Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie herzlich.Es ist heute nur darauf hinzuweisen, dass es eine in-terfraktionelle Vereinbarung gibt, die verbundene Tages-ordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführtenPunkte zu erweitern:ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP VIa) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Volker Beck , IngridHönlinger, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung einesRegisters über unzuverlässige Unternehmen
– Drucksache 17/11415 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Innenausschuss Federführung strittigb) Beratung des Antrags der Abgeordneten OmidNouripour, Volker Beck , Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDen am 12. September und am 4. Oktober2001 ausgerufenen NATO-Bündnisfall been-den– Drucksache 17/11555 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-spracheErgänzung zu TOP VIIBeratung des Antrags der Abgeordneten GabrieleGroneberg, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDWertschöpfung im ländlichen Raum absi-chern – Erzeugung und Einsatz reiner Pflan-zenöle in der Land- und Forstwirtschaft aus-bauen– Drucksache 17/11552 –Wie in solchen Fällen üblich, soll dabei von der Fristfür den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, ab-gewichen werden.Gibt es dazu schon zu diesem frühen Zeitpunkt desTages größeren Widerstand? – Das ist nicht der Fall.Dann ist das damit so vereinbart.Wir setzen nun die Haushaltsberatungen – Tagesord-nungspunkt I – fort:a) Zweite Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2013
– Drucksachen 17/10200, 17/10202 –b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus-haltsausschusses zu der Unterrich-tung durch die BundesregierungFinanzplan des Bundes 2012 bis 2016– Drucksachen 17/10201, 17/10202, 17/10826 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider
Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz
Ich rufe Tagesordnungspunkt I.14 auf:Einzelplan 09Bundesministerium für Wirtschaft und Tech-nologie
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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– Drucksachen 17/10809, 17/10823 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael LutherKlaus BrandnerDr. Florian Toncar Roland ClausPriska Hinz
Zu diesem Einzeletat liegt ein Änderungsantrag derSPD-Fraktion vor.Interfraktionell ist eine Aussprache von zwei Stundenvorgesehen. – Auch dies findet offenkundig große Zu-stimmung. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Klaus Brandner für die SPD-Frak-tion.
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meinelieben Kolleginnen und Kollegen!
– Es ist immer sehr schön, zu hören, dass man freundlichdabei ist.Bevor ich zum Haushalt komme, möchte ich es nichtversäumen, mich zuallererst wirklich aufrichtig bei denBerichterstattern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern des Haushaltsreferats im Wirtschaftsministeriumund auch bei Ihnen, Herr Minister, für die offene undfaire Zusammenarbeit zu bedanken. Sie war, wie immer,durch Vertrauen geprägt, auch wenn es inhaltlich durch-aus Unterschiede gibt. Die Zusammenarbeit auf dieserEbene war in der Tat sehr ordentlich; ich finde, so musses auch sein.Heute gilt es, Resümee zu ziehen. Der Bundesminis-ter hat Deutschland noch im letzten Jahr in der Haus-haltsdebatte als die „Wachstumslokomotive in Europa“gelobt.
So schwach, wie diese Lokomotive inzwischen auf derStrecke ist, müssen selbst Sie von den Koalitionsfraktio-nen sagen: Da fehlt es ein bisschen an Kohle und Befeue-rung. – Von Wachstumslokomotive kann ja nun wahrlichkeine Rede mehr sein.Beim Wirtschaftswachstum treten wir auf der Stelle.Die Konjunkturprognosen der EU sprechen von einemrückläufigen Bruttoinlandsprodukt, und auch die stei-gende Arbeitslosenquote ist signifikant.
Auch die Eckdaten des Sachverständigenrates zeichnenfür Deutschland ein schlechtes Bild, sowohl beim Brut-toinlandsprodukt als auch – man höre! – bei den Kon-sumausgaben, die rückläufig sind. Bei einem Rückgangder Investitionen, insbesondere auch der Ausrüstungsin-vestitionen, und einem sehr deutlichen Rückgang derExporte
verzeichnen wir zudem steigende Arbeitslosenzahlen.Das muss uns alarmieren.
– Sie mögen das ja verhöhnen, Herr Lindner, aber uns istschon aufgefallen, dass die Arbeitslosenzahlen vor demHintergrund der konjunkturellen Entwicklung steigen.Wenn Sie mit Ihrer Lächerlichkeit, die Sie hier preisge-ben, deutlich machen wollen, dass Sie die Lage nicht alsernst bezeichnen, dann tut es mir leid; denn dann sindSie nicht auf der Höhe der Zeit, Herr Lindner.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,keiner kann darüber hinwegtäuschen, dass die Unterneh-men weniger Expansionspläne haben. Viele Unterneh-men denken über Jobabbau nach. In dieser Ausgangssi-tuation legen Sie einen wenig ambitionierten Haushaltvor, der keine besonderen Impulse für ein dauerhaftes,nachhaltiges Wachstum setzt. Der Haushalt ist kraftlosund nicht ambitioniert. Zusätzliche Wachstumsimpulsesucht man in der Tat vergebens.Herr Bundesminister, ich finde, diese Entwicklungwar absehbar. Es war absehbar, dass die Folgen der Fi-nanzkrise vor Deutschland nicht haltmachen würden.Natürlich hat diese Krise auch Auswirkungen auf unserewirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Situation.
Ihre Aufgabe wäre gewesen, hierfür Vorsorge zu treffen,auch in dem Wissen, dass Reformen, die man heute an-geht, erst nach einem Jahr oder sogar noch später greifenwerden. Jetzt geht die Reise rückwärts. Und was tun Sie?Ein aktiver Gestaltungswille ist jedenfalls im Haushaltdes Wirtschaftsministeriums nicht erkennbar.Auch im letzten Jahr haben Sie willkürlich und zag-haft überall ein bisschen verändert. Man konnte den Ein-druck gewinnen, hier bewegt sich etwas. Aber es wareben überall nur ein bisschen: ein bisschen hier gekürzt,ein bisschen da zugegeben. Eine erkennbare Linie warnicht gegeben. Schon gar nicht haben Sie die Spielräume
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Klaus Brandner
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genutzt, um ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstumzu aktivieren.Als Beispiel sei nur die Steinkohlebeihilfe zu nennen.Wegen der anhaltend guten Weltmarktpreise ist es mög-lich, die Mittel dafür im Haushalt 2013 sogar um 52 Mil-lionen Euro zu kürzen.
Diese 52 Millionen Euro fallen Ihnen quasi in denSchoß.
Doch auch von diesen 52 Millionen Euro nutzen Sie nureinen geringen Teil, um zum Beispiel die Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk-tur“ aufzustocken. Hier wäre es ein Leichtes gewesen, un-serem Antrag zu folgen und die benötigten Mittelzumindest wieder wie auf Vorjahresniveau zur Verfügungzu stellen.
Schließlich, so sei deutlich angemerkt, ist die GRW einWachstumstreiber.Bei den Haushaltsberatungen vor zwei Wochen habenSie noch verkündet, dass für die schwarz-gelbe Koali-tion der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundeslän-dern nach wie vor hohe Priorität habe. Die Realität istaber eine andere. Wo Mut und Entschlossenheit gefragtsind, wo Sie Gas geben müssten, da kommen Sie nur imKriechgang voran. Schaut man sich die Zahlen für dieGRW aus den letzten Jahren an, so stellt man fest, dasshier kontinuierlich gekürzt wurde.Dass wir uns überhaupt noch auf dem heutigen Ni-veau befinden, ist insbesondere dem Engagement derSPD und, wie ich meine, auch dem Abgeordneten Lutherzu verdanken, der sich immer wieder für eine ausrei-chende Finanzausstattung im Bereich der GRW ausge-sprochen hat.
Ja, der Ansatz für das Zentrale InnovationsprogrammMittelstand wird um 11 Millionen Euro erhöht. Das be-grüßen wir natürlich. Dennoch kann eine Erhöhung beimZIM kein Ersatz für eine Kürzung bei der GRW sein. ImÜbrigen muss deutlich sein, dass man zwei sinnvolleFörderprogramme nicht gegeneinander ausspielen darf,sondern dass sie sich sinnvoll ergänzen müssen.
Meine Damen und Herren, Wachstumsimpulse ver-misse ich auch bei der Energiewende. Der Koalitions-vertrag von 2009 sieht noch ein neues Energiekonzeptvor. Wir alle wissen, dass das zwischenzeitlich bei Ihnenmehrmals hin und her gegangen ist. Am Anfang setztenSie auf Atomstrom. Jetzt setzen Sie auf den schnellenAusstieg. Das ist gut so. Aber die Hausaufgaben dazuhaben Sie nicht gut gemacht.Sie sagen, Sie wollen eine szenarienbezogene Leitli-nie für eine saubere, zuverlässige und bezahlbare Ener-gieversorgung entwickeln. Was ist eigentlich davon üb-rig geblieben?
Sie wollen eine Erhöhung der Energieeffizienz. Was istdavon übrig geblieben?
Das hört sich zwar schön an, aber erreicht haben Sie indiesem Bereich nach drei Jahren nicht viel.Die Energiewende – das wissen wir – ist eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe. Das Ziel muss sein, bezahl-bare Energie zur Verfügung zu stellen und Versorgungs-sicherheit herzustellen. Aber dazu fehlt Ihnen einMasterplan. Es fehlt eine vernünftige Koordinierung derEnergiekonzepte zwischen Bund und Ländern.Während Bayern beispielsweise auf Autarkie setztund am liebsten den Strom, der dort verbraucht wird,vollständig selbst herstellen möchte, möchte Schleswig-Holstein selbstverständlich den Strom, den es in den Off-shorewindparks erzeugt, an die ganze Bundesrepublikverteilen. Das passt nicht zusammen. Hier muss einschlüssiges Gesamtkonzept her. Das schreit geradezunach Koordinierung, zu der Sie bisher keine ausreichen-den Beiträge geleistet haben.Weiterhin stellt sich die Frage, wie es vereinbar ist,dass Sie erneuerbare Energien ausbauen und die Effi-zienz erhöhen wollen, aber gleichzeitig die Mittel fürEnergieforschung um annähernd 5 Prozent und die Mit-tel für Energieeffizienz um 2 Prozent kürzen. Auch imweiteren Verlauf der Haushaltsberatungen haben Sienicht die Kraft besessen, dem Einhalt zu gebieten, diesenfalschen Weg zu verlassen und deutlich zu machen, dassSie das, was Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben,durch finanzielle Unterlegung tatsächlich umsetzen kön-nen. Ich finde, das ist ein fatales Signal.
Noch können Sie auf eine zentrale Voraussetzung fürdas Gelingen der Energiewende – die Akzeptanz und dieUnterstützung durch die Mehrheit der Bevölkerung – zu-rückgreifen. Diese Chance nutzen Sie aber nicht. DieAkzeptanz beim Netzausbau schwindet. Wegen fehlen-der Koordinierung blühen die Einzelinteressen. Wir erle-ben überall in unseren Wahlkreisen, dass da, wo Netz-ausbau stattfinden soll, der Ruf nach gallischen Dörfern,nach Selbstversorgung, nach Autarkie zu hören ist. Oftwird auf den kompletten Erdkabelausbau gesetzt. DerZickzackkurs, den Sie eingeschlagen haben, hat dazu ge-führt, dass die Akzeptanz für die Energiewende immerweiter schwindet. Das haben Sie, Herr Minister, alleinezu verantworten.
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25364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Klaus Brandner
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Da hilft es auch nicht, wenn Sie sagen, dass Sie dafürSorge tragen wollen, dass neue Trassen anstatt in zehn invier Jahren gebaut werden können, und dass Sie das da-durch erreichen wollen, dass über Klagen gegen denNetzausbau sofort höchstrichterlich entschieden werdensoll und dass Sie Umweltauflagen zeitweise außer Kraftsetzen wollen. Das ist gerade kein Paradebeispiel für or-dentliche Bürgerbeteiligung. Dabei können Sie nicht aufunsere Unterstützung zählen.
Sie werden natürlich sagen: Ihr habt die EEG-Umlageeingeführt. – Das ist ein richtiger Schritt gewesen. Wirhaben das mit Augenmaß gemacht. Ihre ausuferndenAusnahmeregelungen für Unternehmen führen dazu,dass die privaten Verbraucher am Ende derart belastetwerden, dass auch aus diesem Grund die Akzeptanz fürdie Energiewende schwindet. Einzig erfreulich in diesemZusammenhang ist der Aufwuchs an Personal bei derBundesnetzagentur. Diese Erhöhung ist wichtig. Damitist ein Beitrag geleistet, dass die Aufgaben dort zukünf-tig schneller und kompetenter erledigt werden können,damit die Energiewende doch noch gelingt.Ein anderes Beispiel dafür, dass Wachstumschancenvergeben werden, ist die Förderung der Existenzgrün-dung. In der Tat gibt es gerade durch Existenzgründun-gen gute Möglichkeiten, dringende Wachstumsimpulsezu setzen. Doch indem Sie die Aufhebung des Gewinn-ausschüttungsverbots der KfW beschließen, sorgen Siedafür, dass erstens die Eigenkapitaldecke der KfWschwindet und zweitens die Möglichkeiten für das För-dergeschäft erheblich eingeschränkt werden.
Herr Kollege, Sie denken bitte an Ihre Redezeit.
Damit sorgen Sie dafür, dass ein weiterer wichtiger
Beitrag für Wachstumsimpulse durch Ihre Politik der an-
geblichen Haushaltskonsolidierung unterlaufen wird.
Die Wachstumslokomotive, die wir jetzt dringend brau-
chen, wird dadurch nicht gestärkt, sondern geschwächt.
Sie haben im Haushalt zu wenig Wachstumsimpulse ge-
setzt und zu wenig Zukunftsvorsorge getroffen. Deshalb
können wir den Haushalt in dieser Form nicht mittragen.
Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Bundesminister für Wirt-schaft und Technologie, Philipp Rösler.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Zunächst einmal möchte ich michebenfalls bei den Berichterstattern für die vertrauens-volle und gute Zusammenarbeit bedanken.Trotzdem wundere ich mich ein bisschen, sehr geehr-ter Herr Abgeordneter Brandner, über das eben Gesagte.Schauen Sie sich die Zahlen doch einmal ganz in Ruheund objektiv an – Sie sind doch auch Haushälter –: dieniedrigste Arbeitslosigkeit seit mehr als 20 Jahren,
die höchste Beschäftigung überhaupt in der Geschichteunseres Landes,
1 Million Arbeitsplätze mehr als zu Ihrer Regierungs-zeit.
Deutschland geht es gut. Den Menschen geht es gut.Diese Regierungskoalition steht dafür, dass genau diesauch in Zukunft so bleibt.
Natürlich wissen wir alle, Herr Brandner: Die Zeitenwerden schwieriger,
zurückgehende Wachstumsdynamik in allen Regionender Welt, auch in Europa und in der Euro-Zone. Des-wegen ist es unsere Aufgabe, alles dafür zu tun, dieWachstumskräfte zu stärken und gleichzeitig die Euro-Zone weiter zu stabilisieren.
Genau das werden wir erreichen. Dabei sind wir gemein-sam auf gutem Wege.Alle europäischen Staaten arbeiten daran, ihreHaushalte in den Griff zu bekommen, anders als dieOpposition im Deutschen Bundestag. Gleichzeitig wirdversucht, durch strukturelle Reformen auf dem Arbeits-markt,
in den sozialen Sicherungssystemen, in der Verwaltungund bei der Privatisierung die Schwierigkeiten zu lösenund durch eigenes Wachstum aus den selber gemachtenSchulden wieder herauszukommen.
Ihr Weg der Konjunkturpakete, noch dazu durchSchulden finanziert, ist falsch; er ist eine Sackgasse.
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Das zeigt, dass es gut ist, dass Sie keine Verantwortungtragen, weder in Deutschland noch für Europa.
Die beste Basis für mehr Wachstum sind natürlichsolide Haushalte. Das gilt zuallererst auch für den Bun-deshaushalt.
Was haben die Grünen auf ihrem Bundesparteitag be-schlossen? Ein neues Motto: „Grün statt Sparen“. Ichfinde das angesichts einer weltweiten Krise aufgrund zuhoher Staatsschulden nicht witzig oder lustig.
Es ist zynisch, meine Damen und Herren, wenn mansieht, wie sehr Sie die Gefahr, die von Staatsschuldenausgeht, unterschätzen.
Sie sind die parteigewordene Verschuldung inDeutschland.
Deswegen will ich Ihnen eines sagen: Ihre Schulden füh-ren am Ende immer genau zu dem, was Sie danach ineinem zweiten Schritt fordern, nämlich neue Steuern undAbgaben, weil Sie irgendwie die Schulden, die Siegemacht haben, wieder decken müssen. Das führt zuweiteren Belastungen. Das beste Beispiel ist doch Ihremerkwürdige Idee einer Vermögensabgabe bzw. in derFolge eine Vermögensteuer.
Man kann immer über Ertragsteuern diskutieren – zu-gegebenermaßen nicht mit uns. Aber über eine Sub-stanzsteuer sollten wir alle gemeinsam nicht reden. Dennsie trifft gerade den unternehmerischen Mittelstand inDeutschland und die gesellschaftliche Mitte gleicherma-ßen.
Was tun Sie denn für die Wettbewerbsfähigkeit inDeutschland? Nichts. Die Regierungsfraktionen habengehandelt,
als es zum Beispiel darum ging, ein Hauptproblemgerade für den Mittelstand zu lösen. Sprechen Sie mitmittelständischen Unternehmerinnen und Unterneh-mern!
Sie werden Ihnen sagen: Wir brauchen zuallererstSpezialisten, Techniker und natürlich auch Akademiker;wir brauchen Fachkräfte.
Wir arbeiten gemeinsam daran durch Hebung des in-ländischen Fachkräftepotenzials. Aber gleichzeitigkämpfen wir auch für die qualifizierte Zuwanderung inden ersten Arbeitsmarkt.
All das, was wir auf den Weg gebracht haben – unserWillkommensportal, aber auch die gezielte Suche nachZuwanderern aus einzelnen Staaten, ob Indonesien, In-dien oder Vietnam; da kommen übrigens hervorragendeFachkräfte her –, leisten wir gemeinsam,
auch mit dem vorliegenden Haushalt für 2013. Denn wirwissen: Eine der Hauptwachstumsbremsen ist der Fach-kräftemangel in Deutschland.Diese Regierungskoalition handelt. Wir sorgen dafür,dass es auch künftig Fachkräfte geben kann, die zu unskommen und willkommen sind, weil sie einen Beitragdazu leisten, für unser Wachstum in Deutschland, fürWohlstand und Beschäftigung.
Herr Brandner, Sie haben die Energiepolitik ange-sprochen. Ich habe, um auf den großartigen Parteitag zu-rückzukommen,
bei den Grünen gelesen, dass dort ein Antrag verabschie-det wurde: Wo erneuerbare Energien wachsen, weichtdie Kohle. Das klingt ein bisschen wie ein Kirchenlied.Das ist der Einfluss von Frau Göring-Eckardt.Bei der Energiepolitik hilft aber nicht beten, sondernwir müssen handeln.
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25366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Wir müssen bei den Hauptkostentreibern bei den Strom-preisen in Deutschland ansetzen. Wir brauchen einegrundlegende Reform des Gesetzes zur Förderung dererneuerbaren Energien.
Anders werden wir die Strompreise nicht in den Griffbekommen. Dazu haben wir uns gemeinsam entschlos-sen.
Geradezu absurd ist Ihr Vorwurf, wir würden nichtsim Bereich der Energieeffizienz machen.
Mit der Verbesserung der steuerlichen Absetzbarkeitstellen wir 1,5 Milliarden Euro zur Förderung der Ener-gieeffizienz zur Verfügung. Ein Regierungsentwurf dazuliegt im Vermittlungsausschuss.
Und wer blockiert diesen Entwurf aus rein ideologischenGründen? Das sind die Kollegen von der Opposition. Esist doch unglaubwürdig, wenn hier jetzt Maßnahmen zurEnergieeffizienz gefordert werden.
Wenn es darauf ankommt, dann können sich die Men-schen eben nicht auf Rote und Grüne, schon gar nichtauf die Linken, verlassen, auch nicht bei dem ThemaEnergieeffizienz.
Wenn wir schon beim Thema Vermittlungsausschusssind: Wer Wachstumskräfte stärken will, der stärkt dieje-nigen, die Wachstum für unser Land möglich machen.
Das sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Deswegen haben wir einen Gesetzentwurf zur Bekämp-fung der kalten Progression auf den Weg gebracht. Wirwollen, dass gerade die Bezieher kleiner und mittlererEinkommen etwas von ihrer geleisteten Arbeit haben.Auch diesen Gesetzentwurf blockieren Sie im Bundes-rat. Ich frage mich: Was ist eigentlich aus der sozial-demokratischen Partei geworden, wenn sie aus parteitak-tischen und ideologischen Gründen eine Politik gegendie kleinen Leute in unserem Lande macht?
– Ich weiß, dass Ihnen das wehtut, Herr Kollege Heil,aber das ist nun einmal die Wahrheit. Sie haben längstvergessen, wer eigentlich in Deutschland die Leistungtatsächlich erbringt.
Deswegen werden wir alles dafür tun, um unserenUnternehmen neue Märkte zu erschließen. Ein gutesBeispiel ist die künftige Verschmelzung der Industrie– eine bekannte Stärke der deutschen Wirtschaft – mitmodernen Kommunikationstechnologien.
Wir nennen das Industrie 4.0, wenn Industrie und Tele-kommunikation miteinander verschmelzen.
– Ich weiß, Sie haben ganz aktuell einige Probleme mitTelekommunikation und IT-Beratern. – Aber das ist dieChance für die deutsche Industrie. Gerade hier setzenwir Akzente, auch mit dem vorliegenden Etat.
Es geht darum, junge, kreative Menschen und Unter-nehmen zu fördern. Wir wollen die Gründungskultur inDeutschland stärken.
Deswegen haben wir erstmals die Möglichkeit geschaf-fen, auf Risikokapital zurückzugreifen. Im nächsten Jahrstellen wir 30 Millionen Euro zur Verfügung, in derFolge 120 Millionen Euro, also 150 Millionen Euro zurFörderung kleiner und mittelständischer Unternehmen.Gerade wenn es darum geht, in dem hochinnovativenBereich der IT-Technologie neue Unternehmen zu för-dern, ist das sehr wichtig.
Das ist ein ganz konkretes Beispiel für die Stärkung desMittelstandes in Deutschland und für die Stärkung derneuen Industrien.
Fachkräftesicherung, Bezahlbarkeit von Energie,neue Chancen durch neue Märkte, durch Neugründun-gen, durch Innovation – all das zeigt, dass wir es natür-lich schaffen, die Wettbewerbsfähigkeit auch in schwie-rigen Zeiten weiter zu stärken. In Kombination mitsolidem Haushalten ist das der beste Weg, um fürWachstum auch in dem schwierigen Jahr 2013 zu sor-gen. Ihre Rezepte werden am Ende nicht funktionieren:nur neue Schulden, auch zulasten nachfolgender Genera-tionen, und Steuern und Abgaben zulasten aller Genera-tionen in unserem Lande.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25367
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Daran zeigt sich der entscheidende Unterschied zwi-schen der Opposition, die es auch ewig bleiben wird,
und der Regierungskoalition. Sie denken nur an dasUmverteilen, aber diese Koalition kämpft für diejenigen,die den Wohlstand, den wir erleben dürfen, alltäglich er-arbeiten. Wir denken an das Erwirtschaften. Es würdeIhnen gut anstehen, wenn Sie das Gleiche täten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Roland Claus ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Bundesminister Rösler, damit sich dieserIrrtum nicht bei Ihnen festsetzt und Sie die Oppositionim Deutschen Bundestag und die Kirchen gleich mitnicht weiter diskriminieren,
sage ich Ihnen hier eindeutig: Opposition ist Verantwor-tung und nicht Verantwortungslosigkeit. Das haben Siebis vor kurzem auch noch so gesehen. Daran muss manSie erinnern.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es angebrachtist, sich mit Schadenfreude über die Umfragewerte ande-rer Parteien zurückzuhalten. Dem will ich auch gernenachkommen. Aber es geht hier nicht um den Parteivor-sitzenden Philipp Rösler, sondern um den Bundeswirt-schaftsminister. Was Sie für Ihren Nebenjob versprochenhaben, Herr Minister, muss doch auch für das Minister-amt gelten: Sie wollten liefern. Mit Ihrem Etat und mitder Rede, die wir soeben gehört haben, sind Sie aber– das muss ich Ihnen so deutlich sagen – in einen einzi-gen Lieferstreik getreten, und das nehmen wir natürlichnicht hin.
Das würde Ihnen keine Opposition dieser Welt durchge-hen lassen und schon gar nicht die demokratische Linkeim Deutschen Bundestag.Sie sagen: Es ist alles gut am Arbeitsmarkt. Aber Faktist: Leiharbeit und Niedriglohn haben ein ungeheuresAusmaß angenommen. Dieses Ausmaß ist im Osten– daran will ich erinnern – doppelt so hoch wie im Bun-desdurchschnitt. Junge Leute beginnen ihr Arbeitslebenin aller Regel mit Zukunftsungewissheit. Sie erhaltenbeispielsweise im Gastronomiegewerbe Arbeitsverträgemit einer Laufzeit von zehn Monaten und sollen dann dierestlichen zwei Monate bei der Bundesagentur für Arbeitquasi überwintern. Gestern haben wir Ihre neue Losunggehört, wir hätten es hier mit der erfolgreichsten Bun-desregierung seit der Wiedervereinigung zu tun.
Das Bundespresseamt hatte die Losung der Woche for-muliert – das ist von Ihnen, nicht von mir –: DerAufschwung ist bei den Menschen angekommen. – Icherlebe immer wieder, dass Menschen, die in schlechtbezahlten Jobs arbeiten, diese Losungen und dieseSchönrederei als einen Zynismus und als eine Verhöh-nung ihres Lebens empfinden.
Ihr Haushaltsplan ist während der Beratungen leidernicht besser geworden. Aber wir haben redlich versucht,ihn zu korrigieren. Bei aller selbstkritischen Analyse, dieich unserem Antrag gegenüber noch einmal an den Taggelegt habe, musste ich feststellen: Es waren allesamtgute Vorschläge. Ich will Ihnen nur vier Beispielenennen:Erstens. Wir wollten uns dafür einsetzen, dass es einebessere Ausstattung des Bundeskartellamtes gibt. Das isteine Behörde, bei der interessanterweise jeder Euro, denman ihr zukommen lässt, 7 Euro hervorbringt. Eine bes-sere Ausstattung ist auch deshalb erforderlich, weil dasKartellamt bekanntlich dafür zuständig ist, den Wett-bewerb zu überwachen. Die Leute interessiert esmomentan wirklich sehr, ob es an den Zapfsäulen und anden Stromzählern mit rechten Dingen zugeht.
Es wäre also gut gewesen, unserem Antrag zu folgen.Ich bin mir ziemlich sicher: An diesem Vorschlag kom-men Sie nicht vorbei. Irgendwann werden Sie das Ganzeselber machen, und Sie werden sehen: Opposition wirkt;Opposition ist alles andere als Verantwortungslosigkeit.Mir wird zuweilen mit Blick auf das Kartellamt vorge-halten: Man darf das mit der Kontrolle nicht übertreiben.Ich gehe einmal davon aus, dass auch der Freiheits-begriff der Liberalen nicht die Freiheit zu Gesetzesver-letzungen meint.
Zweitens. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, im Be-reich von Luft- und Raumfahrt Subventionen abzu-bauen. Dieser Bereich wird gigantisch subventioniert.Sie protegieren hier staatsnahe Monopolisten, und dasmit einem FDP-Minister. Dass Ihnen das noch ein Sozia-list sagen muss, das ist ja nun wirklich ein dicker Hund.Mit diesen Subventionen fördern Sie auch die Rüstungs-
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Roland Claus
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produktion. Wir sagen Ihnen: Wer Rüstungsgüter produ-ziert, verdient natürlich auch am Gebrauch dieser Güter.Klarer gesagt: Rüstungsproduktion verdient am Krieg.Das wollen wir nicht. Sie haben zwar auch unsereAnträge, die sich darauf bezogen, abgelehnt, aber Siewerden damit wieder zu tun haben.
Drittens. Die Wirtschaft im Osten verdient mehrUnterstützung. Die Kürzung der Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – sieist hier schon angesprochen worden – betrifft zu sechsSiebteln den Osten. Deshalb unterstützen wir auch dieAnträge, die Mittel für diese Aufgabe wieder auf das bis-herige Niveau anzuheben.Ich muss Ihnen noch eine Vorhaltung machen. Sie ha-ben vollmundig verkündet, bis zum Jahre 2019 500 Mil-lionen Euro mehr für die Forschung in Ostdeutschlandeinzubringen. Das hat natürlich auch mit Ihrem Etat zutun, Herr Minister Rösler. Wir haben einmal nachge-schaut, was genau passiert ist. Ich wiederhole: 500 Mil-lionen Euro zusätzlich waren versprochen. Was habenSie gemacht? Sie haben alles, was bisher schon vorhan-den ist, neu sortiert, haben neue Überschriften formu-liert. Sie haben es gerade einmal geschafft, im Etat für2013 zusätzlich 10 Millionen Euro – versprochen waren500 Millionen Euro – einzustellen. Das kann man Ihnennicht durchgehen lassen.
Viertens. Wir haben angesichts komplizierter wirt-schaftlicher Entwicklungen, die bevorstehen, vorge-schlagen, wenigstens die Kriseninstrumente auf Stand-by zu stellen, also sicherzustellen, dass man das Arbeits-losengeld I schnell abrufen könnte, dass man den Inves-titions- und Tilgungsfonds und Konjunkturprogramme,so wie Sie es eben getan haben, nicht diskriminiert, son-dern gewissermaßen vorhält. Auch diese Vorschläge ha-ben Sie abgelehnt.Meine Damen und Herren, die Linke will eine Wirt-schaftspolitik, die Mittelstand und ExistenzgründernChancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft,von der Beschäftigte sorgenfrei leben können, und die sozu mehr Stabilität und sozialer Gerechtigkeit gleicher-maßen beiträgt. Kleiner geht es nicht.Die Linke hat mindestens vier Alleinstellungsmerk-male, vielleicht auch Erfahrungsvorsprünge in Sachenvernünftiger Wirtschaftspolitik.
Erstens. Die Linke weiß genau, wie es nicht geht.
Es möge sich melden, wer mit mir in den Wettbewerbtreten will.
Zweitens. Die Linke will als Einzige die Übermachtder Finanzmärkte über die Realwirtschaft stoppen.
In dieser Woche haben wir bei den sogenannten Schat-tenbanken von einem Umsatz von über 50 BillionenEuro gehört. Da geht es nicht mehr um Regulieren, son-dern um Abschalten.
Drittens. Die Linke kann als einzige von sich sagen:Wir können auch Osten.
Die Linke ist die Einzige, die nicht von der Finanzbran-che und der Großindustrie Parteispenden einsteckt. Diewollen wir auch gar nicht.
Ihr Plan A von einer vernünftigen Wirtschaftsentwick-lung hat versagt. Es muss ein Plan B her.
Viertens. Auch der Nachbau des Westens im Ostenfunktioniert nicht. Deshalb brauchen wir einen neuen so-zialökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesell-schaft, bei dem Soziales und Ökologisches in der Tat zu-sammengehen. Das geht zu machen. Das geht immerauch anders, aber das geht nur mit links.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Michael Luther das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als die Debatte heute durch den KollegenBrandner eröffnet wurde, habe ich mich kurz orientiert,ob wir tatsächlich im Deutschen Bundestag sind. DerAdler zeigt mir, dass ich doch richtig bin. Dann ist HerrBrandner gedanklich woanders, vielleicht vor dem fran-zösischen Parlament oder dem spanischen Parlament.Wenn er davon redet, dass die Arbeitslosigkeit inDeutschland steigt, dann erinnere ich ihn daran, dass dierot-grüne Regierungszeit mit 5 Millionen Arbeitslosengeendet hat. Wir haben diese Zahl jetzt fast um dieHälfte reduziert.
Sie ist im Monatsvergleich von September bis Oktoberwiederum, wenn auch nur leicht, zurückgegangen. Ichweiß nicht, von wem Sie geredet haben, aus welchemLand Sie berichtet haben. Wir sind hier in Deutschland.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25369
Dr. Michael Luther
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Sie haben bezweifelt, dass Deutschland die Wachstums-lokomotive in Europa ist. Vielleicht schauen Sie tatsäch-lich einmal in andere Länder. Ich will Ihnen das an ei-nem Beispiel versuchen zu erklären. Schauen Sie sichdie Goethe-Institute in Südeuropa an:
in Spanien, in Portugal, in Griechenland. Sie könnensich kaum vor Leuten retten, die Deutsch lernen wollen.
Warum? Weil sie eine Chance für sich sehen, inDeutschland Arbeit zu finden. Das heißt also, die Men-schen außerhalb von Deutschland schätzen die Situationhier ganz anders ein. Deswegen stellt sich für mich dieFrage, über welches Land Sie in Ihrer Rede gesprochenhaben.
Meine Damen und Herren, ich will klar sagen: Wirstehen gut da in Europa. Wir bieten Chancen für dieMenschen in unserem Land. Sie haben Arbeit. Sie be-kommen Arbeit. Die Beschäftigungsquote ist so hochwie noch nie. Die Arbeitslosgenquote ist so niedrig wieseit langem nicht mehr. Das sind Fakten, an denen maneinfach nicht vorbeikommen kann. Dafür gab es auchGründe. Wir haben in Deutschland zeitig genug einenReformkurs eingeleitet, im Übrigen mit der SPD. Sie hatsich allerdings heute von den richtigen Erkenntnissenund den Fakten, die damals eingeleitet wurden, mittler-weile verabschiedet. Das ist das Wichtige und das We-sentliche. Die schwarz-gelbe Koalition hat in dieser Le-gislaturperiode mit ihrer soliden Konsolidierungspolitikganz konsequent diesen Weg fortgesetzt. Das Ergebnissehen wir heute: Deutschland steht so gut da, wie seitlangem nicht mehr.Meine Damen und Herren, darauf dürfen wir uns abernicht ausruhen, sondern wir müssen nach vorn schauen.Wie geht es weiter? Wir leben in einer globalen Welt,und eine globale Welt verändert sich. Dabei denke ichzum Beispiel an China, an Brasilien und an andere Län-der. Diese werden in einer globalen Welt immer stärker.Wir müssen uns darauf einstellen, dass es in Zukunft an-dere Wettbewerbsbedingungen gibt, und das machenwir. Das machen wir auch ganz konkret mit unseremHaushalt. Ich will mit ein paar Beispielen zeigen, wiewir diesen Prozess durch Haushaltspolitik unterstützen.Dabei denke ich an den Bereich Innovation, Mobilitätund Technologie sowie den Bereich der Spitzentechno-logie. So erhält zum Beispiel die Luft- und Raumfahrtim nächsten Jahr 35 Millionen Euro mehr. Die Opposi-tion hat in den Haushaltsberatungen bisher immer eineAbsenkung dieser Mittel verlangt. Ich glaube, Sie habennicht begriffen, dass es hierbei um Hightechförderunggeht. Das ist keine sinnlose Spielerei, vielmehr sind dieErkenntnisse der Hightechforschung, die wir heute ge-winnen, die Basis für die Wirtschaft von morgen.Ich denke auch an den Mittelstand, das Rückgrat un-serer Gesellschaft. Wir unterstützen die Forschungs-infrastruktur des Mittelstands mit 200 Millionen Euro.Das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, kurzZIM genannt, wird im nächsten Jahr über ein Volumenvon über einer halben Milliarde Euro verfügen. Das istmehr als am Anfang der Legislaturperiode.Ich denke aber auch an den Außenhandel. Als größteeuropäische Volkswirtschaft können wir auf eine über-zeugende Außenwirtschaftsförderung nicht verzichten.Aus vielen Gesprächen mit Mittelständlern weiß ich,dass wir gerade auf diesem Gebiet gut aufgestellt sind.Das Engagement auf internationalen Fach- und Indus-triemessen braucht keinen Vergleich zu scheuen. AlsHaushälter tragen wir auch gerne dafür Sorge. Auch dasneu gebündelte Programm „Erschließung von Auslands-märkten“ mit einem Volumen von 80 Millionen Euroleistet einen Beitrag zu diesem Erfolg.Da ich gerade beim Außenhandel bin, will ich an die-ser Stelle einen kleinen Einschub machen. In diesemJahr fand die Weltausstellung in Südkorea statt. Derdeutsche Pavillon hat zum zweiten Mal in Folge nachder Expo in Schanghai den ersten Preis gewonnen. Da-mit hat der deutsche Pavillon gezeigt, was Deutschlandist, nämlich ein Land, das in der Lage ist, Zukunftsfra-gen zu beantworten, und ein Land, das innovativ ist. Andieser Stelle möchte ich mich noch einmal recht herzlichbei der Mannschaft des BMWi bedanken.
Ich will noch ein Wort zur Energiewende sagen. DieEnergiewende ist und bleibt unsere gemeinsame wich-tige Herausforderung.
Die Bundesregierung hat beschlossen, dass wir weg vomAtomstrom wollen. Mittelfristig bedeutet das auch, dasswir weg wollen von fossilen Energieträgern und hin zuerneuerbaren Energien. Ein Anfang ist gemacht. Ich sageaber ganz bewusst: nur ein Anfang.
Ich weiß nicht, ob jedem hier im Haus und insbesonderejedem bei der Opposition wirklich klar ist, was es bedeu-tet, die Energiewende zum Erfolg zu führen.
Ich will eines unterstreichen, was der Minister auchschon gesagt hat. Das EEG hat bislang seine gute Wir-kung gezeigt. Es muss aber geändert werden; denn es isteine grenzenlose Angebotsförderung.
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25370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Dr. Michael Luther
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Deshalb muss das EEG geändert werden hin zu einernachfragegerechten Förderung; denn sonst wird uns dieEnergiewende nicht gelingen.
Mit dem Haushalt konnten und mussten wir die Vo-raussetzungen schaffen, dass der Netzausbau gelingt. Indiesem Zusammenhang gibt es das Netzausbaubeschleu-nigungsgesetz. Deshalb haben wir bei den Behörden, diefür die Umsetzung verantwortlich sind, dem Bundeskar-tellamt und der Bundesnetzagentur, die entsprechendenauch personellen Voraussetzungen geschaffen, damit sieihre Aufgaben administrativ bewältigen können.Meine Damen und Herren, ich möchte noch Bezugnehmen auf ein besonderes Thema, und zwar auf dasThema Wismut. Ich bin mit dieser Situation bestens ver-traut. Seit 1990 bin ich im Parlament; etwa 1991 war ichim Wirtschaftsausschuss zuständiger Berichterstatter fürdieses Thema. Es begleitet mich also seit 20 Jahren. Wirbefinden uns jetzt in der finalen Phase. Es ist gelungen,mit diesem Haushalt die finanziellen Voraussetzungenzu schaffen und den bis 1990 aktiven Wismut-Bergbaumit ausreichend finanziellen Mitteln auszustatten, sodassdie Sanierung zu Ende gebracht werden kann.Darüber hinaus kann man sagen, dass das sogenannteFolgeabkommen zur Sanierung der Wismut-Altstand-orte, das sich etwas schwierig gestaltet hat, auch auf ei-nem guten Weg ist. Wir haben im Haushalt auf jedenFall die Voraussetzungen geschaffen und für 2013 unddie folgenden Jahre die Barmittel und die entsprechen-den Verpflichtungsermächtigungen eingestellt. Das Geldsteht bereit. Sobald die Länder die letzten rechtlichenVoraussetzungen geschaffen haben, kann das Geld dannabfließen.Ich will mich an dieser Stelle noch einmal herzlichbeim Deutschen Bundestag für die hervorragenden soli-darischen Leistungen bedanken, die bei diesem schwie-rigen Thema mittlerweile zu einem guten Erfolg geführthaben.Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regio-nalen Wirtschaftsstruktur“ ist ebenfalls angesprochenworden. Es ist schon richtig erwähnt worden, dass wirbei den Haushaltsberatungen in der Bereinigungssitzungdafür gesorgt haben, dass die GRW-Mittel gegenüberdem Regierungsentwurf aufgestockt worden sind, undzwar um den Betrag, den wir Anfang der Legislaturpe-riode vereinbart hatten, nämlich 14 Millionen Euro inden Barmitteln und entsprechend in den Verpflichtungs-ermächtigungen.Man kann sich natürlich mehr wünschen, aber mankann nicht auf der einen Seite von Haushaltskonsolidie-rung reden und dann auf der anderen Seite keine Maß-nahmen treffen. Wir haben, glaube ich, einen guten Mit-telweg gefunden, indem wir sagen: Wir erhöhen um denBetrag, der notwendig ist – um die besagten 14 Millio-nen Euro – und leisten gleichzeitig einen Beitrag zurHaushaltskonsolidierung. Im Übrigen reduzieren wirden Einzelplan 09 insgesamt um 60 Millionen Euro, umdamit auch einen Beitrag zur Konsolidierung zu leisten.
Herr Brandner, eines muss ich an dieser Stelle nocheinmal sagen – das habe ich bereits in der ersten Lesunggesagt –: Die SPD hat in der Zeit rot-grüner Regierungs-verantwortung die GRW halbiert. Ja, halbiert. In der Op-position ist es einfach, zu erzählen, wie schön das Lebenist.
Wenn es jedoch drauf ankommt, dann müssen Sie zei-gen, was Sie können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluss noch zwei Bemerkungen machen. Auch ich willmich recht herzlich beim Wirtschaftsminister und beiseinen Mitarbeitern für die gute Vorbereitung des Haus-haltes bedanken. Ich möchte mich auch bei meinen Mit-berichterstatterkollegen für die kollegiale Zusammen-arbeit bedanken. An dieser Stelle möchte ich mich aucheinmal bei unseren Mitarbeitern bedanken, die, glaubeich, in den letzten Wochen und Monaten viel zu leidenhatten und immer unsere Zuarbeit machen mussten.Der Etat des Wirtschaftsministeriums ist solide undgut beraten. Aus diesem Grunde kann ich die Annahmeempfehlen.Danke schön.
Das Wort erhält nun die Kollegin Priska Hinz vomBündnis 90/Die Grünen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Rösler, ich habe mich bei Ihrer Rede ge-fragt, auf welchem Weg Sie eigentlich sind, und bin zudem Schluss gekommen: Sie sind mit Ihrer Wirtschafts-politik auf dem Weg ins Nirwana.
Die Euro-Krise geht ins vierte Jahr. Aufgrund der einsei-tigen Sparpolitik, die die Regierung in Europa durchge-drückt hat und an der der Wirtschaftsminister ja nichtunschuldig ist, gibt es inzwischen in vielen EU-Mit-gliedstaaten eine Rezession, darauf folgend eine Kon-junktureintrübung auch in Deutschland.Man fragt sich: Mit welchem Politikansatz stemmtsich ein Wirtschaftsminister in Deutschland gegen die-sen Trend? Welche wirtschaftlichen Anreize werden impositiven Sinne gegeben? Welche Rahmenbedingungenwerden denn für uns und die EU verändert? Da kann ichnur sagen: große Fehlanzeige, was das Handeln diesesWirtschaftsministers und dieser Koalition angeht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25371
Priska Hinz
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– Uns ist keine einzige Initiative von diesem Wirt-schaftsminister in Erinnerung, die irgendwie zu etwasPositivem geführt hat. Da paart sich aus meiner SichtUnvermögen mit Unwillen.Zum Thema Energiewende. Wir hören da nur, dassdas EEG geschleift werden muss. Von der Steigerung derEnergieeffizienz und ihren positiven Konsequenzen hatder Wirtschaftsminister anscheinend noch nie etwas ge-hört. Er hat auf die Frage der steuerlichen Förderung derGebäudesanierung angespielt.
Da kann man doch nur sagen: Es ist ein Unding, zuerstimmer nach Steuersenkungen zu rufen, den Ländern dieKassen zu leeren
und hinterher zu glauben, die Länder könnten bei dersteuerlichen Förderung der Gebäudesanierung dieHauptbürde tragen. Das funktioniert so nicht, meine Da-men und Herren.
Der Wirtschaftsminister hat der Einrichtung einesSondervermögens „Energie- und Klimafonds“, EKF, zu-gestimmt. Damit ist er die Hauptverantwortlichkeit fürdas Energiethema sozusagen los. Denn bei diesem Topfherrscht so ein Gemauschel: Keiner weiß so recht, wasdaraus eigentlich finanziert wird. Das Ende vom Lied ist,dass nicht einmal die Energieforschungsmittel erhöhtwerden.Zum Thema „Nationale Plattform Elektromobilität“.Da ist auch kein positives Signal zu vermelden. Sie er-reichen doch gar nicht die Zielzahlen, die Sie in denRaum gestellt haben. Das ist keine positive Politik fürdie Wirtschaft in diesem Lande, meine Damen und Her-ren.
Zum Thema Mittelstand und Mittelstandsförderung.Außer einer eigenwilligen Interpretation des Ministers,was eigentlich „Mittelstand“ bedeutet, haben wir in denBeratungen nicht viel gehört. Mittelstand sei, wenn sichein Eigentümer mit seinem Unternehmen verbundenfühle, das ist die Aussage des Wirtschaftsministers. KeinWunder, dass viele Förderprogramme so ausgestaltetsind, dass der Anteil der KMUs an den geförderten Un-ternehmen unter 5 Prozent liegt. Man muss die Pro-gramme doch so ausrichten, dass sie den Mittelstand er-reichen, dass sie kleine und mittlere Unternehmen in derTransformation unterstützen. Wir haben mit unseren An-trägen gezeigt, wie man ökologische Modernisierungbuchstabieren muss und sie in einem Haushalt ausfinan-zieren kann.
Meine Damen und Herren, wo bleibt eigentlich derWirtschaftsminister, wenn es um die KfW geht?
Da sitzt er in einer Koalitionsrunde, die beschließt, dassdie KfW künftig
Gewinnausschüttung betreiben und den Haushalt sanie-ren soll. Aber die KfW ist eine Förderbank für die Wirt-schaft, für die kleinen und mittleren Unternehmen, fürdie ökologische Modernisierung. Und da hebt der Wirt-schaftsminister die Hand, wenn beschlossen wird, dassdie KfW geplündert werden soll? So sieht Wirtschafts-politik bei Ihnen aus.
Ich weiß gar nicht, woher Sie es nehmen, zu behaup-ten, dass Sie auf einem guten Wege sind, zum Beispielbei den Fachkräften. Die Bluecard – die Einführung warIhre wunderbare Initiative für die Gewinnung von Fach-kräften aus dem Ausland – wurde bislang 139-mal ver-geben.
139 Bluecards wurden vergeben, und 112 der Menschen,die sie bekommen haben, waren bereits in Deutschland.Das ist die positive Bilanz dieses Wirtschaftsministers,was Fachkräftegewinnung angeht. Man glaubt es einfachnicht.
Man fragt sich, warum Fachkräfte jetzt primär in Indo-nesien, Indien und Vietnam angeworben werden sollen.Wenn man nach Portugal und Spanien reist, erlebt man,dass dort händeringend darum gebeten wird, gemeinsammit ihnen die Sprachbarrieren zu senken, um gut ausge-bildeten, hochqualifizierten Menschen die Möglichkeitzu geben, in Krisenzeiten Mobilität zu beweisen undhierherzukommen, zumindest temporär, bis der Auf-schwung in diesen Ländern wieder ankommt. Das wäregelebte europäische Solidarität und eine Möglichkeit,hier den Bedarf an Fachkräften zu decken. Aber davonversteht der Wirtschaftsminister auch nichts.
Beim Thema Euro-Krise und Griechenland hat er sichvöllig vergaloppiert. Während der Wirtschaftsministervon einem Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone ge-schwafelt hat, ist er mit einer Unternehmerdelegationdorthin gereist. Aber wenn man Unsicherheiten verbrei-tet, dann bringt man natürlich keinen deutschen Unter-nehmer dazu, zu investieren. Die Troika hat deutlich ge-macht – wörtlich –:
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25372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Priska Hinz
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Die breite Diskussion über einen „Grexit“ auf denMärkten und sogar unter den Gläubigern hat Grie-chenland sehr geschadet.Das müssen Sie sich ins Stammbuch schreiben lassen,Herr Minister Rösler. Noch am 26. August haben Siewörtlich gesagt:Die Forderung der Griechen, ein halbes oder garzwei Jahre nachzugeben, kann schon deswegennicht funktionieren, weil es nicht nur eine Frage derZeit ist. … Sondern jeder muss wissen: Zeit bedeu-tet immer auch Geld.
Damals haben Sie das also noch abgelehnt. Als Fazitkann man nur ziehen: Wenn Sie in Bezug auf den Euround die Wirtschaftspolitik in Deutschland immer sofalsch liegen, dann gehören Sie in die Opposition.
Wenn Sie, falls überhaupt, in der Opposition sitzen, wer-den Sie erleben, dass die Wählerinnen und Wähler klü-ger sind, als Sie uns heute in Ihrer Rede Glauben machenwollten.Danke schön.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Martin Lindner
nun das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!Nach drei Jahren Regierungszeit ist es Zeit, eine Zwi-schenbilanz zu ziehen, und die macht man in einer Haus-haltsdebatte üblicherweise mit Zahlen.Die erste schwarz-gelbe Zahl, die ich hier in denRaum stelle, ist 41,6 Millionen. Im August 2012 wareninsgesamt 41,6 Millionen Menschen mit Wohnort inDeutschland erwerbstätig und damit 423 000 mehr alsim Vorjahr. Noch nie hatten mehr Menschen Arbeit inDeutschland als heute. Das ist gut so.
500 Industriearbeitsplätze entstehen jeden Tag, auch2012. 6,5 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote. UnterSchwarz-Gelb hat die deutsche Wirtschaft 1,6 Millionenzusätzliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätzegeschaffen. Das ist eine Erfolgsstory, wie sie im Momentkaum in einem anderen Land der Erde geschrieben wird.
Das hat eine Ursache. Herr Heil, es ist doch kindisch,zu behaupten, das alles habe mit Schwarz-Gelb nichts zutun.
Schröder war 1998 noch gar nicht im Amt und hat denAufschwung Ende 1998 bereits damit erklärt, dass diesim Vorgriff auf seine Kanzlerschaft geschehen sei.
Nun billigen Sie uns nach über drei Jahren an der Regie-rung unsere Erfolge nicht zu. Damit machen Sie sich lä-cherlich. An der Wahrheit geht das vorbei. Das ist ganzklar.
Die nächste Zahl: 12 Milliarden. Die Wettbewerbsfä-higkeit eines Landes beginnt im Klassenzimmer, sagteHenry Ford. Das haben wir verinnerlicht.
Wir haben bis 2013 12 Milliarden Euro mehr in Bildungund Forschung investiert, so viel wie keine andere Re-gierung vorher. Auch das ist eine Ursache für die Ar-beitsmarktzahlen.
Nächste Zahl: 1 Billion. Die deutschen Exporte sindim Jahr 2011 weiter gewachsen und haben mit über1 Billion Euro erstmals die magische Billionengrenzegeknackt. Das Einzige, was Ihnen, vor allem von derUltralinken, dazu einfällt, ist, herumzumäkeln, dass diesauf Rüstungsexporten beruhe. So etwas Lächerliches!Die haben nur einen marginalen Anteil daran. Es ist eineExportleistung der deutschen Industrie. Mit der Einfüh-rung der Erleichterungen in der Novelle zum deutschenAußenwirtschaftsgesetz werden wir an dieser Erfolgs-story weiterschreiben. Wir kümmern uns darum, dassder deutsche Export weiter stark bleibt. Sie können rum-mäkeln und rumkritteln, wie Sie wollen. Die deutscheIndustrie kann sich auf uns verlassen.
Auf Sie kann man sich nicht verlassen. Sie haben dendeutschen Industriearbeiter doch schon längst aufgege-ben.
Sie haben doch nur noch Assistenten, Referenten, Polito-logen und Soziologen in Ihrer Anhängerschaft. Manmuss klar sehen: Der deutsche Industriearbeiter kannsich auf alle verlassen, nur nicht auf die SPD.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25373
Dr. Martin Lindner
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1 307 Weltmarktführer gehören dem deutschen Mit-telstand an. Zum Vergleich: Deutschland hat damit mehrWeltmarktführer als die USA, Japan, Österreich, dieSchweiz, Italien, Frankreich, China und Großbritannienzusammen. Auch für diese Unternehmen tun wir etwas:Mit der Stärkung der GWB-Novelle haben wir dafür ge-sorgt, dass in Deutschland weiterhin ein fairer Wettbe-werb stattfindet. Wir haben dafür gesorgt, dass geradekleine und mittlere Betriebe beim Markteintritt faireMöglichkeiten vorfinden, sodass auch sie sich entwi-ckeln können und nicht nur die Großindustrie. Auch diesist eine Erfolgsstory von Schwarz und Gelb.
17,3 Milliarden Euro. Schwarz-Gelb investierte imJahr 2011 ganze 17,3 Milliarden Euro in den Kampf ge-gen den Klimawandel. Im internationalen Vergleich wardas das größte Budget. Damit ist Deutschland Umwelt-meister.
Das ist der Unterschied, meine lieben grünen Freunde,zwischen uns und Ihnen: Sie schwätzen, wir handeln.
Das Einzige, was Sie können, ist, dreiste Klientelpolitikzu betreiben, die ihresgleichen sucht.
Sie schämen sich nicht, in Debatten, in denen es darumgeht, die üppigen Pfründe, die üppigen Subventionen,die es auch für die Solarwirtschaft gibt, in vernünftigeBahnen zu lenken, Ihre ganze Garde von Eurosolar-Lob-byisten auftreten zu lassen.
Sie kümmern sich um Ihre Lobby, wir kümmern uns umsLand, das ist der Unterschied.
18,9 Prozent. Schwarz-Gelb hat die Senkung des Ren-tenbeitragssatzes um weitere 0,7 Prozent auf 18,9 Prozentbeschlossen und damit gegen die Forderung der rot-grü-nen Opposition geltendes Recht durchgesetzt.
So werden Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleicherma-ßen entlastet, und auch die Rentner profitieren. Gleich-zeitig haben wir einen Puffer in zweistelliger Milliarden-höhe in der Rentenkasse geschaffen. Auch dies ist in derjüngeren Geschichte dieses Landes beispiellos.515 800. In Deutschland gibt es so viele Studien-anfänger wie noch nie. 515 800 Neueinschreibungenkonnten die deutschen Hochschulen im Jahr 2011 ver-zeichnen. Das ist eine Steigerung gegenüber rot-grünenZeiten um 45 Prozent, trotz oder vielleicht auch geradewegen Studiengebühren; auch das sage ich an dieserStelle einmal.
Die Studiengebühren haben die Studienanfängerquotenicht verringert, sondern gestärkt. Die Universitäten sindbesser ausgestattet. Deswegen ist es richtig – auch dassage ich an dieser Stelle –, dass unsere bayerischenFreunde dafür kämpfen, dass sie erhalten bleibt.
50 Prozent. Schwarz-Gelb hat die Neuverschuldungtrotz – trotz! – der Erleichterungen für die Menschen um50 Prozent im Vergleich zu den Plänen Ihres großenKanzlerkandidaten reduziert. Unser nächstes Ziel – auchdies werden wir erreichen – ist ein ausgeglichener Haus-halt.Wir haben weitere Stärkungsmaßnahmen für die Bür-ger beschlossen, die aber von Ihnen blockiert werden.Wir sehen für die Bürger Entlastungen in Höhe von6,1 Milliarden Euro vor. Dabei geht es nicht um üppigeSteuersenkungen. Dabei geht es darum, dass die Men-schen, die täglich für diese Erfolgszahlen arbeiten, einStück mehr davon haben.
Das gönnen Sie ihnen nicht. Sie gönnen ihnen die Bei-tragssenkungen bei der Rentenversicherung nicht. Siegönnen ihnen auch die Abschaffung der Praxisgebührnicht.
Sie gönnen ihnen die steuerlichen Entlastungen nicht.Sie blockieren alles. Sie blockieren auch die steuerlichenErmäßigungen für den Bereich der energetischen Haus-sanierung.Frau Hinz, Sie haben hier erklärt, dass das auf Kostender Länder geht. Das kann doch nicht ernsthaft Ihre Auf-fassung sein. Wir haben die Länder allein im Jahr 2013um 10,5 Milliarden Euro entlastet. 2014 entlasten wir sieum weitere 12 Milliarden Euro. In den Jahren 2010 bis2016 entlasten wir die Länder um 62 Milliarden Euro.Angesichts dessen ist es ein dreister Akt, sich hier hinzu-stellen und die Tatsache, dass Sie den Menschen diesteuerlichen Entlastungen nicht gönnen, damit zu be-gründen, dass die Länder davon – angeblich – nichts ha-ben.
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25374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Dr. Martin Lindner
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Sie können nicht wirtschaften. Das zeigt sich in den Län-dern, in denen Sie Verantwortung tragen. Das ist abereine völlig andere Geschichte. Das hat nichts damit zutun, dass die Länder kein Geld haben. Sie sind unfähig,hauszuhalten. Das zeigen Sie überall dort, wo Sie Regie-rungsverantwortung tragen.
Sie blockieren das Steuerabkommen mit der Schweiz.Diese Information läuft gerade wieder über den Ticker.Sie blockieren alles, was Geld in die Kasse bringt. Sieergehen sich stattdessen in Fantasien über noch mehrSteuern, die Sie einnehmen wollen. Schauen Sie sichdoch Frankreich an! Das Aufkommen aus der dort erho-benen Milliardär- bzw. Millionärsteuer beträgt geradeeinmal 230 Millionen Euro pro Jahr. Gleichzeitig wirddie Industrie aus dem Land getrieben; das ist doch keinesinnvolle Politik. Das ist aber Ihre Blaupause für unserLand. Dies werden wir verhindern.
