Europas zu einem Exportschlager in derWelt. Wir brauchen in der Europäischen Union einenwirksamen Mechanismus, der die Wertegemeinschaftdort schützt, wo sie in Gefahr ist. Das ist auch eine Frageder Glaubwürdigkeit. Die Europäische Union kann ihreWerte nur dann selbstbewusst nach außen – das heißt imglobalen Maßstab – vertreten, wenn sie diese Werte auchkonsequent nach innen lebt. Sie alle wissen, dass es inden vergangenen Jahren in einer Reihe von StaatenSchwierigkeiten gegeben hat. Diesen Staaten wollen wirhelfen durch gemeinsame, verbindliche Standards unddurch einen entsprechenden Mechanismus.Lassen Sie mich angesichts der Diskussion um dasThema Migration für die Bundesregierung ein ganz kla-res Bekenntnis abgeben: Freizügigkeit ist eine der größ-ten europäischen Errungenschaften. Die Bundesregie-rung wird diese europäische Errungenschaft konsequentverteidigen. Wir können alle Verantwortlichen nur da-rum bitten, sachlich, ohne Polemik und mit Augenmaßüber dieses Thema zu diskutieren. Deutschland profitiertvon der Freizügigkeit wie nur wenige andere Staaten inder Europäischen Union.
Wir tragen Verantwortung für dieses Europa, und wirtragen diese Verantwortung nicht allein. Insofern wirddie Bundesregierung sehr darauf achten, dass wir in derEuropäischen Union alle Mitgliedstaaten mitnehmen. Esgeht nicht um groß oder klein. Manche kleinen Staaten– ich erinnere an Luxemburg – sind groß: weil sie mitEngagement, mit Kreativität und Mut und Entschieden-heit dieses Integrationsprojekt vorangebracht haben. Wirreichen allen unseren Partnerländern in Europa die Handzur Zusammenarbeit. Europa braucht keinen deutschenOberlehrer oder Schulmeister, Europa braucht einDeutschland, das in Solidarität Verantwortung trägt unddie kleinen und die mittleren und die großen Staaten mit-nimmt.Das geht nicht ohne eine ganz enge Kooperation mitFrankreich und mit Polen. Mit großer Freude haben wirdas Bekenntnis von Präsident Hollande zu mehr Europa– vor allem zu einem besseren Europa – vernommen.Wir wollen unsere französischen Freunde dabei tatkräf-tig unterstützen. Ich sage das bewusst heute, wenigeTage vor dem Deutsch-Französischen Tag, ich sage dasaber auch in Richtung Polen. Das Weimarer Dreieck– hier im Bundestag sitzen viele Kolleginnen und Kolle-gen, die das Weimarer Dreieck über die Jahre mit Lebenerfüllt haben – ist für uns ein wichtiger Anker, einewichtige Säule für den Erfolg; denn wir müssen – ichsage das gerade mit Blick auf Mittel- und Osteuropa –die Partnerländer mitnehmen, wir müssen sie davonüberzeugen, dass Europa kein Projekt für den Westen ist,sondern ein Projekt, das den Süden, den Norden, aberauch den Osten gleichwertig einschließt.Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass deutscheFührungsverantwortung nicht heißt, dass wir unserewirtschaftliche und politische Stärke zu dominant aus-spielen – das ist uns in der Geschichte nicht gut bekom-men. Insofern möchte ich hier noch einmal deutlich ma-chen: Es geht um solidarische Führungsverantwortung.Die Bundesregierung wird alles in ihren Möglichkei-ten Stehende tun, um Europa aus der Krise zu führen;denn das Europa, für das wir eintreten, ist ein Europa derSolidarität, des sozialen Zusammenhalts und der ge-meinsamen Werte. Dieses bessere Europa werden wirgemeinsam mit unseren Partnern bauen. Ich bitte Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen, um Ihre tatkräftige Un-terstützung.
Andrej Hunko ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrStaatsminister Link, Entschuldigung, Herr Staatsminis-ter Roth – –
Metadaten/Kopzeile:
512 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Andrej Hunko
(C)
(B)
Einen Moment bitte, das Pult fährt immer weiterhoch.
Solange Sie noch zu sehen sind, Herr Kollege, hören
wir Sie auch.
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Er ist ausgebro-
chen. – Ich denke, er ist Ergebnis einer spezifischen
Politik insbesondere von deutscher Seite gewesen. Aber
ich darf Ihnen sagen: Die Linke ist die Partei, die in der
Tradition derjenigen steht, die sich schon damals gegen
den Ersten Weltkrieg gestellt haben – in Deutschland, in
Frankreich, in Russland und in vielen anderen europäi-
schen Ländern.
Wir sind ebenfalls entschieden in der Tradition derjeni-
gen, die sagen, dass so etwas nicht wieder passieren darf
und dass wir eine entsprechende europäische Zusam-
menarbeit, eine entsprechende europäische Integration
als Teil einer internationalen Zusammenarbeit brauchen.
Wenn in Deutschland über Europa diskutiert wird
– wir diskutieren heute ja über das Arbeitsprogramm der
Europäischen Kommission –, wird es manchmal etwas
absurd. Mir schrieb vor einigen Tagen ein Luxemburger
Genosse von déi Lénk, der Linken in Luxemburg: Ich
verstehe eure Debatte in Deutschland nicht. Wir in
Luxemburg haben mehr oder weniger das gleiche Wahl-
programm, aber niemand käme hier auf die Idee, uns als
antieuropäisch zu diffamieren.
Wenn wir zum Beispiel in Hamburg darüber diskutie-
ren, was in Hamburg falsch läuft, wenn wir die Verhält-
nisse dort kritisieren – das machen wir in diesen Tagen
zu Recht –, dann kommt doch niemand auf die Idee, zu
fragen, ob das antihamburgisch ist. Aber wenn wir auf
europäischer Ebene Dinge kritisieren, dann kommt der
Vorwurf – er wird wahrscheinlich gleich von Herrn
Sarrazin kommen –, wir seien antieuropäisch.
Genau dies wollen wir jetzt klären: ob das die mögli-
che Frage des Kollegen Sarrazin ist. – Bitte schön.
Vielen Dank. – Kollege Hunko, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen – auch als in Dortmund geborener
Hamburger –, dass man sich in Hamburg immer nur ge-
genseitig vorwirft, nicht hanseatisch, aber niemals, nicht
hamburgisch zu sein?
Ich bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Diespezifischen Befindlichkeiten in Hamburg kenne ichnicht näher.Ich will nun auf das Arbeitsprogramm der Europäi-schen Kommission zu sprechen kommen. Einiges istschon gesagt worden; aber ein Punkt ist noch nicht ange-sprochen worden. Die Europäische Kommission schreibtin ihrem Arbeitsprogramm, dass eines ihrer wichtigenZiele die Verhandlungen für das sogenannte Freihandels-abkommen TTIP oder TAFTA sind. Das ist einer derGründe, warum viele Menschen so kritisch auf die Euro-päische Kommission und auf europäische Strukturenschauen.Was ist das sogenannte Freihandelsabkommen, daseigentlich ein Konzernschutzabkommen ist? Dieses Ab-kommen wird hinter verschlossenen Türen zwischen derEuropäischen Kommission und Vertretern der USA undanderer NAFTA-Staaten verhandelt. Worum geht es da-bei? Es soll US-Konzernen in Europa und europäischenKonzernen in den USA ermöglichen, an Standards die-ser Staaten vorbei Investitionen zu tätigen. Als Beispielenenne ich die sogenannten Chlorhühnchen, das Hormon-fleisch oder das Fracking. Es soll ein neuer Gerichtshofgeschaffen werden, vor dem man Staaten, die bestimmteInvestitionen verbieten – zum Beispiel, wenn inDeutschland Fracking verboten wird –, auf entgangeneProfite verklagen kann.Wir lehnen dieses Freihandelsabkommen ab, und wirlehnen es auch ab, dass solche Abkommen durch dieEU-Kommission in völlig intransparenter Weise hinterverschlossenen Türen verhandelt werden.
Lassen Sie mich zum Abschluss ein paar Worte zu derTragödie an den europäischen Außengrenzen sagen: Wirhaben vor einigen Wochen und Monaten erlebt, was vorLampedusa passiert ist. In den letzten 20 Jahren musstenwir weit mehr als 10 000 tote Flüchtlinge an den euro-päischen Außengrenzen konstatieren. Das ist eine un-glaubliche Tragödie, und ich finde es unerträglich, dassjedes Flüchtlingsschicksal benutzt wird, um das europäi-sche Grenzregime noch weiter zu perfektionieren, zumBeispiel durch die Einführung von EUROSUR, anstattendlich auch auf europäischer Ebene zu einer solidari-schen Flüchtlingspolitik zu kommen.
Das ist eine unerträgliche Politik und eine Schande fürdie Europäische Union, die sich immer als Wertegemein-schaft darstellt.Es ist angesprochen worden: Am 25. Mai 2014 findetdie Europawahl statt. Ich freue mich, dass wir als Linke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 513
Andrej Hunko
(C)
(B)
gemeinsam mit unseren Genossen von SYRIZA in Grie-chenland, von der Izquierda Unida in Spanien, vomBloco de Esquerda in Portugal und von der Red-GreenAlliance in Dänemark eine Kampagne für ein anderes,ein soziales, ein solidarisches Europa machen und dasswir mit Alexis Tsipras einen gemeinsamen Spitzenkan-didaten haben. Darauf bin ich stolz. Ich freue mich aufdie Auseinandersetzungen und die Kampagne.Vielen Dank.
Detlef Seif ist der nächste Redner für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wirt-
schaftlichen Eckdaten belegen – manche sprechen vom
zarten Pflänzchen –, dass es in Europa wieder aufwärts-
geht. Die teils harten Strukturmaßnahmen in den einzel-
nen Ländern waren erforderlich. In diesem Zusammen-
hang, Herr Ulrich und Herr Hunko, möchte ich Ihnen
sagen: Ich kann es nicht mehr hören. Sie verwechseln
Ursache und Wirkung.
Die Probleme in Griechenland sind die Folge der Fi-
nanzkrise, des ständigen Konsums und einer Staats-
schuldenkrise.
Man konnte sich auf dem Kapitalmarkt nicht mehr refi-
nanzieren.
Deshalb haben wir Europäer solidarisch Unterstüt-
zung geleistet. Das konnten wir aufgrund unserer Ver-
antwortung gegenüber anderen Ländern und unseren Fi-
nanzen und auch, weil wir wollen, dass es tatsächlich
vorwärtsgeht, nicht dadurch tun, dass wir sagen: „Hier
ist ein Sack mit Geld, den wir euch zur Verfügung stel-
len“, sondern das muss streng konditionalisiert gesche-
hen. Hier sind wir auf dem richtigen Weg.
Aber eines ist klar – das ist uns allen auch bewusst –:
Sparmaßnahmen, eine makroökonomische Steuerung
und eine gute Haushaltspolitik reichen nicht, um Ar-
beitsplätze zu generieren. Die Überwindung der hohen
Arbeitslosigkeit stellt die EU vor eine besonders große
Herausforderung. Circa 27 Millionen Menschen in der
EU sind arbeitslos; rund 6 Millionen davon sind unter
25 Jahre alt.
Die hohe Jugendarbeitslosigkeit – Herr Sarrazin, Sie
haben das verdeutlicht – bringt uns alle in Europa in
große Gefahr. Die Demokratie ist gefährdet. Wenn hoch-
motivierte junge Menschen keine Anstellung finden,
dann sind sie eher zugänglich für radikale Kräfte. Des-
halb ist es richtig, dass die EU-Kommission in ihrem Ar-
beitsprogramm 2014 den Schwerpunkt tatsächlich auf
die Überwindung der Arbeitslosigkeit und auf Beschäfti-
gung legt.
Herr Kollege Seif, darf der Kollege Dehm Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Ja, wenn sie sachlich ist, gerne.
Das wissen wir, sobald wir die Frage gehört haben. –
Bitte schön, Herr Kollege Dehm.
Davon können Sie doch bei mir immer ausgehen. –
Da Sie das, was der Kollege Hunko und der Kollege
Ulrich gesagt haben, offenbar nicht mehr hören können
– Sie sagen, der Konsum in Griechenland sei schuld –,
möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass im Staatsapparat in Griechenland die
Selbstbediener in Ihrer Bruderpartei unter Karamanlis in
Koalition mit den Sozialdemokraten einen großen Anteil
an diesem Konsum hatten? Sind Sie bereit, den Anteil
am Konsum dieser staatlichen Selbstbediener, der Ree-
der, die steuerlich freigestellt wurden, und derjenigen,
die 200 Milliarden Euro in die Schweiz, Luxemburg und
in andere Steuerparadiese gebracht haben, anzuerken-
nen?
Herr Dehm, auch hier verwechseln Sie Ursache undWirkung.
In Griechenland hat man wenig investiert. Man hat Grie-chenland aufgrund des Solidarverbundes in Europa billi-ges Geld zur Verfügung gestellt. Diese Gelder sind inGriechenland leider überwiegend in den Konsum undnicht in Investitionen geflossen. Das ist das Problem.
Die Kommission macht sich zu Recht intensive Ge-danken. Sie hat die sogenannte Jugendgarantie auf denWeg gebracht. Das heißt, Menschen unter 25 Jahren sollbinnen vier Monaten ein Ausbildungsplatz oder ein Ar-beitsplatz zur Verfügung gestellt werden. Sie sollen einPraktikum machen können. Die Zusammenarbeit der Ar-beitsämter muss verbessert werden, um freie Stellen tat-
Metadaten/Kopzeile:
514 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Detlef Seif
(C)
(B)
sächlich an die arbeitslosen Jugendlichen zu vermitteln.Wir müssen die Jugendlichen auch dazu bringen, mobi-ler zu sein. Wir müssen in Bildung investieren. All dasist gut und richtig. Aber reichen diese Maßnahmen wirk-lich aus, um neue Arbeitsplätze zu generieren? Reichensie aus, um 6 Millionen junge Menschen in Lohn undBrot zu bringen? Wo werden denn Arbeitsplätze gene-riert, außer in der öffentlichen Verwaltung und in denVerbänden? Doch wohl in Unternehmen, in Betrieben.Deshalb ist eine ganz wesentliche Frage: Haben wir inEuropa für expandierende und neu gegründete Unterneh-men die richtigen Bedingungen?Die Industrie hat in Europa in den letzten Jahren Ar-beitsplätze abgebaut. Die Wettbewerbsfähigkeit – daskommt in dem Programm der EU-Kommission klar zumAusdruck – ist zumindest in eine Schieflage geraten; sieist gefährdet. Kleine und mittlere Unternehmen, geradeauch in den Programmländern, haben erhebliche Pro-bleme, Kredite für dringend erforderliche Investitionenzu erhalten. Die Arbeit der Europäischen Investitions-bank in allen Ehren, aber die anfallenden Risikozu-schläge und die fehlende Kreditvergabe wegen mangeln-der Sicherheiten sind doch gerade für die kleinen undmittleren Unternehmen ein ganz großes Problem.Die Kommission ist hier mit dem sogenanntenREFIT-Programm auf dem richtigen Weg. Damit sollenVorschriften daraufhin überprüft werden, ob sie eineÜberregulierung für Industrie und Betriebe darstellen.Der Ansatz ist richtig. Aber wenn Sie in die Anlagen desArbeitsprogramms schauen, weil Sie sich fragen, wo dieInitiativen sind, mit denen diese Idee engagiert und kon-kret umgesetzt wird, dann stellen Sie fest: Da ist nichtviel zu finden. Lediglich im Anhang II unter Punkt 23findet sich eine neue Initiative. Da heißt es: Möglicher-weise ist eine Anpassung oder Änderung der Rahmenbe-dingungen und eine Regulierung der Finanzmärkte er-forderlich, um dieses Ziel sicherzustellen. – Mit„möglicherweise“ kommen wir nicht weiter. Hier hätteman einen konkreten Vorschlag aufnehmen müssen. Wiekönnen wir erreichen, dass Kredite an kleinere und mitt-lere Unternehmen schneller und einfacher vergeben wer-den?
– Ja, Sie dürfen klatschen, Herr Dehm, gerne.Fehlende Sicherheiten haben zumindest Risikozu-schläge zur Folge; häufig erfolgt eine Kreditvergabe garnicht. Hier muss die Kommission ansetzen. Hierzu er-warte ich einen Regelungsvorschlag. Das ist ein dringen-des Problem in den Programmländern; das muss ange-gangen werden.
Nun komme ich zu einem anderen Punkt. Ich bin mirziemlich sicher, dass auch die Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen etwas dazu sagen möchten. Die Maßnahmenzum Klima- und Umweltschutz und die Belastungen ausder Energiewende können für die Unternehmen in Eu-ropa existenzbedrohend werden. Die Abwanderung vonBetrieben in Regionen, die geringere Anforderungenstellen und vor allen Dingen schlechtere Umweltstan-dards haben, ist die Folge. Gerade die Schwerindustrie inEuropa ist gefährdet. Im Koalitionsvertrag wird zu Rechtbetont, dass die Erreichung ambitionierter Klimaschutz-ziele nicht zum Nachteil für energieintensive Betriebeund vor allen Dingen für Betriebe führen darf, die – derKollege Krichbaum hat das schon angedeutet – im glo-balen Wettbewerb mit anderen Unternehmen in dieserWelt stehen.Was für Deutschland gilt, muss aber auch für die EUgelten. Es gibt jedoch ein Problem bei der Klimapolitik– ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben –: Wirhaben leider keine ambitionierte internationale Regelunggefunden. Das heißt, dass wir das 2-Grad-Ziel nichtmehr erreichen können. Es gibt weltweit Volkswirtschaf-ten wie Indien und China, die mehr emittieren, als wir jegedacht hätten. Das heißt, der Klimawandel, der vonMenschenhand mitverursacht ist, wird nicht mehr ver-meidbar sein.Warum sage ich das? Bei jeder industriepolitischenEntscheidung in Europa muss man zukünftig darübernachdenken, ob wir es uns leisten können, mit der Be-hauptung, dass wir etwas für den Klimaschutz tun, Un-ternehmen aus Europa in Regionen zu verdrängen, in de-nen überhaupt kein Umweltschutz betrieben wird odernur ein geringer Standard gilt.
– Bitte schön.
Frau Kollegin Baerbock, Sie haben die Möglichkeit
einer Zwischenbemerkung.
Vielen Dank. – Herr Seif, Sie haben gesagt, wir hätten
leider keine internationale Vereinbarung zu Klimazielen
gefunden. Ist Ihre Schlussfolgerung, dass, weil wir inter-
national noch nicht auf dem Weg sind – selbst wenn wir
uns für 2015 noch vorbereiten –, die EU selber keine
ambitionierten Klimaziele mehr aufrechterhalten soll?
Ich danke Ihnen. Sie haben im Prinzip den Punkt vor-weggegriffen, den ich hier noch vorgesehen habe. – Dasbedeutet nicht, dass wir als Deutschland und als Europakeine Vorreiterrolle im Bereich Umwelt- und Klima-schutz einnehmen sollten. Das dient den Menschen; dasdient der Umwelt, und vor allen Dingen dient das auchder Ressourcenschonung. Wenn irgendwo Klimaschutzdraufsteht, dann heißt das aber nicht automatisch, dassdas gut ist. Ich erwarte – auch von Bündnis 90/Die Grü-nen –, dass wir bei jeder Frage und insbesondere bei denFragen, die die Wettbewerbsfähigkeit in Europa ange-hen, eine vernünftige Abwägung vornehmen. Dabei ha-ben Umweltschutz und Klimaschutz eine große Bedeu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 515
Detlef Seif
(C)
(B)
tung. Aber es sind nicht die einzigen Punkte, dieBedeutung haben. Wir müssen abwägen, ob wir in Eu-ropa Beschäftigung wünschen, und unter Umständenauch einmal die eine oder andere Entscheidung zuguns-ten der Industrie und der wirtschaftlichen Entwicklungtreffen.
Ich bringe den Gedanken noch zu Ende: Die EU-Kommission hat recht, wenn sie sich in dem Punkt de-zent zurückhält. Denn genau das ist zurzeit der Gewis-senskonflikt; das sagt man als Kommissar natürlichnicht. Man will Beschäftigung und Wachstum generie-ren, aber doch nicht dadurch, dass man sagt: Wir setzenZiele im Bereich des Ausbaus der erneuerbaren Energienund im Klimaschutz, egal, welche Auswirkungen sie ha-ben.Wenn ein Denkprozess in Europa einsetzt, gilt: DerKlimaschutz spielt eine wichtige Rolle, aber er ist nichtder einzige Punkt. Das müssen wir im Zusammenhangsehen.Meine Damen und Herren, das Thema „mehrjährigerFinanzrahmen von 2014 bis 2020“ und die Förderpro-gramme streift das Arbeitsprogramm nur am Rande. Dasist auch verständlich, weil es dazu bereits seit DezemberVerordnungen gibt – sechs an der Zahl –, die die zukünf-tige Förderung in Europa festlegen. Die bisherigen euro-päischen Struktur- und Investitionsfonds wurden zusam-mengefasst. Sie sollen konsequenter auf die Stärkungder Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung ausge-richtet werden.Vieles wurde vereinfacht; aber die Rechtsvorschriftensind nach wie vor sehr komplex. Sie sind sogar undurch-sichtiger und komplizierter als das deutsche Steuerrecht.Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Die Bemü-hungen der EU-Kommission in Bezug auf den Bürokra-tieabbau und die Vereinfachung von Vorschriften in allenEhren; aber wir sind erst am Anfang des Weges. Hiermüssen wir deutlich nachbessern.Bei der Bewertung, Annahme und Änderung von Pro-jekten sollen in transparenten Verfahren die Mittelver-gabe und die Mittelverwendung überwacht werden.Wenn, wie im letzten Jahr, eine zweckwidrige Mittelver-wendung erst im Rahmen einer Prüfung des Europäi-schen Rechnungshofs auffällt – bei Stichproben naturge-mäß nur in Einzelfällen –, dann ist das zu spät.
Die Fehlerquote hat in den vergangenen Jahren zuge-nommen und lag nach Schätzungen des EuropäischenRechnungshofs 2012 bei 4,6 Prozent; das entspricht6,5 Milliarden Euro.Der Anspruch auf Förderung aus dem Strukturfondssetzt neben einem Antrag des jeweiligen Mitgliedstaatsauch stets eine Selbstbeteiligung voraus. Man muss sichim Rahmen einer Kofinanzierung einbringen. Aber wasmachen wir mit den Ländern, die am Boden liegen, dienoch nicht einmal die Kofinanzierung aufbringen kön-nen? Was machen wir mit Ländern, denen die Verwal-tungsstrukturen fehlen, um überhaupt Anträge stellen zukönnen? Das war in der Vergangenheit ein großes Pro-blem. Hier müssen wir, hier muss die EU-Kommissiondeutlich nachbessern, damit diejenigen, die die Mitteldringend benötigen, diese auch erhalten.
Wichtig wird auch sein, dass wir dafür sorgen, dassdie Kommission einen vernünftigen Zuschnitt erhält. Esgibt immer noch 28 Kommissare. Eigentlich war eineReduzierung um ein Drittel vorgesehen. Die ist erst ein-mal vom Tisch. Man erkennt auch am Arbeitsprogramm,dass zu viele Köche den Brei verderben. Es gibt zu vieleKompetenzen. Die Zahl der Kommissare ließe sich deut-lich verschlanken, und zwar auf rund 15.Herr Präsident, ich weiß, dass die Uhr läuft. Ichkomme daher zum Schluss. – Die EU-Kommission er-hebt in ihrem Arbeitsprogramm das Jahr 2014 zu einemJahr der Entscheidung und Umsetzung. Klingt toll! Dasangekündigte Programm wird diesem Anspruch abernicht gerecht und kann, wie Herr Schäfer in der erstenRede angedeutet hat, diesem auch gar nicht gerecht wer-den. Die Europawahl steht an. Es gibt weniger Initiati-ven und auch nicht mehr so viele qualitativ hochwertigeProgramme.
Herr Kollege!
Ich bin eigentlich fertig. Nur noch zwei Sätze, Herr
Präsident.
Das Programm ist in den wichtigen Bereichen Wachs-
tum und Beschäftigung leider nicht ambitioniert genug.
Ein inhaltlicher Erfolg wird davon abhängen, ob die
Kommission teilweise umsteuert und die richtigen Im-
pulse setzt. Ich denke, ich spreche in Ihrem Sinne: Wir
werden die Kommission hierbei tatkräftig unterstützen.
Vielen Dank.
Nun hat das Wort die Kollegin Annalena Baerbockfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die EU-Kommission hat für 2014 ei-nen engagierten Plan vorgelegt. Neben der Banken-union, die Manuel Sarrazin schon angesprochen hat,bezieht sich das auch auf die Vollendung des Binnen-marktes. Es gehört aus meiner Sicht schon einiges dazu,wenn Teile der Regierungskoalition einige Tage, nach-dem die Bundeskanzlerin hier im Hause in ihrer Regie-rungserklärung gesagt hat, Deutschland werde einen ent-
Metadaten/Kopzeile:
516 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Annalena Baerbock
(C)
(B)
scheidenden Anteil bei der weiteren Integration und derVollendung des Binnenmarkts spielen, einen populisti-schen Angriff auf einen dieser Pfeiler startet, nämlichauf die Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Das gehört sich nicht; denn das ist nicht nur nicht imSinne Europas, sondern auch nicht im Sinne einer ver-nünftigen Regierungsführung. Ich bin dem KollegenStaatsminister Roth sehr dankbar – manchmal hilft esvielleicht auch, dass jüngere Menschen auf gewissenBänken sitzen –, dass er zu Beginn des Jahres deutlicheWorte dazu gefunden hat.
Ich zitiere, was Sie, Herr Kollege Roth, zu dem gesagthaben, was da aus Bayern kam: „Das ist nicht das Ni-veau, auf dem die Große Koalition arbeiten darf.“ Ichstimme Ihnen darin voll und ganz zu.
Den Anstand, den Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der CSU, gegenüber einem der größten Betrügerin Ihrem Bundesland eingefordert haben – das wurdevon der Linken schon angesprochen –, sollten Sie gegen-über Menschen walten lassen, die vor massiver Diskri-minierung in unser Land flüchten. So viel Arbeitslosen-geld und so viel Kindergeld muss man erst einmalerhalten, dass man auf 3,2 Millionen Euro in einem ein-zigen Leben kommt. Mir ist zwar klar, dass dieser Ver-gleich hinkt. Aber es handelt sich hier um eine Form vonPopulismus, die von einer europafreundlichen Parteinicht zu unterstützen ist.
Wir Grüne sind – das sind wir nicht sehr oft – in die-sem Sinne ganz beim DIHK und auch beim BDI. Wirbrauchen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Eu-ropa gerade unter dem Aspekt der WettbewerbsfähigkeitFreizügigkeit für alle Menschen in der EuropäischenUnion. Man kann nicht sagen: Die einen passen uns unddie anderen nicht. – Wenn Sie sich die Zahlen genau an-schauen, dann stellen Sie fest, dass Ihre Verlautbarungennicht stimmen. Gerade Rumänen und Bulgaren sindüberdurchschnittlich qualifiziert. Sie sind außerdemüberdurchschnittlich in die Beschäftigung in Deutsch-land eingebunden. Schon damals bei der Osterweiterungsind Sie das Thema der Freizügigkeit falsch angegangen.Sie haben über Jahre den Zugang für Menschen blo-ckiert, die hier sozialversicherungspflichtig beschäftigtsein wollten. Das verschärfte gerade das Problem derSchwarzarbeit. Das heißt, die Wurzel des ganzen Pro-blems liegt nicht in der Armutszuwanderung, sonderndarin, dass Sie über Jahre den Arbeitsmarkt in Deutsch-land abgeschottet haben.
Das heißt nicht, dass wir negieren, dass es Problemeetwa in Duisburg, Gelsenkirchen oder Berlin gibt. Aberdie EU ist nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lö-sung. Sie von den Koalitionsfraktionen sind gefordert,endlich die Mittel, die auf europäischer Ebene bereitge-stellt werden, um solchen Herausforderungen Herr zuwerden, freizugeben. Im Rahmen des ESF liegen mehrals 3 Milliarden Euro auf Halde, die Sie nicht freigeben,um die Kommunen vor Ort zu unterstützen. Nicht Ihrpopulistisches Herumgeschreie, sondern diese Mittelsollten Ihre Antwort auf die Herausforderungen vor Ortsein.
Der Umgang mit der Freizügigkeit in Europa ist nichtdas einzige Problem. Wir führen eine rein nationale Dis-kussion und müssen uns die Frage stellen, wie der Bundin Zukunft eigentlich die Kommunen bei der Wahrneh-mung ihrer sozialen Aufgaben unterstützen will.Ein weiterer Punkt, dem ich mich hier gerne widmenmöchte, ist die Jugendarbeitslosigkeit. Die alte Koalitionhatte dazu große Ankündigungen gemacht. Ich glaube,wir müssen weitere intensive Debatten darüber in die-sem Haus führen; denn die Zahlen in diesem Bereichspotten jeder Beschreibung. Gerade einmal 137 Eurowerden jedem Jugendlichen zur Verfügung gestellt, wäh-rend wir knapp 300 Euro pro Hektar für eine verfehlteLandwirtschaftspolitik in Europa ausgeben. So kann nunwirklich nicht eine an Zukunft und Wettbewerbsfähig-keit ausgerichtete Politik der Europäischen Union ausse-hen.
Lieber Herr Hunko, nun zum Punkt der Verhältnismä-ßigkeit. Ich hoffe, dass Sie das, was Sie vorhin zur pro-europäischen Ausrichtung Ihrer Partei vorgetragen ha-ben, auf Ihrem Parteitag deutlich machen werden. Da Siesagen, dass Ihre Partei proeuropäisch aufgestellt ist, ver-wundert es mich, wenn Ihre stellvertretende Fraktions-vorsitzende sich öffentlich mit Verlautbarungen wie„Der Euro schürt Hass zwischen den Völkern“ zitierenlässt. Ich weiß nicht, wie wir angesichts dessen weiterhingemeinsam in diesem Hause in eine proeuropäischeRichtung gehen wollen.
Herr Seif, Sie haben richtig geraten: Ja, ich kommenun auch auf die Energiepolitik zu sprechen. Wir Grünekommen zu komplett anderen Schlussfolgerungen alsSie. Da sieht man doch, dass unsere Positionen auf man-chen Gebieten sehr weit auseinandergehen. Die Pläne,die EU-Energiekommissar Oettinger derzeit vorschlägt,nämlich dass wir uns von den verbindlichen Zielen fürdie CO2-Einsparungen und den Ausbau der erneuerbarenEnergien und der Energieeffizienz verabschieden soll-ten, stellen nicht nur einen Angriff auf den Klimaschutzund die Wettbewerbsfähigkeit in Europa, sondern aucheinen Angriff auf Ihre Bundeskanzlerin dar. Denn es warAngela Merkel, die unter deutscher Ratspräsidentschaftdafür gesorgt hat, dass wir verbindliche Ziele für 2020
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 517
Annalena Baerbock
(C)
(B)
haben, und zwar in allen Bereichen, auch beim Ausbauder erneuerbaren Energien. Vielleicht sollten Sie sienoch einmal konsultieren, bevor Sie sagen, EuropasWettbewerbsfähigkeit werde völlig konterkariert, wennwir an dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Europafesthielten.
Wenn Sie sich die Zahlen genau anschauen, dannmüssen Sie sich doch fragen, was das für eine Wettbe-werbsfähigkeit ist, bei der pro Jahr Importe von fossilenEnergieträgern in Höhe von 406 Milliarden Euro getätigtwerden. Das entspricht 3,2 Prozent des BIP.
Frau Kollegin, würden Sie freundlicherweise einen
Blick auf die Uhr werfen?
Ja. – Wenn wir diese Mittel in andere Formen lenken
würden, zum Beispiel in den Ausbau der erneuerbaren
Energien, dann würden wir – das sind Zahlen der Kom-
mission – 1,25 Millionen neue Arbeitsplätze in Europa
schaffen. Das ist, glaube ich, eine Politik hin zu einer
nachhaltigeren Wettbewerbsfähigkeit und zu nachhalti-
geren Jobs in Europa, eine Politik, die mehr Jobs als zum
Beispiel das Freihandelsabkommen – die Zahlen liegen
weitaus darunter – schaffen wird.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Schmidt für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich alsMitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales freuemich besonders, zu einem europapolitischen Tagesord-nungspunkt reden zu dürfen; denn das zeigt zum einen,dass Europapolitik in diesem Hause nicht nur Politik ei-nes einzigen Fachausschusses ist, und zum anderen, dassgerade für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-ten das soziale Europa eine wichtige Aufgabe ist.