Diese Bundesregierung ist – da hat die Bundeskanzle-rin recht – die beste Regierung seit der Wiedervereini-gung.
Diese Bundesregierung wird auch im nächsten Jahr be-stätigt werden. Wir werden weiterhin regieren, Sie wer-den weiterhin schwätzen. Dafür werden wir sorgen.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Tiefensee
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! HerrMinister, ich möchte meine Redezeit in dieser Haus-haltsdebatte nutzen, um mich mit Ihren Argumenten aus-einanderzusetzen. Kurz eine Vorbemerkung: Herr Minis-ter, mich stört massiv die Chuzpe, mit der Sie sich hierhinstellen und die Erfolge, die es in Deutschland – auchim Vergleich zu anderen europäischen Staaten – gibt, fürsich reklamieren. Warum die Entwicklung in Deutsch-land irgendetwas mit Ihrer Wirtschaftspolitik zu tun ha-ben soll – Sie tun so, als ob das der Fall wäre –, er-schließt sich mir nicht. Das nehmen wir so nicht hin.
Erster Punkt. Sie stellen sich hier hin und sagen, wirhätten eine niedrige Arbeitslosenquote und eine hoheBeschäftigungsrate zu verzeichnen. Das ist richtig. Aberby the way, der Bericht aus Ihrem Wirtschaftsministe-rium zeigt, dass wir von August bis Dezember eine Sta-gnation beim Aufwuchs der Beschäftigungsverhältnisseund eine leicht ansteigende Arbeitslosenquote zu ver-zeichnen haben.
Unabhängig davon nehme ich es nicht hin, dass Siedas Konjunkturpaket für Verkehr und Bau, das wir wäh-rend der Zeit der schwarz-roten Koalition in meinemHaus zwischen Weihnachten 2008 und Neujahr 2009konzipiert haben, auf diese Weise desavouieren. Sie re-klamieren die Erfolge dieses Konjunkturpakets für sichund ruhen sich auf ihnen aus. Dieses Konjunkturpaketwar die Grundlage dafür, dass der Mittelstand in denJahren 2009, 2010 und 2011, also mitten in der Krise,überhaupt noch Aufträge bekommen hat.
Wenn Sie das nun desavouieren, dann kann ich nur fest-stellen, dass Sie weder dieses Instrument noch die Ursa-chen für den damaligen Aufschwung verstanden haben.
Zweiter Punkt. Sie stellen sich nun hier hin und redendavon, dass das industrielle Rückgrat Deutschlandswichtig sei und eine Erfolgsbasis darstelle. Herr Ministerund Herr Lindner, ich habe bei Ihren Reden ganz genauzugehört und frage Sie nun: Welche Maßnahme könnenSie hier am Pult verkünden, die dazu geführt hat, dass inden letzten zwei, drei Jahren die industrielle Basis ge-stärkt worden ist? Nennen Sie mir ein einziges Beispiel,und tun Sie nicht so, als ob das Ihr Erfolg wäre!
Der entscheidende Punkt ist, Herr Minister: Wennman sich auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruht– wir wollen uns damit nicht zu lange aufhalten –, dannvergisst man, das zu tun, was notwendig ist, um Vor-sorge für die kommenden Jahren zu treffen. Wir haben– die Frau Bundeskanzlerin hat es gestern leicht ange-deutet – schwierige Jahre vor uns. Sie haben die Wachs-tumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt von 1,6 auf1,0 Prozent senken müssen. Die Sachverständigen gehensogar von nur 0,8 Prozent aus. Die Entwicklung auf demArbeitsmarkt und der Beschäftigungsquote habe ich be-reits angedeutet. Das europäische Umfeld ist höchst kri-tisch. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie gegensteuernund konkrete Maßnahmen ergreifen und nicht einfachnur Zahlen vortragen, Herr Lindner, die wir auch denstatistischen Jahrbüchern entnehmen können.Was tun Sie? Sie kürzen die Mittel für die GRW, alsodie Förderung für strukturschwache Gebiete. Prima! Ge-nau diese Förderung ist für die industrielle Basis und denMittelstand nicht zuletzt im Osten wichtig. Wenn Siealso im Rahmen des Haushalts wirklich fördern und einSignal setzen wollen, sollten Sie die GRW-Mittel auf dasalte Niveau aufstocken. Noch besser wäre es, wenn Siedie fehlende Investitionslage durch eine Erhöhung derGRW-Mittel kompensierten. Das tun Sie nicht. Wir kön-nen Ihnen das so nicht durchgehen lassen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25375
Wolfgang Tiefensee
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Wenn ich, sehr verehrter Herr Minister, Ihre Koali-tionsvereinbarung richtig in Erinnerung habe, dann mussich feststellen, dass darin etwas zur steuerlichen For-schungsförderung steht. Sinngemäß heißt es: Wir strebenan, mit der steuerlichen Forschungsförderung For-schungsimpulse für die kleinen und mittleren Unterneh-men auszulösen. – Was haben Sie geliefert? Wo ist diesteuerliche Forschungsförderung, die wir dringend brau-chen und die ja in Ihrer Koalitionsvereinbarung steht?Wie erklären Sie das dem Mittelstand? Wie sollen Inno-vationen im Mittelstand entstehen, wenn Sie dort nichtvorankommen?Ich komme zu einem weiteren Punkt. Wir brauchendie KfW, um mittelständische Unternehmen zu fördern.Was tun Sie stattdessen? Sie plündern das Geld und ste-cken es in die Schuldentilgung und damit in die allge-meine Haushaltssanierung. Damit minimieren Sie das,was an Investitionshebel für Mittelstand und Industrienötig ist; denn Sie wissen, jeder eingesetzte Euro gene-riert einen Effekt von mindestens 6 bis 8 Euro. Wir kön-nen nicht hinnehmen und akzeptieren, dass Sie die KfWin dieser Weise plündern. Das ist der völlig falsche Weg.
Ich komme zur energetischen Gebäudesanierung. Dasist ein wunderschönes Beispiel für Ihre Politik. Ichmöchte dazu coram publico – vor allen Dingen für un-sere Zuschauer – Folgendes sagen: An einem Verhand-lungstisch sitzen auf beiden Seiten Verhandlungspartner.Auf der einen Seite sitzen ein Finanzminister und einWirtschaftsminister, dem nichts anderes einfällt, als dieenergetische Gebäudesanierung auf dem Wege steuerli-cher Förderung voranzubringen. Daher müssen Sie dochverstehen, dass die andere Seite sagt: Moment mal! Daskommt doch gar nicht bei denen an, bei denen es ankom-men soll. – Warum ergreifen Sie nicht die gleichen In-strumente, die einzusetzen wir seit 2005 geübt haben,nämlich über die KfW Gelder auszureichen bzw. verbil-ligte Kredite an die entsprechenden Hausbanken zu ge-ben, damit aus 1 Euro wieder 8 Euro werden und derMittelstand endlich zu seinen Aufträgen kommt?
Bewegen Sie sich an der anderen Seite des Tisches, da-mit wir uns aufeinander zubewegen können! ErzählenSie nicht das Märchen, dass die Länder sich dagegensperren! Wir müssen die Förderung richtig machen, dannwerden die Länder auch zustimmen.
Ich komme zur Vermögensabgabe. Sie kritisieren dieVermögensabgabe und wissen doch ganz genau, dass inunserem Lande in den letzten fünf, sechs Jahren das Ver-mögen – Sie wissen, dass es sich aus Geldvermögen, Im-mobilien und Wertpapieren zusammensetzt – von 4 Bil-lionen Euro auf 10 Billionen Euro angestiegen ist.
Diese 10 Billionen Euro befinden sich zu 40 Prozent beiden oberen 10 Prozent.
Wieso ist es nicht vernünftig, diejenigen, die starkeSchultern haben, heranzuziehen, damit wir zum Beispielbei der Infrastruktur vorankommen? Wir stehen dafür,dass die starken Schultern in der Wirtschaftspolitik, derSozialpolitik, der Bildungspolitik sowie auch bei ökolo-gischen Fragen herangezogen und nicht die kleinenLeute belastet werden.
Ich komme zur Energiepolitik. Da fehlt ein Master-plan. Ich habe auch heute wieder nicht gehört, dass vondiesem Pult aus etwas dazu gesagt wurde, wie wir dieLänder untereinander, die Länder mit dem Bund und dieLänder mit den Kommunen koordinieren wollen. DieFrau Bundeskanzlerin hat gestern von einer Art Koordi-nationsgremium gesprochen, das es geben wird. Es istgut, dass wir das nach eineinhalb Jahren endlich bekom-men. Da wird sich aber bis zum September 2013 vermut-lich nichts tun. Wieso belasten Sie die Bürger – insbe-sondere die Privathaushalte und auch die von Ihnen soviel gelobten und angeblich von Ihnen unterstützten Mit-telständler –, indem Sie bei den Offshorewindparks dieHaftungsregelung so ausgestalten, dass über 1 MilliardeEuro von den privaten Stromkunden zu tragen ist, anstattim Energiewirtschaftsgesetz dafür Sorge zu tragen, dassdie Haftung anderweitig getragen wird? Das ist ein Teilder Infrastruktur.Sehen wir uns einen anderen Teil der Infrastruktur an.Ich schaue da meinen Nachfolger im Amt an. Wir müs-sen bei der Infrastruktur etwas tun. Auch das ist Mittel-standsförderung. Genauso wie Sie die KfW plündern,plündert der Finanzminister die Deutsche Bahn AG. Siezahlt 525 Millionen Euro Zwangsdividende pro Jahr inden Jahren 2012, 2013 und 2014. 25 Millionen Euro vondiesen 525 Millionen Euro gehen wieder in die Infra-struktur. 500 Millionen Euro werden zur Haushaltssanie-rung verwandt. Sie fehlen dann, um die Infrastrukturüber der Erde voranzubringen. Das soll Wirtschaftspoli-tik sein? Ich kann darin überhaupt keine Wirtschaftspoli-tik erkennen, sondern nur ein weiteres Durchwurschteln.
Sehr verehrter Herr Minister, ich kann nur sagen: Ru-hen Sie sich nicht auf dem aus, was andere für Sie vorbe-reitet haben. Legen Sie sich nicht in das gemachte Nest.Schlafen Sie nicht in einem Bett, das andere Ihnen auf-geschüttelt haben. Fangen Sie endlich an, zu arbeiten,und ergreifen Sie konkrete Maßnahmen, die dazu führen,dass Deutschland weiter so gut dasteht wie bisher. Deraktuelle Erfolg ist nicht Ihr Erfolg. Wir erwarten, dassSie in den nächsten Monaten zumindest ein kleinesStückchen zum weiteren Erfolg beitragen. Das wäre IhreAufgabe.
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25376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
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Nun hat das Wort der Kollege Michael Fuchs für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrterHerr Kollege Tiefensee, Sie müssten es eigentlich besserwissen. Sie waren so lange im Amt, dass man davon aus-gehen kann, dass Sie es besser wissen. Diese Regierungschafft weit mehr Investitionsmöglichkeiten, als Sie je-mals fertiggebracht haben.
Sie wissen auch, dass wir beispielsweise in den Etat desBundesverkehrsministers zusätzlich 750 Millionen Euroeingestellt haben.
Das haben die Fraktionen beschlossen. Damit werdenwir zum Beispiel im Straßenbau neue Akzente setzen.Das ist notwendig, das ist gut, und das werden wir sotun.
Deutschland geht es gut. Daher kann ich dieses Ge-jammer der Opposition nicht mehr hören. Es gibt jetzthalb so viele Arbeitslose als zu Ihrer Regierungszeit un-ter Gerhard Schröder; die hohe Arbeitslosigkeit hattenSie mit zu verantworten.
Wir haben vor allen Dingen eines: Wir haben eineganz stark reduzierte Jugendarbeitslosigkeit. Das ist fürmich eine der großen Erfolgsstorys dieses Landes.
Schauen Sie sich doch die Zahlen an. In etlichen Regio-nen in Deutschland gibt es de facto keine Jugendarbeits-losigkeit. Ich kann die Zahlen für meinen eigenen Wahl-kreis nennen. Wir haben 300 offene Stellen und noch150 zu vermittelnde Jugendliche, die aber, wie die Agen-tur sagt, multiple Einstellungshemmnisse haben. Mit an-deren Worten: Sie haben schlechte Deutschkenntnisse,sie können nicht richtig rechnen, nicht richtig schreibenund nicht richtig lesen. Das muss geändert werden. Die-sen Jugendlichen muss geholfen werden. Dafür müssenProgramme aufgelegt werden. Da sind wir dran; das istrichtig.Für mich ist eine der zentralen Aufgaben der Politik,jungen Menschen eine Perspektive zu geben. Das habenwir geschafft. Darauf können wir stolz sein. Alle habendabei mitgeholfen. Ich bin froh, dass es gelungen ist,dass wir die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganzEuropa haben.Wir haben außerdem die Möglichkeit, jungen Men-schen aus anderen Ländern zu helfen. Ich habe in meinemWahlkreis mit der Handwerkskammer ein Programm auf-gelegt, mit dem wir junge Spanier aus Valencia zu unsholen. Wir geben ihnen zuerst in Spanien Deutschunter-richt, anschließend werden sie in Deutschland ihre Lehremachen. Ich finde, das ist ein ganz hervorragendes Pro-gramm. Ich bin der Handwerkskammer dankbar, dass siesolche Programme auflegt. Das ist Zukunft und gelebteeuropäische Solidarität. Darüber können wir froh sein.
Allerdings ist nicht alles gut. Ein Punkt macht mir er-hebliche Sorgen. Das sind die Energiepreise.
Sie entwickeln sich überall, und zwar weltweit, zu einemextrem wichtigen Standortfaktor. Bei uns hängen Wohl-stand und Beschäftigung in weit größerem Umfang vonder Leistung und Wettbewerbsfähigkeit des verarbeiten-den Gewerbes ab als in vergleichbaren Ländern; dennwir sind nach wie vor ein gutes Industrieland. Wir sindein Land mit Wertschöpfungsketten vom Grundstoff biszum Hightechendprodukt. Genau das ist der Grund, wa-rum gerade wir bei den Strompreisen für die Industriebesonders aufpassen müssen.Wir haben hier vor zwei, drei Tagen ein Gespräch mititalienischen Senatoren geführt. Sie sagten mir: EureProbleme würden wir gerne haben.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben Deutschland gut ge-führt. Das hat dazu geführt, dass die Italiener uns heutebeneiden und uns sagen, dass sie dankbar wären, wennsie unsere Probleme hätten und nicht ihre.
Ich glaube, dass wir gerade bei den Strompreisen sehraufpassen müssen. Ich ärgere mich darüber, Herr Kol-lege Heil, dass hier ständig behauptet wird, die EEG-Umlage sei aufgrund der Freistellungen der energie-intensiven Industrie so hoch.
Selbst wenn wir alle Ausnahmen strichen, wäre die Um-lage 2013 immer noch rund 0,7 Cent höher als in diesemJahr. Interessanterweise ist dieses Befreiungsgesetz un-ter Rot-Grün entstanden. Wer hat denn den Blödsinn ge-macht und zum Beispiel die Verkehrsunternehmen be-freit, obwohl sie nicht im internationalen Wettbewerbstehen? Ich weiß nicht, inwiefern die S-Bahn in Rostockim internationalen Wettbewerb steht. Das war HerrTrittin, das war Rot-Grün. Das ist aber Unfug, und denmüssen wir ändern. Der Bundesumweltminister ist da-bei.
Es waren Ihre ideologischen Vorstellungen, aufgrundderer Sie Straßenbahnen und ähnliche Verkehrsträgervon der EEG-Umlage ausgenommen haben.
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Dr. Michael Fuchs
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Das ist Quatsch. Sie gehören in das Gesetz zur Befreiungvon der EEG-Umlage nicht hinein. Wir müssen dafürsorgen, dass sie den Strom genauso bezahlen wie alleanderen auch.Es kommt ein weiterer Punkt hinzu. In etlichen Län-dern hat man mittlerweile erkannt, dass es im BodenEnergiereserven gibt, die bis jetzt nicht genutzt werden,und zwar Schieferöl und Schiefergas. Die Amerikanerwerden in kürzester Zeit unabhängig von Energieimpor-ten sein. Im Gegenteil, Amerika wird sogar zum Ener-gieexporteur. Die Amerikaner sind zurzeit dabei, ihreLNG-Terminals, die Liquefied-Natural-Gas-Terminals,die bis jetzt auf Import eingestellt sind, auf Export um-zubauen. Das wird uns, meine Damen und Herren,Schwierigkeiten bereiten.
Machen wir uns nichts vor: In Amerika wird es mitziemlich großer Sicherheit die niedrigsten Energiepreiseauf der Welt geben. Auf diese Art wollen die Amerika-ner ihr Land reindustrialisieren.
Das wird für uns zu einer neuen Wettbewerbsszenerieführen, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Energiepreise inDeutschland wettbewerbsfähig genug sind, damit dieIndustrie in Deutschland nicht verloren geht.
Die geschätzten Schiefergasreserven, die wir inDeutschland haben, sollen für bis zu 23 Jahre ausrei-chen. Nebenbei: Das steht im Gegensatz zu dem, was derClub of Rome in der Vergangenheit schon alles behaup-tet hat, zum Beispiel, dass es nach 1990 keine fossilenEnergien mehr geben wird.
Daran kann man wunderbar erkennen, dass all diesePrognosen in die völlig „richtige“ Richtung gehen.
Mir macht es Sorge, wenn in anderen Ländern dieEnergiepreise nach unten gedrückt werden. Die Ameri-kaner wollen die Kilowattstunde für unter 2 US-Dollar-cent anbieten. Dann dürfte es für unsere besonders ener-gieträchtigen Unternehmen nicht gerade einfach werden.Die Firma SGL Carbon zum Beispiel ist bereits abge-wandert. Die Produktion ist in die USA verlegt worden.Die Firma hat ihren Sitz zwar nach wie vor in Wies-baden; aber die Produktion wird nicht mehr in Deutsch-land stattfinden, weil das Unternehmen zu deutschenStrompreisen nicht mehr wettbewerbsfähig arbeitenkann. Vor diesem Hintergrund wird es für uns aller-höchste Zeit, dass wir uns darüber Gedanken machen,wie wir verhindern, dass Wertschöpfungsketten inDeutschland durchbrochen werden. Wenn das nämlicherst einmal passiert ist, liebe Kolleginnen und Kollegen,dann werden wir sehen, dass ganze Industriezweige ab-wandern. Dann wandern nämlich andere Unternehmenhinterher.
Was SGL Carbon angeht, muss man sagen: Was die-ses Unternehmen macht, ist absolut Hightech. Es produ-ziert Kohlenstofffasern, die zusammen mit Aluminiumvöllig neue Werkstoffe bilden. Ein A380 würde nichtfliegen, wenn es diese Werkstoffe nicht gäbe; er wärenämlich schlicht zu schwer, wenn er konventionell her-gestellt würde. Wir müssen darauf achten, dass solcheIndustriezweige nicht abwandern.
Deutschland ist nach wie vor eine Technologienation,und die wollen wir auch bleiben.Als ich am letzten Samstag ein paar Stunden Zeithatte, habe ich mir Teile des Parteitags der Grünen ange-sehen.
Ich habe gedacht, ich bin auf einem fremden Stern; denndie Forderungen, die da aufgestellt wurden, sind bemer-kenswert. Allein Ihre Forderung, den Hartz-IV-Satz um50 Euro pro Monat anzuheben, kostet – die Bundesagen-tur für Arbeit hat das gerade ausgerechnet – 7,5 Milliar-den Euro.
Außerdem haben Sie beschlossen, den Grundsatz desForderns, den Sie selbst in die Hartz-IV-Gesetze einge-baut haben, abzuschaffen. Sie wollen die Herrschaften,die Hartz IV beziehen, von jeglichen Nachfragen derBundesagentur freistellen. Ja, sagen Sie mal: Haben Siedenn aus Ihrer eigenen Historie überhaupt nichtsgelernt?
Es kann doch nicht wahr sein, dass alles, was Sie 2004/2005 vernünftigerweise eingeführt haben, jetzt nichtmehr gelten soll. Die Vaterschaft für Hartz IV haben Siekomplett abgelegt. Machen Sie sich aber keine Sorgen:Wir werden sie für Sie übernehmen. Wir achten darauf,dass es hier weitergeht; denn nur so werden wir Deutsch-land über die Runden bringen.
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Dr. Michael Fuchs
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Ich finde es unverschämt, dass Sie den Menschen dieMöglichkeiten, die wir ihnen jetzt bieten können, vor-enthalten wollen. Wir haben endlich die Chance, denRentenversicherungsbeitragssatz zu senken.
Nach dem Gesetz müssen wir das tun. Also tun wir dasauch. Wir ändern doch nicht das Gesetz, nur damit dasGeld in der Kasse bleibt. Sie haben das nicht fertig-gebracht. Eichel musste sogar Kassenkredite aufnehmen,um die Rente überhaupt auszahlen zu können. Wirhingegen sind in der Lage, den Rentenversicherungs-beitragssatz zu senken; darauf sind wir stolz.
Wir sind auch in der Lage, quasi den Krankenversi-cherungsbeitragssatz zu senken, und zwar aufgrund desWegfalls der Praxisgebühr; auch das ist etwas Positives.
Allein diese beiden Maßnahmen entlasten die Bürgerin-nen und Bürger zum 1. Januar um fast 10 MilliardenEuro. Das ist das beste Konjunkturprogramm.
Wir meinen: Das Geld ist in den Taschen der Bürgerbesser aufgehoben als in den Taschen des Staates.Vielen Dank.
Das Wort erteile ich nun dem Kollegen Michael
Schlecht für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! DieKanzlerin und ihr Herausforderer wie auch andere strei-ten sich hier über das Copyright einer vermeintlich bes-seren wirtschaftlichen Entwicklung. Das Entscheidendehaben sie aber noch nicht gemerkt: dass die Wirtschafts-politik, die hier betrieben worden ist, gescheitert ist. Dernächste Abschwung droht. Im nächsten Jahr will jedesvierte Unternehmen Arbeitsplätze abbauen. ErgreifenSie Gegenmaßnahmen? Fehlanzeige. Das ist das eigent-liche Thema, mit dem wir uns hier beschäftigen müssen.
Der Ausgangspunkt dieser gescheiterten Wirtschafts-entwicklung ist die von Ihnen, Herr Fuchs, so hoch ge-lobte Agenda 2010. Sie hat viele Missstände herbeige-führt. Der Ausgangspunkt der Agenda 2010 war dieKampfformel: Wir müssen die deutsche Wettbewerbsfä-higkeit stärken. – Eingedenk dieses Leitsatzes haben da-mals SPD und Grüne in Tateinheit mit Union und FDP– Herr Fuchs hat diese Tateinheit gerade noch einmalerwähnt – die Löhne in Deutschland nach unten ge-drückt, die Arbeitszeitflexibilität dramatisch nach obengetrieben und darüber hinaus – das ist der eigentlicheSkandal – Millionen von Menschen in prekäre, in miese,in schlechte Jobs hineingetrieben. Das geben Sie heuteals großes Beschäftigungswunder aus. Was hier veran-staltet wird, ist zynisch hoch drei.
Die Reallöhne sind in Deutschland seit 2000 um5 Prozent gesunken. Gleichzeitig sind die Profite um30 Prozent gestiegen. Wenn Sie meinen, Sie hätten eineerfolgreiche Wirtschaftspolitik betrieben, dann heißt das,dass Sie meinen, dass es sinnvoll sei, den Menschen we-niger Geld zu geben, aber die Profite nach oben zu trei-ben. Das ist Klientelpolitik von den anderen vier Frak-tionen in diesem Hause. Wir unterstützen das nicht, wirwollen etwas anderes.
Sie loben, dass das Exportvolumen deutlich ansteigt.Mit der Strangulierung der deutschen Binnennachfrage,mit der Strangulierung der Löhne und der öffentlichenAusgaben in Deutschland haben Sie dafür gesorgt, dassdas Importvolumen längst nicht in dem Tempo gestiegenist, wie es notwendig gewesen wäre. Im Resultat habenwir seit 2000 eine enorme Spreizung zwischen Exportenund Importen. Dies hat zu einem Außenhandelsüber-schuss von mittlerweile 1,5 Billionen Euro geführt.Finanziert worden ist dieser Außenhandelsüberschussimmer durch die Verschuldung anderer Länder, vor allenDingen der Euro-Länder. Sie wundern sich, dass wir eineEuro-Krise haben, und beschreiben immer die Verschul-dungskrise in Europa. Der Ausgangspunkt für diese Ver-schuldungskrise liegt jedoch hier in Deutschland: in derPolitik der Agenda 2010. Das muss umgekehrt werden.
Alle reden seit Jahren von der Euro-Krise unddarüber, was man machen kann, um die Verschuldungabzubauen. Doch auch im Jahre 2012 hat Deutschlandeinen Außenhandelsüberschuss von rund 150 Milliar-den Euro.
Das heißt im Klartext: Ihre Wirtschaftspolitik hat dafürgesorgt, dass sich das Ausland, vor allen Dingen dieLänder der Euro-Zone, bei uns um weitere 150 Milliar-den Euro verschuldet hat.Das hat Methode: Man sieht nicht das Loch im Eimer,man kippt einfach immer mehr Wasser in den Eimer undhofft, dass er irgendwann wieder voll wird. Das ist natür-lich ein vollkommen untaugliches Unterfangen; denn
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Michael Schlecht
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das Loch muss gestopft werden – durch eine andereWirtschaftspolitik in diesem Lande.Zentral ist, dass wir im Hinblick auf die binnenwirt-schaftliche Entwicklung wieder zu einer ganz anderenOrientierung kommen. Wenn wir eine andere binnen-wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland haben wol-len, dann müssen wir zuallererst dafür sorgen, dass dieLöhne in Deutschland wieder deutlich ansteigen. Esmuss Schluss mit dem Lohndumping sein. Dafür müssenwir auch die Rahmenbedingungen für die Gewerkschaf-ten verbessern, damit sie wieder vernünftige Lohnerhö-hungen aushandeln können. Das muss das oberste Zielsein.Dazu gehört natürlich vor allem, dass eine entschei-dende Bremse für die Kampffähigkeit und Durchset-zungsfähigkeit der deutschen Gewerkschaften gelockertwird, nämlich das Sanktionsregime von Hartz IV, dasSie, Herr Fuchs, eben noch so gelobt haben. Das Sank-tionsregime von Hartz IV muss beendet werden, weilheutzutage Millionen von Menschen Angst vor Hartz IVund davor haben, in Arbeitslosigkeit zu rutschen.
Dies hat eine ungeheuer negative Wirkung auf zig Mil-lionen Menschen, die heute noch arbeiten und die durchSie in menschenunwürdige Verhältnisse getrieben wer-den. Das ist Zynismus und eine zynische Politik, die alleParteien außer der Linken hier im Parlament betreibenund betrieben haben. Das muss beendet werden; wirkämpfen dafür. Vor allen Dingen das Sanktionsregimevon Hartz IV muss weg.
Wenn Sie die Zeichen der Zeit erkennen würden,dann würden Sie wissen, dass es in Anbetracht der be-drohten weiteren wirtschaftlichen Entwicklung sehrviele Gegenmaßnahmen, auch Sofortmaßnahmen, gäbe,die man ergreifen könnte.
– Ich meine zum Beispiel die sofortige Wiedereinfüh-rung des Kurzarbeitergeldes.
– Es ist auch keine schlechte Idee, den Sozialismus ein-zuführen. Ich danke Ihnen für das Stichwort.
Ich will Sie jetzt aber mit solchen intellektuell an-spruchsvollen Themen gar nicht weiter belasten, HerrLindner. Das ist, glaube ich, eine Nummer zu groß fürSie.
Ich bleibe erst einmal bei ganz einfachen Dingen: Wirbrauchen die Wiedereinführung des Kurzarbeitergeldes,damit die notwendigen Maßnahmen sofort bereitstehen,wenn im nächsten Jahr die konjunkturellen Gefahrendeutlich zunehmen und Arbeitsplätze verlustig gehenkönnten. Über diese Maßnahme hinaus gibt es natürlichdie Notwendigkeit, die Rahmenbedingungen für dieLöhne wieder zu verändern, sodass es zu Lohnsteigerun-gen kommt.
Daneben besteht die dringende Notwendigkeit, endlichauch den Kurs der öffentlichen Ausgaben zu ändern. Wirbrauchen einen sozial-ökologischen Umbau und wiederviel mehr Ausgaben für Erziehung und Bildung. Hierliegt vieles im Argen.In meinem Bundesland hat die grün-rote Landesregie-rung, die mit vielen Vorschusslorbeeren gestartet ist, alseine ihrer ersten Aktionen 6 000 Lehrerstellen gestri-chen. Das hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass dieFinanzausstattung der öffentlichen Hände zu schlecht ist.Wir müssen deshalb eine Millionärssteuer einführen,damit wir mehr für Bildung tun und den sozial-ökologi-schen Umbau voranbringen können.Diese entscheidenden Punkte sind momentan notwen-dig. Sie werden bei dieser Regierung aber vollkommenausgeblendet. Wir treten dafür ein! Sozial-ökologischerUmbau und höhere Löhne: Das sind die entscheidendenPunkte, die wir nach vorne treiben müssen.Danke schön.
Ich mache nur der Übersichtlichkeit halber darauf
aufmerksam, dass ein konkreter Antrag zur Einführung
des Sozialismus dem Präsidium im Rahmen der Haus-
haltsberatungen nicht vorliegt. Darüber werden wir
heute also auch nicht abstimmen können.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Bei manchem, was man heute Morgen gehörthat – Einführung des Sozialismus –, kann einem in derTat angst und bange werden.Was sind die Tatsachen? Kollege Lindner hat sie vor-hin anhand der Zahlen und Fakten bereits hervorragenddargestellt. Wir konsolidieren. Deutschland geht in Rich-
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Dr. Joachim Pfeiffer
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tung Reduktion der Staatsverschuldung. Der Anteil derVerschuldung am Bruttoinlandsprodukt wird zurückge-hen, weil das Wachstum höher als die Verschuldung istund weil wir in diesem und auch im letzten Jahr gesamt-wirtschaftlich bereits mehr oder weniger die schwarzeNull geschrieben haben. Wenn Sie sich den Rest Europasanschauen, dann sehen Sie, dass es dort ganz anders aus-sieht. Insofern stimmt die Richtung hier eindeutig. Wirmachen den Einstieg in den Schuldenabbau.Was passiert aber in den Ländern, wo Sie, meineKolleginnen und Kollegen von Grün und Rot, Verant-wortung tragen? Frau Kraft in Nordrhein-Westfalen istdie Schuldenweltmeisterin. Dort, wo Sie die Regierungübernommen haben, gibt es nichts als neue Schulden.
– Herr Krischer und Herr Lindner, jetzt komme ich zuIhnen. Schauen wir einmal nach Baden-Württemberg:Dort kann man lernen, was Grün statt Sparen heißt.
Das kann man dort besichtigen. Die Vorgängerregierunghat zweimal einen Haushalt ohne Neuverschuldung vor-gelegt.
Die Vorgängerregierung hat dafür gesorgt, dass wir– wie auch Bayern – die Schulden hätten abbauen kön-nen. Und was macht die grün-rote Landesregierung inBaden-Württemberg? Zweimal war der Haushalt ausge-glichen; auch im letzten Jahr war er ausgeglichen. Jetztsagen Sie: Wir übernehmen einen Haushalt, der ausge-glichen ist, und deshalb müssen wir uns die nächstenacht Jahre verschulden und können die Neuverschuldungerst 2020 auf null bringen. – Das ist Grün statt Sparen,und zwar dort, wo Sie Verantwortung tragen.
Reden Sie also bitte nicht von Konsolidierung undSchuldenabbau; denn das glaubt Ihnen sowieso keinMensch.Zu Forschung und Entwicklung. In Deutschlandwurde in der Tat noch nie so viel wie jetzt für Forschung,Entwicklung und Bildung ausgegeben.
Herr Tiefensee, Sie haben vorhin gefragt, wo die in-dustrielle Basis gestärkt wird. Das kann ich Ihnen sagen.Sie wissen es eigentlich; wahrscheinlich war das einerhetorische Frage. In dieser Legislaturperiode haben wirbeispielsweise die Mittel für das ZIM-Programm – dasist das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand – mit500 Millionen Euro verstetigt. Das kommt direkt an undstärkt die industrielle Basis, weil es die mittelständi-schen Unternehmen in die Lage versetzt, ihre Ideen so-wie ihre Forschung und Entwicklungen unbürokratischauf die Piste zu bringen. Das stärkt die industrielle Basisin diesem Land.Seit 2005, als wir die Regierung übernommen haben,haben wir den Forschungsetat des Bundes um über50 Prozent auf fast 14 Milliarden Euro im nächsten Jahrerhöht. Das stärkt die industrielle Basis.Nach dem, was wir bereits getan haben, hören wiraber nicht auf, sondern wir machen in diesem Haushaltneue wichtige Schritte voran. Wir stärken beispielsweisedie Gründungen und das Wagniskapital. In diesem Haus-halt wird ein Investitionszuschuss für Wagniskapital,insbesondere zur Verbesserung der Finanzsituation jun-ger innovativer Unternehmen, neu eingeführt. In denkommenden vier Jahren werden rund 150 MillionenEuro dafür zur Verfügung gestellt. Das ist Säen zur rech-ten Zeit, damit wir auch in Zukunft Wachstum und Ar-beitsplätze ernten können.Jetzt möchte ich die Gelegenheit nutzen – dazu istheute schon sehr viel gesagt worden –, noch das eineoder andere zum Thema Arbeitsmarkt zu sagen. Wennman Sie hört, Herr Claus, Herr Schlecht – und wie Siealle heißen –, dann kann einem wirklich angst und bangewerden. Da meint man, wir wären hier in einem Landdes Prekariats und die Leute würden am Straßenrand sit-zen und verhungern. Diesen Eindruck kann man wirk-lich gewinnen.Aber das Gegenteil ist der Fall – der Kollege Lindnerhat das angesprochen –: 41,6 Millionen Menschen sindin Lohn und Brot und nicht in Not.
Vor allem sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätzesind entstanden, keine Teilzeitbeschäftigungen undkeine nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze.
Das ist doch die Wahrheit. Die Menschen, die in Lohnund Brot sind, zahlen in diesem und im nächsten Jahr soviele Steuern wie noch nie. Wir haben die höchsten Steu-ereinnahmen in der Geschichte, rund 260 MilliardenEuro, und die Kassen der Sozialversicherung sind voll.Das ist beschäftigungsorientierte Lohnpolitik, wie wirsie uns vorstellen.Das führt dazu, dass wir nicht nur die höchste Be-schäftigung haben, sondern dass auch die Arbeitslosig-keit zurückgeht. Sie geht insbesondere auch dort zurück,wo sie problematisch ist. Kollege Fuchs hat die Jugendangesprochen. Ich möchte die Langzeitarbeitslosen an-sprechen. Es ist gelungen, die Zahl der Langzeitarbeits-losen von 1,7 Millionen auf 1 Million zu reduzieren. Dasist noch immer 1 Million zu viel – nicht dass wir unsfalsch verstehen –, aber die Richtung stimmt. Das sind700 000 Langzeitarbeitslose weniger, als es in der Ver-gangenheit waren.
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Dr. Joachim Pfeiffer
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Was schlagen Sie vor? Die Grünen haben gerade be-schlossen, den Regelsatz für Hartz IV von 374 auf420 Euro anzuheben. Was bedeutet dies? Das bedeuteteinen Anstieg der Neuverschuldung um 15 Prozent imnächsten Jahr. Das wäre die Wirkung Ihres Vorschlags,wenn wir ihn umsetzen würden.Was wollen Sie noch? Sie wollen die Sanktionen fürHartz-IV-Empfänger abschaffen, nicht nur die Grünen,sondern auch die Linken und die ganz Linken.
Das ist aber nicht nur populistisch. Nein, das ist auchsachlich falsch. Ich sage es einmal ganz pointiert: Eswäre asozial, sie abzuschaffen.
Warum wäre das asozial? Die Zahl der Bezieher vonGrundsicherung beträgt heute statt 5 Millionen 4,3 Mil-lionen Menschen, also 700 000 weniger, als das noch2008 der Fall war. Die Betreuungsintensität hat zuge-nommen. Das ist genau das, was wir in den letzten Jah-ren gepredigt haben. Die Arbeitsuchenden werden nichtverwaltet, sondern sie werden wirklich betreut und akti-viert. Es werden Eingliederungsvereinbarungen ge-schlossen. Weiterbildung wird angeboten, und dieseAngebote werden wahrgenommen. Die Zahl der Joban-gebote für Arbeitsuchende nimmt zu. Das heißt, es gibtAuswahlmöglichkeiten. Es gibt ein wirkliches Kümmern– Fordern und Fördern – um die Arbeitslosen. Sie wer-den durch die Fallmanager gefordert.Was würde es bedeuten, wenn wir jetzt die Sanktio-nen abschafften? Was ist der Grund für diese Sanktio-nen? Sie sind im Wesentlichen auf Meldeversäumnissezurückzuführen. Das kann man auch andersherum inter-pretieren. Wenn ich wirklich eine Arbeit suche, dann binich bereit, zu arbeiten, und dann melde ich mich auch.Bei einigen ist es aber vielleicht so: Ich will gar keineArbeit und suche auch gar keine Arbeit. Deshalb meldeich mich nicht oder versäume es, mich zu melden. – Esist vorhin schon angesprochen worden: Vielleicht hat dereine oder andere Angst vor der Arbeit, die ihm angebo-ten wird.Genau deshalb ist das asozial. Die Mehrheit der Men-schen sucht nämlich Arbeit. Diese Menschen werdendann in einen Topf mit denen geworfen, die keine Arbeitwollen. Deshalb wäre es grundfalsch, dieses Verfahrenjetzt zu ändern.
Das wäre ein Schlag ins Gesicht derer, die ernsthaft nachArbeit suchen. Es ist ein Schlag ins Gesicht derjenigen,die dafür sorgen, dass die Gelder für die Hartz-IV-Emp-fänger zur Verfügung gestellt werden. Hartz-IV-Leistun-gen sind nämlich für diejenigen gedacht, die ihre Ar-beitsleistung zur Verfügung stellen und sich nicht nuralimentieren lassen. Insofern wäre das das völlig falscheSignal. Das werden wir nicht mitmachen.Sie reden immer von der Stärkung des Binnenkon-sums und des Binnenmarktes. Wir haben durch unserebeschäftigungsorientierte Lohnpolitik eine Lohnsteige-rung von 3,7 Prozent der Bruttolöhne in diesem Jahr undvon 3,2 Prozent im nächsten Jahr erreicht. Wir wollen,dass diese Bruttolöhne beim Arbeitnehmer und beimRentner auch ankommen. Was machen Sie? Sie blockie-ren im Bundesrat das Gesetz zur Abschaffung der kaltenProgression und zur Erhöhung des Grundfreibetrages.Damit verhindern Sie, dass diese Lohnsteigerungenbeim Arbeitnehmer und Verbesserungen beim Leis-tungsempfänger ankommen. Damit machen Sie das Ge-genteil dessen, was Sie hier immer im Munde führen.Ich möchte am Ende ganz kurz auf das Thema Ver-mögensteuer eingehen. Die Kapitalflucht ist hier schonangesprochen worden, auch die Erhöhung des Spitzen-steuersatzes, was die Grünen fordern.
Was heißt das? Sie tun im Rahmen einer Neidkampagneso – das Stichwort „Millionäre“ ist schon gefallen; eswird auch immer von Jachten gesprochen –, als ginge esdarum, diese Menschen zu treffen. In Wahrheit würdenSie mit den von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmenaber das Herz der deutschen Wirtschaft treffen, den Mit-telstand. 80 Prozent der Personengesellschaften wärenvon einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Ein-führung der Vermögensteuer betroffen. Das heißt, IhreSteuerpläne sind ein Angriff auf den deutschen Mittel-stand, auf den Träger von Wachstum und Beschäftigung.Das werden wir so nicht mitmachen.Angesichts dessen, was Grün und Rot hier planen, hatder Satz von Heine: „Denk ich an Deutschland in derNacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“ eine ganzneue und andere Bedeutung.
Wir werden dafür sorgen, dass die Deutschen auch wei-terhin ruhig schlafen können und dass es mit Wachstum,Konsolidierung und Beschäftigung in diesem Land wei-ter vorangeht.Vielen Dank.
Zu einer kurzen Intervention erhält der Kollege
Michael Schlecht das Wort.
Herr Pfeiffer, ich will Sie nur darauf hinweisen, dassSie von einer vollkommen falschen Faktenlage zur Be-schäftigung und vor allen Dingen zu der mittlerweileeinsetzenden Prekarisierung ausgehen.Wir haben in Deutschland in den Jahren 2000 bis2011 in der Tat einen Aufwuchs von 4,1 Millionen Ar-beitsplätzen erlebt. Aber diese 4,1 Millionen Arbeits-
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plätze sind praktisch samt und sonders sogenannte BadJobs. Das sind Jobs von Leiharbeitern bis hin zu Solo-selbstständigen. Sie haben in der gleichen Zeit, als wireinen Aufwuchs von etwas mehr als 4 Millionen Ar-beitsplätzen hatten, die, wie gesagt, deutlich mindererQualität sind, um das noch höflich zu formulieren,2,3 Millionen Vollzeitarbeitsplätze vernichtet, sodass un-ter dem Strich ein Plus von 1,8 Millionen an zusätzli-chen Arbeitsplätzen übrigbleibt. Das sind aber schlechteArbeitsplätze: Leiharbeit, Soloselbstständige, Werkver-träge und dergleichen mehr. Das sind häufig Jobs, vondenen man nicht leben und nicht sterben kann. Die gutenJobs – ich wiederhole die Zahl: 2,3 Millionen Vollzeit-arbeitsplätze – sind vernichtet worden. – Danke schön.
Herr Schlecht, durch ständiges Wiederholen werden
falsche Zahlen auch nicht richtig. Sie haben sich gerade
schon selber korrigiert. Auf der einen Seite sagen Sie,
dass sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wegge-
fallen sind. Auf der anderen Seite konstatieren Sie, dass
es einen Zuwachs von fast 2 Millionen Arbeitsplätzen
gibt.
In der Tat: Wir haben 2 Millionen sozialversicherungs-
pflichtige Arbeitsplätze mehr als vorher. Das ist das Er-
gebnis der Politik.
Differenzieren wir doch einmal: Die Beschäftigungs-
quote hat zugenommen. Sie umfasst aber alle Beschäf-
tigten. Es gibt viele Menschen,
die beispielsweise noch in der Familienphase sind oder
ein gewisses Alter haben. Die Alterserwerbstätigkeit
zum Beispiel ist dramatisch – im positiven Sinne – aus-
geweitet worden. Wie Sie wissen, haben im Jahr 2000 in
Deutschland gerade einmal 38 Prozent der Menschen im
Alter zwischen 55 und 64 Jahre gearbeitet. Heute sind es
60 Prozent. Das sind 22 Prozentpunkte mehr. Das heißt,
wir schöpfen das Arbeitskräftepotenzial besser und mehr
aus.
Zu diesem Ausschöpfen gehört natürlich auch die
Teilzeit. Es gibt Menschen, die nur teilzeitbeschäftigt
sein wollen. Deshalb ist die Zahl dieser Arbeitsplätze
ausgeweitet worden. Insofern vergleichen Sie Äpfel mit
Birnen.
Sie haben die richtige Zahl genannt. Insofern haben
Sie sich schon selber entsprechend korrigiert. Es gibt
nicht 27 Millionen, sondern 29 Millionen sozialversi-
cherungspflichtige Vollzeitarbeitsplätze. Das sind die
Zahlen und Fakten.
Nur wenn wir diese Beschäftigungsquote weiter erhö-
hen und auf über 70 Prozent ausweiten – das sind auch
die europäischen Ziele; manche skandinavischen Länder
haben bereits 75 Prozent erreicht –, haben wir die
Chance, bis 2025 dem Defizit, das sich aus der Demo-
grafie ergibt und das schon angesprochen wurde, zu be-
gegnen. Das ist nicht mehr lange hin; diese Zeit werden
hoffentlich alle von uns noch erleben. In zwölf Jahren
fehlen in diesem Land 6 Millionen Fachkräfte. Deshalb
müssen wir alle mobilisieren: die Menschen, die noch in
der Familienphase sind, die Älteren und auch die Müh-
seligen und Beladenen.
Ich habe es vorhin angesprochen: Wir können es uns
nicht mehr leisten,
dass jemand zurückbleibt und alimentiert werden muss.
Es müssen vielmehr alle aktiviert werden, damit wir den
Herausforderungen im Hinblick auf die Fachkräfte auch
in Zukunft entsprechend begegnen können.
Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Krischer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kein Redner der Koalition hat es ausgelassen, den grü-nen Parteitag zu erwähnen. Das muss eine beeindru-ckende Veranstaltung gewesen sein.
Damit haben wir das Hauptziel schon erreicht. UnsereBotschaften sind bei Ihnen in der richtigen Art undWeise angekommen.
Herr Pfeiffer, im Deutschen Bundestag im Zusam-menhang mit Menschen in unserem Land, die nicht aufder Sonnenseite des Lebens stehen, den Begriff „aso-zial“ zu gebrauchen, finde ich skandalös.
Dafür müsste es eine Entschuldigung geben.Sie hätten sich beinahe versprochen. Sie hätten fast„Not und Brot“ gesagt. Genau das trifft es nämlich.Wenn etwas asozial in unserem Land ist, dann ist es dieTatsache, dass Menschen Vollzeit arbeiten und von demGeld, das sie dafür bekommen, nicht leben können und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25383
Oliver Krischer
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aufstocken müssen. Das gehört durch einen gesetzlichenMindestlohn abgestellt.
Meine Damen und Herren, auch wenn man es nichtglauben mag und wahrscheinlich der Großteil der deut-schen Öffentlichkeit das noch nicht mitbekommen hat:Herr Rösler und das Wirtschaftsministerium sind inDeutschland für die Energiewende zuständig. Bei einemBlick in den Wirtschaftsetat, den Einzelplan 09, findensich viele schöne Dinge wie Luft- und Raumfahrt undmaritime Wirtschaft. Aber eines finden Sie dort über-haupt nicht: Die Energiewende findet in diesem Etatnicht statt.
Das ist ein Skandal. Wenn sein KabinettskollegeAltmaier sagt, dass das das größte industriepolitischeProjekt in diesem Land ist, dann hat dieser Minister ver-sagt, weil es im Etat nicht vorkommt.
Herr Lämmel, das wird nirgendwo deutlicher als beider Energieeffizienz. Wir kommen bei der Energieeffi-zienz nicht voran. Und was macht diese Bundesregie-rung? Sie verkündet, Deutschland solle Energieeffizienz-weltmeister werden. Gleichzeitig blockiert Deutschlandin Brüssel alles, was mit dem Thema Energieeffizienz zutun hat.
Nun hat Brüssel endlich eine Richtlinie verabschiedet.Das Einzige, was das Wirtschaftsministerium tut, ist, da-ran zu arbeiten, wie man diese Richtlinie wieder umge-hen kann. Das ist ein Skandal.
Ich sage: Wir brauchen einen Energieeffizienzfonds, deruns beim Thema Energieeffizienz endlich voranbringt.
Ich komme zum Netzausbau. Dafür ist – man glaubtes nicht – Herr Rösler zuständig. Aber was haben wirvon Herrn Rösler zum Thema Netzausbau in den letztenJahren gehört? Das Einzige, was in der breiten Öffent-lichkeit wirklich angekommen ist, war, dass er gegenNaturschutzverbände gepöbelt hat, um Stammtische zubedienen, und behauptet hat, Naturschutz würde denNetzausbau verhindern. Aber hier in diesem Hausemusste Herr Hintze – er sitzt dort hinten – zugestehen,dass die Bundesregierung all das, was der Minister for-dert, nämlich die Änderung der Naturschutzgesetzge-bung, nicht machen wird. Nur Sprechblasen, nur Stamm-tischparolen – das ist das, was wir von Herrn Rösler zumThema Netzausbau hören.
Kommen wir zu dem Thema Offshore. Es ist seit Jah-ren allen, die sich damit auseinandersetzen, klar, dasswir bei der Netzanbindung der Offshorewindparks aufein riesiges Problem zusteuern. Was macht dieser Minis-ter? Er macht jahrelang überhaupt nichts. Er lässt dasProblem auflaufen, und jetzt sind Schäden von mindes-tens 1 Milliarde Euro entstanden, für die Schadens-ersatzzahlungen geleistet werden müssen. Man verstän-digt sich darauf, dass wieder die Verbraucher zahlensollen. Wieder sind es die Privatverbraucher, die alleinezahlen, die Industrie ist komplett von der Zahlung ausge-nommen. Das ist ein Skandal. Das können Sie so nichtmachen.
Herr Kollege Krischer, darf der Kollege Pfeiffer Ih-
nen eine Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Ich wollte keine Zwischenfrage stellen, sondern eine
Kurzintervention machen.
Ja, aber der Zweck unserer Tagesordnung besteht
nicht darin, dass sich die Redner anschließend jeweils
noch einmal durch Kurzinterventionen zusätzliche Rede-
zeit verschaffen.
– Ist ja in Ordnung. Das kann durch eine Zwischenfrage
geklärt werden.
Dann versuche ich, das, was ich sagen wollte, in eineFrage zu kleiden.Kollege Krischer, gehe ich recht in der Annahme,dass wir hier keine falschen Behauptungen oder Feststel-lungen machen wollen? Sind Sie mit mir der Meinung,dass ich in meiner Rede vorhin keinen Menschen alsasozial bezeichnet habe, sondern dass ich es als asozial,als unsozial bezeichnet habe, dass Sie die Regelung, dieSanktionen für Hartz-IV-Empfänger vorsieht, wenn siedie Meldepflicht verletzen, zurücknehmen wollen? Denndamit erreichen wir das Gegenteil von dem, was wirwollen. Ich glaube, ich habe ausführlich beschrieben,was ich damit meinte.Insofern will ich klarstellen, dass ich hier niemandenals asozial bezeichnet habe, sondern das, was Sie vor-schlagen, als asozial und als unsozial kritisiert habe.
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Herr Pfeiffer, ich wäre mit dem Benutzen des Begriffs
„asozial“ vorsichtig, gerade in diesem Raum und gerade
im Zusammenhang mit Menschen, die wirklich nicht auf
der Sonnenseite der Gesellschaft stehen.
In diesen Zusammenhang haben Sie das gestellt.
Bei mir ist es so angekommen, und das ist nicht in Ord-
nung. Sie sollten mit Ihrer Wortwahl vorsichtiger sein.
Das sollten Sie einfach üben.
Sie sollten lernen, ein Vokabular zu benutzen, das Ihrem
Anspruch von Bürgerlichkeit entspricht.
– Dass sich jemand von Ihnen hier hinstellt und solche
Worte benutzt, finde ich nicht in Ordnung. Da sollten Sie
sich an die eigene Nase fassen.
Ich will zu einem Punkt kommen, den wir nächste
Woche hier im Plenum beraten werden. Eben war viel
von Sozialismus und Planwirtschaft die Rede. Der Wirt-
schaftsminister dieser Bundesregierung plant etwas, was
nichts anderes als Sozialismus und Planwirtschaft ist: ein
– man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen –
„Kraftwerkszwangsbetriebsgesetz“. Kraftwerksbetreiber
in Deutschland sollen zur Aufrechterhaltung des Be-
triebs ihres Kraftwerks verpflichtet werden, wenn die
Bundesnetzagentur bzw. die Bundesregierung das will.
Meine Damen und Herren, was anderes als Sozialismus
und Planwirtschaft kann es sein, wenn man ein solches
Gesetz macht?
Das kann nicht sein. Wir schlagen etwas anderes vor.
Wir brauchen marktwirtschaftliche Instrumente in der
Energiewirtschaft. Wir müssen dafür sorgen, dass die
Schaffung von Kapazitätsmärkten endlich vorankommt.
Ich könnte mir eigentlich vorstellen: Wenn man ein
solches Gesetz macht, dann müsste das bei den Linken
zu Verzückungen führen. Es müsste sie verzücken, dass
der Staat anordnen kann, dass ein Kraftwerk weiter be-
trieben wird. Diese Regierung toppt es ja noch. Ich habe
vor drei oder vier Tagen in einer Tickermeldung gelesen,
dass man jetzt sogar den Neubau von Kraftwerken an-
ordnen will. Das werde in der Bundesregierung überlegt.
Hier vorne sitzt die Kollegin Gesine Lötzsch. Sie befin-
det sich auf der Suche nach dem Kommunismus. Sie
wird bei Herrn Rösler fündig; denn genau das, was für
die Energiewirtschaft geplant wird, ist Sozialismus, wie
ihn die Linke offensichtlich anstrebt.
Vor diesem Hintergrund möchte ich zu einem weite-
ren energiepolitischen Punkt kommen. Dieser Minister
will das EEG quasi abschaffen; auch das ist heute schon
ein paarmal angesprochen worden. Er will es nicht refor-
mieren, sondern er will ein Quotenmodell einführen. Ge-
rade zu dem Zeitpunkt, wo in Großbritannien das Quo-
tenmodell gescheitert ist und die konservative britische
Regierung es abschaffen will, will dieser Wirtschafts-
minister es in Deutschland einführen.
Diese Woche habe ich auf der ersten Seite der Aache-
ner Nachrichten gelesen, dass das von Herrn Rösler ver-
wendete Wort „Anschlussverwendung“ noch im Rennen
ist als mögliches Unwort des Jahres 2012. Meine Damen
und Herren, „Unwort des Jahres“, das passt zu diesem
Wirtschaftsminister.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Georg Nüßlein für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ichwollte eigentlich mit ein paar Worten zum Haushalt an-fangen. Ich muss aber zunächst auf das eingehen, wasSie, Herr Krischer, hier gerade abgeliefert haben. Es istnämlich ein Skandal – um eines Ihrer Worte zu gebrau-chen –, was Sie hier tun. Sie haben es sich einfach ge-macht: Sie verunglimpfen das, was der Kollege vorhergesagt hat. Ich unterstelle Ihnen einmal, dass Sie es intel-lektuell durchaus begriffen haben. Aber Sie schaffensich eine Basis, um leichter dagegen anargumentieren zukönnen, und das ist, mit Verlaub, extrem unanständig.
Kollege Pfeiffer hat ganz deutlich formuliert, dass ernicht Menschen, sondern das, was Sie als Regelungenvorschlagen, gemeint hat. Er hat nicht einmal gesagt, erhabe Sie gemeint. Auch das könnte man vielleicht nochglauben; das wäre in diesem Zusammenhang ja nichtganz abwegig. Er hat klar gesagt, er habe Regelungengemeint, zu denen Sie sagen: Derjenige, der in ZukunftHartz IV bekommt, soll sich dem Arbeitsmarkt nichtmehr zwingend zur Verfügung stellen. – Sie wollen ei-nen falschen Weg einschlagen. Das wird man im Deut-schen Bundestag doch wohl noch sagen dürfen.
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Wenn Sie wenigstens nicht so weitergemacht hätten.Sie behaupten falsche Dinge, nur weil es gerade in IhreArgumentation passt. Sie sagen: Offensive Energiepoli-tik findet mit diesem Etat nicht statt. – Das ist falsch.Das Ganze wird allerdings von einem Jahrzehnte wäh-renden Subventionstatbestand überlagert, nämlich derSteinkohlethematik. Sie hätten sagen können: Lassen Sieuns alle miteinander aufpassen, dass uns dergleichen mitden erneuerbaren Energien nicht noch einmal passiert.Das wäre einmal ein richtiges Wort von Ihnen gewesen.Wir sollten uns Probleme dieses Ausmaßes nicht nocheinmal einhandeln.Sie behaupten, offensive Energiepolitik fände nichtstatt, wohl wissend, dass sich die Finanzierung der Ener-giewende über mehrere Etats verteilt. Beispielsweisesind die Mittel für die Umsetzung des EEG insbesondereim Einzelplan des Umweltministeriums veranschlagt.Das alles wissen Sie, und trotzdem stellen Sie die Dingehier in einen falschen Zusammenhang. Ich halte das fürausgesprochen unredlich. Ich würde mir wünschen, dassSie das in Zukunft unterlassen. Ich hatte mehrfach genaudieses Problem mit Kolleginnen und Kollegen von denGrünen. Es ging sogar so weit, dass ich einmal jemandenabmahnen musste, weil sie explizit das Gleiche gemachthat, nämlich etwas Falsches behauptet und dann dagegenargumentiert hat. Das sollte man im Umgang miteinan-der nicht tun. Das sagt jemand, der durchaus etwashemdsärmelig ist. Es ist nicht so, dass ich nichts ertragenkann. Aber es wäre schön, bei der Wahrheit zu bleiben.
Lassen Sie mich, weil es schon angemahnt wurde,jetzt über das Thema reden. Der Etat des BMWi beträgt6,1 Milliarden Euro. Überschlägig sind es 2 Prozent desGesamthaushaltes. Er ist klein, aber oho. Das mag vor-kommen. Aber, meine Damen und Herren, die Schwer-punkte sind spannend.Die Innovationsförderung ist mit 2,3 Milliarden Euroeiner der Schwerpunkte im Haushaltsansatz des BMWi.Darunter fällt das Zentrale Innovationsprogramm Mittel-stand, kurz: ZIM, das auf 510 Millionen Euro aufge-stockt werden soll.Ich habe mir erlaubt, die IHK Schwaben zu bitten,dieses Programm zu evaluieren. Dies ist ganz spannend.Ich kann Ihnen nur empfehlen, vor Ort zu schauen, waswir damit organisieren und provozieren. 40 Prozent der200 Unternehmen, die an dieser Umfrage, die die IHKorganisiert hat, teilgenommen haben, hätten ihr Innova-tionsprojekt ohne das ZIM nicht bewerkstelligt. 37 Pro-zent verfügen nun durch das ZIM über Kontakte zu an-deren Unternehmen des Kammergebietes, welche zuvornicht bestanden. Fast jedes fünfte Unternehmen hat aufGrundlage des ZIM Kontakte zu Universitäten, zu Hoch-schulen und zu diversen Forschungseinrichtungen ge-knüpft. 95 Prozent der neu entstandenen Jobs sollen überden Programmlauf hinaus beibehalten werden. Und96 Prozent der Unternehmen haben angegeben, sie wür-den sich wieder an einem solchen Innovationsprojekt be-teiligen. Das ist beeindruckend. Es hat mich nicht nurgefreut, dass die Umfrage gemacht wurde, sondern auch,dass sich die Wirkung dieses Programmes bestätigt hat.Das zeigt, dass wir einerseits zu Recht auf Innovationund andererseits zu Recht auf den Mittelstand setzen.Dem Mittelstand ist ein spezielles Kapitel im Haus-halt gewidmet unter dem Motto „Gründen, Wachsen, In-vestieren“. Es wird mit 874 Millionen Euro dotiert. Ichmöchte noch einmal sagen, weil wir heute schon vielüber die Konjunktur gehört haben: Wir alle wissen – je-denfalls unsere Seite; bei Ihnen bin ich mir nicht immersicher –, dass wir die robuste konjunkturelle Lage diesesLandes dem deutschen Mittelstand und den produktivenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verdanken.
Wir haben viele negative Dinge zur konjunkturellenLage gehört. Dies ist offenbar dem Wahlkampf geschul-det. Wir übersehen überhaupt nicht, dass das europäi-sche Umfeld natürlich Auswirkungen darauf hat, wassich in Deutschland abspielt, Herr Schlecht. Spannendfand ich Ihre Abgrenzung nach Good and Bad Jobs. Ichverstehe nicht, wie Sie diese Abgrenzung machen. Sowie Sie es beschreiben, kann es nicht sein. Selbst wennes so wäre, hätten wir keine Überschusse in den Sozial-kassen. Das wäre doch nicht so, wenn dies alles Jobs wä-ren, die prekär bzw. jenseits der Sozialversicherungs-pflicht sind. Das glaube ich nicht. Das ist angesichts derZahlen unrealistisch. Deshalb bitte ich auch Sie, keineUnwahrheiten zu verbreiten.
Natürlich spielt das europäische Umfeld eine Rolle.Man kann sich die Frage stellen: Wie geht man damitum? Die Linke hat angedeutet, die deutschen Exporteseien daran schuld. Ich weiß nicht, was Sie tun wollen.Wollen Sie dafür Sorge tragen, dass wir weniger expor-tieren?
Bei einer exportorientierten Nation bedeutet das im Um-kehrschluss den Abbau von Jobs. Das halte ich für aus-gesprochen schlecht, Herr Schlecht.Im Übrigen finde ich, dass die Themen, die hier sonstangesprochen werden – Euro-Bonds, Bankenunion, diegrüne Altschuldentilgung –, sicher kein Beitrag dazusind, mit der Schuldenkrise richtig umzugehen. DieseVorschläge senken die Zinsen in den Schuldnerländern.Damit verursachen wir falsche Marktsignale. Ferner ge-hen sie zulasten unserer Bonität. Sie erhöhen unsere Zin-sen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, welche Schwie-rigkeiten das in unseren Haushalten auslösen würde.In den Haushaltsdebatten habe ich vielfach gehört,wie wenig ambitioniert dieser Haushalt in toto sei. Ichmöchte einmal festhalten: Die Aufstockung des Stamm-kapitals des ESM um 8,7 Milliarden Euro belastet unse-ren Haushalt. Die SPD hat – wenn ich es richtig zusam-mengerechnet habe – 6,3 Milliarden Euro Mehrausgaben
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Dr. Georg Nüßlein
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beantragt. Dabei haben Sie vorgeschlagen, was mandenn alles noch zusätzlich machen könnte.Bei den Grünen habe ich nur die Vorschläge zum Um-welt- und dem Entwicklungshilfeetat zusammengezählt.Dabei bin ich auf 3,4 Milliarden Euro gekommen, dieSie gern mehr hätten.
Also, Haushaltskonsolidierung heißt bei Ihnen jeden-falls nicht sparen.
Jetzt komme ich zum Parteitag der Grünen und zudem, was gelegentlich von der SPD vorgeschlagen wird.Sie haben ganz deutlich gesagt, was Sie machen wollen:Sie wollen Steuern erhöhen; Sie wollen Substanzsteuernerheben.
Sie wollen genau die Dinge, die hier mehrfach andisku-tiert wurden. Das ist Ihre Vorstellung von Sparen. Michärgert in diesem Zusammenhang, dass Sie es auch nochfertigbringen, die Leute zu täuschen.Ich habe vor kurzem mit einer netten Ärztin gespro-chen. Diese hat mir erklärt, dass sie alles toll findet: DieMillionäre werden zur Kasse gebeten. Ich habe ihr da-raufhin gesagt: Überlege einmal, was du verdienst undwas du am Ende bezahlen wirst. – Sie hat mir das erstdann geglaubt, als ich ihr vorgerechnet habe, ab wannIhr erhöhter Spitzensteuersatz greifen wird. Dann ist ihrklar geworden, dass sie mit dabei ist.Tun Sie also doch hier nicht so, als ob es am Schlussdie Millionäre treffen würde. Das stimmt doch nicht. DieMittelschicht wird es sein. Sie sind wieder auf dem Weg,eine Kuh auf einer Wiese melken zu wollen, auf der eskeinen Zaun gibt. Nur die wenigen Kühe, die angepflocktsind, die Mittelständler, die Mittelschicht, werden Sie amSchluss damit erwischen, wenn Sie denn gewählt wer-den. Ich glaube nicht, dass man mit einem solchen Vor-schlag, mit einem solchen Programm gewählt wird. Ichglaube, dass es gut ist, dass wir auf dieser Seite des Hau-ses dafür sorgen, dass der konjunkturelle Aufschwung inDeutschland anhält. Die Voraussetzung hierfür ist, dasswir im nächsten Jahr eine entsprechende Mehrheit be-kommen, und diese werden wir bekommen.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Georg Nüßlein. – Nächster
Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus
Heil.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Ich muss ganz offen sagen: Ich binmir mit Blick auf die Menschen, die uns vor den Fern-sehschirmen und auf der Tribüne zuschauen, nicht ganzsicher, ob die unterkomplexe Art und Weise, in der diepolitischen Ränder eine wirtschaftspolitische Debatteführen, wirklich immer eine Werbung für unsere Demo-kratie ist.
Was meine ich? Was haben wir heute gehört? Auf dereinen Seite haben wir das eine Extrem gehört: Alleswunderbar, rosarote Brille, regierungsamtlich. Auf deranderen Seite hat die Linkspartei gesagt: Die Welt gehtunter.Ein realistischer Blick auf unsere wirtschaftspoliti-sche Situation würde uns auf Folgendes bringen: Ja, esist richtig: Wir stehen nach wie vor stärker da als andereVolkswirtschaften in Europa, die vergleichbar sind. Dashat Ursachen, über die man diskutieren kann.Es stellt sich die Frage, wer das gemacht hat. Sie sa-gen: Wir haben es gemacht. – Wir sagen: Wir haben esgemacht. – Ich glaube, das interessiert die Leute garnicht mehr; denn Tatsache ist: Es ist vor allem das Ver-dienst von fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern und von tüchtigen Unternehmen in diesem Land,die dafür gesorgt haben, dass wir so gut dastehen.
Tatsache ist, dass wir eine starke industrielle Wert-schöpfungsbasis haben. Es ist vollkommen richtig, HerrFuchs, was Sie da beschrieben haben. Auf der anderenSeite gibt es aktuell in diesem Land aber auch Fehlent-wicklungen. Es ist sozialversicherungspflichtige, guteArbeit entstanden. Es ist aber auch prekäre Arbeit ent-standen, die man zurückdrängen muss. Es ist nicht inOrdnung, wenn Menschen 3 oder 4 Euro pro Stunde ver-dienen. Es gibt einen Missbrauch von Zeit- und Leihar-beit.Meine Bitte an die beiden extremen Ränder hier imHause ist,
weder mit einer rosaroten Brille noch mit Untergangs-szenarien unser Land zu beschreiben, sondern mit einemrealistischen Blick festzustellen, dass wir nach drei Jah-ren guter konjunktureller Entwicklung im kommendenJahr in schwieriges Fahrwasser geraten.Herr Rösler, was Sie sich zurechnen lassen müssen,ist Folgendes: Sie haben sich in den letzten drei Jahrenauf einer guten Konjunktur ausgeruht sowie auf Ent-scheidungen von Vorgängerregierungen, auf den Leis-tungen von anderen. Sie mahnen jetzt immer Strukturre-formen in anderen Ländern an. Das ist gar keine Frage;das muss in vielen Ländern sein. Aber sagen Sie mal:
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Hubertus Heil
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Welche einzige Strukturreform haben Sie eigentlich inIhrer Amtszeit zu verantworten? Mir fällt keine ein.Sie müssen sich als Bundesminister für Wirtschaft be-rechtigte Fragen stellen lassen. Diese sind vorhin ange-sprochen worden. Ich will diese nur noch einmal unter-streichen. Dabei geht es um die Frage, welche InitiativenSie ergriffen haben, um dem Mittelstand in Deutschlandwirksam zu helfen. Wo sind Ihre Initiativen für einedurchgreifende Entlastung des Mittelstands von über-flüssiger Bürokratie?Wo ist Ihre versprochene steuerliche Forschungsför-derung, um Innovationen zu unterstützen? Worin bestehteigentlich Ihre Initiative gegen den Fachkräftemangel?Kommen Sie mir jetzt nicht mit der Bluecard! 138 Men-schen sind darüber ins Land gekommen. Ist das wirklichdie Antwort auf die sich auftuende Spaltung des Arbeits-marktes? Immer mehr Unternehmen suchen händerin-gend qualifizierte Fachkräfte, und auf der anderen Seitesind Menschen in unserem Land nach wie vor abgehängtin prekärer Beschäftigung oder stehen ganz draußen.Meine Damen und Herren, zum Thema „Fachkräftesi-cherung“ muss man eines sagen: Wenn die Fachkräfte inder Regierung fehlen, ist es kein Wunder, dass das Fach-kräftekonzept dieser Regierung fehlt.
– Herr Kauder, Sie können in Ihrer berühmten Art he-rumblöken, wie Sie wollen.
Sie werden nicht verhindern können, dass dieser Wirt-schaftsminister sich einer weiteren Frage stellen muss,nämlich der Frage, ob er seiner Verantwortung im Be-reich der Energieversorgung gerecht wird. Mit dieserFrage möchte ich mich etwas intensiver auseinanderset-zen.
Sie halten sehr viele Reden dazu. Dabei muss ich Fol-gendes feststellen: Die Energiewende in diesem Landdroht aufgrund Ihrer Untätigkeit zu stocken oder gegendie Wand gefahren zu werden.
Sie beklagen die Erhöhung der EEG-Umlage in die-sem Herbst. Ja, seit wann ist die denn explodiert? Seitdem Jahr 2010, unter schwarz-gelber Regierungsverant-wortung, und das deshalb, weil Sie keine Vorstellung ha-ben, wie diese Energiewende gemanagt wird und wieeine Umsetzung erfolgen muss.Lassen Sie uns darüber unterhalten, wie man dieEnergiewende angesichts dieser kurzen Zeiträume be-werkstelligen könnte. Es handelt sich ja um eine dop-pelte Energiewende, mit sehr ehrgeizigen Klimaschutz-zielen und dem Ausstieg aus der Atomkraft. VersuchenSie nicht immer, den anderen die Schuld zuzuschieben,sondern werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht!Wir werden Vorschläge machen und durchsetzen, dieklar besagen: Wir wollen den Ausbau erneuerbarer Ener-gien. Wir brauchen ein Marktdesign, um Stück für Stücküber das EEG die Erneuerbaren marktfähig zu machenund in die Direktvermarktung zu überführen. Wir müs-sen dafür sorgen, dass auch im konventionellen Bereichgesicherte Kapazitäten vorhanden sind, um die Versor-gungssicherheit in diesem Land zu gewährleisten.Sie haben nichts gemacht seit Fukushima. Sie sind ei-nen Zickzackkurs gefahren. Sie haben Planungs- und In-vestitionssicherheit kaputt gemacht. Mit Blick auf Nie-dersachsen – unsere gemeinsame Heimat, Herr Rösler –will ich Ihnen ein aktuelles Beispiel nennen: Sie habenim Bereich Offshore große Ankündigungen gemacht,sind untätig geblieben, und heute erleben wir die kata-strophalen Folgen.Sagt Ihnen das Unternehmen SIAG Nordseewerke inEmden etwas?
Da verschwinden gerade Tausende von Arbeitsplätzenim Bereich der erneuerbaren Energien, in der Offshore-anbindung, weil Sie nicht dafür gesorgt haben, dass dieVoraussetzungen für Planungs- und Investitionssicher-heit geschaffen werden konnten.Große und kleine Unternehmen, sowohl die großenEVU als auch die Stadtwerke, ziehen sich von den Off-shoreinvestitionen zurück, weil Sie keine Planungs- undInvestitionssicherheit geschaffen haben. Sie haben keineAntwort darauf gegeben, wie der Netzausbau vorankom-men soll. Damals, als wir gesagt haben: „Wir braucheneine deutsche Netz AG, um privates Kapital öffentlichabgestützt zum Netzausbau zu mobilisieren“, haben Siesich geweigert. Heute haben wir den Salat, weil das zu-ständige Unternehmen – übrigens ein holländischesStaatsunternehmen – nicht investitionsstark ist.Meine Damen und Herren, dieser Minister ist einEnergiewendeversager. Das ist ein Standortrisiko fürDeutschland.
Sie müssen sich zurechnen lassen, dass Sie Verantwor-tung dafür tragen, dass nicht nur die Versorgungssicher-heit für dieses Industrieland mittlerweile zu einem Pro-blem geworden ist, sondern auch die Bezahlbarkeit derEnergie sowohl für die Unternehmen als auch für dieVerbraucher.Lassen Sie mich einen Satz sagen zu den Ausnahmenfür energieintensive Unternehmen. Es bleibt dabei: Aus-nahmen für energieintensive Betriebe, die im internatio-nalen Wettbewerb stehen, für Betriebe in den Grund-stoffindustrien, sind hochgradig richtig; denn dieseUnternehmen würden sonst ihre Standorte verlagern,weil es in anderen Ländern bestimmte Regime nicht gibtund die Energiekosten niedriger sind. Für die energiein-tensiven Unternehmen, die alle Effizienzmaßnahmen
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ausgeschöpft haben, die im internationalen Wettbewerbstehen, sind diese Ausnahmen richtig.Aber falsch ist Ihre Ausweitung auf Unternehmen, dieüberhaupt nicht im Wettbewerb stehen. Sie diskreditierendie notwendigen Ausnahmen für energieintensive Be-triebe, indem Sie diese Ausnahmen ohne Sinn und Ver-stand ausgeweitet haben. Das Ergebnis ist, dass die Ver-braucher, aber auch andere Unternehmen für die Folgenzu zahlen haben, nämlich durch eine erhöhte EEG-Um-lage. Das ist die Wahrheit. Wir müssen diese Ausnahmenzurückführen auf die Unternehmen, die sie tatsächlichbrauchen.
Sie bekommen es nicht einmal hin, ein vernünftigesManagement dieser Energiewende zu organisieren. Daverhakeln sich Ressorts. Früher war es Herr Röttgen ge-gen Herrn Rösler, heute ist es Herr Altmaier gegen HerrnRösler. Ramsauer sitzt noch irgendwo herum, Schavanwäre auch zuständig. Ich sage ja nicht, dass es nicht auchzu anderen Regierungszeiten Ressortauseinandersetzun-gen gegeben hätte. Das ist ganz natürlich, weil man jaunterschiedliche Zuständigkeiten hat. Nur: In rot-grünerZeit gab es damals am Ende des Tages beispielsweiseimmer eine Koordinierung durch das Kanzleramt. Alssich Werner Müller und Jürgen Trittin nicht immer einigwaren, hat Frank-Walter Steinmeier dafür gesorgt, dasswir zu Lösungen gekommen sind. Wo ist eigentlich HerrPofalla im Bereich der Energiewende, meine Damen undHerren? Wenn Sie es nicht schaffen, auf Bundesebeneeinig zu sein, dann ist es kein Wunder, dass Sie die Ko-ordinierung mit den Ländern nicht hinbekommen.Sie haben keinen Masterplan.
Sie haben keine Antworten auf die Frage, wie wir dieEnergiewende hinbekommen. Sie sind verantwortlichfür steigende Strom- und Energiekosten in diesem Land.Sie haben Planungs- und Investitionssicherheit kaputtgemacht. Deshalb sage ich: Wir müssen 2013 mit demaufräumen, was Sie hinterlassen haben.
Das ist für mich der entscheidende Punkt: Sie habensich drei Jahre lang auf einer guten Konjunktur ausge-ruht. Sie haben keine Zukunftsvorsorge betrieben, wederin der Energiepolitik noch in Bezug auf die demografi-sche Entwicklung. Wie Sie es nach drei Jahren guterkonjunktureller Entwicklung schaffen, ein Loch von1,6 Milliarden Euro in die Arbeitslosenversicherung zureißen, das müssen Sie uns eigentlich einmal erklären.Sie haben die Sozialversicherungskassen ausbluten las-sen. Sie plündern die Kreditanstalt für Wiederaufbau.Diese Regierung hat keine Zukunftsvorsorge für dieschwierigen Zeiten getroffen, vor denen wir jetzt stehen,weil die Euro-Krise wie ein Bumerang auch nachDeutschland zurückkommt. Hoffentlich wird es nicht soschlimm wie 2008/2009, als wir gegengesteuert haben,hoffentlich nicht! Aber es gibt erhebliche Risiken.Ich kann Ihnen nur sagen: Ergreifen Sie Maßnahmen,um Schlimmeres von unserem Land abzuwenden! Än-dern Sie zum Beispiel die Regelungen zur Kurzarbeit.Frau von der Leyen hat sich da offen gezeigt; Sie blo-ckieren, hoffentlich nicht so lange, bis es zu spät ist. DasInstrument der Kurzarbeit hat uns schon einmal gehol-fen, durch die Krise zu kommen. Sorgen Sie dafür, dassdie Kreditanstalt für Wiederaufbau ihren Job als Förder-bank machen kann! Sie wird in vielen Bereichen ge-braucht. Plündern Sie nicht ihre Kassen!Meine Damen und Herren, wir werden 2013, nach ei-nem Regierungswechsel, im Bereich der Wirtschafts-politik die Dinge anpacken müssen, die Sie drei Jahreliegen gelassen haben. Deutschland ist ein starkes Land– wir sind nach wie vor stark –; aber wir dürfen uns nichtauf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen. Wir ste-hen in einer stärkeren internationalen Konkurrenz. Wirhaben den demografischen Wandel zu bewerkstelligen.Es gibt einen Fortschritt in Wissenschaft und Forschung,bei dem wir mithalten müssen, zum Beispiel mithilfesteuerlicher Forschungsförderung, damit auch der Mit-telstand profitiert. Schließlich haben wir die Energie-wende in diesem Land zu schultern. Das sind die Zu-kunftsaufgaben, denen wir uns stellen werden.Herr Rösler, es ist gut, dass es Restlaufzeiten gibt,nicht nur für Atomkraftwerke, sondern auch für IhreAmtszeit. Ich bin mir sicher: Die Laufzeiten werden vonden Wählerinnen und Wählern nicht verlängert werden,weder bei der niedersächsischen Landtagswahl noch beider Bundestagswahl. Um dafür zu sorgen, dass Deutsch-land ein starkes, auch ein soziales Land bleibt, brauchenwir diesen Regierungswechsel, gerade im Bereich derWirtschaftspolitik. Sie haben die schlechteste Bundesre-gierung seit 1949 zu verantworten.
Das gilt auch für die Wirtschaftspolitik.Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege
Dr. Martin Lindner.
Man überlegt sich in einem solchen Moment, ob essich überhaupt lohnt.
Aber ich muss Ihre Äußerungen natürlich förmlich zu-rückweisen. Die Tatsache, dass Sie eine Partei wie dieFDP, die von 1949 bis heute mehr als doppelt so lang inRegierungsverantwortung stand wie die SPD,
als „extremen Rand“ bezeichnen, und Ihre Ausfälligkei-ten und Pöbeleien gegenüber dem Vorsitzenden derUnionsfraktion zeigen doch, wo Sie gerade stehen, in
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Dr. Martin Lindner
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welch orientierungslosem Zustand Sie sich gerade befin-den.Eine Partei, die vormals eine Industriepartei in derlinken Mitte war und sich heute selber ein Programmwie das Ihrige gibt, das irgendwo zwischen Hollandeund der Linkspartei mäandert, und auf der anderen Seiteeinen Kanzlerkandidaten kreiert
– anders kann man es gar nicht bezeichnen; richtig ge-wählt ist er ja nicht –, der selber für die Rente mit 67, fürdas Betreuungsgeld, für die Flexibilisierungselementeam Arbeitsmarkt stand und überhaupt nicht zu Ihrem ko-mischen Programm zwischen Hollande und Linksparteipasst, eine solche Partei – Herr Heil, das haben Sie unsgerade wirklich eindrucksvoll vorgeführt – braucht nochvier bis acht Jahre, um sich zu regenerieren, um sich zufinden, um einen Diskurs zu führen, ob man Deutschlandaus der Mitte oder eben vom Rand regieren will. TretenSie hier wieder an und bemühen Sie sich um die Wähler-schaft, wenn dieser Prozess abgeschlossen ist und Sie je-manden gefunden haben, der zu Ihrem Programm passt,
damit es Hand in Hand geht! Bis dahin wünsche ich Ih-nen, Herr Heil, einen wirklich erfolgreichen Selbstfin-dungsprozess.
Das Wort zur Antwort hat unser Kollege Hubertus
Heil.
Ich widerstehe der Versuchung, über Cannabis zu re-den, Herr Lindner; das ist Ihr privates Vergnügen.Ich will Ihnen erklären, warum ich von Rändern ge-sprochen habe. Das meine ich nicht im Sinne von Extre-mismen in allen möglichen Politikfeldern, sondern imBereich der Wirtschaftspolitik. Die wirtschaftsradikaleVorstellung, die Sie liberal nennen, nach dem Motto„Der Markt kann alles viel besser; wenn jeder sich umsich selbst kümmert, dann ist an alle gedacht“, das istnicht meine Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft.
Sie müssen begreifen, dass Ihre Vorstellung vonEntstaatlichung in allen Lebensbereichen nicht mehrzeitgemäß ist. Das sehen wir an den Finanzmärkten, woRegulierung gefragt ist. Das gilt für viele andere Berei-che auch.Unsere Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft istklar: So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig.Das unterscheidet uns von radikalen Entstaatlichern, wieSie es sind. Ich habe zwei Parteien beschrieben, die inwirtschaftspolitischer Hinsicht – das sieht man auch ander Sitzordnung in diesem Hause – an den Rändernsitzen.
Wir wollen, dass wirtschaftlicher Erfolg und sozialeGerechtigkeit keine Gegensätze sind; wir wissen: Dassind wechselseitige Bedingungen. Wir wollen uns darumkümmern, und zwar gemeinsam mit Bündnis 90/DieGrünen, mit denen wir viele Gemeinsamkeiten haben,wenngleich es vereinzelt Unterschiede gibt.
Eines lasse ich mir von Ihnen nicht nachsagen, HerrLindner. Mit Blick auf meinen Wahlkreis und mit dem,was ich politisch zu verantworten habe, können Sie allesdumm finden.
Offensichtlich sind Sie der Meinung, der politische Geg-ner hat immer unrecht. Dass Sie jemand sind, der sichfür die Industriearbeiterschaft in diesem Land einsetzt,das halte ich für ein schräges Gerücht. Wir haben durchdie Reformpolitik der rot-grünen Bundesregierung dafürgesorgt, dass dieses Land nach wie vor eine Industrie-nation geblieben ist. Als Sie Leitbildern wie Irland hin-terhergelaufen sind, die rein auf Finanzwirtschaft undnicht mehr auf produzierendes Gewerbe gesetzt haben,als Sie uns als kranken Mann Europas darstellen wollten,
weil wir auf die Wertschöpfungsketten, angefangen beiden Grundstoffindustrien, gesetzt hatten, als Sie gesagthaben: „Die Zukunft liegt allein bei Dienstleistung“– und gemeint war Finanzdienstleistung –, in dieser Zeithaben wir dieser Mode widerstanden. Das unterscheidetuns, Herr Lindner.In meiner Heimat in Niedersachsen, in der es Stahl-industrie, Volkswagen und Grundstoffindustrien gibt,bleibt die Wirtschaft nicht stehen. Sie wird sich weiterwandeln und sich den anstehenden Herausforderungenstellen,
und das mit einer gesunden industriellen Basis.Welchen Bezug Sie zum Thema Industriepolitik ha-ben, erschließt sich mir überhaupt nicht. Das haben wirin den Verhandlungen darüber, was in Europa notwendigist, gemerkt.
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25390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Hubertus Heil
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Sie halten allein eine Politik des Kürzens für richtig. Siehalten überhaupt nichts von Wachstumsimpulsen.
Insofern sage ich Ihnen ganz deutlich, Herr Lindner:Machen Sie sich um meine Partei nicht so wahnsinnigviel Gedanken. Wir kümmern uns schon um uns selbst.Machen Sie sich lieber Gedanken darüber, warum dieWählerinnen und Wähler der Meinung sind, dass Sienicht nur nicht mehr in die Regierung gehören, sondernin vielen Ländern auch nicht mehr in die Parlamente.Setzen Sie sich besser mit sich selbst auseinander.
Ich sage es noch einmal: Ich halte Sie politisch, wasdemokratische Fragen betrifft, nicht für einen Extremis-ten. Sie sind ein liberaler Geist.
Aber ich stelle fest: Wirtschaftspolitisch sind Sie nichtnur am Rand des Mainstreams, wirtschaftspolitisch be-findet sich die FDP am Rand der Gesellschaft.
Kollege Hubertus Heil, bitte Ihren letzten Satz.
Ich finde, Sie sind eine zu vernachlässigende Größe.
Danke schön.
Vielen Dank.
Letzter Redner in unserer Aussprache ist unser Kollege
Andreas Lämmel für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte
schön, Kollege Andreas Lämmel.
Sehr geehrter Herr Heil, man kann überall lesen, dassSie in das Schattenkabinett aufgerückt sind als zukünfti-ger Wirtschaftsminister. Ich kann nur sagen: Im Schattenist es kalt und auch dunkel; das scheint Ihr Gesichtsfeldziemlich einzutrüben.
Wir sind sicher, dass Sie in diesem Schatten bleibenwerden. Das ist auch gut für Deutschland; denn Sie alsWirtschaftsminister, das wäre ein Abstieg für unserLand.
Vielleicht sollten Sie mit Herrn Steinbrück nocheinmal reden. Sie würden sich besser für Agitation undPropaganda eignen.
Wie man das macht, darüber können Sie mit Ihren linkenFreunden sprechen. Dort wären Sie wirklich sehr gutverortet.In wenigen Minuten wird die Mehrheit des Plenumsden Haushalt für das Bundesministerium für Wirtschaftund Technologie verabschieden.
Sie würden gut daran tun, verehrte Kolleginnen undKollegen von der Opposition, wenn Sie diesem Haushaltzustimmen würden.Ich habe die Debatte intensiv verfolgt. Ich habe wirk-lich versucht, Argumente zu finden, die gegen den vor-liegenden Haushaltsentwurf sprechen.
Ich habe keine gefunden. Ich werde gleich auf zweiThemen eingehen, die Sie immer wieder angesprochenhaben. Ansonsten haben Sie über die Welt und die Ener-giewende gefaselt. Die Grünen haben gesagt, dass siesich im Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriumnicht wiederfindet. Die Milliarden, die über das EEGausgegeben werden, laufen nicht über den Haushalt desBundeswirtschaftsministers. Das hätten Sie in den letz-ten Jahren eigentlich lernen können.Sie fordern immer wieder, dass wir Vorsorge treffenfür eine Zeit, in der es wirtschaftlich schwieriger ist. Dasist unbestritten. Ich glaube, das haben alle Redner hier sodargestellt.
Herr Brandner, mit diesem Haushalt sorgen wir für dieZeit einer wirtschaftlichen Abschwächung vor. Vor allenDingen treffen wir eine Vorsorge für den deutschenMittelstand.
Dabei geht es um die Ideen, die Projekte und die Pro-dukte der Zukunft. Schauen Sie sich das einmal genauan: 70 Prozent der gesamten Haushaltsmittel des BMWi,wenn man die Mittel für die Steinkohle abzieht, fließenin die Bereiche Investitionsanreize und Innovationsan-reize. Zeigen Sie mir einen anderen Haushalt, in demdieser Anteil so enorm hoch ist.
Herr Brandner, Ihnen ist sicherlich noch nicht aufge-fallen, dass der Haushalt des BMWi völlig neu struktu-riert ist. Er ist ziemlich klar strukturiert, sodass auchjemand, der nicht in der Politik tätig ist, die Chance hat,durch den Haushaltsplan durchzusteigen. Sie können
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ganz schnell erkennen, dass 36 oder 38 Prozent, also fast40 Prozent, des gesamten Geldes für Innovationen,Technologien und neue Mobilität ausgegeben werden.Verschiedene Redner, vor allen Dingen mein KollegeNüßlein, Herr Fuchs und auch Herr Pfeiffer, haben schondarauf hingewiesen, dass dieses Geld benötigt wird, umneue Ideen umzusetzen, um neue Produkte zu schaffen,die der deutschen Wirtschaft morgen und übermorgenhelfen werden, ihren Weltrang zu behalten.
Herr Dr. Nüßlein hat die Umfrage zum ZIM-Projektangesprochen. Es fehlen nur noch zwei Aussagen dazu,die aber sehr wichtig sind: Erstens. Das ZIM ist das erstewirklich kompakte Förderprogramm. Früher war daseine sehr zersplitterte Landschaft. Im ZIM wurden ver-schiedene Programme zusammengefasst. Zweitens. AlleUnternehmen, die man auf dieses Programm anspricht,sagen ganz klar: Das ist das unbürokratischste Förder-programm im Bereich Forschung und Technologie, dases in Deutschland je gegeben hat. Das ist der großeErfolgsfaktor dieses Programms.Jetzt komme ich zu Ihren Argumenten. Die SPD hatdas Thema GRW angesprochen. Kollege Tiefensee, das,was Sie diesbezüglich hier von sich gegeben haben, warein bisschen lächerlich.
Ich kann mich erinnern, dass Sie Aufbau-Ost-Ministerwaren. Damals gab es auch noch den Herrn Stolpe. Ichkann mich daran erinnern, dass damals – ich bin mirnicht mehr ganz sicher, ob das in der Amtszeit des Kolle-gen Tiefensee oder in der Amtszeit von Herrn Stolpewar;
das ist auch egal; jedenfalls war es ein SPD-Minister –über Nacht die Mittel für die GRW halbiert wurden.Damals haben Sie nichts getan,
um die GRW-Mittel wieder auf eine angemessene Höhezu bringen. Trotzdem stellen Sie sich heute hier hin undsagen: Die SPD hat mit ihrem Antrag dafür gesorgt, dassdie GRW-Mittel aufgestockt wurden.
Das ist lächerlich, Herr Brandner. Wir haben die Mittelaufgestockt, weil wir die Verantwortung für die GRWhaben.
Sie müssen bei Ihren Argumenten redlich bleiben. Siedürfen die Jahre, in denen Rot-Grün regiert hat, nichteinfach ausblenden.
Zu der GRW stehen wir.
Auch das BMWi steht zu der GRW. Gefahr droht imMoment eher aus Brüssel; denn die Strukturfonds, überdie zurzeit in Brüssel verhandelt wird, sind ja letztend-lich eine Ergänzung der GRW-Mittel auf Bundes- undLandesebene. Wir müssen aufpassen, dass auch aufeuropäischer Ebene eine angemessene Ausstattung derStrukturfonds erhalten bleibt.Frau Hinz, Sie haben – das war der größte Schlager –die steuerlichen Anreize für die energetische Gebäudesa-nierung angesprochen. Sie haben gesagt: Wir stimmendoch nicht zu, wenn Sie die Kassen der Länder plündernwollen. – Das ist wirklich grenzwertig und einfachlächerlich. Herr Tiefensee hat ähnlich argumentiert. DieKoalition entlastet die Bürger in Deutschland um10 Milliarden Euro pro Jahr. Nun stellen Sie sich einmalvor, wir hätten die steuerliche Förderung der CO2-Gebäudesanierung und die Bürger würden 5 Milliar-den Euro in die Sanierung ihrer Häuser und Wohnungenstecken. Was würde das für die Einnahmesituation derLänder bedeuten? Dann gäbe es wieder Arbeit für dasHandwerk. Das Handwerk ist ein ganz entscheidenderTeil der deutschen Wirtschaft. Lohn- und Einkommen-steuern sowie Gewerbesteuern würden generiert. DasArgument, wir würden die Kassen der Länder aus-räumen, ist einfach lächerlich. Geben Sie doch dieBlockade auf!
Es gibt überhaupt kein vernünftiges Argument gegen diesteuerlichen Anreize zur energetischen Gebäudesanie-rung. Sie wollen das nur ideologisch und parteipolitischausnutzen.Nun auch noch zu Herrn Schlecht. Herr Schlecht, Siesind ja Sozialismustheoretiker und haben das in Gewerk-schaftsseminaren gelernt. Fragen Sie doch einmal IhreParteikollegen, die mehr Erfahrung haben und es ge-schafft haben, die ehemals siebtgrößte sogenannteVolkswirtschaft der Welt gegen die Wand zu fahren. IhreKollegen hatten damals die gleichen Ideen. Der einzigeUnterschied ist, dass Sie das in schwäbischem Dialektaussprechen, während Ihre Kollegen das zum Beispiel inbrandenburgischem Dialekt ausdrücken. Aber die Ideensind die gleichen.Angesichts der von Ihnen abgelieferten Darstellungdes Arbeitsmarktes frage ich Sie: Warum sind denn dieSozialkassen in Deutschland so hervorragend gefüllt?Doch nicht deswegen, weil es keine ausreichendeAnzahl an sozialversicherungspflichtigen Jobs inDeutschland gibt, sondern deswegen, weil die christlich-liberale Koalition dafür gesorgt hat, dass die Menschenin sozialversicherungspflichtige Jobs kommen. Das hateine unmittelbare positive Wirkung auf die Sozialkassen
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und damit auf das Gesamtsystem. Damit ist die Theorie,die Sie hier verbreitet haben, eigentlich hinfällig.Zur Bluecard. Sie dürfen nicht verschweigen, dass dieRegelung zur Bluecard gerade einmal acht Wochen inKraft ist. Liebe Kollegen von der SPD, denken Sie nuran die Greencard-Initiative von Gerhard Schröder! Wirsollten hier keinen Popanz aufbauen. Es ist schwierig, inDeutschland ausländische Arbeitskräfte anzuwerben.Der Grund dafür ist, dass Sie jahrelang blockiert haben.Wir müssen die Arbeitsmarktregelungen erst so weitlockern, dass es für ausländische Fachkräfte überhauptattraktiv wird, in Deutschland tätig zu sein.Wir finden, dass der Haushalt des BMWi sehr aus-gewogen ist. Wir setzen damit auf Innovationen und In-vestitionen und setzen damit ganz klar den Fokus auf dieZukunft. Ich kann Ihnen nur empfehlen, Ihre Stimmeheute für diesen Haushalt abzugeben.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Andreas Lämmel. – Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 09
– Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie –
in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsan-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11543 vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Das sind die Fraktion der SPD und
die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Das sind die
Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die
Grünen. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel-
plan 09 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? – Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltun-
gen? – Keine. Der Einzelplan 09 ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den
Einzelplan 11 – Punkt I.15 – auf:
Einzelplan 11
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
– Drucksachen 17/10811, 17/10823 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz
Zum Einzelplan 11 liegen zwei Änderungsanträge der
Fraktion der Sozialdemokraten, ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke sowie ein Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Sie
sind alle damit einverstanden und haben sich auf die
Debatte vorbereitet. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer
Aussprache ist unsere Kollegin Bettina Hagedorn für die
Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Frau Kolle-
gin Bettina Hagedorn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Zu Beginn der Debatte möchte ich mich als Hauptbe-richterstatterin für den Etat des Arbeits- und Sozial-ministeriums im Haushaltsausschuss – sicher auch imNamen meiner Kolleginnen und Kollegen – bei den en-gagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Arbeits-und Sozialministeriums, der Bundesagentur für Arbeit,der Rentenversicherungsträger, des Bundesrechnungsho-fes und vor allen Dingen unseres Haushaltsausschuss-sekretariats bedanken. Wir haben in den letzten Wochenintensive Beratungen gehabt und viele Berichte angefor-dert. Die Antworten waren umfassend, sie kamen zügig.Damit wurde unsere parlamentarische Arbeit sehr er-leichtert. Es ist in diesem Haus gute Sitte, dass man denMitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Anfang einer si-cherlich kontroversen Debatte dafür ein Dankeschönausspricht.
Dieser versöhnliche Einstieg, Frau Ministerin, ist lei-der schon alles, was ich an Positivem über Ihren Etat be-richten kann. Die Schwerpunktsetzungen stellen – FrauMinisterin, man muss es so deutlich sagen – Ihren per-sönlichen Offenbarungseid dar.
Schon in den letzten Tagen war zu Recht davon dieRede, dass der schöngerechnete Wahlkampfetat, den Siehier vorlegen, letzten Endes einem Bankraub gleich-kommt, und zwar in erster Linie einem Raub an den so-zialen Sicherungssystemen und damit an der zukünftigenAbsicherung der Menschen in diesem Lande. Das ist einSkandal, unangemessen, unverantwortlich, und das istIhnen, Frau Ministerin, persönlich anzulasten; denn dergrößte Teil von den sage und schreibe über 70 MilliardenEuro, die mit diesem Haushalt und diesem Finanzplanden sozialen Sicherungssystemen von 2013 bis 2016 ent-nommen werden, spielt sich in Ihrem Etat – und zwar beider Bundesagentur für Arbeit, bei den Jobcentern undbei der Rente – ab.
– Nein, da kann man nicht klatschen, das ist wahr. Manmuss es aber deutlich aussprechen; denn am Anfang je-der Debatte gehört erst einmal die Wahrheit auf denTisch.
Mit Ausgaben von knapp 120 Milliarden Euro
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– wenn Sie die Zahlen nicht nachvollziehen können,können Sie mir eine Zwischenfrage stellen; ich erläutereIhnen die gerne – umfasst dieser Etat knapp 40 Prozentdes gesamten Bundeshaushaltes. Diese Tatsache bemü-hen Sie von der schwarz-gelben Koalition immer wieder– allerdings völlig zu Unrecht – als angebliches Indiz da-für, dass der Sozialbereich bei Ihnen einen hohen Stel-lenwert hat. Mit dieser Aussage betreiben Sie aber vor-sätzliche Volksverdummung;
denn Sie verschweigen, dass dieser Etat das dritte Mal inFolge der große Steinbruch von Schwarz-Gelb ist. Esgab allein in Ihrem Etat, Frau von der Leyen, seit 2010ein Minus von 24 Milliarden Euro. Das ist die bittereWahrheit und Zeugnis eines beispiellosen sozialpoliti-schen Kahlschlags in der Verantwortung dieser schwarz-gelben Koalition.
Sicherlich: Aufgrund drei Jahre brummender Kon-junktur, sprudelnder Steuerquellen und klingelnder Bei-tragskassen mit sinkenden Arbeitslosenzahlen undglücklicherweise hoher Beschäftigungsquote bilden sichin diesem Etat erfreulicherweise milliardenschwere kon-junkturelle Einsparungen ab, über die wir uns alle ge-meinsam freuen. Diese Einsparungen aber, Frau Minis-terin, die Ihnen anstrengungslos in den Schoß fallen,können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie seit 2010darüber hinaus mit Ihrem damals so genannten Spar-paket einen brachialen Kahlschlag – auf dem Rücken derArbeitsuchenden und ihrer Familien vollzogen – haben.
Zusätzlich haben Sie die Bundesagentur für Arbeitausgequetscht wie eine Zitrone, sodass es dort ab 2014praktisch keine nennenswerte Rücklage geben wird, dieden Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Vergangen-heit bei sich eintrübender Konjunktur – Stichwort„Kurzarbeitergeld“ – Perspektive und Chance gab undBelegschaften in der Krise vor Arbeitslosigkeit bewahrthat. Mit dem Haushalt 2013 legen Sie null Vorsorge füreine sich abzeichnende Krise vor. Damit werden Sie Ih-rer Verantwortung für die Menschen in diesem Landnicht gerecht.
– Wenn Sie sagen, das sei gar nicht wahr, antworte ichIhnen: Wir wollten in der Großen Koalition – dies wardas gemeinsame Ziel –, dass die Bundesagentur für Ar-beit mit abgesenkten Beitragssätzen – wir haben sie von6,5 auf 3 Prozentpunkte gesenkt – trotzdem langfristigauskömmlich finanziert ist. Dafür haben wir ihr die Ein-nahmen aus einem Prozentpunkt der Mehrwertsteuer ge-geben, was mindestens 8 bis 9 Milliarden Euro pro Jahrausmacht.Mit diesem Haushalt ist der Mehrwertsteuerpunktkomplett aus der Finanzierung verschwunden. Sie wol-len die Öffentlichkeit glauben machen, dass die Bundes-agentur für Arbeit mit einem Beitragssatz von 3 Prozent-punkten dennoch stabil finanziert ist. Das ist mitnichtender Fall, und Sie wissen das ganz genau. Sie haben dieRücklage geplündert. Sie umfasst jetzt gerade einmal2 Milliarden Euro. Schon im nächsten Jahr muss dieBundesagentur für Arbeit wieder auf die Rücklage zu-rückgreifen. Das heißt, sie löst sich in Luft auf, falls sichdie Krise verstärkt. Dies hoffen wir zwar nicht; wir tra-gen aber die politische Verantwortung, dafür Vorsorge zutreffen.
Sie tun also das Gegenteil dessen, was wir in der Gro-ßen Koalition gemacht haben, und wir sind damals gutdamit gefahren. Weil wir der BA 2008 eine Rücklagevon 18 Milliarden Euro zugestanden hatten, war sie inder Lage, mit uns die Konjunkturpakete aufzulegen unddie Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes zu verlängern.Unsere Maßnahmen waren gut und richtig. Sie profitie-ren seit drei Jahren von den Auswirkungen dieser Maß-nahmen. Aber statt Ihre Schlüsse daraus zu ziehen, ma-chen Sie genau das Gegenteil. Sie versündigen sich so ander Zukunft.
Sie behaupten, die Tatsache, dass dieser Haushalt40 Prozent des Gesamtetats ausmacht, zeige, wie sozialder Haushalt ist. Dazu muss man sagen: Sie machen denLeuten etwas vor; denn schon 85 Milliarden Euro in Ih-rem Etat sind durch den Rentenzuschuss und die Grund-sicherung gesetzlich gebunden. Bis 2016 werden dieseLeistungen auf 93,5 Milliarden Euro anwachsen. Dasheißt: 8,5 Milliarden Euro mehr in nur vier Jahren. Es istnormal, dass eine älter werdende Gesellschaft etwas kos-tet und sich dies in Ihrem Etat abbildet. Das ist aber ebenkein Ausweis von sozialer Gerechtigkeit; denn bei demEinzelnen kommen nicht mehr Leistungen an.Wenn wir sehen, wie Ihre Zukunftsaufgaben wachsenund Ihr Etat sinkt, dann ist klar, dass Kahlschlag stattfin-det. Wo findet er statt? Ausnahmslos bei der aktiven Ar-beitsmarktpolitik.
Viele können sich nicht vorstellen, dass der große Kahl-schlag noch bevorsteht. Sie dachten vielleicht, dass sieihn schon hinter sich haben.Sie sehen im Finanzplan bis 2016, von 2013 an ge-rechnet, bei den Jobcentern Kürzungen in Höhe von18,5 Milliarden Euro vor und bei der Bundesagentur fürArbeit zusätzliche Kürzungen in Höhe von 36 MilliardenEuro. Das sind gewaltige Summen. Herr Weise hat ge-sagt, dass er schon gar nicht mehr weiß, wo er noch kür-zen soll. Zunächst einmal wird die Bundesagentur bis zu15 000 Mitarbeiter in den Jobcentern und bei der BA inden nächsten Jahren abbauen müssen. Dort sind dieseBotschaften längst angekommen. Nicht nur die Budgetsder Fallmanager sind leer. Diejenigen, die befristete Ver-träge haben, wissen schon heute, dass sie in ein paar Jah-ren auf der anderen Seite des Tisches sitzen werden. Sieplanen diese Kürzungen, Frau von der Leyen, obwohl wir
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alle, die wir uns mit Arbeits- und Sozialpolitik beschäfti-gen, wissen, dass man zwar einerseits Geld im Budgetbraucht, um Maßnahmen zu finanzieren, dass man ande-rerseits aber vor allen Dingen engagierte Mitarbeiterbraucht. Um zum Beispiel die 900 000 Menschen, dielangzeitarbeitslos sind, die keinen Schulabschluss undkeine Berufsausbildung haben, wieder in Lohn und Brotzu bringen, braucht man Geld. Ihnen ist mit einem Be-werbungstraining nicht gedient. Sie brauchen qualifi-zierte Maßnahmen; aber sie brauchen auch eine engeund intensive Begleitung durch eine motivierte Mitarbei-terschaft. An dieser Stelle, Frau von der Leyen, wird imHaushalt die Axt angelegt.
Ich komme zum Thema Rente. Zum Thema Rente ha-ben Sie, Frau von der Leyen, hier vor einem Jahr gesagt,dass Sie einen Rentendialog machen werden. Super. Wasist das gewesen? Eine Showveranstaltung. Sie habensich wieder medienwirksam verkauft.
Es gab wieder einmal viele bunte Broschüren, Inter-views und Talkrunden, obwohl das Ergebnis – jedenfallsfür Sie – von Anfang an feststand. Eine echte Partizipa-tion war das ja nicht. Das Ergebnis sollte Ihre werbe-wirksam intonierte Zuschussrente sein.Die Zuschussrente war ein echter Rohrkrepierer, abernicht etwa, weil die Opposition gesagt hätte: „Die Zu-schussrente ist ein Fake“, sondern weil das alle gesagthaben. Das haben nicht nur die Gewerkschaften, die Ar-beitgeber oder die Wohlfahrtsverbände gesagt, sondernalle. Dann fand ein Koalitionsgipfel statt, vier Tage vorder Bereinigungssitzung. Dabei kam etwas Neues he-raus: Über Nacht wurde aus der Zuschussrente die Le-bensleistungsrente.
„Etikettenschwindel“ ist dafür noch eine zurückhaltendeBezeichnung.
Ganz genau wissen Sie ja selbst noch nicht – das giltauch für Ihre Koalition –, wie Sie sie eigentlich ausge-stalten wollen. Aber eines kann man den Menschenschon sagen: Um sie zu bekommen, müssen sie auf je-den Fall 40 Jahre gearbeitet haben; ob es sich dabei al-lerdings um Versicherungsjahre oder Beitragsjahre han-delt, weiß man noch nicht genau. Außerdem müssen sieprivate Vorsorge betrieben haben, auch das 40 Jahrelang. Oder nur 30 Jahre? Wie lange eigentlich? Washeißt übrigens: „nur“ 30 Jahre? Wer von den Menschen,die heute in Rente gehen wollen, hat schon 30 Jahre zu-sätzlich privat vorgesorgt? So viele sind das nicht. Aberes sollen auch gar nicht viele sein. Denn das Ganze ist jaein Billigmodell; dafür sorgt schon die FDP.Sie sagen also: Wer 40 Jahre gearbeitet und jahrzehn-telang privat vorgesorgt hat, der soll für diese Lebens-leistung – man höre und staune – 10 bis 15 Euro im Mo-nat mehr bekommen.
Wissen Sie, was das ist, Frau von der Leyen? Das isteine Verhöhnung der Menschen und ihrer Arbeit.
Frau Ministerin, dass Sie sich als Arbeits- und Sozial-ministerin damit überhaupt an die Öffentlichkeit wagenund auch noch erwarten, dass dieses Ergebnis einenSchulterklopfer wert ist, ist vor allen Dingen deshalb bit-ter, weil Sie den ganzen Sommer über das Thema Alters-armut gesprochen haben. An dieser Stelle will ich michbei Ihnen dafür bedanken, dass Sie dieses Thema in dieÖffentlichkeit getragen haben.
Aber eine Ministerin sollte ein Problem nicht nur anspre-chen, sondern auch Lösungsvorschläge machen.
Das, was Sie getan haben, hat mit der Bekämpfung vonAltersarmut jedenfalls überhaupt nichts zu tun.Vielen Dank.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für dieFraktion der CDU/CSU unser Kollege Axel Fischer.Bitte schön, Kollege Axel Fischer.
Axel E. Fischer (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Liebe Kollegin Hagedorn, es ist schon bezeichnend,wenn in einer Debatte zum Thema „Arbeit und Soziales“einer Sozialpolitikerin der SPD kein Wort zur gutenArbeitsmarktlage und zur guten Konjunkturlage inDeutschland über die Lippen kommt.
– Trotz der Regierung?
Das ist ja wieder das übliche Spiel. Sind die Arbeits-marktdaten gut, wenn die Union mit der FDP regiert, sa-gen Sie: trotz der Regierung. – Sind die Arbeitsmarkt-daten gut, wenn Sie mit den Grünen regieren, sagen Sie:wegen Ihrer Regierung.
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– Genau, Herr Heil, so ist das; das ist Ihre Position. Siepasst zu dem, was vorhin gesagt wurde: Sie betreibenPropaganda durch und durch. Das hat mit der Realitätaber nichts zu tun. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wirordentlich gearbeitet haben. Ich werde Ihnen das jetzt anBeispielen darlegen.
Der Bundeshaushalt 2013, den wir debattieren, istnach überwundener Wirtschafts- und Finanzkrise einweiterer Schritt auf dem erfolgreichen Konsolidierungs-pfad der christlich-liberalen Koalition. Wir haben dievorgesehene Neuverschuldung gegenüber dem Regie-rungsentwurf um knapp 10 Prozent auf 17,1 MilliardenEuro verringert. Für 2014 sehen wir damit einem struk-turell ausgeglichenen Bundeshaushalt entgegen. Das isteine Leistung, die man anerkennen muss.
Im Bereich des Einzelplans 11 sollen die Ausgabenfür 2013 gegenüber dem Regierungsentwurf um rund500 Millionen Euro auf 119,2 Milliarden Euro anstei-gen. Das sind über 7 Milliarden Euro weniger, als für2012 eingeplant waren. Damit beweisen wir, dass manauch mit weniger Geld für den Einzelplan 11 eine bes-sere Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik machen kann.
Außerdem, Frau Hagedorn, entlasten wir die Kommunenbei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde-rung um weitere 555 Millionen Euro. Das gibt den Kom-munen die Luft zum Atmen, die sie so dringend brau-chen.
Wir entlasten Arbeitnehmer und Arbeitgeber durchdie Senkung des Beitragssatzes zur Rentenversicherungauf 18,9 Prozent und stärken so die Binnenkonjunktur.Wir kümmern uns um die Menschen, die mit ihrer Arbeitunsere Gemeinschaft tragen. In diesem Zusammenhangmöchte ich nochmals an die Solidarleistung der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer erinnern, die mit derKürzung des Bundeszuschusses zur allgemeinen Renten-versicherung in Höhe von 1 Milliarde Euro im Jahr 2013einen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushaltsleisten.Trotz abnehmender Konjunkturdynamik haben wireine anhaltend gute wirtschaftliche Entwicklung, vor al-lem im Vergleich zu anderen europäischen Staaten.
Dank unseres mutigen Vorgehens, insbesondere dankdes Wachstumspaktes und einer zeitgemäßen Moderni-sierung unseres Arbeitsmarktes in den vergangenen Jah-ren, haben wir die krisenhaften Untiefen des Jahres 2009hinter uns gelassen. Zentrale Faktoren unserer erfolgrei-chen Politik sind neben der schrittweisen Umsetzung derErgebnisse der Gemeindefinanzkommission die Entlas-tung bei den Sozialausgaben durch den Bund, vor allemaber eine auf Wachstum ausgerichtete Politik dieser er-folgreichen Koalition.
Mit der Neuorganisation der Grundsicherung für Ar-beitsuchende im Jahr 2010 haben wir eine neue Phaseder Zusammenarbeit von kommunalen Trägern undBundesagentur für Arbeit eröffnet. Ziel war eine mög-lichst effiziente und nachhaltige Hilfestellung für Hilfs-bedürftige. Die Zahl der Arbeitslosen ist auf unter 3 Mil-lionen gesunken. Wir bringen Menschen in Arbeit.
Im Jahr 2012 haben wir bei der aktiven Arbeitsmarkt-politik mit 8 Milliarden Euro den Stand von 2006 wiedererreicht. Damals lag die Zahl der Arbeitslosen jedoch bei4,5 Millionen Menschen, das heißt, um mehr als 1,5 Mil-lionen höher als heute. Das bedeutet: Für jeden Arbeits-losen stehen heute über 50 Prozent mehr Mittel zurVerfügung als damals. Um diese Mittel möglichst erfolg-reich für die Wiedereingliederung in den ersten Arbeits-markt einsetzen zu können, stecken wir erheblich mehrGeld in die Erforschung der Wirkungen der einzelnen ar-beitsmarktpolitischen Instrumente. Die Evaluation derArbeitsmarktpolitik liefert laufend Ergebnisse, die vonEinzelfall zu Einzelfall helfen, die jeweils beste Maß-nahme zu finden. Ziel ist es, mit den Mitteln, die zurVerfügung gestellt werden, jedem Arbeitslosen die opti-male Hilfe zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu geben.An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern, ganz besonders aber dem Vorstandsvorsit-zenden der Bundesagentur für Arbeit, Herrn Weise, fürdie engagierte Arbeit danken. Nicht zuletzt durch seinenEinsatz ist die Entflechtung der Finanzen zwischen Bun-desagentur für Arbeit und Bund möglich geworden.
Aus heutiger Sicht erscheint die Finanzausstattung derBundesagentur für die Erfüllung ihrer laufenden Aufga-ben wie zum Aufbau einer Rücklage für Krisenzeitenauskömmlich und langfristig tragfähig.Dieser Tage haben die Grünen auf ihrem Parteitag dieAbschaffung der Sanktionsmöglichkeiten bei Hartz IVund damit ein bedingungsloses Grundeinkommen gefor-dert. Alle Menschen im Land sollen ein Anrecht auf ei-nen auskömmlichen Lebensunterhalt von Staats wegenhaben. Das Ziel ist sozusagen: Deutschland, Land derSozialrentner.
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Axel E. Fischer
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Das erinnert mich ein wenig an meine Jugendzeit, als dieJusos in der Nach-Schmidt-Ära das „Recht auf Faulheit“proklamierten.Meine Damen und Herren, Solidarität ist keine Ein-bahnstraße. Es gibt nicht nur ein Holrecht für Bedürftige,es gibt auch eine Bringschuld jedes Einzelnen gegenüberder Gesellschaft wie gegenüber der Gemeinschaft.
Hartz-IV-Empfänger sind arbeitsfähig, und unser Sozial-system ist subsidiär aufgebaut, insbesondere auf Hilfezur Selbsthilfe. Gerade deshalb nehmen wir mit demHaushalt 2013 diejenigen Menschen stärker in denBlick, die in unserer Wirtschaft für geringe Löhne teil-weise große Anstrengungen auf sich nehmen. Sie ernäh-ren sich selbst ohne Staatshilfe und leisten auch noch ei-nen Beitrag dazu, dass andere arbeitsfähige Menschenohne eigenes Zutun auch ihr Auskommen haben. Wirmüssen diese gesetzestreuen, fleißigen Menschen mehrals bisher in den Blick nehmen; denn es gibt eine zuneh-mende Verärgerung über dreiste Beispiele des Miss-brauchs staatlicher Leistungen.Wir haben in den vergangenen Jahren den gesamtenHartz-IV-Prozess optimiert. Das System Hartz IV gibtjetzt endlich auch Langzeitarbeitslosen einen stärkerenAnreiz und mehr Möglichkeiten, sich aus der Abhängig-keit von staatlichen Transfers zu befreien.
Wir wollen und können nicht hinnehmen, dass sich zuviele Menschen dauerhaft darauf einrichten, Arbeitslo-sengeld II mit Minijob oder gar Schwarzarbeit zu kom-binieren. Eines muss klar sein: Hartz IV ist kein garan-tiertes Grundeinkommen. Es ist eine Unterstützung fürMenschen, die Arbeit suchen.
Deshalb ist es nur richtig, dass die Sanktionsmöglichkei-ten von der Bundesagentur für Arbeit ausgeschöpft undLeistungen gekürzt werden, wenn zumutbare Arbeitmutwillig abgelehnt wird oder vereinbarte Termine nichteingehalten werden. Unser Ziel lautet: Beschäftigung imersten Arbeitsmarkt und nicht Durchfüttern mit So-zialtransfers.
Wenn wir dauerhaft Akzeptanz für unseren Staat si-chern wollen, dann müssen wir auch und gerade diejeni-gen in den Blick nehmen, die mit ihrer Arbeit unserenStaat, insbesondere auch unseren Sozialstaat, tragen. ObFacharbeiter oder Angestellte, Selbstständige oder Frei-berufler,
sie alle finanzieren mit ihren Steuern und Sozialabgabenunseren Staat. Auch und gerade diese vielen gesetzes-treuen Bürger, deren Verzicht unseren Staat am Lebenhält, haben ein Recht auf die Berücksichtigung ihrer Be-lange durch die Politik; denn unser jetziger Aufschwungund unser Konsumniveau sind Ergebnisse ihrer Leis-tung. Bei aller Freude an der Umverteilung und bei allerHilfsbereitschaft darf Leistungsgerechtigkeit nicht zumFremdwort werden.Meine Damen und Herren, mit der beispiellosenfinanziellen Entlastung der Kommunen haben wir dieeinstige rot-grüne Politik korrigiert,
und kommunale Aufgaben und Finanzausstattung sindwieder im Gleichgewicht. 3,9 Milliarden Euro erstattenwir den Kommunen für die laufenden Nettoausgaben fürdie Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde-rung. Durch die beschlossene dauerhafte Übernahme derNettoausgaben für die Grundsicherung im Alter und beiErwerbsminderung
entlastet der Bund die Kommunen allein bis 2016 vo-raussichtlich um 20 Milliarden Euro.