Das ist es nicht nur in Zeiten wie diesen; aber aktuellsind die Fragen, die den europäischen Arbeitsmarkt, dieArbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechte, den sozia-len Zusammenhalt und die gesellschaftliche Teilhabe be-treffen, von ganz besonderer Bedeutung.Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hat ihre Spu-ren hinterlassen. Sowohl im Arbeitsprogramm als auchin unserem Koalitionsvertrag sind zwei große Aufgabenbeschrieben. Die eine – das steht leider oft im Mittel-punkt, auch wenn andere Fragen vielleicht von noch grö-ßerer Bedeutung sind – sind natürlich die Reformen zurHaushaltssanierung. Die andere aber sind die klugen In-vestitionen, die wir brauchen, die klugen Investitionen insoziale Sicherheit und Nachhaltigkeit sowie eine Wachs-tumsstrategie, die die sozialen Folgen der europäischenKrise bewältigen.Europa wird nur dann erfolgreich sein, wenn dieMenschen in Europa die Europäische Union positivwahrnehmen. Die europäische Wirtschaft wird nur erfolg-reich sein, wenn sie das Versprechen eines gemeinsamenwirtschaftlichen Erfolgs erfüllt, an dem alle teilhaben, undNationalstaaten nicht gegeneinander, sondern miteinan-der agieren.
Das heißt konkret: Auch eine gerechte Lastenverteilungist grenzüberschreitend. Reiche Griechen und reicheDeutsche müssen mehr zur Krisenbewältigung beitragenals der Athener Taxifahrer oder die deutsche Kranken-schwester.
Das heißt auch, dass gerechte Löhne, Arbeitnehmer-rechte und Sozialleistungen weder einem Dumpingwett-bewerb ausgesetzt noch auf dem Altar der europäischenFinanzmarktkrise geopfert werden dürfen. Der gemein-same wirtschaftliche Erfolg in Europa bleibt das wich-tige Ziel.Von diesem notwendigen gemeinsamen wirtschaftli-chen Erfolg möchte ich eine Brücke zu einem Themaschlagen, das direkt mit diesem zu tun hat und das in derheutigen Debatte schon angesprochen wurde, das Thema„Freizügigkeit in der Europäischen Union“. Auch ichbin Herrn Staatsminister Roth für die deutlichen Worte,die er gesprochen hat, dankbar.Im Jahr der Europawahl haben wir als Politikerinnenund Politiker eine besondere Verantwortung, nämlich dieVerantwortung, das gesteigerte Interesse an Europa zurAufklärung über Europa und zum Werben für die euro-päische Idee zu nutzen. Vorneweg: Probleme müssen be-nannt werden, und die Zusammenballung von sozialenProblemen in einigen deutschen Städten hat den Anlassfür eine Debatte über das Recht auf Freizügigkeit gebo-ten. Uns ist klar: Kommunen mit besonderen sozialenSchwierigkeiten dürfen bei der Bewältigung der Pro-bleme nicht alleingelassen werden.
Aber genau darum hat die SPD in den Koalitionsver-handlungen nicht nur auf eine finanzielle Entlastung derKommunen insgesamt gedrängt, sondern konkret diedeutliche Aufstockung des Programms „Soziale Stadt“durchgesetzt. Wir werden die Kommunen bei der Bewäl-tigung ihrer sozialen Probleme nicht alleinlassen.
Ebenfalls vorneweg: Wer Gesetze bricht – das gilt fürSozialhilfebetrug genauso wie für Diebstahl und fürSteuerhinterziehung –, der muss verfolgt und bestraftwerden. Das ist im Rechtsstaat eine Selbstverständlich-keit.
Metadaten/Kopzeile:
518 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Dagmar Schmidt
(C)
(B)
Das falsche Bild vom angeblichen rumänischen undbulgarischen Sozialtourismus muss allerdings der Men-schen und der Fakten wegen berichtigt werden.
Geringqualifizierte, Besserverdienende und Akademike-rinnen und Akademiker aus Rumänien und Bulgariennehmen zu Recht von sich an, dass sie unter besserenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit ihren Fähig-keiten ein besseres Einkommen und eine bessere Le-bensqualität erreichen können. Das ist ihr Recht in Eu-ropa, und diese Mobilität ist gewollt.
Ein Zusammenhang zwischen hohen Leistungen fürArbeitslose und Wanderungsbewegungen hingegen lässtsich empirisch nicht nachweisen. Im Vergleich zur aus-ländischen Bevölkerung insgesamt nehmen Rumänenund Bulgaren nur in geringem Umfang Sozialleistungenin Anspruch. Selbst wenn sie dies tun, so hat das keines-wegs zwingend etwas mit dem mangelnden Willen, Ar-beit aufzunehmen, zu tun. Im Gegenteil, das Problem be-steht eher andersherum: Viele Arbeitsmigrantinnen und-migranten aus Rumänien und Bulgarien sind in beson-derer Weise von Ausbeutung betroffen, arbeiten für mi-serable Löhne, werden von deutschen Tochterunterneh-men in ihren Herkunftsländern eingestellt und arbeitendann in Deutschland, aber zu rumänischen und bulgari-schen Löhnen, werden in die Scheinselbstständigkeit ge-drängt usw.Die Freizügigkeit in Europa, die Freiheit, entscheidenzu können, in welchem Land man arbeiten und lebenmöchte, ist eine der tragenden Säulen der europäischenEinigung und des europäischen Binnenmarkts.
Sie sorgt dafür, dass Angebot und Nachfrage nach Ar-beitskräften zur Deckung gebracht werden können. Ge-rade Deutschland ist darauf angewiesen, für Einwande-rer und Einwanderinnen attraktiv zu sein. Auch deshalbhat sich die deutsche Wirtschaft sehr kritisch zu den Pa-rolen und undifferenzierten Behauptungen in Bezug aufdie Einwanderung von Rumänen und Bulgaren geäußert.Vorurteile und Ängste zu schüren, schadet auch demdeutschen Wirtschaftsstandort.
Aber richtig ist auch: Freizügigkeit braucht sozialeRahmenbedingungen in den Herkunftsländern. Sozial-standards und Arbeitsrecht in den Herkunftsländernmüssen gewährleisten, dass Auswanderung eben nichtder einzige Ausweg aus Armut ist, sondern dass es einefreie Entscheidung ist, sein Land zu verlassen und dasGlück woanders zu suchen.Wir tragen in Deutschland eine besondere Verantwor-tung für Europa. Als gute Europäerinnen und Europäersollten wir im Wahljahr mit gutem Beispiel vorangehen.Die Freiheit, sich in Europa frei zu bewegen und persön-lich und wirtschaftlich zu entfalten, die Gerechtigkeit,die sozialen Folgen der Krise den Verursachern in Rech-nung zu stellen und die kleinen Leute zu schützen, unddie Solidarität mit denen, die Hilfe brauchen, um wiederauf die Beine zu kommen – wenn all das gewährleistetist, dann ist mir um die Zukunft der großartigen Idee voneinem starken und einigen Europa nicht bange.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Schmidt, ich gratuliere herzlich zu Ih-
rer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche
Ihnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit.
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Hardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSchweinchen-Schlau-Zitate von Manuel Sarrazin gebenmir Gelegenheit, hier mitzuteilen, dass er in den letztenJahren offensichtlich nicht nur Comics gelesen, Kinder-fernsehen geschaut und Politik gemacht, sondern auchstudiert hat. Er hat sein Geschichtsstudium erfolgreichabgeschlossen, und dazu gratulieren wir alle herzlich.
Ich hatte nie einen Zweifel daran, dass das gelingenwürde; schließlich hat er mir letztes Jahr einen profun-den Vortrag über die deutsch-polnische Geschichte ge-halten, den man hätte drucken können. Aber der eineoder andere hatte halt doch Sorge, ob es etwas mit demStudiumabschluss wird. Insofern sind wir alle sehr froh.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Jahr 2014 istnatürlich nicht nur für die Europäische Kommissionwichtig, sondern auch wegen der Europawahl und derdaraufhin zu erfolgenden Bildung der neuen EU-Kom-mission. Aber es ist auch ein Jahr, in dem wir nach fünfJahren der Rezession und vier Jahren der Euro-Kriseeine Chance nutzen können. Wir durften erleben, dasswir sowohl bei den Wachstumszahlen als auch bei derEuro-Rettung gut vorankommen. Es besteht die Hoff-nung, dass wir im Jahr 2014 die Stimmung in der euro-päischen Öffentlichkeit zum Thema Europa ein Stückweit zum Guten wenden. Es wäre, glaube ich, desSchweißes aller Fraktionen hier im Hause wert, wenn es
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 519
Jürgen Hardt
(C)
(B)
uns im Rahmen der Kampagne zur Europawahl und imRahmen der Diskussion über Europa gelingen könnte,die Wahlbeteiligung bei der Europawahl gegenüber diemageren 43 Prozent im Jahr 2009 – Deutschland lag daim Ürigen nur knapp über dem europäischen Durch-schnitt –, zu steigern.
Es ist in jedem Fall wahr, was Angela Merkel immersagt: Wenn wir als Europäer 7 Prozent der Weltbevölke-rung stellen, 25 Prozent des globalen Bruttosozialpro-dukts erwirtschaften und 50 Prozent der weltweiten So-zialausgaben leisten, dann brauchen wir als Deutschenicht zu glauben, dass wir uns ohne einen engeren undfesteren europäischen Zusammenschluss in der Welt be-haupten könnten. Wir als Deutsche brauchen Europa, da-mit auch im 21. Jahrhundert unser Lebensstil, unserWohlstand und unsere Freiheit entsprechend bewahrtwerden können.Ich finde, wir sollten das Jahr 2014 nutzen, mit demEuropa-Bashing aufzuhören, insbesondere dort, wo esungerechtfertigt ist. Dabei denke ich zum Beispiel an dieaktuelle Diskussion um die Einführung von SEPA. Sieerinnern sich, wir haben vor zwei Jahren hier im Hauseeine Entschließung gefasst, wie wir uns die SEPA-Um-stellung vorstellen. Wir haben die Voraussetzungen ge-schaffen, damit die SEPA-Umstellung sowohl für dieVerbraucher als auch für Schatzmeister von Vereinenoder Parteien, für die Gewerbetreibenden, also alle dieje-nigen, die viele Lastschriften einzuholen haben, ordent-lich abläuft. Aber die Informationskampagne, die wiruns von den deutschen Banken zu diesem Thema erhoffthaben, ist viel zu spät erfolgt.Wir haben heute den 17. Januar 2014. Ich habe immernoch eine EC-Karte in meinem Portemonnaie, die ich imÜbrigen vor drei Monaten bekommen habe, auf dermeine IBAN-Nummer nicht steht. Ich finde, das ist ein-fach ein Skandal. Jeder kann ja einmal nachschauen. DieSparkasse Rostock hat die IBAN-Nummer schon seitJahren auf ihren Karten, eine Großbank, die DeutscheBank, bei der ich mein Konto habe, nicht. Ich finde esvor allem schade, dass jetzt an den Schaltern gesagtwird: Das ist wieder so ein Projekt, das sich die in Brüs-sel ausgedacht haben. – Die Brüsseler und die deutscheBundesregierung haben es so konstruiert, dass es eigent-lich reibungslos laufen könnte. Aber leider wird es in derPraxis nicht richtig umgesetzt.Ich möchte uns von den positiven Effekten in derEuropäischen Union den Effekt der Euro-Rettung nocheinmal kurz vor Augen führen. Wir haben uns in Talk-shows von berufenen und selbsternannten Wissenschaft-lern anhören müssen, die Rettungsschirme – erst derEFSF, dann der ESM – wären alle viel zu klein, sie wür-den in kürzester Zeit aus dem Ruder laufen, es wäre Un-sinn, diesen Weg zu beschreiten.Wir sind heute in der Situation, dass von dem insge-samt rund 700 Milliarden Euro umfassenden Haftungs-rahmen, zu dem sich die Europäische Union bereit er-klärt hat, lediglich 30 Prozent in Anspruch genommenworden sind. Wir wissen, dass die Iren und die Spanierihre Bürgschaften zurückgeben werden. Wir dürfen alsofeststellen, dass wir mit unserer Vorstellung recht behal-ten, dass dieser Weg der Euro-Rettung sinnvoll ist unddass es aller Mühen wert war, diesen Weg zu gehen.Ich würde jetzt erwarten, dass der eine oder andereWissenschaftler, der nun vielleicht eingestehen muss,dass seine Theorie den Praxistest nicht bestanden hat,dies auch offen zugibt. Ich habe in Heidelberg studiert.Max Weber hat gesagt: Eine Theorie ist dann wissen-schaftlich, wenn sie im Prinzip widerlegbar ist. Ichfinde, wenn wissenschaftliche Theorien in der Praxis wi-derlegt werden, sollten die Wissenschaftler das auch ein-gestehen und ihre Theorie gegebenenfalls modifizieren.Wenn man in die Gesichter des einen oder anderen Pro-fessors schaut, hat man fast das Gefühl, er sei ein biss-chen sauer darüber, dass die Wirklichkeit sich andersentwickelt hat. Ich würde mir wünschen, dass man sicheinfach darüber freut, dass es offensichtlich doch gelin-gen kann.
Wenn wir den Euro-Rettungskurs nicht beschrittenhätten, dann wäre nichts gewesen mit Wirtschaftswachs-tum und Abbau von Arbeitslosigkeit in Deutschland,dann wäre nichts gewesen mit der Konsolidierung derHaushalte in den Krisenstaaten, die ja überall auf demWeg ist. Es wäre vor allem so, dass die ganze Welt überEuropa lachen würde und ganz Europa Deutschland da-für verfluchen würde, dass wir in der Zeit der Not, alsunsere Solidarität gefragt war, nicht solidarisch zu Eu-ropa gestanden haben. Deswegen war es gut, dass wir imDeutschen Bundestag eine breite Parlamentsmehrheit füralle Euro-Rettungsprojekte gefunden haben. Ich glaube,sie lag immer in der Größenordnung von 80 Prozent. Ichbin mir sicher, dass wir das auch so fortsetzen können.Zum Arbeitsprogramm der Kommission haben meineVorrednerinnen und Vorredner schon viel Richtiges undWichtiges gesagt. Ich finde das Projekt der Bankenunionenorm wichtig. Es ist von seiner konkreten Auswirkungauf Europa her vergleichbar mit der Schaffung des Bin-nenmarkts 1992 und der Einführung des Euro 1999 bzw.2002. Es ist eine ganz wesentliche Säule der Europäi-schen Union. Ich kann die Bundesregierung nur be-glückwünschen, dass sie dazu einen so wichtigen undsubstanziellen Beitrag leisten konnte. Ich glaube, dassdas ein Projekt ist, das ganz oben steht.Das Projekt der Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit ist meines Erachtens das zweite zentrale Projekt für2014. Kollege Seif und viele andere haben darauf hinge-wiesen, was es bedeutet, wenn junge Menschen nach derSchule keine Chance haben, das Erlernte entsprechendumzusetzen. Wir haben einen Finanztopf zur Bekämp-fung der Jugendarbeitslosigkeit aufgemacht. Ich würdemir wünschen, dass wir, bevor wir darüber reden, wiewir die einzelnen EU-Programme innerhalb des neuenFinanzrahmens ausgestalten, diese Mittel jetzt pragma-tisch und zügig bewilligen, damit da nicht noch Wochenund Monate ins Land gehen, sondern sofort Wirkung er-zielt wird. Die jungen Menschen, insbesondere in Süd-
Metadaten/Kopzeile:
520 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Jürgen Hardt
(C)
(B)
europa, haben es wirklich verdient, dass Europa ihnenjetzt solidarisch zur Seite steht.
Es gibt natürlich auch jenseits der Arbeit der Kom-mission Dinge, die das Wachstum in Südeuropa hem-men. Die Kreditvergabepraxis der Banken zum Beispielin Griechenland erfüllt mich schon mit Sorge. Zum Bei-spiel bekommt ein junger Kfz-Mechaniker, der dort20 000 Euro für eine Hebebühne braucht, um dann dreioder vier Leute in seinem Betrieb zu beschäftigen, diesesGeld schlicht nicht, obwohl wir alle das eigentlich wol-len und wissen, dass er damit klug umgehen wird. Ichglaube, dass wir im Jahr 2014 auch hier noch eine ganzeReihe von Feinsteuerungen vornehmen müssen.Überhaupt ist Wachstum natürlich der Schlüssel zurLösung der Finanzprobleme; denn es kann nicht so vielgespart werden, wie durch gutes Wachstum letztlich ein-genommen werden kann.Ich finde auch das Programm REFIT wichtig. Dasklingt zwar ein bisschen wie eine Zappelbudenkette, istaber in Wirklichkeit das Entbürokratisierungsprogrammder Europäischen Union. Ich würde mir halt nur wün-schen, dass REFIT nicht nur als Etikett im Wahljahr da-steht: „Die Europäische Union bemüht sich um eine effi-zientere Gesetzgebung, um weniger Bürokratie“,sondern dass wir auch im Europawahljahr den einenoder anderen Erfolgspunkt setzen können.Wichtig ist weiter, dass wir in der Außenhandelspoli-tik der Europäischen Union vorankommen; ich nennevor allem das Abkommen mit den USA. Dabei dürfenwir nicht vergessen, dass Nordamerika ein wichtigerzentraler Markt für uns ist, aber andere Teile der Welt alsHandelsregionen für uns genauso wichtig sind. Der Fo-kus darf nicht einseitig auf Nordamerika liegen. Wir alsEuropäer müssen weltweit Freihandel anstreben.Ich möchte schließen mit einer kleinen Mahnung analle, die in Europa politisch Verantwortung tragen, natür-lich insbesondere an die Kommission. Das Jahr 2014 er-fordert so viele schnelle, effiziente Entscheidungen, dasswir es uns nicht leisten können, dass sich das Parlamentoder einzelne Kommissare vor der Zeit aus der politi-schen Arbeit in der Europäischen Union abmelden.
Es hat 2008/2009 eine solche Entwicklung gegeben. Esgibt Anzeichen dafür, dass auch jetzt der eine oder an-dere Kommissar sich auf nationale Aufgaben konzen-trieren will. Ich halte das für falsch. Die Kommission istbis Oktober im Amt.
Sie wird bis zur letzten Minute arbeiten müssen. Ichwürde mir auch wünschen, dass zwischen dem Europäi-schen Parlament und den Staats- und Regierungschefsdann auch rasch eine Einigung über die Zusammenset-zung der neuen Kommission zustandekommt, dass wirnicht erleben, dass die zweite Hälfte des Jahres 2014eine Phase der Lähmung und des Stillstands in Europawird. Vielleicht könnte das Jahr 2014, in dem ganz kom-plizierte Dinge zu klären sind, beispielgebend auch fürzukünftige Wahljahre sein.Das Kommissionsprogramm ist ein guter Treibstofffür das komplizierte europäische Getriebe im Jahr 2014.Wir sollten die Bundesregierung unterstützen, wenn sieihrerseits die Kommission unterstützt, das Programmumzusetzen.Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Norbert
Spinrath für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Europa hat, denke ich,dauerhaft nur eine Chance, wenn die Bürgerinnen undBürger dieses Europa aktiv für sich begreifen und sichauch damit identifizieren.
Das gilt natürlich insbesondere im Mai dieses Jahres,wenn die Bürger in Europa erneut die Wahl haben undwieder mit Europa in Berührung kommen. Es reicht abernicht aus, das immer nur in Wahljahren zu betonen. Viel-mehr müssen sich Europa und die europäische Idee fürdie Bürgerinnen und Bürger verstetigen. Schon aus die-sem Grunde muss Europa sozialer, demokratischer unddamit auch solidarischer werden.
Meine Kollegin Dagmar Schmidt hat eben schondeutlich gemacht, dass wir uns vor einer Armutszuwan-derung nicht fürchten müssen. Schon die große Erweite-rungsrunde im Jahr 2004, als die Europäische Union umzehn Mitgliedstaaten anwuchs, hat bewiesen, dass Vor-urteile und Besorgnisse unberechtigt waren. Dies gilt fürden Arbeitsmarkt genauso wie für die sozialen Siche-rungssysteme und für die Kriminalitätsentwicklung, dieich als Polizeibeamter damals besonders im Auge hatte.Dabei – das sage ich ein wenig mahnend – ist es nichthilfreich, Ängste zu schüren und Ressentiments aufzu-bauen. Die Töne der letzten Wochen aus dem Süden derRepublik sind dem europäischen Gedanken nicht geradeförderlich,
und – das sage ich in aller Deutlichkeit – sie sind nichtangemessen. Sie zeugen eher von fehlender Sensibilitätund – das ist für mich besonders bedauerlich – von feh-lender Kenntnis des EU-Rechts und des nationalenRechts.Oftmals wird Europa als Alibi genutzt oder schlichtverschwiegen: in diesem Hohen Haus, in den Länderpar-lamenten, in den Regierungen in Bund und Ländern.Wenn es etwas Positives für die Bürgerinnen und Bürger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 521
Norbert Spinrath
(C)
(B)
zu vermelden gibt, dann fehlt oft der Hinweis darauf,dass man lediglich europäisches Recht in nationales um-gesetzt hat. Bei den die Bürger belastenden Vorgängenversteckt man sich hingegen oft gerne dahinter, dass mangezwungen war, europäisches Recht auf nationalerEbene umzusetzen: „Die da in Brüssel sind schuld“, lau-tet oft die Rechtfertigung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir,dass wir alle miteinander ehrlicher werden. Hand aufsHerz: Jeder hier im Saal weiß, dass in Brüssel nichtsläuft, was nicht vorher in Berlin abgenickt wurde.
Ich will damit sagen: Wir brauchen eine bessereKommunikation über Europa, aber vor allen Dingen mitden Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam zu Europa.Wir müssen erklären, was Europa bedeutet. Europa ent-scheidet eben nicht nur über die Krümmung der Banane,sondern hat oftmals auch auf unsere Forderung hin we-sentliche Verbraucherrechte entscheidend gestaltet undausgebaut. Das ist, denke ich, in einer Welt des globali-sierten Handels wichtig.Europa muss eben nicht nur Krisen bewältigen. Esmuss den Euro nicht nur retten, sondern hat mit dieserWährung auch viele Vorteile für die Menschen und dieUnternehmen geschaffen, die grenzenlos reisen, handelnoder schlicht die Preise vergleichen wollen. Europa kos-tet die Steuerzahler eben nicht nur viel Geld, sondern istMotor für unsere Wirtschaft und damit auch Motor fürden Arbeitsmarkt in Deutschland.
Wir dürfen den Menschen nicht nur Finanztheorien er-läutern und Fachchinesisch vorbeten, sondern müssenihnen direkt und klar sagen, dass zum Beispiel deutscheAutomobilhersteller Arbeitskräfte in Deutschland entlas-sen müssten, wenn deren Autos in Griechenland, Portu-gal oder Spanien nicht mehr gekauft werden können,weil viele Menschen dort um ihre Existenz fürchten.
Europa will eben nicht nur die Vorratsdatenspeiche-rung, sondern Europa hat auch einen einzigartigen Raumder Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geschaffen,im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und ihres An-rechts auf Freizügigkeit und auf Sicherheit im Alltag.Die Europäische Union wird durch ihre Erweiterun-gen nicht in ihren Grundwerten bedroht, sondern erlebteinen Zuwachs an kultureller Vielfalt, von dem unsereGesellschaften nur profitieren können.Europa darf nicht nur an seinen Krisen und den Kos-ten zu deren Bewältigung gemessen werden, sonderndaran, wie viel Mut alle Beteiligten aufbringen, dieHaushalte einiger Mitgliedstaaten nicht nur durch Spar-zwänge, sondern auch gleichberechtigt zu konsolidieren,also über Programme für Wachstum und Beschäftigungdafür Sorgen zu tragen, dass es dort wieder aufwärtsgeht. Dabei sind aber auch – ich sage das mit allemNachdruck – diejenigen an den Kosten zu beteiligen, diesie verursacht haben.
Europa darf nicht ausschließlich auf den nächstenHaushalt und auf Austerität schielen, also auf Sparen umjeden Preis, sondern muss Sorge dafür tragen, dass dieje-nigen, für die die Zukunft Europas gestaltet wurde, dieseZukunft auch erleben und an ihr teilhaben können, näm-lich die Jugend Europas.
Die Europäische Kommission scheint einiges davonverstanden zu haben. Für ihr Arbeitsprogramm hat sienicht mehr viel Zeit. Ich bewerte es aber als sehr positiv,dass die Förderung von Wachstum und Beschäftigung,insbesondere die Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit, stärker in den Blickpunkt gerückt wurde. Denn diegrößte Bedrohung für den sozialen Frieden innerhalbEuropas ist – neben dem Verlust des Arbeitsplatzes – diePerspektivlosigkeit junger Menschen. Denn wie soll je-mand, der schon selbst keine Perspektiven hat, für künf-tige Generationen Perspektiven schaffen?
Daher muss sichergestellt werden, dass die entsprechen-den Mittel zügig eingesetzt werden.Die Jugend ist Europas Zukunft; das habe ich schongesagt. Gerade für sie müssen wir etwas tun, gerade fürsie müssen wir Chancen eröffnen. Dies ist nicht nur un-sere Verantwortung; es ist auch unsere soziale Verpflich-tung. Nur wenn die Jugend, wenn die Menschen insge-samt in sozialer Sicherheit leben können, ist auch dersoziale Friede in Europa gesichert, und nur dort, wo so-zialer Friede herrscht, kann auch wirtschaftlicher Wohl-stand wachsen. Deshalb sollten wir über gute Pro-gramme nicht nur reden, sondern auch alles tun, um sieschnellstmöglich umzusetzen. Die Zeit, die der Kommis-sion für ihr Arbeitsprogramm zur Verfügung steht, istkurz.Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Europa hatnur dann eine Chance – das habe ich eben gesagt –,wenn wir die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Wirmüssen darauf drängen, dass die Kommission nunschnell die wesentlichen Maßnahmen umsetzt. Wenndies nicht gelingt, verlieren viele Menschen in Europaviel Zeit zur Lösung ihrer Probleme. Damit verlieren sieauch ihre Perspektiven. Ich denke, es ist unerlässlich,dass Maßnahmen für mehr Wachstum und Beschäfti-gung und zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeitgleichberechtigt neben Maßnahmen zur Haushaltskonso-lidierung stehen, dass die aus der Sparpolitik resultieren-den Belastungen gleichmäßig verteilt werden und nichteinseitig von den sogenannten kleinen Leuten getragenwerden müssen.Mit meinem Dank für die Aufmerksamkeit äußere ichnoch einen Wunsch: Ich will weiter für ein soziales Eu-ropa arbeiten und daran glauben, dass es ein Europa der
Metadaten/Kopzeile:
522 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Norbert Spinrath
(C)
(B)
Bürgerinnen und Bürger gibt. Dieses Europa soll nichtnur Banken retten.
Auch Ihnen, Herr Kollege Spinrath, gratuliere ich
herzlich zu Ihrer ersten Rede. Wir freuen uns auf die Zu-
sammenarbeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Gauweiler für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen! Ichschließe mich dem Glückwunsch für meinen Herrn Vor-redner zu seiner Jungfernrede an. Das gibt mir die Gele-genheit, zu dem Punkt aus dem Themenkatalog derCSU, der heute ein wenig leise Kritik von Ihnen auf sichgezogen hat, den Herrn Fraktionsvorsitzenden der SPD,unseren Kollegen Oppermann, zu zitieren. Er hat sichvor wenigen Tagen dazu geäußert, nachdem die Bundes-regierung auf unsere gemeinsame Initiative hin einenStaatssekretärsausschuss eingesetzt hat – ich zitiere –:Es darf kein EU-Recht geben, das Anreize für Ar-mutseinwanderung schafft. Wir wollen nicht, dassMenschen nur deshalb nach Deutschland kommen,weil hier die Sozialleistungen höher sind als an-derswo. Das würde unser soziales Sicherungssys-tem nicht aushalten. Deshalb wollen wir hierKlarheit schaffen, auch in Gesprächen mit der Eu-ropäischen Union.Besser kann man es nicht ausdrücken, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren.
Ich teile Ihre Auffassung, dass uns eine Strategie derdiffamierten Negativgruppen nicht weiterhilft, sondernauf allen Seiten zum Scheitern verurteilt ist. „Populisti-sches Herumgeschreie“, wie Frau Kollegin Baerbock esausgedrückt hat, brauchen wir nicht.
Ich darf in diesem Zusammenhang aber an eine Debatteaus der Zeit von Rot-Grün erinnern, auch wenn dielichten Tage der rot-grünen Regierung unter KanzlerSchröder und Vizekanzler Fischer ja schon einige Zeitvorbei sind. Damals hat der Regierungschef von Rot-Grün in der Debatte über die Notwendigkeit aufenthalts-beendender Maßnahmen erklärt: „Raus, aber schnell.“Zu derart sensiblen Äußerungen waren wir bisher nichtin der Lage.
– Wo bleibt der Beifall?Es ist auch richtig, dass niemand ein Interesse daranhaben kann, die Menschen, die aus den Donau-Ländernzu uns kommen, herunterzureden, zu diskreditieren. Wirwollen dies nicht, und wir wehren uns dagegen. Wir inBayern sind stolz darauf, dass sich diese Menschen in sogroßer Zahl im Freistaat niederlassen und sich, wenn alleUmfragen stimmen, bei uns ziemlich wohlfühlen, nichtso wohl wie in Dortmund oder Essen, aber immerhin,wir arbeiten daran.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind ge-gen „populistisches Herumgeschreie“, aber auch gegengutmenschliche Heuchelei.
Wenn wir uns auf dieses beides einigen können, dannkönnen wir weiterkommen. Ich muss aber auch ganz of-fen sagen: Wir werden bei dieser Thematik keine Ruhegeben. Das sollten Sie auch nicht. Wir erwarten, dass derBericht des Staatssekretärsausschusses zügig vorgelegtwird. Wir erwarten auch, dass nicht nur die RegierungenBulgariens und Rumäniens, die sich letztlich noch imAufbau befinden, sondern auch die EU-Kommission undinsbesondere der presseerklärungsfreudige EU-Kommis-sar Andor alles tun, dass der derzeitige skandalöse Zu-stand, dass von dem Etat von 27 Milliarden Euro, den dieMitgliedstaaten der Europäischen Union für Bulgarienund Rumänien für Maßnahmen zur Arbeitsintegration,für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Sozialhilfe zurVerfügung gestellt haben, wovon 10 Milliarden Euro dieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler der BundesrepublikDeutschland bezahlt haben, nicht länger über 50 Prozentauf der hohen Kante liegen, sondern endlich eingesetztwerden. Sie sollten uns unterstützen, meine sehr verehr-ten Damen und Herren, wenn wir das verlangen.
– Ich verstehe offen gesagt kein Wort.
– Ich meine das wirklich nur akustisch.Das hängt auch damit zusammen, dass es doch über-haupt kein Argument ist, dass auch bei uns solche Mittelnicht abgerufen werden. Auch der Städtetag muss sichdiese Fragen gefallen lassen. Er hat einen Brandbrief mitdrastischen Formulierungen – ich möchte sie aus Zeit-gründen nicht wiederholen – an alle Parteien geschrie-ben.
Dieser Brief ging auch an Sie. Der Städtetag fordert: Tutendlich etwas; wir brauchen die Geldmittel. Doch dannerfährt man – Stichwort „eigene Nase“ –, dass große Be-träge nicht abgerufen worden sind. Das ist doch zumVerzweifeln. Da braucht man sich doch nicht zu wun-dern, dass die Betroffenen fragen: Wie ist es um daspolitische Management in unserer Gesellschaft und diepolitische Klasse überhaupt bestellt? Die Beteiligten tä-ten gut daran – ich sage das als Kontrapunkt zu dieser
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 523
Dr. Peter Gauweiler
(C)
(B)
Debatte –, baldmöglichst einen Bericht vorzulegen, wiediese Mittel endlich eingesetzt werden können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der KollegeSarrazin hat in einem Beitrag eines Historikers etwas ge-sagt, was ich hier aufgreifen möchte. Er hat gesagt, eswird versäumt, die guten Argumente für Europa – wirreden hier über das Arbeitsprogramm der Kommissionfür 2014 – stark zu machen. Er hat aber auch gesagt,dass man über Europa streiten können muss; das heißt,dass nicht jede Abweichung um einen Millimeter vomPapier sofort mit dem Verdikt „Europafeind“ belastetwird.