Die Übernahme der Kosten für die Grundsicherungim Alter steht für einen Paradigmenwechsel in der Bun-despolitik. Wir belasten die Kommunen nicht mit immerneuen Aufgaben und Ausgaben, sondern wir stärken dieStädte, Gemeinden und Landkreise. Das ist die größteKommunalentlastung in der Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland.
Der vorgelegte Haushalt ist ein zukunftsgerichteterHaushalt, der die Schwerpunkte für den Bereich der Ar-beit und für die Fortentwicklung unseres Sozialstaatsausgewogen abdeckt. Ich danke an dieser Stelle ganzbesonders unserer Hauptberichterstatterin BettinaHagedorn sowie den Kolleginnen Winterstein, Hinz undLötzsch und der Bundesregierung, namentlich Ministe-rin Dr. von der Leyen und Staatssekretär Fuchtel, für diegute und vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Ihnen allen danke ich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin inunserer Aussprache ist unsere Kollegin Frau Dr. GesineLötzsch für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, FrauKollegin Dr. Gesine Lötzsch.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Sehr geehrte Gäste! „Sozial ist, wasArbeit schafft“ – dieser Satz ist Programm für KanzlerinMerkel. Immer mehr Menschen spüren aber am eigenenLeib, wie zynisch er sein kann. Über 1 Million Men-schen in unserem Land müssen aufstocken. Das heißt,sie können von ihrem geringen Lohn nicht leben undmüssen beim Jobcenter betteln.
Bei 350 000 vollzeitbeschäftigten Menschen reicht derLohn nicht für das tägliche Überleben. Das ist nicht so-zial. Das verletzt die Würde jedes Einzelnen und stehtim Widerspruch zum Grundgesetz.
Allein im Jahr 2010 wurden 4 Milliarden Euro an Steu-ergeldern ausgegeben, um diese Hungerlöhne anzuheben.Arbeitgeber von über 1 Million Menschen weigern sich,gerechte Löhne zu zahlen, und die Bundesregierung un-terstützt Lohndrücker und bestraft Unternehmen, dieehrliche Löhne zahlen. Dagegen gibt es ein wirksamesMittel, nämlich den gesetzlichen Mindestlohn. Den müs-sen wir hier im Bundestag endlich beschließen.
Wir Linke fordern einen flächendeckenden gesetzlichenMindestlohn in Höhe von 10 Euro die Stunde. Bisher hatFrau von der Leyen viel über Mindestlöhne gesprochen;aber real subventioniert sie weiter Hungerlöhne. Das,Frau von der Leyen, ist nicht Ihre Aufgabe.
Über 1 Million Menschen wurden von Juli 2011 bisAugust 2012 vom Jobcenter mit Sanktionen abgestraft;das spielte in dieser Debatte schon eine Rolle. Das ist einneuer Negativrekord. Aber zwei Drittel dieser Sanktio-nen beruhten auf Meldeversäumnissen. Das sind alsokeine Missbrauchsfälle, wie hier immer suggeriert wird.Die Missbrauchsfälle betragen laut dieser Statistik nur3,2 Prozent. Es geht also nicht um Arbeitsverweigerung;diese Menschen haben nur einen Termin nicht wahrge-nommen. – Ich mache einen Vorschlag an alle, Herr Prä-sident: Es wäre doch nur gerecht, wenn auch das Gehaltder Minister bei Meldeversäumnissen gesenkt würde.Wer zum Beispiel einen Bericht an den Bundestag nichtrechtzeitig vorlegt, dem wird das Gehalt um 20 Prozentgekürzt.
Das wäre eine sehr wirksame Maßnahme, um die Auto-rität des Bundestages wieder zu stärken. Vielleicht be-sprechen Sie das einmal im Ältestenrat.Die Bundesagentur für Arbeit besteht auf diesenSanktionen. Die Begründung lautet – ich zitiere –, essolle „keine Hängematte auf Kosten des kleinen Arbeit-nehmers geben“. Ich frage Sie: Warum dürfen Arbeitge-ber auf Kosten von Arbeitnehmern Hungerlöhne zahlen?Und warum liegt die Ministerin in der Hängematte undschaut diesem Lohndumping zu? Das muss endlich einEnde haben.
Der aktuelle Konjunkturbericht der Deutschen Bankist mit folgendem Satz überschrieben: „Euro-Krisebringt Wirtschaft im Winterhalbjahr zum Stillstand“.Frau Ministerin, meine Damen und Herren von der Ko-alition, Ihre Freunde von der Deutschen Bank sagen das,nicht nur die Linke. Da sollte man doch endlich Vorsorgetreffen. Sie fordern jeden Tag die Menschen auf, für dasAlter und Probleme vorzusorgen. Doch diese Regierungist unfähig, Vorsorge auch nur für das nächste halbe Jahrzu treffen. Das ist doch ein Armutszeugnis.
Wir brauchen dringend einen Schutzschirm für Ar-beitnehmer, Rentner, Arbeitslose und Familien. Erinnernwir uns: In der Krise 2008 wurde die Regelung zur Kurz-arbeit vereinfacht. Das brauchen wir jetzt wieder. Schüt-zen Sie die heutigen und zukünftigen Rentnerinnen undRentner vor Altersarmut! Schon heute arbeiten immermehr über 70-Jährige, weil die Rente nicht zum Überle-ben reicht. Sollen sie etwa bis zum Tod malochen?
Das können wir nicht hinnehmen. Wir brauchen endlicheine solidarische Mindestrente.
Doch was machen Sie in Ihrem Haushalt? Sie nehmender Bundesagentur für Arbeit Geld weg; Frau Hagedornist schon darauf eingegangen. Sie schwächen im Ange-sicht der Krise die solidarische Arbeitslosenversiche-rung. Damit öffnen Sie das Tor für mehr und nicht fürweniger Altersarmut, und das ist absolut verantwor-tungslos.
Erinnern wir uns: Die Mehrwertsteuererhöhung aus demJahr 2005 war eine Wahllüge der Großen Koalition ausCDU/CSU und SPD. Um sie den Menschen einigerma-ßen schmackhaft zu machen, wurde versprochen, dieEinnahmen aus einem Prozentpunkt der Mehrwertsteuerin die Arbeitslosenversicherung zu geben. Doch jetztfließen diese Steuergelder nicht mehr in die Arbeitslo-senversicherung, sondern versickern irgendwo im Haus-halt. Das, meine Damen und Herren, ist eindeutig eineZweckentfremdung von Steuermitteln. Das dürfen wirnicht hinnehmen.
Die Linke fordert: Es muss weiter ein Zuschuss an dieBundesagentur für Arbeit gezahlt werden. Alles andereist grob fahrlässig.Zum Schluss möchte ich auf etwas hinweisen, das au-genscheinlich in Vergessenheit geraten soll. Das größteKürzungspaket in der Geschichte der Bundesregierungwurde im Jahr 2010 beschlossen. Alle Sozialkürzungen
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25398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Dr. Gesine Lötzsch
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wurden eins zu eins umgesetzt: Sie haben das Elterngeldfür Arbeitslosengeld-II-Empfänger abgeschafft.
Sie haben den Heizkostenzuschlag gestrichen. Sie habenden befristeten Zuschlag auf das Arbeitslosengeld II undden Zuschuss an die Rentenversicherung gestrichen. Al-les das haben Sie umgesetzt. Die vorgesehene Beteili-gung der Unternehmen, insbesondere der Finanzindus-trie, ist teilweise oder ganz ausgefallen. Das zeigt, dassfür diese Regierung soziale Gerechtigkeit nichts anderesals ein Fremdwort ist.
Fazit: Kein Mitglied dieses Hauses, das sich ehrlichfür soziale Gerechtigkeit einsetzt und seinen Wählerin-nen und Wählern zu Hause in die Augen schauen könnenwill, kann diesem Haushalt zustimmen. Wir Linke leh-nen ihn ab.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin für
die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin Frau
Dr. Claudia Winterstein. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Winterstein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich muss zu Beginn erst einmal etwas richtig-stellen. Bettina Hagedorn, das waren eben lauter reißeri-sche Schlagwörter: sozialpolitischer Kahlschlag, Bank-raub, Skandal.
Alles Unsinn!
Sie reden hier von einem Griff in die Sozialkassen.
Sie unterstellen also, es würden Beitragsgelder zweck-entfremdet. Das trifft nicht zu.Bei der Rentenversicherung werden die Beiträge ge-senkt. Das nützt den Arbeitnehmern wie auch den Ar-beitgebern.
Nach wie vor fließen über 80 Milliarden Euro aus Steuer-mitteln als Zuschuss in die Rentenversicherung. Wennaber die Kassen übervoll sind wie zurzeit, dann ist es nurrecht und billig, diesen Zuschuss aus Steuermitteln etwaszurückzuführen. Das tun wir hier bei der Rentenversiche-rung, und zwar lediglich in einer Höhe von 750 MillionenEuro.
Das sind die Fakten. Nehmen Sie sie bitte zur Kenntnis!
Nun zurück zum Haushalt. Nach all dem Lamentierender Opposition möchte ich erst einmal festhalten: Wirhaben wirklich ausgesprochen erfolgreiche Haushalts-planberatungen hinter uns. Die Gesamtausgaben 2013liegen niedriger als zu Beginn der Legislaturperiode.Das ist Ausgabendisziplin. Die Neuverschuldung für2013 ist auf dem niedrigsten Stand dieser Legislaturpe-riode. Sie liegt nicht bei 86,1 Milliarden Euro, wie zu-letzt bei Peer Steinbrück für das Jahr 2010 vorgesehen,sondern bei 17,1 Milliarden Euro. Das ist Konsolidie-rung, meine Damen und Herren.
Das Volumen des Einzelplans 11 wurde im Laufe derBeratungen gegenüber dem Entwurf um etwa eine halbeMilliarde Euro erhöht. Die Ursache dafür ist eine zusätz-liche Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherungim Alter in Höhe von 555 Millionen Euro. Insgesamtwerden die Kommunen im kommenden Jahr allein indiesem Bereich um 3,2 Milliarden Euro entlastet. Auchdas muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
Der Einzelplan 11 liegt mit seinen Gesamtausgabenjetzt bei 119,2 Milliarden Euro. Das sind 6,9 MilliardenEuro weniger als im Haushaltsplan 2012,
hat aber überhaupt nichts mit Kahlschlag zu tun. Zu ver-danken ist das vor allem der guten Entwicklung auf demArbeitsmarkt. Das ist gut für die Menschen, und das istnatürlich auch gut für den Bundeshaushalt.Nehmen Sie doch einfach einmal die positiven Zahlenzur Kenntnis, Frau Hagedorn! Wir haben mit 41,8 Mil-lionen so viele Erwerbstätige wie noch nie.
Wir haben mit 29,1 Millionen so viele sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigte wie noch nie. Wir haben mit2,7 Millionen Arbeitslosen den niedrigsten Stand seit20 Jahren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25399
Dr. Claudia Winterstein
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Zugleich haben wir so wenig Hartz-IV-Empfänger wienoch nie. Die aktuellen Zahlen zeigen also: Der Arbeits-markt ist nach wie vor in einer robusten Verfassung.
Im Übrigen sorgen wir mit der Senkung des Renten-beitragssatzes von 19,6 auf 18,9 Prozent und damit derSenkung der Lohnnebenkosten gerade für einen weiterenpositiven Impuls für den Arbeitsmarkt. Sie, meine Da-men und Herren von der Opposition, schlagen vor, mehrGeld für Arbeitsmarktprogramme auszugeben – und dasgleich in Milliardenhöhe.
Die SPD will 1,6 Milliarden Euro ausgeben, die Linke2,7 Milliarden Euro und die Grünen 330 Millionen Euro.Wir dagegen setzen unser Sparpaket konsequent um undführen die Mittel auf circa 8 Milliarden Euro zurück,also auf das Niveau von 2006.Das ist für die Betroffenen keine Kürzung; denn heutegibt es – das ist sehr erfreulich – deutlich weniger Ar-beitslose im SGB-II-Bezug, nämlich 1,9 Millionen Men-schen, als im Jahr 2006, da waren es nämlich 2,8 Millio-nen Menschen. Wenn wir für diesen Personenkreis nunaber die gleiche Summe an Fördermitteln zur Verfügungstellen wie 2006, dann ist das logischerweise ein deutli-cher Pro-Kopf-Anstieg. Das müsste uns Haushälterndoch klar sein. Das Lamento der Opposition ist hier alsovöllig unverständlich.
Im Bereich der Rentenversicherung haben wir zweiElemente, die sich auf den Bundeshaushalt auswirken:Zum einen senken wir den Bundeszuschuss an die Ren-tenversicherung für die Jahre 2013 bis 2015 vorüberge-hend ab. Das ist ein gezielter Konsolidierungsbeitragvon 750 Millionen Euro – das wurde schon gesagt – in2013. Wenn die Kassen überquellend voll sind, dann istes zulässig, diesen Zuschuss aus den Steuermitteln ent-sprechend zurückzufahren. Zum anderen wirkt sich posi-tiv aus, dass der Rentenversicherungsbeitragssatz sinkt;denn damit haben wir auch beim Bundeszuschuss eineEinsparung.Frau Hagedorn, dass Sie sich gegen die Entlastungder Beitragszahler wenden und das als Griff in die So-zialkassen diskreditieren, kann wirklich keiner verste-hen.
Wenn wir den Beitragssatz jetzt nämlich nicht gesenkthätten, käme es bei der Rentenversicherung bis 2020 zueiner Rücklage von 82 Milliarden Euro. Dieses Geldwollen Sie den Beitragszahlern vorenthalten? Nein,meine Damen und Herren, das Geld ist bei den Beitrags-zahlern besser aufgehoben.
Bei der Bundesagentur für Arbeit liegen nach derHerbstprognose jetzt neue Haushaltszahlen vor. Das Jahr2012 wird die BA voraussichtlich mit einem Überschussvon 2,2 Milliarden Euro abschließen. Das ist ein gutesErgebnis, das auch die gute Lage auf dem Arbeitsmarktzeigt.
Im kommenden Jahr wird nun auch endlich eine alteForderung der FDP umgesetzt. Sie haben es schon ange-sprochen. Wir entflechten die Finanzbeziehungen zwi-schen Bundeshaushalt und Bundesagentur. Ab 2013 er-hält die Bundesagentur vom Bund keine laufendenZahlungen mehr – das ist der Mehrwertsteuerpunkt –;
im Gegenzug muss die BA auch nichts mehr an denBund zahlen. Das ist der Eingliederungsbeitrag.
Sie haben recht: Im nächsten Jahr entsteht ein Defizitvon 1,14 Milliarden Euro. Das weiß ich sehr wohl. Dasändert sich aber sofort in den Jahren darauf. Insofernwerden wir bis zum Jahr 2017 wieder eine Rücklage von6,2 Milliarden Euro zu verzeichnen haben. Auch dasmüssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Die Vorschläge von SPD und Grünen hingegen laufenfast ausschließlich auf Steuererhöhungen hinaus. Damitwollen Sie Mehrausgaben finanzieren. 6 Milliarden EuroMehrausgaben haben die Grünen in den Haushaltsbera-tungen gefordert; 7 Milliarden Euro Mehrausgaben sindes bei der SPD. Das kann sich Deutschland nicht leisten.Diese Regierung geht einen soliden Weg. Wir schaf-fen es bereits 2013, die Schuldenbremse einzuhalten,und damit drei Jahre früher als notwendig.
Unser Ziel ist ein strukturell ausgeglichener Haushalt imJahr 2014.
Mit diesem Haushalt sind wir auf einem sehr guten Weg.Danke.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin in
unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Brigitte Pothmer. Bitte
schön, Frau Kollegin Brigitte Pothmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Frau Ministerin von der Leyen, Sie sind in diesemMonat seit drei Jahren Arbeits- und Sozialministerin.
Ich hätte Ihnen, quasi von Niedersächsin zu Niedersäch-sin, gerne einen großen Blumenstrauß überreicht. Ichhabe mir dann aber Ihre Bilanz noch einmal genau ange-guckt und beschlossen, den Strauß doch lieber selber zubehalten.
Dabei fehlt es Ihnen wahrlich nicht an Talent, zumin-dest was die Präsenz in den Medien angeht. Der Mangelzeigt sich woanders: Der Mangel zeigt sich bei der Em-pathie für die Schwächsten in dieser Gesellschaft. Esfehlt dieser Regierung ein Gerechtigkeits-Gen.
Soziales rangiert bei Schwarz-Gelb auf der Res-terampe. Das kann man anhand dieses Haushaltsent-wurfs deutlich nachempfinden. Kein Etat wurde in IhrerZeit so geschröpft wie der Etat des Sozial- und Arbeits-ministeriums. Gemeinsam mit Herrn Schäuble habenSie, Frau von der Leyen, die Axt an die Arbeitsförderunggelegt.
In Ihrer Amtszeit wurden die Mittel hierfür um40 Prozent reduziert. Die Arbeitslosigkeit ist aber imSGB-II-Bereich nur um 10 Prozent und die Langzeitar-beitslosigkeit ist nur um 1 Prozent zurückgegangen.Nein, Frau Ministerin, die Langzeitarbeitslosen sind diegroßen Verlierer Ihrer Arbeitsmarktpolitik.
Für sie waren Schwarz-Gelb drei verlorene Jahre.Aber auch die prekäre Beschäftigung hat sich in IhrerAmtszeit deutlich ausgeweitet. Fast 8 Millionen Niedrig-löhner, fast 5 Millionen Minijobberinnen, Hunderttau-sende Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter – für dieseMenschen gilt: Armut trotz Arbeit im Hier und Jetzt undAltersarmut für die Zukunft. Diesen Menschen, die einLeben lang fleißig gearbeitet haben – um das einmal mitIhren Worten zu sagen, Frau von der Leyen –, treten Siemit einem regelrechten Betrugsmanöver entgegen.
Sie versprechen diesen Menschen eine Lebensleistungs-rente. Sie versprechen sie denen, denen Sie den gesetzli-chen Mindestlohn verweigern,
Sie versprechen sie denen, denen Sie Equal Pay vorent-halten, und Sie versprechen sie denen, die Sie selberdurch die Ausweitung von Minijobs ins berufliche Ab-seits gedrängt haben.
All diesen fleißigen Leuten versprechen Sie nach 40 Jah-ren Arbeit, am Ende ihrer prekären Erwerbsbiografie,10 Euro zusätzlich zur Grundsicherung im Alter. MeineDamen und Herren, das ist zynisch; das ist mehr als zy-nisch.
Sie wissen genauso gut wie ich: Entscheidend ist, wasvor der Rente kommt. Wir brauchen einen gesetzlichenMindestlohn, wir brauchen Equal Pay, wir brauchen eineReform der Minijobs, und wir brauchen endlich gleichenLohn für gleichwertige Arbeit.
Das wäre im Übrigen auch ein Instrument zur Ar-mutsbekämpfung. Der Armuts- und Reichtumsberichthat in aller Deutlichkeit gezeigt, in welchem Ausmaß diesoziale Spaltung in dieser Gesellschaft zugenommen hat.Es ist nicht nur eine Spaltung entlang der Einkommens-grenzen – das auch –, sondern es geht um eine völligneue Qualität von Armut, um eine Armut, die sich gera-dezu vererbt.Sie, Frau von der Leyen, nehmen für sich in An-spruch, dass Sie mit dem Bildungs- und Teilhabepaketdieser kulturellen Armut begegnen wollen. Ich will andieser Stelle gar nicht darüber reden, dass das Bildungs-und Teilhabepaket ein bürokratisches Monster ist, dasbei den meisten Kindern nicht ankommt.
Ich rede vom Inhalt dieses Bildungs- und Teilhabepa-kets. Ich rede zum Beispiel vom Nachhilfeunterricht.Ich war letzte Woche in meinem Wahlkreis unterwegsund habe eine Kinderbetreuungseinrichtung besucht, diein einem sozialen Brennpunkt liegt. Die Mitarbeiterin-nen dieser Einrichtung engagieren sich in hohem Um-fang dafür, mit Nachhilfeunterricht den Kindern neueChancen zu eröffnen. Wissen Sie, Frau von der Leyen,was das Drama ist? Wenn diese Kinder sich mühseligvon einer Fünf auf eine Vier hochgearbeitet haben, dannwird ihnen der Nachhilfeunterricht gestrichen. So beloh-
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Brigitte Pothmer
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nen Sie die Anstrengung dieser Kinder: Dann ist dieseUnterstützung weg.
Mit diesem Bildungs- und Teilhabepaket verhindern Sievielleicht das Sitzenbleiben; den sozialen Aufstieg er-möglichen Sie damit mit Sicherheit nicht.
Frau von der Leyen, zu Ihrem Jubiläum wird es keineLobeshymnen geben. Auch die Medien reagieren inzwi-schen ziemlich sparsam. Als Staatsschauspielerin wur-den Sie neulich im Spiegel beschrieben.
Drei Rollen wurden Ihnen zugeordnet: die Powerfrau,die Supermutti und die Barmherzige. Alle drei Rollenhatten Sie gut einstudiert, aber das ist alles nur Theater.Ihr Krippenprogramm kam nicht in Gang, Ihre Bildungs-gutscheine sind ein bürokratisches Monster, und Ihre Zu-schussrente ist ein falsches Versprechen. Sie dürfen sichwirklich nicht beschweren, dass dafür keine roten Rosenregnen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin inunserer Aussprache ist Frau BundesministerinDr. Ursula von der Leyen. Bitte schön, Frau Bundes-ministerin.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Dann fangen wir einmal an mit derBilanz, die Sie, Frau Pothmer, gerade eingeforderthaben. Das ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann:
Wir haben in Deutschland so viel Beschäftigung wienoch nie. Wir haben die geringste Arbeitslosigkeit seitder Wiedervereinigung. Wir haben die niedrigsteJugendarbeitslosigkeit in Europa. Dafür werden wirinternational hoch anerkannt.
Das sind nachhaltige Entwicklungen.Wir haben seit 2005 einen Rekord bei den Erwerbs-tätigen. Wir haben einen Rekord bei der sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigung. Übrigens, der Anteil dererwerbstätigen über 55-Jährigen ist auf 60 Prozent ge-stiegen, der Anteil der erwerbstätigen über 60-Jährigenist auf 44 Prozent gestiegen. Wir haben damit in EuropaPlatz zwei hinter Schweden. Das ist eine Erfolgs-geschichte, die ihresgleichen sucht, Frau Pothmer.
Wir haben die Zahl der arbeitslosen Jugendlichenhalbiert. Wir haben die Zahl der Langzeitarbeitslosen ge-senkt,
und zwar um 40 Prozent seit 2007.Meine Damen und Herren, das sind die Fakten in demLand, in dem Angela Merkel seit sieben Jahren Kanzle-rin ist. Darauf sind wir stolz.
Wir haben übrigens auch in der Grundsicherung nach-haltige, langfristige Erfolgszahlen. Die Hilfequote istheute so niedrig wie noch nie seit Einführung vonHartz IV; das muss man der Opposition einmal sagen.Wir haben die Hilfequote gesenkt.
Wir haben rund 450 000 Bedarfsgemeinschaften inHartz IV weniger als 2007. Wir haben rund eine Viertel-million Kinder weniger in Hartz IV, und das ist etwas,worüber wir uns freuen, meine Damen und Herren. Dasist der richtige Weg.
Wir haben 900 000 Menschen aus der Grundsicherungherausgeholt und ihnen den Sprung auf den ersten Ar-beitsmarkt ermöglicht.Das zeigt, dass wir es mit Fordern und Fördern ernstmeinen, dass wir den Menschen wirklich eine Chanceauf dem ersten Arbeitsmarkt geben, dass wir mehrArbeitsangebote machen können. Wir haben inzwischeneinen besseren Betreuungsschlüssel in den Jobcentern.Die Arbeitsmarktdaten sind der beste Beweis dafür, dassunsere Politik stimmig ist.
Es sind die Reformen der letzten Jahre, die sich alsrichtig erwiesen haben.
Es sind die Arbeitsmarktreformen vom Anfang des letz-ten Jahrzehnts, von denen Sie sich gerade förmlich imSchweinsgalopp verabschieden.
– Ich werde Ihnen das gleich noch zeigen. – Es ist imÜbrigen die Jobcenterreform, die Sie nicht geschaffthaben.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Wir haben diese Reform zum Abschluss gebracht. Heutestehen die Jobcenter deshalb hervorragend da.
Wir haben die Zeitarbeit als flexibles Instrumenterhalten, aber wir haben sie reguliert. Das war nötig,Stichworte „Drehtürklausel“ und „Mindestlohn“.
Das heißt, wir haben die schlechten Anteile des rot-grü-nen Gesetzes korrigiert. Das war nötig.Wir haben in der Tat das SGB II reformiert und dasBildungspaket eingeführt. Ich freue mich, dass Sie mehrdavon fordern, Frau Pothmer. Es ist der richtige Weg,den wir gegangen sind. Wir haben den Übergang vonSchule in den Beruf neu geordnet. Es spricht Bände, dasssich Europa in diesen Tagen genau nach diesen Erfolgs-rezepten ausrichtet, aber die Opposition sich davon ver-abschiedet und eine Rolle rückwärts macht.
Wir stehen zu diesem Erfolgspfad. Wir stehen zu denArbeitsmarktreformen, und wir stehen auch zu derschrittweisen Einführung von Arbeit bis 67.Wir haben uns einmal angeschaut, was Sie auf denletzten Parteitagen bzw. die SPD in ihrem Rentenpapierbeschlossen haben.
– Der Parteitag kommt noch! – Die Grünen haben auf ih-rem Parteitag beschlossen, den Regelsatz auf 420 Eurozu erhöhen.
Das betrifft Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, steuerlichenGrundfreibetrag. Meine Damen und Herren, die Grünenhaben beschlossen: auf einen Schlag 8 Milliarden EuroKosten mehr
und auf einen Schlag 1,5 Millionen Menschen inHartz IV mehr.
Das müssen Sie nicht nur denen erklären, die Sie jetztneuerdings zu Bedürftigen machen,
sondern auch den Menschen, die jeden Tag aufstehenund fleißig dafür arbeiten, dass dieses Geld dann auch inder Kasse klingelt.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischen-
frage?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Gerne.
Kollege Markus Kurth, bitte.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Das haben wir gerade gemacht. Unsere Bilanz haben
wir gerade dargestellt. Soll ich sie Ihnen noch einmal
darstellen?
Jetzt stellt der Kollege Markus Kurth seine Zwischen-
frage.
Danke, Herr Präsident. – Frau von der Leyen, sind Siebereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Bundesverfas-sungsgericht in seinem Urteil im Februar 2010 klar ge-sagt hat, dass das soziokulturelle Existenzminimum demGrunde nach unverfügbar ist, und dass es klare Kriterienfestgelegt hat, nach denen ein Regelsatz zu berechnenist?
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie in Ihren Berech-nungen weder die verdeckte Armut ausgeschlossenhaben noch zum Beispiel Mittel, die für die Pflegezwischenmenschlicher Beziehungen notwendig sind, inden Regelsatz einbezogen haben? Sind Sie bereit, nach-zuvollziehen, dass man, wenn man diese Bestandteileeinberechnet, auf diese rund 420 Euro kommt?Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir aufunserem Bundesparteitag ein Steuerkonzept beschlos-sen haben, in dem die Erhöhung des Grundfreibetrages,die den geringen Einkommen zugutekommt, durch eineErhöhung des Spitzensteuersatzes gegenfinanziert ist?Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Einführung einesgesetzlichen Mindestlohns nach den Angaben Ihres eige-nen Hauses im Bereich der Transferzahlungen direkt zueiner Entlastung von 1,5 Milliarden Euro führt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25403
Markus Kurth
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und das dann sowohl verfassungsrechtlich und men-schenrechtlich geboten als auch zusätzlich gut gegenfi-nanziert ist?
Das war also eine Frage. Bitte schön, Frau Ministerin.Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Das war ein ausführliches Statement. – Da Sie dasBundesverfassungsgericht bemüht haben, bitte ich Sie,Folgendes zur Kenntnis zu nehmen:Erstens. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinemUrteil zum Asylbewerberleistungsgesetz explizit auf un-ser gutes Gesetz Bezug genommen und damit indirektbestätigt, dass diese Rechnungen richtig sind.
Zweitens. Kommen wir zum Rentenpapier der SPD.Wir stellen fest, dass die SPD in ihrem Rentenpapier dieRentenpolitik von Schröder und Müntefering rückabge-wickelt hat.
– Es war die Frage von Herrn Kurth nach dem Bundes-verfassungsgerichtsurteil und danach, ob wir zur Kennt-nis nehmen, dass seine Ausführungen richtig seien.
Nein. Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Ausführungendes Bundesverfassungsgerichtes zu den Hartz-IV-Regel-sätzen, nach denen Sie gefragt haben,
richtig sind, so wie wir sie berechnet haben. Ich kannaber gerne, Herr Präsident, diesen Satz noch dreimalwiederholen, falls Herr Kurth es nicht versteht. – Danke.Jetzt zu den Rentenplänen der SPD. Ich merke, wennSie versuchen, immer wieder auf Herrn Kurth abzulen-ken, dann, weil Sie Angst davor haben, dass wir Ihnenjetzt sagen, was in Ihren Papieren steht.
In Ihren Papieren steht nämlich – ich finde das ganzspannend –: Erstens. Alles, was Schröder undMüntefering in der Rentenpolitik gemacht haben, wirdwieder rückabgewickelt.
Der Gedanke von Generationengerechtigkeit – nichtdrin! Beitragszahler werden massiv belastet. Ich zähle esIhnen einmal auf: Erwerbsminderungsrente, Teilrente,abschlagsfreier Zugang, Aussetzung der Rente mit 67,Anhebung des Sicherungsniveaus, Solidarrente. Kosten-punkt 2030: 90 Milliarden Euro.
Wie verträgt sich das eigentlich mit der Beinfreiheit desKandidaten, meine Damen und Herren? Diese Fragestellen wir uns gemeinsam.
Für uns bleibt nach wie vor nicht das Ziel, mehr Men-schen in Hartz IV zu bringen, nicht das Ziel, die jungeGeneration mehr zu belasten, wie es offensichtlich IhreZiele sind.
Unsere Ziele bleiben, die Langzeitarbeitslosigkeit ab-zubauen und Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zubringen.
Deshalb stehen 8 Milliarden Euro für Eingliederung undVerwaltung bereit. Das sind pro Arbeitslosen genausoviel Mittel wie vor der Wirtschafts- und Finanzkrise in2008 und deutlich mehr, als es 2006 der Fall war. Wirsetzen die Akzente auf Bildung, auf Ausbildung undWeiterbildung. Der Eingliederungstitel der Bundesagen-tur für Arbeit bleibt nicht nur stabil. Er wächst. 2013 ste-hen 800 Millionen Euro mehr zur Verfügung, als das vo-raussichtliche Ist für 2012 – also das, was tatsächlichgebraucht wird – beträgt.
Frau Hagedorn, Sie haben die Bundesagentur für Ar-beit als Zitrone bezeichnet.
Nein, die Bundesagentur für Arbeit ist keine Zitrone,und die Unkenrufe aus dem Frühjahr,
als Sie uns sagten, welche Defizite entstehen würden,haben sich nicht bestätigt.
Die BA braucht keine Zuschüsse. Sie hat 2,1 MilliardenEuro Überschuss. Das ist der richtige Weg. Sie geht so-gar selbst davon aus, dass wir 2017 wieder 6 MilliardenEuro Rücklage in der BA aufgebaut haben.Ich möchte noch einmal zur Rente Stellung nehmen,was unsere eigenen Pläne angeht. Das Rentensystem istgut aufgestellt. Wir sind der Meinung, dass wir mit dergesetzlichen und der privaten oder betrieblichen Absi-
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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cherung das Risiko auf zwei Beine verteilt haben, aberauch die Chancen auf zwei Beine verteilt haben. Dafürwerden wir weltweit gelobt. Wenn das Rentenniveauzum Schutz der jungen Erwerbstätigen sinkt, dann istunsere Antwort nicht, dass wir das gesamte Niveau wie-der erhöhen nach dem Motto: Vor allem die hohen undmittleren Renten bekommen etwas, aber – nach uns dieSintflut! – die Jungen können das bezahlen.
Wir wollen gezielt für die Geringverdiener etwas tun.Wer jahrzehntelang in den Generationenvertrag einge-zahlt hat, ihn durch Beiträge oder Kindererziehungsichert, und wer privat oder betrieblich vorsorgt – wirhalten beide Formen der Vorsorge für richtig –, muss imAlter eine Rente aus dem Rentensystem erhalten.
Deshalb führen wir die Lebensleistungsrente ein, meineDamen und Herren.
Wir werden die Höhe der Entgeltpunkte festlegen.Das ist im Rentensystem üblich. Die Niedrigrenten wer-den durch Steuermittel aufgewertet.
Dabei wird die private und betriebliche Vorsorge nichtverrechnet. Wir wollen nicht, dass Bezieher von Niedrig-renten umsonst in die private oder die betrieblicheVorsorge eingezahlt haben,
sondern wir wollen einen Anreiz für sie schaffen, sozial-versicherungspflichtig zu arbeiten. Außerdem wollenwir einen Anreiz für sie schaffen, private und betriebli-che Vorsorge zu betreiben.Nach unserer Vorstellung muss nach wie vor gelten:Es muss einen Unterschied machen, ob man sich an-strengt oder nicht.
Das gilt für den Arbeitsmarkt genauso wie für die Rente,meine Damen und Herren. Deshalb ist dieser Haushaltgut aufgestellt.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte
schön, Kollege Hubertus Heil.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Frau Ministerin von der Leyen, beiIhrer Rede habe ich mich erinnert an ein großartigesBuch von George Orwell aus dem Jahr 1948. Das Buchheißt: Big Brother is watching you.
– 1984. Entschuldigung. Das Buch heißt: 1984. Dankefür die Hilfe! Literarisch bewanderte Kollegen!
– Hören Sie kurz zu!1984 ist ein wunderbares Buch. In diesem Buch gibtes eine Regierung, die eine Sprache erfindet, die immerdas Gegenteil dessen zum Ausdruck bringt, was gemeintist. Diese Sprache heißt „Neusprech“.Übertragen wir das einmal auf Ihre Rede und gehendie einzelnen Begriffe durch, die Sie in den Raum ge-worfen haben. Sie sind eine Meisterin darin, Begriffe zuerfinden. Sie haben einen ganzen Sommer lang denBegriff der Bildungschipkarte in Interviews verbreitet.Damit haben Sie die Erwartungshaltung geweckt – ichstelle es einmal überspitzt dar –, dass Kinder von Hartz-IV-Empfängern demnächst alle Reitunterricht undGeigenunterricht bekommen. Herausgekommen ist einBildungspaket, das wir zwar verbessern konnten, dasaber in der Abwicklung ein bürokratisches Problem ist.
Auch da: viel Wortgeklingel, wenig Substanz.Wir haben erlebt, dass Sie beim Thema Mindestlohnmit dem Begriff der Lohnuntergrenze operieren.
Herausgekommen ist dabei nichts.
Meine Damen und Herren, Frau von der Leyen isteine Anscheinserweckerin. Sie tut so, als ob. Aber Tatsa-che ist: Diese Regierung hat es nicht hinbekommen, Siepersönlich haben es nicht hinbekommen, das zu tun, wasnotwendig ist, nämlich einen gesetzlichen Mindestlohnin Deutschland durchzusetzen, damit Menschen, die hartarbeiten, von ihrer Arbeit leben können. Schweigen Sielieber von Ihrer Lohnuntergrenze und handeln Sie!
Bei den Themen „Frauenquote“ und „Gleichstellung“sind Sie bei Appellen offensichtlich auf der richtigenSeite. Durchgesetzt haben Sie aber nichts. Auch wiedernur Wortgeklingel! Ihre Kollegin Frau Schröder hat danneinen neuen schönen Klingelbegriff erfunden, die soge-nannte Flexi-Quote.
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Hubertus Heil
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Das setzt sich fort mit dem Wortgeklingel „ Zuschuss-rente“, die Sie jetzt umgetauft haben in „Lebensleis-tungsrente“. An dieser Stelle hört der Spaß auf, FrauMinisterin. Wer Menschen, die hart arbeiten, so ver-höhnt, wie Sie das mit diesem Unsinn tun, der sollte beidiesem Thema schweigen. Eine Bundesministerin fürArbeit und Soziales, die sich über Altersarmut und überÄngste von Menschen vor Altersarmut verbreitet, aberbei den Themen „Erwerbsarmut“ und „Kampf gegenprekäre Arbeit“ schweigt, hat ihren Job verfehlt, meineDamen und Herren.
Ich sage Ihnen das, weil Frau Pothmer vollkommenrecht hat: Altersarmut ist das Ergebnis von Erwerbsar-mut, von Langzeitarbeitslosigkeit, von prekärer Arbeitund von schlechter Entlohnung. Die Frage, ob wir imJahr 2025 oder 2030 die Altersarmut abwenden können,die die Menschen heute fürchten, hängt mit der Fragezusammen, welche Ordnung wir am Arbeitsmarkthaben, ob wir dafür sorgen, dass Menschen in sozialver-sicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse hineinkommenund dass sie von ihrer Arbeit leben können, dass dasArbeitsvolumen von Frauen durch eine bessere Verein-barkeit von Familie und Beruf steigt und sie nicht inTeilzeitfallen gefangen sind. Es kommt darauf an, dasswir den Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit nicht miteinem Wortgeklingel abtun, wie Sie es vorhin getanhaben, sondern durch den Grundsatz „gleicher Lohn fürgleiche Arbeit“ abwenden, dass wir gegen den Miss-brauch von Werkverträgen angehen und dass wir denUnsinn der Minijobs nicht ausweiten, sondern den Miss-brauch von Minijobs in diesem Land zurückdrängen,meine Damen und Herren. Das sind die Aufgaben.
Frau von der Leyen, die Sprache bei George Orwellheißt „Neusprech“. Sie sind eine Meisterin des „Neu-sprechs“. Sie erfinden neue Begriffe. Ihre Aufgabe ist esaber nicht, als stellvertretende Parteivorsitzende derCDU das Spiel – wie nennen Sie das in Ihrer Partei? –der asymmetrischen Demobilisierung anderer Parteiendurch Wortgeklingel zu spielen. Es ist nicht IhreAufgabe, lediglich Begriffe zu besetzen, sondern IhreAufgabe ist es, als Ministerin für Arbeit und Soziales dieVerhältnisse der Menschen in diesem Land substanziellzu verbessern.Was haben Sie aber in den vergangenen drei Jahren inIhrem Amt getan, nachdem Sie dieses ziemlich plötzlichvon Herrn Jung geerbt haben? Drei Jahre lang gab eseine gute konjunkturelle Entwicklung, auf der Sie sichausgeruht haben!
Sie haben aber als Arbeitsministerin keine Vorsorge fürkonjunkturell schlechtere Zeiten getroffen. Nach dreiJahren guter konjunktureller Entwicklung in der Ab-schlussbilanz des kommenden Jahres, wenn Sie das Amtverlassen werden, Frau von der Leyen, ein Loch von1,6 Milliarden Euro bei der Bundesagentur für Arbeit zuhinterlassen – das hinzubekommen, ist schon eine richtigdolle Leistung!
Zu vielen Themen haben Sie hier nichts gesagt, zumBeispiel zur Frage: Welche Vorsorgemaßnahmen treffenwir eigentlich am Arbeitsmarkt, wenn sich die Konjunk-tur durch die Krise in Europa verschlechtert? Wir habenIhnen vorgeschlagen, nachdem Sie die Fristen für Kurz-arbeit verkürzt haben, die früheren Regelungen wiedereinzuführen, ins Gesetz zu schreiben bzw. per Rechts-verordnung in Kraft zu setzen. Das haben Sie beim letz-ten Mal noch abgelehnt. Inzwischen habe ich erlebt, dassSie eine solche Überlegung im Stil von Copy and Pastein einem Interview wieder als prüfenswert ausgegebenhaben.
Ihr Minister Rösler findet das ganz blöd. Inzwischengeht Zeit ins Land, die dringend für Vorsorge am Ar-beitsmarkt genutzt werden müsste.Frau von der Leyen, ich kann es Ihnen nicht ersparen:Sie sind eine Ministerin, für die Interviews wichtigersind als Initiativen,
eine Ministerin, die auf Show setzt und nicht aufSubstanz,
eine Ministerin, die mithilfe des großen Apparats für Öf-fentlichkeitsarbeit im Bundesministerium für Arbeit undSoziales eine wunderbare Fassade entwickelt hat. Siesind sehr begabt, sich in den Medien, in Talkshowsselbst zu inszenieren. In diesem Land brauchen wir je-doch eine Politik, die sich am Arbeitsmarkt orientiert,und eine vernünftige Sozialpolitik, in der nicht dieSelbstinszenierung der Ministerin im Vordergrund steht,sondern die Lebenslagen von Menschen. Der sozialeAufstieg in diesem Land, der soziale Zusammenhalt sindviel zu wichtig, als dass man diesen Bereich weiterhinStaatsschauspielern überlassen darf.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner in unserer
Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Hubertus Heil! Ich gehöre nun auch schon einigeJahre diesem Hause an, und mich besorgt wirklich, dasswir in letzter Zeit bei den Debatten hier den Trend erle-
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ben, dass kein Vergleich zu billig ist und überdies dieHemmschwellen fallen.
Man kann die Regierung sicherlich hart attackieren.Das kann man tun. Ich finde es aber unerträglich, wenndiese Bundesregierung oder ein Mitglied dieser Bundes-regierung in Bezug zu George Orwells 1984 gesetztwird.
Wir sind keine Regierung im Sinne von „Big Brother“oder „Big Sister“, sondern wir sind eine Regierung, diesehr darauf achtet, dass die Unverletzlichkeit der Privat-sphäre der Menschen in diesem Lande gewährleistet ist.Das will ich zu Beginn erst einmal feststellen.
Weiterhin haben Sie sich nach unserer Sprache erkun-digt. Wir sprechen eine klare Sprache.
Ich will es Ihnen für die FDP-Bundestagsfraktion sehrdeutlich sagen: Für uns ist Haushaltskonsolidierung einhohes Ziel,
und das insbesondere vor dem Hintergrund der Erfah-rungen, die wir derzeit in Europa mit der Schuldenkrisemachen müssen. Wir arbeiten wirklich hart an dieserAufgabe, Frau Hagedorn. Wir betreiben nicht eine „an-gebliche Haushaltskonsolidierung“, wie der KollegeBrandner uns heute Morgen vorzuwerfen meinte, son-dern eine Haushaltskonsolidierung mit echten Zahlen.Ich will Ihnen noch einmal in Erinnerung führen: Alswir den Haushalt übernommen haben – Sie haben dieZahlen doch selbst genannt –,
2010, da gab es im Einzelplan 11, Arbeit und Soziales,ein Soll von 143,2 Milliarden Euro.
Dieses Soll ist jetzt bis 2012 auf 119,2 Milliarden Eurozurückgeführt worden.
Und dennoch – das will ich Ihnen ganz deutlich sagen –machen wir mit weniger Geld die bessere Sozialpolitik,als Sie es damals gemacht haben.
Die Zahlen sind doch heute schon genannt worden.Man kann sie gar nicht oft genug nennen: ein absoluterHochstand bei der Erwerbstätigkeit: 41,8 Millionen,
Niedrigstand bei der Arbeitslosigkeit: 2,7 Millionen, undvor allen Dingen ein Rekordniedrigstand bei der Jugend-arbeitslosigkeit, im Grunde ein Europarekord: Wir sindmit diesem Niedrigstand Europameister. Das sind wirübrigens aufgrund eines Systems, nämlich der dualenAusbildung, um das uns ganz Europa beneidet.
Diese duale Ausbildung, Frau Kollegin Hagedorn, wirdübrigens zum ganz überwiegenden Teil von dem Mittel-stand in unserem Lande geschultert.
70 Prozent der Ausbildung in Deutschland findet imMittelstand statt,
aber 75 Prozent der mittelständischen Unternehmen inDeutschland werden in der Rechtsform der Personenge-sellschaft geführt. Das sind genau diejenigen, die Sie mitIhrer Anhebung des Höchststeuersatzes treffen wollen.
Sie greifen tief in den Mittelstand in Deutschland ein
und zerstören so die Bereitschaft, zu investieren und Ar-beitsplätze zu schaffen. Das werfen wir Ihnen in allerDeutlichkeit vor.
Wir sind der Meinung, dass es jetzt unsere Aufgabeist, diesen Erfolg eines Hochstandes bei der Beschäfti-gung in Deutschland, auch bei der sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigung, fortzuführen.Ich will übrigens mit einem Vorurteil aufräumen. Eswird immer gesagt, es gäbe für junge Menschen in unse-rem Lande keine Chancen mehr. 2005 gab es in derGruppe der 15- bis 25-Jährigen 1,18 Millionen Normal-arbeitsverhältnisse – so will ich es einmal nennen –, alsounbefristete, sozialversicherungspflichtige Arbeitsver-hältnisse in Vollzeit. 2011 waren es 1,24 Millionen –eine Steigerung um 5 Prozent. Das zeigt deutlich: DieEntwicklung ist nicht so, wie Sie sie gerne darstellen.Vielmehr findet der Hauptzuwachs bei der sozialversi-cherungspflichtigen Beschäftigung über alle Altersklas-sen hinweg im Bereich der Vollzeitbeschäftigung statt,und andere Beschäftigungsformen entwickeln sich not-wendigerweise entsprechend mit.Ich will Ihnen ein Weiteres sehr deutlich sagen. Wenndie SPD, was wir alle nicht hoffen und auch nicht erwar-ten, in Deutschland wieder an der Regierung wäre, wärees mit dem Jobwunder, das ich eben beschrieben habe,sehr schnell wieder vorbei. Denn Sie sind nicht bereit,
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zur Kenntnis zu nehmen, Frau Hagedorn, dass auch Be-schäftigte in den Beschäftigungsformen, die Ihnen nichtgenehm sind, aber aus unserer Sicht notwendigerweisezum gesamten Repertoire der Beschäftigungsformen da-zugehören, in die öffentlichen Kassen einzahlen. Mankann darüber streiten, ob Teilzeitarbeit sinnvoll ist odernicht. Es gab einmal Zeiten, in denen manche die Teil-zeitarbeit als Errungenschaft gefeiert haben, weil Frauendadurch Familie und Beruf besser vereinbaren konnten.
Jedenfalls zahlen auch Teilzeitbeschäftigte in die Sozial-kassen ein und tragen dazu bei, dass die Steuerkassen inunserem Land aktuell so überbordend gefüllt sind.Man kann darüber streiten, ob befristete Beschäfti-gung ein erstrebenswerter Zustand ist. Tatsache ist, dassauch diese Beschäftigungsverhältnisse durch Steuernund Beiträge zur derzeitigen komfortablen Situation inDeutschland beitragen.
Das gilt auch für die Zeitarbeit.Ich will Ihnen hier Ihr ganzes Problem deutlich ma-chen. Es waren SPD und Grüne, die die Zeitarbeit inDeutschland sehr stark dereguliert haben, mit dem Ef-fekt, dass wir dann fast 900 000 Beschäftigte in diesemBereich hatten. Als dann die ersten Probleme aufkamen– Schlecker und anderes –, da waren Sie diejenigen, diedas sofort wieder dichtmachen wollten und sagten: Wirwollen das nicht länger haben. – Wir, Karl Schiewerlingund ich, haben gesagt: Wir müssen da mit Augenmaß he-rangehen, wir regulieren das; der Drehtüreffekt mussvermieden werden.Als dann die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktesfür Menschen aus Osteuropa kam, sagten Sie: Die Ost-europäer werden Deutschland überrennen, und dannwird das hier alles ganz schlimm. – Der 1. Mai 2011kam, und es ist nichts passiert. Wir haben ein halbes Jahrspäter einen Mindestlohn eingeführt. Aber schon damalswar klar, dass in der Zeitarbeit nicht der Mindestlohn dasProblem ist, sondern die Frage des Equal Pay. Wir habendiesen Begriff übrigens als erste Fraktion in diesemHaus in die Diskussion eingeführt.
Dann waren Sie sofort wieder dabei, zu sagen: Zeitarbeitnur, wenn es vom ersten Tag an Equal Pay gibt.
– Die Kollegin möchte eine Zwischenfrage stellen, HerrPräsident.
Vielen Dank. – Der Redner hat es schneller gesehen.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kolb, ich habe eine ganz kurze Frage an Sie: Ab
welchem Tag nach der Einstellung wollen Sie Leih-
arbeitnehmern gleiches Geld für gleiche Arbeit garantie-
ren? Ich habe gehört: nach neun Monaten.
Frau Kollegin Mast, ich habe eine etwas längere Ant-
wort auf Ihre Frage.
Aber Sie denken daran, dass Ihre Redezeit ohnehin
abgelaufen war?
Ja, ich denke daran. Ich versuche, die Antwort einbisschen zu kürzen.
Ich glaube, Equal Pay ist wichtig, um die Akzeptanzvon Zeitarbeit in Deutschland auf Dauer zu garantierenbzw. herzustellen.
Sie wollen Equal Pay vom ersten Tage an; wir wollendas nicht.
Wir haben übrigens immer gesagt: Das ist eine Frage,über die man die Tarifpartner in unserem Land entschei-den lassen kann. Wir haben den Tarifpartnern die ent-sprechende Zeit eingeräumt.Sie müssen jetzt feststellen, dass in Branche für BrancheLösungen mit Augenmaß gefunden werden, unter Zu-stimmung der IG Metall, der IG Chemie, der EVG undanderer.
Die Frist von neun Monaten, die Sie jetzt immer anspre-chen, ist übrigens genau die Schwelle, auf die sich dieTarifpartner jetzt Branche für Branche verständigen;
ab diesem Zeitpunkt erreichen die Branchenzuschlägesozusagen ihren Höchststand.Das ist der beste Weg. Sie von der SPD wollen immerstaatlich regulierend eingreifen. Warum soll man dastun? Die Tarifpartner regeln das sehr viel besser selbst;
sie werden das in den genannten Bereichen und auch inanderen Branchen weiterhin tun. Es besteht hier für denGesetzgeber überhaupt keine Notwendigkeit, zu han-deln.Seien Sie ganz entspannt. Diese Regierung trägt mitgroßer Sorgfalt dazu bei, dass sich die Beschäftigung in
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Deutschland positiv entwickelt und dass Sozialbeiträgeund Steuereinnahmen sprudeln. Dafür werden wir auchin Zukunft sorgen. Für einen Aktionismus nach rot-grü-ner Art stehen wir nicht zur Verfügung.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist
für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Sabine
Zimmermann. Bitte schön, Kollegin Sabine Zimmermann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Kollegin Pothmer, lieber Kollege Heil,Sie haben gerade den Niedriglohnsektor gegeißelt, be-rechtigterweise.
Sie erinnern sich aber schon noch daran, dass Sie mitHartz IV die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen ha-ben? Das werden Ihnen die Bürgerinnen und Bürgernicht vergessen, und das sollten Sie nicht vergessen.
Des einen Freud ist des anderen Leid, so ein engli-sches Sprichwort. Während sich die Regierungskoalitiondarüber freut, dass es ihr gelungen ist, auch in diesemHaushalt wieder drastische Einsparungen im Bereich derArbeitsmarktpolitik zu erzielen,
verschlechtern sich die Chancen erwerbsloser Men-schen, einen ordentlichen Job zu bekommen.
Die Betonung liegt auf „ordentlich“. Das ist einfach so.Angesichts der Kürzungen der vergangenen Jahrekönnte man wirklich sagen, dass es wahrlich eine Leis-tung von Ihnen ist, immer noch in dieser Größenordnungzu sparen. Die Linke sagt Ihnen ganz deutlich: DieseKahlschlagpolitik ist unanständig und arbeitsmarktpoli-tisch unsinnig.
Mit dem Wegfall der Beteiligung des Bundes an derArbeitsförderung zementieren Sie die chronische Unter-finanzierung der Bundesagentur für Arbeit. Ich weißnicht, ob es bei Ihnen schon angekommen ist, dass wirauf eine Krise zusteuern bzw. schon längst drin sind.Selbst die BA weist darauf hin, dass sie im Falle einerKrise keine nennenswerten Rücklagen mehr hat.
Das ist doch eine klare Botschaft, aber Sie, die Bundes-regierung, ignorieren das beharrlich.Frau Ministerin von der Leyen, wir fordern Sie auf:Hören Sie auf, die Bundesagentur für Arbeit und die er-werbslosen Menschen wie eine Zitrone auszupressen.
Sie sollten sich ein Herz fassen und sagen: So kann esnicht weitergehen.
Im Bereich Hartz IV standen 2010 noch 6,6 Milliar-den Euro für Eingliederung in Arbeit zur Verfügung, imnächsten Jahr sollen es nur noch 3,9 Milliarden sein. Inder beruflichen Weiterbildung hatten wir in den letztenzwei Jahren einen Rückgang an Teilnehmerinnen undTeilnehmern von 30 Prozent zu verzeichnen. Das ist IhrePolitik: 1 Milliarde mehr für Panzer, aber bei der Quali-fizierung sparen. Das tragen wir nicht mit.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Re-gierungskoalition: Was sollen denn die Arbeitsvermittlervor Ort in Zukunft noch anbieten, wenn ihnen kaumnoch Mittel zur Verfügung stehen? Somit wird den Be-schäftigten der Bundesagentur für Arbeit der SchwarzePeter zugeschoben. Das finden wir nicht richtig.
Damit nicht genug: 17 000 Stellen sollen bei der BAabgebaut werden. In vielen Jobcentern sind schon der-zeit die Beschäftigten völlig überlastet. Gehen Sie ein-mal in ein Jobcenter oder in eine Arbeitsagentur, und las-sen Sie sich erzählen, wie der Stand dort ist. DieBetreuungsschlüssel sind schöngerechnet. Mit guter Ver-mittlung, Chancen eröffnen und Fördern hat das allesaus meiner Sicht überhaupt nichts zu tun.
Fakt ist: Die Langzeiterwerbslosigkeit ist in den letz-ten zwei Jahren von 33,5 auf 37 Prozent gestiegen. Fastdie Hälfte aller Arbeitslosen verfügt nicht über eine ab-geschlossene Berufsausbildung. Da ist doch Qualifizie-rung das A und O. Hier streichen Sie.
Wo bitte sind denn die bahnbrechenden Erfolge amArbeitsmarkt, die Sie, Herr Schiewerling, Herr Vogel– mein netter Kollege Vogel ist gerade nicht da –, immerso hochhalten
Deutschland hat einen überdurchschnittlich hohen Anteilan Langzeitarbeitslosen. Diejenigen, die in Arbeit sind,sind überwiegend in prekärer Beschäftigung wie Leihar-beit und Minijobs gelandet, und davon kann man nichtleben.Wir fordern Sie zu einem grundlegenden Kurswech-sel in der Arbeitsmarktpolitik auf; denn Sie haben Lang-zeitarbeitslose, ältere Erwerbslose und Menschen mit
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Sabine Zimmermann
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Behinderungen abgeschrieben, und das ist aus unsererSicht ein Skandal.
Angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen brau-chen wir mehr Geld für Förderleistungen. Die Krise istauf dem deutschen Arbeitsmarkt angekommen, doch dieBundesregierung verschließt davor die Augen.Wir brauchen eine solide Finanzierung und Ausstat-tung der Jobcenter und Arbeitsagenturen. Deshalb for-dern wir, dass sich der Bund an den Kosten für Arbeits-förderung beteiligt und die Leistungen für Eingliederungin Arbeit auf dem Niveau von 2010 stabilisiert.Ich komme zum Schluss.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,beherzigen Sie einfach unsere Vorschläge! Dann klapptes auch mit guter Arbeit. Dann können Sie wirklich in-brünstig das Jobwunder Deutschland hier präsentieren.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in un-
serer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU un-
ser Kollege Karl Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl
Schiewerling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ziel vonArbeitsmarktpolitik ist es, gute Rahmenbedingungen zuschaffen, damit Menschen wieder in Beschäftigungkommen. Ziel von Arbeitsmarktpolitik ist es nicht, Ar-beitsplätze zu schaffen. Das ist Aufgabe der Wirtschaft.Das geschieht in den Unternehmen.Wir haben die Rahmenbedingungen zu setzen undden Menschen zu helfen, damit der Sprung in Beschäfti-gung gelingt.
Und wir haben denen, die möglicherweise von Arbeits-losigkeit bedroht sind, durch Weiterbildung und Qualifi-zierung zu helfen, damit sie in Beschäftigung bleiben.Und denjenigen, die arbeitslos sind, haben wir die nötigeUnterstützung zu geben, damit sie wieder in Beschäfti-gung kommen. Weil genau das in den letzten Jahren ge-lungen ist, wird und kann im Haushalt der Bundesar-beitsministerin gekürzt werden. Ein hoher Etat einesMinisteriums sagt noch nichts darüber aus, ob das ei-gentliche sozialpolitische Ziel erreicht worden ist.
Wir haben unser Ziel erreicht: Wir haben 42 Millionenerwerbstätige Menschen – das ist Rekord –; 29 MillionenMenschen üben eine sozialversicherungspflichtige Be-schäftigung aus. Vorhin hat die Bundesarbeitsministerinzu Recht auf diese Entwicklung hingewiesen und unsereLeistungen herausgestellt: weniger als 3 Millionen Ar-beitslose – darum beneiden uns andere Länder –; einRückgang der Jugendarbeitslosigkeit um 16 Prozent imVergleich zu 2009 – wir haben die niedrigste Quote inEuropa –; die Beschäftigungsquote bei den über 55-Jäh-rigen ist gestiegen; die Quote der Langzeitarbeitslosen istseit 2007 um 40 Prozent gesunken.
Ich will Ihnen sagen: Wir sind stolz auf diese Ent-wicklung. Ich gestehe gerne zu, dass die wirtschaftlichenRahmenbedingungen dazu geführt haben; aber die Ar-beitsmarktpolitik hat eben geholfen, damit diese Schrittebewältigt werden konnten. Übrigens hat auch das, wasdamals im Rahmen der Agenda 2010 beschlossenwurde, mit dazu beigetragen, dass wir diesen erfolgrei-chen Weg gehen konnten. Deswegen verteidigen wir dierichtigen Schritte, die damals gegangen worden sind,und setzen uns weiter dafür ein.
Meine Damen und Herren, wir haben die Instrumentereformiert. Deswegen haben wir eine Organisationsre-form bei den Jobcentern durchgeführt. Wir haben im Be-reich der Zeitarbeit, in dem die Dinge aus dem Ruder ge-laufen sind, Regulierungen vorgenommen; Herr KollegeKolb hat darauf hingewiesen. Wir haben im Bereich derZeitarbeit einen Mindestlohn. Wir haben es geschafft,dass sich die Tarifpartner mit den Zeitarbeitsfirmen aufein vernünftiges System verständigt haben, sodass siesich jetzt nach und nach an das Ziel Equal Pay heranar-beiten, aber nicht aufgrund von staatlichen Vorgaben,sondern weil es die Arbeitgeber und die Arbeitnehmerverstanden haben, entsprechende Lösungen zu finden.Das alles zu begleiten, ist unsere Aufgabe.
Wir haben auch Überschüsse im Bereich der Sozial-versicherungen. Das ist natürlich ein Zeichen für die Pro-sperität und den Aufwuchs im Bereich der sozialversi-cherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. In denletzten zwei Jahren sind übrigens über 900 000 Men-schen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-verhältnisse eingetreten, während die Zahl der Minijob-ber, die immer wieder beklagt wird, in diesem Zeitraumnicht nennenswert angestiegen ist.
Es ist also wichtig, die Zusammenhänge richtig dar-zustellen, und man darf nicht so tun, als gäbe es inDeutschland eine blanke Verelendung und eine Versan-dung des gesamten gesellschaftlichen Klimas. Meine
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Karl Schiewerling
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Damen und Herren, das stimmt mit der Wirklichkeitnicht überein.
In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, obwir die Rahmenbedingungen richtig setzen. Ich habenicht verstanden – das muss ich ehrlich sagen –, dass aufdem Parteitag der Grünen gefordert wurde, den Hartz-IV-Satz auf 420 Euro zu erhöhen.
– Frau Kollegin Hinz, Sie haben gleich Gelegenheit, sichentsprechend zu äußern. – Das Bundesverfassungsge-richt hat Kriterien benannt und uns die Aufgabe erteilt,die Leistungen transparent darzustellen. Das Bundesar-beitsministerium hat sorgsam gerechnet. Klagen gegenLeistungsbescheide sind bei vielen Landessozialgerich-ten eingegangen. Von allen Sozialgerichten – mit Aus-nahme von einem – sind die Klagen zurückgewiesenworden. Wenn Sie wirklich davon überzeugt wären, dassdas, was wir getan haben, verfassungswidrig ist, dannwäre schon längst eine Klage beim Bundesverfassungs-gericht anhängig. Weil aber die obersten Sozialgerichtebestätigt haben, dass das nicht der Fall ist, rate ich Ihnendringend, mit Äußerungen wie „Das ist nicht verfas-sungskonform“ sehr vorsichtig zu sein.
Meine Damen und Herren, in der jetzigen Situationmüssen wir uns nicht nur mit – Gott sei Dank – sinkenderoder stagnierender Arbeitslosigkeit befassen, sondernauch über Fachkräftemangel reden. Deshalb ist es gut,dass zum Beispiel im Haushalt der Bundesarbeitsminis-terin – leider von der Öffentlichkeit kaum bemerkt – Mit-tel zur Verfügung gestellt werden, um jungen Leuten ausOsteuropa die Möglichkeit zu geben, in Deutschland eineAusbildung zu machen oder hier beruflich tätig zu wer-den. Das Bundesarbeitsministerium schafft die Voraus-setzungen für die nötige Mobilität. Ich halte diesen Hin-weis auch im europäischen Kontext für einen wichtigenPunkt.Wir stehen vor der großen Herausforderung, das hoheBeschäftigungsniveau in Deutschland auf Dauer zu hal-ten und mehr Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Es istviel geschafft worden. Schauen Sie auf den Haushalt derBundesarbeitsministerin.Das Bildungs- und Teilhabepaket – oft geschmäht –entwickelt seine positive Wirkung für Kinder, deren El-tern im Hartz-IV-Bezug sind bzw. auf Wohngeld ange-wiesen sind.Das Programm „Gesünder Leben und Arbeiten“ zieltdarauf ab, dass die Zukunft Deutschlands davon ab-hängt, wie in den Betrieben miteinander umgegangenwird und welche Rahmenbedingungen gesetzt werden.Hier hilft die Bundesregierung, neue Wege zu gehen.Das Instrument der Bürgerarbeit entfaltet ebenfallsseine Wirkung.Es gibt Hilfe für junge Menschen, spezielle Angeboteund Unterstützung für Alleinerziehende sowie Hilfen fürÄltere und Langzeitarbeitslose.Ich freue mich – das liegt mir sehr am Herzen –, dassdie Bundesregierung im Rahmen des Nationalen Ak-tionsplans für Menschen mit Behinderungen – übrigensin guter Zusammenarbeit mit den behindertenpolitischenSprechern aller Fraktionen und dem Behindertenbeauf-tragten der Bundesregierung – weiterhin alles dafür tut,dass Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit ha-ben, in unsere Gesellschaft inkludiert zu werden. Inklu-sion ist das große Thema. Ich danke ausdrücklich allen,die sich hier bemühen und Akzente setzen. Ich freuemich, dass ein Kongress zu Inklusion und Arbeitsweltstattgefunden hat. Damit hat der Bundestag ein wichti-ges Zeichen gesetzt. Ich danke allen behindertenpoliti-schen Sprechern.
Meiner Kollegin Maria Michalk, die die Federführunghatte, gebührt ein herzliches Dankeschön.
Meine Damen und Herren, es geht natürlich auch umdie Zukunft der gesetzlichen Rente. Wir drücken unshier nicht. Aber ich will Ihnen ehrlich sagen: Wenn wirgenügend Geld hätten, wenn wir eben 50 Milliardenoder sogar 90 Milliarden Euro in die Hand nehmenkönnten, dann hinge der Himmel voller Geigen, und wirkönnten die Welt bunt malen. Das können wir aber nicht.
Ich erinnere die Kolleginnen und Kollegen von der SPDdaran, dass Gerhard Schröder, als er den Nachhaltig-keitsfaktor, der nichts anderes als der zuvor von ihm ab-geschaffte Demografiefaktor ist, einführen musste, am10. September 2003 – übrigens um 9.40 Uhr, wie mir einSachkundiger mitgeteilt hat – gesagt hat: „Wir haben unsgeirrt.“ Ich rate Ihnen dringend, bei Ihren rentenpoliti-schen Vorstellungen nicht die finanziellen Gesichts-punkte außer Acht zu lassen. Sonst werden Sie eines Ta-ges wieder hier stehen und sagen müssen: „Wir habenuns geirrt.“ Ich halte es aus Gründen der Ehrlichkeit fürnotwendig, darauf hinzuweisen, dass wir uns in der Ren-tenpolitik manches wünschen, aber unter finanziellenGesichtspunkten leider nicht alles umsetzen können.
Dennoch müssen die alten Menschen und die zukünfti-gen Generationen darauf vertrauen können, dass wir sie
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Karl Schiewerling
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nicht im Stich lassen, sie fördern und in ihrer Lebens-situation unterstützen.
Meine Damen und Herren, es kommt darauf an, dasswir die Grundprinzipien der christlichen Gesellschafts-lehre beachten: Personalität, Solidarität und Subsidiari-tät. Davon lassen wir uns in unserem politischen Han-deln leiten.
Das hat bisher zum Erfolg geführt. Ich freue mich, dasswir auch im kommenden Jahr erfolgreich Arbeitsmarkt-politik in Deutschland betreiben können.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin inunserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen unsere Kollegin Frau Priska Hinz. Bitte schön,Frau Kollegin Priska Hinz.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koali-tion redet bei diesem Einzelplan im Wesentlichen aus-drücklich von Konsolidierung. Damit haben Sie auchvöllig recht. Das Einzige, womit Sie sich bei diesemEinzelplan rühmen können, ist, dass dies der einzige Etatist, der seit Jahren gekürzt wird. Er ist der einzige, derdafür herhalten muss, dass der Haushalt insgesamt kon-solidiert wird, und zwar auf Kosten der Arbeitslosen so-wie der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.Ich wundere mich allerdings, dass Sie angesichts Ih-rer angeblich ach so erfolgreichen Sozialpolitik keinWort darüber verlieren, dass die soziale Schere in diesemLand weiter auseinandergeht, dass es immer noch keinenMindestlohn gibt, dass es kein Konzept für eine armuts-feste Rente von Erwerbstätigen gibt, dass es keine Quali-fizierung Langzeiterwerbsloser gibt und dass es keineauskömmliche Existenzsicherung von Arbeitslosen gibt.
Frau Ministerin, es ist richtig: Die Konjunkturdatensind noch einigermaßen gut. Die Konjunktur trübt sichaber ein. Wenn Sie sagen, dass auch die BA gut aufge-stellt ist und einen Puffer von 2,5 Milliarden Euro hat,müssen Sie aber, bitte schön, nicht nur dazusagen, dassder Bundesagentur für Arbeit in diesem Jahr 2 Milliar-den Euro entnommen werden, sondern auch, dass derPräsident der Bundesagentur für Arbeit deutlich gemachthat, dass die BA ab nächstem Jahr ins Defizit geht, weilnämlich die Prognose der Arbeitslosenzahlen erwartenlässt, dass es schwieriger wird. Wenn die BA nächstesJahr ins Defizit läuft, kann sie ihren Puffer für Krisenzei-ten – gemäß der Planung sollte er 2016 9,5 MilliardenEuro betragen – nicht aufbauen. Wenn nun die Zeitenschwieriger werden und wir wieder Kurzarbeitergeldbrauchen, muss aus dem Bundeshaushalt zugeschossenwerden, da Sie keine Vorsorge für diese Zeiten treiben.
Frau Ministerin und liebe Kollegen von der Koalition,dass Sie behaupten, unser Beschluss, das Arbeitslosen-geld II auf 420 Euro pro Monat aufzustocken, würdeüber 7 Milliarden Euro kosten, verblüfft mich etwas. Zu-nächst einmal bin ich verblüfft, dass Sie eine falscheGrundlage der BA zur Grundlage Ihrer Ausführungenmachen.
Ich hätte von Ihnen zumindest erwartet, dass Sie so vielRedlichkeit an den Tag legen, das auch deutlich zu ma-chen. Im Übrigen scheinen Sie alle sich nicht mit demauseinandergesetzt zu haben, was wir für den Haushalt2013 beantragt haben. Da haben wir die Aufstockungauf 420 Euro beantragt, und wir haben die Aufstockungdes Grundfreibetrages beantragt. Wir haben auch deut-lich gemacht, dass wir, wenn ein Mindestlohn von8,50 Euro eingeführt wird – und dieser muss kommen –,nicht davon ausgehen, dass der Empfängerkreis ausge-weitet wird.
Damit haben wir unsere Haushaltsanträge gegenfinan-ziert.Man höre und staune: Nach unseren Planungen liegtdie Nettokreditaufnahme im Endeffekt trotzdem nochum 4,6 Milliarden Euro niedriger als die der Koalition,
weil wir nämlich auch an ökologisch schädliche Subven-tionen und andere Tatbestände herangehen. Wir sindnicht der Meinung, dass man zuallererst in der Sozial-politik kürzen muss, sondern wir sind der Meinung:Existenzsicherung tut not; wir sind der Meinung, Garan-tierente tut not; wir sind der Meinung, dass Qualifizie-rung nottut, deswegen auch ein sozialer Arbeitsmarktausfinanziert werden muss; und wir sind der Meinung,dass eine Existenzsicherung in Höhe von 420 Euro – fra-gen Sie einmal die Sozialverbände, auch die Diakonie;die liegen weit darüber – verfassungsgerecht ist. Deswe-gen streben wir das auch an.
Frau Ministerin, Sie sind wirklich gut darin, Begriff-lichkeiten zu bilden. Ich finde aber besonders interes-sant, dass Sie sich der von Ihnen als bildungspolitischeKatastrophe bezeichneten Maßnahme jetzt gar nichtmehr entgegenstemmen – es geht um das Betreuungs-geld –, sondern in Ihrem Haushalt tatsächlich auch nochVorsorge dafür treffen. Beim Betreuungsgeld handelt es
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Priska Hinz
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sich nun um eine Leistung, die zuallererst von alleiner-ziehenden Frauen oder alleinerziehenden Männern inAnspruch genommen werden muss. Diese Frauen undMänner müssen zum Jobcenter gehen und diese Leistungbeantragen. Das verursacht Verwaltungskosten in Mil-lionenhöhe, aber hilft keiner Frau und keinem Mann, ei-nen Kinderbetreuungsplatz zu finden, um erwerbstätigsein zu können.
Damit bewahrheitet sich bei Ihrer Politik wieder derSpruch: Wer arm ist, wird arm bleiben. Wir wollen dieSpirale durchbrechen. Deswegen sagen wir: Weg mitdem Betreuungsgeld, und her mit den Kinderbetreuungs-plätzen! Das wäre echte Bildungspolitik.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Reden allein hilft nicht, Frau Ministerin, man muss
auch etwas tun, wenn man solche Begriffe in die Welt
setzt.
Danke schön.
Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich will mich zuerst bei meinem KollegenKarl Schiewerling bedanken; denn er hat die Ehre derKoalition gerettet. Er hat zwei wichtige Themen ange-sprochen, die weder von der Ministerin noch von irgend-einem anderen Redner heute angesprochen worden sind.Er hat über Behindertenpolitik und Inklusion gespro-chen, und er hat über den drohenden Fachkräftemangelin dieser Gesellschaft gesprochen. Dafür ein herzlichesDankeschön.
Ich möchte mich mit den Argumenten, die genanntwurden, befassen. Gestern in der Generaldebatte hat dieKanzlerin hier gesagt: Wir sind die Koalition, die dieBildungsausgaben in dieser Republik erhöht hat.
Das stimmt, zumindest wenn ich mir nur den Haushaltdes Bildungsministeriums anschaue. Ich habe die Zahleneinmal herausgesucht. Von 2011 bis 2016 gibt es imBildungshaushalt ein Plus von 1,9 Milliarden Euro. Dasist eine gute Leistung; das ist ordentlich. Im Bund istaber die echte Bildungspolitik die Arbeitsmarktpolitik;
denn dort wird gefördert und gefordert. Dort kürzen Sieim gleichen Zeitraum um 36,5 Milliarden Euro. Ergokürzen Sie die Mittel für Bildung von 2011 bis 2016 um38,4 Milliarden Euro. Sie sind die größte Bildungsklau-regierung, die diese Republik jemals hatte.
Diese Kürzungen nehmen Sie in einer Situation vor, inder Fachkräftemangel droht. In einigen Bereichen, zumBeispiel bei Erzieherinnen und Erziehern und in derAltenpflege, besteht er sogar schon.Deshalb hat die Opposition Ihnen diese Anträge zumHaushalt vorgelegt. Unsere Anträge setzen auf vorsor-gende Arbeitsmarktpolitik, auf Arbeitsmarktpolitik, dieheute agiert und nicht erst reagiert, wenn das Kind in denBrunnen gefallen ist, auf Arbeitsmarktpolitik, dievorsieht, dass wir mehr Geld für Bildung in der Bundes-republik Deutschland ausgeben. Deshalb haben wir Siemit unserem Antrag konfrontiert, den Sie übrigens abge-lehnt haben. Wir hatten beantragt, den Eingliederungs-titel nur im Jahr 2013 – um diesen Haushalt geht es indieser Debatte – um 1,6 Milliarden Euro zu erhöhen, undzwar solide gegenfinanziert, unter anderem durch dieEinführung eines flächendeckenden gesetzlichen Min-destlohns.
Daran lassen wir uns gerne messen, wenn wir an derRegierung sind.
Mit diesem Geld können wir an den Arbeitsmarktre-formen der SPD festhalten. Denn nicht wir sind diejeni-gen, die das Prinzip des Förderns und Forderns aufgebenwollen, sondern Sie schaffen es durch Ihre Arbeits-marktpolitik ab.
Ich will auf die Punkte, die wir fordern, eingehen;denn Politik wird immer im Konkreten nachvollziehbar.
Erstens. Wir haben einen Antrag gestellt, in dem wirfordern, dass ein Programm der zweiten Chance aufge-legt wird. Es gibt in Deutschland 1,5 Millionen jungeMenschen zwischen 20 und 29, die keine Berufsausbil-dung haben. Sie stehen teilweise im Erwerbsleben. DieseMenschen müssen wir dringend zu Fachkräften qualifi-zieren. Deshalb sagen wir: In einer guten Arbeitsmarkt-situation müssen wir Geld in die Hand nehmen, umdiesen jungen Leuten eine zweite Chance auf Ausbil-dung zu geben.
Zweitens. Es gibt auch viele Menschen über 30 Jahre– sie sollen ja alle länger arbeiten –, die keine Ausbil-dung haben oder die eine Ausbildung haben, die vomArbeitsmarkt heute nicht mehr nachgefragt wird. Auch
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Katja Mast
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diese Menschen wollen wir für den beruflichen Aufstiegqualifizieren. Das wäre ebenfalls möglich, wenn manden Eingliederungstitel, wie wir fordern, um 1,6 Milliar-den Euro erhöhen würde.Drittens. Eine Gruppe wurde von Ihnen heute nochgar nicht erwähnt – es handelt sich um eine am Arbeits-markt benachteiligte Gruppe –: Menschen mit Migra-tionshintergrund. Für Menschen mit Migrationshinter-grund braucht man manchmal besondere Antworten beider Arbeitsvermittlung und der Qualifizierung; dabeigeht es unter anderem um den Spracherwerb. Auf dieseGruppe reagieren Sie in Ihrer Arbeitsmarktpolitik garnicht. Wir sagen: Wir brauchen die Initiative MigraPlus.Wir wollen nicht die Isolation von Menschen mit Migra-tionshintergrund, sondern ihre Integration in dieseGesellschaft.
Viertens. Perspektivisch wollen wir die Arbeitslosen-versicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterent-wickeln. Wir wollen vorsorgende Arbeitsmarktpolitik.Vorsorge heißt, dass wir nicht erst dann reagieren, wennjemand arbeitslos geworden ist, sondern dass wir agie-ren, und zwar schon dann, wenn jemand noch in derErwerbstätigkeit ist.
In unserem Antrag fordern wir, dafür die notwendigenHaushaltsmittel zur Verfügung zu stellen.
Noch einmal: Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitikbedeutet für Sie „keine Chance“, für uns Sozialdemo-kratinnen und Sozialdemokraten „zweite Chance“. BeiIhnen heißt es Stillstand, bei uns Aufstieg. Sie wollenIsolation, wir Integration. Von Ihnen hört man warmeWorte, wir handeln. Sie wollen reagieren, wir agierenund schauen mit Zuversicht in die Zukunft. Wir brau-chen nämlich qualifizierte Fachkräfte in der Bundes-republik Deutschland.
Das Wort hat nun Max Straubinger für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! DieFrau Kollegin Hagedorn hat ihre Rede ja mit den Wortenbegonnen: Man muss die Wahrheit sagen.
Diesen Weg hat sie allerdings ziemlich schnell verlassen.Daher ist es wichtig, zum Schluss noch einmal kurz überdie Wahrheit zu reden.Die sozialen Grundlagen, die wir in Deutschlandhaben, sind dank der Arbeit der Ministerin und derBundesregierung hervorragend. Wir können auf einigeErfolge verweisen: Wir haben die seit über 21 Jahrenniedrigste Arbeitslosenquote und die niedrigste Jugend-arbeitslosenquote in Europa zu verzeichnen. Bei sämtli-chen Arbeitslosenzahlen ist ein starker Rückgang zu be-obachten, besonders bei den Langzeitarbeitslosen. FrauKollegin Zimmermann, Sie haben eben versucht, durcheinen Zahlendreher darzulegen, dass die Langzeitar-beitslosigkeit gestiegen sei. Sie ist aber nicht gestiegen.
Vielmehr ist die Vermittlung von Kurzzeitarbeitslosenwesentlich schneller vorangegangen als die Vermittlungvon Langzeitarbeitslosen. Deshalb ist möglicherweisenoch ein etwas höherer Anteil von Langzeitarbeitslosenzu verzeichnen. Aber auch die Langzeitarbeitslosigkeitist effektiv zurückgegangen. Das ist ein Erfolg der Poli-tik, die wir betrieben haben.
Es befinden sich wesentlich mehr Ältere im Erwerbs-leben. Wir haben die höchste Erwerbstätigenquote zuverzeichnen, die es in dieser Republik jemals gab. Dies,werte Kolleginnen und Kollegen, zeigt sich auch daran,dass die Zahl der Menschen in Deutschland, die auf so-ziale Hilfe angewiesen sind, mittlerweile den niedrigstenStand erreicht hat.
Das lässt sich an Zahlen belegen. 2006 waren10,1 Prozent der Menschen in Deutschland auf sozialeHilfe angewiesen. Im Jahre 2011 waren es – das sind diejüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes – nurnoch 8,9 Prozent. Bei den Hartz-IV-Empfängern war indiesem Zeitraum ein Rückgang um 16 Prozent zu ver-zeichnen. Trotzdem, werte Kolleginnen und Kollegen,wurde nicht daran gespart, Geld für Soziales auszuge-ben. Im Gegenteil: Die Sozialausgaben sind vom letztenJahr bis heuer um 4,5 Prozent gestiegen; sie betragenüber 27 Milliarden Euro.
Dies zeigt sehr deutlich: Diese Bundesregierung und diesie tragenden Fraktionen kommen ihrer sozialen Verant-wortung nach und unterstützen die Menschen in unseremLand.Die Arbeitsmarktpolitik baut auf dem Prinzip „For-dern und Fördern“ auf. Die Frau Bundesministerin istauf die Arbeitsmarktreformen, die Bündnis 90/Die Grü-nen vornehmen wollen, eingegangen, insbesondere unterfinanziellen Gesichtspunkten und unter dem Gesichts-
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Max Straubinger
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punkt, dass wesentlich mehr Menschen der Sozialhilfeanheimfielen.Damit verbunden fordern die Grünen, dass die Sank-tionsmöglichkeiten eingeschränkt werden
bzw. abgeschafft werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dasist letztendlich die Unterstützung von Faulenzertum undDrückebergerei.
Das wollen wir nicht in unserem Land. Es gab jüngstKritik daran, dass über 1 Million Sanktionierungen statt-gefunden haben, über 60 Prozent davon nur deshalb,weil Termine nicht eingehalten worden sind. Ich sageIhnen: Die arbeitenden Menschen haben ein Anrechtdarauf, dass, wenn jemandem Arbeit zugewiesen werdenkann, wenn Arbeit vermittelt werden kann, diese Arbeitauch angenommen wird – ob der Zumutbarkeit vonArbeit.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Gerne.
Lieber Kollege Straubinger, Sie wissen, dass ich Sie
persönlich sehr schätze.
Ich Sie auch.
Danke.
– Nein; aber das darf parteiübergreifend einmal möglich
sein.
Ich habe eine ganz herzliche Bitte an Sie. Ich möchte
nicht, dass Gift in der Debatte bleibt. Mein Job ist nicht,
die Grünen zu verteidigen. Aber ich habe zur Kenntnis
genommen, dass die Grünen nicht die Abschaffung von
Sanktionen fordern, sondern lediglich über den Umfang
andere Vorstellungen haben. Das ist schon ein kleiner
Unterschied.
Herr Straubinger, bitte nehmen Sie eines mit: Nie-
mand bei Bündnis 90/Die Grünen oder bei der SPD will
das Prinzip „Fordern und Fördern“ infrage stellen. Wir
finden es richtig, dass man Anstrengungen an dieser
Stelle verlangt. Meine Bitte ist allerdings, in der Argu-
mentationsführung im aufziehenden Wahlkampf nicht
auf dem Rücken von Langzeitarbeitslosen eine Stim-
mung zu befördern, in der arbeitende Menschen und
Langzeitarbeitslose gegeneinander ausgespielt werden.
Das finde ich nicht in Ordnung. Die Mehrheit der Men-
schen – auch der arbeitslosen – will Arbeit.
Herr Straubinger, das ist nur eine Bitte; denn ich traue
Ihnen nicht zu, ein solches Gift zu versprühen, wie wir
es bei Herrn Westerwelles „spätrömischer Dekadenz“
schon einmal erlebt haben.
Ich weiß, dass wir von verschiedenen Standpunkten aus-
gehen. Meine Bitte ist einfach, von dieser Form des
Argumentierens abzusehen. Sie vergiftet nur die De-
batte. Das ist kein Meinungsstreit um eine vernünftige
Lösung. „Faulenzer befördern“ will hier keiner, glaube
ich. Wir reden über die Ausgestaltung des Prinzips „För-
dern und Fordern“.
Herr Kollege Heil, ich muss Sie fragen: Sind Sie derMeinung, dass die jetzigen Sanktionsmöglichkeitenfalsch sind?
Ich bin überzeugt, dass die Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter der Arbeitsagenturen mit den Instrumentariensehr verantwortungsvoll umgehen. Das alles kann jagerichtlich überprüft werden.
Ich bin überzeugt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter der Bundesagentur für Arbeit eine hervorragendeArbeit leisten. Deshalb gibt es keine Kritik an den Sank-tionsmöglichkeiten, die gegeben sind.
– Die Sanktionsmöglichkeiten wurden unter Rot-Grüneingeführt, sagt der Kollege Kolb zu Recht. Das kannalso nicht so schlecht gewesen sein.Dass die Grünen die Sanktionsmöglichkeiten ein-schränken wollen, zeigt sehr deutlich, dass sie dasFordern nicht mehr wollen, dass sie sozusagen nur nochdas Fördern wollen. Das ist meines Erachtens ein fal-scher Weg.
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Max Straubinger
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– Das ist ein falscher Weg, Frau Müller-Gemmeke.Ein Letztes noch: Wir diskutieren aktuell über dieRente und über mögliche Altersarmut. Bezeichnender-weise wird die SPD dieses Wochenende ein Programmbeschließen, das dem Motto folgt: Wünsch dir was,Weihnachten steht bevor. – Damit hat sich die SPD beider Rentenpolitik schon einmal fürchterlich verrannt: alssie – noch unter einem anderen Vorsitzenden – 1998 imBundestagswahlkampf gegen den demografischen Fak-tor polemisierte.Darüber hinaus musste sie später feststellen, dass zurBewältigung der Folgen des demografischen Wandelshier entsprechende Grundlagen geschaffen werden müs-sen.Ich bin schon erstaunt über die gesamten Beschlüsse,die hier vorbereitet werden. Die Frau Bundesministerinhat ja bereits aufgezeigt, welche Kosten das verursachenwird.Ich bin auch ganz gespannt darauf, wie der zukünftigeKanzlerkandidat der SPD – wir wissen das ja noch nichtabschließend; bis dahin ist ja noch eine Wegstrecke zubewältigen – diese Beschlüsse mit sich vereinen kann.Ich erinnere nur daran, was er in seinem Buch UntermStrich niedergeschrieben hat – Herr Präsident, mit IhrerZustimmung darf ich daraus zitieren –:Die ungebrochene Tendenz, Lasten in der Sozial-versicherung in die Zukunft zu verschieben unddort anzuhäufen, um heute notwendigen Korrektu-ren zu entfliehen, die natürlich auf konfliktträchtigeZumutungen hinauslaufen, wird die Tragfähigkeitder öffentlichen Finanzen immer weiter anspannen.… Zusammen mit der ausgewiesenen Staatsschuldergibt dies eine Nachhaltigkeitslücke von etwa7,8 Billionen Euro, die voll auf die Knochen nach-folgender Generationen schlägt.Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, das hatIhr zukünftiger Kanzlerkandidat niedergelegt. Es zeigtsehr deutlich: Das, was Sie im Rentenkonzept beschlie-ßen werden, wird letztendlich die kommende Generationzu bezahlen haben, und das ist verantwortungslos.In diesem Sinne wollen wir hier eine sachgerechteRentenpolitik diskutieren und dann auch verabschie-den – im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und vor al-len Dingen auch im Sinne einer guten Altersversorgungfür die Menschen in unserem Land.Es wäre gut, Sie würden diesem Haushalt Ihre Zu-stimmung geben, weil Sie damit etwas Gutes fürDeutschland tun würden.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-plan 11 – Bundesministerium für Arbeit und Soziales –in der Ausschussfassung.Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor. Wir begin-nen mit der Abstimmung über zwei Änderungsanträgeder Fraktion der SPD:Änderungsantrag auf Drucksache 17/11544. Werstimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ände-rungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthal-tung der Grünen abgelehnt.Änderungsantrag auf Drucksache 17/11545. Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Änderungsantrag ist mit dem gleichen Mehrheits-verhältnis wie zuvor abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ände-rungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/11546. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist gegen dieStimmen der Linken mit den Stimmen aller anderenFraktionen abgelehnt.Wir kommen schließlich zu dem Änderungsantragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache17/11547. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim-men der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD gegendie Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzel-plan 11 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Einzel-plan 11 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-nen angenommen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte VI a bis d so-wie Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf:VI a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Förderung gleich-berechtigter Teilhabe von Frauen und Män-nern in Führungsgremien
– Drucksache 17/11270 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNeue Impulse für einen wirksamen und um-fassenden Schutz der Afrikanischen Elefanten– Drucksache 17/11554 –
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten AndreasJung , Marie-Luise Dött, MichaelBrand, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der Abgeordneten MichaelKauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPDie UN-Klimakonferenz in Doha – GlobalenKlimaschutz wirksam vorantreiben– Drucksache 17/11514 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschussd) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungStellungnahme der Bundesregierung zu denFortschrittsberichten „Aufbau Ost“ der Län-der Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vor-pommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thü-ringen für das Berichtsjahr 2010– Drucksache 17/8342 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Federführung strittigZP 1a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Volker Beck , IngridHönlinger, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtungeines Registers über unzuverlässige Unterneh-men
– Drucksache 17/11415 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Innenausschuss Federführung strittigb) Beratung des Antrags der Abgeordneten OmidNouripour, Volker Beck , Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDen am 12. September und am 4. Oktober2001 ausgerufenen NATO-Bündnisfall been-den– Drucksache 17/11555 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Wir kommen zunächst zu zwei Überweisungen, beidenen die Federführung strittig ist.Tagesordnungspunkt VI d. Interfraktionell wird Über-weisung der Stellungnahme der Bundesregierung zu denFortschrittsberichten „Aufbau Ost“ auf Drucksache17/8342 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedochstrittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wün-schen Federführung beim Haushaltsausschuss. Die Frak-tionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen wün-schen Federführung beim Innenausschuss.1)Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen ab-stimmen, also Federführung beim Innenausschuss. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-vorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-fraktionen und der Linken gegen die Stimmen von SPDund Grünen abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und FDP – Federführungbeim Haushaltsausschuss – abstimmen. Wer stimmt fürdiesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag istmit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor ange-nommen.Zusatzpunkt 1 a. Es wird vorgeschlagen, den Entwurfeines Korruptionsregistergesetzes der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11415 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-sen. Auch hier ist die Federführung strittig. Die Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführungbeim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, Bünd-nis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Rechts-ausschuss.Ich lasse zuerst über den Vorschlag der FraktionBündnis 90/Die Grünen – Federführung beim Rechts-ausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmender beiden Koalitionsfraktionen und der SPD gegen dieStimmen von Linken und Grünen abgelehnt.Wir kommen nun zum Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und FDP, also Federführung1) Anlage 3
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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beim Wirtschaftsausschuss. Wer stimmt für diesen Über-weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit dem glei-chen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen.Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen.Tagesordnungspunkte VI a bis c sowie Zusatzpunkt 1 b.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-weisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunk-ten VII a bis f sowie Zusatzpunkt 2. Es handelt sich umdie Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt VII a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Internationalen Übereinkommen von2004 zur Kontrolle und Behandlung von Bal-
– Drucksache 17/11052 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/11433 –Berichterstattung:Abgeordneter Uwe BeckmeyerDer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/11433, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/11052 anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-stimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist ebenso einstimmig angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt VII b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 494 zu Petitionen– Drucksache 17/11358 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 494 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt VII c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 495 zu Petitionen– Drucksache 17/11359 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 495 ist mit den Stimmendes Hauses bei Ablehnung der Linken angenommen.Tagesordnungspunkt VII d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 496 zu Petitionen– Drucksache 17/11360 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 496 ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen vonLinken und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt VII e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 497 zu Petitionen– Drucksache 17/11361 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 497 ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmenvon SPD und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt VII f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 498 zu Petitionen– Drucksache 17/11362 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 498 ist mit den Stimmender beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derdrei Oppositionsfraktionen angenommen.Zusatzpunkt 2:Beratung des Antrags der Abgeordneten GabrieleGroneberg, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDWertschöpfung im ländlichen Raum absi-chern – Erzeugung und Einsatz reiner Pflan-zenöle in der Land- und Forstwirtschaft aus-bauen– Drucksache 17/11552 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmender beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derdrei Oppositionsfraktionen abgelehnt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen dieHaushaltsberatungen fort.
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ich rufe Tagesordnungspunkt I.16 auf:Einzelplan 17Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend– Drucksachen 17/10816, 17/10823 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas MattfeldtRolf SchwanitzDr. Florian ToncarSteffen BockhahnSven-Christian KindlerHierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktionder SPD sowie zwei Änderungsanträge der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor. Über einen Änderungsan-trag der Fraktion der SPD werden wir später namentlichabstimmen. Des Weiteren haben die Fraktionen DieLinke und Bündnis 90/Die Grünen je einen Entschlie-ßungsantrag eingebracht, über die wir am Freitag nachder Schlussabstimmung abstimmen werden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Caren Marksfür die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob eineBundesregierung einen gesellschaftspolitischen Kom-pass hat oder nicht, offenbart kaum ein anderer Etat sodeutlich wie der des Bundesfamilienministeriums. Hierzeigt sich wirklich, welche Vorstellungen die Regierungvon Familien-, von Kinder- und Jugend-, von Gleichstel-lungs- und Seniorenpolitik hat. Wenn man so will, ist derEtat Ihres Hauses, Frau Schröder, der Lackmustest dafür,ob eine Bundesregierung Antworten auf drängende ge-sellschaftliche Fragen unserer Zeit hat.Wie können Eltern Beruf und Familie unter einen Hutbringen? Wie können Frauen und Männer gleichberech-tigt leben und ihre Potenziale wirklich entfalten? Wiekann ein junger Mensch es schaffen, in der GesellschaftFuß zu fassen und sich auch zu engagieren? Wie könnenältere Menschen möglichst lange selbstbestimmt leben?Das alles sind wichtige gesellschaftliche Fragen, auf dieauch der Bundeshaushalt Antwort geben muss – wenndiese Bundesregierung all diese gesellschaftspolitischenHerausforderungen und Fragen denn ernst nehmenwürde.Das Betreuungsgeld, das Sie, meine Damen und Her-ren von Schwarz-Gelb, in der letzten Sitzungswoche be-schlossen haben, ist jedenfalls keine vernünftige Antwortauf die drängende Vereinbarkeitsfrage, die ZigtausendeFamilien und insbesondere Alleinerziehende tagtäglichbeschäftigt.
Ganz im Gegenteil: Das kleine Handgeld für Fami-lien, das statt der Inanspruchnahme einer öffentlich ge-förderten Kita gezahlt werden soll, ist ein familien- undgleichstellungspolitischer Rückschritt. Es konterkariertden seitens des Staates vorangetriebenen Ausbau derfrühkindlichen Bildung. Das sieht eine große Mehrheitin unserem Land so. Das Betreuungsgeld verschlingtmittelfristig Milliarden im Bundeshaushalt. Das ist ein-fach absurd. Deshalb wollen und werden wir es zügigwieder abschaffen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, auch beim ThemaJugendpolitik vermissen wir von der SPD ernsthafteAntworten. Von der großspurig angekündigten eigen-ständigen Jugendpolitik, Frau Ministerin, ist im Haushaltnichts, aber auch wirklich gar nichts spürbar. Der Kin-der- und Jugendplan fristet – so kann man das wirklichsagen – ein Schattendasein. Die Jugendverbände brau-chen definitiv mehr Geld, als eingeplant ist. Beispiels-weise fehlen Mittel, um die Tariferhöhung für ihre Be-schäftigten nachzuvollziehen. Dieses Problem hat unsereFraktion schon mehrfach angesprochen. Sie haben das inden Haushaltsberatungen wieder einmal einfach igno-riert und zur Seite geschoben.Nicht nur ich befürchte, dass sich ab 2013 die Lagefür den Kinder- und Jugendplan dramatisch zuspitzenwird.Die derzeit noch vorhandenen Mittel aus dem Euro-päischen Sozialfonds brechen in den kommenden Jahrenweg. Das ist jetzt schon ganz deutlich abzusehen. WennSie als Bundesregierung nicht schnell gegensteuern,dann ist die wichtige Infrastruktur für junge Menschen inunserem Land gefährdet. Das ist definitiv nicht hin-nehmbar.
Ich komme zur Gleichstellungspolitik.
– Völlig richtig. Wenn ich mich bei der Gleichstellungs-politik auf den Tatendrang der Ministerin beziehe, binich eigentlich fertig. – In der Gleichstellungspolitik be-wegt diese Ministerin rein gar nichts.
Auch hier fallen ESF-Mittel weg, mit fatalen Auswir-kungen. Ob es um drängende Probleme der Entgeltun-gleichheit zwischen Frauen und Männern oder um dieEinführung einer Quote geht, damit Frauen endlich ver-mehrt in Führungspositionen ankommen, still ruht derSee oder auch die Ministerin.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25419
Caren Marks
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Es gibt zwar Veranstaltungen des Ministeriums unterdem Titel „Frauen verdienen mehr“, in denen faire Ein-kommensperspektiven für Frauen gefordert werden.Doch es lebe die Doppelzüngigkeit, ganz besonders beiIhnen, Frau Ministerin,
zur gleichen Zeit stimmen Sie nämlich am Kabinettstischder Ausweitung der Minijobs zu: prekäre Beschäftigungund Minijobs – eine Frauendomäne und gleichzeitig eineSackgasse für die Frauen – und eine Ministerin der blu-migen Worte und gleichzeitig der Tatenlosigkeit.
Aber in der Debatte um die Notwendigkeit zur Ein-führung einer Quote entrüsten Sie sich dann ganz plötz-lich über die Aktivitäten aus der EU und wollen sich ge-gen unnötige Vorgaben aus Brüssel wehren. Hört! Hört!Welch plötzlicher Tatendrang, Frau Ministerin, wenn esdarum geht, wichtige Dinge zu verhindern. Das ist alsoleider wieder einmal ein Tatendrang an der falschenStelle.
Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, fallsSie heute vorhaben, sich auf die eigenen Schultern zuklopfen, weil für den Kitaausbau zusätzliche Bundesmit-tel in Höhe von über einer halben Milliarde Euro bereit-gestellt werden, sage ich Ihnen schon jetzt: DiesesFinanzpaket geht mitnichten auf das Konto der Bundes-familienministerin, sondern vor allem auf das der SPD-geführten Länder.
– Ja, die Wahrheit tut weh. – Wir haben in den vergange-nen Jahren in Anträgen und auch in Haushaltsberatungenimmer wieder zusätzliche Hilfen für den Krippenausbaugefordert, mit den Grünen und den Linken oftmals anunserer Seite. Aber die Familienministerin hat sich stetsweggeduckt. Erst im Juni dieses Jahres, in den Verhand-lungen zwischen Bund und Ländern zur Umsetzung desFiskalvertrages, konnten Kurt Beck und Olaf Scholz er-reichen, dass der Bund endlich mehr Investitionen in denKrippenausbau bereitstellt. Das ist die Wahrheit, FrauMinisterin.
Im nächsten Schritt wollen wir mehr in die Qualitätder frühkindlichen Bildung und in den Ausbau von Kitaszu Familienzentren investieren. Daher hat die SPD-Frak-tion einen Antrag auf Erhöhung von über 300 MillionenEuro vorgelegt. Unsere Forderung ist im Übrigen saubergegenfinanziert. Wir schlagen den Abbau von Subven-tionen wie zum Beispiel Steuergeschenken für Hoteliersvor.Mit unserem Finanzierungskonzept wollen wir jähr-lich 2 Milliarden Euro mehr in Bildung und Ausbildunginvestieren. Wir machen auch Vorschläge, wie dieFinanzsituation der Kommunen verbessert werden kann.Zur Sicherung der kommunalen Infrastruktur für Fami-lien, Kinder und ältere Menschen ist es wichtig, dieKommunen zu unterstützen. Hier haben Sie, Schwarz-Gelb, mit einer verantwortungslosen Steuersenkungs-und Klientelpolitik großen Schaden in den Kommunenangerichtet.Unser Fundament ist ein solides Fundament für einezukunftsfähige Familien-, Gleichstellungs-, Kinder-, Ju-gend- und Seniorenpolitik. Die Haushaltspolitik der Re-gierungskoalition hingegen ist nicht nur unsolide; sie istauch nicht zukunftsfähig und schon gar nicht sozial ge-recht.Es ist definitiv Zeit für eine Ablösung von Schwarz-Gelb, zumindest in der Politik. Zukünftige Erfolge fürdiese Farbkombination sehe ich definitiv nur im Fußball.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Andreas Mattfeldt für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Wir blicken in diesem Jahr auf sehrkonstruktive Beratungen des Bundeshaushaltes 2013 zu-rück. Ich möchte mich vor allem bei Ministerin Schröderund allen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für diekonstruktive Zusammenarbeit bedanken.
Wir Koalitionäre haben immer das Ziel der Schulden-bremse in den Beratungen im Blick gehabt; dies kann ichleider von der Opposition nicht behaupten. Ich habe oftden Eindruck, dass dieser Seite des Hauses der Umgangmit hart erarbeiteten Steuergeldern mehr am Herzen liegtals Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition.
Ihre Anträge nur in der Bereinigungssitzung auf im-mense Mehrausgaben in Höhe von fast 9 MilliardenEuro allein im Familienetat sprechen eine deutlicheSprache.
Deshalb ist es gut, dass es unserer christlich-liberalen Ko-alition in den Haushaltsberatungen gelungen ist, die Net-tokreditaufnahme im Gesamthaushalt um 1,7 MilliardenEuro zu senken. Damit werden wir drei Jahre früher alsgeplant die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse
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Andreas Mattfeldt
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einhalten. Das ist gerade für die junge Generation in un-serem Land von besonderer Bedeutung und deshalb Fa-milien- und Jugendpolitik pur.
Wir setzen damit die erfolgreiche Politik der wachs-tumsfreundlichen Konsolidierung fort, und wir schaffendie Grundlage dafür, dass Deutschland Wachstumsloko-motive und Stabilitätsanker in Europa bleibt. Deutsch-land zeigt, dass die richtige Mischung aus Haushaltskon-solidierung und Wachstumspolitik, gepaart mit einerausgewogenen Entlastung der Bürger, der erfolgreicheWeg für die Zukunft kommender Generationen ist. Ge-rade das ist für das Familienressort von besonderer Be-deutung.
Wir haben den Familienetat an einigen Stellen ange-hoben, an anderen Stellen ein wenig gesenkt, sodass wirjetzt bei einem Volumen von 7,127 Milliarden Euro sind.Das sind immerhin 567 Millionen Euro mehr als nochim Entwurf für den Haushalt 2010. Beispielhaft möchteich den größten Ausgabeposten des Familienetats anfüh-ren: Das ist das Elterngeld. Hierfür sah der Ansatz 2010noch 4,48 Milliarden Euro vor. Für 2013 haben wir4,9 Milliarden Euro bereitgestellt. Mit diesem höherenAnsatz tragen wir nicht nur dem Umstand Rechnung,dass erfreulicherweise die Löhne derzeit steigen und dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Aufschwungpartizipieren, sondern auch dem Umstand, dass das Kon-strukt der Vätermonate stetig Erfolg zeigt.Ich bin dankbar, dass sich immer mehr Männer dafürentscheiden, einen oder mehrere Monate Auszeit zu neh-men, um ihre Kinder in den ersten Lebensmonaten inten-siv zu begleiten. Deshalb sage ich hier auch ganz offen:Die Verkürzung der Elternzeit – darüber wird zurzeit dis-kutiert – steht für mich nicht zur Disposition. Es ist nichthinnehmbar, dass Frauen ausschließlich als arbeits-marktpolitische Manövriermasse betrachtet werden. Dasgeht zu weit, und das erschreckt mich zutiefst.Wir haben die Gelder für einige sinnvolle Projekte er-höht. Beispielhaft möchte ich hier die Zuwendung fürdas Deutsch-Französische Jugendwerk nennen.
Wir haben den Titel um 1 Million Euro angehoben, umzum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages ein Zeichen zusetzen. Seit 50 Jahren wurden die Mittel nicht erhöht.Ich bin sicher, dass unsere Entscheidung dazu beitragenwird, dass auch unsere französischen Freunde in sehrschwierigen Zeiten ihren Beitrag zum Deutsch-Französi-schen Jugendwerk in gleicher Höhe aufstocken werden.Somit kann das Jugendwerk im Jubiläumsjahr mit über2 Millionen Euro mehr an Mitteln rechnen.Wir haben aber auch die Gelder für einige Einrichtun-gen in den vergangenen Jahren reduziert. Bemerkens-wert dabei war, wie einige Einrichtungen versucht ha-ben, uns über Medien unter Druck zu setzen. Nochbemerkenswerter war, dass andere noch nicht einmal be-merkt haben, dass sie weniger Geld erhalten. Als Be-richterstatter für den Familienetat habe ich mir in denvergangenen Jahren zahlreiche Einrichtungen und Insti-tute, die Geld aus unserem Einzelplan bekommen, ange-sehen. Ich darf sagen: Ich bin auf engagierte Menschengestoßen, die wertvolle und gute Arbeit leisten, ich habeaber gleichzeitig durch Besuche vor Ort auch erschre-ckende Erkenntnisse gewonnen.
Das ging von der Beschreibung der eigenen Arbeit als„Wir machen Netzwerke für Netzwerker“ bis hin zumBekenntnis, gerne weiterhin mit Organisationen zusam-menarbeiten zu wollen, die ganz offen diesen Staat be-kämpfen.
Um Letzteres zu unterbinden,
hat Kristina Schröder gemeinsam mit dem Innenministervöllig zu Recht die Demokratieerklärung eingeführt, dieEinrichtungen zu unterzeichnen haben, die Gelder ausihrem Haushalt erhalten.Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen von derOpposition, Herr Kindler, diese Demokratieerklärung istfür Sie eine Zumutung. Aber, mit Verlaub, es muss dochdem Geldgeber erlaubt sein, ein Bekenntnis zum Grund-gesetz unseres Landes zu verlangen. Diejenigen, dieeben nicht auf dem Boden unserer Verfassung stehen,können doch nicht ernsthaft meinen, dass sie hierfürauch noch Unterstützung vom Staat bekommen. Dasgeht für mich eindeutig zu weit.
In keiner Weise hinnehmbar ist für mich die stets wie-derkehrende Unterstellung der Opposition, die Ministe-rin setze sich nicht genügend gegen den Extremismusein. Ich habe häufig den Eindruck, Sie leiden unter kol-lektivem Gedächtnisverlust. Es war nämlich MinisterinSchröder, die erst kürzlich den Extremismustitel um5 Millionen Euro angehoben hat. Wir hatten allein imvergangenen Jahr dadurch, dass wir die Verwaltung vonExtremismustiteln selbst übernommen und nicht teurenFremdfirmen überlassen haben, zusätzliche Mittel inHöhe von 2 Millionen Euro für Maßnahmen zur Extre-mismusbekämpfung zur Verfügung.Zu Ihren Vorwürfen, wir verhinderten eine kontinu-ierliche Arbeit der Institutionen, die sich gegen Extre-mismus einsetzen, weil wir keine ausreichenden Ver-pflichtungsermächtigungen ausgebracht hätten, kann ichnur sagen, dass Sie doch ganz genau wissen, dass erheb-liche Ausgabereste von fast 4 Millionen Euro in diesemJahr und aufgelaufene Reste im kommenden Jahr zurVerfügung stehen. Hiermit und mit der vorläufigenHaushaltsführung stehen genügend finanzielle Mittel zur
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Andreas Mattfeldt
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Verfügung, die auch in 2014 genutzt werden können.Dadurch ist eine kontinuierliche Finanzierung gesichert.Ich betone, dass niemand in dieser Koalition auch nurein Wort darüber verloren hat, diesen Ansatz zu kürzen.Meine Damen und Herren von der Opposition, ich habefast den Verdacht, das mag bei Ihnen anders sein.Wenn wir der Logik Ihres Antrags folgten, dannmüssten wir in unzähligen Haushaltsstellen Verpflich-tungsermächtigungen einbringen, überall dort, wo genaudas Gleiche gilt. Dies macht man unter Demokraten be-wusst nicht.
Eine Ausbringung von Verpflichtungsermächtigungen inder von Ihnen geforderten Höhe im letzten Haushalt voreiner Bundestagswahl bindet nachfolgende Regierungenin einer nie dagewesenen Weise. Wenn wir im Gesamt-haushalt boshaft wären, könnten wir überall, wo unsDinge wichtig sind, VEs einbringen, um damit für nach-folgende Regierungen unsere Prioritäten schon heute zuzementieren.
Meine Damen und Herren, ich finde es bedauerlich,dass Sie in jedem Jahr ein derart emotionales Thema wiedie Bekämpfung des Rechtsextremismus zur ideologi-schen Agitation benutzen.
Das ist für uns – ich sage das auch vor meinem ganz per-sönlichen familiären Hintergrund – inakzeptabel. DiesesProblem ist viel zu ernst, als dass man Extremismus der-art missbrauchen dürfte. Deshalb kann ich nur an Sie ap-pellieren: Orientieren Sie sich bitte an Fakten und nichtan populistischen Aussagen.
Wir als Demokraten sollten hier Seite an Seite stehen.
Bei den Haushaltsberatungen hat sich mir aber einganz anderer Verdacht aufgedrängt. Es ist schon interes-sant, dass allein zum Etat des Familienministeriums ins-gesamt sieben gemeinsame Anträge von SPD, Grünenund Linksfraktion eingebracht wurden. Auch wenn vorallem Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von derSPD, eigentlich nicht müde werden, immer wieder zubetonen, Sie möchten mit der Linksfraktion nicht regie-ren, verhärtet sich durch derartige Fakten doch einfachder Verdacht, dass Sie bereits von einer gemeinsamenKoalition träumen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen,träumen ist erlaubt. Ich sage Ihnen aber: Es ist immerhart, in der Realität aufzuwachen.
Ich bin fest davon überzeugt, die Bürger dieses Lan-des wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen einerKoalition der Konsolidierung, des Wachstums und dersinkenden Arbeitslosenzahlen, auch zugunsten einer gu-ten Familienpolitik und Ihnen, meine Damen und Herrenvon der Opposition, die Sie für eine massive Verschul-dung und ausufernde Ausgaben stehen. Lassen wir ruhigim kommenden Jahr die Wähler entscheiden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Steffen Bockhahn für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Wenn man kurz vor der eigenen Redeeine Rede hört, von der einem so schlecht wird, dann istdas Wettbewerbsverzerrung.
Herr Kollege Mattfeldt, Sie haben sehr wohl recht da-mit, dass wir als Demokratinnen und Demokraten imKampf gegen den Rechtsextremismus an einem Strangziehen sollen und gemeinsame Sache machen sollten.Das Problem ist nur, dass diejenigen, die immer wiederden Keil in die Front der Demokraten treiben, Sie sind,indem Sie sich gemeinsamen Aktionen verweigern.
Das kann ich Ihnen an Beispielen belegen. Sie mei-nen, dass noch nie so viel gegen Extremismus getanworden sei wie jetzt unter dieser Koalition. Ich sage Ih-nen: Es ist richtig, dass noch nie so viel Geld in den Etateingestellt worden ist. Ich muss Ihnen allerdings auchsagen, dass noch nie so oft versucht wurde, das Geldwieder einzusparen bzw. in Richtungen zu drängen, woman es gar nicht mehr loswerden kann. Anders gesagt:Vor einem Jahr gab es noch Bestrebungen Ihrer Fraktion,diesen Teil des Haushaltes zu kürzen. Es gab dann dasAuffliegen des NSU. Das wiederum hat dazu geführt,dass die Kürzungen nicht durchgeführt worden sind. Dassind die Fakten. Das muss Ihnen nicht passen, aber dassind die Fakten.
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Steffen Bockhahn
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Insofern tun Sie nicht so, als ob Sie die Vorkämpferin-nen und Vorkämpfer im Kampf gegen den Rechtsextre-mismus wären. Das sind Sie nicht. Das erkennt manallein daran, dass während Ihrer Regierungszeit die Titelfür die verschiedenen vermeintlichen Phänomene desExtremismus in einen Haushaltstitel zusammengefasstwurden und nicht mehr getrennt werden und Sie meinen,dass das alles die gleiche Soße sei. Das ist eine unzuläs-sige Verharmlosung des Rechtsextremismus.
Wenn Sie auf Fakten bestehen, dann sage ich Ihnen:Seit 1990 sind 180 Menschen durch Nazis ermordet wor-den. Das sind die Fakten. Das müssen Sie bitte zurKenntnis nehmen. Das macht deutlich, wie notwendigdie Arbeit gegen Rechtsextremismus ist. Bei Ihnen ist daleider viel zu wenig.
Das gleiche Engagement, mit dem Sie erklärt haben,dass es in diesem Bereich keine Verpflichtungsermächti-gung geben darf, wünsche ich mir auch in Bezug auf an-dere Punkte, beispielsweise bei der Frage, wie es mit denBildungszentren, den ehemaligen Zivildienstschulen,weitergehen soll. Kurz zur Genese: Am 15. Dezember2010, also vor fast zwei Jahren, hat das Kabinettbeschlossen, den Wehrdienst und damit auch den Zivil-dienst auszusetzen. Das ist am 28. April 2011 zumGesetz geworden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt warklar, dass man sich Gedanken über die Zukunft der Bil-dungszentren machen muss. Am 29. September 2011 hatder Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages demMinisterium den Auftrag erteilt, ein Konzept für die Zu-kunft der Bildungszentren vorzulegen. Die haben sichbeeilt und schon am 22. Juni dieses Jahres ein Papiervorgelegt, das den Namen Konzept leider nicht verdient.Das hat auch der Bundesrechnungshof so gesehen.Freundlich formuliert habe ich mir aufgeschrieben: Erhat dieses Konzept nicht gelobt. Mehr Zurückhaltunggeht nicht. Dann haben auch Sie festgestellt, dass das,was vorgelegt wurde, nicht haltbar ist. Dann sind Sieganz schlau geworden und haben zur Bereinigungssit-zung am 8. November den Antrag eingebracht, dass einJahr lang, bis zum 30. November 2013, extern evaluiertwerden soll. Was lernen wir daraus?Erstens. Sie brauchen drei Jahre, um sich auf einevergleichsweise kleine Aufgabe einzustellen. Das ist einsolches Armutszeugnis für die Handlungsfähigkeitdieser Regierung. Das kann man gar nicht besserbeschreiben.
Zweitens. Sie vertrauen offensichtlich den eigenen In-stitutionen nicht so weit, dass sie das selbst evaluierenkönnen; denn sie müssen auch dort externe Evaluationenin Anspruch nehmen. Das ist ziemlich traurig. DasSchlimmste dabei ist, dass das alles auf dem Rückenderer passiert, die in den Bildungszentren arbeiten undfür die völlig unklar ist, ob sie sich um einen neuen Jobkümmern müssen oder ob sie mit einer gesichertenberuflichen Perspektive rechnen können. Das ist nichtanständig. Das ist leider Ihre Form der Politik.Ein Punkt ist noch offen: das Betreuungsgeld. Zu die-sem sensationellen Wahnsinn ist schon alles gesagtworden. Ich finde es aber beachtenswert, dass Sie esschaffen, selbst bei einer solch sinnfreien bildungs- undintegrationsfeindlichen Maßnahme die soziale Spaltungin diesem Land noch weiter voranzutreiben. Das mussman erst einmal schaffen. Darauf kann man stolz sein,sollte man aber nicht. Warum sage ich das? Betreuungs-geld bekommt nämlich nur der, der schon etwas hat, deroffensichtlich auch genug hat. Wenn man ALG-II-Empfängerin ist, wenn man Elterngeld bezieht, wennman Asylbewerberin ist, dann bekommt man nichts. Siebekommen es nur dann, wenn die Partnerin zu Hausebleibt, weil der Partner – selten die Partnerin – ein gutesEinkommen hat. Das heißt, es werden diejenigen ani-miert, zu Hause zu bleiben, die zweifelsfrei keine Sorgehaben, Kitagebühren zu entrichten. An dieser Stelle tutsich der Verdacht auf, dass wir nicht über ein Betreu-ungsgeld reden, sondern über eine Kitafernhalteprämie,und das ist, meine Damen und Herren, ein echtesProblem.