Wenn ein Klima geschaffen wird, dass man an derEuropäischen Kommission keine Kritik mehr üben kann,ohne den Vorwurf auf sich zu ziehen, sich in blindemNationalismus zu ergehen, dann tun Sie der Diskussionkeinen Gefallen. Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeitsind der Ausgangspunkt des Zusammenschlusses, undBürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit sind durch Überre-gulierungs-, Verbots- und Vorschriftenwahn aus Brüsselschwer in Bedrängnis gekommen. Wer dies nicht sieht,egal ob er links oder rechts ist, ist blind und taub.
Deswegen muss die Entbürokratisierung bei der Eu-ropäischen Union anfangen.
Ich zitiere wieder einen Kollegen aus Ihrer Mitte: Des-wegen müssen wir auch ein Programm entwickeln, Auf-gaben von der Europäischen Union wieder auf die tiefereEbene herunterzulegen. – Martin Schulz, der Präsidentdes Europaparlaments.
Herr Kollege Gauweiler, darf die Kollegin Brantner
Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Wenn ich den einen Satz noch beenden darf.
Aber klar.
Herr Schulz hat recht, wenn er sagt:
… viele Leute haben den Eindruck, dass … die
Kommission in Brüssel sich zu oft in Dinge ein-
mischt. Das ist alles richtig, das kann ich alles nach-
vollziehen, aber das kann man ja reformieren durch
Subsidiarität, indem wir Maßnahmen, die wirklich
in Brüssel nicht notwendig sind, zurückübertragen
auf die Mitgliedstaaten.
Wir erwarten hier einen Arbeitskatalog über die The-
menbereiche, die wieder an die Mitgliedstaaten zurück-
gegeben werden können.
Bitte, Frau Kollegin.
Wie Sie wissen, ist in Brüssel für die Entbürokratisie-
rung Ihr Kollege Stoiber zuständig. Wenn Sie das hier
einfordern und sagen: „Da passiert nicht genug“, würden
Sie dann also zugeben, dass Herr Stoiber die letzten
Jahre – er ist ja schon seit Jahren dort – nicht gut genug
die Arbeit vorangetrieben hat?
Das war ja hammerhart.
Aber parlamentarisch zulässig, Herr Kollege
Gauweiler.
Das war ja durchaus liebevoll von mir. „Parlamenta-risch zulässig“. Sie bräuchten Hundert Stoibers, wennich Ihnen das ganz offen sagen darf, um das anzugehen.
Frau Kollegin, ich darf jemanden zitieren, der Ihnenvielleicht noch näher ist als ich, und zwar den Philoso-phen Jürgen Habermas. Er sagte in einem Vortrag mitdem Titel „Wie demokratisch ist die EU?“:Das … Netz supranationaler Organisationen wecktseit Langem die Befürchtung, dass der im National-staat gesicherte Zusammenhang von Menschen-rechten und Demokratie zerstört [wird].Deshalb erwarte ich mir von Ihnen nicht nur geistreicheZwischenfragen, sondern ein aktives Eintreten auch vonIhnen als Grüne, dass Sie sagen: Mit einem Superstaatist das Problem der Demokratie nicht gelöst, sondern da-rin kann auch eine Gefährdung liegen.Ich wollte auf einen Punkt zu sprechen kommen, derdies fortsetzt. In dem EU-Arbeitsprogramm, über daswir reden, wird das geplante Freihandelsabkommen mitden USA ganz kurz angesprochen. Wir begrüßen diesesFreihandelsabkommen. Wir hatten den amerikanischenBotschafter zu unserer Tagung im Tegernseer Tal einge-laden. Aber dieses Abkommen hat viele Probleme: DieVerhandlungen werden in einem absoluten Geheimver-fahren geführt. Im Oktober soll ein Vertrag unterschrie-ben werden. Das Papier umfasst jetzt, wie man hört,1 000 Seiten. Es kann nicht angehen, dass der Bundestagdann nach bekanntem Muster im Oktober wieder dreiTage bekommt, um die Sache schnell zu überprüfen.
Metadaten/Kopzeile:
524 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Dr. Peter Gauweiler
(C)
(B)
In diesem Vertrag sind sogenannte Schiedsgerichtevorgesehen. Diese gelten für alle amerikanischen Frei-handelsabkommen. Vor einem solchen Schiedsgerichtkann dann der Investor gegen den Staat wegen Benach-teiligung aller Art klagen, aber der umgekehrte Weg istnicht möglich. Auch diese Verhandlungen sind geheim.Sie können auf diesem Wege die örtlichen Rechtssitua-tionen, Umweltschutzrecht, Datenschutzrecht, alles, washier uns allen gemeinsam hoch und wichtig ist, aushe-beln. Sie können die örtliche Gerichtsbarkeit der Mit-gliedstaaten aushebeln.Ich halte das bei aller Liebe zum Zentralismus, zumGroßstaat, zu diesem Erdteil, „Alle sprechen nur mit ei-ner Stimme“, für einen gefährlichen Weg. Deswegen ha-ben wir uns in der Großen Koalition entschlossen, imKoalitionsvertrag festzulegen, dass die Voraussetzungfür dieses Abkommen nicht nur die Einhaltung demokra-tischer Normen ist – das ist ja eine Selbstverständlich-keit –, sondern auch der Erhalt unserer Gerichtsbarkeitund die Verteidigung unserer Rechtssituation. Wir müs-sen nach Unterzeichnung dieses Abkommens immernoch unsere örtlichen Regeln in Bayern, in Nordrhein-Westfalen oder sonst wo ändern oder unter Umständenverschärfen können. Wir erwarten, dass die Bundesre-gierung alsbald verlangt – sie hat es bereits angekündigt;aber bisher noch nicht getan –, dass die EU den Rat unddie nationalen Parlamente über den Stand der Verhand-lungen und den Inhalt dieses Abkommens informiert.
Herr Kollege Gauweiler, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Herrn Kollegen Gehrcke?
Immer.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Herzlichen Dank,
Kollege Gauweiler. Habe ich Ihre klare Begründung der
Ablehnung eines Abschlusses des Freihandelsabkom-
mens richtig verstanden, dass Sie also der Meinung sind,
dass es, wenn es so bleibt – so haben Sie es formuliert –,
eigentlich Aufgabe des Bundestages wäre, die Bundesre-
gierung aufzufordern, ein solches Freihandelsabkommen
im Rahmen der EU nicht zu unterstützen und die Ver-
handlungen abzubrechen?
Da haben Sie mich richtig verstanden. Sie haben aber
außerdem gesehen: Ich habe es als Erfolg dargestellt,
dass die Große Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung
genau an dieser Stelle den Finger in die Wunde gelegt
hat und Voraussetzungen geschaffen hat, die für die Zu-
stimmung zu diesem Abkommen unabdingbar sind.
Wenn uns die Linke hier unterstützt, dann freut sich die
CSU besonders darüber.
Ich wollte noch eine ganze Menge zu Ihnen sagen,
zum Beispiel zu strengeren Regeln auf den Finanzmärk-
ten, zur Außenpolitik und zur notwendigen Entschla-
ckung des Auswärtigen Dienstes der EU – es ist völlig
verrückt, hier eine Institution mit 6 000 oder 9 000 Plan-
stellen vorzusehen –, zu unserem lieben Euro und zur
Unmöglichkeit, eine Bankenrettung direkt aus Mitteln
des Europäischen Stabilitätsmechanismus zu bezahlen.
Ich sehe gerade, dass der Herr Präsident das Lämp-
chen blinken lässt.
Die Frau Präsidentin! Aber das Blinken bleibt das
gleiche.
Das ist eine Jungfernunterbrechung durch diese Präsi-
dentin, wenn ich das einmal sagen darf.
Vielen herzlichen Dank, Frau Präsidentin, ich habe den
Präsidentenwechsel nicht bemerkt. Selbst wir können
nicht nach hinten schauen.
Aber ich kann Sie von hinten beobachten, keine
Angst.
Ich freue mich sehr, wenn es gelungen ist, einige we-
nige Punkte eines sehr schwierigen Themas zu klären.
Wir wollen mit der Europäische Union zusammenarbei-
ten. Wir schätzen diese Institution als, wenn Sie so wol-
len, Jahrhunderterfindung der Politik. Wir meinen aber
auch, dass die Europäische Union und ihre Instanzen fol-
genden alten Spruch, der im gesellschaftlichen, im be-
ruflichen und im privaten Leben immer gilt, berücksich-
tigen sollten: Weniger kann manchmal mehr sein.
Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Dr. Gauweiler.Mit unserem streitbaren Kollegen Gauweiler schließeich die Aussprache.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Jan Korte, Katrin Kunert, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 525
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
Das Massensterben an den EU-Außengrenzenbeenden – Für eine offene, solidarische undhumane Flüchtlingspolitik der EuropäischenUnionDrucksache 18/288Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach interfraktioneller Vereinbarung sind für dieAussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre und sehekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort UllaJelpke von der Linken.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der ak-
tuelle Anlass für den vorliegenden Antrag der Fraktion
Die Linke sind die tragischen Schiffsunglücke auf Lam-
pedusa und anderswo, die im Herbst vergangenen Jahres
im Mittelmeer weit über 500 Flüchtlingen das Leben ge-
kostet haben.
Betroffenheit war allgemein zu spüren. Herr Gabriel
zum Beispiel sprach davon, dass es eine große Schande
für die Europäische Union sei. Der italienische Präsident
Napolitano sprach von einem Massaker, EU-Kommis-
sionspräsident Barroso von einem europäischen Not-
stand, und der Papst prangerte die Gleichgültigkeit in
den Industriestaaten an.
Leider sind die Tragödien vor Lampedusa alles andere
als einzigartig. Seit 1988 starben etwa 20 000 Flüchtlinge
entlang der europäischen Außengrenzen, die meisten im
Mittelmeer. Die Toten sind Ergebnis der Abschottungs-
politik der Europäischen Union. Daher will ich zu Be-
ginn ganz klar sagen: Es genügt eben nicht, sich nur er-
schüttert zu zeigen, sondern es müssen endlich Taten
folgen, um eine Wiederholung solcher Katastrophen zu
vermeiden.
Das heißt in erster Linie, dass Asylsuchende eine le-
gale und sichere Möglichkeit haben müssen, nach
Europa einzureisen. Aber daran, meine Damen und Her-
ren, denken die Innenminister der EU überhaupt nicht.
Die Leichen von Lampedusa waren noch nicht gebor-
gen, da nutzten die Innenminister diese Tragödie als Vor-
wand, einen weiteren Ausbau der Festung Europa fest-
zulegen. Nicht „Hilfen für Flüchtlinge“ ist ihre Devise,
sondern „Noch mehr Abschottung“.
Kürzlich hat die EU das milliardenteure Grenzüber-
wachungssystem EUROSUR in Betrieb genommen.
Polizei, Geheimdienste, Militär sollen mit Satelliten und
Drohnen die Seeüberwachung perfektionieren. Fakt ist:
Nicht die Rettung Schiffbrüchiger steht hier im Vorder-
grund, sondern das Abfangen von Flüchtlingsschiffen,
lange bevor sie die EU-Grenzen erreichen.
Deswegen wird die libysche Grenzpolizei beispielsweise
mithilfe der EU und NATO aufgerüstet. Deswegen ma-
chen die ägyptischen und libyschen Küstenwachen Jagd
auf Flüchtlingsboote. Solange die EU keine Anstren-
gung unternimmt, Kriege und ökonomische Not als
Fluchtursachen anzuerkennen und diese auch endlich zu
bekämpfen, und solange sie keine Hilfe leistet, ist diese
Abschottungspolitik einfach nur skrupellos, menschen-
verachtend und beschämend.
Es gibt noch mehr Beispiele. Derzeit wird in der EU
über eine neue Frontex-Verordnung diskutiert. Im Rah-
men von Frontex-Operationen auf hoher See sollen auf-
gebrachte Schiffe in den Staat zurückgebracht werden,
von dem sie gestartet sind. Flüchtlingsschutz auf hoher
See gibt es in dieser Realität schlicht nicht; das Beispiel
Griechenland zeigt es. Pro Asyl spricht hier beispiels-
weise von systematischen völkerrechtswidrigen Men-
schenrechtsverstößen und einer erschreckenden Brutali-
tät der griechischen Küstenwache gegenüber den
Flüchtlingen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Huber?
Ja, gern.
Frau Kollegin Linke – –
Jelpke.
Jelpke. „Linke“ wäre auch nett, aber – –
Frau Kollegin Jelpke, Entschuldigung; aber ich habehier „Linke“ gelesen. Entschuldigen Sie!
Folgendes: Es macht uns natürlich betroffen, wennwir diese Flüchtlingsszenarien vor Lampedusa sehen.Aber ich sage Ihnen: Betroffenheit ist noch lange keinpolitisches Konzept.
Metadaten/Kopzeile:
526 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Charles M. Huber
(C)
(B)
Vorhin ging es einmal um die Frage: Was ist Ursache,und was ist Wirkung? So wie Sie dieses Thema aufberei-ten, habe ich ein bisschen den Eindruck, dass Sie sichsehr der Wirkung, aber weniger den Ursachen widmen.Dass wir eine Verantwortung für in Not gerateneMenschen haben, ist natürlich prinzipiell richtig. Aberich denke, dass es prinzipiell gleichermaßen wichtig ist,die Verantwortung nicht von denen zu nehmen, die dieseSituation durch die politischen und gesellschaftspoliti-schen Rahmenbedingungen in ihren eigenen Ländern,den Ursprungsländern der Flüchtlinge, verursacht habenund die kein Konzept für eine solide Staatsführung ha-ben.
Herr Kollege, würden Sie zu Ihrer Frage kommen?
Das ist nämlich eigentlich so gedacht.
Meine Frage ist: Ist es in erster Linie die Verantwor-
tung der Bundesregierung bzw. der europäischen Staa-
ten, sich um diese Flüchtlinge zu kümmern, oder ist es
gleichermaßen auch die Verantwortung der Länder bzw.
der politisch Verantwortlichen in den Länder, aus denen
die Flüchtlinge nach Europa kommen?
Ich will die Frage gern beantworten; damit es nicht
von meiner Redezeit abgeht, müssen Sie stehen. – Ich
will Ihnen ganz deutlich sagen: Die europäischen Staa-
ten, aber auch viele andere Staaten, etwa Amerika, ha-
ben Anteil an der Schaffung von Fluchtursachen. Daraus
ergibt sich eine klare Mitverantwortung. Flüchtlinge, die
aus Libyen zu uns gekommen sind, haben uns berichtet,
wie die Bomben der NATO über ihnen gefallen sind; ei-
nige waren bereits vorher auf der Flucht. Deswegen ste-
hen die Länder, die in der NATO sind, auch mit in der
Verantwortung, die Ursachen von Flucht zu bekämpfen
bzw. Flüchtlingen zu helfen.
Man kann nicht einfach so tun, als wäre man nicht be-
teiligt an der Politik, die zur Ausbeutung vieler Länder
beigetragen hat. Ich nenne als Stichworte nur: Nord-
afrika, EU-Fischfangflotte. Die europäischen Konzerne
fischen den Menschen vor Ort seit Jahren den Fisch vor
der Küste weg. Also fliehen die Menschen. Auch so
schafft man Fluchtursachen. Man muss in diesen Fragen
konsequent eine andere Politik machen; dann wird es
auch nicht mehr so viele Flüchtlinge geben. Ich sage es
Ihnen ganz deutlich: Die meisten Menschen kommen
nicht aus Lust und Laune nach Europa, sondern müssen
vor Krieg oder Umweltkatastrophen fliehen oder sind in
wirtschaftlicher Not. Deswegen hat die Europäische
Union dafür, dass Flüchtlinge hierher kommen, eine
Mitverantwortung.
Wenn man es Flüchtlingen durch Verschärfung der Si-
cherheitsbestimmungen immer schwerer macht, ist man
mit dafür verantwortlich, dass sie nach immer neuen We-
gen, über die Meere, suchen. Man müsste stattdessen
darüber diskutieren, wie es Flüchtlingen ermöglicht wer-
den kann, nach Europa einzureisen und ein Schutzge-
such zu stellen. Das ist derzeit nicht möglich. Man muss
gewissermaßen vom Himmel fallen, wenn man in die-
sem Land überhaupt einen Asylantrag stellen möchte.
Das kritisieren die Flüchtlingsgruppen zu Recht. Ich
meine, es ist an der Zeit, nicht nur in Sachen Sicherheit
zu arbeiten, sondern Wege zu finden, um den Flüchtlin-
gen zu helfen.
Danke schön. Jetzt geht die reguläre Rede weiter.
Angesichts der zunehmenden Abschottung der Au-ßengrenzen hat die Linke schon immer gefordert: Fron-tex muss abgeschafft werden; diese Einrichtung ist nichtkontrollierbar. Wer vor den Küsten Europas gerettetwird, muss Zugang zu einem Asylverfahren in Europabekommen.Auch innerhalb der EU herrschen schlimme Zu-stände: In Griechenland, Bulgarien, Italien gibt es keinefunktionierenden Asylsysteme. Hier hätte Europa, auchDeutschland, längst viel mehr Druck ausüben müssen.Das zeigt das Beispiel der Flüchtlinge, die über Lam-pedusa nach Hamburg gekommen sind. Sie haben erlebt,wie Libyen bombardiert wurde, und hofften, hier endlichwieder Sicherheit zu finden. Doch was passiert in Ham-burg? Anstatt dass man ihnen Hilfe leistet, werden dieFlüchtlinge dort systematisch zermürbt, ständig kontrol-liert usw., usw., um sie zur Rückkehr zu zwingen. Dashält die Linke für grundsätzlich falsch.
Die Linke hat großen Respekt vor dem Mut derFlüchtlinge, nicht nur der Flüchtlinge in Hamburg, son-dern auch der Flüchtlinge, die hier in Berlin am Oranien-platz oder in anderen Städten Aktionen für ihre Rechtedurchführen und sich diesem Ausgrenzungsregime nichtbeugen wollen. Sie verdienen unsere volle Solidarität.Man darf sie nicht weiter ausgrenzen.
Meine Damen und Herren, die EU steckt Milliardenin den Ausbau der Festung Europa, doch sie bleibt taten-los, wenn es um Verbesserungen des Flüchtlingsschutzesinnerhalb der EU geht. Es gibt zum Beispiel keine ge-meinsamen Anstrengungen zur Aufnahme von Flücht-lingen aus Syrien. Natürlich weiß ich, dass Deutschland– immerhin – 5 000 Flüchtlinge aufgenommen hat undjetzt weitere 5 000 aufnehmen will; aber auch das ver-läuft viel zu schleppend: Die Bürokratie hat es in achtMonaten gerade einmal geschafft, 1 700 Flüchtlinge ausSyrien aufzunehmen.Statt konkreter Hilfe erleben wir eine zunehmendrechtspopulistische Hetze – übrigens aus den Reihen derUnion, insbesondere aus der CSU – gegen Migrantinnenund Migranten aus Bulgarien und Rumänien. An dieserStelle bin ich ausnahmsweise einmal einig mit der EU-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 527
Ulla Jelpke
(C)
(B)
Kommission, die klargestellt hat, dass die Behauptun-gen, wie sie aus der CSU kommen, in keiner Weisedurch Zahlen gestützt sind.
Frau Jelpke, entschuldigen Sie, aber gestatten Sie eine
zweite Zwischenfrage von Herrn Huber?
Ja, gerne.
Kollegin Jelpke – jetzt sage ich Ihren Namen richtig –,
Sie haben gerade über die CSU gesprochen. Ich hatte
– das sage ich, weil Sie zu diesem Thema reden – vor
kurzem ein Interview für die Süddeutsche Zeitung genau
zu diesem Thema, zum Thema Flüchtlinge in Bayern.
Was passiert denn in den Herkunftsländern, zum Bei-
spiel auch in einem Land wie Senegal? Es werden unter
anderem die Küsten leergefischt. Das betrifft auch Sene-
gal. Das nur zu den Ursachen: Die Fischereirechte wer-
den von den dortigen politischen Eliten an die Fangflot-
ten der EU und andere verkauft. Das heißt, das ist
außerhalb der Verantwortlichkeit der Europäer.
Tatsache ist: Man hat in diesem Zusammenhang ein
Land als Beispiel genommen, von dem man sagt, dass
Menschen politisch verfolgt werden, wenn sie eine an-
dere politische oder religiöse Orientierung haben. Das
stimmt so nicht. Ich denke, dass Sie dieses Thema sehr
stark pauschalisieren, zum Teil ohne Kenntnis der Situa-
tion vor Ort.
Es ist wichtig und richtig, Menschen aus Krisengebieten
aufzunehmen. Aber ich denke, dass Sie einen dezidierten
Unterschied machen müssen zwischen Menschen in
wirtschaftlicher Not und Leuten, die tatsächlich aus
Kriegsgebieten kommen.
Darf ich Sie nochmals bitten, eine Frage zu formulie-
ren, wohlwissend, dass Sie jetzt schon eine Zwischenbe-
merkung gemacht haben?
Dann möchte ich eine Frage formulieren: Sind Sie zu-
künftig willens, eine Differenzierung zu machen zwi-
schen Menschen, die tatsächlich Asyl brauchen, weil sie
aus Krisengebieten oder Kriegsgebieten kommen, und
Wirtschaftsflüchtlingen, denen Sie genau dieselbe Not
unterstellen, für die die Europäische Union bzw.
Deutschland verantwortlich sein soll?
Danke, Herr Kollege. – Frau Jelpke, bitte.
Herr Kollege, ich war, und zwar nicht nur alleine,
sondern auch im Rahmen vieler Delegationsreisen des
Innenausschusses, in Griechenland, Italien und vielen
anderen Ländern. Ich kann Ihnen versichern: Ich kenne
die Situation vor Ort sehr gut.
Es kann einfach nicht sein, dass Menschen, die
Schutz suchen, zum Beispiel in Griechenland bis zu
18 Monaten einfach inhaftiert werden, ohne je ein Ver-
fahren gehabt zu haben.
Wir müssen natürlich immer wieder überprüfen, wer
Asyl haben muss. Natürlich unterscheide ich zum Bei-
spiel zwischen Ländern wie Bulgarien und Rumänien.
Aber angesichts Ihrer Parole „Wer betrügt, fliegt“, muss
man hier die Frage stellen: Wer betrügt hier eigentlich,
und wer sollte eigentlich fliegen?
Ich will Ihnen deutlich sagen: Es geht um 400 000 Men-
schen, die seit 2010 eingereist sind, und um 38 000 Men-
schen, die noch keine Arbeit gefunden haben. Sie ma-
chen daraus eine Kampagne. Daraus werden Brandstifter
in dieser Republik. Ich kann Sie nur warnen, hier weiter
diese Linie zu fahren. Differenzieren Sie erst einmal:
Was wollen Sie hinsichtlich der Freizügigkeit in der Eu-
ropäischen Union und hinsichtlich der Aufnahme von
Zuwanderern, die Deutschland in der Tat braucht? Dann
können wir uns vielleicht im Einzelnen weiter unterhal-
ten.
Ich komme zum Schluss meiner Rede. Zusammenfas-
send möchte ich sagen, dass die Europäische Union und
damit auch Deutschland eine große Mitverantwortung
tragen für Tod und Elend der Flüchtlinge. Deswegen for-
dert die Linke eine grundlegende Wende bei der europäi-
schen Flüchtlingspolitik. Dazu gehört natürlich auch die
Bekämpfung von Fluchtursachen; darauf wird mein Kol-
lege später noch eingehen. Schutzsuchende müssen eine
Möglichkeit bekommen, nach Europa einzureisen. Es
muss vor allen Dingen die Asylrichtlinie überarbeitet
werden, damit es in allen EU-Staaten wirklich gleiche
Standards gibt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, mein letzter Satz. – Die Botschaft der Linken ist:Wir wollen ein Europa der offenen Grenzen für Men-schen in Not.
Das muss möglich sein, wenn man von Solidarität undvon Freizügigkeit spricht.Ich danke Ihnen.
Metadaten/Kopzeile:
528 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
(C)
(B)
Der nächste Redner ist Thomas Silberhorn für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir alle haben die schockierenden Bilder vom Herbstletzten Jahres in Erinnerung. Das Schicksal der ertrunke-nen Flüchtlinge, der Opfer, kann niemanden kaltlassen.Viele Tausend Menschen sind in den letzten Jahren beidem Versuch, nach Europa zu kommen, im Mittelmeerertrunken. Im Mittelmeer spielt sich in der Tat eine Tra-gödie ab.Unser Ziel muss sein, dass sich Flüchtlinge gar nichterst in diese lebensbedrohliche Situation begeben. Wieschwierig es ist, dieses Ziel zu erreichen, zeigt allein einBlick auf diese Debatte in den letzten Jahren, die uns jaschon seit Innenminister Schily parteiübergreifend be-schäftigt.Die Motive der Flüchtlinge sind durchaus nachvoll-ziehbar. Wenn Familien vor dem Bürgerkrieg in Syrienflüchten, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten,dann gibt es wohl niemanden, der dafür kein Verständnisaufbringen kann. Gleiches gilt für Menschen, dieschlicht auf ein besseres Leben in Europa hoffen undsich vor Hungersnöten, Bürgerkrieg oder einfach bittererArmut auf den langen Weg zu uns machen wollen.Wer sich die Flüchtlingsberichte näher ansieht, derversteht schnell, wie es zur Flucht kommen kann. Nurein Beispiel von vielen, wie sie täglich stattfinden: EineFrau, die in Somalia Fußball spielt, wird von Milizen be-droht, die das als unislamisch ansehen. Der Ehemannwird ermordet. Deswegen flieht die Frau mit Kind in einFlüchtlingslager. Dort trifft sie auf einen Schleuser, derviel Geld verlangt und ein besseres Leben in Europa ver-spricht.Damit sind wir schon beim Kern des Problems: Essind die Schleuser, die den Menschen in Flüchtlingsla-gern in Afrika häufig das Blaue vom Himmel verspre-chen. Sie locken Flüchtlinge mit falschen Versprechun-gen und fordern Tausende von Dollar für die Schleusungnach Europa. Nach Schätzungen des Bundesnachrich-tendienstes werden heute weltweit bereits mehrere Mil-liarden Euro mit Schleusung und Menschenschmuggelverdient.Deshalb müssen wir diese Dinge sehr konzentriert an-gehen. Wer sich mit den Berichten zu Fluchten über dasMittelmeer und dem Schicksal der Flüchtlinge näher be-fasst, der wird auf ganz ungeheuerliche Berichte stoßen:defekte oder überfüllte Boote, katastrophale hygienischeVerhältnisse und die Tatsache – das ist für mich eine derschlimmsten Nachrichten –, dass Schleuser die Flücht-linge, die sie für viele Tausend Dollar an Bord genom-men haben, teilweise sogar ins Meer werfen, wohlwis-send, dass sie gar nicht schwimmen können.Diesem Unwesen müssen wir entschlossen entgegen-treten. Wir müssen dieses Übel an der Wurzel packenund den Schleppern und den skrupellosen Banden dasHandwerk legen. Diese Forderung vermisse ich im An-trag der Linken.
Sie schlagen eine erleichterte Zuwanderung in die Eu-ropäische Union vor. Wir wollen auch Zuwanderung,aber qualifizierte Zuwanderung, wie es Innenminister deMaizière bei der Vorstellung des Migrationsberichtes2012 erst am Mittwoch hier unterstrichen hat.Es gibt bereits jetzt Möglichkeiten legaler Zuwande-rung in die Europäische Union. Die Europäische Unionhat das Modell der Bluecard eingeführt. Dieses gibt esseit August 2012 auch in Deutschland. Der Kerngedankedieser Bluecard ist aber eben, dass qualifizierte Zuwan-derung nach Europa erfolgt.Sie wollen das losgelöst von jeglicher Qualifikation.Ich glaube, es darf nicht sein, dass wir nicht mehr selbstentscheiden, wer zu uns nach Europa kommen darf.Auch diejenigen, die ein festes Kontingent für die Euro-päische Union festlegen wollen, müssen sich die Fragestellen, ob das wirklich hilfreich ist; denn wenn diesesKontingent erschöpft ist, werden sie ja wohl kaum einenverzweifelten Menschen auf der Flucht auf das nächsteJahr vertrösten können. Das wäre völlig lebensfremd.Wenn wir das Qualifikationserfordernis aufgebenwürden, dann würden wir eine Sogwirkung erzeugen,die das Problem nicht lösen, sondern sogar noch ver-schärfen würde. Die Ursachen der Flucht lassen sichnicht durch Auswanderung lösen.Ich warne auch vor einem Blick durch die rein natio-nale Brille. Es geht auch um die europäische Sicht. An-deren Mitgliedstaaten der Europäischen Union geht es inwirtschaftlicher und sozialer Hinsicht nicht so gut wieDeutschland. Deshalb muss die Zuwanderung in die EUauch weiterhin begrenzt und gesteuert werden. Die Pro-bleme, die in Afrika oder Syrien herrschen, sind von ei-ner so gewaltigen Dimension, dass wir eben nicht alleBetroffenen nach Europa holen können.Die Grenzschutzagentur Frontex der EuropäischenUnion erfüllt eine wichtige und sehr sinnvolle Arbeit. Esist wenig überraschend, dass sie von den Linken verteu-felt wird und dass diese Frontex gerne abschaffen möch-ten. Sie übersehen dabei eines: Frontex hat in denEinsätzen in den letzten beiden Jahren rund 40 000 Men-schen aus Seenot im Mittelmeer gerettet. Frontex ver-schließt nicht die Augen, sondern hilft dort, wo sie kann.Deshalb ist Frontex eine wichtige und gute Einrichtung.
Aus den bisher gesammelten Erfahrungen wird deut-lich, dass die Einbindung von Frontex bei Maßnahmenzum Schutz der EU-Außengrenzen notwendig ist, denndamit sind Gastbeamte der Europäischen Union vor Ortan den Brennpunkten der Migration präsent. Es ist für ei-nen nationalen Grenzschutzbeamten viel leichter, Stan-dards zu missachten, wenn ihm dabei nicht ein interna-tionaler Kollege über die Schulter schaut. Aber damit dieStandards geachtet werden, ist es eben wichtig, dass na-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 529
Thomas Silberhorn
(C)
(B)
tionale Grenzschützer und Frontex-Beamte zusammen-arbeiten. Das sichert die Einhaltung von Menschenrech-ten. Deswegen sind wir in der Europäischen Union aufdem richtigen Weg. Europa darf sich nicht zurückziehen,sondern muss vor Ort präsent sein.Das Dublin-System hat sich bewährt. Sie von der Lin-ken wollen es im Kern abschaffen. Das überrascht nicht.Auch da ist es aber wichtig, den Tatsachen ins Auge zublicken. Deutschland nimmt zum Beispiel deutlich mehrAsylbewerber auf als Italien. Der Eindruck, der oft er-weckt wird, dass die südeuropäischen Staaten viel stär-ker belastet werden als beispielsweise Deutschland, istschlicht falsch. Deutschland hat 2012 nicht nur in abso-luten Zahlen die meisten Asylbewerber aller Mitglied-staaten der Europäischen Union aufgenommen, sondernpro Kopf der Bevölkerung sind es dreimal mehr als inItalien. Allein im letzten Jahr, 2013, haben über 100 000Menschen Asyl in Deutschland beantragt.Wir haben auch an den Brennpunkten ganz praktischSolidarität geübt, indem wir Malta und Griechenland un-terstützt haben. Deshalb ist das Dublin-System sinnvoll.Dieses System verpflichtet jeden Mitgliedstaat dazu, dieeuropäischen Standards zu achten, etwa im Asylverfah-ren und bei der Durchführung dieses Verfahrens. Wirverteidigen deshalb unsere europäischen Rechtsstan-dards, von Finnland bis zur Ägäis und eben nicht nur biszu den Alpen.Unser Ansatz ist zunächst: Wir brauchen eine bessereSeenotrettung. Wenn Boote im Mittelmeer kentern, dannist es die erste und oberste Pflicht, Menschenleben zuretten.