Deshalb kann ich Sie nur dringend dazu ermahnen,sich das genau zu überlegen.Ich wünsche mir, dass wir in der Opposition gemein-sam dazu kommen, gegen dieses Gesetz zu klagen, undes damit den Betroffenen ersparen, selbst vor Gerichtziehen zu müssen. Ich kann Sie wirklich nur dazu einla-den, zu einem Konsens zu kommen.Die SPD hat zwar versprochen – ich kann es mir nichtverkneifen, das zu sagen –, das im Falle eines Wahlsie-ges rückgängig zu machen. Allerdings haben Sie im Jahr2005 auch versprochen, dass es keine Mehrwertsteuer-erhöhung geben soll. Das muss man leider auch dazusagen.Meine Damen und Herren, wenn wir über den Etatdes Familienministeriums reden, darf man auch einmalan seine Familie denken. Ich denke heute an meineMutti: Mutti, du bist immer die Allerbeste gewesen undwirst es auch immer bleiben. Herzlichen Glückwunschzum Geburtstag!
Kalb [CDU/CSU]: Für deine Mutti klatschensogar wir!)
Das Wort hat nun Miriam Gruß von der FDP-Frak-tion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Frau Marks, ich kann Ihnen über-
haupt nicht zustimmen. Ich finde, Sie haben hier von
A bis Z eine Fehlanalyse vorgetragen. Die Kanzlerin hat
gestern gesagt, dass wir die erfolgreichste Koalition seit
der Wiedervereinigung sind. Das kann ich nur noch ein-
mal bestätigen.
Das gilt auch für die Familienpolitik. Ich möchte die
nächsten Minuten nutzen, um Ihnen das aufzuzeigen.
Die Rahmenbedingungen sind grandios. Wir haben
die geringste Jugendarbeitslosenquote Europas. Damit
haben wir im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben,
eben doch gute Bedingungen für die jungen Menschen.
Mein Kollege Jörg von Polheim wird auf die Jugendpoli-
tik und auf das Thema Extremismus noch genauer ein-
gehen.
Ich will mit den Kindern beginnen. Kinder brauchen
Schutz und Chancen. Ich freue mich, dass wir im nächs-
ten Jahr mit dem Programm Familienhebammen starten
können. Hierfür haben wir 45 Millionen Euro in den
Haushalt eingestellt. Das ist oft vorgestellt und verspro-
chen worden. Wir haben das erste deutsche Kinder-
schutzgesetz eingeführt. Ich denke, das ist ein erster
Erfolg.
– Ein Meilenstein.
Ebenso ein Meilenstein ist es, dass wir die Vorbehalte
gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückgenom-
men haben. In dieser Woche haben wir den Jahrestag der
UN-Kinderrechtskonvention begehen können. Ich freue
mich, dass wir das dritte Land sind, das dieses Zusatz-
protokoll ratifiziert hat. Damit sind wir weltweit eines
der Länder, das dieses Protokoll am schnellsten rati-
fiziert hat. Vor über 20 Jahren, als die UN-Kinderrechts-
konvention geschaffen wurde, waren wir nur der
108. Staat, der unterzeichnet hat. Auch daran erkennt
man den Bewusstseinswandel, was uns als christlich-
liberale Koalition Kinderrechte bedeuten.
Wir haben die Klagemöglichkeit gegen Kinderlärm
abgeschafft. Außerdem haben wir die „Offensive Frühe
Chancen“ auf den Weg gebracht. Damit profitieren
360 000 Kinder von einer frühen Sprachförderung.
Auch für die Familien haben wir viel geleistet. Wir
haben die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege verbes-
sert. Wir freuen uns gemeinsam, dass die Vätermonate
beim Elterngeld so angenommen werden, wie es heute
das statistische Bundesamt erneut gemeldet hat.
Darüber hinaus haben wir die Finanzierung der künst-
lichen Befruchtung verbessert. Auch das ist etwas, bei
dem Rot-Grün die Zuschüsse zurückgeführt hat. Wir
werden die Zuschüsse wieder aufstocken und die Länder
unterstützen wie beispielsweise Sachsen und Sachsen-
Anhalt, die eigene Programme aufgelegt haben. Wenn
Sie dabei nicht mitmachen, müssen Sie das den verzwei-
felten Paaren erklären, die uns wöchentlich Briefe
schreiben, dass sie sich nichts sehnlicher wünschen als
Kinder. Wir tun etwas dafür. Auch das ist ein Beleg
dafür, dass wir es ernst meinen mit der Familienfreund-
lichkeit in Deutschland.
Lassen Sie mich noch etwas zum Ausbau der U-3-
Betreuung sagen. Wir sind die Koalition, die hierfür am
meisten Geld ausgibt. Keine Bundesregierung vor uns
hat jemals so viel Geld für den Ausbau von Kinder-
betreuungsplätzen ausgegeben, für eine Aufgabe, für die
wir nicht originär zuständig sind. Deshalb lasse ich Ihr
Argument nicht gelten, wir hätten hierbei versagt. Im
Gegenteil, wir schreiten voran. Sagen Sie endlich einmal
Ihren Ländern, dass sie dabei endlich hinterherkommen
sollen. Ich nenne nur das Beispiel Bayern. Wir sind
ziemlich weit hinten gestartet und sind jetzt ganz weit
vorne. Das müssen uns Ihre Länder erst einmal nach-
machen.
Zur spezifischen Unterstützung von Frauen und
Männern kann ich nur sagen, dass Sie das immer wieder
gefordert haben. Wir aber haben beispielsweise das
Frauenhilfetelefon gesetzlich eingeführt, mit dem es im
nächsten März losgeht. Auch das ist eine spezifische
Förderung. Sie können sich aufregen, so viel Sie wollen.
Wir halten das aber für richtig. Unsere Politik kommt
aber auch dem anderen Geschlecht zugute. Deshalb
haben wir eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik
auf den Weg gebracht und die Rechte unverheirateter
Väter gestärkt, meine Damen und Herren. Wir werden
uns auch einer Regelung zur anonymen vertraulichen
Geburt widmen. Ich freue mich, dass wir hier weit vor-
angeschritten sind. Von daher kann sich unsere Bilanz
durchaus sehen lassen.
Ich freue mich auch, wenn im nächsten Jahr die
Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen
vorgelegt wird; denn wir müssen nach wie vor konstatie-
ren: Wir geben eine Menge Geld aus, wir haben eine
geringe Geburtenrate. Daher brauchen wir eine familien-
politische Gesamtstrategie. Hier schreiten wir voran. Die
Argumente von der Opposition kann ich nicht gelten
lassen. Unsere Arbeit ist erfolgreich, auch in der Fami-
lienpolitik.
Das Wort hat nun Sven Christian Kindler Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor kur-zem war ich in Hannover bei einer Gedenk- und Mahn-aktion der Türkischen Gemeinde in Niedersachsen zumersten Jahrestag der Aufdeckung der NaziterrorzelleNSU. In den Reden dort, in den Gesprächen mit denMenschen konnte ich immer wieder feststellen: Es gibtbei unseren deutsch-türkischen Mitbürgerinnen undMitbürgern ein großes Misstrauen, eine große Skepsisgegenüber dem Staat angesichts des katastrophalen Ver-sagens der Sicherheitsorgane, auch angesichts einesstrukturellen Rassismus in den Medien sowie bei denSicherheitsorganen. Ich sage nur: „Soko Bosporus“ oder„Döner-Morde“, zu Recht das Unwort des Jahres 2011.
Die Frage lautet: Was ist eigentlich in diesem Jahrpassiert? Was hat die Bundesregierung, was hat dieMinisterin Schröder in diesem Jahr gemacht? Noch voreinem Jahr haben wir genau hier im Deutschen Bundes-tag einstimmig einen gemeinsamen Entschließungs-antrag aller Fraktionen beschlossen; das war eine Pre-miere. Ich zitiere aus diesem Antrag, da heißt es:Wir müssen gerade jetzt alle demokratischen Grup-pen stärken, die sich gegen Rechtsextremismus,Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagie-ren.Was haben Sie gemacht? Diese Regierung hat nichtsgemacht. Nichts ist passiert. Sie haben nur Lippen-bekenntnisse im Kampf gegen Nazis und gegen Rassis-mus übrig.
Zu den Fakten. Die Frage ist nämlich, KollegeMattfeldt: Haben Sie geprüft, welche Hindernisse es fürdemokratische Gruppen gibt, die sich gegen Nazis undgegen Rassismus engagieren? Nein, das haben Sie nichtgeprüft. Sie halten weiter an der Extremismusklauselfest, obwohl das Verwaltungsgericht Dresden entschie-den hat, dass diese Klausel mit der Verfassung nichtvereinbar ist. Sie haben die Klausel zwar inhaltlich leichtverändert; trotzdem halten Sie im Grundsatz am Miss-trauen gegenüber der Zivilgesellschaft fest. Das istschwarz-gelbe Politik. Diese Politik zeugt von Miss-trauen gegenüber der Zivilgesellschaft. Darum muss dieExtremismusklausel endlich weg.
Was ist mit den Kofinanzierungsanforderungen, diefür einige Programme ein großes Problem darstellen?Diese Anforderungen haben Sie auch nicht herunterge-setzt. Oder haben Sie sich Gedanken darüber gemacht,wie man diese Programme langfristig finanzieren kann?Das haben Sie nicht gemacht. Wir haben mehrfachdarauf hingewiesen: Man braucht dafür Verpflichtungs-ermächtigungen im Haushalt. Das Problem besteht näm-lich darin, dass die Programme planmäßig Ende 2013auslaufen und dass man sie nicht nur aus Ausgaberestenfinanzieren kann. Es handelt sich nicht um eine dauer-hafte Ausgabe, sondern um ein Programm, bei dem im-mer wieder Modellprojekte aufgelegt werden. Dadurchbesteht immer wieder eine Form von Unsicherheit fürdie Initiativen. Deshalb brauchen wir hier die Verpflich-tungsermächtigungen.Kollege Mattfeldt, ich kann ja nichts dafür, wenn Siedas Thema „Kampf gegen Nazis und Rassismus“ nichtkapiert haben. Wir machen dann natürlich gemeinsameAnträge mit der SPD und der Linkspartei. Das ist in die-sem Fall notwendig.
Sie halten lieber an Ihrem ideologischen Extremis-musansatz fest, bei dem alles gleichgesetzt wird. Das istgefährlich, falsch und unwissenschaftlich. Was wir jetzteigentlich bräuchten, wäre ein langfristiges Programmmit mehr Geld für demokratische Kultur, für den Einsatzvon Menschenrechten und gegen gruppenbezogeneMenschenfeindlichkeit sowie gegen Rechtsextremismus.Die Zivilgesellschaft braucht endlich wieder Vertrauenin diesem Land; sie braucht keine schwarz-gelben Stör-aktionen.
Ich will noch auf einen zweiten Punkt eingehen. Wirhaben in diesem Plenum schon häufig über den Irrsinndes Betreuungsgeldes diskutiert. Gestern ist auch Kanz-lerin Merkel in der Generalaussprache kurz daraufeingegangen. Sie wollte allerdings nicht weiter darüberreden. Das kann ich verstehen, das ist ihr ziemlich pein-lich. Das wäre es mir auch, wenn ich es beschlossenhätte.Das Problem ist nur, dass die Koalition immer be-hauptet, es gehe um Wahlfreiheit. Darum geht es imKern aber nicht. Wir haben so lange keine Wahlfreiheit,solange Eltern ihre Kinder nicht in die Krippe ihrer Wahlschicken können, nämlich wohnortnah und bedarfs-gerecht. Leider haben wir bislang keine Wahlfreiheiterreicht. Deswegen ist das Betreuungsgeld ein bildungs-politischer Irrsinn.
Kristina Schröder konnte sich übrigens drei Jahrelang nicht gegen Wolfgang Schäuble und gegen das Fi-nanzministerium durchsetzen. Es gab drei Jahre langkein zusätzliches Geld für den Krippenausbau. Das zuändern, war ein Verhandlungserfolg der rot-grünen Län-der und, Frau Marks, des grün-roten Landes; denn HerrKretschmann hat eine Menge dazu beigetragen. Das warein wichtiger Erfolg der Länder, hat aber nichts mit die-ser Bundesregierung zu tun.
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Sven-Christian Kindler
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Wir wissen aber auch: Wir müssen noch mehr fürechte Wahlfreiheit tun, weil es Kommunen und insbe-sondere Städte mit einem besonders hohen Bedarf gibt;wir müssen ihnen helfen. Wir müssen mehr für qualitativgute Kitaplätze und den Ausbau der Ganztagsbetreuungtun.Wir haben dazu Änderungsanträge eingebracht. Wirwollen ein Sonderprogramm für Kommunen, die einenhohen Bedarf haben, und ein Sonderprogramm für denAusbau der Ganztagsbetreuung schaffen. Dafür wollenwir in den nächsten zwei Jahren 1 Milliarde Euro mehreinsetzen.Kollege Mattfeldt, wir sehen auch eine sinnvolleGegenfinanzierung vor: Wir wollen nicht mehr Schuldenmachen, sondern das Betreuungsgeld streichen und dasEhegattensplitting abschmelzen, weil diese beidenMaßnahmen Frauen Anreize geben, eben nicht am Ar-beitsmarkt aktiv zu werden. Auf diese Weise gelingt unseine sinnvolle Gegenfinanzierung des Kitaausbaus. Beidiesem Haushalt zeigt sich die Alternative ganz klar: Sieverteilen mit dem Betreuungsgeld ein Wahlgeschenkzugunsten der CSU in Bayern; wir wollen einen schnel-len Kitaausbau, um echte Wahlfreiheit für Familien zuschaffen.
Ich möchte kurz auf einen weiteren Punkt eingehen,der sich auf den Bundeshaushalt insgesamt bezieht. Wirdiskutieren in dieser Haushaltswoche auch über dieFrage: Wie kann ein Haushalt eigentlich geschlechter-politisch sensibel aufgestellt werden? Ich habe die Bun-desregierung gefragt, was sie eigentlich tut, um ge-schlechterpolitische Maßnahmen zu analysieren und zuevaluieren, was sie im Bereich des Gender Budgetingtut, um die Vorgaben des Grundgesetzes wirklich umzu-setzen und für eine tatsächliche Gleichberechtigung vonMännern und Frauen zu sorgen. Die Antwort der Bun-desregierung auf meine Anfrage war: nichts, nada. DieBundesregierung macht in dem Bereich also gar nichts.Das ist schon ziemlich peinlich; denn die EuropäischeUnion sieht so etwas in ihren Programmen vor. Aber dasist nicht der erste Fall, in dem sich Kristina Schröder ge-gen Europa, gegen Brüssel wendet. Es ist ein Armuts-zeugnis, dass die Ministerin für Frauen in Brüssel gegendie Frauenquote kämpft.
Frauenpolitisch waren es leider drei verlorene Jahreunter Kristina Schröder. Deswegen ist es gut, dass es derletzte Haushalt von Kristina Schröder und von Schwarz-Gelb ist.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Ministerin Kristina Schröder.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unsere Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass Men-schen in der Familie Verantwortung füreinander über-nehmen. Der erneute Mittelaufwuchs im Einzelplan 17auf knapp 6,9 Milliarden Euro im Haushalt 2013 stärktdie Verantwortungsgemeinschaft Familie.Ich danke den Kolleginnen und Kollegen im Haus-haltsausschuss und im Familienausschuss für die kon-struktiven Beratungen, insbesondere den Berichterstat-tern im Haushaltsausschuss, Herrn Bockhahn, HerrnMattfeldt, Herrn Dr. Toncar, Herrn Schwanitz und HerrnKindler.Der größte Posten im Einzelplan 17 bleibt das Eltern-geld, und das aus guten Gründen. Das Elterngeld ermög-licht etwas, was sich nahezu alle Familien in Deutsch-land wünschen, nämlich nach der Geburt eines Kindeseine Auszeit aus dem Beruf nehmen zu können. Heutefrüh hat das Statistische Bundesamt neue Zahlen zurVäterbeteiligung veröffentlicht: Sie liegt jetzt bei stolzen27,3 Prozent.
Die 4,9 Milliarden Euro, die wir 2013 für das Elterngeldausgeben, sind also nicht nur in familienpolitischer,sondern auch in gleichstellungspolitischer Hinsicht gutangelegtes Geld. Eltern haben damit mehr Wahlfreiheit.Zur Wahlfreiheit tragen auch das Betreuungsgeld undder Kitaausbau bei. Mit dem Betreuungsgeld, für das imJahr 2013 55 Millionen Euro vorgesehen sind, unter-stützen wir Eltern,
die die Betreuung ihrer ein- oder zweijährigen Kinderselbst organisieren wollen. Genauso unterstützen wir mitMilliardeninvestitionen in den Kitaausbau diejenigenEltern, die für ihr Kind Betreuung wollen oder brauchen.
Die Eltern verlassen sich auf unsere Zusagen.
Auch deswegen wird in der christlich-liberalen Koalitionnicht am Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz gerüttelt.
Wir, der Bund, unterstützen die Länder bei der Mam-mutaufgabe des Kitaausbaus, wo wir nur können. Diezusätzlich von uns zur Verfügung gestellten 580 Millio-
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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nen Euro können von den Kommunen rückwirkend zum1. Juli eingesetzt werden. Sie ermöglichen Ländern undKommunen die Einrichtung von 30 000 zusätzlichen Be-treuungsplätzen.Ich freue mich, dass wir uns mit den Ländern daraufgeeinigt haben, dass sie in Zukunft deutlich häufigerüber den Ausbaufortschritt berichten. Wichtig war auch,dass wir in Bezug auf die neuen Gelder die paralleleGemeinschaftsfinanzierung festgeschrieben haben. ZurErinnerung: Bisher hatten wir die sogenannte serielleGemeinschaftsfinanzierung. Die serielle Gemeinschafts-finanzierung war ein vornehmer Ausdruck für das Prin-zip „Erst zahlt der Bund, dann zahlen die Länder“. Wasals Tempomacher gedacht war, wurde von einigenLändern allerdings missverstanden. Sie haben serielleGemeinschaftsfinanzierung übersetzt mit „Erst einmalalle Bundesgelder verbraten, und dann schauen wirmal“.Frau Marks, Sie hatten vorhin Rheinland-Pfalz undKurt Beck erwähnt. Die rheinland-pfälzischen Kommu-nen haben gestern öffentlich die Verweigerungshaltungihres Landes kritisiert. Ich möchte den Geschäftsführerdes Gemeinde- und Städtebundes Rheinland-Pfalz zitie-ren: „Vom Land kam bisher nicht einmal 1 Cent.“
Deshalb rate ich Ländern wie Rheinland-Pfalz dringend,einen Blick in die schriftlich fixierten Abmachungen vonvor fünf Jahren zu werfen. Dort heißt es wörtlich:Die Länder werden ebenfalls finanzielle Vorausset-zungen dafür schaffen, dass die vereinbarten Zieleerreicht werden.Im Klartext heißt das: Der Bund hilft den Ländern beimAusbau. Es heißt aber nicht: Die Länder dürfen zu-schauen, wie der Bund für sie die Arbeit macht.
Bei allem Engagement für den Kitaausbau sollten wirnicht vergessen, dass die Bedürfnisse von Eltern unter-schiedlich sind. Der Anteil der Eltern, die ihre Kinder imAlter von einem oder zwei Jahren in einer Kita betreuenlassen wollen, liegt bei knapp 40 Prozent. Wir wollen,dass die Eltern selbst entscheiden, was gut für ihreKinder und was gut für ihr Familienleben ist, und wirwollen, dass diese Entscheidungen respektiert werden.
Ich sehe es deshalb mit Sorge, dass sich in der Fami-lienpolitik zunehmend eine Allianz aus Volkswirten undVolkserziehern gebildet hat, der es nur darum geht, dassmöglichst alle Mütter und Väter schnellstmöglich nachder Geburt eines Kindes wieder Vollzeit arbeiten.
BDA-Präsident Hundt hat das mit seinem Vorschlag, dieElternzeit zu verkürzen, ganz deutlich gemacht. Mirmacht diese Haltung Sorge, weil sie die Bedürfnisse vonEltern und Kindern komplett ignoriert oder sie nur alsSand im Getriebe der ökonomischen Effizienz wahr-nimmt,
den man loswerden muss, damit Mütter und Väter demArbeitsmarkt als Humankapital zur Verfügung stehen.Familien sind aber nicht der Steinbruch der Wirtschaftzur Fachkräftesicherung.
Bis zu Peer Steinbrück scheint sich das leider nochnicht herumgesprochen zu haben; denn Herr Steinbrückhat kürzlich allen Ernstes erklärt, das Betreuungsgeldgefährde das Recht der Frau auf berufliche Selbstbestim-mung.
Da frage ich mich: Was hat Herr Steinbrück eigentlichfür ein Frauenbild?
Glaubt er ernsthaft, nur weil man uns Frauen 100 Eurohinhält, würden wir sofort sämtliche Ambitionen undWünsche vergessen und töricht in irgendwelche Fallentappen? Wenn das das Bild ist, das Herr Steinbrück vonFrauen in Deutschland hat, dann zeigt das: Er hatwirklich ein Problem mit Frauen.
Herr Hundt und Herr Steinbrück sind Brüder imGeiste. Beide denken, sie wüssten besser, was gut fürFamilien ist. Beide haben nicht verstanden, worum es inder Familienpolitik geht. Es geht um die Frage, wie sichEltern ein gutes und erfülltes Familienleben vorstellen.Sie dabei zu unterstützen, das ist Aufgabe von Familien-politik.
Eine Verkürzung der Elternzeit wird es mit mir dahernicht geben. Die Wirtschaft hat es selbst in der Hand, fürfamilienfreundliche Arbeitsbedingungen zu sorgen: Siekann Betriebskitas schaffen – diesbezüglich startet imnächsten Monat ein neues Programm –; sie kann dieArbeitszeiten familienfreundlicher gestalten; sie kannsich von der unseligen Präsenzkultur – bester Mitarbeiterist, wer am längsten hinterm Schreibtisch sitzt – verab-schieden. Die Wirtschaft kann selbst genug dafür tun,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25427
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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damit Mütter und Väter gerne an den Arbeitsplatz zu-rückkehren.
Zum Schluss komme ich auf einen Punkt zu sprechen,den Sie, Herr Kindler, angesprochen haben, nämlich aufdie Präventionsprogramme gegen Extremismus. Ichhabe im Haushaltsausschuss klar und deutlich gesagt,dass die bestehenden Programme zur Prävention vonExtremismus auf jeden Fall weiterlaufen werden. Ichhabe immer wieder betont – das ist der politische Willevon uns allen –, dass wir 24 Millionen Euro für dieBekämpfung des Rechtsextremismus und 5 Millio-nen Euro für die Bekämpfung des Linksextremismusund des Islamismus – so viel zu Ihrem Vorwurf derGleichmacherei – zur Verfügung stellen und dass es un-ser aller Wille ist, dass diese Mittel auch für das Jahr2014 bereitstehen. Deswegen kann ich nur sagen: DiesesVersprechen steht. Hören Sie auf, die Menschen, die sichgegen Extremismus engagieren, zu verunsichern! IhrEngagement ist viel zu wertvoll, um im Wahlkampf alsSpielball zu dienen.
Mit dem Einzelplan 17 – es ist ein vergleichsweisekleiner Etat – geben wir Antworten auf eine Vielfalt vongesellschaftlichen Herausforderungen. Wir haben unsereknappen Mittel gut investiert: in die Unterstützung desfamiliären Zusammenhalts, insbesondere durch dasElterngeld; in die Vereinbarkeit von Familie und Beruf,insbesondere durch den Kitaausbau; in die frühkindlicheBildung, insbesondere durch die „Offensive Frühe Chan-cen“; in einen besseren Kinderschutz, insbesonderedurch das neue Kinderschutzgesetz; in die Stärkung desbürgerschaftlichen Engagements – ich nenne den Bun-desfreiwilligendienst und die Jugendfreiwilligendienste –;in den Zusammenhalt zwischen Alt und Jung durch dieFortführung des Programms für die Mehrgenerationen-häuser; in Unterstützung für Frauen in Notlagen, insbe-sondere durch das neue Hilfetelefon „Gewalt gegenFrauen“.Das ist eine breite Vielfalt an gesellschaftspolitischenMaßnahmen,
die für faire Chancen sorgen, die die Übernahme vonVerantwortung unterstützen, die den gesellschaftlichenZusammenhalt stärken und die den Menschen dabei dieFreiheit lassen, so zu leben, wie sie selbst leben wollen.Das ist moderne Familienpolitik.
Das Wort hat nun Rolf Schwanitz für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wirsprechen in der heutigen Debatte über den Haushalt2013. Damit haben wir zum ersten Mal die gesamteLegislaturperiode im Blick. Mein Fazit, was Ihre Arbeit,Frau Ministerin, angeht, ist völlig klar: Das sind vierverlorene Jahre.
Aus dem reichhaltigen Angebot an Fehlleistungen,die bei Ihnen zu beobachten sind, will ich drei heraus-greifen:Ich fange mit dem Thema Kitaausbau an. Wir habenschon am Anfang dieser Legislaturperiode gesagt, dassdies das wichtigste Thema für Ihr Ressort ist. Sie habendieses Thema ungefähr zweieinhalb Jahre lang grund-sätzlich ignoriert. Sie haben so getan, als sei das über-haupt nicht Ihre Angelegenheit.
Sie haben sich auf das schon existierende Programm ge-setzt, und das war es dann.Vor einem Jahr haben die Sozialdemokraten Ihnen imRahmen der Haushaltsdebatte einen Vorschlag unterbrei-tet: Wir brauchen aufgrund des Rechtsanspruchs ein Er-gänzungsprogramm mit einem Volumen von 300 Millio-nen Euro. Das haben Sie abgelehnt.
Dann hat man sich für das Verstärkungsprogramm ent-schieden. Aufgrund der Initiative des Bundesrates undnicht aufgrund Ihrer Tätigkeit ist es zum Verstärkungs-programm gekommen. Weil dieses Programm ein halbesJahr vor Inkrafttreten des Rechtsanspruchs natürlich zuspät kommt, wenden Sie nun mehr Kraft für dieBeschimpfung der Länder als die Sache selbst auf. Dasist eine glatte Fehlleistung.
Die zweite Fehlleistung – auch wenn Sie es nichtmehr hören wollen – ist das zentrale Versagen beimThema Betreuungsgeld. Als Familienministerin wäre eseigentlich Ihre Aufgabe gewesen, sich gegen diese Ver-gangenheitspolitik zu stellen. Das hätte man aufgrundIhres Amtes erwarten können.
Stattdessen haben Sie Vorschläge zur Umsetzung ge-macht. Nirgendwo sonst ist der konservative Eifer vonFrau Schröder so klar erkennbar geworden wie beimThema Betreuungsgeld.
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25428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Rolf Schwanitz
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Ich glaube, dass das ramponierte Image der Ministe-rin in der Öffentlichkeit damit zu tun hat; denn für inner-parteiliche Auseinandersetzungen braucht man Stärkeund Kraft. Aber Frau Schröder ist schon längst derRückhalt von Kanzlerin Merkel viel wichtiger als die In-teressenlagen des eigenen Ressorts. Das ist die Situation.
Frau Schröder, Sie haben sich als koalitionstreu er-wiesen, und die CSU-Landesgruppe wird Ihnen sicher-lich anerkennend auf die Schulter klopfen, keine Frage.Aber Ihre Aufgabe, Anwältin für Familien und Kinderzu sein, haben Sie nicht wahrgenommen. Sie sind an die-ser Stelle eine komplette Fehlbesetzung.
Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem Änderungs-antrag machen, über den in der letzten Sitzungswochehier im Plenum entschieden wurde. Dieser Änderungs-antrag hat die politische Lage noch einmal verändert.Das Ganze steht schlicht und einfach unter der Über-schrift „Tarnen und Täuschen“.
Warum? Das Ganze diente nur einem einzigen Zweck,nämlich die milliardenschweren Finanzlasten aus demBundeshaushalt 2014 in den Bundeshaushalt 2015 zuverschieben. Das ist der Vorgang, der hier letzte Wochepassiert ist. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dassSie noch vor der Bundestagswahl im nächsten Jahr einenEntwurf für den Bundeshaushalt 2014 vorlegen müssen.Das ist nichts anderes als der Versuch, vor der Bundes-tagswahl die finanziellen Belastungen und die Kürzun-gen, die Sie im Sozialbereich zur Gegenfinanzierungvornehmen müssen, aus dem Blickfeld der Wählerinnenund Wähler verschwinden zu lassen. Aber das ist be-merkt worden. Wir werden Ihnen das nicht durchgehenlassen.
Der Gipfel Ihres Amtsversagens ist aber – das ist diedritte Fehlleistung –, wie Sie sich in den letzten drei Jah-ren beim Thema Rechtsextremismus verhalten haben.Ich wollte an dieser Stelle die Koalition eigentlich dafürloben, dass es doch noch gelungen ist, einen fraktions-übergreifenden Konsens herzustellen. Aber das kann ichmir seit gestern leider schenken.Was hat Frau Schröder als Erstes gemacht? Als Ersteshat sie die Mittel für die Programme gegen Linksextre-mismus und Islamismus, ihre beiden Spezialthemen, indie Ansätze für Präventionsprogramme gegen Rechts-extremismus eingestellt. Dann hat sie unwissenschaftli-ches und fehlerhaftes Material für die deutschen Schu-len, die sich mit Linksextremismus befassen sollten,erarbeiten lassen. Das waren die ersten Aktionen vonFrau Schröder.Sie hat dann als Zweites eine Verfassungstreueerklä-rung aufgelegt und damit quasi kollektiv alle Initiativenvor Ort unter Extremismusverdacht gestellt.
Sie hat damit gespalten und Vorbehalte aufgegriffen, diesie wahrscheinlich selber hat. Im letzten Jahr – KollegeBockhahn, das haben Sie zu Recht in Erinnerung geru-fen – gab es den Versuch, die Mittel für diesen Bereichum 2 Millionen Euro zu kürzen. Was heißt „Versuch“?Das sah der Entwurf von Frau Schröder vor. Die Koali-tion hat hier im Plenum – ein außergewöhnlicher Vor-gang – gerade noch einmal diese Kürzung um 2 Millio-nen Euro verhindern können.Nun, Frau Schröder, verweigern Sie den bruchlosenÜbergang der Projektförderung in das Jahr 2014 nachdem Auslaufen des Programmes 2013. Ich finde es übri-gens schamlos, zu sagen, wir instrumentalisierten das.Monatelang haben wir mit Ihnen verhandelt und auf dieNotwendigkeit von Verpflichtungsermächtigungen hin-gewiesen, damit nach Auslaufen des Programms dieProjekte weiterlaufen können. Das ist übrigens auch in-tern von Ihnen nie infrage gestellt worden. Es hat nur nieeinen Konsens, was Handeln betrifft, gegeben.Deswegen sage ich: Was hier droht, ist in seiner Di-mension eigentlich noch gar nicht richtig zu erfassen.Dieses Programm mit 29 Millionen Euro ist das wich-tigste Förderprogramm des Bundes, das wir an der Stellehaben. Aufgrund der bestehenden Unterdeckung kannder Übergang nach 2014 nicht vollständig erfolgen. An-gesichts der bereits laufenden Projekte können in 2014also nahezu keine Neubewilligungen vorgenommenwerden. Es wird monatelang dauern – ich schätze, einhalbes Jahr –, bis der Haushalt 2014 in Kraft ist und dasneue Förderprogramm anlaufen kann. Ich finde das un-verantwortlich.
Frau Schröder, Sie werden Ende 2013 hoffentlichnicht mehr im Amt sein. Ihre Verantwortlichkeit ziehtsich aber bedauerlicherweise in das Jahr 2014 hinein.Dieser Verantwortlichkeit sind Sie in keiner Weise ge-recht geworden.Es waren vier verlorene Jahre, meine Damen undHerren. Unsere ausgestreckte Hand ist nicht angenom-men, sondern arrogant zurückgewiesen worden. Die De-mokraten sollten an dieser wichtigen Stelle zusammen-stehen und nicht nur reden, sondern gemeinsam handeln.Das ist nicht gelungen. Dafür trägt die Koalition Verant-wortung. Frau Schröder hat die Zusammenarbeit vonAnfang an nie gewollt. Ich sage deswegen: Nirgendwohat es ein so sichtbares Versagen der Merkel-Regierunggegeben wie in Ihrem Amt.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25429
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Das Wort hat nun Florian Toncar für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eswird Sie nicht überraschen, dass sich die Wahrnehmungder Politik der letzten vier Jahre, die ich hatte, deutlichvon dem unterscheidet, was der Kollege Schwanitz ge-rade vorgetragen hat.Wir befinden uns nicht in der leichtesten Phase, umPolitik zu machen bzw. sie finanziell zu gestalten. Nacheiner schweren Wirtschaftskrise haben wir einen Haus-halt übernommen, der nicht mehr in der Balance war. Erwies ein hohes Defizit auf. Nach den Vorschlägen derVorgängerregierung sollte ungefähr jeder vierte Euroüber neue Schulden finanziert werden. Für nur 3 von4 Euro waren Einnahmen eingeplant. Das war die Aus-gangslage, und das musste korrigiert werden. Wir sindda mit diesem Haushalt auch schon ein ganzes Stück vo-rangekommen.Ich würde davor warnen, den Bürgern oder unserenZuhörern irgendwie vorzugaukeln, dass es in den letztenvier Jahren einfach gewesen sei, teure Projekte oderteure Ideen umzusetzen. Das war es nicht, sondern dasmusste mit Augenmaß geschehen. Uns ist das auch ge-lungen.Wir haben gleichwohl vor allem im BildungsbereichSchwerpunkte setzen können, ohne die Schulden nachoben zu treiben. Auch der Haushalt dieses Einzelplanshat davon profitiert. Über die Qualifizierungsoffensivewurde Personal für Kindertagesstätten geschult und inden Kommunen auch eingestellt, um eine Sprachförde-rung für Kinder, die diese brauchen, durchzuführen.Diese Förderung wird ausgesprochen gut angenommen.Es ist ein Beispiel dafür, dass wir gerade auch in diesemHaushalt den Bildungsbereich verstärkt haben.Ich darf daran erinnern, dass wir im Jahr 2010 unteranderem die Familien durch Erhöhung des Kindergeldesund des Kinderfreibetrages mit 5,5 Milliarden Euro ge-fördert haben. Sie sind also trotz Haushaltskonsolidie-rung in finanzieller Hinsicht die großen Gewinner derletzten vier Jahre gewesen.
Ich komme zum wichtigen Thema Kitaausbau. Dashaben wir uns von Anfang an immer zu eigen gemacht.Der Kollege Schwanitz hat jetzt kritisiert, man hätte sichauf ein schon existierendes Programm draufgesetzt. Da-ran merkt man, Kollege Schwanitz, dass Sie mehr oderweniger nach irgendetwas suchen, was Sie beanstandenkönnen. Sie hätten doch sagen können: 2007 wurde einKrippengipfel durchgeführt, an dem der Bund, die Län-der und die Kommunen – eigentlich alle staatlichen Ebe-nen – teilgenommen haben, und man hat sich darauf ver-ständigt, wie man zwischen 2008 und 2013 dieKindertagesstätten ausbauen bzw. die entsprechendenPlätze schaffen könnte. Das Programm von damals warbis 2013 angelegt. Niemand musste sich also auf diesesProgramm draufsetzen, sondern man musste sich nureinfach an die Vereinbarungen halten, die getroffen wur-den. Dass dies ausgerechnet von Ihnen kritisiert wird,zeigt, glaube ich, sehr deutlich, dass es Ihnen hier garnicht um die Sache geht.
Sie haben Ihre Aussage, dass man sich auf das beste-hende Programm sozusagen draufgesetzt hat, noch mitdem Nachsatz ergänzt, dass es das dann war. Aber auchdas ist falsch. Denn wir sind nicht nur die Qualifizierungvon Personal für Sprachförderung angegangen – dashabe ich gerade schon erklärt; das ist während der letztenJahre dazugekommen –, sondern wir haben darüber hi-naus 580 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung ge-stellt. Ich frage mich übrigens, wo da die Länder waren.Die Länder, die ja von Anfang an dabei waren, sollteneigentlich ein Drittel zahlen. Sie haben sich aber von ih-rer Beteiligung verabschiedet, und der Bund macht denRest jetzt allein. Das muss man einmal hervorheben. Wirhaben da mehr getan, als ursprünglich geplant war.
Wir alle sollten die Entlastungen für die Kommunennicht unterschätzen. Die Kommunen sind natürlich zur-zeit ganz stark dadurch finanziell beansprucht, dass sieviele Betreuungsplätze schaffen müssen. Diese kostenviel Geld. Deswegen haben sie zu Recht darauf hinge-wiesen, dass es schwer ist, alles gleichzeitig zu finanzie-ren. Wir haben die Kommunen in noch nie dagewesenerWeise entlastet. Sie werden insgesamt über 4 MilliardenEuro pro Jahr mehr zur Verfügung haben. Dieses Geldkann natürlich dafür eingesetzt werden – damit fällt esden Kommunen zumindest leichter –, Kitaplätze zuschaffen und sich um Familien zu kümmern.
– Kollege Bockhahn, ich weiß nicht, ob Sie hier das Mo-nopol auf Ahnung von irgendetwas beanspruchen soll-ten. Nach Ihrer Rede hier heute wäre ich da an IhrerStelle eher zurückhaltend.
Ich glaube, dass es den Kommunen etwas bringt,wenn sie zusätzliches Geld bekommen oder sie an ande-rer Stelle entlastet werden.Ich möchte noch einen Punkt herausstellen, der oft alsSelbstverständlichkeit betrachtet wird. Es geht um dasThema Bundesfreiwilligendienst. Durch die Aussetzungder Wehrpflicht musste innerhalb kürzester Zeit etwasNeues aufgebaut werden. Man musste schauen, wie mandie Zivildienstleistenden ersetzt. Ich muss sagen: Ge-messen an der Größe dieser Aufgabe, Frau Ministerin,ist es ausgezeichnet gelungen. Es gab fast keine Brüche.Der Bundesfreiwilligendienst ist sehr gut angenommenworden.
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25430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Dr. Florian Toncar
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Das war nicht selbstverständlich. Viele – hier undauch außerhalb dieses Hauses – hatten vorher Zweifel,ob es wirklich so gut laufen wird, wie es letzten Endesgelaufen ist. Man muss festhalten: Hier ist etwas gut ge-macht worden. Mein Herz als Liberaler schlägt höher,wenn ich feststellen kann: Es gibt Menschen, die bereitsind, sich freiwillig für eine gute Sache zu engagieren.Das ist ein tolles Zeichen der Stärke der Gesellschaft inDeutschland.
Das Wort hat nun Jörn Wunderlich für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Toncar, wenn sich jemand zurückhalten sollte, dannSie. Sie sagen hier, man müsse sich an Verabredungenhalten. Angesichts der Tatsache, welche Verabredungenlaut Koalitionsvertrag existieren und an welche man sichnicht gehalten hat, könnte ich ein Fass aufmachen.
In der ersten Lesung zum Haushalt hat unsere Minis-terin gesagt – ich zitiere –:Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten könnensich Familien in Deutschland auf Union und FDPverlassen.
Ich sage: Die sind schon verlassen.
Wenn ich die Aktivitäten unserer Ministerin zur Be-kämpfung von Extremismus sehe, bin ich im Grundefroh, dass man so wenig von ihr sieht und hört. Ich per-sönlich nenne das Schadensminimierung.
Der zitierte Aufwuchs im Einzelplan 17, der ja sohoch gelobt wird, soll vor allem Familien und Kindernzugutekommen. Frau Ministerin, das ist die Zielgruppeim Einzelplan 17.
Dass man Sie daran erinnern muss, finde ich erstaunlich.Einer der größten Posten bei diesem Aufwuchs ist dum-merweise das Betreuungsgeld.
– Frau Fischbach, zu Ihnen komme ich noch.
Zum Thema „Faire Chancen für Frauen und Männer“– ich nenne jetzt einzelne Punkte – kann ich nur fragen:Wo bleiben die entsprechenden Maßnahmen? Nichts.Quotierung ist für Frau Schröder ja ein Bäh-Wort, so-lange nicht „Flexi“ davor steht. Mit ihrer Flexi-Quotewürde es in den Dax-Unternehmen eine Steigerung derQuote bis zum Jahr 2014 um 0,8 Prozent geben. Super!Frau Reding will auf EU-Ebene 40 Prozent erreichen.Wir wollen doch immer EU-konform sein. Was sagtFrau Schröder dazu? Nichts.Equal Pay Day. Alle trafen sich am BrandenburgerTor und haben geschrien, dass ungleiche Bezahlung eineUnverschämtheit ist. Auch die Frauen von der CDU wa-ren dort. Frau Fischbach hat auf der Bühne ins Mikrofongetönt: Es ist eine Sauerei, dass die Frauen weniger ver-dienen.
Was passiert? Nichts.
Für die Antidiskriminierungsstelle gibt es nach unse-rer Auffassung nicht ausreichend Mittel. Nun sind dieKürzungen Gott sei Dank zurückgenommen worden.Aber jeder, der sich einmal den Aufgabenbereich derAntidiskriminierungsstelle angeschaut hat – die Bericht-erstatter und die Ausschussmitglieder können sich hiernicht auf Nichtwissen berufen –, weiß, dass die Mittelbei weitem nicht ausreichen und eigentlich 1,5 MillionenEuro zusätzlich notwendig sind.
Das Unterhaltsvorschussgesetz ist hier schon mehr-fach debattiert worden. Es gab Versprechungen, den Un-terhaltsvorschuss auszubauen. Aber was ist passiert?Nichts.Das Elterngeld sollte ausgebaut werden. Im Haushaltheißt es, dass es aufgestockt worden ist. Ja, aber dasgeschah aufgrund von Sachzwängen. Das liegt nämlichdaran, dass die Gehälter gestiegen sind und ein paarVäter statt eines Monats zwei Monate Elternzeit inAnspruch genommen haben. Für eine Anspruchsverlän-gerung auf 24 Monate und die Anhebung des Mindestel-terngeldes wären 4 Milliarden Euro notwendig gewesen.Was ist passiert? Nichts.Das Hilfetelefon sollte Anfang 2013 freigeschaltetwerden. 6 Millionen Euro waren dafür veranschlagt.Jetzt sind dafür nur noch 5 Millionen Euro vorgesehen.Es ist preiswerter geworden, soll dafür aber auch erstspäter freigeschaltet werden. Noch in der ersten Lesungdes Haushalts hat Frau Schröder gesagt:Wer eine ungefähre Vorstellung davon hat, was ge-waltbetroffene Frauen physisch und psychischdurchmachen, der weiß auch, wie wichtig diesesHilfetelefon ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25431
Jörn Wunderlich
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Aber dann wurde ständig verschoben, verschoben, ver-schoben.Zur Familienpflegezeit brauche ich nichts zu sagen.Hier kommt es auf den Goodwill der Arbeitgeber an. Inder Form, in der der Gesetzentwurf jetzt vorliegt, könnteman auch auf ihn verzichten.Zum Betreuungsgeld ist schon genug gesagt worden;das muss man nicht aufwärmen. Es ist eine Katastrophe.Über die Mittel für den Kitaausbau ist, wie gesagt, imRahmen des Fiskalpakts mit den Ländern verhandeltworden. Frau Schröder hat immer betont: Der Bund hatgeleistet, was er leisten konnte. – Wir haben von Anfangan gesagt: „Das reicht nicht aus“, und eine Aufstockungdes Sondervermögens um 4 Milliarden Euro gefordert.Was ist passiert? Nichts.Nun zu der so viel gepriesenen Initiative „OffensiveFrühe Chancen“. Da macht Frau Schröder einmal etwasGutes – die 4 000 Stellen für die frühe Sprachförderungim Kindergarten sind ja bewilligt –, und dann haut dasBetreuungsgeld voll rein. Gerade die Zielgruppen, diedamit erreicht werden sollten, bleiben der Kita jetzt fern.Super! Das ist „verantwortungsvolle“ Politik aus Sichtunserer Ministerin.
Seit der 16. Legislaturperiode wird evaluiert undevaluiert und evaluiert. Ich sage Ihnen: Wir Fachpoliti-ker, die wir hier sitzen, haben doch keine Erkenntnispro-bleme. Die Regierung hat Umsetzungsprobleme. Kon-struktive, zielführende, gute Vorschläge der Oppositionwerden rigoros abgelehnt. Außer heißer Luft und Lange-weile – ab und zu hören wir, wie vorhin beim Wort„Verbrechen“, auch einmal einen kleinen Versprecher –verströmte Frau Schröder eigentlich nichts. Wenn ich esmir genau überlege, muss ich sagen: Das ist auch gut so.Ich hoffe nur, dass in Bälde wieder jemand Verantwor-tung hat, der weiß, was zu tun ist.Bestimmt fragt noch jemand: Was ist denn mit derFinanzierung? Ja, die Finanzierung ist wichtig. Wirhaben in unserem Antrag Finanzierungsvorschläge ge-macht. Durch die Vorschläge der Linken könnte manMehreinnahmen in Höhe von 68 Milliarden Euro erzie-len. Allein durch die Einführung des Mindestlohnskönnten wir steuerliche Mehreinnahmen bzw. Minder-ausgaben in Höhe von 12 Milliarden Euro verzeichnen.Auf den Einzelplan 17 bezogen bedeutet das: Wenn wirlediglich die Bundeswehrgroßprojekte Fregatte 125
und Eurofighter nicht fortsetzen würden, könnten wirdurch die Umsetzung unserer Forderungen den Einzel-plan 17 komplett, also in Gänze, finanzieren und darüberhinaus 3 000 – ich wiederhole: 3 000 – zusätzlicheKindertagesstätten bauen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe KollegenKindler und Wunderlich, Sie sollten einmal in sichgehen. Sie meinen wohl, gegenüber der Ministerin per-sönlich werden zu müssen, weil sie keine Argumentemehr haben.
Sie beide sollten sich einmal fragen, ob Sie sich auch sobenehmen würden, wenn der Familienminister ein Mannwäre.
Ich fand es sehr chauvinistisch, wie Sie beide die Minis-terin angegangen sind. Das ist nicht redlich.
Aber Sie müssen sich vor Ihrem eigenen Spiegelbilddafür verantworten, ob es in Ordnung ist, so mit ihrumzugehen.
Ich habe vorhin gegoogelt und mich erkundigt: Wo istSteinbrück? Diese Frage richte ich nun an die SPD-Fraktion. Er hat sich ja in der letzten Sitzungswoche hierhingestellt, als sei er plötzlich Deutschlands Familien-politiker.
Wo ist er denn heute, da es um den Einzelplan des Bun-desfamilienministeriums geht?
Herr Steinbrück meint, jetzt der große Frauenversteherzu sein. Er besucht Frauensalons,
wo er nicht gut ankommt, und er hat hier eine Rede zumBetreuungsgeld gehalten, die nicht gut ankam.
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25432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Dorothee Bär
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In seiner viel beachteten Rede hat er gesagt – wörtlichesZitat des Kollegen Steinbrück –: „Das Erwerbspersonen-potenzial geht deutlich nach unten.“ Das ist natürlichentlarvend. Ich habe nachgeschaut, ob das Wort„Kinder“ in Steinbrücks Rede überhaupt einmal vorge-kommen ist.
Ergebnis: Das Wort „Kinder“ ist immer nur dann vorge-kommen, wenn er gemeint hat, dass Kinder nicht derGrund dafür sein dürfen, dass das Erwerbspersonen-potenzial in Deutschland nicht ausgeschöpft werdenkann. Das finde ich schon beeindruckend.Als die Ministerin vorhin davon gesprochen hat, dassMütter und Väter von manchen nur als ökonomischeManövriermasse betrachtet würden, und in diesemZusammenhang auf Dieter Hundt verwiesen hat, hat sichbei keiner der drei Oppositionsfraktionen auch nur eineHand gerührt. Das zeigt ganz deutlich, dass Sie das ge-nauso sehen, dass Sie nie vom Kind her denken, sondernimmer nur von der Ökonomie her. Hier hat sich leider,wie man bei Frau Marks und Herrn Schwanitz gehörthat, nichts geändert. Da agiert immer noch die alteFraktion mit ihren Ansichten von „Gedöns“ und „Luft-hoheit“. Das finde ich sehr schade.
Im Haushalt des Bundesfamilienministeriums ist– man kann es nicht oft genug sagen – ein Aufwuchs zuverzeichnen. Wir sind diejenigen, die es wirklichgeschafft haben, dass Eltern in diesem Lande etwaszugetraut wird, dass es Eigenverantwortung gibt in derFamilienpolitik, dass es Wahlfreiheit gibt.Es tut mir wirklich leid, Herr Kindler, ich dachte, Siewürden verstehen, was Wahlfreiheit bedeutet. Wahlfrei-heit bedeutet nicht, dass eine 100-prozentige Abdeckungda sein müsste. Das wäre Wahnsinn, das wäre weit überBedarf.
Es geht vielmehr darum, den Eltern zuzutrauen, dass sieam besten wissen, was gut für ihre Kinder ist.Wir lösen ein Versprechen ein, das der Bevölkerungbereits 2007 gegeben wurde.
Zu einer redlichen Politik gehört es, zu sagen: 2007 ver-sprochen, 2012 nicht gebrochen. Zum 1. August 2013können die Eltern in diesem Land wirklich wählen.
Sie können wählen, und sie haben einen Rechtsanspruch.
Es ist unserer christlich-liberalen Koalition zu verdan-ken, dass an diesem Rechtsanspruch nicht gerüttelt wird,dass dieser Rechtsanspruch aufrechterhalten bleibt. Biszum Starttermin werden genügend Plätze zur Verfügungstehen.Schauen Sie sich einmal an, wer die Länder regiert, indenen der Ausbau nicht vorankommt!
Fassen Sie sich an die eigene Nase! Es ist Wahnsinn, wieSie hier behaupten können, dass Sie etwas tun, währenddie Länder, die rot-grün oder grün-rot oder wie auch im-mer regiert werden, ihre Hausaufgaben nicht machen.
Der Bund hat, obwohl er primär nicht zuständig ist,viel für den Ausbau getan. Wir haben für die Schaffungvon mindestens 30 000 zusätzlichen Plätzen noch einmal580,5 Millionen Euro zugesagt. Bis 2013 stellt der Bundfür den Ausbau insgesamt 4,6 Milliarden Euro zurVerfügung. Ab 2014 beteiligt er sich an den laufendenBetriebskosten mit 845 Millionen Euro jährlich.
– Das ist schon spannend: Wenn irgendetwas gut ist,dann heißt es: Da waren wir mit in der Regierung. WennIhnen dagegen etwas nicht passt, dann wollen Sie davonnichts wissen. Auf der linken Seite des Hauses ist eineTeilamnesie zu beobachten, die schon beeindruckend ist.Das ist nicht akzeptabel.
Den größten Posten im Etat des Bundesfamilienmi-nisteriums bildet das Elterngeld. Das Elterngeld bleibt –da können noch so viele Arbeitgeberpräsidenten meinen,daran rütteln zu müssen. Ich freue mich, dass wir bei derZahl der Väter, die Elternzeit nehmen, einen neuenHöchststand verzeichnen. Wir erleichtern jungen Paarendamit das Ja zu Kindern. Es ist ein unschätzbarerGewinn, dass immer mehr Väter aussteigen, um sich ander Betreuung der Kinder partnerschaftlich zu beteili-gen.Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, beidem wir eine wirklich nachhaltige Politik betriebenhaben und auch Haushaltsmittel bereitgestellt haben:Das ist die Bundesinitiative Familienhebammen, für dieim Jahr 2012 im Zusammenhang mit dem Bundeskinder-schutzgesetz extra ein neuer Titel geschaffen wurde.Familienhebammen stärken als Teil der Frühen Hilfennachhaltig den Kinderschutz. Hierfür stellt der Bund2013 45 Millionen Euro, 2014 und 2015 jeweils 51 Mil-lionen Euro zur Verfügung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25433
Dorothee Bär
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Seitens der Länder gab es an dieser Stelle Kostenein-wände. Nach den Vorstellungen der Länder sollten nor-male Hebammen die Betreuung weiterführen. Das sehenwir anders. Kinderschutz gibt es nicht umsonst. Er istuns diese zweistelligen Millionenbeträge wert.Wir haben – das ist gelobt worden, aber von HerrnWunderlich mit dem anderen Teil seines Körpers gleichwieder eingerissen worden –
eine ganz wichtige Maßnahme – „Schwerpunkt-KitasSprache und Integration“ – auf den Weg gebracht. DerBund fördert dabei in 4 000 Einrichtungen besondersKinder aus bildungsbenachteiligten Familien mit undohne Migrationshintergrund, die einen hohen Sprachför-derbedarf haben.An diesen ganzen Positionen sehen Sie, dass inner-halb der letzten drei Jahre in der Familienpolitik derchristlich-liberalen Koalition ein Erfolgsmodell dasnächste jagt.
– Dass Ihnen das wehtut, ist doch völlig klar. An IhrerStelle würde es mich natürlich auch nerven, wenn ichwüsste, dass ich die nächsten Jahre und Jahrzehnte in derOpposition bleiben muss.
Natürlich tut es weh, dass wir eine gute Politik für Fami-lien machen
und die Eltern, wie eingangs erwähnt, primär selbst Ver-antwortung tragen lassen.Damit komme ich zu einem weiteren Erfolgsmodell.Sie sehen: Wir können gar nicht genug davon aufzählen.Meine Redezeit reicht gar nicht aus, um alle Erfolgs-modelle zu erwähnen.
Wir haben den Bundesfreiwilligendienst eingeführt.Ich bin Florian Toncar dankbar dafür, dass er ihn schonangesprochen hat. Dieser Bundesfreiwilligendienst warvon Ihnen schon totgesagt, bevor er begonnen hat.
Herr Wunderlich hat gefragt: Warum hören Sie nichtöfter auf die Opposition? Genau deswegen nicht, weilSie nicht wissen, wie es richtig funktioniert! JungeMenschen in diesem Land verschreiben sich freiwilligder guten Sache.
Im Moment engagieren sich 37 000 Freiwillige imBundesfreiwilligendienst. In einigen Regionen würdensich gerne noch viel mehr junge Leute engagieren. Unswird beim Bundesfreiwilligendienst also wirklich dieBude eingerannt.Ganz besonders wichtig ist mir auch, dass wir mit denüber 27-Jährigen eine ganz neue Zielgruppe erschlossenhaben. Diese stellen einen Anteil von knapp 40 Prozentder Freiwilligen. Rund 21 Prozent sind älter als 50 Jahre.Auch das ist wirklich positiv. Ich kann dazu nur sagen:Jawohl, hier ist gelebtes Engagement, gelebte Freiwillig-keit und gelebtes Bürgerengagement, das gar nicht hochgenug bewertet werden kann.Sie sehen also: Wir haben in allen Bereichen schonjetzt unsere Hausaufgaben gemacht, obwohl die Legis-laturperiode noch ein Jahr läuft. Wir werden unsereFamilienpolitik selbstverständlich mit dem gleichenEngagement und der gleichen Leidenschaft weiter-führen.
Meine Mutter hat heute nicht Geburtstag, aber derStaatssekretär hatte gestern Geburtstag. Deswegen andieser Stelle: Hermann Kues, meine Rede widme ich dir.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Bär, Gleichberechtigung und Gleichstel-lung bedeuten natürlich auch, dass eine Debatte auf Au-genhöhe geführt wird, und zur Debatte auf Augenhöhegehört auch, Kritik auf Augenhöhe äußern zu dürfen.
Wenn man sich den Einzelplan 17 anschaut, dann er-kennt man: Die Kollegen hier haben komplett recht. DieMinisterin hat wenig gesät, und deshalb ist die Ernteauch so dürftig. Das darf man hier auch einmal so sagen.
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25434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Ekin Deligöz
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Schauen Sie sich doch einfach einmal den BereichKitaausbau an. Warum kritisieren wir das so? Lange Zeitwurde hier nichts getan. Ich weiß von wirklich unzähli-gen Anträgen, Entwürfen und Debattenbeiträgen vonallen Fraktionen, in denen gesagt wurde: Sie kann danicht nur zuschauen. Der Rechtsanspruch kommt. Wirmüssen das ernst nehmen. – Bewegt hat sich aber nichts.Erst als Druck von den Eltern mit ihren Klagedrohun-gen, von den Kommunen, die gesagt haben: „Das kommtauf uns zu“, und von den Ländern, die gesagt haben: „Damuss etwas getan werden“, aufkam, gab es hier Bewe-gung – und auch das nur im kleinsten Stil.Wir haben noch immer keine Antwort darauf, was wireigentlich machen, wenn uns 220 000 Kitaplätze fehlen,und darauf, woher die Erzieherinnen und die Erzieherkommen sollen und wo wir sie ausbilden. Wir habenüberhaupt noch keine Antwort darauf,
wie wir sie für ihre Arbeit mit unseren Kindern jemalsbesser bezahlen können. Noch weniger Debatten gibt esdarüber – zumindest kenne ich aus Ihren Reihen,geschweige denn vom Ministerium, keine einzige De-batte darüber –, wie es eigentlich um die Qualität in denTagesstätten bestellt ist.Wo sind Ihre Antworten, wenn es um Bildung geht?Sie tun nichts und sitzen die Dinge aus. Das muss manhier auch einmal sagen.
Schauen Sie sich zum Beispiel Nordrhein-Westfalenan. Ihre Partei, die CDU, hat doch immer wiedergebremst. Jetzt stehen Sie da und sagen: Wir waren er-folgreich mit unserer Bremse. – Deshalb sind Sie hinten-dran. So funktioniert das nicht.
Entweder wir haben ein Ziel für die Kinder, dann müs-sen wir handeln, oder aber Sie lassen es sein. Das zeigenSie uns auch mit Ihrer Debatte über die Betreuung. Aberdann sagen Sie doch einmal ehrlich, was Sie eigentlichwollen.