Das ist nicht nur ein altes Gebot in der Seefahrt, sonderndas ist auch eine humanitäre Verpflichtung. Deswegenhaben wir in unserem Koalitionsvertrag ganz bewusstvereinbart:Der Grundsatz der Nichtzurückweisung und diePflicht zur Seenotrettung müssen umfassend geach-tet werden.Das ist in der Koalition unsere Arbeitsgrundlage. Auchhier gilt das alte Motto des Arbeiterpriesters Carl Son-nenschein:Mit Menschen in Not soll man nicht diskutieren.Man soll ihnen helfen.
Genau das tun wir in der Bundesregierung und in derEuropäischen Union. Frontex hat ihre Aktivitäten imMittelmeer und in der Ägäis bereits jetzt intensiviert.Die Europäische Union hat dafür kurzfristig mehr Mittelbereitgestellt.Wir brauchen neben dieser Verbesserung der Seenot-rettung eine Reihe weiterer Maßnahmen auf europäi-scher Ebene, die der Rat der Justiz- und Innenministerim Herbst 2013 mit der Bildung einer Task Force Mittel-meer auf den Weg gebracht hat.Erstens. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeitmit den Herkunfts- und den Transitstaaten in Afrika. Wirpflegen einen umfassenden Dialog. Wir haben Mobili-tätspartnerschaften geschlossen, zum Beispiel mit Ma-rokko, Tunesien oder Jordanien. Wir leisten einen Bei-trag zur Stabilisierung der Lage in Libyen. Aber auch dienordafrikanischen Staaten haben ein hohes Maß an Ver-antwortung, zum Beispiel dafür, seeuntaugliche Nuss-schalen und Boote mit Hunderten von Flüchtlingen nichtin See stechen zu lassen.Zweitens. Wir müssen Menschenhandel, Schleuser-kriminalität und organisierte Kriminalität entschlossenbekämpfen.Drittens. Wir müssen auch die Grenzüberwachungverstärken, damit wir ein besseres Lagebild über die Si-tuation auf See erzielen, auch damit Flüchtlingen in See-not schneller geholfen werden kann.Viertens. Wir müssen den Menschen vor Ort eine bes-sere Lebensperspektive bieten.Diese Punkte können wir nicht alleine, sondern nur inKooperation mit den Herkunftsstaaten in Afrika errei-chen. Das ist eben nicht allein unsere Aufgabe, sondernauch die der betroffenen Länder in Afrika und der regio-nalen Organisationen wie der Afrikanischen Union.Diese Länder brauchen Stabilität. Sie brauchen gute Re-gierungsführung, freie Parlamente, eine unabhängigeJustiz und eine funktionierende Verwaltung. Das sind dieGrundlagen für eine gute Entwicklung. Die EuropäischeUnion kann einen wichtigen Beitrag leisten, um dieseProzesse zu unterstützen. Aber wir werden das nicht al-leine tun können.Wir perfektionieren nicht eine Abschottung Europas,sondern Europa ist eben, gerade im Verhältnis zu unse-rem Nachbarkontinent, ein Hort für friedliche Entwick-lung, für die Achtung der Menschenrechte, für wirt-schaftlichen Wohlstand und für soziale Gerechtigkeit.Wir helfen dort, wo wir können. Aber wir begebenuns nicht in einen blinden und naiven Aktionismus. DieKoalition macht sich auf den Weg, um die humanitärenWege zu verbreitern. Ich weise darauf hin, dass wir ver-einbart haben, das Bleiberecht für geduldete Ausländerauszuweiten, wenn sie ihren Lebensunterhalt überwie-gend selbst bestreiten können. Von daher brauchen wirkeine Nachhilfe in Sachen Flüchtlingspolitik. Ich setzevolles Vertrauen in Bundesinnenminister de Maizière.
Wir werden den Koalitionsvertrag konsequent umsetzenund gemeinsam an einer Flüchtlingspolitik in Europa ar-beiten, die hilft, Menschenleben zu retten.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
530 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
(C)
(B)
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Silberhorn. –
Die nächste Rednerin ist Luise Amtsberg für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich möchte der Fraktion derLinken erst einmal ausdrücklich dafür danken, dass Siegleich zu Beginn der Legislaturperiode dieses für unssehr wichtige Thema auf die Tagesordnung geholt ha-ben. Absolut zutreffend problematisiert Ihr Antrag dieFehlleitungen der europäischen Asyl- und Flüchtlings-politik, die bereits viele Menschen das Leben gekostethat. Er problematisiert den unerträglichen Umgang mitden vor der ständig wachsenden Zahl an bewaffnetenKonflikten sowie vor Verfolgung, Diskriminierung oderexistenzieller Armut flüchtenden Menschen.Seitdem die griechisch-türkische Landesgrenze unteranderem mithilfe deutscher Beamter der Frontex-Mis-sion Poseidon in den letzten Jahren immer stärker abge-riegelt wurde, bleibt Flüchtlingen neben dem Landwegvon der Türkei nach Bulgarien nur noch der lebensge-fährliche Weg über das Mittelmeer, um in die Europäi-sche Union zu gelangen. Die grausame Realität, dassdieser Weg in vielen Fällen tödlich endet, haben uns dieBilder von Hunderten nebeneinander aufgereihten Sär-gen in Lampedusa wieder ins Bewusstsein gerufen.Viele Politiker und Politikerinnen der EU, auch hierin der Bundesrepublik, hielten für einen Moment inneund gaben Versprechen ab, dass Tragödien wie diese niewieder geschehen dürfen. Nur acht Tage nach dem ers-ten Bootsunglück geriet ein weiteres Boot in Seenot.250 Menschen verloren ihr Leben einen Steinwurf vonLampedusa entfernt, weil die italienischen Behördenzwar den Notruf erhielten, aber das Boot sich in maltesi-schen Hoheitsgewässern befand.Wie ein schlechter Scherz klangen die klagendenWorte des italienischen Ministerpräsidenten Letta, dersagte, die Menschen, die vor Lampedusa ihr Leben ver-loren haben, seien ab diesem Tage Italiener. Die Über-lebenden wurden hingegen laut Informationen derMenschenrechtsorganisation borderline-europe über100 Tage illegal in Lampedusa festgehalten und erst amvergangenen Sonntag als Zeugen zu einer Gerichtsanhö-rung nach Sizilien gebracht. Auch bedurfte es erst derschockierenden Videoaufnahmen aus dem privat betrie-benen Aufnahmezentrum in Lampedusa – auf denen warzu sehen, dass Flüchtlinge nackt ins Freie getrieben unddesinfiziert wurden –, bis die unmenschlichen Bedin-gungen in solchen Zentren in das öffentliche Bewusst-sein gerückt wurden.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, von dem Mitge-fühl und dem schlechten Gewissen nach dem 3. Oktoberhaben zynischerweise nicht die Überlebenden profitiert.
Deswegen müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen,dass das Sterben die Folge unserer europäischen Flücht-lingspolitik ist, ein System, das seit vielen Jahren aufAbschreckung und eine militärisch hochgerüstete Ab-schottungspolitik setzt statt auf den Schutz von Men-schen in einem Europa der Menschenrechte.
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn diese Trauerbekun-dungen und die Scham über diese Unglücke keine blo-ßen Lippenbekenntnisse bleiben sollen, dann müssen wiran dieser Politik nahezu alles ändern, was möglich ist.
Europa kommt bei dem Ziel einer gemeinsamenAsylpolitik nicht voran. Wenn es aber um Grenzüberwa-chung oder Maßnahmen der Grenzsicherung geht, dannfließen die Millionen, und die europäischen Staatschefsfreuen sich über so wahnsinnig viel gemeinschaftlichesHandeln. Das ist kaum zu ertragen.
Seit einigen Wochen ist das Europäische Grenzüber-wachungssystem EUROSUR in Kraft. Mit ihm möchteman glaubhaft machen, dass es dazu dient, Katastrophenwie vor Lampedusa zu verhindern. Ich sage Ihnen nachden letzten Jahren mit Blick auf die Flüchtlingspolitikganz ehrlich: Ich habe die Nase voll, mir an der Stelleein X für ein U vormachen zu lassen
und zu glauben, die Taskforce Mittelmeer, EUROSUR,Frontex oder nationale Militäroperationen wie das italie-nische Mare Nostrum wurden auf den Weg gebracht, umFlüchtlinge zu retten.Wir wissen genau, dass Frontex über Jahre hinwegFlüchtlingsboote zurück- und abgedrängt hat. Die Auf-gaben und das Budget der Grenzschutzagentur Frontexwerden fortlaufend ausgeweitet, während die Agentursich weigert, einen wirksamen Beschwerdemechanismuszu ermöglichen. Dabei streitet Frontex nicht einmalmehr ab, dass sie an völkerrechtswidrigen Zurückwei-sungen beispielsweise vor der Küste Griechenlands be-teiligt war.An dieser Stelle sei darauf hingewiesen: Deutschlandhat derzeit den Vorsitz im Frontex-Verwaltungsrat inne.Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich füreine Überprüfung dieser Vorwürfe und für eine schärfereparlamentarische Kontrolle einsetzt.
Wir können einfach nicht dulden, dass europäische Insti-tutionen völkerrechtswidrige Praktiken anwenden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein paar Worte zuDublin III. Ich habe vor kurzem Europas größtes Flücht-lingscamp in Mineo auf Sizilien besucht, das statt dermaximalen Kapazität von 2 000 Menschen derzeit4 000 Menschen im Nirgendwo isoliert. Im Gespräch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 531
Luise Amtsberg
(C)
(B)
mit Flüchtlingen fand ich heraus, dass es bis zu 14 Mo-nate dauert, bis der Antrag auf ein Asylverfahren bear-beitet wird. In der Zwischenzeit müssen Menschen unterdesolaten Zuständen in völlig überfüllten Lagern aushar-ren. Wer das Lager verlässt, wird aufgrund des Fehlensjedweder sozialer Leistungen in die Obdachlosigkeit ge-drängt. Gespräche mit Präfekten, aber auch dem italieni-schen Innenministerium haben verdeutlicht, wie schwie-rig es für Italien ist, dieser Situation dauerhaft und vorallen Dingen auf sich allein gestellt gerecht zu werden.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung muss endlich bereit sein, anzuerkennen, dass dasSchicksal dieser Menschen nicht nur eine italienischeAngelegenheit ist. Wir tragen gemeinsam Verantwor-tung.
Allein die nackten Zahlen sollten Ihnen eigentlichverdeutlichen, dass das Dublin-System nicht mehr zurechtfertigen ist. Eine Rückschiebung von Deutschlandnach Griechenland wurde gerade im vierten Jahr inFolge ausgesetzt – zu Recht, sage ich da nur. Italien,Bulgarien und weitere EU-Mitgliedstaaten werden fol-gen; denn bereits jetzt wird ein Viertel der Rücküberstel-lungen nach Italien von Verwaltungsgerichten gestoppt,da Dublin-Rückkehrer im Erstaufnahmeland unter men-schenunwürdigsten Bedingungen leben müssen.Statt 30 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt zurStärkung der italienischen Militärpräsenz im Mittelmeermitzuzeichnen, wäre das Geld viel besser angelegt, dieSeenotrettung durch die zivile Küstenwache gezielt zustärken und die Anzahl der Flüchtlingsunterbringungenzu erhöhen sowie deren Qualität zu verbessern.
Das Ziel der Grünenfraktion ist die Schaffung einesgemeinsamen europäischen Schutzraumes, in dem ein-heitliche und hohe Standards für die Unterbringung undden Schutz von Flüchtlingen endlich Realität werden.Gleichermaßen müssen wir auch die Bedürfnisse derFlüchtlinge besser berücksichtigen. Sie sollen die Mög-lichkeit haben, in dem Mitgliedstaat Asyl zu beantragen,in dem sie bereits familiäre Bindungen oder sozialeNetze haben, dessen Sprache sie sprechen oder dem siesich kulturell nahe fühlen.Für einen Paradigmenwechsel in der europäischenAsyl- und Flüchtlingspolitik muss der erste Schritt alsosein, Maßnahmen zu ergreifen, die verhindern, dass dasMittelmeer zu einem Massengrab wird. Ich sage ganzklar: Der erste Schritt, den wir unternehmen müssen, ist,die Abschottungspolitik zu beenden. Vor allen Dingendas Fehlen legaler Einreisemöglichkeiten muss ein Endehaben. Meine Fraktion ist der Auffassung, dass diesauch gelingen kann, wenn man sich mit den andereneuropäischen Staaten austauscht. Es ist wichtig, dasssich die gesamte Europäische Union verantwortlichzeigt. Das unsägliche Hin-und-her-Geschiebe von Men-schen in Europa muss aufhören; denn das wird der euro-päischen Idee nicht gerecht.Militärische Hochrüstung oder Überwachungssys-teme wie EUROSUR, mithilfe derer wir unsere Grenzensozusagen auf den afrikanischen Kontinent verlagernund Verantwortung an Staaten wie Libyen abgeben, sindganz sicher nicht der richtige Weg. Es ist schon richtig:Man muss den Blick auch auf die Herkunftsländer rich-ten, aber meine Hoffnung, dass da in nächster Zeit vielpassiert, ist sehr gering. Die Frage ist: Was machen wirmit den Menschen, die in der Zwischenzeit Schutz su-chen?
Darauf müssen wir eine Antwort geben. Zu sagen: „Wirwarten darauf, dass es endlich eine Lösung vor Ort gibt“,ist schlichtweg verantwortungslos und unmenschlich.
Herr Innenminister de Maizière ist gerade nicht anwe-send. Am Mittwoch bei der Befragung der Bundesregie-rung hat er deutlich gemacht, dass Deutschland Einwan-derung braucht. Auch wir sind dieser Auffassung.Deutschland hat immer von Einwanderung profitiert.Zudem spricht die demografische Entwicklung der Bun-desrepublik eine klare Sprache. Ich sage ausdrücklich:Auch Menschen, die eine Flüchtlingsgeschichte haben,bereichern unsere Gesellschaft und können Teil unseresArbeitsmarktes sein. Deshalb könnten wir überlegen, dieIntegrations- und Sprachkurse auszuweiten, um diesenMenschen eine Chance auf ein selbstbestimmtes Lebenzu geben.
Ich rate Herrn de Maizière, die Chance des Neube-ginns für diese Regierung zu nutzen und sich von derPolitik seines Vorgängers zu distanzieren. Ich kann fürmeine Fraktion versprechen: Wir stehen als konstruktiveKraft an der Seite des Innenministers. Der Startpunkt füreine Zusammenarbeit ist für uns allerdings einzig und al-lein die Bereitschaft, dass Deutschland seine Blockade-politik innerhalb der EU aufgibt, über legale Einreise-möglichkeiten für Flüchtlinge in die EU berät und die inDublin III manifestierte Ignoranz gegenüber den südeu-ropäischen Staaten endlich aufgibt. Ohne das wird demSterben auf dem Mittelmeer kein Einhalt geboten.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Wir danken Ihnen und gratulieren Ihnen zu Ihrer ers-ten, sehr engagierten Rede im Bundestag. Wir alle wün-schen Ihnen viel Kraft und viel Erfolg bei dieser sehrverantwortungsvollen Arbeit.
Jetzt freue ich mich auf die nächste Rednerin. Das istChristina Kampmann für die SPD.
Metadaten/Kopzeile:
532 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich kann mich noch gut an die Katastrophevor Lampedusa erinnern. Es waren Bilder des Schre-ckens, die uns erreichten, Bilder, die man nicht vergisstund die vor allem nicht in Vergessenheit geraten dürfen.Es waren Bilder, die mich gerade deshalb zutiefst be-rührt haben, weil sie uns das Versagen der europäischenFlüchtlingspolitik so eindrucksvoll vor Augen geführthaben, dass ich dachte: Jetzt kann man selbige doch ei-gentlich nicht mehr vor dem Elend dieser Menschen ver-schließen. Am 3. Oktober 2013 – damals war ich nochkeine zwei Wochen Mitglied des Bundestags – wussteich, dass nun auch ich eine ganz besondere Verantwor-tung für das Leben dieser Menschen trage.Die Ereignisse vor Lampedusa waren jedoch nur inihrem Ausmaß einzigartig. In ihrer Grausamkeit sinddiese dagegen fast traurige Alltäglichkeit; denn der3. Oktober 2013, an dem mehrere Hundert Menschenvor Lampedusa ertranken, ist kein Einzelfall. Das ist diebedrückende Konsequenz der Ungleichheit der Lebens-verhältnisse in unserer Welt. Seit diesem Tag sind vieleWochen vergangen, in denen viel hätte passieren kön-nen, in denen jedoch nichts passiert ist.
Genau deshalb begrüße ich den Antrag der FraktionDie Linke, der uns an unsere gemeinsame europäischeVerantwortung für eine Flüchtlingspolitik erinnert, dieMenschlichkeit anstelle von Herabsetzung und Objekti-vierung und die Solidarität anstelle von Verantwortungs-entzug und Rückbesinnung auf nationale Interessen set-zen sollte.
Genau das sind aber auch die Gründe dafür, weshalbder Antrag zwar einige in die richtige Richtung gehendeAspekte aufzeigt, an anderen Stellen jedoch Vorschlägeenthält, die gerade das konterkarieren, was unserer Mei-nung nach wichtig ist. So muss die Rettung von in See-not geratenen Menschen, wie sie unter II. e) des Antragsder Linken angesprochen wird, natürlich ein selbstver-ständliches Gebot menschlicher Achtung voreinandersein; denn alles andere widerspricht nicht nur unserenmoralischen Wertvorstellungen, sondern auch den völ-kerrechtlichen Verträgen. Dass an dieser Selbstverständ-lichkeit Zweifel aufgekommen sind, müssen wir ernstnehmen und dafür Sorge tragen, dass Seenotrettungkünftig weder an Kompetenzstreitigkeiten noch an Sank-tionen gegen mögliche Retter scheitert.
Es darf keine Kriminalisierung von Menschen geben, dieandere Menschen retten; das sage ich mit aller Aus-drücklichkeit. Alles andere ist ein Skandal, den wir nichtzulassen dürfen.
Für die Achtung des im Koalitionsvertrag genanntenGrundsatzes der Nichtzurückweisung und der Pflicht zurSeenotrettung werden wir deshalb auf europäischerEbene entschieden eintreten.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie habenauch recht, wenn es darum geht, die Arbeit von Frontexkritisch zu begleiten. Wer aber so wie Sie die Arbeit vonFrontex pauschal ablehnt und für eine Auflösung plä-diert, der verkennt zweifellos die wichtige ordnungspoli-tische Funktion. Unsere Antwort muss stattdessen einestrenge Verpflichtung zu einem gemeinsamen europäi-schen Grenzschutz durch die EU sein, die unserem euro-päischen Wertesystem gerecht wird.In die falsche Richtung geht aber vor allem einer derKernpunkte des Antrags, zumindest dann, wenn mansich die Mühe macht, diesen zu Ende zu denken. DerVorschlag, dass Asylsuchende künftig die freie Entschei-dung haben sollen, in welchem Mitgliedstaat sie einAsylverfahren durchführen wollen, klingt aus Sicht derAsylsuchenden zwar ziemlich verlockend, ist dies abertatsächlich nur sehr vordergründig; denn abgesehen vonder praktischen Umsetzbarkeit eines solchen Free-Choice-Verfahrens muss mit einem Unterbietungswett-bewerb der betroffenen Staaten in puncto Aufnahme undVerfahrensbedingungen nach unten gerechnet werden,frei nach dem Motto: Wer die schlechtesten Bedingun-gen anbietet, der macht sich auch am unattraktivsten fürAsylsuchende. – Bei aller berechtigten Kritik an Dub-lin II und Dublin III kann und sollte ein solches Verfah-ren nicht das Ziel europäischer Zusammenarbeit sein.
Wenn wir über eine europäische Flüchtlingspolitik re-den, dann geht es zunächst einmal um die Menschen, diebei uns Schutz vor Verfolgung, vor Krieg und Diskrimi-nierung suchen. Niemand verlässt sein Zuhause, seineFreunde und Familie unter Gefährdung des eigenen Le-bens einfach so. Diejenigen, die zu uns kommen, sindzunächst einmal weder eine Last noch ein Kostenfaktor,sondern das sind Menschen, die bei uns Schutz suchenund deshalb unseren Respekt verdienen.
Verantwortung können wir aber nur dann ernsthaftübernehmen, wenn wir eine Flüchtlingspolitik in Europagestalten, die Solidarität auch wirklich ernst meint, dieProbleme nicht auf den Schultern geografisch zufälliggünstig gelegener Länder ablädt, sondern die ein echtesInteresse an einer gemeinsamen europäischen Lösunghat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 533
Christina Kampmann
(C)
(B)
Zugegeben, eine optimale Lösung gibt es nicht. Dasses so nicht weitergehen kann, ist aber offensichtlich. DieUmstände, in denen Flüchtlinge, insbesondere in Grie-chenland, leben müssen, sind alles, aber mit Sicherheitnicht menschenwürdig. Völlig überfüllte Lager, in denendie Asylsuchenden unter unmenschlichen Bedingungenleben müssen, gehören dort zum Alltag. Schätzungen ge-hen davon aus, dass bis zu 10 Prozent der griechischenBevölkerung Flüchtlinge sind. Stellen Sie sich einmalvor, das wäre bei uns der Fall. Stellen Sie sich einmalvor, 10 Prozent der in Deutschland lebenden Menschenwürden hier Asyl suchen. Was glauben Sie, was hier loswäre? Griechenland ist damit vollkommen überfordertund fühlt sich zu Recht von uns alleingelassen.Egal ob Dublin II oder III: Das Kernproblem derextrem ungleichen Verteilung von Asylbewerberinnenund Asylbewerbern in der Europäischen Union bestehtweiterhin und bliebe im Übrigen auch dann bestehen,wenn wir dem Antrag der Linken in dieser Form zustim-men würden,
mit allen Problemen, die für Flüchtlinge und für die da-von betroffenen Länder damit verbunden sind.Das kann und das darf so nicht weitergehen. Es liegtin unserer gemeinsamen Verantwortung, hier endlich ak-tiv zu werden und eine Lösung zu finden, die genau daswiderspiegelt, was wir immer wieder gerne sagen, wo-nach wir aber nicht immer handeln.
Solidarität in Europa muss unser gemeinsames Anlie-gen sein. Wir lehnen Dublin II und III in seiner jetzigenForm deshalb ab, weil es unsozial ist, weil es unsolida-risch ist und weil es ungerecht ist. Stattdessen setzt dieSPD auf Verantwortungsteilung, ohne der Illusion zu er-liegen, dass es eine einfache Lösung geben kann.Quoten analog dem Königsteiner Schlüssel in Verbin-dung mit einem finanziellen Ausgleich bei Überschrei-tung selbiger können aber ein sinnvoller Ansatz sein;denn das entspricht erstens einer gemeinsamen europäi-schen Lösung, die solidarisch und gerecht ist, es trägtzweitens den Bedürfnissen der Migrantinnen und Mi-granten hinsichtlich Familienzugehörigkeit und Sprach-kenntnissen zumindest besser, als es derzeit der Fall ist,Rechnung, und es ermöglicht drittens eine Harmonisie-rung der Schutzstandards, die nicht nur auf dem Papiersteht, sondern die auch faktisch umgesetzt werden kann.
Angesichts der menschenunwürdigen Bedingungen,wie wir sie heute in einigen Ländern vorfinden, ist genaudas mehr als notwendig. Mit diesem Ansatz wäre esmöglich, die Bedürfnisse der Asylsuchenden mit derNotwendigkeit einer solidarischen und gerechten Flücht-lingspolitik auf europäischer Ebene bestmöglich zu ver-binden. Fest steht, dass wir uns diese Debatte nichtleichtmachen dürfen, fest steht aber auch, dass wirschnell zu Lösungen kommen müssen, die eine soextrem ungleiche Verteilung, wie wir sie derzeit inEuropa erleben, endlich beenden.Bereits vor zehn Jahren hat Kofi Annan gesagt – ichzitiere –:Einwanderer brauchen Europa, aber Europa brauchtauch Einwanderer. Diese stille Krise der Menschen-rechte beschämt unsere Welt.Seitdem sind viele Menschen auf dem Seeweg nachEuropa ertrunken. Sie haben sich auf den Weg gemacht,weil sie verfolgt werden, weil sie Angst um ihr Lebenhaben oder weil sie in ihrer Heimat ganz einfach keinePerspektive für sich sehen und in Europa auf ein besse-res Leben hoffen. Was sie hier erwartet, sollte uns allebeschämen. Das sollte uns nachdenklich werden lassen,das sollte uns handeln lassen.Deshalb wünsche ich mir, dass wir uns – damit meineich ausdrücklich auch die Fraktion Die Linke – unsererVerantwortung als Europäerinnen und Europäer stellenund eine solidarische Lösung finden, die vor allem ei-nem gerecht wird: der Würde der Menschen, die bei unsZuflucht suchen.Danke schön.
Vielen Dank, liebe Kollegin Christina Kampmann.
Auch Ihnen Gratulation des ganzen Hauses zu Ihrer ers-
ten, sehr engagierten Rede.
Aller guten Dinge sind drei: Später hören wir eine
weitere erste Rede.
Aber zunächst spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Es ist nicht seine erste Rede, wahrscheinlich auch nicht
seine letzte.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. Ich hatte natürlicherwartet, dass Sie jetzt sagen, dass Sie sich auf michfreuen. Aber wahrscheinlich ist das eine Selbstverständ-lichkeit. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Mit Lampedusa und mit den Abschiebeknästenbringt sich europäische Flüchtlingspolitik auf den Be-griff. Lampedusa, das ist die Insel, an deren Stränden dieLeichen angeschwemmt werden. Lampedusa, das ist dieInsel, an der die europäische Menschenrechtspolitik zer-schellt. Das ist der Ausgangspunkt.Ich würde mich sehr freuen, wenn man den großenGedanken des Grundgesetzes „Die Würde des Menschenist unantastbar“ – das gilt natürlich auch für die Würdedes Flüchtlings –, „Sie zu schützen und zu achten ist
Metadaten/Kopzeile:
534 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Wolfgang Gehrcke
(C)
(B)
Aufgabe aller staatlichen Gewalt“ endlich im eigenenLand umsetzen würde.
Flüchtlinge sind auch in diesem Land unerwünscht. Siewerden drangsaliert. Sie haben offensichtlich keine un-veräußerlichen Rechte. Sie werden in Lager gepferchtund mit Arbeits- und Bewegungsverboten belegt. Das al-les entspricht nicht dem Grundgesetz.Der Brief der Bürgermeisterin von Lampedusa hatmir schlaflose Nächte bereitet. Ich habe selten ein so er-schütterndes Dokument gelesen. Kurz nach ihrer Wahlspricht sie von einem Massaker, bei dem Menschen ster-ben, als sei es ein Krieg. Was in der Flüchtlingspolitikpassiert, ist in der Tat ein Krieg der Reichen gegen dieArmen dieser Welt.
Sie hat gesagt – ich will es Ihnen vortragen –, dass sieüberzeugt ist, dass die europäische Einwanderungspoli-tik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um Migrations-flüsse einzudämmen. Sie meint, dass das eine Schandefür Europa und die europäischen Regierungen ist. Ichfinde in der Tat, das ist auch ganz konkret eine Schandefür die Bundesregierung, für die vorangegangene unddie jetzige,
eine Schande, mit der man sich nicht abfinden darf, eineSchande, weil europäische Flüchtlingspolitik das Flücht-lingselend der Armen als Grundlage akzeptiert. Siereagiert darauf vor allem mit Gewalt, Waffen und Men-schenjägern. Ich möchte, dass Frontex – eine Agentur,die geschaffen worden ist, um Fluchtbewegungen einzu-dämmen und zu verhindern – abgeschafft und durch einanderes politisches System ersetzt wird. Das ist die ein-zig logische Schlussfolgerung daraus.
Ich bin überzeugt davon, dass man über Ursachen vonFlucht reden muss, damit endlich die Heuchelei aufhört,wie sie in Sonntagsreden zum Ausdruck kommt, wennwieder etwas Furchtbares passiert ist. Diese Reden dre-hen einem wegen ihrer Substanzlosigkeit ja nur den Ma-gen um.Reden wir doch einmal über Fluchtursachen. Men-schen fliehen, weil sie in ihren Heimatländern dem Hun-gertod ausgesetzt sind. 57 000 Menschen verhungernjeden Tag, während gleichzeitig an den Börsen mit Nah-rungsmitteln spekuliert wird, auch von deutschen Ban-ken. Das ist die Ursache für Flucht.
Menschen fliehen vor Krieg und Gewalt. Mit Krieg undGewalt sind immer auch geostrategische Interessen ver-bunden. Es geht um den Griff nach Naturressourcen.Menschen fliehen vor politischen Verfolgungen undvor den Folgen von Klimaveränderungen, die auch mitunserer Produktionsweise zu tun haben. All das sind invielen Teilen der Welt letztlich Folgen des Kampfes umRessourcen und geopolitischen Einfluss. Ressourcenund Macht wollen sich die Reichen dieser Welt sichern.Ich sage Ihnen sehr zugespitzt: Ein Wirtschaftssystem,das das Streben nach Profiten zur Grundlage hat, ist auchfür die Fluchtbewegungen dieser Welt verantwortlich.
Ich bin dafür, dass dieses kapitalistische Wirtschaftssys-tem endlich überwunden und durch ein gerechtes Systemersetzt wird. Das ist für mich eine der Konsequenzen ausdem menschenverachtenden Umgang.
Sogar in Europa werden Menschen diskriminiert. Lei-der ist der Kollege Gauweiler jetzt nicht mehr da. Ichhätte ihn gern direkt angesprochen. Deswegen wende ichmich an die anderen Kollegen von der Union. Ich hattegehofft, dass Sie sich endlich aus dieser rechtspopulisti-schen Bewegung lösen.
Sie bleiben aber bei der Linie von Roland Koch gegendie doppelte Staatsbürgerschaft. Erinnern Sie sich nochan den Satz: „Wo kann man hier gegen Ausländer unter-schreiben?“ Sie bleiben bei der Linie von Rüttgers:„Kinder statt Inder“. Ihr Spruch „Wer betrügt, der fliegt“ist nicht viel besser. Sie setzen auf Rechtspopulismus.Die Linke ist dafür, dass Rechtspopulismus entschiedenbekämpft wird, wenn möglich, gemeinsam.
Wir finden uns nicht damit ab. „Wer betrügt, derfliegt“: Diese Losung sollten wir ernst nehmen; ichmöchte sie einmal gegen die Banker und gegen die Poli-tiker aus Ihren Reihen gerichtet sehen, die im Bayeri-schen Landtag betrogen haben, aber nicht gegen Men-schen, die in dieses Land kommen, um hier leben zukönnen. Das würde Sinn machen.Danke sehr.
Danke, Herr Kollege Gehrcke. – Stephan Mayer von
der CDU/CSU-Fraktion hat als Nächster das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die schrecklichen Bildervon den Schiffskatastrophen vor Lampedusa, die auchüber die Fernsehbildschirme in den deutschen Stubenliefen, können niemanden kaltlassen, der nur ein biss-chen Herz hat. Diese Schiffskatastrophen sind schreck-lich, sie sind erschütternd und sie dürfen uns auch nichtruhig lassen: Sie dürfen uns hier im Deutschen Bundes-tag nicht ruhig lassen, sie dürfen die Bundesregierungnicht ruhig lassen, sie dürfen aber auch ganz Europanicht ruhig lassen. Wir dürfen die Verantwortung nichtnur Italien, Griechenland oder Malta überlassen. Es ist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 535
Stephan Mayer
(C)
(B)
ein europäisches Thema, die Flüchtlingssituation insge-samt zu verbessern.
Aber, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen– da wird der Applaus nicht mehr so groß sein –,
Deutschland wird dieser Verantwortung gerecht. Wirsind solidarisch.