Ich will Ihnen noch etwas sagen, Frau Ministerin, daSie das Betreuungsgeld als eine Falle für Frauen be-zeichnen. Herrgott, warum haben Sie es dann vertreten?Warum verteidigen Sie es noch immer? Dann könnenSie sich doch davon verabschieden. Das ist übrigensPolitik – für den Fall, dass es Ihnen noch niemand erklärthat. Politik hat auch dann Stellung zu beziehen, wenn esetwas schwieriger wird, und dann muss man das auchdurchhalten. Ich habe noch nie erlebt, dass Sie einmalStellung bezogen und das dann auch durchgehalten ha-ben. Das wünschte ich mir von einer Familienministerinfür alle Familien in diesem Land.
Vorhin wurde gesagt, bei Hartz IV machten Sie jetztBildungssparen. Ich bitte Sie: Warum schaffen Sie nichteinfach gute Bildungseinrichtungen für Kinder, statt aufBildungssparen zu setzen?
Sie verlangen von Menschen, die von Hartz IV leben,dass sie auch noch Geld zurücklegen sollen, das sie abernicht haben. Woher sollen sie es denn nehmen? Wienachhaltig ist das denn? Am Ende gewinnt immer dieBank. Das werden Sie erreichen, aber die Kinder bleibenauf der Strecke. Das können Sie drehen und wenden, wieSie wollen. Das funktioniert nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe gesternnoch etwas Furchtbares gehört. Ich habe einen Anrufvon einer Journalistin erhalten, die aus der Pressekonfe-renz der Ministerin gekommen ist. Dabei ging es umsexuellen Missbrauch. Sie sagte: Wissen Sie was, FrauDeligöz, ich bin verzweifelt. Ich sehe in diesen Ministe-rien die organisierte Nichtverantwortlichkeit. Alle ma-chen Pressekonferenzen, aber niemand hat eine Antwort.Was ist denn eigentlich mit der Lage der Opfer und derOpferentschädigung? Es geht hin und her. Keiner ver-handelt, keiner macht etwas, keiner tut etwas. Alle redendarüber, alle feiern sich. Aber niemand nimmt etwas indie Hand und bringt etwas voran. Die Opfer bleiben beider ganzen Geschichte auf der Strecke. – Die organi-sierte Nichtverantwortung prägt die Zeit, in der SieMinisterin waren, Frau Ministerin.
Sie werden als die Ministerin in die Geschichte einge-hen, die nie da war, weder im Parlament noch in denDebatten noch wenn es darum ging, Lösungen für dieProbleme der Familien zu finden. Das prägte die Zeit, alsSie Ministerin waren.
Das Wort hat nun Jörg von Polheim für die FDP-Frak-tion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegin, zum Thema Bildungssparen
kann ich nur sagen: Sie haben effektiv nicht verstanden,
was da gemacht wird.
– Doch, es ist sehr gut zu verstehen. Man muss nur lesen.
Wir beraten heute den Einzelplan 17. Hierzu ist schon
einiges gesagt worden. Ich muss erst einmal mein Er-
staunen ausdrücken angesichts der Vorschläge der Oppo-
sition, vor allem des Änderungsantrags der SPD-Frak-
tion. War es nicht Ihr Kanzlerkandidat, der dieser
schwarz-gelben Koalition in der Generalaussprache
mangelnden Sparwillen vorgeworfen hat? Weil Sie uns
ja immer vorwerfen, wir würden nicht genug für die
Menschen tun, also nach Ihren Vorstellungen nicht ge-
nug Geld ausgeben, wobei Sie im nächsten Atemzug
schon wieder kritisieren, dass wir nicht genug sparen
würden, habe ich mir einmal die Frage gestellt: Was ma-
chen Sie eigentlich, wenn Sie regieren?
Zwei Beispiele: Grün-Rot in Baden-Württemberg ist
mit vollmundigen Versprechungen gestartet. Im Bil-
dungsbereich sollte es Millioneninvestitionen geben.
Was ist davon geblieben? Sie haben die Verschuldung
des Landes nach oben geschraubt und streichen im
nächsten Jahr 11 600 Lehrerstellen. Das ist wohl die
neue grün-rote Bildungspolitik – gut zu wissen.
Oder schauen wir uns einmal die Jugendpolitik in
Hamburg an: Die SPD-Regierung reduziert den Ansatz
für die Jugendsozialarbeit um 3,5 Millionen Euro – auch
hochinteressant.
Im Gegensatz zur SPD haben wir keine neuen Ausga-
ben auf Pump finanziert. 2013 gibt der Bund weniger
Geld aus als zu Beginn dieser Legislaturperiode. Damit
sind wir die erste Regierung, die das in der Geschichte
dieses Landes überhaupt hinbekommt. Darauf können
wir stolz sein.
Damit schaffen wir die Perspektiven für einen strukturell
ausgeglichenen Haushalt 2014 und für mehr Generatio-
nengerechtigkeit. Das ist ein wichtiger Erfolg; denn nur
so erhalten wir auch in Zukunft Handlungsspielräume
für junge Menschen.
Trotzdem haben wir andere Aufgabenfelder nicht au-
ßer Acht gelassen. Zum Beispiel haben wir mit der Frei-
willigendienstreform das bürgerschaftliche Engagement
in unserem Land in historischem Maße vorangebracht.
Oder nehmen wir die Extremismusprävention. Es ist
schon abenteuerlich, wenn sich Politiker der Opposition
öffentlich hinstellen und behaupten, diese Koalition un-
ternähme nicht genug gegen den politischen Extremis-
mus. Wir haben die Mittel hierfür von 24 Millionen auf
29 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt. Damit gibt der
Bund heute fast dreimal so viel aus wie im Jahr 2005 un-
ter Rot-Grün.
Wir haben durch die Verlagerung von Verwaltungs-
aufgaben auf das Bundesamt für Familie und zivilgesell-
schaftliche Aufgaben zusätzlich 2 Millionen Euro für die
Programme ermöglicht. Wir haben mit dem neuen Pro-
gramm „Demokratie stärken“ die Perspektive erweitert
und auch den religiösen Extremismus ins Visier genom-
men. Angesichts mehrerer Übergriffe auf jüdische Mit-
menschen in den letzten Monaten war das eine voraus-
schauende Entscheidung.
Abschließend möchte ich auf etwas eingehen, was
mich während der ersten Beratung des Haushaltes im
September wirklich gestört hat. Es ist in Ordnung, wenn
man sich in der Sache hart und klar auseinandersetzt.
Aber unsachliche Vorwürfe, mit deren Hilfe die Realität
absichtlich verzerrt dargestellt wird, gehören nicht dazu.
Der Vorwurf, Union und FDP hätten die Jugendpolitik
vernachlässigt, ist genauso unsachlich wie falsch.
Sie ignorieren damit wissentlich und absichtlich eine
Menge Erfolge dieser Koalition, sei es die Stärkung des
Partizipationsgedankens im Kinder- und Jugendplan, die
Förderung der U-18-Wahl oder die von uns erreichte
Fortsetzung des Programms „Schulverweigerung – Die
2. Chance“. Das alles haben wir mit unserem Antrag zur
eigenständigen Jugendpolitik beschlossen.
Wenn all das für Sie, liebe Damen und Herren der Op-
position, nicht erwähnenswert ist, dann stellen Sie das
öffentlich klar. Sagen Sie doch, dass Sie die Mittel für
diese Programme kürzen wollen. Dann schenken Sie den
Menschen wenigstens reinen Wein ein. Aber hören Sie
mit der Schwarzmalerei auf. Diese dient nicht den Men-
schen, sie dient nur Ihren eigenen Zwecken, dem Wahl-
kampf. Aber da machen wir nicht mit.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Sönke Rix für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Zunächst einmal zu der Frage, ob man in solchen
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Sönke Rix
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Debatten etwas schärfer angreifen darf. Anscheinend hatdas, was wir gesagt haben, gesessen, Frau Bär; denn Kri-tik, die ankommt und vielleicht auch einmal wehtut, istvielleicht berechtigte Kritik. Wenn die Ministerin fürdiesen Haushalt nicht die Verantwortung übernehmenund sich vor Kritik wegducken will, dann tut sie mirwirklich sehr leid.
Wir haben heute schon öfter gehört: Das ist die besteRegierung seit 1990 oder sogar aller Zeiten.
Gerade eben haben wir sogar gehört, das sei die ersteRegierung seit langem, die keine neuen Schulden auf-nehme. – Das stimmt nicht: 17 Milliarden Euro neueSchulden werden gemacht. Aber gut, man kann aucheinmal mit Unwahrheiten hantieren, um sich zur bestenRegierung aller Zeiten zu machen. Damit sollten Sieaber vorsichtig sein, das werden die Wähler nicht hono-rieren.
Ein Erfolgsmodell jagt also das nächste. Da haben wirzum Beispiel die eigenständige Jugendpolitik. Da wurdeuns gerade – mein Vorredner hat es gesagt – klarge-macht: Natürlich ist man in der Jugendpolitik sehr aktiv.Die Ministerin hat dazu sehr wenig oder fast gar nichtsgesagt. Aber gut, wir nehmen einmal an, dass auch dieMinisterin weiß, dass sie für die Jugend zuständig ist.Gerade wurde die Förderung der U-18-Wahlen er-wähnt. Es ist interessant: Das sehen Sie also als gutesProjekt an, das halten Sie für eine gute Maßnahme. Dannziehen Sie doch einmal die richtigen Schlüsse aus die-sem Projekt, und führen Sie als Wahlalter 16 Jahre ein.Damit würden Sie eine konkrete Maßnahme umsetzen.
Das nächste Erfolgsmodell soll angeblich das Betreu-ungsgeld sein, auch wenn dazu von der FDP auffälliger-weise nicht intensiv Stellung bezogen worden ist. Na ja,man muss nicht jedes Erfolgsmodell mittragen. Aber Siewerden sich vorwerfen lassen müssen: Sie haben es mit-getragen. Sie haben mitgestimmt. Die Mehrheit IhrerFraktion war dafür. Sie haben dazu beigetragen, dass esjetzt tatsächlich kommen wird.Diesen Vorwurf müssen Sie sich immer wieder anhö-ren, auch wenn Sie sich lieber wegducken und zu demThema am liebsten nichts sagen würden. Es ist etwas an-deres, ob ein Gesetzentwurf noch geprüft wird oder obman mit den eigenen Stimmen dazu beiträgt, dass dieserEntwurf als Gesetz in Kraft tritt. Das haben Sie zu ver-antworten.
Jetzt wird immer darauf hingewiesen, es sei einschlechtes Argument, dass der BDA-Präsident dies alsschlecht für den Arbeitsmarkt bezeichnet hat. Mir ist esneu, dass Schwarz-Gelb selten auf den BDA-Präsidentenhört. Aber es gibt eine Vielzahl von Argumenten, die da-gegensprechen, und ein Argument ist das, was der BDA-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist für den Arbeitsmarkt kontra-produktiv. Das ist eines von vielen Argumenten, abernicht einmal dem hören Sie zu.
Andere Argumente wie die damit einhergehende Inte-grationsfeindlichkeit und Bildungsfeindlichkeit muss ichnicht noch einmal erwähnen.Aber es wird auch immer wieder von wirklicher undwahrer Wahlfreiheit gesprochen; Frau Bär hat das heuteauch wieder getan. Kein Mensch hat gesagt, wir brau-chen für 100 Prozent der Kinder Plätze. Für jedes Kindein Platz würde schließlich in der Konsequenz bedeuten:Wir wollen auch, dass unbedingt jedes Kind in eine Kitageht.
Wir sagen: Das entscheiden die Eltern selbst. Wir müs-sen aber den Eltern die Möglichkeit geben, dass genü-gend Plätze zur Verfügung stehen, damit sie wirklich dieWahlfreiheit haben. Das erreichen Sie aber nicht, wennSie so etwas Kontraproduktives einführen wie das Be-treuungsgeld. Das ist das Gegenteil von Wahlfreiheit,Frau Bär.
Die Kanzlerin hat in ihrer Rede zum Haushalt ganzbeiläufig erwähnt, dass man den Wehrdienst abgeschaffthat – auch wenn das wahrscheinlich eher eine Zufalls-entscheidung der schwarz-gelben Regierung war – unddass man den Bundesfreiwilligendienst eingeführt hat,der, so die Kanzlerin wortwörtlich, „seinesgleichen“sucht. Natürlich sucht er seinesgleichen, aber man hätteihn gar nicht einführen müssen;
denn es gab erfolgreiche Modelle von Freiwilligendiens-ten durch den Jugendfreiwilligendienst. Das hätten Siesich sparen können. Hätten Sie stattdessen Geld in er-folgreiche Projekte wie FSJ und FÖJ gesteckt, dann wä-ren wir alle zufrieden, und die Kanzlerin hätte wahr-scheinlich gar nicht sagen müssen, dass es ein Modellgibt, das seinesgleichen sucht.
Denn was Sie mit dem neuen Modell geschaffen ha-ben, sind Doppelstrukturen und Konkurrenz unter denModellen. Sie haben es geschafft, dass man innerhalb ei-ner Einrichtung für Freiwilligentätigkeiten unterschied-lich bezahlt wird bzw. unterschiedliches Taschengeldbekommt und dass es verschiedene rechtliche Rahmen-
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Sönke Rix
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bedingungen gibt. Das hätten Sie sich sparen können.Das hätten Sie nicht machen müssen, hätten Sie einfachFSJ und FÖJ gestärkt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend zurDebatte um die sogenannten Extremismusprogramme.Wir haben tatsächlich einstimmig einen überparteilichenAntrag beschlossen, in dem wir gesagt haben: Wir wol-len die demokratischen Gruppen stärken, die sich gegenRechtsextremismus engagieren. Ich habe dann zuerst ge-dacht: Wunderbar! Wir haben einen einstimmigen Be-schluss des Parlaments; jetzt wird die Regierung ja wohlhandeln.Der Innenminister hat in seinen Bereichen gehandelt,indem er mehr Geld für die Bekämpfung von Rechts-extremismus ausgibt, und er wird andere Strukturenschaffen. Ich habe mich darauf gefreut, dass sich wahr-scheinlich auch die Jugendministerin dazu äußern wirdund entsprechend handeln wird. Aber was ist passiert?Nichts. Gar nichts ist passiert. Es ist keine Erhöhung er-folgt. Es werden keine Grenzen abgebaut. An dieserStelle ist überhaupt nichts passiert. Dafür sollten Sie sichangesichts dieses einstimmigen Beschlusses des Parla-ments schämen, Frau Ministerin.
Wir haben nach wie vor die Extremismusklausel. Wirhaben nach wie vor Ungerechtigkeiten, was die Kofinan-zierung anbelangt. Wir haben nach wie vor eine Vermi-schung verschiedener angeblicher Extremismusformen,und wir haben nach wie vor keine kontinuierliche Finan-zierung, obwohl wir es eigentlich alle gemeinsam wol-len. Oder behaupten wir nur, dass wir es alle gemeinsamwollen?Jetzt hätten wir die Möglichkeit, in der namentlichenAbstimmung zumindest ein kleines Signal an die Ver-bände, Organisationen und Projekte zu senden, die sichgegen Rechtsextremismus engagieren. Es wäre ein klei-nes Signal, indem wir ihnen sagen: Ihr müsst euch biszum nächsten Haushaltsjahr keine Sorgen machen; wirschaffen eine Verpflichtungsermächtigung. Ihr bekommtweiter euer Geld für die guten Projekte gegen Rechts-extremismus. – Aber dafür sind Sie sich wohl zu schade.Warum machen Sie nicht mit, liebe Kolleginnen undKollegen?
Sie haben heute die Möglichkeit, dieses kleine Zei-chen zu setzen, statt nur dann ein paar Worte zu sagen,wenn man tatsächlich einmal aktuell darauf angespro-chen wird. Wenn Sie dieses Zeichen jetzt nicht setzen,dann werden wir spätestens nach der nächsten Wahl da-für sorgen, eine kontinuierliche Finanzierung hinzube-kommen, so wie wir auch versuchen werden, Ihre Fehlerauszubügeln. Das wird eine harte Arbeit, aber ichglaube, wir werden es auf jeden Fall besser machen.Danke schön.
Das Wort hat nun Erwin Rüddel für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ein-zelplan 17 macht deutlich, dass die christlich-liberaleKoalition auch vor dem Hintergrund von Schulden-bremse und Haushaltskonsolidierung nachhaltig in dieZukunft unserer Gesellschaft investiert. Familien undKinder, Frauen und Senioren können sich auf diese Ko-alition verlassen.
Wir fördern den gesellschaftlichen Wandel mit zukunfts-weisenden Projekten, von denen ich in der Kürze derZeit nur einige wichtige anführen kann.Dazu gehört das Elterngeld, mit dem Mütter und Vä-ter dabei unterstützt werden, Familie und Beruf partner-schaftlich zu gestalten. Dass sich immer mehr Väter– wir haben es heute lesen können – in den ersten Mona-ten um ihre Kinder kümmern, begrüßen wir ausdrück-lich. Übrigens fördern wir damit auch den frühen Wie-dereinstieg von Müttern in den Beruf.
Ich betone das deshalb, weil die Opposition in diesemHaus mit Vorliebe das Phantom des Heimchens am Herdbeschwört. Das Gegenteil ist richtig: Wir sorgen mit demElterngeld dafür, dass die Kindererziehung keineswegsden Abschied vom Beruf bedeutet; vielmehr habenFrauen die Chance, frühzeitig wieder in den Beruf einzu-steigen und sich eine eigene Altersversorgung aufzu-bauen.Zu unseren herausragenden familienpolitischen Leis-tungen gehören die Zuwendungen für die Kitas, die weitüber die ursprünglichen Zusagen des Bundes hinausge-hen: 4,6 Milliarden Euro für den Kitaausbau und ab2014 über 800 Millionen Euro jährlich für die Betriebs-kosten. Das sind enorme Summen. Ich wünsche mir nur,dass endlich das Gejammere und die falschen Schuldzu-weisungen einiger Bundesländer aufhören.
Aber das Thema Kitaausbau ist nur die Spitze desEisberges. Beim Engagement für die Familienhebam-men, für die Sprachförderung benachteiligter Kinder undfür ungewollt kinderlose Paare stehen wir vor derselbenSachlage. Der Bund hat die Initiative ergriffen und denLöwenanteil der Kosten übernommen. Das gilt für dieFamilienhebammen – Stichwort „Frühe Hilfen“ –, dasgilt für die Sprachförderung in 4 000 Kitas – Stichwort
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Erwin Rüddel
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„Frühe Chancen“ –, das gilt für die Bereitschaft desBundes, die Zuschüsse für Leistungen bei ungewollterKinderlosigkeit aufzustocken.Dagegen haben wir von manchen Landesregierungenhöchst fadenscheinige Argumente zu hören bekommen.In besonderer Weise hat sich hier Frau Dreyer aus Mainzhervorgetan. Wenn es allein nach ihr gegangen wäre,würde auch die Erfüllung des Kinderwunsches weiterentscheidend von den individuellen Vermögens- undEinkommenssituationen der betroffenen Paare abhängigsein. Was daran sozial sein soll, weiß ich nicht. Aberjetzt zahlen ja die Kassen. Auch so kann man sich ausder Verantwortung stehlen und aus der Affäre ziehen.Wir sind der Frau Ministerin Schröder besonders fürdas Projekt „Frühe Chancen“ dankbar, geht es doch da-rum, in einem schwierigen Umfeld möglichst schnell diedeutsche Sprache zu lernen. So bringen wir die Integra-tion voran und schaffen die Voraussetzungen für guteBildung und gute berufliche Chancen.Beleg für die erfolgreiche Arbeit der Ministerin ist inbesonderer Weise auch der Bundesfreiwilligendienst.Die Opposition hat dieses Projekt zu Unrecht in Zweifelgezogen und ist beeindruckend widerlegt worden; dennder Bundesfreiwilligendienst ist ein Erfolgsmodell, dasalle Erwartungen übertrifft.
Wir haben ebenfalls dank einer Initiative der Ministe-rin die Familienpflegezeit, mit der wir die Vereinbarkeitvon Pflege und Beruf erleichtern. Mit dem Gesetz wer-den wir sicherlich nicht alle Probleme lösen, aber es istein sehr wichtiger Schritt auf dem Weg, das großeThema der bedarfsgerechten Pflege in einer rasch altern-den Gesellschaft zu bewältigen.Ein weiteres Erfolgsmodell sind die Mehrgeneratio-nenhäuser. Sie stehen exemplarisch für die Förderung ei-nes bürgerschaftlichen Engagements, das alle Generatio-nen zusammenführt.Kurz vor dem Abschluss steht ein wichtiges frauen-politisches Projekt, nämlich das bundesweite Hilfetele-fon. Wir verbinden damit, auch mit Blick auf die Inte-gration, ein konkretes Ziel; denn das Hilfetelefon wirdgerade Frauen, die der deutschen Sprache vielleicht nurunvollkommen mächtig sind, Rat und Hilfe in ihrer Mut-tersprache bieten.
Nicht vergessen sollten wir die Finanzierung der bei-den Entschädigungsfonds für die Heimkinder West undOst in Höhe von 15 Milliarden Euro.Nicht vergessen sollten wir außerdem, dass wir dieKinderrechte gestärkt haben.
Abschließend noch ein Wort zum Betreuungsgeld;denn für die Opposition scheint es ja kaum ein wichtige-res Thema zu geben. Wir wollen Wahlfreiheit und Viel-falt. Deshalb bieten wir die unterschiedlichsten Instru-mente in der Familienförderung und alternative Anreizezur privaten Altersvorsorge und zum Bildungssparen an.Wir halten nichts davon, die Lebensentwürfe von Fami-lien polemisch oder gar diffamierend gegeneinander aus-zuspielen.
Wir betrachten es als Beleidigung für alle Mütter undVäter, wenn so getan wird, als bestünde die größte Ge-fahr für ein Kleinkind in Deutschland ausgerechnet da-rin, von den eigenen Eltern betreut zu werden.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-plan 17 in der Ausschussfassung. Hierzu liegen vier Än-derungsanträge vor.Wir beginnen mit dem Änderungsantrag der Fraktionder SPD auf Drucksache 17/11548, zu dem namentlicheAbstimmung verlangt wurde. Ich bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. –Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffnedie Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der Fall.Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zubeginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnenspäter bekannt gegeben.1)Wir setzen die Abstimmungen über weitere Ände-rungsanträge fort.Wir beginnen mit dem Änderungsantrag der SPD aufDrucksache 17/11549. Wer stimmt dafür? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Änderungsan-trag abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringendeFraktion, die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dage-gen haben CDU/CSU und FDP gestimmt.Wir kommen zu zwei Änderungsanträgen der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.Wir stimmen zunächst über den Antrag auf Drucksa-che 17/11550 ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist abge-lehnt bei Zustimmung durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Die SPD-Frak-tion hat sich enthalten. CDU/CSU und FDP haben ihnabgelehnt.Änderungsantrag auf Drucksache 17/11551. Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Änderungsantrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustim-1) Ergebnis Seite 25439 C
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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mung durch die Oppositionsfraktionen. Die Koalitions-fraktionen haben dagegen gestimmt.Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichenAbstimmung unterbreche ich jetzt die Sitzung.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 567. MitJa haben gestimmt 261, mit Nein haben gestimmt 306.Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 567;davonja: 261nein: 306JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisUllrich MeßmerFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulWaltraud Wolff
Dagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannCaren LaySabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzPaul Schäfer
Dr. Ilja SeifertRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine Zimmermann
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25440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczySylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthMonika LazarDr. Tobias LindnerJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerClaudia Roth
Manuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von Stetten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25441
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Dieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzLena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Sebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Dr. Martin Neumann
Dirk NiebelCornelia PieperGisela PiltzJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenDr. Florian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzel-plan 17 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist derEinzelplan 17 angenommen bei Zustimmung durch dieKoalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen habendagegen gestimmt.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte II a und II bauf:II a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über denUmfang der Personensorge bei einer Beschnei-dung des männlichen Kindes– Drucksache 17/11295 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Erste Beratung des von den AbgeordnetenMarlene Rupprecht , Katja Dörner,Diana Golze und weiteren Abgeordneten einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes über denUmfang der Personensorge und die Rechte desmännlichen Kindes bei einer Beschneidung– Drucksache 17/11430 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeFederführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Da-gegen erhebt sich kein Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache, wenn im Saal Ruheherrscht. Ich bitte diejenigen, die anderweitige Gesprä-che führen, diese entweder zu unterbrechen oder woan-dershin zu verlegen.Ich gebe das Wort der Bundesministerin der Justiz,Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es gibt auf der Welt kein Land, das die reli-giöse Beschneidung von Jungen generell unter Strafestellt. Dass sich Eltern straffrei für eine medizinischfachgerechte Beschneidung ihres Sohnes entscheidenkönnen, wurde bis vor kurzem auch in der Bundesrepu-blik Deutschland über Jahrzehnte hinweg nicht ernsthaftbezweifelt.
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25442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Im Mai dieses Jahres bewertete das Landgericht Kölneinen einzigen Fall anders. Erstmalig seit dem Bestehender Bundesrepublik hat damit ein deutsches Gericht dieinsbesondere von Juden und Muslimen praktizierteBeschneidung von Jungen rechtlich infrage gestellt. DasKölner Urteil hat über den Einzelfall hinaus zwar keineBindungswirkung. Dennoch führte es zu großer Verunsi-cherung – –
Frau Bundesministerin. – Ich bitte sehr um Ruhe. Wirführen hier eine wirklich ernsthafte Debatte. Ich finde,wenn Gespräche jenseits dessen, was hier diskutiertwird, geführt werden sollen, dann können sie woandersstattfinden, aber nicht hier im Saal. – So.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Das Kölner Urteil hat über den Einzelfall hinaus zwarkeinerlei Bindungswirkung. Dennoch führte es zu großerVerunsicherung bei Ärzten. Es wurden Strafanzeigengestellt. Juden und Muslime sehen sich in ihrer Reli-gionsausübung gefährdet. Mit dem heute zu beratendenGesetz wollen und müssen wir zu der Normalität zurück-kehren, die weltweit und bis zum Mai dieses Jahres auchin Deutschland als selbstverständlich galt. Eltern dürfeneiner fachgerechten Beschneidung ihres nicht einwilli-gungsfähigen Sohnes zustimmen, ohne den Staatsanwaltfürchten zu müssen.Das ist die weit überwiegende Auffassung diesesHauses, wie der fraktionsübergreifende Beschluss vom19. Juli 2012 gezeigt hat. Dies entspricht auch derVorgabe unseres Grundgesetzes. Das Grundgesetz legt inArt. 6 die Pflege und Erziehung der Kinder in die Händeder Eltern. Das Bundesverfassungsgericht betont, dassEltern – ich zitiere –grundsätzlich frei von staatlichem Einfluss nach ei-genen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sieihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen.Ziel, Inhalt und Methoden der elterlichen Erzie-hung liegen im Verantwortungsbereich der Eltern.Nicht der Staat, sondern die Eltern entscheiden also zu-allererst, was für ihre Kinder das Richtige ist. Der Staatmuss sich zurücknehmen. Er hat eine Reservefunktionund ist auf ein Wächteramt beschränkt.Grenzen des elterlichen Sorgerechtes können sich ausdem Recht des Kindes auf Persönlichkeitsentfaltungergeben, wie zum Beispiel im Fall der Verwahrlosung,wo der Staat einzuschreiten hat. Genauso gilt das für dasRecht des Kindes auf Achtung seiner körperlichenUnversehrtheit. Deshalb ist zum Beispiel eine Genital-verstümmelung von Mädchen wegen der dauerhaftenund schwerwiegenden physischen und psychischenBelastung ein auch mit der Personensorge nicht zu recht-fertigender Eingriff. Dies hat auch der Bundesgerichts-hof festgestellt.
Die männliche Beschneidung kann damit nichtgleichgesetzt werden. Deshalb umfasst die Personen-sorge auch die Zirkumzision, wenn sie die Regeln ärztli-cher Kunst, wie zum Beispiel Sterilität oder maximaleSchmerzlinderung, einhält. Eltern können eine Be-schneidung ihres Sohnes aus unterschiedlichen – nichtnur religiösen – Gründen für geboten halten. Solange dasKindeswohl damit nicht verletzt ist, hat der Staat keinRecht, in diese Auffassung der Eltern korrigierend ein-zugreifen.
Die Personensorge umfasst auch das Recht der Eltern,zu entscheiden, welcher Religionsgemeinschaft ihreKinder angehören sollen. Denn das Recht der Eltern um-fasst zusammen mit der von Art. 4 Grundgesetz ge-schützten Religionsfreiheit auch die Kindeserziehung inreligiöser und weltanschaulicher Sicht. Das Bundesver-fassungsgericht betont, dass – ich zitiere –die Eltern ihren Kindern diejenigen Überzeugungenin Glaubens- und Weltanschauungsfragen vermit-teln können, die sie für richtig halten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass jüdisches undmuslimisches Leben in Deutschland möglich sein muss,darin sind wir uns bestimmt einig.
Wie die Religion ausgeübt wird, ist nicht der Gestaltungdes Gesetzgebers unterworfen. Die weltanschaulicheNeutralität des Staates ist im Sinne einer kooperativenZuordnung zu verstehen, nicht negativ ausgrenzend. Einmoderner, pluralistischer Staat braucht auch die Glau-bens- und Religionsgemeinschaften als bedeutsame ge-sellschaftliche Akteure.Zur Glaubensfreiheit gehört … nicht nur die Frei-heit, einen Glauben zu haben, sondern auch dieFreiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungenzu leben und zu handeln.Der Schutz umfasst – so das Bundesverfassungsgericht –die Teilnahme an religiösen Handlungen,die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Aus-druck findet.Nach dem Selbstverständnis des Judentums ist dieBeschneidung des männlichen Kindes am achten Tagnach der Geburt zentraler Bestandteil der jüdischenIdentität. Im Islam gilt die Beschneidung bei Sunnitenund Schiiten als islamische Pflicht bzw. empfohleneTradition und gehört zu den Glaubensüberzeugungen derMuslime, auch bei den Aleviten.Die vorgesehene Regelung im Personensorgerecht derEltern im Bürgerlichen Gesetzbuch enthält jetzt dieVoraussetzungen, die die Zirkumzision rechtfertigen: dieVornahme nach den Regeln der ärztlichen Kunst undnatürlich nach umfangreicher Aufklärung der Eltern.Auch haben die Eltern wie bei allen Erziehungsentschei-dungen vorhandenen Kindeswillen in ihre Entscheidungmiteinzubeziehen. Wenn im Einzelfall das Kindeswohlgefährdet würde, ist selbstverständlich von der Be-schneidung abzusehen. Dies wird auch in die vorgese-hene Vorschrift ausdrücklich aufgenommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25443
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Der Gesetzentwurf enthält auch eine besondere Rege-lung für von einer Religionsgemeinschaft vorgesehenePersonen, die auch die erforderlichen Kenntnisse undeine Ausbildung für die Vornahme dieses Eingriffeshaben müssen.Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebniseines äußerst intensiven Austausches mit Vertretern derReligionsgemeinschaften, mit Medizinern, mit Rechts-wissenschaftlern, mit vielen zivilgesellschaftlichenGruppen und Experten in den letzten Wochen undMonaten. Auch wenn es Stimmen gibt, die dem Gesetz-entwurf kritisch gegenüberstehen, appelliere ich aus-drücklich an uns alle, mit großem Respekt und gegensei-tiger Toleranz dieses wichtige Thema zügig zu beraten.Wir brauchen Rechtssicherheit.
Die Bundesregierung bringt mit diesem Gesetzent-wurf auch zum Ausdruck, dass jüdisches und muslimi-sches Leben in Deutschland ausdrücklich erwünscht ist.Vielen Dank.
Der Kollege Burkhard Lischka hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich willnicht verhehlen: Die Debatte, die seit der Entscheidungdes Kölner Landgerichts zu religiös motivierten Be-schneidungen geführt wird, löst bei mir teilweise sehrzwiespältige Gefühle aus. Ich weiß: In dieser Debattekann kein noch so guter Gesetzentwurf rundum zufrie-denstellende Antworten geben, auch der heute vorlie-gende nicht. Es geht hier nämlich weniger um reinformaljuristische Fragen und Abwägungen; es geht hierum einen echten Wertekonflikt, einen Wertekonflikt, derzum Teil sehr grundsätzliche Fragen aufwirft, die sehrweit über das Thema Beschneidung hinausgehen.Da ist zum einen das Recht auf körperliche Unver-sehrtheit, das insbesondere auch für die Schützenswer-testen in unserer Gesellschaft, nämlich die Kinder, gilt.Dieser Schutz ist für unsere Rechtsordnung, für unsereVerfassung genauso elementar wie mancher Glaubensin-halt für eine Religion.Auf der anderen Seite wirft diese Debatte aber auchdie Frage auf, wie viel Toleranz und Freiräume wir unsin einer Gesellschaft, die weltoffen und plural sein will,gegenseitig zugestehen, wie viel Respekt die Mehrheitdieser Gesellschaft einer Minderheit entgegenbringt.„Respekt“ ist übrigens ein gutes Stichwort. Denn diesenRespekt habe ich bei der Debatte außerhalb dieses Hau-ses in den letzten Monaten leider manches Mal vermisst.
Die teilweise doch sehr aggressive Argumentation so-wohl aufseiten der Befürworter als auch aufseiten derGegner einer gesetzlichen Regelung hat mich manchesMal irritiert. Nein, egal welchen Standpunkt man in die-ser Debatte einnimmt: Es ist weder gerechtfertigt, demjeweils anderen Antisemitismus und Islamophobie inseiner Argumentation zu unterstellen, noch der anderenSeite vorzuwerfen, sie betreibe hier einen Ausverkaufder Kinderrechte zugunsten barbarischer Riten. Wir soll-ten es aushalten, uns gegenseitig zuzuhören bei diesemWertekonflikt. Eine Demokratie ist der beste Ort, einensolchen Konflikt sachlich und mit dem gebotenen Res-pekt zu diskutieren.
Aber am Ende all dieser Diskussionen muss eine Ent-scheidung stehen, wohl wissend, dass jeder Versuch,diese Werte mithilfe eines einzigen Paragrafen in einGleichgewicht zu bringen, unperfekt bleiben muss.Ich räume ein: Ja, die Beschneidung ist mir persönlichfremd, sehr fremd sogar. Sie entspricht nicht meinenVorstellungen, wie ich mit meinem Sohn umgehenmöchte. Aber will ich damit meinen jüdischen und mus-limischen Mitbürgern, will ich Eltern mit einem anderenGlauben absprechen, dass auch sie ihre Kinder lieben,nur weil sie eine Beschneidung vornehmen, die für ihrenGlauben identitätsstiftend ist? Nein, ich glaube, wederunsere muslimischen noch unsere jüdischen Mitbürgerbrauchen Nachhilfeunterricht in Sachen Kinderliebe undMenschenrechte.
Diesen Eindruck sollten wir in unserer Debatte hier un-bedingt vermeiden; denn das würde viel, unendlich vielPorzellan zerschlagen.Wir brauchen eine gesetzliche Regelung – das ist zu-mindest meine Überzeugung –, weil die Alternativewäre, alle Eltern, alle Ärzte und Rabbiner, die eine Be-schneidung vornehmen, mit Freiheitsstrafen und Geld-strafen zu belegen, gläubige Juden und Muslime zuRechtsbrechern und Straftätern zu erklären. Nein, es isteben nicht Aufgabe des Strafrechts, dass eine Mehrheits-gesellschaft einer Minderheit erklärt, ihr Glaube sei un-zureichend oder sogar mittelalterlich. Das Strafrecht istauch kein Instrument zur religiösen und kulturellen Be-lehrung und Bekehrung.Im Übrigen ist auch für mich undenkbar, dass wirausgerechnet in Deutschland als erstem Land weltweiteinen elementaren Teil jüdischen Glaubens unter Strafestellen und jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger mitstrafrechtlichen Mitteln nur deshalb verfolgen, weil sieeine Praxis ausüben, die für sie seit Jahrtausenden identi-tätsstiftend ist. Wir haben aufgrund unserer Geschichtedie dauerhafte Verpflichtung, gerade mit jüdischen Be-langen in unserem Land besonders sensibel umzugehen.Es wäre eine unentschuldbare Geschichtsvergessenheit,wenn wir diese Sensibilität in Zukunft nicht mehr auf-bringen würden.
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25444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Burkhard Lischka
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Das alles enthebt uns aber nicht der Verpflichtung,Regelungen zu finden, um Kinder vor unnötigenSchmerzen und unsachgemäßen Eingriffen zu schützen.Klar ist deshalb für mich, dass ein Eingriff medizinischfachgerecht durchgeführt werden muss, dass über Art,Umfang und Folgen des Eingriffs eine medizinischeAufklärung erfolgt, dass unnötige Schmerzen durch einelokale Betäubung vermieden werden und dass älterenJungen ein Vetorecht hinsichtlich einer Beschneidungeingeräumt wird.Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist eine guteDiskussionsgrundlage. Lassen Sie uns gemeinsam in denkommenden Tagen darüber beraten, ob und gegebenen-falls wie dieser noch verbessert und präzisiert werdenkann. Lassen Sie uns das ruhig, sachlich und vor allenDingen mit dem gebotenen Respekt tun.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Am Anfang meines heutigen Redebeitragessteht der Dank an das Bundesministerium der Justiz, andie Ministerin. Der Deutsche Bundestag hat auf Antragder Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD in diesemSommer mit einer sehr großen Mehrheit die Bundesre-gierung aufgefordert – ich zitiere das auszugsweise –,„unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschütz-ten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Un-versehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der El-tern auf Erziehung, einen Gesetzentwurf vorzulegen, dersicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Be-schneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzengrundsätzlich zulässig ist“. Dieser Bitte bzw. Aufforde-rung des Bundestages ist die Bundesregierung vollum-fänglich nachgekommen. Von daher bedanke ich michfür diesen wirklich gut ausgearbeiteten, hervorragendabgewogenen Entwurf. Ganz herzlichen Dank!
Ähnlich wie mein Vorredner habe auch ich sehr gro-ßes Verständnis, wenn die Praxis der Beschneidung inDeutschland von vielen als sehr fremd, ja, archaischwahrgenommen wird. Trotz dieses Gefühls, das viele beidiesem Thema überkommt – das ist festzuhalten –, müs-sen wir einigen Wahrheiten ins Auge sehen: Wir dürfendie Augen nicht davor verschließen, dass dies eine seitzumindest 6 000 Jahren geübte Praxis in mehreren Tei-len der Welt ist, dass 30 Prozent der männlichen Weltbe-völkerung beschnitten sind, dass die Beschneidung derJahr für Jahr weltweit am häufigsten vorgenommene chi-rurgische Eingriff ist, dass es kein Land auf der Weltgibt, in dem die Beschneidung von Jungen grundsätzlichverboten ist, und dass es zwei große Weltreligionen gibt– Moslems und Juden –, die die Beschneidung als einwichtiges, zum Teil sogar als ein die Mitgliedschaft be-gründendes Ritual ansehen. Die Angehörigen dieser Re-ligionen leben auch in unserem Land, und sie gehören zuuns.Ich will allerdings auch Folgendes sagen: Ich nehmegerne all die Kolleginnen und Kollegen, die sich bishernicht zu einer Unterstützung dieses Gesetzentwurfs ha-ben durchringen können, vor dem Vorwurf in Schutz,dass sie vorhätten, das Leben von Moslems und Juden inDeutschland unmöglich zu machen. Ich glaube, das istdas Anliegen von niemandem.
Fakt ist aber auch, dass dieses Leben sehr stark er-schwert würde, wenn wir die Beschneidung von Jungennicht rechtsklar regeln und für zulässig erklären würden.Genau das wollen diejenigen, die diesen Gesetzentwurfunterstützen, nicht. Meine Fraktion will das nicht. Des-halb werbe ich auch heute bei jedem Einzelnen in die-sem Haus um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf.
Ich will auch klarstellen: Dieser Gesetzentwurf istkeine Befürwortung inhaltlicher Art oder gar eine Wer-bung für die Praxis der Beschneidung. Schon im19. Jahrhundert gab es in Deutschland, etwa im Reform-judentum, kontroverse Debatten darüber, ob man die Be-schneidung durch symbolische Handlungen ersetzenkann. Ich persönlich würde es begrüßen, wenn diese Dis-kussion in den Religionsgemeinschaften und auch in derGesellschaft als solche weiter ernst und offen geführtwürde. Aber sie darf eben nicht unter dem Damokles-schwert einer Strafandrohung geführt werden.
In der Sache geht es bei diesem Gesetzentwurf umeine Grundrechtsabwägung zwischen dem Elternrechtund der Religionsfreiheit der Eltern einerseits und demPersönlichkeitsrecht, dem Recht auf Unversehrtheit undReligionsfreiheit des Kindes andererseits. In einem Ver-fassungsstaat kann ein Konflikt zwischen Grundrechtenaber nicht durch eine K.-o.-Entscheidung gelöst werden– einer muss dem anderen weichen –, sondern eben nurdurch eine Abwägung, wenn man so will, durch einepraktische Konkordanz. Die Religionsfreiheit darf auchaus Sicht des Kindes nicht primär als eine Freiheit vonReligion verstanden werden, sondern eben auch als eineFreiheit zur Religion.
Natürlich ist auch und gerade bei der Frage der Kna-benbeschneidung das Kindeswohl der entscheidendeMaßstab. Dieses Kindeswohl kann aber nicht isoliertvon der Vorstellung der Eltern definiert werden. Art. 6
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Dr. Günter Krings
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Abs. 2 unseres Grundgesetzes legt sehr klar offen – ichzitiere –:Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli-che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob-liegende Pflicht.Ich glaube, diese Lektüre rückt die Perspektive auch fürdie Politik zurecht. Hier geht es um ein natürlichesRecht. Das heißt, dass der Staat die Kinder nicht den El-tern anvertraut bzw. sie ihnen zeitweise zur Erziehungüberantwortet, um sie nach seinen, nach staatlichenMaßstäben zu erziehen. Kinder gehören vielmehr vonNatur aus zu ihren Eltern. Die Eltern wiederum habeneine korrespondierende Pflicht zu Pflege und Erziehung.Daher ist es für mich gar nicht anders vorstellbar, alsdass die Eltern im Rahmen ihrer primären Erziehungs-verantwortung einen Vertrauensvorschuss genießen, so-lange die Grenzen der Kindeswohlgefährdung nicht er-reicht sind.Natürlich gibt es klare Grenzen für die elterlicheSorge. Es gibt wichtige Beispiele im Familienrecht. Ent-scheidungen beispielsweise, die die ganze Lebensfüh-rung eines Kindes unwiderruflich determinieren, könnennatürlich nicht getroffen werden. Ein ganz extremes Bei-spiel ist § 1631 c, das Verbot der Sterilisation. Aber eineSterilisation beispielsweise ist in keiner Weise vergleich-bar mit einer Beschneidung; denn eine Beschneidung be-deutet ebenso wenig wie die christliche Taufe eine le-benslange Festlegung auf eine Religion oder auf einesoziale Gruppe. Zudem gibt es im Strafrecht die Grenzender Sittenwidrigkeit bei der Einwilligung. Auch dieseGrenze wird hier nicht erreicht; denn die Beschneidung,die seit Jahrtausenden in verschiedenen Religionen gän-gige Praxis ist und in nahezu allen Staaten anerkannt ist,kann man in Deutschland kaum mit dem Verdikt der Sit-tenwidrigkeit versehen.Wichtig ist ebenfalls, dass die Regelung im Familien-recht und nicht im Strafrecht verankert werden soll. Esgeht eben um mehr als um den bloßen Ausschluss vonStrafbarkeit. Während im Strafrecht nur verbotenes Tundefiniert wird, umschreibt das Familienrecht positiv dieReichweite der elterlichen Sorge. Hierhin gehört die Re-gelung auch.In allen Punkten des Regelungsinhalts ist klar ersicht-lich, dass exakte Grenzen gesetzt werden. Die Beschnei-dung wird aus der elterlichen Sorge heraus legitimiert.Aber sie ist an sehr klare Voraussetzungen geknüpft,nämlich zuerst an eine fachgerechte Durchführung nachden Regeln der ärztlichen Kunst, wie es im Gesetzent-wurf heißt. Diese ärztliche Kunst beinhaltet eine Aufklä-rung der Eltern über den Eingriff und seine Risiken, eineeffektive Schmerzbehandlung, eine schonende Durch-führung und eine dem Einzelfall angemessene Betäu-bung. Die Eltern dürfen selbstverständlich nur für Kin-der entscheiden, die selbst noch nicht einsichts- undurteilsfähig sind. Kann ein Junge seinen Willen bereitsselbst bilden, entscheidet er. Auch unterhalb derSchwelle einer wirklichen Urteilsfähigkeit im Rechts-sinne muss ein irgendwie zum Ausdruck gebrachter ent-gegenstehender Wille des Kindes ernst genommen wer-den. Der Eingriff muss in der Regel durch einen Arztund darf nur ausnahmsweise von fachkundigen Personenohne Medizinstudium, die eine besondere fachliche Aus-bildung, eine dem Arzt vergleichbare Befähigung haben,unter strengen Bedingungen vorgenommen werden.Das alles geht aus dem Gesetzestext und der Begrün-dung klar hervor. Wenn man den Gesetzestext und dieBegründung aufmerksam liest, dann wird einem klar,dass sich die Kernforderungen aller bisher vorliegendenÄnderungsanträge hier in wesentlichen Punkten wider-spiegeln. Damit können meines Erachtens manche Be-fürchtungen und Bedenken zumindest im Kern als erle-digt angesehen werden. Wichtig ist, dass derGesetzentwurf keine Beschränkung der Beschneidungauf religiöse Gründe vorsieht. Auch andere Gründe sindachtenswert. Ich möchte nicht, dass unser Staat in dieLage kommt, eine Art Glaubenskontrolle bei diesemEingriff vornehmen zu müssen.
Dieser Eingriff ist mit der Beschneidung von Jungen inkeiner Weise vergleichbar.Vor uns liegt ein ausgewogener Gesetzentwurf, derdie Beschneidung von Jungen unter klaren und strengenVoraussetzungen zulässt. Bei einer Praxis, die weltweitakzeptiert ist, muss man schon sehr gute Gründe haben,um sie ausgerechnet in Deutschland von der elterlichenSorge auszunehmen und im Ergebnis unter Strafe zustellen. Ich sehe solche guten Gründe nicht und werbesehr für die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.Vielen Dank.
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Raju Sharma hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt,wie bei vielen Fraktionen hier, auch in unserer Fraktionunterschiedliche Auffassungen zum Thema Beschnei-dung. In einer Sache sind wir uns einig – ich habe dieDebattenbeiträge so verstanden, dass das eigentlich fürdas ganze Haus gilt –, nämlich darin, dass wir das jüdi-sche und muslimische Leben in Deutschland schätzenund achten. Wir betrachten es als eine kulturelle Berei-cherung unserer Gesellschaft. Daran führt kein Wegvorbei.
Ich kann hinzufügen, dass ich kein Jude, kein Moslemund auch kein Christ bin; aber ich bin dankbar für jedenMenschen in Deutschland, der den Menschen nicht alsMittelpunkt des Universums betrachtet.Gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden in Schles-wig-Holstein habe ich dafür gekämpft, dass die Synago-gen in Kiel, Flensburg und Lübeck vor Übergriffen vonRechtsextremen bzw. Nazis geschützt und gesichert wer-den. Ich habe in Schleswig-Holstein zwischen denMoscheevereinen und den Anwohnern vermitteln dür-fen, als es darum ging, wie laut der Muezzin zum Gebetrufen darf. Ich durfte an den Freitagsgebeten in denMoscheen teilnehmen. An hohen jüdischen Festen durfteich teilnehmen und habe die Gastfreundschaft in Syna-gogen genossen. Die Gastfreundschaft meiner Gastgeberging so weit, dass sie Wert darauf gelegt haben, dass ichnicht nur koscheres, sondern auch vegetarisches Essenbekam. Ich weiß um die Toleranz und die Gastfreund-lichkeit von Juden und Muslimen, und ich weiß sie sehrzu schätzen.Als in diesem Sommer das Kölner Urteil kam, habenmich meine Freunde gefragt: Willst nicht auch du eineSolidaritätsadresse abgeben bzw. eine Erklärung, damitwir uns gegen dieses Urteil verwahren können? Ich binin mich gegangen, habe das Urteil studiert und mich mitÄrzten – Kinderärzten, Chirurgen, Anästhesisten undUrologen – beraten. Danach musste ich schwerenHerzens sagen: Nein, ich kann euch da leider nichtunterstützen, weil ich finde, dass das Urteil abgewogen,nachvollziehbar und in der Sache richtig ist.
Der Staat hat nicht die Aufgabe, die Religionsausübungzu gestalten und Vorgaben zu machen. Er hat aber dieAufgabe, Interessen abzuwägen und einen Rahmen vor-zugeben, in dem sich alle in dieser Gesellschaft bewegenmüssen. Wenn wir anfangen, Sonderrechte für diese oderfür jene Religionsgemeinschaft zu schaffen, sind wir aufeiner schiefen Bahn. Dann gibt es auch keine Unteil-barkeit von Menschenrechten bzw. von allen Rechten.Das aber ist genau das, was wir brauchen. Religionsfrei-heit ist wie jede Freiheit in einem demokratischen Staatnie grenzenlos. Sie findet ihre Schranken dort, wo dieRechte bzw. die schutzwürdigen Interessen anderer be-einträchtigt werden. Genau das ist hier der Fall. DasLandgericht Köln hat dies auch richtig festgestellt.Wir hätten eine ruhige, ausgewogene und sachlicheDebatte gebraucht mit einer Offenheit, wie sie zum Bei-spiel der Generalsekretär des Zentralrates der Juden inDeutschland, Stephan Kramer, an den Tag gelegt hat, alser sehr offen, ohne die Position seiner Religionsgemein-schaft aufzugeben, gesagt hat: Wir haben so vieles überBord geworfen, was in der Thora steht. Wir können undmüssen auch über diese Frage reden. – Vor allem dieReligionsgemeinschaften müssen darüber reden; aberauch der Staat muss seiner Aufgabe gerecht werden.Was hat der Staat gemacht? Ich hätte von der Bundes-kanzlerin, die ansonsten nicht für Hyperaktivität bekanntist, erwartet, dass sie hier mit ruhiger Hand versucht, zumäßigen, auszugleichen und die unterschiedlichen Inte-ressen darzulegen. Das hat sie nicht getan. Frau Merkelhat hier davor gewarnt, dass wir zu einer Komikernationwerden. Dazu sage ich: Die Komikernation Deutschlandhat vor 20 Jahren auch die UN-Kinderrechtskonventionunterzeichnet. Die Ratifizierungsurkunde zu dieser Kin-derrechtskonvention trägt die Unterschrift unserer Bun-deskanzlerin. Da frage ich mich natürlich auch – ichhätte gerne Frau Merkel gefragt, wenn sie denn hier ge-wesen wäre –, was ihre Unterschrift eigentlich wert ist.Hat das alles keine Bedeutung?
Die UN-Kinderrechtskonvention wird wie vieleGesetze, die wir hier im Bundestag beschlossen haben– allerdings nicht mehr einstimmig; oft war die CDU/CSU dagegen –, von dem Gedanken getragen, dass dieKinder nicht nur reine Erziehungsobjekte ihrer Eltern,sondern Träger eigener Rechte und zu schützen sind. Ichmöchte es mit den Worten des libanesischen Dichtersund Philosophen Khalil Gibran sagen: Unsere Kindergehören uns nicht. Sie sind die Söhne und Töchter derSehnsucht des Lebens nach sich selber.Diesen Gedanken haben wir mittlerweile in vielenRechtsordnungen verankert, auch im BGB. Die Kinder-rechte wurden im Laufe der Jahre gestärkt.Ich hätte mir gewünscht, die Bundesregierung wärebei ihrem Gesetzentwurf nach ruhiger Abwägung zu derAuffassung gekommen, dass wir auch die Kinderrechteschützen müssen. Das hat sie aber nicht gemacht. Siehaben die Regelung zwar richtigerweise im Rechtder Personensorge verankert – dort muss es geregeltwerden –, aber überhastet und leichtfertig. Sie habennicht ein Recht geschaffen, mit dem wir alle leben kön-nen und mit dem auch Kinderrechte geschützt werden.Sie haben übrigens auch nicht die Betroffenen gehört. Eswäre das Mindeste gewesen, diejenigen, die heute unterden Folgen einer Beschneidung leiden, in die sie als Kin-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25447
Raju Sharma
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der nicht einwilligen konnten oder durften, anzuhören.Das haben Sie nicht zugelassen.Uns liegt ein alternativer Gesetzentwurf vor. Ichdanke den Verantwortlichen aus der Kinderschutzkom-mission und den kinderschutzpolitischen Sprecherinnender Grünen, der Linken und der SPD, dass sie diesen Ge-setzentwurf eingebracht haben. Er ermöglicht es uns,nicht nur Nein zum Gesetzentwurf der Bundesregierungzu sagen; er bietet auch eine Alternative, zu der wir Jasagen können, weil hier sorgfältig abgewogen wird: dieReligionsfreiheit auf der einen Seite und die Kinder-rechte auf der anderen Seite. In diesem Gesetzentwurfsteht: Es ist keine Beschneidung zulässig bei einem Kindunter 14 Jahren. Der Betroffene muss selbst einwilligen.Die Beschneidung muss von einem Facharzt oder einerFachärztin vorgenommen werden, und das Kindeswohlmuss betrachtet werden. – Diese Abwägung brauchenwir, wenn wir zu einem sachgerechten Gesetzentwurfkommen wollen. Ich bin dankbar, dass es diesen Gesetz-entwurf gibt, und werbe nachhaltig dafür, dass wir unsdiesem Gesetzentwurf anschließen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Jerzy Montag hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Wollt ihr uns Juden noch?“ Mit diesem verzweifeltenZwischenruf hat die Grande Dame des deutschen Juden-tums, Charlotte Knobloch, auf die Beschneidungsdebattein Deutschland reagiert. Ihre bitteren Worte zeigen, wietief und essenziell diese Debatte und manchmal auch derin der Öffentlichkeit angeschlagene Tonfall die religiö-sen Minderheiten der Juden und der Muslime bewegen.Wir Abgeordnete sind diejenigen, die den Menschen mitGrenzen vorschreiben, was richtig und was falsch ist,was sie dürfen und was nicht. Wir entscheiden, waserlaubt ist und was verboten ist in Deutschland. Deshalbmüssen wir uns der Konsequenzen bewusst sein, dieaus unserem Handeln, aus unseren Entscheidungenerwachsen.An die Kolleginnen Marlene Rupprecht und KatjaDörner sowie die Unterstützer ihres Gesetzentwurfs ge-richtet, sage ich: Sie wollen festlegen, dass eine Einwilli-gung von Eltern zur Beschneidung ihres Sohnes vor dem14. Lebensjahr die den Eltern zustehende Personensorgenicht umfasst. Dies macht – Sie müssen sich dieser Kon-sequenz bewusst sein – alle diese Beschneidungen zuKörperverletzungen, die verfolgt und bestraft werden.Dies macht alle diese Eltern und auch die Ärzte undBeschneider zu Straftätern. Egal, wie man zur Beschnei-dung steht – mir ist sie auch fremd; auch ich lehne sieab –: Ich will über die betroffenen Eltern kein sozialethi-sches Unwerturteil fällen.
Ich will weder gegen die Eltern noch gegen die Ärzte mitdem Mittel des Strafrechts vorgehen.Nach Deutschland sind über Jahrzehnte hinwegMuslime eingewandert. Nach langen Jahren des Gastar-beiterstatus sehen wir alle die Notwendigkeit der Inte-gration dieser circa 4 Millionen Menschen in unsereGesellschaft. Ich habe in dieser Integrationsdebatte vonder CSU bis zu den Linken noch nie von jemandem dieAussage vernommen: Ihr seid in Deutschland willkom-men, ihr könnt und sollt in Deutschland leben, wirwollen euch als einen Teil von uns; aber ihr müsst eurenRitus der Beschneidung ablegen. Wenn ihr das nicht tut,wird der Staat euch deswegen verfolgen.Erinnern wir uns an die Worte, die wir bei jeder pas-senden Gelegenheit an Jüdinnen und Juden in Deutsch-land richten. Es ist ein Geschenk, für das wir uns zu be-danken haben, dass Juden wieder in Deutschland lebenwollen. Neue Synagogen werden eingeweiht, Rabbinerwerden in Deutschland wieder ausgebildet, jüdischeKindergärten und Schulen entstehen, und jedes Mal er-klären wir ihnen: Ihr seid willkommen. – Jetzt plötzlichsoll es heißen: Schön, dass ihr da seid. Schön, dass ihrKinder habt. Aber Hände weg von euren Söhnen!
Sonst schicken wir euch die Kripo, die Staatsanwalt-schaft und das Jugendamt ins Haus. – Das will ich nicht,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Keine muslimische Mutter, kein muslimischer Vater– für die Juden gilt das genauso – will die eigenen Söhnebeschneiden lassen, weil ihnen dies Schmerzen zufügt.Weder ist ihnen das Wohl ihrer Kinder egal, noch wollensie entgegen dem Wohl der Kinder handeln. Ganz imGegenteil: In ihrer Vorstellung, die wir nicht teilen müs-sen, wollen sie das Beste für ihre Söhne. Das hat dieMehrheitsgesellschaft in Deutschland jahrzehntelang ak-zeptiert. Jetzt plötzlich soll, jedenfalls nach dem Gesetz-entwurf der Kolleginnen und Kollegen, das Gegenteilrichtig sein. Ich sage noch einmal in vollem Ernst: DieVerfolgung, die Bestrafung, das Jugendamt im Hause,das alles erwächst als Konsequenz aus dem Gesetzent-wurf, der die Beschneidung männlicher Kinder als eineKindeswohlverletzung durch die eigenen Eltern zu einerStraftat werden lässt.Ich persönlich unterstütze den Gesetzentwurf derBundesregierung, den ich für richtig halte und zu demich lediglich zwei für mich wirklich wichtige Ände-rungsvorschläge habe. Mir ist es zu wenig, Herr KollegeKrings, dass in der Begründung steht, dass der kindlicheWille von den Eltern zu bedenken, aber nicht immer zubefolgen ist. Ich möchte gerne, dass das kindliche Vetoein Ausschlussgrund für eine Beschneidung des Kindesist. Ich möchte auch gerne, dass die Ausnahmevor-
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Jerzy Montag
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schrift, die wir für Nichtärzte installieren, auf das wirk-lich notwendige Mindestmaß, nämlich auf 14 Tage undnicht auf sechs Monate, verkürzt wird. Ich hoffe, dasswir in den Debatten, die wir in den nächsten Tagen füh-ren werden, zu einer guten Lösung kommen werden.Ich danke Ihnen.