Liebe Frau Kollegin Jelpke, es kann nicht sein, dassman nur aus dem Flieger steigen muss, um in Deutsch-land Asyl zu bekommen. Kein Land in der EuropäischenUnion nimmt so viele Asylbewerber und Flüchtlinge aufwie Deutschland.
Im letzten Jahr waren es insgesamt 109 000 Flüchtlingeund Asylbewerber, die einen Erstantrag in Deutschlandgestellt haben.
Das bedeutet allein von 2012 bis 2013 eine Steigerungum 70 Prozent. Deutschland kann sich, glaube ich, hierwirklich sehen lassen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-tion, mich würde es wirklich freuen, wenn Sie einmal dieLänder stärker in die Verantwortung nehmen würden,die hier ihren Anteil noch nicht leisten. In Deutschlandkommen zum Beispiel auf 1 Million Einwohner950 Asylbewerber. In Italien sind es gerade einmal 250.Die Beschwerde der italienischen Regierung, Italienwerde über Gebühr belastet, ist also vollkommen ver-fehlt.Mich wundert auch, dass Sie sich in Ihrem Antragnicht über das sogenannte Bossi-Fini-Gesetz echauffie-ren. Dieses Gesetz, das unter der italienischen Vorgän-gerregierung beschlossen wurde, sieht vor, dass einFischer, der einem Schiffbrüchigen hilft, sich wegenSchleppung strafbar macht. Es ist ein unmenschlichesund verfassungswidriges Gesetz, das auch nicht im Ein-klang mit dem Völkerrecht und der Europäischen Men-schenrechtskonvention steht. Wo bleibt denn Ihr Appellan die italienische Regierung oder an das italienischeAbgeordnetenhaus, dieses unsägliche Bossi-Fini-Gesetzabzuschaffen?
Herr Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Sehr gerne, selbstverständlich.
Herr Beck, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Mayer. – Ich glaube, wir
sind uns hier im Hause einig, dass wir alle die flücht-
lingsrechtliche Situation in Italien verurteilen. Ich hoffe
zumindest, dass es bei der Linksfraktion auch so ist.
Ich finde, es ist eigentlich Aufgabe der Bundesregie-
rung, im JI-Rat durch den Bundesinnenminister dafür zu
sorgen, dass die Standards der Genfer Flüchtlingskon-
vention und des europäischen Flüchtlingsrechtes von
allen Mitgliedstaaten eingehalten werden. Da die CSU ja
in der letzten Wahlperiode den Bundesinnenminister ge-
stellt hat, möchte ich gerne von Ihnen wissen: Welche
Initiativen im JI-Rat in Brüssel hat der Bundesinnen-
minister ergriffen, um Länder wie Italien, aber auch
Griechenland anzuhalten, sowohl im Verfahrensrecht als
auch bei der materiellen Versorgung von Flüchtlingen
endlich das Flüchtlingsrecht zu akzeptieren?
Ich habe auf dem Oranienplatz gesehen: Die Leute
kriegen 500 Euro in die Hand, damit sie hierherkommen;
aber sie erhalten keine Versorgung mit Wohnraum und
Nahrung, keinen Lebensunterhalt in Italien. Das ent-
spricht nicht unseren Standards. Wir sind in der EU Ver-
tragspartner der Italiener. Es gibt Möglichkeiten für Ver-
tragsverletzungsverfahren. Die Bundesregierung hat hier
meines Wissens nichts getan. Aber vielleicht können Sie
mich darüber aufklären, was der Bundesinnenminister in
den letzten vier Jahren getan hat, um unsere Standards
durchzusetzen.
Herr Mayer, bitte.
Lieber Herr Kollege Beck, ich danke Ihnen sehr herz-lich für Ihre Frage. Ich muss gestehen: Es entzieht sichmeiner Kenntnis – ich war nie in Sitzungen des JI-Rats –,ob der vormalige Bundesinnenminister an seinen italie-nischen Amtskollegen die Botschaft adressiert hat, dassdas Bossi-Fini-Gesetz abzuschaffen ist.Ich sage nur: Wir debattieren hier im Hohen Hausheute über einen Antrag der Linksfraktion, der sehr aus-führlich die Vorstellungen der Linksfraktion zur europäi-schen Flüchtlingspolitik darstellt. Da vermisse ich ganzkonkret zum Beispiel Forderungen an die italienischeAdresse, die Gesetzeslage in Italien an europäischeMenschenrechtsstandards anzugleichen.
Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht: Es muss unsergemeinsames Interesse sein, dass wir in den 28 Mit-gliedsländern der Europäischen Union einheitlicheStandards schaffen, was das Asylverfahren und was die
Metadaten/Kopzeile:
536 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Stephan Mayer
(C)
(B)
Bedingungen in den Asylunterkünften anbelangt. Nurwundert es mich wieder, dass die Linksfraktion bean-tragt, dass der Asylbewerber sich aussuchen kann, inwelchem Mitgliedsland er seinen Asylantrag stellt.Liebe Frau Kollegin Jelpke, ich billige Ihnen ja zu, dassSie sich auch vor Ort kundig machen. Wir waren schongemeinsam sowohl in Italien als auch in Griechenlandund haben uns dort die Asylunterkünfte angesehen. Esist erschreckend, es ist unmenschlich, es ist teilweise ei-nes modernen westlichen Landes nicht würdig, wie dortAsylbewerber und Flüchtlinge untergebracht werden.Nur, was wäre die Folge, wenn Ihr Vorschlag greifenwürde, dass sich ein Asylbewerber oder Flüchtling aus-suchen kann, in welches Land er kommt? Der Anreiz fürGriechenland und Italien, sich an europäische Standardsanzugleichen und endlich einmal für ordentliche huma-nitäre Bedingungen zu sorgen, wäre noch geringer.
Herr Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Petzold?
Sehr gern, selbstverständlich.
Danke schön. – Herr Petzold, bitte.
Herr Kollege Mayer, wären Sie denn bereit, hier im
Deutschen Bundestag gemeinsam einen solchen Aufruf
an das italienische Parlament zu richten? Die Initiative
würden wir sofort ergreifen, wenn die Union dabei mit-
machen würde. Können Sie sich vorstellen, dass Ihre
Fraktion dabei wäre?
Lieber Herr Kollege Petzold, ich hätte überhaupt kein
Problem mit einem derartigen Aufruf.
Sie versuchen immer, uns, insbesondere der CSU, zu un-
terstellen, also zu insinuieren, wir würden hier Rechts-
populismus fördern. Überhaupt nicht! Das Gegenteil ist
der Fall. Ich bin der festen Überzeugung, dass es genau
unsere Aufgabe ist, die italienischen Kollegen in der Ca-
mera dei deputati an ihre Verantwortung zu erinnern,
dass sie das genannte Gesetz endlich abschaffen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, nun
aber noch einmal zum Beitrag Deutschlands, insbeson-
dere was die aus meiner Sicht größte humanitäre Kata-
strophe anbelangt, die sich derzeit in unserer Nähe, in
Syrien, abspielt. Es sind derzeit knapp 3 Millionen syri-
sche Bürger auf der Flucht; es sind zum Teil Binnen-
flüchtlinge, und zum Teil sind die Flüchtlinge sogar au-
ßerhalb des Landes. Hier muss uns eines bewusst sein:
Wir können nicht alle Probleme, die in Syrien bestehen,
in Deutschland lösen. Aber auch hier zeigt sich Deutsch-
land vorbildlich. Wir haben seit 2011 insgesamt über
26 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Kein Land in
der Europäischen Union hat so viele syrische Flüchtlinge
aufgenommen wie Deutschland. Schweden und Deutsch-
land allein haben über 60 Prozent aller syrischen Flücht-
linge aufgenommen. Wo bleibt der Beitrag der anderen
Länder?, das ist die Frage.
Hier vermisse ich wiederum, liebe Frau Kollegin
Jelpke, Ihren Appell an die zuständige EU-Kommissarin
Malmström, endlich einmal eine Konferenz einzuberu-
fen, um zu erreichen, dass sich wirklich alle europäi-
schen Länder an ihre Verantwortung gebunden fühlen.
Es kann nicht sein, dass nur Deutschland in Vorleistung
geht; die anderen Mitgliedsländer sollten sich einmal ein
Beispiel an uns nehmen und auch entsprechende Kontin-
gente für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge zur Verfü-
gung stellen. Wohlgemerkt: Noch kein einziger syrischer
Flüchtling, der Aufnahme in Deutschland begehrt hat, ist
abgelehnt worden. Auch hier, glaube ich, kann sich
Deutschland wirklich sehen lassen.
Herr Mayer, die Kollegen sind neugierig. Erlauben
Sie noch eine Zwischenfrage, jetzt vom Kollegen
Gehrcke?
Ja, selbstverständlich.
Danke.
Ich weiß, dass ich durch meine Frage Ihre Redezeit
verlängere; aber eine Antwort kann ja aufklärend sein. –
Ich bin froh, dass die Bundesregierung sich mittlerweile
entschlossen hat, 10 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Es
sind aber erst 2 500 ins Land gekommen. Der Prozess
dauert unendlich lange. Ich habe syrischen Flüchtlingen
im Libanon geholfen, nach Deutschland zu kommen,
mithilfe des Auswärtigen Amtes. Ich bitte Sie, die Maß-
stäbe richtig zu sehen. Der Libanon hat 4,5 Millionen
Einwohner, und dort sind 1 Million Flüchtlinge.
Es sind mehr.
Wenn es mehr sind, nehme ich die Korrektur durchdie Präsidentin natürlich entgegen. – Nach meinerKenntnis sind es 1 Million Flüchtlinge, und das bei4,5 Millionen Einwohnern. Können Sie sich vorstellen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 537
Wolfgang Gehrcke
(C)
(B)
was in Deutschland los wäre, wenn man ähnliche Maß-stäbe anlegen würde? Ich will das ja gar nicht; aber ichbin gegen die Selbstgerechtigkeit, angesichts dieser Ka-tastrophe zu sagen, wir seien besser als andere. Dafürschäme ich mich. Ich möchte, dass wir Druck auf die an-deren ausüben und selber vorangehen, indem unser Landsich vor der Genfer Friedenskonferenz endlich mehr fürsyrische Flüchtlinge öffnet.
Das war jetzt eine verschlüsselte Frage, Herr Mayer.
Sie können gerne darauf antworten.
Lieber Herr Kollege Gehrcke, ich habe nur darge-stellt, wie die Leistung und der Beitrag Deutschlandsderzeit aussehen. Ich möchte beileibe nicht den Eindruckerwecken, dass wir selbstgerecht sein dürften; ganz imGegenteil. Es ist ein kleiner Teil, den Deutschland hierleistet; aber ich glaube, dieser kann sich durchaus sehenlassen. Ich würde mir wirklich wünschen, dass sich an-dere Länder zumindest einmal auf das Niveau begäben,das wir in Deutschland haben.
Sie haben natürlich vollkommen recht: Es steht inkeinem Verhältnis zu dem, was sich derzeit in den Anrai-nerstaaten Syriens, insbesondere im Libanon und in Jor-danien, aber auch in der Türkei, abspielt. Frau KolleginJelpke, wir waren ja gemeinsam an der syrisch-türki-schen Grenze. Auch die Türken haben mittlerweile weitüber 500 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Eswürde mich freuen, wenn Sie dazu in Ihrem Antrag ein-mal einen Dank formulierten: an Jordanien, an die Tür-kei, an den Libanon.
Denn die Leistungen – Sie haben es richtigerweise er-wähnt –, die in diesen Ländern erbracht werden, sindwirklich bemerkenswert.Aber auch hier leistet Deutschland seinen Beitrag.Zur Stunde sind 15 deutsche THW-Helfer in Jordanienin einem Flüchtlingslager im Einsatz. Wir werden jetztgemeinsam mit dem THW ein neues Flüchtlingslager imNordirak aufbauen. Das heißt, Deutschland nimmt nichtnur syrische Flüchtlinge auf, sondern wir bringen unsauch in starkem Maße bei der Verbesserung der Situationvor Ort ein. Nach den USA ist Deutschland der zweit-größte Geldgeber, was die humanitäre Hilfe für Syrienanbelangt.Ich möchte, wie gesagt, lieber Herr Kollege Gehrcke,beileibe nicht selbstgerecht, überheblich oder arrogantwirken; aber was Deutschland sowohl im Inland als auchim Ausland leistet, kann sich sehen lassen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirhaben uns mit weiteren Vorschlägen der Linksfraktionauseinanderzusetzen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ichhalte es wirklich für verantwortungslos und zynisch,wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, Frontex und EURO-SUR abzuschaffen. Allein durch Frontex-Beamte sind inden letzten zwei Jahren über 40 000 Flüchtlinge in See-not gerettet worden. Seit dem 3. Oktober letzten Jahres,also dem Tag der großen Schiffskatastrophe vor Lam-pedusa, haben Frontex-Beamte über 16 000 Flüchtlingein Seenot gerettet. Frontex ist kein Abschottungsinstru-ment, sondern in vielen Bereichen ein Hilfsinstrument.Gleiches trifft auf EUROSUR zu. EUROSUR ist einGrenzüberwachungssystem, das dazu beitragen soll,dass Schiffbrüchige schneller gefunden, schneller detek-tiert werden. Deshalb würde ich es für fatal halten, wennman EUROSUR und Frontex abschaffen würde.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirsollten uns aber auch dem zentralen Thema in dieserFrage zuwenden: Was muss unternommen werden, umdie Fluchtursachen zu bekämpfen? Auch hier ist die Eu-ropäische Union schon tätig. Aber nichts ist so gut, dassman es nicht noch verbessern oder erweitern könnte. Esgibt Informationskampagnen, regionale Schutzpro-gramme, Mobilitätspartnerschaften, aber auch Rück-kehrprogramme.Ich denke, dass es ganz entscheidend darauf an-kommt, die Fluchtursachen und insbesondere dieschreckliche Schleuserkriminalität und den Menschen-handel zu bekämpfen. Dass der Bootsführer – ichmöchte ihn gar nicht Kapitän nennen – des Schiffes, dasam 3. Oktober letzten Jahres vor Lampedusa unterge-gangen ist, für seine „Dienstleistung“ – in Anführungs-zeichen – 500 000 Dollar bekommen hat, ist wirklich er-schreckend und zeigt deutlich auf, um was es hierkonkret geht, nämlich um organisierte Kriminalität.Es geht um organisierten Menschenhandel. Leidtra-gende sind die Flüchtlinge, die 2 000 oder 3 000 Dollarberappen müssen; die ganze Familie muss sparen, um eszu ermöglichen, dass ein Familienmitglied den Weg an-tritt. Wir müssen auch in Zusammenarbeit mit den Her-kunftsländern stärker gegen dieses organisierte Verbre-chen, gegen diesen Menschenhandel vorgehen.
Die Aufkündigung von Dublin II bzw. Dublin IIIwäre ebenfalls verantwortungslos und stünde deutschenInteressen diametral entgegen.Ich sage zum Abschluss: Es ist richtig und gut, dasswir uns hier mit diesem wichtigen Thema auseinander-setzen. Nur sind die Vorschläge, die Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Linksfraktion, unterbreiten, inkeiner Weise zielführend und in vielen Bereichen sogardiametral gegen deutsche Interessen gerichtet.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
538 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Stephan Mayer
(C)
(B)
Vielen Dank, Herr Kollege Mayer. – Der nächste
Redner ist Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach der Katastrophe von Lampedusa war es
für jeden offensichtlich – das hat auch jede Rednerin und
jeder Redner heute gesagt –, dass etwas passieren muss,
und zwar eine organisierte europäische Antwort. Denn
es geht hier um die europäische Außengrenze. Man kann
die Freizügigkeit immer wieder preisen – das ist eine
gute Sache –; aber dadurch werden die Außengrenzen
der Europäischen Union definiert. Das, was an diesen
Außengrenzen passiert, liegt in europäischer Verantwor-
tung.
Deshalb hatte man eine organisierte europäische Ant-
wort erwartet. Das, was herausgekommen ist, ist aber
eine organisierte Verantwortungslosigkeit der einzelnen
Länder, vor allem Deutschlands.
Denn das Land, das von Dublin II am meisten profitiert,
ist Deutschland.
Mein Vorredner hat eben gesagt, man müsse auch die
deutschen Interessen berücksichtigen. Ja, ja, das Inte-
resse des Innenministers war nicht ein europäisches Inte-
resse an einem geordneten Asylverfahren, an Mensch-
lichkeit an den europäischen Grenzen, sondern das
Interesse an einer Abschottung Deutschlands.
Wenn Italien die Europäische Union auffordert, zu
helfen, wenn Griechenland die Europäische Union auf-
fordert, zu helfen, dann geht es da nicht primär um die
Anzahl aufzunehmender Asylbewerber, sondern um das
Verfahren. Die Katastrophe ist doch das Asylverfahren,
also die Zeit, bis den Betroffenen überhaupt eine Ent-
scheidung vorliegt. Da fehlt es in Griechenland und in
Italien in hohem Maße.
Jetzt wird in den Antworten – das kam auch in Ihrer
Rede vor, Herr Mayer – immer wieder auf die Schlep-
perkriminalität verwiesen; da müsse man etwas machen.
Aber das hilft den Flüchtlingen selbst gar nicht.
Das eigentliche Problem ist, dass es keine europäische
Agentur zum Schutz der Flüchtlinge gibt.
Es gibt lediglich eine Agentur zum Schutz und zur Über-
wachung der Grenzen.
Was wird jetzt gemacht? Die Grenzen werden weiter
nach außen verschoben, immer weiter in die – wie Sie
sagen – Herkunftsländer. In Wirklichkeit sind es Transit-
länder; denn diejenigen, die auf dem Weg nach Lam-
pedusa scheitern oder dort ankommen, sind nicht Libyer
oder Tunesier, sondern Eritreer, Somalier, Syrer oder so-
gar Afghanen. Die Länder werden in windigen Abkom-
men dazu aufgefordert, ihrerseits das Nötige zu tun, um
eine Flucht nach Europa zu verhindern. Wie es dann je-
nen geht, die schon in Libyen Flüchtlinge sind, darum
kümmert sich die EU nicht. Das läge aber in ihrer Ver-
antwortung.
Ich glaube, dass die „Mobilitätspartnerschaft“, das
Mittel der Wahl der Europäischen Kommission – im Mi-
grationsbericht kam es nicht so recht vor –, das Potenzial
zum Unwort des Jahres 2014 hat.
Denn das, was eigentlich gemacht wird, ist eine organi-
sierte Verantwortungslosigkeit der Europäischen Union,
die sagt: Wir nicht! Mit denen haben wir nichts zu tun.
Macht ihr das!
Was die einzelnen Länder machen, das sieht man ja.
Die damals mit Gaddafi geschlossene Partnerschaft zwi-
schen Italien und Libyen wird gegenwärtig fortgesetzt.
In Libyen gibt es keinerlei Gesetzgebung zum Schutz
von Asylbewerbern.
Die Vereinbarung über die Rückübernahme von
Flüchtlingen aus Drittstaaten, über die mit der Türkei
verhandelt wird, ist ebenfalls sehr zweifelhaft. Denn
auch in der Türkei gibt es keine entsprechende Gesetzge-
bung zum Schutz von Flüchtlingen. Noch vor zwei Jah-
ren haben die Türken Flüchtlinge aus dem Iran in den
Iran zurückgeschoben. Wollen wir das? Wollen wir wei-
ter dafür verantwortlich sein? Ich glaube, nein.
Im Koalitionsvertrag steht richtigerweise: Am Non-
Refoulement halten wir fest. – Davon dürfen wir nicht
abrücken, auch nicht auf dem Weg durch die Hintertür,
über Mobilitätspartnerschaften mit Marokko, Moldau,
Georgien, Armenien, Libyen, Ägypten, Algerien, Liba-
non, mit all den Ländern, mit denen das ausgehandelt
wird. Denn gerade diese Länder schützen Flüchtlinge
nicht vor massiver Diskriminierung. Das gilt übrigens
auch für den Kosovo. In Tunesien werden die Flücht-
linge sogar in die Wüste getrieben. Das ist kein Schutz
für die Flüchtlinge, sondern das ist eine Kampagne ge-
gen die Flüchtlinge. Das zeigt, dass man aus Lampedusa,
dieser offenen Wunde der europäischen Verantwortung,
keine Konsequenzen gezogen hat. Das ist vielmehr orga-
nisierte Verantwortungslosigkeit.
Vielen Dank, Tom Koenigs. – Die nächste Rednerinin der Debatte ist Sabine Bätzing-Lichtenthäler.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 539
(C)
(B)
Herzlichen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich liebe meine Hei-mat. Das ist kein Wahlkampfslogan. Das ist eine Fest-stellung. Meine Heimat ist das, was mich geprägt hat,die Region, in der ich aufgewachsen bin, in der meineFamilie verwurzelt ist. Sosehr ich meine Arbeit im Bun-destag und auch die Zusammenarbeit mit Ihnen allenschätze, so freue ich mich doch jedes Mal, wenn ichnach einer Sitzungswoche die mir vertraute Landschaftdes Westerwaldes, meiner Heimat, wiedersehe. Ohnemeine Heimat, ohne diesen Ort, an den ich zurückkehrenkann, würde mir etwas fehlen. So unterschiedlich wir,die wir hier zusammensitzen, auch sind, ich bin mir si-cher: Es geht Ihnen allen ähnlich.Dostojewski hat gesagt, dass ohne Heimat zu sein, zuleiden hieße. Dem kann ich mich nur anschließen. Ichfrage mich: Wie verzweifelt muss man also sein, um sei-ner Heimat den Rücken zu kehren? Wie brutal muss dieeigene Existenz über den Haufen geworfen werden, da-mit man die eigenen Wurzeln zurücklässt? Wie großmuss die Angst sein, wenn man das eigene Leben ris-kiert, um von dem Ort wegzukommen, an dem man dasLeben begonnen hat?Was in den Menschen vorgeht, die ihre Heimat ver-lassen müssen, die fliehen müssen, können wir uns hiervermutlich intellektuell erschließen. Wir können auchdie rationale Entscheidung, das eigene Leben schützenzu wollen, verstehen. Wir können akzeptieren, dassMenschen in anderen Ländern ein besseres Leben su-chen. Auf dieser rationalen Ebene ist es für uns leicht,über Menschen und ihre Motivation zu diskutieren. Aberich bezweifle, dass wir auf emotionaler und psychologi-scher Ebene verstehen, was in Menschen vorgeht, diekeine andere Wahl haben, als ihr Heimatland zu verlas-sen, die ihre Familie, ihre Freunde, ihre Stadt, ihre Re-gion, ihr Land, ihre Kultur, ihr bisheriges Leben zurück-lassen, weil sie es müssen, die ihre ZukunftSchleuserbanden, zwielichtigen Gestalten, fragwürdi-gen Mittelsmännern und gefährlichen Routen anver-trauen, weil ihnen keine Wahl bleibt.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir inder Debatte um Flüchtlinge und Migration nicht verges-sen. Die Menschen, die ihrer Heimat den Rücken keh-ren, tun dies nicht aus Langeweile und Abenteuerlust.Sie tun es aus Not, sie tun es aufgrund von Gefährdung,und sie tun es aus Mangel an Alternativen. Wenn wireine ehrliche Debatte über Flucht und Migration führenwollen, müssen wir uns dessen bewusst sein. Andern-falls laufen wir Gefahr, platten Parolen aufzusitzen undjeden Menschen, der versucht, hier Zuflucht zu finden,als Bedrohung anzusehen. Das dürfen wir nicht zulassen.
Wir dürfen auf der anderen Seite auch rationale Erwä-gungen nicht außen vor lassen. Daraus folgt ganz ein-deutig, dass wir einen Kompromiss finden müssen zwi-schen dem, was wir wollen, und dem, was wir können.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie ha-ben recht, wenn Sie sagen, dass wir mehr tun können, alswir derzeit tun. Unsere SPD-Fraktion hat wiederholteine Flüchtlingspolitik gefordert, die Würde und Sicher-heit der Flüchtenden in den Mittelpunkt rückt. Dies ha-ben wir als Arbeitsauftrag in den Koalitionsvertrag ge-schrieben. Wir werden mit aller Kraft dafür arbeiten,dass dies konkret Umsetzung findet. Wir wollen mehrSolidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union hinsichtlich der Aufnahme und Verteilungvon Flüchtlingen. Die Mittelmeeranrainer fühlen sichschließlich nicht zu Unrecht alleingelassen mit dem Pro-blem, Tausende Flüchtlinge, die an ihren Küsten anlan-den, zu versorgen. Eine bessere Verteilung, ein Mehr anSolidarität unter den Mitgliedstaaten ist dringend nötig.
Wenn man ein Ranking der EU-Mitgliedstaaten er-stellen würde, das das Verhältnis von Einwohnern zuaufgenommenen Flüchtlingen aufzeigt – mich hat dieeine oder andere Zahl, die ich hier heute Vormittag ge-hört habe, durchaus gewundert –, käme die Bundesrepu-blik auf einen bescheidenden achten Platz. Da ist nochLuft nach oben. Griechenland ist mittlerweile ein Bei-spiel für das absolut gegenteilige Extrem. Eine Kolleginhat es vorhin schon erwähnt: Jeder zehnte Mensch dortist Flüchtling, und das in einem Land, das sich ohnehinin einer prekären Lage befindet. Da können wir uns dochnicht auf unserem Wohlstand und unserer vielleichtgünstigeren geografischen Lage ausruhen.Unsere SPD-Innenminister fordern schon lange, indiesem Bereich wirklich etwas voranzubringen. Mit derÜbernahme der Regierungsverantwortung auf Bundes-ebene sind wir jetzt in der Lage, mehr zu tun. Denn dieeuropäische Flüchtlingspolitik ist wahrlich kein Feld,das uns bisher mit Stolz erfüllt. Alle Rednerinnen undRedner vor mir haben das tragische Unglück vom Okto-ber letzten Jahres angesprochen. Es hat der europäischenÖffentlichkeit auf dramatische Weise vor Augen geführt,wie groß die Problematik von über den Seeweg flüchten-den Menschen wirklich ist. Auch das ist ein Hinweis,wie verzweifelt diese Menschen sind. Sie wissen, dasssie sich in Lebensgefahr begeben, wenn sie in überfüll-ten Booten in See stechen.Im vorliegenden Antrag fordern die Kolleginnen undKollegen der Linken, dass die Seenotrettung nicht durchStraf- und Sanktionsandrohungen behindert wird. In die-sem Punkt herrscht hier sicherlich Einigkeit; denn diesesMindestmaß an Mitmenschlichkeit darf nicht durch ver-meintliche politische Vorgaben kompromittiert werden.Daher werden wir auch diesem Punkt, der sich an ent-sprechender Stelle im Koalitionsvertrag wiederfindet,Nachdruck verleihen und ihn umsetzen. Wir werden unsdafür einsetzen, dass niemand mehr zurück ins Meer ge-trieben oder in Seenot seinem Schicksal überlassen wird.Das ist das Minimum, und das sind wir nicht nur den Be-troffenen, den Flüchtlingen, schuldig, sondern auch unsselbst.
Metadaten/Kopzeile:
540 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sieschreiben in dem vorliegenden Antrag ganz richtig, dassauch Fluchtursachen beseitigt werden müssen. Auchdies ist nachvollziehbar. Durch eine bessere Abstim-mung zwischen den verschiedenen Ressorts auf nationa-ler und europäischer Ebene lassen sich langfristigvoraussichtlich einige Ursachen für unfreiwillige Migra-tion ausräumen. Auch dies haben wir im Koalitionsver-trag vereinbart. Ich lade Sie alle ein: Lassen Sie uns ge-meinsam daran arbeiten, diese Missstände wirklich zubeseitigen. Zeigen wir auch hier gemeinsam Solidarität.Der Antrag der Linken ist in einem Punkt für uns sonicht zustimmungsfähig; auch das wurde schon mehr-fach angesprochen. Es geht um die recht pauschale For-derung, Frontex aufzulösen. Sie fordern sehr pauschaldie Auflösung von Frontex, ohne eine Alternative aufzu-zeigen, wie eine gemeinsame europäische Grenzsiche-rung aussehen könnte. Frontex ist der Öffentlichkeit vorallem durch die Grenzschutzfunktion und die Rückfüh-rung von Flüchtlingen bekannt. Allerdings wird durchFrontex auch die Ausbildung von Grenzschutzbeamtenin den Mitgliedstaaten unterstützt; zudem werden Stan-dards der Ausbildung festgelegt. Mit anderen Worten:Wenn uns daran gelegen ist, die Behandlung von Flücht-lingen an Europas Grenzen einheitlich zu gestalten undvor allem zu verbessern, dann wäre Frontex hier viel-leicht sogar ein guter Ansatzpunkt. Dies soll uns natür-lich nicht davon abhalten, die Arbeit kritisch zu beglei-ten.Auch beim Thema der freien Wahl des Landes, indem ein Asylantrag gestellt wird, sind wir anderer Mei-nung als Sie. Nicht dass Sie uns missverstehen: Dublin IIund III sind nicht perfekt – das ist bei Kompromissen jameistens so –, und es gibt Veränderungsbedarf; auch dashaben wir hier gehört. Aber durch die Verordnungenwurde zumindest erreicht, dass sich die Mitgliedstaatenkein Race to the Bottom liefern, um sich als möglichstwenig attraktiv für Flüchtlinge darzustellen.Im vergangenen Jahr fuhren durch GroßbritanniensStraßen Lkw, beklebt mit Plakaten, die illegale Einwan-derer zur Heimreise aufforderten. Diese waren nichtetwa Wahlkampfflaggschiffe rechtsextremer Parteien,sondern sie waren Teil einer offiziellen Kampagne derRegierung, um die Zahl unerwünschter Einwanderer zureduzieren. So unglaublich uns diese Aktion vorkommenmag: Solche Aktionen werden nicht weniger werden,wenn bei der Verteilung von Flüchtlingen keine Koordi-nierung auf europäischer Ebene erfolgt. Von daher sehenwir die Forderung nach einer freien Wahl des Landes, indem ein Asylantrag gestellt wird, eher skeptisch.Sie sehen: In vielen Punkten liegen unsere und IhrePositionen gar nicht so weit auseinander. Es gibt aberauch Punkte, über die wir in den anstehenden Antragsbe-ratungen sicher noch einmal eingehend miteinander dis-kutieren müssen.Erlauben Sie mir zum Abschluss meiner Rede, aufden Begriff der Heimat zurückzukommen. Ich möchteden Schriftsteller Robert Lee Frost zitieren. Frost sagteeinmal, dass die Heimat der Ort sei, „wo sie einen he-reinlassen müssen, wenn man wiederkommt“. Von dahersollten wir uns während der Debatte um die Flüchtlings-politik immer vor Augen führen, dass die Menschen, umdie es geht, nicht freiwillig zu uns gekommen sind. Undwahrscheinlich haben sie die Hoffnung auf ihre Heimatnicht aufgegeben.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Bätzing-Lichtenthäler. – Der
nächste Redner ist Marian Wendt für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren Kollegen! Wir führen heute eine De-batte zu einem Thema, das in den Medien und in der Öf-fentlichkeit in den letzten Wochen sehr emotional disku-tiert wurde. Gerade als Volkspartei nehmen wir dieStimmung der Bürgerinnen und Bürger von allen Seitenimmer wieder sehr ernst. Aber wir erleben auch, dass mitfalschen Fakten und Argumenten bestimmte Ansichtenin der Bevölkerung zum Thema Asyl und Flüchtlingebewusst geschürt werden. Daher rate ich zu einer Ver-sachlichung und Differenzierung der Debatte.
Leider leistet der uns vorliegende Antrag der Linkenhierzu keinen Beitrag. Die Linken werfen wie so oft mitfalschen Pauschalurteilen um sich. Da ist zum Beispielvon einer Abschottungspolitik der Europäischen Uniondie Rede.
Dabei haben rund 340 000 Menschen im Jahr 2012 und390 000 Menschen im Jahr 2013 in der EU einen Asyl-antrag gestellt.Weiterhin wird vorgeworfen, die europäische Grenz-schutzagentur verhalte sich menschenrechtswidrig. Da-bei verdanken wir gerade der Grenzschutzagentur Fron-tex und der italienischen Küstenwache, dass allein vom3. Oktober 2013, dem Tag der bedauerlichen undschrecklichen Tragödie von Lampedusa, bis zum 8. Ja-nuar dieses Jahres 17 000 Personen aus Seenot gerettetwurden; jawohl, gerettet. Die Widerlegung falscher Tat-sachenbehauptungen könnte ich hier noch fortführen;doch vieles wurde bereits von meinen Vorrednern aufge-griffen.Ich möchte mich in meiner Rede auf drei wesentlichePunkte konzentrieren: erstens die Ursache für Flucht undMigration, zweitens die Maßnahmen der Bundesregie-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 541
Marian Wendt
(C)
(B)
rung und der Europäischen Union sowie drittens denUmgang mit Asylbewerbern vor Ort in unserem Land.Erstens. Wir alle wissen, dass sich die Situation in denKrisenherden um Europa herum in den vergangenen Jah-ren leider nicht verbessert hat. In diesen Ländern ent-scheiden sich die Menschen zumeist aus politischenGründen zur Ausreise nach Europa. Nicht weniger maß-gebend sind wirtschaftliche und soziale Gründe fürFlucht und Migration. Armut, Hunger, Perspektivlosig-keit und fehlende Existenzgrundlagen im Heimatlandsind nur einige der Ursachen, die Menschen den schwie-rigen Weg aus ihrer Heimat antreten lassen. Deswegenmüssen wir dafür sorgen und uns engagieren, dass wirdiese Regionen um Europa herum stabilisieren – nichtmit Waffen, sondern mit Diplomatie, Gesprächen undHilfsangeboten.
Zweitens. Was wurde in Deutschland und in der Euro-päischen Union im Bereich Migration und Flüchtlingebereits unternommen? Wir sind nicht tatenlos geblieben.Grundsätzlich wird Deutschland seinen historischen undhumanitären Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingengerecht. Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland ist2013 im Vergleich zum Vorjahr um 64 Prozent angestie-gen. Im Jahr 2012 hatte unser Land rund 23 Prozent, alsoknapp ein Viertel, der in der EU registrierten Asylan-träge zu bewältigen. Das ist deutlich mehr als Deutsch-lands Anteil an der gesamteuropäischen Bevölkerungvon 16 Prozent. Andere Länder wie etwa Spanien habennur 0,7 Prozent der Asylbewerberanträge angenommen.
So viel zu dem, was Deutschland bereits geleistet hat.Gerade am Beispiel der syrischen Flüchtlinge wirddie Verantwortungsbereitschaft unseres Landes mehr alsdeutlich. Im vergangenen Monat hat sich Deutschlandbereit erklärt, insgesamt 10 000 Flüchtlinge allein ausSyrien aufzunehmen. Neben dieser Zusage für Syrienlegt Deutschland seinen Hilfsschwerpunkt in die Regionselbst. So wurde seit 2012 Unterstützung in Höhe von432 Millionen Euro in Syrien geleistet. Diese wird fürhumanitäre Hilfe, zur Krisenbewältigung und zum Auf-bau von Strukturen im Land verwendet. Zudem leistetdas Technische Hilfswerk seit Juli 2012 eine sehr ver-dienstvolle Arbeit in der Region, insbesondere bei derTrinkwasserversorgung in den Flüchtlingscamps in Jor-danien und Irak.
Wir wollen die Ursachen vor Ort bekämpfen, damit dieMenschen ihre Heimat nicht verlassen müssen. Dasmuss Ausgangspunkt unserer Arbeit sein.Ebenso arbeiten wir auf europäischer Ebene sehr engmit unseren Partnern daran, das gesamte europäischeAsylsystem zu reformieren. Fünf Punkte seien hier er-wähnt: eine bessere Zusammenarbeit mit Drittstaaten,ein verbesserter Flüchtlingsschutz, die Bekämpfung vonMenschenhändlern und Schleusern, eine effizientereGrenzüberwachung sowie größere Solidarität mit denEU-Staaten, die unter hohem Migrationsdruck stehen.
Diese Maßnahmen sind nach meiner Ansicht sachdien-lich und sollten zügig umgesetzt werden. Eine grund-sätzliche Neuausrichtung der EU-Flüchtlingspolitik, wiesie gefordert wird, ist fehl am Platz.Damit komme ich zu meinem dritten und letztenPunkt: Wie gehen wir mit Asylbewerbern hier inDeutschland um? Viele unserer Kollegen haben in ihrenWahlkreisen vor Ort bereits Erfahrungen mit der Unter-bringung und dem Leben von Asylbewerbern gemacht.Vor kurzem habe ich persönlich in meinem Wahlkreissyrische und tschetschenische Flüchtlingsfamilien be-sucht und kennengelernt.
Wir tun gut daran, uns öfter in die Lage dieser Migrantenhineinzuversetzen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen,ihre Motive zu verstehen. Nicht alle Asylbewerber su-chen ein bequemes Leben in unserem Land. Viele, wiedie syrischen Flüchtlinge, sind existenziell bedroht.
Keiner dieser Menschen verlässt seine Heimat gern. DasBundesamt für Migration und Flüchtlinge wird mit sei-nen Entscheidungen diesen Schicksalen gerecht, sodassdie Ablehnungsquoten für Flüchtlinge aus Ländern wieAfghanistan, Irak und Syrien niedrig sind. So wurdenbereits seit 2011 keine Personen mehr nach Syrien abge-schoben.Meine Damen und Herren, wir sollten klar zwischenden verschiedenen Gruppen und den Ursachen der Mi-gration unterscheiden. In jedem Fall müssen wir die Mo-tive der Asylsuchenden den Einwohnern in den Städtenund Gemeinden besser erklären. Denn gute Kommuni-kation zwischen allen Beteiligten ist sehr wichtig, umgemeinsam Lösungen für die Asylbewerber vor Ort zufinden und sie zu integrieren. Gerade für mich als Christist es wichtig, zu betonen, dass alle berechtigt Schutz Su-chenden in Deutschland willkommen sind. Wir solltendiese Menschen als Gewinn für unser Land ansehen.Viele sind bereit, hier zu arbeiten, sich gesellschaftlichzu engagieren und sich zu integrieren.Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth,die ich persönlich sehr schätze, hat hierzu einmal gesagt:Wir dürfen nicht den Fehler machen, Flüchtlingenicht für leistungsfähig zu halten. Wer auf Tausen-den von Kilometern schreckliche Strapazen über-wunden hat, besitzt große mentale und körperlicheStärken.
Metadaten/Kopzeile:
542 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Marian Wendt
(C)
(B)
Auf der anderen Seite sollten wir aber den Asyl-bewerbern, die keinen berechtigten Grund für eine Auf-nahme in unserem Land haben oder gar nur hierherkommen, um Zugang zu unseren Sozialsystemen zu be-kommen, keine falschen Versprechungen machen. DieseBewerber, die keine Schutzgründe haben, müssen wirzügig wieder ausweisen. Deutschland kann schlichtnicht alle Migranten dieser Welt aufnehmen.Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ichzusammenfassen: Wir müssen zwischen den Asylbewer-bern genau differenzieren. Unser Hilfsangebot gilt denberechtigt Schutz Suchenden. Ihnen sollten wir mit Of-fenheit, Verständnis und Menschlichkeit begegnen; dennschon im Neuen Testament, in der Bergpredigt, heißt es:Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgtwerden; denn ihrer ist das Himmelreich.Vielen Dank.
Vielen herzlichen Dank, Kollege Marian Wendt. –
Nicht nur Ihre Fraktion gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten
sehr engagierten Rede, sondern auch das gesamte Haus.
Wir wünschen Ihnen eine erfolgreiche Arbeit in Ihrer
neuen Funktion.
Als Nächster hat Rüdiger Veit für die SPD das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Von der Bibel über Papst Franziskusbis hin zu weiten Teilen hier im Haus herrscht Einigkeit:Aus Gründen der Wahrung der Menschenrechte bestehtHandlungsbedarf. Warum wir mit der Fraktion derLinkspartei nicht ganz einig sind, haben meine beidenKolleginnen Christina Kampmann und Sabine Bätzing-Lichtenthäler bereits überzeugend dargelegt. Ich will nurzwei, drei Punkte vertiefen und mit ein paar nüchternenZahlen einen weiteren Beitrag zu der heute im Übrigendankenswerterweise weitgehend sachlich verlaufendenDebatte leisten.Ich muss zwei Vorbemerkungen machen. Die ersteVorbemerkung betrifft das Schleuserunwesen. Es istselbstverständlich, dass diese kriminellen Machenschaf-ten zulasten von Leib und Leben der Flüchtlinge von unsallen massiv verurteilt werden und wir bestrebt seinmüssen, solche Machenschaften überall zu bekämpfen.Wir müssen aber auch den Zusammenhang erkennen: Jebesser, „effektiver“ – in Anführungszeichen – Europasich abschottet, je wirksamer die Grenzkontrollen wer-den, je mühsamer die Wege werden und je gefährlicheres wird, von Drittstaaten aus nach Europa zu gelangen,desto mehr befördern wir die Konjunktur der Schleuserund Menschenhändler.
Das – das müsste jedem einleuchten – macht die Sacheso kompliziert.Der Kollege Wendt hat in seinem Beitrag gerade vonder Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit von Flücht-lingen geredet: Derjenige, der sich – etwa durch dieWüste – auf den Weg macht, um überhaupt ans Mittel-meer zu kommen, wird das nicht mit Flip-Flops undeiner Flasche Mineralwasser schaffen. Über das Mittel-meer kommt man auch nicht allein, allenfalls vielleichtnoch über den Fluss Evros, wenn dieser nicht allzu hochWasser führt. Jemand, der diese Hindernisse überwindenwill, braucht Hilfe, braucht Organisation, braucht Back-ground; ohne geht es nicht. Das müssen wir erkennen,und wir müssen versuchen, darauf eine differenzierteAntwort zu finden.Die zweite Vorbemerkung, die ich machen muss: Ichteile nicht die allgemeine Verteuflung der Grenzschutz-agentur Frontex. Wir haben auf Reisen des Innenaus-schusses des Deutschen Bundestages – sowohl nachLampedusa, 2006, Griechenland/Athen, 2009, Libyenund Malta, 2010, Griechenland erneut, September 2011und zuletzt im Mai 2013 – das eine oder andere Beispielsegensreichen Wirkens von Frontex erlebt, und daraufwill ich hinweisen. Jedes Mal, glaube ich, waren dieKollegin Ulla Jelpke und ich gemeinsam unterwegs. Beiden drei Reisen nach Griechenland war auch der Kolle-gen, Stephan Mayer dabei. Von der vorletzten Reise willich einmal das folgende Erlebnis schildern: Wir habengehört – von Betroffenen auf griechischer Seite, auf tür-kischer Seite und von Menschenrechtsorganisationen –,dass der Beitrag deutscher Bundespolizisten an derLandgrenze zwischen der Türkei und Griechenland, imEvrosgebiet, durchaus segensreich, deeskalierend undim Sinne der betroffenen Menschen gewirkt hat. Das hatman uns vor Ort gesagt und näher geschildert.
Daran sollten wir bitte nicht zweifeln.Wir haben übrigens auch gehört, dass die deutschenBundespolizisten – auch das ist anerkennenswert – an-gesichts der katastrophalen, menschenunwürdigen Be-dingungen in Flüchtlingsunterkünften – besser gesagt:Gefängnissen oder Schuppen, die zu Gefängnissen um-gebaut waren – in Tychero oder in Fylakio nicht einmalmehr eine optische Verbindung hergestellt wissen woll-ten zwischen deutschen Polizeiuniformen und griechi-schen Aufnahmebedingungen.Als wir im Hafen von Lampedusa waren, hatte ichden leichtsinnigen Einfall, wenigstens ein Schiff derKüstenwache zu besichtigen – mit der Konsequenz, dasswir dann alle sieben, die da lagen, aufsuchen musstenund die Zeit nicht reichte. Wir haben dort gesehen – auchanhand von Videoaufnahmen –, dass die Schiffe in derTat bis Windstärke 7 rausfahren, um aktiv Seenotrettungzu betreiben; davon konnten wir uns überzeugen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 543
Rüdiger Veit
(C)
(B)
Wir haben auf Malta die quasi unbenutzten – damalsunbenutzten – neuen Boote der maltesischen Küstenwa-che gesehen, die extra dafür ausgelegt sind, hinten aufdem Achterdeck eine große Zahl Menschen und Flücht-linge aufzunehmen.Man muss das alles also sehr differenziert sehen, dagibt es Licht und Schatten. Ich bin froh, dass wir imKoalitionsvertrag vereinbart haben, hinsichtlich der Be-trachtung der Aktivität von Frontex die menschenrechtli-che Komponente in den Vordergrund zu stellen.Das waren angesichts des Rests meiner Redezeit vielzu lange Vorbemerkungen. Ich will trotzdem noch zweiPunkte besonders aufgreifen:Ich kam vorhin gerade noch rechtzeitig herein, um zuhören, wie der Kollege Gauweiler als letzter Redner derDebatte weniger europäische, zentrale Zuständigkeit unddafür mehr nationale Zuständigkeit gefordert hat. Ichmuss Ihnen ehrlicherweise sagen: Wenn es um Flücht-lingspolitik geht, sollten wir alle gemeinsam bestrebtsein, in die Gegenrichtung unterwegs zu sein.Seit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi-schen Union, seit den Beschlüssen von Den Haag undStockholm wird immer wieder gesagt, wir bräuchteneine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik. Jetzt hatman vereinbart, ab Mitte 2015 mit einem neuen Projektzur gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik – dasdeutsche Kürzel ist GEAS – voranzugehen.Seit ich dem Deutschen Bundestag angehöre, versu-che ich aufmerksam die Passagen zur Flüchtlingspolitikin den Berichten der JI-Räte zu lesen. Aber was erlebenwir? Was muss man jedes Mal sehen? Wer richtig zuge-hört hat, hat das schon vernommen: Jedes Mal seit 1998,wenn die Europäische Kommission eine Fortschreibungin menschenrechtlich vernünftiger Weise anstrebt – inder Regel unterstützt vom Europäischen Parlament –,sind es die Mitgliedstaaten und ihre Minister, die versu-chen, das zu verwässern, herunterzudrücken und herun-terzuschrauben.
– Ich sage Ihnen, welche Minister. In fast jedem Proto-koll bzw. in den Vor- und Nachberichten dieser JI-Rätefindet sich der Hinweis, dass es deutsche Innenministersind, die in dieser Weise tätig werden. So haben wir erle-ben müssen, dass die Vorschläge zur Änderung der Qua-lifikationsrichtlinie, der Verfahrensrichtlinie und derAufnahmerichtlinie, die die Kommission vorgelegt hat,jedes Mal verwässert worden sind. Das war mit Frontexund mit Dublin genauso.Jetzt haben wir anhand der Zahlen folgende Situation,die man sich einmal vor Augen führen muss: Wir habeneine regelrechte „Schutzlotterie“, wie es Pro Asyl zuRecht nennt; denn je nachdem, wo in Europa Flüchtlingeins Verfahren geraten, haben sie – gemessen an den An-erkennungsraten – entweder hohe, höchste oder ganzschlechte Anerkennungschancen. Das würde ich Ihnengerne anhand einer Statistik verdeutlichen, die im Zu-sammenhang mit Arbeiten des Sachverständigenratesdeutscher Stiftungen für Integration und Migration ent-standen ist.Die Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus Afgha-nistan, Irak, Somalia und Syrien ist in Italien mit jeweilsüber 90 Prozent am höchsten, in Dänemark oder Grie-chenland dagegen ist sie ganz niedrig. Es kann dochnicht richtig sein, dass bei gleicher Situation in denHerkunftsländern der eine europäische Staat vielleicht2 oder 3 Prozent aller Flüchtlinge anerkennt und der an-dere über 90 Prozent. Es gibt eine umfangreiche Statis-tik, die dies belegt. Deutschland liegt übrigens immer re-lativ im Mittelfeld, außer bei Flüchtlingen aus Syrien; dasind wir auch bei annähernd 100 Prozent.Diese Art von Schutzlotterie bedarf dringend einerÜberprüfung. Auch sie führt nämlich dazu, dass Flücht-linge und Asylsuchende versuchen, in bestimmten Län-dern ihre Anträge zu stellen und ihre Verfahren durchzu-führen. Diese Diskrepanz kann so nicht bleiben. Hierbesteht dringender Handlungsbedarf. Ich kann hier allenur dazu auffordern – namentlich auch die Vertreter derRegierung –, ganz kräftig mitzuwirken.
Ein weiterer Punkt. Die Bedenken gegenüber Dublin,Dublin II bzw. seit dem 1. Januar 2014 gegenüberDublin III sind hier schon vorgetragen worden. Auchhier bedarf es einer dringenden Änderung.Es gibt unterschiedliche Modelle und Gutachten zurBerechnung von Quoten ähnlich dem KönigsteinerSchlüssel, gewichtet nach Einwohnerzahl, nach Wirt-schaftskraft, zum Teil auch unter Einbeziehung der Maß-stäbe Arbeitslosenquote und Flächengröße der jeweili-gen Länder. Kollege Kammer hat darauf hingewiesen.Daraus ergibt sich ein interessantes Bild. Absoluter Spit-zenreiter in der Aufnahme von Flüchtlingen ist demzu-folge Schweden. Würde man nach diesem Schlüssel eineentsprechende Aufnahmezahl berechnen, wären in denJahren 2008 bis 2012 von den Schweden 42 000 Flücht-linge aufzunehmen gewesen, tatsächlich aber waren es153 000, damit also ein Plus von 364,3 Prozent.Deutschland übrigens – das ist, finde ich, ganz inte-ressant – liegt praktisch im Mittelfeld. Das Soll wären,wenn man einen solchen Schlüssel zugrunde legenwürde, 205 000 Flüchtlinge. Das Ist war in all den Jah-ren 201 000; im Jahr 2013 waren es mehr. Das heißt– ich bitte Sie, darüber einmal nachzudenken –: Bei sol-chen Quoten und ihrer strikten Anwendung wäre durch-aus nicht zu erwarten, dass Deutschland mehr Asyl-suchende und Flüchtlinge aufzunehmen hätte, sondernsogar weniger, da andere Länder, die ganz unten in die-ser Auflistung stehen, die auch nicht so besonders be-liebt sind, wesentlich mehr aufnehmen müssten.
Herr Kollege – –
Ich komme gleich zum Schluss.
Metadaten/Kopzeile:
544 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
(C)
(B)
Das ist leider so, aber Sie müssen.
Ich bedanke mich für das „leider“.
Noch einmal zurück zum Thema: Die SPD ist der
Auffassung, wir brauchen eine bessere und gleichmäßi-
gere Verteilung der Verantwortung, nicht der Lasten, für
Flüchtlinge innerhalb der EU. Deutschland muss deswe-
gen nicht zwangsläufig mehr Flüchtlinge aufnehmen als
heute. Wenn diese Quote dann im Einzelnen überschrit-
ten wird, muss man ernsthaft über einen angemessenen
finanziellen Ausgleich nicht nur nachdenken, sondern
denselben auch bewirken.
Das wäre jedenfalls ein gemeinsames Ziel, dem wir
uns alle hier im Haus verpflichtet fühlen sollten. Ich
wäre dankbar, wenn wir den Dialog darüber entspre-
chend fortsetzen würden.
Danke sehr, Frau Präsidentin.
Danke, Herr Kollege. – Als nächster Redner spricht
Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. Herr
Heinrich, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist viel gesagt worden, und bei dem, waswir dabei denken und fühlen, gibt es eine große Schnitt-menge.Humanitäre Hilfe ohne Humanität wird ganz schnellzu Bürokratismus verkommen. Humanität ohne gesetz-lich fixierte Strukturen kann wiederum ganz schnell zuSozialromantik verführen.Wer über Krankheitserreger schwadroniert, ohne dieWunden zu verbinden, der macht sich schuldig. Dochwer immer nur Sälbchen schmiert, ohne den Ursachenzu begegnen, der beruhigt zwar auf der einen Seite seinGewissen, löst aber auf der anderen Seite das Problemletztlich nicht. Daher braucht man beides: ganz persönli-che emotionale Betroffenheit und ein stimmiges europäi-sches Handlungskonzept, wie wir das von den Rednernder verschiedensten Fraktionen übereinstimmend gehörthaben.Wir erleben eine humanitäre Katastrophe vor unsererHaustür; anders können wir das nicht nennen. Dazu dür-fen wir weder schweigen noch Ängste schüren.Ihnen, meine Damen und Herren von der Linkspartei,gebührt das Verdienst, uns mit diesem Antrag, den wirheute in der ersten Sitzungswoche dieses Jahres debattie-ren, in der ersten Plenarwoche nach der Konstituierungdes Ausschusses für Menschenrechte und HumanitäreHilfe, die Dringlichkeit der Katastrophe vor Augen zuführen. Dafür danke!
Sie müssen sich aber auch sagen lassen, dass Siedurch die Formulierung „Massensterben“ in der Über-schrift und auch später im Antragstext so massiv pole-misieren, dass man versucht ist, diesen Antrag so zudeuten, dass dies eine parteipolitisch motivierte populis-tische Spielwiese für Sie ist. Sei es drum.
Die Menschen sind es wert, dass wir unsere Augennicht verschließen und alle Kräfte bündeln, wie meinKollege Veit es gerade gesagt hat, um das Leid an denGrenzen der EU zu vermindern. Helfen wir den Men-schen, und behandeln wir die Ursachen! Beginnen wirbei den Menschen!Lassen Sie mich, bevor ich mich einigen Zahlen zu-wende – es sind schon viele genannt worden –, ein Er-lebnis wiedergeben, von dem EU-KommissionspräsidentJosé Manuel Barroso berichtet hat, als er hier in Berlinwar.Ja, er als Person war umstritten, als er kurz nach derKatastrophe nach Lampedusa ging. Aber dann erzählteer, was sich bei ihm ins Gedächtnis eingebrannt hat, alser die Leichen und darunter insbesondere eine sah. Erberichtete von einer gebärenden Mutter, deren Nabel-schnur noch nicht einmal getrennt war. Säugling undMutter waren tot.Diese Bilder schockieren. Wir müssen diese Ge-schichten kennen, uns ihnen stellen und sie uns zumuten.Genau darum geht es. Hinter jeder dieser Statistiken undZahlen, von denen wir heute gehört haben und gleichnoch hören, stehen einzelne Menschen, und mit jedemMenschen stirbt auch Hoffnung, eine Zukunft. Jeder die-ser Menschen hat ein Recht auf Leben, auf Überlebenund auf ein Leben in Würde.Zur Situation am 3. Oktober 2013: Der 3. Oktober istein Tag, an dem wir in Deutschland jedes Jahr einen Tri-umph der Menschenrechte feiern. Dieser Tag war 2013ein schwarzer Tag für die Menschenrechte: über400 Tote vor Lampedusa. Es gab öffentliche Reaktionen– wir haben es gerade gehört – von Papst Franziskus biszu Vertretern aller unserer Fraktionen und weit darüberhinaus.In Syrien erleben wir derzeit eine schon lange andau-ernde Katastrophe mit 2 Millionen Flüchtlingen. Ichkonnte mich unter anderem mit Kollegen aus anderenFraktionen davon überzeugen, wie der Libanon damitumgeht, ein geplagtes Land, das in der Geschichte schonhäufiger Flüchtlinge aufgenommen hat. Dieses Landmuss jetzt erneut damit umgehen – übrigens auch mitdeutscher Hilfe an verschiedenen Stellen; einiges wurdevorhin schon genannt. Darüber hinaus steht ihm mit demWorld Food Programme auch ein neues Programm zurVerfügung, mit dem es auf ganz moderne und individu-elle Art und Weise helfen kann. Tatsächlich möchte ich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 545
Frank Heinrich
(C)
(B)
hier jene Menschen in den Nachbarländern loben, diehelfen und Flüchtlingen ihre Wohnungen zur Verfügungstellen, deren Zahl sich, wenn wir in Deutschland aufeine ähnliche Quote wie der Libanon kommen wollten,auf 20 Millionen Menschen belaufen würde.Im Mittelmeer ist die Zahl der Landungen von Boots-flüchtlingen vor Italien wieder nach oben gegangen.2011 war diese Zahl schon einmal sehr hoch, sie lag beietwa 64 000. 2012 ging sie zurück. Jetzt ist diese Zahlfast wieder genauso hoch wie vorher.Einige Punkte aus Ihrem Antrag möchte ich gerneaufnehmen und, wie Sie sich vorstellen können, entspre-chend gegenhalten. Die Toten seien Opfer der Asylpoli-tik der Bundesregierung. – Es wurde hier immer wiederdarauf hingewiesen: Die Probleme entstehen vor Ort;auch mein Kollege Huber hat das in seiner Frage er-wähnt. Die Flucht der Menschen vor diesen Problemen,etwa dem Krieg in Syrien, ist meist die Folge. DieSchleuserbanden verdienen mit der Not dieser Menschenein Heidengeld. Damit gilt es, auf diese Art der Krimina-lität einen besonderen Fokus zu legen.Sie schreiben, Frontex sei eine Abschottungsmaß-nahme. Ich sage: 2011/2012 – mein Kollege hat es vor-hin auch gesagt – konnten durch die Hilfe von Frontex40 000 Menschen gerettet werden.In Ihrem Antrag heißt es, Deutschland sei nur in abso-luten Zahlen bei der Aufnahme von Flüchtlingen füh-rend, nicht aber im Verhältnis zur Bevölkerung undWirtschaftskraft, also der Quote an Menschen, die wiraufnehmen müssten. – Wir nehmen pro 1 Million Ein-wohner 945, Italien 260 Asylbewerber auf. Oft entstehtgenau der entgegengesetzte Eindruck. Ja, unsere Ableh-nungsquote beträgt 70 Prozent. Darüber müssen wir tat-sächlich nachdenken. Insgesamt halten sich im Momentin Deutschland 600 000 Flüchtlinge auf. Der Eindruck,der manchmal entsteht, ist ein ganz anderer.Ein paar Schlussfolgerungen – Sie haben in IhremAntrag Forderungen gestellt –: Was braucht es also? Esbraucht unserer Meinung als Entwicklungspolitiker undals Menschenrechtspolitiker nach in erster Linie dieHilfe vor Ort: abgestimmte internationale humanitäreHilfe, im Moment besonders in Syrien. Ich habe die po-sitive Rolle des Libanon erwähnt und möchte in diesemZusammenhang auch Jordanien oder Saudi-Arabiennicht vergessen.Es braucht einen Schwerpunkt beim Flüchtlings-schutz und bei der Realisierung menschenrechtlicherStandards in den Flüchtlingslagern, insbesondere in denAnrainerstaaten der Krisengebiete, aber auch der Tran-sitstaaten und weiterer Drittstaaten. Hin und wiederheißt das auch – da stehen wir natürlich zu Ihnen, denLinken, im Widerspruch – UN-mandatierte Blauhelm-und NATO-Einsätze. Unsere internationale Verantwor-tung bringt das mit sich.Es braucht eine mittel- und langfristige wirtschaftli-che Zusammenarbeit mit Afrika und eine Stabilisierungder Krisengebiete. Ich habe mich gefreut, dass in derEU-Kommission neu darüber nachgedacht wird – das istnoch umstritten, aber ich kann dem Gedanken sehr vielabgewinnen; ich las davon letzte Nacht auf SpiegelOnline –, die Exporthilfen für Exporte nach Afrika abzu-schaffen, damit die Kleinbauern vor Ort eher eineChance haben und bleiben.Dann gibt es natürlich noch die Frage nach einer ein-heitlichen Asylpolitik in der EU. Da braucht es eine Ver-einheitlichung auf EU-Ebene, um durch ein gemeinsa-mes europäisches Asylrecht schnelle und faire Verfahrenzu gewährleisten. Sie können in unserem Koalitionsver-trag lesen, dass genau dies ein Schwerpunkt unseresHandelns ist.
Standards, wie im Stockholmer Programm festge-schrieben, sind da ganz wichtig. Das Personal von Fron-tex und EUROSUR muss dafür hinsichtlich der humani-tären Komponente geschult werden und braucht imSinne einer Task Force eine noch engere Verzahnung,möglicherweise mit dem Internationalen Roten Kreuzoder anderen Nichtregierungsorganisationen. Es brauchteine Stärkung der Rolle des 2011 eingerichteten EASO,dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragenmit Sitz in Malta. Dies sind einige der Maßnahmen, diewir tatsächlich benötigen.Zum Abschluss ein Beispiel, das mich geprägt hat. Inder letzten Legislatur waren wir Menschenrechtspoliti-ker mit einer Gruppe Kollegen in Uganda. Dort sind mirSarah und ihr Sohn Jamaal begegnet, der erst wenigeWochen alt war und den Sarah auf dem Arm trug. Sarahnimmt an einem Aussteigerprogramm für Prostituierte ineinem Slum von Kampala teil. Sie hat dort unter ande-rem ein Handwerk gelernt, zum Beispiel Deckchen her-zustellen, um mit dem Verkauf dieser Deckchen ihrenLebensunterhalt zu finanzieren, was aber noch nichtreicht, sodass sie sich weiterhin prostituieren muss.Doch hält sie schon allein diese Perspektive eher in ihrerStadt und in ihrem Land, als sich auf den Weg zu ma-chen und nach Europa zu fliehen. Die Perspektive hältsie dort: ein Beispiel und ein Symbol für das, was es inder Entwicklungszusammenarbeit braucht, um demFlüchtlingsstrom vorzubeugen.Damit ihr Sohn später einmal, wenn er in die Pubertätkommt, nicht in dem Teufelskreis eines langsamen Ster-bens stecken bleibt oder nach Europa fliehen muss,braucht es mehr von unserem Engagement. Wir dürfen,um mit der Kollegin Kampmann zu sprechen, nicht mitdem Status quo zufrieden sein. So darf es nicht weiterge-hen. Deshalb lassen Sie uns zusammen daran arbeiten,an welchen Stellen das konstruktiv möglich ist.Ich danke Ihnen.
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Heinrich. – Derletzte Redner dieser, wie ich finde, sehr intensiven undsehr solidarischen Debatte ist Dr. Egon Jüttner.
Metadaten/Kopzeile:
546 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Im Mittelmeerraum haben sich in den vergange-nen Jahren zu Lande und zu Wasser schreckliche Szenenabgespielt. Insbesondere vor der Küste Italiens und aufLampedusa sowie im griechischen FlüchtlingslagerAmigdalesa herrschen menschenunwürdige Zustände.Die Überbelegung von Flüchtlingslagern, in denen oftdrei- bis viermal mehr Flüchtlinge untergebracht sind alsvorgesehen, darf nicht länger hingenommen werden. Esist inakzeptabel, dass Hunderte von Menschen auf über-füllten Booten in europäischen Gewässern den Todfinden. Was hier geschehen ist, das waren eindeutigeMenschenrechtsverletzungen, die durch nichts zu recht-fertigen sind. In vielen Flüchtlingslagern, nicht nur aufLampedusa, kam es zu Zwischenfällen, die die gesamteEuropäische Union mit Scham erfüllen sollten.Unser Mitgefühl gehört den vielen umgekommenenund verletzten Flüchtlingen. Wir bedauern das Schicksaldieser Menschen zutiefst. Sie haben ihre häufig von krie-gerischen Auseinandersetzungen und Armut betroffe-nen Herkunftsländer verlassen, um in Europa eine bes-sere Zukunft zu finden. Ihre Flucht aber endete oft ineinem qualvollen Tod. Der Respekt vor dem Schicksaldieser Menschen sollte Vorrang haben vor politischenAuseinandersetzungen und Schuldzuweisungen.Die Verantwortung für die Flüchtlingsströme und diedaraus resultierenden Probleme liegt nicht bei den EU-Mitgliedstaaten, sondern eindeutig bei den Herkunfts-ländern. Leider ist die politische Situation in vielen Staa-ten besorgniserregend. In Mali, in Nigeria, in der Zen-tralafrikanischen Republik, aber auch im Südsudan sindteilweise staatliche Strukturen zusammengebrochen. Au-ßerdem finden oft Willkür und Unterdrückung statt.Häufig wird nicht einmal das Existenzminimum derMenschen gewährleistet. Auch militante islamistischeGruppen machen ein dauerhaft friedliches Zusammenle-ben unterschiedlicher Volksgruppen unmöglich.Da ist es nicht verwunderlich, dass Menschen ihreHeimat verlassen in der Hoffnung auf ein besseres Le-ben. Deutschland ist deshalb gemeinsam mit anderenStaaten der Europäischen Union, ebenso wie zivile undkirchliche Organisationen, ständig bemüht, den oft brü-chigen Frieden in diesen Staaten wiederherzustellen unddie Grundbedürfnisse der dort lebenden Menschen zudecken. Die Träger der Entwicklungszusammenarbeitunternehmen alles, um im Dialog mit den politisch Ver-antwortlichen friedenstiftende Maßnahmen zu fördern.Geschähe dies nicht, würden noch mehr Menschen ihreHeimatländer verlassen und wären den Gefahren einerFlucht ausgesetzt.Meine Damen und Herren, wir sind uns einig, dassdie südeuropäischen Staaten mit der Flüchtlingsproble-matik nicht alleingelassen werden dürfen. Wir sind alsEuropäer und als Europäische Union gemeinsam ver-pflichtet, Asylsuchenden eine menschenwürdige Be-handlung zu gewähren. Die EU ist deshalb ernsthaftbemüht, das europäische Asylsystem den sich verän-dernden Realitäten anzupassen. Dabei stehen zwei Ge-sichtspunkte im Vordergrund der Bemühungen: zum ei-nen die Behandlung der sich auf der Flucht befindendenbzw. bereits in Europa angekommenen Menschen undzum anderen die Ursachenbekämpfung in den Her-kunftsländern.Was Ersteres betrifft, so sind durch die Fortentwick-lung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems imvergangenen Jahr die Grundlagen für ein gerechtes undrealisierbares Regelwerk geschaffen worden.Die Rangfolge der in der Dublin-Verordnung festge-legten Kriterien trägt der Tatsache Rechnung, dass wir esmit schutzbedürftigen Menschen zu tun haben. Wir sindverpflichtet, deren persönliche Situation zu berücksichti-gen.Erster Grundsatz ist die Einheit der Familie. Handeltes sich etwa bei einem Asylbewerber um einen unbeglei-teten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat für diePrüfung seines Antrags zuständig, in dem sich ein Ange-höriger seiner Familie rechtmäßig aufhält. Ist ein Asyl-suchender volljährig und befindet sich ein Familienmit-glied bereits in einem Mitgliedstaat der EuropäischenUnion, so hat er die Wahl, ebenfalls in diesem Mitglied-staat einen Asylantrag zu stellen. Dies gilt selbst dann,wenn über den Asylantrag des Familienmitglieds nochnicht entschieden ist.Ferner regelt die Dublin-Verordnung, welcher Mit-gliedstaat im Einzelfall für den Asylantrag eines Asyl-suchenden zuständig ist. Der für die Prüfung des Asyl-antrags zuständige Mitgliedstaat darf diesen Antragnicht ablehnen und den Asylbewerber etwa in ein ande-res Land schicken. Vielmehr ist er verpflichtet, denAsylbewerber aufzunehmen und den Antrag zu bearbei-ten.Die neuen Regelungen zeigen eindeutig, dass die Eu-ropäische Union der Menschenwürde der Asylsuchen-den einen hohen Stellenwert beimisst. Die familiäre Zu-sammenführung hat Vorrang vor allen anderen Kriterien.Es ist den Einzelstaaten verboten, Asylsuchende wieSpielbälle von einem Land ins andere zu schicken.Des Weiteren haben im Oktober 2013 die Mitglied-staaten der Europäischen Union kurzfristige Maßnah-men zur verbesserten Seenotrettung eingeleitet. Ein ef-fektives Seenotrettungssystem bedeutet jedoch nicht,dass die Überquerung des Mittelmeers mit völlig unge-eigneten und erheblich überladenen Booten sicher wird.Es kann nur dazu dienen, das Risiko für die Migrantenauf dem Seeweg zu reduzieren.Die zunächst zuständigen nationalen Behörden dersüdeuropäischen Staaten haben die Möglichkeit, über dieEU-Grenzschutzagentur Frontex Unterstützung durchandere EU-Mitgliedstaaten anzufordern. So konnten inden beiden vergangenen Jahren durch von Frontex koor-dinierte Aktionen – das wurde schon gesagt – über40 000 Menschen aus Seenot gerettet werden. Europazeigt sich also in dieser Hinsicht mit seinen südlichenMitgliedstaaten solidarisch.Unser Ziel muss es sein, Tragödien, wie sie in derVergangenheit passiert sind, in Zukunft zu verhindern.Mit der Fortentwicklung des Gemeinsamen Europäi-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 547
Dr. Egon Jüttner
(C)
(B)
schen Asylsystems wurden im vergangenen Jahr dieWeichen dafür gestellt. Nun müssen wir die Effektivitätder beschlossenen Maßnahmen genau analysieren. Da-bei müssen wir offen sein für weitere Reformen zuguns-ten der betroffenen Flüchtlinge. Deshalb steht die Asyl-politik auch beim EU-Gipfel im Juni wieder auf derTagesordnung. Dort wird Bilanz gezogen über die imHerbst beschlossenen Maßnahmen und Änderungen.Es ist falsch, die Asylpolitik der Europäischen Unionpauschal und undifferenziert zu verurteilen und dendeutschen Bundesregierungen der letzten 20 Jahre eine,wie es im Antrag heißt – ich zitiere – „große Mitschuld“an „Menschenrechtsverletzungen und Verdrängung vonVerantwortlichkeit auf EU-Ebene“ zu unterstellen.
Vielmehr müssen wir den eingeschlagenen Weg zur Ver-besserung der Situation fortsetzen. Dem Antrag derFraktion Die Linke können wir deshalb nicht zustim-men.Ich danke Ihnen.
Die Redeliste zu diesem Tagesordnungspunkt ist er-
schöpft.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/288 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Dr. Julia Verlinden, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Europarechtskonforme Regelung der Indus-
trievergünstigungen auf stromintensive Un-
ternehmen im internationalen Wettbewerb
begrenzen und das EEG als kosteneffizientes
Instrument fortführen
Drucksache 18/291
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man das Dokument zur Einleitung des Beihilfe-verfahrens der EU-Kommission liest, dann findet manda sehr interessante Passagen. Darin steht zum Beispiel,dass das EEG ein sehr kosteneffizientes Instrument zumAusbau der erneuerbaren Energien ist,
dass es zielgerichtet ist und erfolgreich den Ausbau derErneuerbaren in Deutschland vorangebracht hat, ganz imUnterschied zu anderen EU-Staaten und zu anderen För-dersystemen. In der Tat haben wir es in Deutschland ge-schafft, den Anteil der erneuerbaren Energien innerhalbvon gut zehn Jahren von 4 Prozent auf 25 Prozent zu er-höhen. Wir haben es geschafft, dass sich die Bürgerinnenund Bürger an der Energieversorgung beteiligen, dass siedas ganze Thema voranbringen. Das ist eine absolute Er-folgsgeschichte.
Wir haben es vor allen Dingen auch geschafft, dassWindenergie an Land und Photovoltaik inzwischen diepreisgünstigste Form sind, eine Kilowattstunde Strom zuproduzieren, preisgünstiger als aus neuen Kohle- oderGaskraftwerken. Das ist eine Entwicklung, die noch vorwenigen Jahren unvorstellbar war.
Wenn die EU-Kommission jetzt ein Verfahren einlei-tet, so richtet sich das nicht gegen das EEG an sich, ganzim Gegenteil. Die EU-Kommission problematisiert dasAusnahmewesen, also die Tatsache, dass es bei den Zah-lungen der EEG-Umlage, die die Vergütungen der Be-treiber von Erneuerbare-Energien-Anlagen sichern, zuüberbordenden Ausnahmen gekommen ist. Das Problemdabei ist nicht der grundsätzliche Tatbestand der Aus-nahme. Die EU-Kommission sagt klipp und klar: Es istvöllig in Ordnung, dass stromintensive Unternehmen einStück weit befreit werden. – Ich glaube, es herrscht poli-tischer Konsens darüber, dass ein stromintensives Unter-nehmen wie eine Aluminiumhütte hier nicht zu Zahlun-gen herangezogen wird. Die EU-Kommission kritisiertaber in aller Deutlichkeit das, was insbesondere seit2010 passiert, nämlich das ausufernde, überbordendeAusnahmewesen zugunsten von Industrie und Gewerbe,die mit internationalem Wettbewerb und Stromintensitätüberhaupt nichts zu tun haben. Damit muss endlichSchluss sein, wenn wir das Problem lösen wollen.
Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass die Zahlvon wenigen Hundert begünstigten Unternehmen aufüber 2 100 angestiegen ist. Die Politik in den letzten Jah-ren nach dem Motto „Die Privatverbraucher wollten dieEnergiewende; dann sollen sie auch dafür zahlen“ darfnicht fortgesetzt werden. Wir brauchen hier ein Stückweit Kostengerechtigkeit. Nun schlägt diese Politik derVergangenheit auf die Industrie selber zurück. Inzwi-schen beschweren sich auch – zu Recht – die nicht be-freiten Industriebereiche. Ich kann nicht nachvollziehen,
Metadaten/Kopzeile:
548 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Oliver Krischer
(C)
(B)
warum ein Schlachtbetrieb von der EEG-Umlage befreitist, ein Textilunternehmen aber nicht. Genau das proble-matisiert die EU-Kommission. Deshalb ist das Beihilfe-verfahren richtig.
Die Große Koalition hatte die Chance, dieses Beihil-feverfahren zu vermeiden; das wissen alle, die mit HerrnAlmunia gesprochen haben. Es gab die Chance, eineklare Vereinbarung im Koalitionsvertrag zu treffen, wieman das Thema der Beihilfen angehen will. Das Pro-blem ist aber: Sie haben sich nur auf einen Prüfauftragverständigt, der lediglich vorsieht, dass man sich diesemThema widmen will. Das ist ein riesiges Problem für dieIndustriebetriebe, die jetzt damit konfrontiert sind, dasssie Rückstellungen bilden müssen. Es herrscht Verunsi-cherung. So kann letztendlich nicht investiert werden.Damit hat sich die gesamte Politik der letzten Jahre, dieangeblich der Industrie dienen sollte, zu einem Bume-rang entwickelt.Wir schlagen in unserem Antrag vor, dass Sie jetzt ak-tiv werden; denn es kann nicht sein, dass man jetzt nurdie EU-Kommission beschimpft und sagt, sie mache al-les falsch. Sie benennt ein richtiges Problem. Aber es istjetzt an der Zeit, dass die Bundesregierung konkretePunkte benennt. Wir sagen: Die Strompreiskompensa-tionsliste, die die EU-Kommission im Rahmen desEmissionshandels gemacht hat, ist eine Grundlage, ander sich in Deutschland die Befreiungen bzw. Vergünsti-gungen orientieren können. Das sind die Unternehmens-bereiche Metall, Papier, Chemie usw. Diese brauchentatsächlich diese Vergünstigungen. Das wäre eineGrundlage, um diesem Beihilfeverfahren zu entgehen.
Es gibt noch ein anderes Problem. Dadurch dass wirjetzt über Beihilfe reden, bekommt ein anderes Verfah-ren eine Schlagseite. Die EU will das EEG insgesamtaufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre als Bei-hilfe definieren. Das würde dazu führen, dass wir in Zu-kunft die Regelungen und Novellen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und den Ausbau der erneuerbarenEnergien in Brüssel genehmigen lassen müssten. Ichglaube, das kann nicht in unserem Sinne sein.Es muss vielmehr in unserem Sinne sein – das ist dieAufgabe der EU-Kommission und die Aufgabe vonEuropa –, dass wir klare Ziele setzen, nicht nur Klima-schutzziele, sondern auch ambitionierte Ziele für denAusbau der erneuerbaren Energien und Effizienzziele.Dafür müssen wir kämpfen. Ich frage ganz offen: Wo isteigentlich der deutsche EU-Kommissar Herr Oettinger?Von dem sehe ich nur, dass er die deutsche Energie-wende und die Politik, von der ich einmal dachte, dasssie hier konsensual getragen werde, hintertreibt und ge-meinsame Sache mit den britischen Atomfreundenmacht, anstatt die deutsche Politik zu unterstützen.
Wir finden: Dazu braucht es ein klares Wort derKanzlerin. Sie hat diese Ziele 2007 im Rahmen der deut-schen Ratspräsidentschaft durchgesetzt. Das muss jetztweitergehen. Wir denken auch – das ist unser Angebotan die Große Koalition –, dass es einen Konsens inDeutschland geben kann, wenn wir die erneuerbarenEnergien weiter konsequent ausbauen, wenn wir sie kos-teneffizient ausbauen und wenn wir sie kostengerechtausbauen, und zwar ohne Deckelung und künstlicheBremsen für Windenergie an Land und PV. Wenn daseine Basis sein kann, dann können wir uns auf einen ge-meinsamen Weg verständigen.Wenn die Basis aber ist, dass Sie die wegfallendenAtomstrommengen der nächsten Jahre durch Braunkohleersetzen wollen, wie das offensichtlich Herr Seehofervorhat – so jedenfalls verstehe ich seine Einlassungen –,dann wird das ein Weg sein, den wir nicht mitgehen wer-den. Den werden wir bekämpfen. Dann haben wir deutli-che Auseinandersetzungen. Aber wir bieten einengemeinsamen Weg an und fänden es gut, wenn hier tat-sächlich eine breite politische Basis für eine langfristigeEnergiewende und für Investitionssicherheit in diesemBereich geschaffen werden könnte.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!Meine Herren! Lieber Kollege Oliver Krischer, heuteMorgen haben Sie noch groß über die Medien verkün-det, Sie wollten die enge Zusammenarbeit mit der Gro-ßen Koalition und wollten gemeinsam mit uns an diesemProjekt der Energiewende teilhaben.
Ihr Antrag und Ihr Redebeitrag zeigen etwas anderes,nämlich dass Sie in alte Grabenkämpfe verfallen undversuchen, Konflikte aufzubauen, die es so gar nichtgibt. Wir sind vielmehr in vielen Punkten einiger, als Sieglauben. Viele Dinge, die Sie jetzt kritisiert haben, habenSie nämlich damals unter Rot-Grün, unter dem Umwelt-minister Jürgen Trittin, selber beschlossen. Diese sindjetzt in der Tat Bestandteil eines Verfahrens in Brüssel.Wir werden dieses Verfahren abschließen und dafür sor-gen, dass die Energiewende weiter gelingt und auch un-sere Industrie weiter gesichert ist.
Bevor ich aber auf den Antrag, den Sie gestellt haben,eingehe, möchte ich zu Beginn betonen, dass das Projektder Energiewende, die Energiepolitik an sich, eines derganz großen Themen dieser Großen Koalition ist. Eswird eine gemeinsame Herausforderung sein, und wirwerden gemeinsam dieses Projekt anpacken. Wir wollenan das anknüpfen, was wir die letzten vier Jahre gemachthaben. Wir wollen dafür sorgen, dass die Grundlinien
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 549
Thomas Bareiß
(C)
(B)
unserer Energiepolitik auch weiter bestehen. Wir wolleneine Politik machen, die umweltfreundlich ist, aber auchdie sichere Versorgung und vor allen Dingen eine be-zahlbare, wirtschaftliche Energieversorgung für unserganzes Land gewährleistet, für die Menschen, für die In-dustrie und die Wirtschaft insgesamt.Wir wollen die Energiepolitik zu dem machen, wassie sein muss. Sie muss Hauptbestandteil unserer Wachs-tums- und Wohlstandsstrategie sein. Sie muss dafür sor-gen, dass wir in den nächsten Jahren keine Arbeitsplätzegefährden oder sogar verlieren, sondern dass wir unterdem Strich Arbeitsplätze sichern und weiter ausbauen.Das muss die Energiewende zum Ziel haben.
Insofern bin ich dankbar, dass diese Koalition dieKompetenzen für Energiefragen im Wirtschaftsressortgebündelt hat. Somit bekommen wir eine schlagkräftigeEinheit, um für eine wirtschaftliche Energiewende
zu kämpfen. Ich bin sicher, lieber Hubertus Heil, dasswir gemeinsam mit unserem neuen Minister für Wirt-schaft und Energie, Sigmar Gabriel, eng und vertrauens-voll zusammenarbeiten werden.Wir wollen Arbeitsplätze sichern. Daher müssen wirden Ausbau der erneuerbaren Energien weiter sinnvollgestalten. Darüber hinaus müssen wir dafür sorgen, dassdort, wo in der Industrie Arbeitsplätze gefährdet sind,wo Industrien im europäischen und weltweiten Wettbe-werb stehen, weiterhin Vergünstigungen möglich sind.Das muss unser zentrales Ziel sein.Damit komme ich zu Ihrem Antrag. Der Antrag derGrünen enthält zwei Grundaussagen:Erstens. Das EEG muss unbefristet weiter gelten. Dashaben Sie gerade eben noch einmal gefordert.Zweitens. Die Vergünstigungen für stromintensiveUnternehmen – das ist Ihr großes Thema – müssen wei-testgehend zusammengestrichen werden.
Das würde Arbeitsplätze gefährden, lieber Oliver Krischer.Wir sollten miteinander debattieren, um eine sinnvolleLösung zu finden.Ich glaube, dass die Aussagen, die Sie in Ihrem An-trag treffen, objektiv falsch sind. Ich zitiere aus dem ers-ten Absatz Ihres Antrags einen Punkt, den ich ganz an-ders sehe:Statt der vollen … Umlage von derzeit 6,24 Cent/kWh, zahlt ein Großteil der entlasteten Unterneh-men lediglich eine Umlage von 0,05 Cent/kWh.
Das ist komplett falsch. Nur Unternehmen mit einemStromverbrauch ab 100 Gigawattstunden zahlen nurnoch 0,05 Cent je Kilowattstunde.
In der Summe sind das in Deutschland weniger als150 Unternehmen.
Es wird Sie vielleicht überraschen, Herr Krischer: Essind Unternehmen, die schon damals, 2004, unter JürgenTrittin entlastet worden sind
und die seitdem von dieser Entlastung profitieren.Sie haben, auch in dieser Debatte, den Eindruck er-weckt, dass diese Unternehmen gar keine Abgaben zah-len. Das stimmt ebenfalls nicht. Unternehmen, die hin-sichtlich der EEG-Umlage zwar nicht befreit, aberbegünstigt werden – etwa ThyssenKrupp, der größte Fallin dieser Riege –, zahlen nach heutigem Stand weiterhin4 500 Euro EEG-Umlage pro Arbeitsplatz. Das zeigt:Auch die großen energieintensiven Industrieunterneh-men zahlen für die Energiewende und leisten damit aucheinen Beitrag zum Gelingen des Umstiegs, der dienächsten Jahre gemeinsam solidarisch finanziert werdenmuss.
Ihre Aussage, dass die EEG-Novelle von 2012 zumassiven Mehrbelastungen führt, wie Sie sie vorhin be-schrieben haben, ist falsch. Sie haben gesagt: Die Anzahlder entsprechenden Unternehmen ist von 800 Unterneh-men auf 2 100 Unternehmen gestiegen. Ich muss Siekorrigieren: Sie ist sogar auf 2 700 Unternehmen gestie-gen.
Ich bin stolz darauf, dass sich die Anzahl dieser Un-ternehmen verdreifacht hat; denn der industrielle Mittel-stand, der in besonderer Weise im Wettbewerb steht,erfährt Vergünstigungen. Damit haben wir etwas ge-schaffen, was vielen Unternehmen hilft und damit derErhaltung vieler Arbeitsplätze dient, aber auf der ande-ren Seite nur sehr wenig kostet. Die Vergünstigung liegtnur bei 10 Prozent. Nur 2 Prozent der EEG-Umlage, diewir zahlen, sind für den industriellen Mittelstand reser-viert. Damit erreichen wir, dass die Arbeitsplätze vonüber 1 Million Beschäftigten nicht nur vorübergehendgesichert, sondern auch auf Dauer erhalten bleiben. Ichglaube, das war es wert, für den Fortbestand dieser Ver-günstigung zu sorgen.
Metadaten/Kopzeile:
550 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
(C)
(B)
Kollege Bareiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
oder eine Bemerkung aus den Reihen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen?
Ja, gern. Natürlich. Immer doch.
Herr Meiwald, bitte.
Vielen Dank, Herr Bareiß, dass Sie meine Frage zu-
lassen. – Sie haben sich gerade so vehement für die Ar-
beitsplätze eingesetzt. Das finden wir grundsätzlich in
Ordnung. Arbeitsplätze sind ja für uns alle notwendig.
Aber in der Konsequenz dessen, was Sie in den letzten
vier Jahren gemacht haben und was Sie hier so in den
Himmel loben, stellt sich doch die Frage: Wie viele Ar-
beitsplätze im Braunkohletagebau entstehen oder wer-
den dadurch erhalten, dass man zum Beispiel Vattenfall
von der EEG-Umlage befreit? Wie viele Arbeitsplätze
sind in den kleinen und mittelständischen Handwerksun-
ternehmen, die massiv investiert haben, um die Energie-
wende voranzutreiben, in den letzten Jahren schon verlo-
ren gegangen? Ich denke an kleine Solarunternehmen
und ähnliche Betriebe, die jetzt vor dem Ruin stehen
bzw. schon in der Insolvenz sind.
Ich glaube, da liegt eine Schieflage vor. Das Ganze
müsste man einmal sauber gegeneinander aufrechnen
und man darf nicht sagen: Dadurch, dass wir Großunter-
nehmen und andere Vielverbraucher hier entlasten, be-
wirken wir etwas, worauf wir auch noch stolz sein kön-
nen. Die Entlastung von Braunkohletagebauen ist
natürlich auch klimapolitisch verheerend. Mich würde
interessieren, ob Sie diesbezüglich eine Bilanz aufma-
chen können.
Vielen Dank.
Wir können gerne über den Braunkohletagebau reden.
Ich lade Sie auch gerne ein, einmal die Lausitz oder das
Ruhrgebiet zu besuchen.
– Da habe ich mich versprochen; das gebe ich zu. Das
war die alte Welt der Steinkohle.
Ich lade Sie ein, die Lausitz oder das Rheinland zu be-
suchen. Dort sind 22 000 Beschäftigte von der Braun-
kohleindustrie abhängig.
Wir müssen doch sehen, dass die Braunkohle der ein-
zige heimische Energieträger ist, den wir noch haben.
Ich sehe Ihre neue Stoßrichtung, die Braunkohle als
schmutzige Energie darzustellen, sehr kritisch, weil die
Braunkohle derzeit hocheffizient eingesetzt wird. In
Deutschland wurde noch nie so viel Braunkohlestrom
produziert; das ist durchaus richtig. Aber Sie verschwei-
gen immer, dass dieser Braunkohlestrom mit so wenig
CO2-Ausstoß pro Kilowattstunde wie noch nie erzeugt
wird. Wir haben hocheffiziente Braunkohlekraftwerke.
Wir brauchen auch weiterhin die Verstromung der
Braunkohle, einem heimischen und günstigen Rohstoff,
als Brückentechnologie, um kostengünstig in das Zeital-
ter der regenerativen Energien zu gelangen.
Ich lade Sie wirklich einmal ein, mit mir gemeinsam
diese Regionen in Ostdeutschland zu besuchen. Dort
sind in der Braunkohleindustrie 22 000 Menschen be-
schäftigt. In der Solarindustrie jedoch, die man versucht
hat, in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt aufzu-
bauen, sind es nur noch knapp 10 000 Beschäftigte. Das
bereitet mir große Sorgen.
Auf der einen Seite wollen wir die Braunkohleindus-
trie mit 22 000 Beschäftigten zerstören, auf der anderen
Seite aber keine neuen Technologien in Deutschland auf-
bauen, die wir bräuchten. Hier müssen wir dringend an-
setzen. Die eine Industrie muss die andere Stück für
Stück ersetzen, aber es darf nicht so sein, wie ich es am
Anfang beschrieben habe: dass schlussendlich weniger
Arbeitsplätze vorhanden sind, als das bisher der Fall ist.
Ich trage nach: Das war jetzt die Beantwortung der
Frage des Kollegen Meiwald. – Ich schalte jetzt die Uhr
wieder ein.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber HerrKrischer, außerdem haben Sie vorhin betont, dass dieBesondere Ausgleichsregelung europarechtswidrig ist.Sie haben gesagt, Sie hätten schon mit Herrn Almuniagesprochen und erfahren, dass wir das Verfahren abwen-den können. Ich muss gestehen, dass ich das bisher nichtso wahrgenommen habe, aber vielleicht haben wir eineunterschiedliche Wahrnehmung.
Ich sage nur eins: Zu behaupten, dass die Reduzie-rung einer Mehrbelastung für unsere Industrie eine Sub-vention darstellt, halte ich für sehr gewagt. Deshalbglaube ich auch, dass das, was Sigmar Gabriel vor weni-gen Tagen gesagt hat, richtig ist: Die nationale Energie-politik muss weiterhin in erster Linie Sache Deutsch-lands und nicht Europas sein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 551
Thomas Bareiß
(C)
(B)
Wir brauchen auch deutsche Ideen und Konzepte. EinGesetz wie das EEG und eine Mehrbelastung, wie siederzeit in allen Bereichen der Industrie vorhanden ist,hat kein anderes Land. Insofern sollten wir schauen, dasswir im Bereich der Ausgleichsregelung auch nationaleLösungen finden.Wir brauchen weiterhin die Besondere Ausgleichs-regelung für die Großindustrie, aber auch für den indus-triellen Mittelstand. Wir müssen ebenfalls schauen, wowir vielleicht in der EEG-Novelle, zu der in der nächstenWoche die ersten Eckpunkte vorgelegt werden, Verände-rungen vornehmen können. Ich habe schon in den letztenMonaten – Sie sicherlich auch – intensive Gespräche mitder Industrie geführt. Es gibt unterschiedliche Bereiche,in denen wir etwas tun können. Die Schwellenwerte undUnwuchten sollten wir sicherlich noch diskutieren. Wirmüssen auch überlegen, welche Ausgestaltung wir beimKriterium des Wettbewerbs vornehmen.Ich warne aber: Wenn wir hier Veränderungen vor-nehmen, werden auch solche Fragen gestellt wie die, obdie Deutsche Bahn weiterhin vergünstigt werden kann.Ich bin gespannt, welchen Beitrag die Grünen dann zu-künftig leisten werden. Die deutsche Wirtschaft zahltheute schon die höchsten Industriestrompreise, nicht nurEuropas, sondern der ganzen Welt.
Wir sind aber auch diejenigen, die im Bereich der er-neuerbaren Energien am schnellsten vorankommen wol-len. Deshalb sage ich Ihnen ganz offen: Um auch dieAkzeptanz der Menschen nicht zu verlieren, dürfen wirnicht weiterhin Verteilungsdebatten führen, sondernmüssen schauen, wie wir das EEG in den kommendenJahren Schritt für Schritt reformieren, stärker an denMarkt heranbringen und somit auch erneuerbare Ener-gien wettbewerbsfähig machen – nicht nur in Deutsch-land, sondern auch in der Welt. Daran müssen wir ge-meinsam arbeiten. Dazu brauchen wir auch Ehrlichkeit.
Kollege Bareiß, gestatten Sie eine weitere Frage oder
Bemerkung des Kollegen Krischer?
Gerne. – Bitte, Herr Krischer.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Bareiß, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade gesagt: In
Deutschland gibt es die höchsten Industriestrompreise.
Ich vermute einmal, Sie wollten sagen, die höchsten In-
dustriestrompreise Europas. Wie erklären Sie es sich
dann, dass der Verband der Industriellen Energie- und
Kraftwirtschaft – das ist keine grüne Organisation und
auch keine der Erneuerbaren-Verbände, sondern die
Lobbyorganisation der energie- und stromintensiven In-
dustrie –, der regelmäßig Strompreisindizes veröffent-
licht, festgestellt hat, dass dieser Index in diesem Jahr
den niedrigsten Stand seit zehn Jahren erreicht hat? Wie
erklären Sie sich das nach Ihrer Aussage, dass wir – an-
geblich – die höchsten Industriestrompreise haben?
Dann müssten Sie noch erklären, wie es sein kann,
dass in den Niederlanden eine Aluhütte schließen muss,
in Insolvenz geht, mit der Begründung, dass sie gegen
den deutschen Wettbewerber, der aufgrund der Energie-
wende in Deutschland so niedrige Industriestrompreise
hat, nicht mehr konkurrieren kann. Diese Aussage müs-
sen Sie bitte erklären. Das passt nicht zu dem, was Sie
gerade gesagt haben.
Wir haben auf alle Fälle – da lasse ich einfach mal dieZahlen sprechen – im Bereich der Verbraucher, der In-dustrieverbraucher, die Größenordnung von 20 bis 70 Giga-wattstunden; das ist eine Größenordnung, die 2012 ge-messen wurde. Da lagen die Industriestrompreise bei10,45 Cent je Kilowattstunde. In der Tat sind in Zypern,Malta, Litauen und in der Slowakei die Industriestrom-preise – in Anführungszeichen – noch besser als bei uns,nämlich etwas höher. Aber davon abgesehen haben wirmit die höchsten Preise in Europa. Das sind die Zahlen,die mir vorliegen.
Das ist meine Grundlage. Insofern ist das, was Sie sagen,einfach nicht richtig.
– Ich werde ihn gern fragen. Aber das sind die Zahlen,die 2012 vom statistischen Landesamt veröffentlichtworden sind, und das sind die Zahlen, auf die ich meineRede aufgebaut habe, lieber Herr Krischer.
Meine Damen und Herren, ich würde gern weiter-kommen. Nun zum Thema Ehrlichkeit. Wir müssen, umbei der Energiewende voranzukommen, ehrlich mitei-nander umgehen. Wir müssen den Menschen sagen, dasswir, wenn wir das EEG novellieren, auch schauen müs-sen, dass wir die nächsten Jahre effizienter vorgehen.Wir dürfen nicht mehr glauben, dass überall dort erneu-erbare Energien aufgebaut werden, wo die höchsten Sub-ventionen gezahlt werden. Wir müssen die erneuerbarenEnergien auch dort oder vor allem dort aufbauen, wo diebesten Grundbedingungen sind. Windräder werden alsonicht überall in Deutschland aufgestellt werden, sonderndort, wo sie am effizientesten arbeiten können. Das wirdin den nächsten Jahren sicherlich mehr im Norden als imSüden der Fall sein. Auch da brauchen wir einen stärke-ren Blick auf die Effizienz.Wir brauchen einen verbindlichen Ausbaukorridor.Wir haben für die erneuerbaren Energien weiterhin diehöchsten Ziele in der Welt. Wir wollen bis 2025 auf biszu 45 Prozent und bis 2035 auf über 60 Prozent zubauen.
Metadaten/Kopzeile:
552 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Thomas Bareiß
(C)
(B)
Das heißt, wir haben mit dem Koalitionsvertrag eine Pla-nung vorgelegt, die verlässlich ist; es besteht Planungs-sicherheit, nicht nur für die fossilen Kraftwerke und fürdie erneuerbaren Energien, sondern vor allen Dingenauch für den Netzausbau, der für die nächsten Jahre ent-scheidend ist.Meine Damen, meine Herren, die Ausbaukorridorefür die erneuerbaren Energien sind ambitioniert. Wirwollen das gemeinsam angehen. Die Debatte, die wirheute angefangen haben, wird in den nächsten Jahrenweitergehen. Wir werden weiterhin auf der Grundlageeiner umweltfreundlichen, aber auch sicheren und vorallem bezahlbaren Energie vorangehen. Ich freue michauf die anstehenden Debatten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die deutschen Strompreise machen die Industrie kaputt– das ist Realität –, allerdings nicht die Industrie inDeutschland, sondern die in Holland. Die Wirklichkeitfür etliche deutsche Unternehmen schaut so aus, dass derIndustriestrompreis in Deutschland überaus niedrig ist.Einer niederländischen Aluminiumhütte hat er geradedie Geschäftsgrundlage geraubt. Jetzt frage ich Sie: Wol-len Sie das? – Ihre Krokodilstränen führen da einfach zunichts.Deutsche Aluhütten haben einen Wettbewerbsvorteilgegenüber ausländischen – kein Wunder; denn sie profi-tieren von den gesunkenen Großhandelspreisen fürStrom. Das nennt man Merit-Order-Effekt. Das ist eineFolge des EEG-Einspeisevorrangs für Ökostrom. Fürdiejenigen, die nicht aus dem Fach kommen: Das heißteinfach, dass die teuren Kraftwerke vom Netz genom-men werden und dann an der Börse der Strompreis sinkt;das wird natürlich nicht an die Verbraucher weitergege-ben.Jetzt kommen wir zu den Industriestrompreisen, überdie Sie gestritten haben. Die liegen heute nur noch bei3,6 Cent je Kilowattstunde, in den Niederlanden dage-gen bei 5 Cent je Kilowattstunde und im AtomstromlandFrankreich immer noch bei 4,3 Cent je Kilowattstunde.Inzwischen liegen wir bei den Strompreisen im Ver-gleich mit den anderen europäischen Ländern im unterenDrittel. Die deutschen stromintensiven Unternehmensind weitgehend von der EEG-Umlage befreit. Darüberstreiten wir ja andauernd. Die EEG-Umlage finanziertWindkraft und regenerative Energien. Die privaten End-kunden und die kleinen Unternehmen blechen für dieAusfälle bei der Großindustrie.
Wir halten das weder für sozial akzeptabel noch für öko-logisch.
Herr Bareiß, wenn Sie sagen: „Das fördert Wachstumund Wohlstand“, dann müssen Sie auch sagen, welchenWachstum und welchen Wohlstand. Ich habe mich neu-lich mit einem Großbäcker aus meiner Region unterhal-ten. Er wählt Ihre Partei; ich glaube, er ist sogar MitgliedIhrer Partei.
Ich habe ihn gefragt, ob auch er diese EEG-Ermäßigungbekommt. Er hat mich nur ausgelacht; ich verstehe zwarnicht, warum er dann Ihre Partei wählt. Er hat mir ge-sagt, er hätte diese Ermäßigung sehr gerne.Das EEG ist für die stromintensiven Unternehmeneine Goldgrube. Der Merit-Order-Effekt an der Strom-börse ist mit rund 0,6 bis 1 Cent je Kilowattstunde – daswird eingespart – um ein Vielfaches höher als die zu zah-lende Miniumlage von 0,05 Cent. Das heißt, die Unter-nehmen verdienen leistungslos Geld durch die Energie-wende. Das kennen wir ja schon vom Emissionshandel,Stichwort: Windfall Profits. Sie haben die Zertifikate da-mals kostenlos bekommen, haben sie eingepreist, unddie Stromkunden haben das bezahlt. So ist es jetzt auchbeim EEG. Ich sage Ihnen: So fahren Sie die Energie-wende an die Wand.
Jetzt kommen wir zum Stichwort Arbeitsplätze. Unswurde in der letzten Legislaturperiode aufgrund unseresAntrages vorgeworfen, wir wollten die Unternehmen ka-puttmachen. Das wollen wir natürlich nicht. Auch wirwollen gute, zukunftssichere Arbeitsplätze. Deshalbmuss man genau hinschauen. Man muss schauen, welcheUnternehmen im internationalen Wettbewerb sind. Wirhaben das in unserem Antrag genau geschildert. Nichtalle Unternehmen konkurrieren mit Firmen, die an kei-nem Zertifikatehandel teilnehmen, die kein EEG in ih-rem Land haben. Für mich ist das wie eine heilige Kuh:Sobald man dieses Thema anspricht, springen Sie aufund rufen: „Arbeitsplätze!“. Natürlich geht es um Ar-beitsplätze, aber es geht auch um Fairness, und die seheich hier in keinster Weise gegeben.
Wer bekommt nun diese Subventionen? Zum BeispielBraunkohletagebaue sind von der Zahlung befreit, unddas spricht Bände. Das sind schlicht unberechtigte Sub-ventionen – das sage ich hier als Linke –, Subventionenausgerechnet für die schmutzigste Stromerzeugung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 553
Eva Bulling-Schröter
(C)
(B)
– Das freut mich, wenn es ihn freut. – Kurz gesagt: DieMindestzahlung an EEG-Umlage dürfte niemals niedri-ger sein als der strompreissenkende Merit-Order-Effektan der Börse. Ansonsten verwandelt sich das EEG ineine Gelddruckmaschine für die stromintensive Indus-trie.Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode ge-warnt. Die damalige Koalition hat gesagt: Wir überprü-fen das. – Passiert ist nichts. Jetzt ist das Kind in denBrunnen gefallen, und nun wird genau geprüft. Wir wer-den sehen, was dabei herauskommt. Wenn wir wollen,dass das EEG weiterläuft, dass wir mehr regenerativeEnergien haben, dann müssen wir natürlich etwas tun,und dann muss das EU-konform geregelt werden. Ichbin mir aber nicht sicher, dass Sie das wollen. Wenn ichaus Bayern höre, dass man dort zum Beispiel überlegt,die AKWs wieder länger laufen zu lassen und die Ab-standsflächen für Windräder so groß zu machen, dassnur noch 0,5 Windräder errichtet werden, dann zweifleich daran, dass Sie wirklich mehr regenerative Energienwollen. Sie müssen das beweisen, und es muss auch fürdie kleinen Leute bezahlbar sein. Das heißt natürlich,dass die Kosten auch auf die Großindustrie umgelegtwerden müssen. Dafür stehen wir.Ansonsten werden wir Ihrem Antrag zustimmen.
Der Kollege Hubertus Heil hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,dass auch in solch einer zugespitzten Debatte einmal derZeitpunkt kommt, an dem man ein bisschen differenzie-ren sollte. Es gibt Dinge im Antrag von Bündnis 90/DieGrünen, die man diskutieren kann und muss; Herr Kol-lege Bareiß, das war auch in Ihrem Beitrag ein Thema:Es gibt in dieser Koalition die grundsätzliche Bereit-schaft, die Ausnahmetatbestände zu reformieren. Undwenn ich es richtig lese, Herr Kollege Krischer, dannwollen die Grünen sie auch reformieren. Über Art undUmfang werden wir heftig miteinander streiten.Frau Kollegin von der Linkspartei, es gibt einen Un-terschied zu Ihnen: Ihre Argumentation – wenn Sie kon-sequent sind – lässt doch den Schluss zu: Sie wollennicht reformieren, sondern weghauen.
Das ist ein Unterschied. Ich kann Ihnen sagen: Für einelinke Partei wäre es einmal an der Zeit, sich zum Bei-spiel mit Betriebsräten der IG Metall, beispielsweise inStahlwerken, zu unterhalten.Ich kann ein Beispiel aus meiner Heimatstadt nennen.Meine Heimatstadt Peine in Niedersachsen hat ein Elek-trostahlwerk der Salzgitter AG. Das Unternehmen hat imMoment ohnehin riesige Probleme auf den Absatzmärk-ten, weil es von der Krise in Europa erfasst ist. Esschmilzt Schrott ein und macht daraus Baustahlträger.Da gibt es im Moment auf der Nachfrageseite ein Rie-senproblem, weil der Markt von billigen Produktenüberschwemmt wurde, nachdem die Immobilienblase inSüdeuropa geplatzt ist. Wenn wir dieses Unternehmenerheblich in die EEG-Umlage einbeziehen würden, dannergäbe sich ein Standortproblem, eine Gefahr für Ar-beitsplätze in diesem Bereich. Deshalb warnt uns nichtnur der Vorsitzende der IG BCE, sondern auch der neueVorsitzende der IG Metall davor, mit diesem Themafahrlässig umzugehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann verstehen,dass die tatsächlich berechtigten Ausnahmen bei derEEG-Umlage aufgrund der Ausweitung der Ausnahme-tatbestände durch die Vorgängerregierung in der öffentli-chen Debatte diskreditiert werden. Deshalb müssen wirsie auch reformieren. Was ich nicht verstehen kann– Herr Kollege Krischer, das will ich Ihnen aber auch sa-gen –, ist, dass Sie das Beihilfeverfahren der EU-Kom-mission begrüßen und ihm rechtlich sozusagen Ober-wasser geben. Ich sage: Wir haben eine ganz andereRechtsposition.In der Zeit der Koalitionsverhandlungen gab es – daswissen Sie – einen gemeinsamen Besuch von HanneloreKraft und Peter Altmaier bei Herrn Almunia, um ihmvon den Koalitionsverhandlungen zu berichten. Ich be-haupte, das hat mitgeholfen, das Beihilfeverfahren inseiner ursprünglichen Form zu entschärfen. Da war näm-lich mehr geplant: Es sollten nicht nur die Ausnahmenunter Beschuss genommen werden, sondern das EEGinsgesamt. Hätten die Grünen das dann eigentlich auchbegrüßt?Wir haben eine andere Rechtsauffassung. Wir be-fürchten, dass über das Instrument des Beihilferechtsvon europäischer Seite an der einen oder anderen Stellein die nationale Kompetenz im Bereich der Energiepoli-tik eingegriffen wird.
Deshalb noch einmal: Die Bundesrepublik Deutschlandhat eine andere Rechtsauffassung als Herr Almunia.Ich sage Ihnen auch: Wir haben ein gemeinsames In-teresse daran, dass diese Auseinandersetzung mit derKommission nicht eskaliert.
Deshalb sage ich: Die Reform der Ausnahmetatbeständeist das eine. Aber wer sich im Interesse der energieinten-siven Grundstoffindustrien, die wir in Deutschland ha-ben wollen, für eine Reform der Ausnahmetatbeständeausspricht, der darf bitte nicht über die Notwendigkeiteiner grundlegenden Reform des EEG schweigen, Herr
Metadaten/Kopzeile:
554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Hubertus Heil
(C)
(B)
Kollege Krischer. Ich finde, da wart ihr schon mal wei-ter. Ich zitiere mit Zustimmung der Präsidentin aus ei-nem Beschluss der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der2013, also vergangenes Jahr, auf der Neujahrsklausur ge-fasst wurde:Deshalb wollen wir das EEG weiterentwickeln undneue Marktstrukturen aufbauen, in denen die Er-neuerbaren zunehmend ohne Förderung ihren Platzfinden.
Ich finde, das geht in eine vernünftige Richtung; darumgeht es bei einer grundlegenden EEG-Reform.Um es der deutschen Öffentlichkeit klar zu sagen:Wir stehen im ersten Halbjahr 2014 nicht unter politi-schem Druck; es besteht keine Notwendigkeit, in derersten Jahreshälfte eine grundlegende EEG-Reform zu-stande zu bringen. Aber es gibt einen Zusammenhangzwischen dem beihilferechtlichen Verfahren der EU-Kommission, der notwendigen Reform der Richtlinienauf europäischer Ebene und einer EEG-Novelle.
Deshalb stehen wir miteinander in der Verantwortung,eine Reform nicht zu blockieren, sondern sie hinzube-kommen.Ich sage es noch einmal: Wir wollen Ausnahmen fürdiejenigen erhalten, die sie brauchen, weil sie im interna-tionalen Wettbewerb stehen. Denn als Industrienationsind wir darauf angewiesen, die gesamte Wertschöp-fungskette in den Blick zu nehmen und die Grundstoffin-dustrien in diesem Land zu halten. Wer nicht begriffenhat, dass das ansonsten für Arbeitsplätze und Standorteein Problem werden kann, der hat von Wirtschaftspoli-tik, mit Verlaub, keine Ahnung. Deshalb: Man kann esreformieren, aber man darf es nicht weghauen.
– Ich habe ja versprochen, dass ich mich um Differenzie-rung bemühe.Zweitens. Oli Krischer, ich finde den Text des Antra-ges im Gegensatz zum Beschluss von der Neujahrsklau-sur 2013 ein bisschen strukturkonservativ: Man tut so,als sei mit dem EEG im Moment so ziemlich alles inOrdnung.
Darüber weißt du auch mehr, um das einmal klar zu sa-gen. Wir haben Überförderungstatbestände, und wir ha-ben keine Vorstellung davon, wie das EEG alter Natur inein neues Marktdesign überführt werden kann. Aber ge-nau das will diese Große Koalition leisten. Das EEG isteine Erfolgsgeschichte – gar keine Frage; das ist ja schonbeschrieben worden –: Ein Anteil von 25 Prozent aus er-neuerbaren Energien wäre ohne das EEG nicht denkbargewesen. Aber das EEG in seiner jetzigen Form droht andem eigenen Erfolg zu ersticken. Das liegt an der Über-förderung und an Problemen, die mit der Versorgungs-sicherheit zu tun haben. Deshalb wird diese Große Ko-alition mit der Verunsicherung, die hinsichtlich Planungund Investitionen in den letzten Jahren in der gesamtenEnergiebranche geschaffen wurde, aufräumen müssen.Wir wollen eine sichere, eine saubere, aber eben aucheine bezahlbare Energieversorgung, und zwar nicht nurfür die Unternehmen in Deutschland, sondern auch fürdie Bürgerinnen und Bürger.Wir dürfen im Zusammenhang mit der Frage, welcheErwartungen an die EEG-Reform geknüpft werden, al-lerdings nicht den Eindruck erwecken, als ginge es umeine Senkung der EEG-Umlage; denn die Kostenstruktu-ren der Vergangenheit – die Zusagen – werden wir wei-ter tragen. Das heißt, der vorhandene Bestand, der So-ckel, ist ein Stück weit Teil der zukünftigen Struktur. Esgeht um die Frage, wie wir die Kostendynamik in derZukunft bremsen können und wie wir dafür sorgen kön-nen, dass die Energiewende in diesem Land auch ener-giewirtschaftlich effizient und kostengünstig vollzogenwird.
– Das sowieso.
Ich sage es an dieser Stelle noch einmal: Wir kommennicht weiter, wenn wir uns hinter ideologisierten Positio-nen einmauern.
Meine herzliche Bitte auch an Bündnis 90/Die Grünen,die ja in einigen Bundesländern mit uns gemeinsam undin Hessen mit anderen Regierungsverantwortung und da-mit auch Verantwortung für das Gelingen der Energie-wende tragen, ist, dass wir uns jetzt nicht in Schützen-gräben verziehen. Ich bitte euch, nicht reflexartig, weilihr in der Opposition sitzt, auf ein Mitwirken an diesemProzess zu verzichten. Ich habe den letzten Satz deinerRede, Oliver Krischer, sehr wohl gehört, dass die Grü-nen an dieser ganzen Geschichte mitwirken wollen.
– Ich hoffe, es ist ein ernst gemeintes Angebot. Das sageich an dieser Stelle auch. Wir haben miteinander ein In-teresse daran, dass wir die Energiewende zum Erfolgführen.Weder die Energiewende darf diskreditiert werdennoch die Tatsache, dass dieses Land ein Industrieland ist.Ich will mit einem Satz sagen, warum das kein Gegen-satz ist: Windräder brauchen Stahl. Die gesamte Wert-schöpfung ist in den Blick zu nehmen. Deshalb habe ichdie herzliche Bitte, dass wir in diesem Haus nicht alles
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 555
Hubertus Heil
(C)
(B)
aus Brüssel, weil es gerade in den Kram passt, entwedertotal gut oder total schlecht finden. Einige Passagen inder Rede von Oliver Krischer fand ich ein bisschen wi-dersprüchlich: Auf der einen Seite wird begrüßt, dassVerfahren gegen Deutschland eingeleitet werden, auf deranderen Seite findet man vieles, was aus Brüssel zurEnergiewende in Deutschland gesagt wird, nicht ganzunproblematisch. Das passt nicht so ganz zusammen.
Ich sage es noch einmal: Mit Blick auf möglicheRechtsfolgen – wir sind anderer Auffassung als die EU-Kommission – müssen wir versuchen, dieses beihilfe-rechtliche Verfahren abzuwenden. Wir müssen zusehen,dass das nicht eskaliert. Ich will sagen, was das für die-ses Jahr bedeutet – diesen Zeitdruck habe ich vorhinangesprochen –: Wir wissen, dass die – berechtigten –Ausnahmegenehmigungen für die energieintensiven Be-triebe vor dem 18. Dezember letzten Jahres von dem zu-ständigen Bundesamt, dem BAFA, erteilt wurden. Damitwird es 2014 keine Wettbewerbsschwierigkeiten für dieenergieintensiven Betriebe geben. Aber es gibt natürlicheine Verunsicherung, nicht nur, was die ungeklärte Frageder Rückstellungen für einen möglichen negativen Aus-gang des Verfahrens angeht. Diesbezüglich scheint sichdie Lage ein bisschen zu entspannen. Die eigentlicheFrage lautet aber: Wie geht es ab dem 1. Januar 2015weiter? Wenn wir miteinander der Meinung sind, dasswir da etwas tun müssen, dann müssen wir bis zur Mittedieses Jahres Rechts- und Planungssicherheit schaffen,damit zum 1. Januar 2015 nicht eine Situation eintritt,die für uns als Industrienation und die Arbeitsplätze inder Grundstoffindustrie bedrohlich ist. Deshalb ist Eilegeboten. Ich könnte es auch politischer sagen: In denletzten vier Jahren gab es so viel Hin und Her, dass wirjetzt zügig aufräumen müssen, damit es nicht problema-tisch wird, und alle sind aufgerufen, mitzuhelfen.
Jetzt haben wir Januar. Der Bundeswirtschafts- undEnergieminister wird in den nächsten Wochen Vor-schläge unterbreiten. Dann müssen wir in diesem Hauszügig in den Gesetzgebungsprozess eintreten. Wir müs-sen darauf achten, dass Bund und Länder sich an dieserStelle nicht verhaken. Ich will aber sagen, dass ich ganzzuversichtlich bin, dass wir es trotz der regional unter-schiedlichen Interessen in Sachen Energiepolitik – ma-chen wir uns nichts vor: die Bundesländer haben sehrunterschiedliche Interessen, was die Wertschöpfung an-geht – schaffen, im ersten Halbjahr eine EEG-Reformauf die Beine zu stellen, die beides leistet: Wir müssenuns anschauen, welche Ausnahmetatbestände sinnvollsind und welche möglicherweise nicht sinnvoll sind. Ichsage aber auch, dass es in Brüssel Vorstellungen hin-sichtlich Mindestumlagen gibt, die wir nicht mittragenkönnen, weil das bedrohlich wäre, auch was die Kosten-struktur betrifft. Auf der anderen Seite müssen wir dasEEG zukunftsfähig machen. Eine grundlegende Reformist notwendig. Wir brauchen so etwas wie ein EEG 2.0 indiesem Land und eine Überführung in ein Marktdesign,das langfristig dafür sorgt, dass die Erneuerbaren tat-sächlich marktfähig werden. Das ist ein Text der Grünenaus 2013; diesen habe ich zitiert.Wenn wir es schaffen könnten, unterhalb dieser Über-schriften pragmatische Lösungen im Gesetzgebungsver-fahren zu finden, fände ich das den Schweiß der Edlenwert. Deshalb ist meine Bitte, sich nicht schon am An-fang des Jahres in die Schützengräben einzumauern,sondern zu schauen, ob und wie wir zusammenkommenkönnen. Denn ich sage ganz deutlich: Wir alle tragenVerantwortung für das Gelingen der Energiewende.Nicht nur Regierungsfraktionen, sondern auch die Oppo-sition trägt Verantwortung für die Zukunft dieses Lan-des. Meine herzliche Einladung an zumindest diesen Teilder Opposition, an die Grünen – nicht an die Linken, dahabe ich die Hoffnung aufgegeben –, ist, daran mitzu-wirken.
– Ich will es einmal ganz deutlich sagen, Frau Bulling-Schröter: Unterhalten Sie sich doch beispielsweise ein-mal mit Ihrem Kollegen, dem Wirtschaftsminister vonder Linkspartei in Brandenburg. Er hat eine grundlegendandere Vorstellung von Energie- und Wirtschaftspolitik,weil er mehr mit der Praxis von Industrie in Branden-burg befasst ist als Sie offensichtlich hier im DeutschenBundestag.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die
Unionsfraktion.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!Herr Krischer, Sie haben am Anfang und auch zumSchluss Ihrer Rede den Konsens beschworen. Das fandich sehr gut. In der Tat, wir haben einen breiten Konsensin diesem Haus, nämlich dass wir die Umstellung derEnergieversorgung in Deutschland vorantreiben wollen.Dazu brauchen wir – auch das haben Sie gesagt – dieAkzeptanz der Menschen. Wir dürfen aber mit dem Um-bau der Energieversorgung in Deutschland – auch dashaben Sie gesagt – den Wirtschaftsstandort Deutschlandnicht gefährden.
Wir sind ebenfalls einer Meinung, dass Strom keinLuxusgut werden darf, weder für die Familien noch fürdie Rentnerinnen und Rentner noch für die Studenten,aber schon gar nicht für die Unternehmen. Der Anteilder Industrie an der Wertschöpfung in Deutschland be-trägt nun einmal 23 Prozent. Das ist immerhin doppelt so
Metadaten/Kopzeile:
556 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Jens Koeppen
(C)
(B)
viel wie zum Beispiel in Frankreich, in Großbritannienoder den Vereinigten Staaten von Amerika.Ich finde es gut, dass Sie in Ihrem Antrag eindeutiggeschrieben haben, dass Sie die besonderen Ausgleichs-regelungen im Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht an-greifen wollen. Sie wollen es auch dabei belassen. Siehaben sogar geschrieben – ich zitiere –, dass es eine„sinnvolle ordnungspolitische Maßnahme“ ist. Das be-grüßen wir außerordentlich. Das sind ja auch Maßnah-men, die Sie auf den Weg gebracht haben.
– Das haben Sie in Ihrem Antrag geschrieben. – Den-noch häufen sich, Frau Lemke, wie schon in der17. Wahlperiode die Widersprüche in Ihren Anträgen.Der Antrag ist ja auch bloß ein bisschen „refreshed“; siehaben ihn schon mehrmals vorgelegt. Wir haben bereitsmehrmals darüber gesprochen. Sie haben den Antragjetzt ein bisschen aufpoliert. Das ist völlig in Ordnung.
Sie schreiben, dass die hohen Kosten für die EEG-Umlage und der fortlaufende Anstieg der Kosten denbesonderen Ausgleichsregelungen für energieintensiveUnternehmen angelastet werden muss. Das ist eine Be-hauptung. Sie behaupten auch – das können wir so nichtstehen lassen –: Mit der EEG-Novelle 2012 wurde dieRegelung massiv ausgeweitet.
Machen wir doch einmal einen Faktencheck. Sie be-schreiben es als überbordend und ausufernd; das habenSie auch in Ihrer Rede so zitiert. Die Kriterien, HerrKrischer, sind genau die gleichen geblieben wie bei Ih-nen:
die Strommenge – dazu komme ich gleich noch genauer –;es muss produzierendes Gewerbe sein, und es muss einUnternehmen sein, das im internationalen Wettbewerbsteht. Wir haben in der Novelle 2012 lediglich eine Mit-telstandskomponente hinzugefügt. Wir haben gesagt:Die Strommenge sinkt von 10 Gigawattstunden auf 1 Gi-gawattstunde.
– Ich komme dazu. – In der Tat sind es mehr Unterneh-men geworden. Das ist doch Sinn und Zweck der Übunggewesen. Aber, wie Herr Kollege Bareiß schon gesagthat, die Strommenge ist in vier Jahren, vom Jahre 2010bis zum Jahre 2013, um 10 Prozent gestiegen: von genau86,6 Gigawattstunden auf 95,3 Gigawattstunden. Dasheißt, die Novelle 2012 hatte eine Erhöhung der EEG-Umlage von 0,2 Cent zur Folge. Das sind für einenDurchschnittshaushalt im Monat 60 Cent. Dafür bekom-men wir aber einen international wettbewerbsfähigenMittelstand und sichern die Arbeitsplätze in Familienun-ternehmen. Das sollte es uns wert sein.
Jetzt kommen wir zu Ihrer zweiten Behauptung. Siesagen, die Novelle von 2012 hätte völlig neue Branchen,insbesondere die böse Braunkohleindustrie, in dieseListe gespült.
– Das haben Sie so geschrieben; ich kann das zitieren. –Machen wir einmal den Faktencheck: Vor 2012, vor derNovelle, standen sechs Unternehmen der Braunkohlein-dustrie auf dieser Liste. Jetzt dürfen Sie raten, wie vielees heute sind! Sechs. Sie beklagen, dass diverse Unter-nehmen der Fleischindustrie plötzlich dort auftauchen.Vor 2012 waren genau die gleichen Unternehmen auchdrin.
Sie beklagen außerdem, dass vor 2012 49 Schienen-bahnen dort auftauchten. Heute sind es 53; das sind 4mehr.
Wieso können Sie sagen, dass neue und überbordendviele Unternehmen in diese Liste gespült worden sind?Das ist nicht der Fall.
Kommen wir zu Ihrer dritten Behauptung; wir sindbereits darauf eingegangen. Sie sagen: Alle Betriebezahlen lediglich 0,05 Cent pro Kilowattstunde, und diebesonderen Ausgleichsregelungen sind schuld an derHöhe der Umlage von 6,24 Cent.
Machen wir auch hier den Faktencheck: Es gibt eine ein-deutige Staffelung. Bis zu 1 Gigawattstunde wird von al-len Betrieben die volle Höhe bezahlt. Bis 10 Gigawatt-stunden sind es 10 Prozent, und bis 100 1 Prozent. Erstab 100 Gigawattstunden kommen die 0,05 Cent zumTragen. Das heißt: Die Summe der besonderen Aus-gleichsregelungen macht zurzeit 1,35 Cent aus. Das sind4 Euro pro Monat pro Durchschnittshaushalt.Herr Krischer, lassen Sie uns das einmal durchrech-nen. Sie sagen, das ist eine Milchmädchenrechnung,aber die Zahlen sagen etwas anderes. Würden wir dieRücknahme dieser besonderen Ausgleichsregelungenveranlassen und somit eine Deindustrialisierung inDeutschland riskieren, würden wir – Stand heute – aufeine EEG-Umlage von 5 Cent kommen, und die Haus-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014 557
Jens Koeppen
(C)
(B)
halte würden 4 Euro einsparen. Wollen wir das riskie-ren? Ich denke, nein.
Herr Krischer, ich habe noch eine Empfehlung an Sie.Machen wir einmal Folgendes – dann kommen wir näm-lich vom Theoretischen ins Praktische –: Wir setzen unshin, nehmen die Liste und gucken uns alle Betriebe in al-len Bundesländern an, die beim Bundesamt für Wirt-schaft und Ausfuhrkontrolle verzeichnet sind. Das ma-chen wir mit den Unternehmen in Ihrem Wahlkreis, inmeinem Wahlkreis, in allen Wahlkreisen – ohne Aus-nahme. Wir gucken uns alle an.
Dann sagen wir, welches Unternehmen die drei Krite-rien, die Sie und wir eingeführt haben, nicht erfüllt.Dann machen wir den Faktencheck und sagen: DieseUnternehmen sollen nicht mehr von der Ausgleichsrege-lung profitieren.
In meinem Wahlkreis gibt es zwei Papierfabriken, siestehen nebeneinander. Die eine hätte von einem Jahraufs andere 15 Millionen Euro zusätzliche Kosten;
das betrifft übrigens ungefähr 1 000 bis 1 200 Arbeits-plätze. Das heißt: Wenn diese Firmen die EEG-Umlage– so ist ja Ihr Wunsch – jetzt komplett bezahlen sollen,dann würde das eine hundertfache Erhöhung bedeuten.Denn alle mittelständischen Papierfabriken zahlen zur-zeit 125 000 Euro EEG-Umlage. Wenn diese Regelungwegfallen würde, dann wären das mit einem Schlag12,5 Millionen Euro. Wissen Sie, was die Vertreter vonUPM-Kymmene aus Finnland dann zu mir sagen? Siesagen schlicht und ergreifend: Das kann niemand wol-len. – Die schließen dann ab und schmeißen den Schlüs-sel weg, ohne sich umzudrehen. Das wird nämlich pas-sieren, und das werden wir nicht riskieren.
Kollege Koeppen, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Krischer?
Selbstverständlich.
Herzlichen Dank. – Herr Kollege Koeppen, was Sie
hier jetzt aufmachen, hat mit unserem Antrag alles gar
nichts zu tun. Wir schlagen schließlich vor, dass man
sich an der Strompreiskompensationsrichtlinie orientie-
ren soll. Darin werden Betriebe wie zum Beispiel die Pa-
pierindustrie erwähnt, die dann nach wie vor in den Ge-
nuss der besonderen Ausgleichsregelungen kommen. Ich
frage Sie: Warum haben Sie eben bei Ihrer Berechnung
der Kosten der besonderen Ausgleichszahlungen die Zahl
von 1,35 Cent genannt, die angeblich die Gesamtsumme
der besonderen Ausgleichsregelungen ausmacht? Ich würde
eine andere Zahl nennen – aber geschenkt.
Wie erklären Sie, dass der Börsenpreis für Strom
durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz, durch den Me-
rit-Order-Effekt, durch den Ausbau der erneuerbaren
Energien von 8 Cent im Jahr 2008 auf inzwischen unter
4 Cent gesunken ist? Davon profitieren diese Unterneh-
men. Wir haben ja die Situation, dass beispielsweise in
den Niederlanden eine Aluhütte Insolvenz anmelden
muss, weil in Deutschland die Industriestrompreise ge-
sunken sind. Wie erklären Sie diese Zusammenhänge?
Herr Krischer, Sie wissen doch ganz genau, dass dasProblem mit dem Differenzstrom und der Merit-Order-Effekt die Urkrankheiten des EEG sind. Genau deswe-gen müssen wir es doch anfassen!Herr Krischer, wenn Sie den Börsenstrompreis alsden Industriepreis für Deutschland nehmen und sagen:„Deutschland geht es am besten“ und dabei die übrigenFaktoren, die auch mit in den Strompreis eingehen, igno-rieren, dann sind Sie auf dem Holzweg. Es ist eben nichtnur der Börsenstrompreis, der bezahlt werden muss. Esist in Deutschland eben auch die EEG-Umlage, die be-zahlt werden muss. Der Grund, aus dem wir die Unter-nehmen davon befreien wollen, ist nicht, dass wir wol-len, dass die Haushalte 4 Euro mehr bezahlen, um die„fette Industrie“ zu unterstützen, sondern, dass wir dieArbeitsplätze im Land halten wollen. Denn die Unter-nehmen würden sonst nichts anderes tun, als abzuschlie-ßen und aus dem Land zu gehen. Sie würden sich nichteinmal umdrehen, um zu gucken, wo der Schlüssel ist,sondern sie würden einfach gehen. Dazu gibt es eindeu-tige Aussagen. Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen– auch wenn Sie alle jetzt so entrüstet den Kopf schüt-teln: Sie müssen sich wirklich einmal mit den Industrie-betrieben und mit den mittelständischen Betrieben unter-halten –;
deswegen haben wir die Mittelstandskomponente einge-führt.
Ich will abschließend sagen, Herr Krischer: Wenn Siein Ihrem Antrag schreiben, Sie wollen das EEG versteti-gen, Sie wollen das EEG konservieren und Sie wollen esauch zementieren – es soll also nicht angefasst werden –:Das führt in die Sackgasse.
– Sie haben geschrieben, dass das letztendlich so verste-tigt werden soll.
Metadaten/Kopzeile:
558 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2014
Jens Koeppen
(C)
Wir brauchen – darauf haben wir uns in der Koalitionverständigt – eine grundlegende – ich lege Wert darauf:eine grundlegende – Reform des EEG. In diese Reformmuss Eingang finden, dass wir die technologischenInnovationen nach vorne bringen. Wir müssen die Ener-gieeffizienzmaßnahmen weiterhin im Blick haben.
Wir müssen hin zur Vergütung der Energieversorgungund weg von der Vergütung der reinen Installation undErzeugung. Wir müssen endlich wieder nutzbare Energiefördern. Der Ausbau muss bedarfsgerecht mit der vor-handenen, aber vielleicht auch mit der neuen Netzinfra-struktur synchronisiert werden.Meine Damen und Herren, ein Ausbau auf der grünenWiese ohne Abnehmer muss der Vergangenheit angehö-ren. Wir brauchen die Akzeptanz der Menschen. Wirbrauchen innovative Ideen statt Besitzstandswahrung.Wenn Sie den Konsens, den Sie vorhin beschworen ha-ben, wollen, dann sind Sie herzlich eingeladen, mitzu-machen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/291 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages be-
rufe ich auf Mittwoch, den 29. Januar 2014, 11 Uhr, ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bereits am Montag,
dem 27. Januar 2014, findet um 14 Uhr hier im Plenar-
saal die Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundesta-
ges für die Opfer des Nationalsozialismus statt.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen bis
dahin alles Gute.