Stephan Thomae hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! VerehrteKollegen! Meine Damen und Herren! Deutschland istein tolerantes Land. Von Zeit zu Zeit muss dieseToleranz Bewährungsproben bestehen. Das heutigeThema ist eine solche Prüfung, weil hier Grundrechtemiteinander konkurrieren. Deshalb verdient dieseDebatte Ernst, Sachlichkeit und Respekt vor anderenMeinungen als der eigenen.Bei Grundrechtskollisionen müssen immer Grund-rechte untereinander zum Ausgleich, in eine praktischeKonkordanz gebracht werden. Das eine Grundrechtmuss oft ein wenig zurücktreten, damit das andere nochwirken kann. Heute geht es um das Grundrecht aufkörperliche Unversehrtheit des Kindes aus Art. 2 Grund-gesetz, um das Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6Grundgesetz und um das Recht der Eltern und des Kin-des auf freie Religionsausübung aus Art. 4 Grundgesetz.Aus vielen Zuschriften, die uns alle in den letztenWochen und Monaten erreicht haben, spricht echteSorge um das Kindeswohl. Aus manchen spricht aberauch eine Religionsfeindlichkeit, die sich manchmalhinter einer vorgetäuschten Sorge um Kinder und einervorgetäuschten Aufgeklärtheit nur verbirgt.
Gewiss, für denjenigen, der für sich selbst vom Grund-recht auf Religionsfreiheit keinen Gebrauch macht, weiler nicht religiös ist, hat dieses Recht verständlicherweisekeinen hohen Rang. Er kann die Bedeutung, die diesesGrundrecht für andere Menschen hat, nur schwer nach-vollziehen. Objektiv hat dieses Recht aber für vieleMenschen eine hohe Bedeutung.In vielen Zuschriften sind wir aufgefordert worden,den demokratischen Mehrheitswillen der Bevölkerungnicht zu missachten und das Recht des Kindes auf kör-perliche Unversehrtheit über das Recht auf freie Reli-gionsausübung zu stellen. In dieser Logik stecken zweiPunkte, denen ich nicht zu folgen vermag:Erster Punkt. Es geht diesmal nicht um demokratischeMehrheitsentscheidungen; denn das Recht auf freie Reli-gionsausübung schützt gerade auch Minderheiten.
Insbesondere ist das Grundrecht auf freie Religions-ausübung kein Grundrecht zweiter Klasse; denn – damitkomme ich zum zweiten Punkt – unser Grundgesetzkennt keine Rangfolge von Grundrechten. Die Grund-rechtsdogmatik verlangt von uns, kollidierende Grund-rechte in einen solchen Ausgleich zu bringen, dass jedesRecht seine Wirkung behalten und entfalten kann.Es geht bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierungnicht darum, etwas bisher Verbotenes künftig zu erlau-ben, sondern es geht darum, etwas Sozialadäquates undin der Vergangenheit von unserer Rechtsordnung bisherimmer Akzeptiertes gesetzlich zu untermauern. Zugleichbehält der Regierungsentwurf das Kindeswohl im Auge,weil – erstmals – ausdrücklich verlangt wird, dass derEingriff nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu erfol-gen hat – wozu eine Schmerzbehandlung, eine Aufklä-rung und anderes gehören – und dass der Eingriff ab ei-nem gewissen Alter nur noch von einem Arztvorgenommen werden darf. Derartiges gab es bislangnicht. Damit gelingt es dem Regierungsentwurf, die kol-lidierenden Grundrechte in einen bestmöglichen Aus-gleich zu bringen.In vielen der Zuschriften, die wir erhalten haben, istversucht worden, die Beschneidung zu ironisieren odersie rhetorisch ad absurdum zu führen, indem sie mit ein-deutig nicht mehr sozialadäquaten Praktiken wie etwader Genitalverstümmelung von Mädchen in eins gesetztwurde. Es geht bei der Beschneidung aber nicht um ganzund gar abstruse oder menschenverachtende Praktiken,die einen Menschen erniedrigen oder bestrafen sollenoder bei denen ihm ein Leid oder ein Schaden zugefügtwerden soll, sondern es geht um kulturelle und religiöseRiten, mit denen Kinder Mitglieder einer anerkanntenGlaubensgemeinschaft werden. Das ist ein Unterschied.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michabschließend unmittelbar ein Wort an Menschen jüdi-schen und moslemischen Glaubens in Deutschland rich-ten: Viele von Ihnen haben auf die öffentliche Diskus-sion in unserem Land mit Unverständnis undnachvollziehbarer Empfindlichkeit reagiert. Ich kannnachvollziehen, was Sie in dieser Diskussion bewegt ha-ben muss. Einige von Ihnen haben an uns die Frage ge-richtet: Will man uns überhaupt noch in Deutschland?Ich möchte Ihnen stellvertretend antworten: Ja; Sie sindin Deutschland nicht nur geduldet, Sie sind in Deutsch-land erwünscht.
Dafür ist der Regierungsentwurf ein Beleg, und er isteine gute Beratungsgrundlage. Ich freue mich auf dieBeratung dieses Entwurfes.Vielen Dank.
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Marlene Rupprecht hat jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Sehr verehrte Gäste, die Sie heute von der Tribüne
aus hören, worüber wir debattieren! Ich kann Ihnen eines
versichern: Auch die, die den Alternativentwurf einge-
bracht haben, haben ihn mit großer Ernsthaftigkeit er-
stellt. Vorne auf dem Entwurf stehen die Namen derjeni-
gen aus drei Fraktionen, die seit Jahren für die Belange
von Kindern zuständig sind.
Wir haben es uns nicht leicht gemacht, sondern haben
abgewogen. Wir haben die Kinderrechte und das Kin-
deswohl in den Mittelpunkt gestellt;
denn jedes Kind hat ein Recht auf körperliche und seeli-
sche Unversehrtheit. Das war uns wichtig.
Darauf zu achten, dass Kinder ihre Rechte bekom-
men, ist die vornehme Pflicht und die große Verantwor-
tung der Eltern. Diese Verantwortung will ihnen niemand
hier in diesem Hause – das unterstelle ich gar nicht – neh-
men.
Es heißt dann weiter: „Über ihre Betätigung wacht die
staatliche Gemeinschaft.“ Das ist Art. 6 des Grundgeset-
zes. Sie wissen, dass ich das Grundgesetz immer bei mir
habe, weil ich nicht alle Artikel auswendig kenne. Die-
sen kenne ich aber; den habe ich mit der Muttermilch
aufgesogen. Das gilt genauso für die UN-Kinderrechts-
konvention.
Eltern haben das Recht, ihre Kinder zu erziehen, auch
religiös. Goethe sagte einmal: Eltern müssen ihren Kin-
dern Wurzeln und Flügel mitgeben, damit sie leben kön-
nen. – „Wurzeln mitgeben“ heißt, sie kulturell und reli-
giös oder auch nicht religiös zu verankern, jedenfalls mit
Werten auszustatten. Dieses Recht der Eltern endet aber
dann, wenn es mit dem Grundrecht des Kindes auf Un-
versehrtheit kollidiert.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lösekrug-Möller zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank. – Liebe Kollegin Rupprecht, ich weiß,
Sie sind Mitglied in der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarats, und hier ist mehrfach angesprochen
worden, dass wir uns zu Recht sehr sorgfältig auf eine
Gesetzgebung vorbereiten. Ich denke, dass Sie das
Thema Kinderschutz auch im Europarat vertreten.
Deshalb möchte ich einfach wissen – das ist wichtig
für unsere Beratung –, wie es in anderen europäischen
Staaten aussieht. Wird dort eine ähnliche Auseinander-
setzung geführt wie hier, und gibt es dort Lösungsvor-
schläge, die möglicherweise denen entsprechen, die wir
hier im Hause haben? Das könnte ja in der gemeinsamen
Beratung helfen.
Vielen Dank. – Ja, dort gibt es ähnliche Diskussionen.Im April dieses Jahres bin ich von der ParlamentarischenVersammlung des Europarats einstimmig als Generalbe-richterstatterin für die Belange von Kindern eingesetztworden. Ich habe den Auftrag, auf die Kinderrechte hin-zuweisen und darauf hinzuarbeiten, dass sie in den47 Mitgliedstaaten gewahrt und umgesetzt werden.Am Montag hatten wir eine Sitzung des Sozialaus-schusses. Dort ging es um einen großen Bericht überkörperliche Unversehrtheit, für den ich als Berichterstat-terin benannt wurde. Die Beschneidung ist dabei einThema, aber es geht noch viel weiter. Dort geht es auchum Intersexualität, Schönheitsoperationen und um dieFrage, was Eltern an ihren Kindern vornehmen lassendürfen.Das ist europa- und weltweit ein Thema, und zwarnicht erst seit dem Urteil in Deutschland. Dieses Urteilhat das Thema vielleicht nur noch mehr an die Öffent-lichkeit gespült. Viele Organisationen beschäftigen sichschon seit Jahren damit – übrigens auch in Deutschland.Die Kinderärzte haben schon vor Jahren Stellungnahmendarüber verlangt, wie sie mit der Thematik umgehen sol-len, und sie von Strafrechtlern und Verfassungsrechtlernauch bekommen. Ich denke, das ist kein neues Thema.Es kam nicht erst durch das Urteil auf, sondern wurdedadurch nur mehr an die Oberfläche gespült.Das vielleicht noch zur Ergänzung: Für uns im Parla-ment ist das Thema neu. Es hätte uns gut angestanden,uns viel Zeit zu lassen, um zu lernen und mit all denGruppen zu reden, die es betrifft,
weil Veränderungen wehtun. Sie sind schmerzhaft, undman muss sich auf den Weg machen. Dazu braucht manZeit. Ich hätte mir gewünscht, dass wir hier so souveränsind, uns diese Zeit zuzugestehen.
Unser Gesetzentwurf, den wir als Alternative vorle-gen, stellt klar, dass die Einwilligungs- und Einsichtsfä-
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Marlene Rupprecht
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higkeit des Kindes Voraussetzung für einen solch massi-ven und vor allem irreversiblen Eingriff in den Körperdes Kindes ohne medizinische Notwendigkeit sein muss.Da aber der Gesetzgeber nicht jedes Kind individuell da-rauf prüfen kann, ab wann es einwilligungs- und ein-sichtsfähig ist, generalisiert er und setzt Altersgrenzenfest.Die Altersgrenze von 14 Jahren spielt ja auch schonbei der Religionsmündigkeit, der Teilgeschäftsfähigkeitusw. eine Rolle. Wir gehen davon aus, dass man mit14 Jahren schon sehr genau weiß, ob man in seinenKörper eingreifen lassen will oder nicht. Deshalb habenwir das Alter von 14 Jahren festgelegt.Die Beschneidung des männlichen Kindes hat weit-reichende Folgen. Deshalb darf der Eingriff nur nachheutigem medizinischem Standard erfolgen. So ist unserGesetzentwurf ausgelegt. Das heißt, er darf nur von Me-dizinern durchgeführt werden, die in der Kinderchirurgieoder Urologie ausgebildet sind.Wie kommen wir zu dieser Auffassung? Ich glaube,hier unterscheiden wir uns gravierend. Die Regierunggeht in ihrem Entwurf davon aus, dass dies ein minima-ler Eingriff in den Körper des Kindes ist und dass des-halb die Eltern aufgrund ihrer elterlichen Sorge darüberentscheiden dürfen. Wir sagen: Es ist ein sehr massiverEingriff. Auch er unterliegt der Sorge. Wir wollen diesden Eltern nicht nehmen. Aber er ist so gravierend, dasser weitreichende, in ein Erwachsenenleben hineinrei-chende Folgen hat. Deshalb muss das Kind mit einbezo-gen werden.
Wir haben aus 30 Jahren medizinischer EntwicklungErfahrungen gesammelt. Denken Sie einmal zurück:1987 hat man neugeborene Kinder ohne Narkose ope-riert, weil man glaubte, sie hätten kein Schmerzempfin-den. Das sind Erkenntnisse, die wir doch nicht ignorie-ren dürfen, wenn wir hier Entscheidungen treffen. Wirwissen heute, dass sich Schmerzen im Gehirn niederle-gen, dass sie ein Leben lang dort verankert sind. Daswollen wir nicht außer Acht lassen. Manches muss ein-fach neu gelernt werden.Im Rechtsbereich ist es ähnlich. Erinnern wir uns ein-mal daran, dass im Jahr 2000 die gewaltfreie Erziehungim BGB niedergelegt wurde. Hier im Haus ist der Unter-gang des Abendlandes beschworen worden, als wir diesdurchsetzten.1989 ist die UN-Kinderrechtskonvention verabschie-det worden – wir haben sie ratifiziert, und 2010 sindauch die Vorbehalte zurückgenommen worden –, in derdie Rechte der Kinder verankert sind.1968 hat das Bundesverfassungsgericht festgelegtund eindeutig festgestellt: Kinder sind Grundrechtsträgerund damit Rechtssubjekte. Auch das dürfen wir dochnicht ignorieren.
Ich bedauere es wirklich, dass wir durch den Antragvom Sommer so massiv unter Zeitdruck geraten sind.Wir haben uns bei der Verankerung der gewaltfreien Er-ziehung im BGB Zeit gelassen, um mit den Menschen zureden und sie nicht zu kriminalisieren. Jerzy Montag, wirbeide sind in der Parlamentarischen Versammlung desEuroparats. Wir haben dort Kämpfe für Menschenrechtegefochten, auch für Kinderrechte. Das, was gerade ge-laufen ist, war nicht ganz fair. Wir wollen niemandenkriminalisieren, weder Eltern noch Ärzte.
Wir wollen, dass Eltern die Entscheidung treffen kön-nen. Aber wir wollen, dass sie aufgeklärt sind, bevor sieihr Kind beschneiden lassen, damit sie wissen, welcheFolgen dies für ihr Kind hat.
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Montag
zulassen?
Ja.
Bitte.
Liebe Marlene, ich danke dir dafür, dass du darauf
aufmerksam machst, dass wir beide in der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarats sind und dass wir
dort Schulter an Schulter gegen so manche stehen, die
von Menschenrechten wenig verstehen und sie oft mit
Füßen treten.
Ich habe dir persönlich und auch allen anderen Kolle-
ginnen und Kollegen, die diesen Gesetzentwurf von
euch unterschrieben haben, nicht vorgeworfen, dass ihr
Leute kriminalisieren wollt, dass ihr die Eltern und die
Ärzte kriminalisieren wollt. Ich habe lediglich darauf
aufmerksam gemacht, dass das die logische Konsequenz
eures Gesetzes ist.
Ich habe an euch appelliert, dass ihr euch diese Konse-
quenz vor Augen haltet.
Ja.
Ihr formuliert kein Strafrecht.
Nein.
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Ihr formuliert ausschließlich eine Tatsache. Ihr sagt:
Die Eltern dürfen zu einer solchen Beschneidung keine
Einwilligung erteilen. Das heißt aber – das ist die logi-
sche Folge; das kann gar nicht anders sein –: Wenn euer
Vorschlag Gesetz wird, begehen Eltern, die die Be-
schneidung durchführen lassen, obwohl ihr Kind noch
nicht 14 Jahre alt ist, eine Straftat und sehen sich der
Strafverfolgung ausgesetzt, im Übrigen auch einer Nach-
schau durch das Jugendamt im präventiven Bereich.
Ich habe lediglich – dazu stehe ich – auf die Konse-
quenzen und Folgen eures Vorschlags aufmerksam ge-
macht.
Frau Rupprecht, die Antwort auf diese Zwischenfrage
wäre mit dem Ende Ihrer Redezeit verbunden.
Ja. – Wir wollen nicht, dass Eltern vor den Kadi ge-
stellt werden. Wir alle wären bereit gewesen, ein zwei-
jähriges Moratorium mitzutragen, in dem wir Straffrei-
heit zusichern. Dann wären alle, die unterschrieben
haben, dabei gewesen.
Wir werden aber jetzt gezwungen, uns zu entschei-
den. Da haben wir abgewogen zwischen dem Leid der
Eltern, zwischen Tradition und Religion, die sie vertre-
ten, und dem Recht und dem Leid des Kindes, beschnit-
ten zu werden. Es ist nun einmal ein körperliches Leid,
wenn ich die Erkenntnisse der modernen Medizin, Psy-
chologie und Hirnforschung ernst nehme.
Deshalb kann ich da nicht mitmachen. Wir leben im
Jahrhundert des Kindes. Deshalb brauchen wir die Auf-
nahme von Kinderrechten in die Verfassung, wo eindeu-
tig ablesbar ist, dass Kinder gleichrangig auch mit all
den Menschen sind, die nicht nur 5 Pfund, sondern
50 Pfund oder 100 Pfund wiegen. Es kommt nicht aufs
Körpergewicht oder Alter an. Auch ein kleines Kind ist
ein Mensch mit gleichen Rechten – von Geburt an. Für
dieses Recht kämpfen wir, die wir hier unterzeichnet
haben.
Danke.
Die Bundesministerin Kristina Schröder hat das Wort.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die religiöse Beschneidung von Jungen im Judentumund im Islam musste sich nach dem Urteil des Landge-richts Köln in Deutschland erstmals einem breitenöffentlichen Diskurs stellen. Eine weit zurückreichende,historische, kulturelle und religiöse Tradition, die bisherganz selbstverständlich praktiziert wurde, musste sichdie Frage gefallen lassen, ob sie im Widerspruch zu ei-nem fundamentalen Grundrecht steht: dem Recht desKindes auf körperliche Unversehrtheit.Umgekehrt musste sich unsere säkulare Gesellschaftdie Frage gläubiger Eltern gefallen lassen, welcheBedeutung die ebenfalls grundgesetzlich verbriefteReligionsfreiheit und das Elternrecht haben, wenn dieAusübung eines Jahrtausende alten religiösen Brauchsunter Strafe gestellt wird.Nicht zuletzt steht die Frage im Raum, ob wir es wirk-lich verantworten wollen, dass gläubige Menschen unssagen, dass ohne das Recht auf Beschneidung für sie jü-disches und muslimisches Leben in Deutschland nichtmehr möglich ist.Diesen Konflikt zwischen unterschiedlichen Grund-rechten können und wollen wir zum einen juristischklären, indem wir – das ist der Auftrag heute – einenstaatlichen Rahmen schaffen, in dem Beschneidungenvon Jungen möglich sind. Damit können wir Rechtsfrie-den schaffen. Diesem Auftrag kommen Bundesregierungund Parlament mit dem vorliegenden Gesetzentwurfnach, und zwar, wie ich denke, in guter und ausgewoge-ner Weise.Das ist aber nur ein Teil der Aufgabe, vor der wir ste-hen. Der andere Teil ist die gesellschaftspolitischeDebatte, eine Debatte, die über die Frage der Beschnei-dung weit hinausweist. Es geht um eine Verhältnisbe-stimmung, um das Verhältnis zwischen den Rechten desKindes und dem Recht der Eltern und ebenso zwischenReligionsfreiheit und anderen grundgesetzlich garantier-ten Rechten.Mir persönlich – das gebe ich offen zu – ist dieseschwierige Abwägung nicht leicht gefallen. Als Kinder-und Jugendministerin, aber auch als Mutter eines kleinenKindes, tue ich mich schwer damit, zu akzeptieren, dassmännliche Säuglinge oder kleine Jungen als Zeichen derZugehörigkeit zu einer Religion einen keinesfalls harm-losen Eingriff über sich ergehen lassen müssen. Umge-kehrt möchte ich natürlich wie wir alle, dass Juden undMuslime in Deutschland weiterhin ihren Glauben lebenkönnen.Deshalb finde ich es wichtig, dass wir heute auch fürgegenseitiges Verständnis in dieser manchmal sehr emo-tional geführten Debatte über religiöse Beschneidungwerben. Niemand sollte den Befürwortern religiöserBeschneidung unterstellen, das Kindeswohl gering zuschätzen. Umgekehrt sollte niemand das Argument desKindeswohls abtun als Ausdruck eines religionsfeindli-chen Zeitgeistes. Vor allem sollten wir nicht zulassen,dass diese Debatte genutzt wird, um antisemitische undislamfeindliche Ressentiments zu pflegen.Wenn Sie die Debatte hierüber im Internet verfolgthaben – Sie alle haben sicherlich auch Briefe bekom-men –, dann ist für Sie offenkundig: Es gab in dieserDebatte glasklaren Antisemitismus, und es gab antimus-
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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limische Ressentiments. – Das ist beschämend. Deshalbbin ich sehr froh, dass wir hier in diesem Haus dieDebatte anders geführt haben und anders führen unddass wir uns vollkommen einig sind: Juden und Muslimegehören zu unserem Land. Sie sind Teil unserer Gesell-schaft. Wer glaubt, diese Debatte nutzen zu können, umgegen Juden und Muslime zu hetzen, stellt sich damitselbst ins Abseits und wird auf Widerspruch und Wider-stand der breiten Mehrheit in unserer Gesellschaftstoßen.
Wichtig ist mir aber auch: Diejenigen, die wirklichgewichtige Argumente gegen das Recht auf Beschnei-dung anführen und deren Argumentation nichts, aberauch gar nichts mit Antisemitismus oder mit antimusli-mischen Ressentiments zu tun hat, müssen gegenVorwürfe in Schutz genommen werden. Hinterfragen,Kritik und Diskussion sind demokratische Errungen-schaften, und auch religiöse Traditionen dürfen kritischhinterfragt werden.Es gibt auch viele Juden und Muslime, die dieBeschneidung selbst kritisch hinterfragen. StephanKramer zum Beispiel, Generalsekretär des Zentralratesder Juden in Deutschland, hat dazu kürzlich in einem In-terview sehr differenziert Stellung bezogen. Er sagte, andie jüdische Gemeinde gerichtet:Wir müssen begründen, wie wir rechtfertigen, dassdie körperliche Züchtigung eines Kindes – zuRecht – verboten ist, aber ihm ein Stück von derVorhaut abzuschneiden soll in Ordnung sein.Auch innerhalb der Religionsgemeinschaften gibt esalso ein Bewusstsein dafür, dass Religion offen seinmuss für Verständigung und für Veränderung.Verständigung setzt Verständnis voraus. Verständnishaben sollten wir dafür, dass viele jüdische und muslimi-sche Gläubige das Urteil des Landgerichts Köln als exis-tenzielle Bedrohung empfinden. Ich bin dankbar für dieGespräche, die ich unter anderem mit dem Generalsekre-tär des Zentralrats der Juden oder auch mit dem Oberra-biner Israels darüber geführt habe. Es war für michwichtig, nachvollziehen zu können, warum Beschnei-dung religiös konstitutiv ist und warum erst die Be-schneidung Zugehörigkeit verwirklicht. Denn wir sinddoch verpflichtet, die Bedeutung und damit das Motivreligiöser Beschneidungen zu verstehen, um uns einsachgerechtes Urteil bilden zu können.Für Juden besiegelt die rituelle Beschneidung am ach-ten Tag nach der Geburt körperlich sichtbar den Bundmit Gott. Es ist die traditionelle Form, jüdisch zu wer-den. Deshalb betrachten die meisten Juden es als einemoralische Verpflichtung, ihre Söhne beschneiden zulassen. Es gehört zu ihrer Vorstellung von einem gutenLeben. Für sie verwirklicht sich gerade darin auch dasKindeswohl. Das verdient, auch wenn man andererAuffassung ist, zumindest Respekt in der Auseinander-setzung.Unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, ist des-wegen nicht mehr und nicht weniger, als uns zu verstän-digen und damit in diesem Konflikt eine Kluft zu über-brücken, die nicht verschwinden wird.Es gehört zu den Merkmalen einer pluralistischen Ge-sellschaft, dass es weltanschauliche Unterschiede gibt,die sich nicht auflösen lassen. Dazu gehört zweifellosdie Frage, ob die religiöse Beschneidung des männlichenKindes notwendig ist oder nicht. Das ist eine Frage, diewir nicht politisch entscheiden können, sondern die dieReligionsgemeinschaften für sich klären müssen.Unsere politische Aufgabe besteht darin, uns darüberzu verständigen, unter welchen Rahmenbedingungeneine säkulare Gesellschaft Beschneidungen dulden kann.Das leistet der vorliegende Gesetzentwurf. Er trägt zurVerständigung bei. Er sagt zum einen klar Ja zu jüdi-schem und muslimischem Leben in Deutschland. Er sagtzum anderen aber auch: Zum Wohle des Kindes müssenbei einer religiösen Beschneidung bestimmte Bedingun-gen erfüllt sein; sie wurden eben bereits vorgetragen.Ich halte den Gesetzentwurf der Bundesregierung fürausgewogen und angemessen.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Christine Buchholz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichspreche hier für den Teil meiner Fraktion, der im Grund-satz den Gesetzentwurf der Bundesregierung unterstützt.Ich sage „im Grundsatz“, weil ich vor dem Kölner Urteilnicht der Meinung war, dass ein Gesetz zur Regelung derreligiös motivierten Beschneidung in Deutschland nötigist. Aber das Kölner Urteil war ein Schock für die über-große Mehrheit der Juden und Muslime in Deutschland.Es hat eine Situation geschaffen, in der ein Ritus, der fürdie Mehrheit der Juden und Muslime zentrale Bedeutunghat, kriminalisiert wird und bereits beschnittene Jungenund Männer als andersartig und nicht zur Gesellschaftdazugehörig stigmatisiert werden.Ich glaube, vor zehn Jahren wäre ein solches Urteilnicht möglich gewesen. Ich kann es mir nicht anders er-klären: Es steht im Zusammenhang mit steigendemantimuslimischen Rassismus und einer in diesem Landimmer noch weitverbreiteten antisemitischen Haltung.Vor wenigen Wochen haben wir hier den Antisemitis-musbericht diskutiert. Daher war es absolut richtig, dassdie Regierung die Initiative ergriffen hat, eine Lösung zusuchen, die den Kindern und Eltern hilft, die niemandenan den Pranger stellt und keine weiteren Ressentimentsschürt.In der teilweise sehr emotional geführten öffentlichenDebatte wird die Beschneidung mit der Verstümmelungweiblicher Genitalien gleichgesetzt oder in einem Atem-
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Christine Buchholz
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zug mit Körperverletzung, Gewalt und Misshandlunggenannt. Damit wird Vorurteilen Vorschub geleistet. Dasist nicht die Intention vieler Befürworter der Einschrän-kung des Rechts auf Beschneidung, aber es ist leider dieWirkung. Damit müssen sie sich auseinandersetzen.Ich halte es auch für in der Sache nicht gerechtfertigt;denn auch medizinische Fachmeinungen haben immereinen Bezug zu der Gesellschaft, in der sie entstehen,und sind keine universellen Urteile. Im Gesetzentwurfder familienpolitischen Sprecherinnen der Oppositions-fraktionen selbst wird auf die „weltweit unterschiedli-chen Fachmeinungen und -empfehlungen“ in Bezug aufdie Beschneidung hingewiesen. Sie könne, so ist zu le-sen, durchaus „Ausdruck von im Interesse des Kindesgelebter Elternverantwortung“ sein. Es heißt: Aus derSicht von deutschen Ärzten ist eine medizinisch nichtnotwendige Beschneidung nicht ratsam.Meine Damen und Herren, ich halte es für unzulässig,den Juden und Muslimen in Deutschland die christlichgeprägte Sichtweise eines Teils der medizinischen Zunftzum Maßstab zu machen. Das ist nicht mein Verständniseiner lebendigen, toleranten, multikulturellen und multi-religiösen Gesellschaft.Es wurde hier von der Kinderrechtskonvention ge-sprochen. Ich möchte auf den Art. 14 hinweisen, der dieGedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit beinhaltetund in dem ganz klar formuliert ist, dass Gedanken-, Ge-wissens- und Religionsfreiheit auch Teil dieser Konven-tion sind und dass das Kind bei der Ausübung diesesRechts in einer seiner Entwicklung entsprechendenWeise zu leiten ist. Daher denke ich, dass die Beschnei-dung nicht im Widerspruch zur Kinderrechtskonventionsteht.
Manche setzen das Bekenntnis zur Religionsfreiheitmit Freiheit von Religiosität gleich. Ich als Nichtjuristinmöchte den Blick auf die Rolle zweier Juristen richten,die gewissermaßen Stichwortgeber des Kölner Urteilssind, auf den Strafrechtler Holm Putzke, der zufriedenerklärt, mit dem Kölner Urteil sei nun mittel- und lang-fristig das Ende der religiösen Beschneidung eingeleitet,und auf seinen Doktorvater, Rolf Dietrich Herzberg, dererklärt, schließlich habe man ja auch die Praxis der Kast-ration im Morgen- wie im Abendland überwunden.Wer die theologische Bedeutung der Beschneidung,die im Judentum das Schließen des Bundes mit Gott ist,mit der historischen Praxis der Kastration gleichsetzt, istnicht nur ignorant gegenüber den Gläubigen; er haut indie Kerbe des alten christlichen antijüdischen Klischees,das in dem geistigen Bund mit Gott eine Erhebung überdie angeblich barbarische Praxis des Judentums sieht.Das dürfen wir nicht zulassen.
Eine Änderung der Religionspraxis muss von innen,aus den Religionsgemeinschaften selbst, kommen. Es istdoch auffällig, dass es zwar viele Berichte von Einzel-nen gibt, die ihre Beschneidung als traumatisch erlebthaben – und keiner in diesem Raum spricht ihnen dieseErfahrung ab –, aber es gibt keine innerjüdische oderinnermuslimische Initiative von Betroffenen gegen dieBeschneidung.
Das muss man zur Kenntnis nehmen.Ich möchte in diesem Sinne mit den Worten desSchriftstellers Navid Kermani schließen:Darum müssen Minderheiten in dem Augenblicknervös werden, in dem sie vom Recht nicht mehrgegen die Urteile und Vorurteile der Mehrheitgeschützt werden. Das ist jetzt DeutschlandsMinarettverbot – allerdings mit viel weitreichende-ren praktischen und symbolischen Folgen, falls dasUrteil Bestand haben sollte.Deswegen unterstützen ich und einige meiner Kolle-ginnen und Kollegen aus meiner Fraktion den Gesetzent-wurf der Bundesregierung.
Katja Dörner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Das Thema „Beschneidung von Jun-gen“ kann man nur sehr sensibel diskutieren. Bis zu demvorangegangenen Beitrag wollte ich mich eigentlich da-für bedanken, dass wir heute eine so sensible, respekt-volle Diskussion führen. An die Adresse aller anderenRednerinnen und Redner möchte ich diesen Dank auchweiterhin richten.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Bundestag hatdie Bundesregierung im Juli beauftragt, einen Gesetzent-wurf vorzulegen, wonach „unter Berücksichtigung dergrundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindes-wohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religions-freiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung“ die Be-schneidung von Jungen grundsätzlich zulässig sein soll.Diesem Anspruch wird der Gesetzentwurf aus unsererSicht nicht gerecht. Er wird dem Anspruch nicht gerecht,weil die Rechte des Jungen, sein Recht auf körperlicheUnversehrtheit, unzureichend berücksichtigt werden.
Das ist der Grund, weshalb ich gemeinsam mit rund65 Kolleginnen und Kollegen von Grünen, SPD und
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Katja Dörner
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Linken einen alternativen Gesetzentwurf zur Beratungeingebracht habe. Wir sind der Ansicht, dass die körper-liche Unversehrtheit des Kindes, hier die körperlicheUnversehrtheit des Jungen, nicht zur Disposition gestelltwerden darf – nicht aus religiösen Gründen und auchnicht aus anderen Erwägungen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, eine Beschnei-dung ist keine Bagatelle. Sie ist schmerzhaft, geradeauch im Heilungsprozess, und sie ist risikobehaftet. Hie-rauf weisen insbesondere die deutschen Kinder- und Ju-gendärzte eindringlich hin. Deren Dachverband unter-stützt unseren Gesetzentwurf auch ausdrücklich.Jenseits der Frage der Komplikationen führt die Be-schneidung zur Entfernung eines Körperteils, das durch-aus wichtige Funktionen hat. Sie kann negative Folgenfür die Psyche und auch die Sexualität haben, und sie ist– das versteht sich von selbst – nicht rückgängig zu ma-chen. Das ist, wie ich finde, in diesem Zusammenhangein ausgesprochen relevanter Punkt. Ein solcher Eingriffdarf nicht ohne die Zustimmung des Jungen selbst erfol-gen. Der Junge muss das Recht haben, über einen sol-chen nicht rückgängig zu machenden Eingriff in seinenKörper selbst zu entscheiden. Unser Gesetzentwurf for-dert deshalb ein, dass eine Beschneidung nur durchge-führt werden kann, wenn auch der mindestens 14-jährigeJunge diesem Eingriff zustimmt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist richtig: Da-mit greifen wir in Elternrechte ein. Das macht der Ge-setzentwurf der Bundesregierung übrigens auch, indemer für die Zulässigkeit bestimmte Bedingungen formu-liert. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass er auchdiejenigen, die eine Beschneidung durchführen, unterStrafe stellt, wenn sie sich nicht an diese Bedingungenhalten.
Wir haben uns in Deutschland nach vielen Jahren Dis-kussion entschieden, das Recht auf gewaltfreie Erzie-hung gesetzlich zu verankern. In Deutschland ist nichteinmal eine kleine Backpfeife erlaubt, und es ist auchabsolut richtig so, dass das so ist. Jetzt soll die Einwilli-gung der Eltern in eine medizinisch nicht notwendige, ri-sikobehaftete Operation, die zudem unwiderbringlich ei-nen Körperteil entfernt, in Ordnung sein. Ich finde, dassteht einfach in keinem Verhältnis zueinander.
Ich will noch einen anderen Aspekt ansprechen, derauch schon thematisiert worden ist und den viele in die-ser Debatte nicht so gerne hören. Selbstverständlich istdie Beschneidung von Jungen nicht mit der barbarischenweiblichen Genitalverstümmelung zu vergleichen, dieuns in den Kopf kommt, wenn wir an Genitalverstüm-melung denken.
Frau Dörner, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Beck zulassen?
Selbstverständlich.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Liebe Kollegin, ich möchte eine Frage stellen, von
der ich weiß, dass sie eher vermieden wird und dass man
sich, wenn man sie stellt, auf einem sehr schmalen Grat
bewegt. Sie ist wohl deshalb bisher nicht auf die Tages-
ordnung gesetzt worden, weil sie an sehr schwierige De-
batten erinnert, die wir hier geführt haben, bevor es zu
einem gesellschaftlichen Kompromiss kam. Ich meine
die Erlaubnis bzw. das Verbot bei gleichzeitiger Nicht-
strafverfolgung der Abtreibung. Ich habe an den Debat-
ten Ihrer Gruppe nicht teilgenommen, möchte Sie aber
bitten, mir zu erklären, ob Sie diese Überlegungen mit
einbezogen und eine entsprechende Abwägung vorge-
nommen haben. Es geht ja immer um die Abwägung von
Rechtsgütern. Bei der Straffreistellung der Abtreibung
haben wir die Abwägung der Rechtsgüter damals so vor-
genommen, dass es erlaubt ist, wenn sich Frauen in ent-
sprechenden Zwiespaltsituationen befinden, dass zu-
gunsten der Frau und zugleich gegen das Leben des
heranwachsenden Embryos entschieden wird.
Wir haben bei der Vorbereitung des Gruppenantragessehr wohl auch diese Variante diskutiert. Ich wünschemir, dass sie beispielsweise bei den Beratungen imRechtsausschuss und in der Anhörung eine Rolle spielt.Wir sind aber bei der Abwägung zwischen Unversehrt-heit des Körpers des Kindes versus Elternrecht bzw. Re-ligionsfreiheit zu dem Ergebnis gekommen, den Gesetz-entwurf so vorzulegen, wie wir ihn hier eingebrachthaben.
Ich komme noch einmal zu dem Thema zurück, dasich gerade angesprochen habe, nämlich zur Frage derweiblichen Genitalverstümmelung. Namhafte Verfas-sungsrechtler, einige NGOs und eben auch Terre desFemmes als eine in diesem Punkt besonders prominenteNGO weisen auf Parallelen zu bestimmten Formen derweiblichen Genitalverstümmelung hin. Ich mache mireinfach Sorgen hinsichtlich dieser Fragestellung. Des-halb ist an dieser Stelle aus meiner Sicht eine klare Re-gelung angesagt, damit wir keine Türen aufmachen, dieniemand von uns öffnen möchte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25455
Katja Dörner
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es unsmit der Abwägung der unterschiedlichen Rechtsgüternicht leicht gemacht. Selbstverständlich nehme ich dieHaltung der jüdischen Gemeinden und der Vertreter undVertreterinnen der Muslime sehr ernst. Ich habe insge-samt große Bauchschmerzen. Ich hätte mir gewünscht,dass der Deutsche Bundestag an dieser Stelle keine Ent-scheidung fällen muss. Aber Fakt ist, wir müssen unszum Gesetzentwurf der Bundesregierung verhalten. Hierist für mich klar, dass das Recht auf körperliche Unver-sehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht der Jungenvor Tradition und Religion gehen müssen.Vielen Dank.
Norbert Geis hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Beschneidung hat eine in die Jahrtausende
zurückgehende Tradition in der Menschheit. Die Weltge-
sundheitsorganisation schätzt, wie Herr Krings schon ge-
sagt hat, dass weltweit 30 Prozent der Männer beschnit-
ten sind, und sie empfiehlt die Beschneidung im Kampf
gegen HIV.
Diskussionen über Beschneidung haben in unserem
Land keine Rolle gespielt. Sie war eigentlich unbestrit-
ten bis zum Urteil von Köln. Durch dieses Urteil von
Köln ist tatsächlich eine Unsicherheit entstanden. Des-
wegen muss durch ein Gesetz diese Unsicherheit besei-
tigt werden. Die Bundesregierung hat ein Gesetz vorge-
legt, das von der Begründung her kaum besser gemacht
werden kann. Ich habe noch nie einen Gesetzentwurf ge-
sehen, der auf die verschiedenen Argumentationen so
intensiv und so begründet eingegangen ist wie der vor-
liegende Gesetzentwurf. Dafür ist, denke ich, ein Danke-
schön angebracht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Gesetz-
entwurf beschränkt sich die Bundesregierung allein auf
das Sorgerecht und schaut nicht auf die hinter einer Be-
schneidung stehende Motivation. Für mich ist allein die
Frage entscheidend: Ist die Beschneidung erfasst vom
Sorgerecht oder widerspricht sie dem Sorgerecht? Ein
richtig verstandenes Sorgerecht, verehrte Frau Rupprecht,
bindet natürlich die Rechte des Kindes mit ein. Eine
richtig verstandene Wahrnehmung des Sorgerechts
nimmt immer Rücksicht auf das Wohl des Kindes. An-
sonsten würde eine solche Maßnahme, die das Wohl des
Kindes nicht berücksichtigt, dem Kindessorgerecht ent-
schieden widersprechen, das aus der Verfassung kommt
und im BGB festgelegt ist.
Ich glaube aber nicht, dass die Kinderrechte nicht be-
rücksichtigt werden, wenn wir die Beschneidung zulas-
sen, wie Sie es sagen, Frau Rupprecht. Sicherlich liegt
eine Zeit hinter uns, in der die Rechte der Kinder nicht
so gewahrt worden sind, wie das heute der Fall ist. Aus
dem römischen Recht wissen wir, dass das Kind der Ge-
walt des Vaters unterworfen war. Außerdem stand der
Begriff der elterlichen Gewalt bis in unsere Zeit hinein
im Gesetzbuch. Es ist also schon ein Kampf notwendig
gewesen, an dem auch Sie mitgewirkt haben, liebe Frau
Rupprecht, bis die Rechte der Kinder anerkannt worden
sind. Inzwischen sind sie aber anerkannt. Wir wissen
auch, dass sich diese Rechte auf unser Grundgesetz
gründen können.
Deswegen glaube ich nicht, dass insoweit noch eine
Diskussion erforderlich ist. Die Frage ist nur, ob diese
Rechte verletzt werden, wenn sich die Eltern dazu ent-
scheiden, das Kind beschneiden zu lassen. Da gehen die
Meinungen auseinander.
Sie sagen, diese Rechte würden allein schon deshalb
verletzt, weil dem Kind Gewalt angetan werde. Das ist
aber so nicht zu sehen. Sie beziehen sich dabei auf
§ 1631 Abs. 2 BGB, in dem es heißt, dass eine Bestra-
fung des Kindes nicht mit gewaltsamen Mitteln durchge-
führt werden darf. Dies ist aber nicht so bei der Be-
schneidung. Die Beschneidung ist keine Bestrafung und
hat deshalb mit dieser Vorstellung, die Sie erwähnt ha-
ben und die auch Frau Dörner erwähnt hat, nichts zu tun.
Bei der Beschneidung geht es um etwas ganz anderes.
Herr Geis, möchten Sie die Zwischenfrage von Frau
Rupprecht zulassen?
Bitte sehr.
Bitte.
Herr Kollege Geis, ich möchte Sie darauf aufmerk-sam machen, dass ich nicht von einer Bestrafung gespro-chen habe. Vielmehr habe ich darauf hingewiesen, dassin § 1631 Abs. 2 BGB das Recht auf gewaltfreie Erzie-hung verankert ist. Damit ist zum Beispiel das Eltern-recht beschnitten. Wir können mit den Kindern alsonicht alles machen. Ich habe keineswegs Beschneidungals Bestrafung gewertet. Das möchte ich ganz weit vonmir weisen. Das habe ich niemals in den Mund genom-men. Die Beschneidung sehe ich nicht als Gewaltanwen-dung an.
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25456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Marlene Rupprecht
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Der einzige Unterschied besteht darin – das möchteich hier feststellen –, dass wir von einem massiven kör-perlichen Eingriff ausgehen. Medizinisch kann ich be-gründen, warum massiv eingegriffen wird. Sie gehen da-von aus, dass der Eingriff harmlos ist und daher imRahmen der elterlichen Sorge durchgeführt werdenkann. Wir stimmen dem zu, dass das in den Bereich derelterlichen Sorge fällt. Ein solcher Eingriff ist aber somassiv, dass man den Willen des Kindes sowie die Ein-sichtsfähigkeit und Einwilligungsfähigkeit des Kindesbeachten muss.Das habe ich hier zum Ausdruck gebracht. Darauflege ich sehr großen Wert. Es kommt ganz leicht ein fal-scher Zungenschlag hinein, was ich Ihnen nicht unter-stelle. Ich möchte aber, dass das klargestellt ist.
Ich akzeptiere das. Mit dem, was Sie sagen, bringenSie aber indirekt zum Ausdruck, dass die Beschneidungein gegen das Kind gerichteter Akt der Gewalt ist. WennSie das so sehen, dann – –
– Sie haben gesagt, dass sei keine Bestrafung, aber einAkt der Gewalt. Sonst hätten Sie § 1631 Abs. 2 BGB garnicht heranziehen können. Lassen wir das aber einmalauf sich beruhen. Ich akzeptiere jedenfalls Ihre Erklä-rung. Wir können das auf sich beruhen lassen.Liebe Frau Rupprecht, Sie sagten eben noch einmal,es handele sich um einen schwerwiegenden Eingriff.
Dem widerspricht der Entwurf ganz entschieden. DerEntwurf sagt, dass es sich nicht um einen schwerwiegen-den Eingriff handelt. Wir wissen, dass dies in anderenLändern genauso gesehen wird. Auch viele Medizinerwerten dies nicht als einen schwerwiegenden Eingriff.Wenn es ein schwerwiegender Eingriff wäre, was ichverneine, muss man sich aber doch die Frage stellen:Entspricht dieser Eingriff dem Wohl des Kindes? Das istdie ganz entscheidende Frage. Die ganz entscheidendeFrage ist, ob das Wohl des Kindes gewahrt ist, wenn sichdie Eltern für die Beschneidung entscheiden. Ich glaube,das ist der Fall. Hier kommt man allerdings nicht alleinmit dem Sorgerecht aus, sondern muss auch nach demMotiv der Beschneidung fragen. Deswegen wird ja im-mer in diese Debatte wieder eingebracht, dass entschei-dend ist, aus welchen Motiven heraus die Beschneidunggeschieht.Im jüdischen Glauben und auch im muslimischenGlauben geschieht sie aus dem Motiv heraus, dass ge-rade dadurch das Wohl des Kindes gewahrt bleibt, wennes in die Religionsgemeinschaft aufgenommen wird.Das ist zumindest im jüdischen Glauben der Fall. Wirwissen aus der Thora und aus dem Buch Genesis, dass esüber Abraham einen Bund gibt zwischen Gott und denMenschen. Und da sagt eben Gott: Damit dieser Bundnach außen hin klar sichtbar ist, sollen die Kinder be-schnitten werden. Das ist so im Buch Genesis zu finden.Deswegen – das sagt auch der Zentralrat der Juden – istdie Beschneidung konstitutiv für den jüdischen Glauben.Wenn dem jedoch so ist, dann muss man den Eltern dasRecht einräumen, eine solche Beschneidung vornehmenzu lassen, und zwar im Interesse des Kindes. Die Elternwollen ja das Wohl des Kindes. Für sie besteht das Wohldes Kindes eben darin, dass es im richtigen Glauben er-zogen wird und diesen Glauben auch lebt.Ähnliches gilt für die Muslime. Auch die Muslimewollen durch die Beschneidung sicherstellen und dafürSorge tragen, dass ihre Kinder im muslimischen Glau-ben erzogen werden.Die Beschneidung geschieht nach der Vorstellung be-sagter Eltern ganz und gar zum Wohle des Kindes. Das,glaube ich, berücksichtigen Sie zu wenig. Bei den Elternherrscht ganz klar der Gedanke vor: Ich handele zumWohl des Kindes, wenn ich es aus religiösen Gründenbeschneiden lasse. Diese Denkweise ist den Menschenin einem säkularisierten Staat fremd und tut ihnen weh.Zu den Prinzipien eines säkularisierten Staates gehörtes aber vor allen Dingen auch, die Religionsfreiheit zuachten. Die Religionsfreiheit ist wie alle anderen Frei-heitsrechte konstitutiv für unser Staatsverständnis. Des-wegen ist es auch richtig, dass die Religionsfreiheit hiereine wichtige Rolle spielt; Herr Thomae hat das vorhinsehr schön dargelegt. Art. 6 Grundgesetz regelt dasRecht der Eltern auf Sorge für die Kinder sowie die ih-nen obliegende Pflicht. In diesen Diskussionszusam-menhang gehört aber auch Art. 4 Grundgesetz, dasRecht auf Religionsfreiheit. Eine Abwägung dieserRechte – Recht auf Religionsfreiheit sowie Recht der El-tern auf Sorge für ihre Kinder – führt dazu, dass wir sa-gen können: Es entspricht unserer Rechtsordnung, wennwir zulassen, dass Kinder beschnitten werden.Es ist natürlich wichtig, dass die Kinder in einerWeise beschnitten werden, die wir de lege artis nennen.Der Eingriff sollte von Medizinern vorgenommen wer-den. Gemäß § 1631 d Abs. 2 des Gesetzentwurfs dürfenauch Personen Beschneidungen durchführen – soge-nannte Beschneider –, wenn sie dafür besonders ausge-bildet sind. Auch diese Personen müssen aber nach denRegeln der ärztlichen Kunst handeln. Diese Bedingung,liebe Frau Dörner, ist nicht so auszulegen, dass wir eineBeschneidung gar nicht zulassen dürften. Es handelt sichnur um eine Bedingung, wie die Beschneidung durchzu-führen ist. Eine solche Bedingung darf man durchausstellen. Wir müssen sie auch stellen, in diesem Fall imInteresse des Wohles des Kindes.Zusammenfassend möchte ich noch einmal sagen:Das „Wohl des Kindes“ kann sich nicht allein auf denAspekt der körperlichen Unversehrtheit beziehen, son-dern darunter ist auch die Erziehung des Kindes zu ver-stehen und seine religiöse Ausrichtung. Auch das gehörtzum Wohl des Kindes.
Wir dürfen beides nicht trennen, sonst würden wir derSache nicht gerecht werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25457
Norbert Geis
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Danke schön.
Für die SPD-Fraktion hat Wolfgang Thierse das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wir haben es in unserer Debatte – das ist jetzt schon oftgesagt worden – über das Erlaubtbleiben der Beschnei-dung mit einer Güterabwägung zwischen verschiedenenGrund- und Menschenrechten zu tun: dem Recht desKindes auf körperliche und seelische Unversehrtheit,dem elterlichen Sorgerecht und der Religionsfreiheit.Letztere ist als Gedanken-, Gewissens- und Welt-anschauungsfreiheit ein umfassendes Menschenrechtund in einer pluralistischen Gesellschaft besonders an-strengend; wir erleben es gerade. Deswegen will ichmich diesem Aspekt in aller notwendigen Kürze wid-men.Jürgen Habermas hat in einer kritischen Kommentie-rung des Kölner Urteils betont:In der Rolle von demokratischen „Mitgesetzge-bern“ gewähren sich alle Staatsbürger gegenseitigden grundrechtlichen Schutz, unter dem sie als Ge-sellschaftsbürger ihre kulturelle und weltanschauli-che Identität wahren und öffentlich zum Ausdruckbringen können … Das universalistische Anliegender … Aufklärung erfüllt sich erst in der fairen An-erkennung der partikularistischen Selbstbehaup-tungsansprüche religiöser und kultureller Minder-heiten.Darum geht es beim heutigen Thema.
Eine Gemeinschaft kann nicht funktionieren ohne denRespekt vor den Unterschieden. Dieser Respekt ist auchvom Staat zu verlangen. Wollen wir uns daran gewöh-nen, dass der Staat darüber entscheidet, was zum Kernder Identität einer Religionsgemeinschaft gehört, gehö-ren darf, und was nicht, ein veralteter Ritus zum Beispielnicht? Nein, das zu entscheiden, ist Sache der innerenAuseinandersetzung in der Religionsgemeinschaft selbstund in der Zivilgesellschaft. Der weltanschaulich neu-trale Staat darf die Änderung traditionaler Einstellungenjedenfalls nicht strafrechtlich erzwingen wollen.
Schließlich ist der Staat des Grundgesetzes kein Staat ei-ner säkularistischen Weltanschauung.Den lebensgeschichtlich prägenden Einfluss auf diereligiöse, die weltanschauliche Entwicklung des Kindesweist unser Grundgesetz ausschließlich den Eltern zu.Das nicht zu berücksichtigen, widerspräche auch und ge-rade der UN-Kinderrechtskonvention, liebe MarleneRupprecht. Dort ist nämlich vom untrennbaren Zusam-menhang von Kindeswohl und Elternrechten und -pflich-ten die Rede, ebenso vom Kinderrecht auf auch religiöseErziehung und auf Zugehörigkeit zu einer kulturellenund religiösen Gemeinschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kulturelle Eigenar-ten oder religiöse Motive und Praktiken sind allerdingsnicht einfach sakrosankt. Auch sie müssen abgewogen,die Gründe gewichtet, die Schwere des Eingriffs berück-sichtigt werden. Ich sage es auch: Die Vorhautbeschnei-dung bei Jungen ist eben keine Verstümmelung, wie esdie Klitorisbeschneidung von Mädchen ist. Der Staat,der Gesetzgeber hat sich bei der Wahrnehmung seinerSchutzpflicht gegenüber dem Schutzrecht des Kindesgerade im Respekt vor der Religionsfreiheit von Kindund Eltern sowohl eines Übermaßes wie auch eines Un-termaßes an Regelungen zu enthalten. Das scheint mirdurch den von der Regierung vorgelegten Gesetzentwurfgewahrt. Die im Änderungsantrag von Lischka undLambrecht formulierten Ergänzungen sollten aber ernst-haft erwogen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Entscheidungin der Sache wird nicht zuletzt von der Antwort auf dieFrage abhängen: Sollen wir uns daran gewöhnen, dassdas Kindeswohl, also das Menschenwohl, allein in mate-riellen Dimensionen bestimmt wird, sodass darüber amSchluss allein Ärzte befinden, und geistige, geistlicheund kulturelle Dimensionen ausgeschlossen zu sein ha-ben? – Der Nutzen der Beschneidung müsse messbarund rational begründbar sein, so Holm Putzke, der geis-tige Vater des Kölner Urteils; deshalb sei sie nicht zu er-lauben. „Metaphysische Behauptungen“ seien in derRechtsordnung nicht zu berücksichtigen, so RolfDietrich Herzberg. Heiner Bielefeldt nennt das „inquisi-torischen Rationalismus“.
Wer dem folgt, der reduziert das volle Freiheitsrecht derReligion auf negative Religionsfreiheit und propagiertfaktisch Säkularismus als staatlich verordnete Welt-anschauung. Bei der Diskussion um Beschneidung gehtes eben auch um eine mögliche Beschneidung der Reli-gionsfreiheit
und – das füge ich hinzu – eben nicht um ein Sonder-recht für Juden und Muslime, wie es ein ProfessorMerkel behauptet hat.Ein Verbot oder eine radikale Beschränkung der Be-schneidung jüdischer und muslimischer Kinder aberwürde faktisch bedeuten, dass jüdisches und islamisches
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Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Leben in Deutschland auf Dauer legal nicht mehr mög-lich sein würde. Ich sage ganz deutlich: Das will ichnicht,
und zwar nicht nur aus historischen Gründen, die ge-wichtig genug sind, auch nicht, weil Deutschland daserste Land wäre, das diesen Weg ginge, sondern um derFreiheit der jüdischen und muslimischen Bürgerinnenund Bürgern und aller religiösen und weltanschaulichenBekenntnisse in unserem Land willen.
Wir waren uns doch gelegentlich einig: Wenn Freiheitauch die der Andersdenkenden ist, so darf diese nichtnur von denen definiert werden, die sich selbst zu denAufgeklärt-Säkularen zählen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Maria
Flachsbarth das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Verehrte Gäste! In fast allen Reden wurde be-tont: Es geht uns um das Kindeswohl. Genau um dasWohl ihres Kindes willen entscheiden sich Eltern, diedem jüdischen oder muslimischen Glauben angehören,ihren Sohn beschneiden zu lassen. Wie alle anderen El-tern verfolgen auch diese Eltern in allem, was sie tun,vor allem ein Ziel: Sie möchten das Beste für ihr Kind.Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus: Das El-ternrechtberuht auf dem Grundgedanken, daß in aller RegelEltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegtals irgendeiner anderen Person oder Institution.Diese Tatsache sollten wir bei unserer Debatte nicht ausden Augen verlieren.Wir sollten auch mit der notwendigen Sensibilität da-rüber diskutieren, was wir Gott sei Dank heute Nachmit-tag getan haben. Wir sprechen nämlich über einen reli-giösen Ritus, der für einige Bürgerinnen und Bürger inunserem Land eine zentrale Bedeutung für ihr Leben hat.Auch ich warne vor dem Zungenschlag, den ich in deröffentlichen Debatte – noch einmal ausdrücklich: heuteNachmittag hier nicht – und auch in Zuschriften, die ichbekommen habe, wahrgenommen habe. Es gibt nämlichStimmen, die ausklammern oder vielleicht sogar be-wusst infrage stellen, dass selbstverständlich das Kin-deswohl das Motiv ist, das die Eltern dazu veranlasst, ihrKind beschneiden zu lassen.Ich möchte betonen, dass sich dieses Wohl des Kindeseben nicht nur in seiner körperlichen Unversehrtheit er-schöpft. Das Wohl des Kindes zu fördern, heißt, seineganzheitliche Entwicklung zu fördern. Gerade die reli-giöse Sozialisation ist ein zentrales Element des Kindes-wohls. Eltern, die selbst religiös sind, möchten dochauch ihrem Kind Räume erschließen, in denen es Gottbegegnen kann, Räume, in denen es Antworten findenkann auf Fragen, die in seinem Leben unausweichlichsind: Fragen nach dem Sinn, nach Leben, nach Tod undnach Liebe. Sie möchten ihm ethische und religiöseOrientierung geben, ja, eine geistige Heimat geben, undihr Kind auch dem besonderen Schutz Gottes unterstel-len. Das ist die Motivation, die Eltern dabei leitet, auchjene Riten vollziehen zu lassen, die ihre Religion als un-verzichtbar für die Annahme und Zugehörigkeit in einerGlaubensgemeinschaft sieht. In meinem Glauben gehörtdie Taufe dazu, für Menschen jüdischen und muslimi-schen Glaubens die Beschneidung ihres Sohnes.Eltern lassen ihren Sohn beschneiden, weil sie ihmdie Möglichkeit einer religiösen Heimat geben wollen.Ich sage bewusst „Möglichkeit“; denn natürlich gilt dasMenschenrecht, seine Religion frei wählen zu dürfenund damit auch zu wechseln oder sich gegebenenfallsvöllig von der Religion abzuwenden, auch für Jungen,die im Knabenalter beschnitten wurden. Alle Jugendli-chen haben das Recht, sich mit Erreichen der Religions-mündigkeit, also mit 14 Jahren, gegen eine Religion zuentscheiden, die ihre Eltern ihnen im Kindesalter ange-boten haben. Ich kenne keine Religion, die die Auf-nahme eines Mitglieds ablehnt, weil jemand beschnittenist. Wir wissen zum Beispiel aus den USA, wo sehr vieleJungen aus Gründen gesundheitlicher Prävention be-schnitten sind, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass auchChristen beschnitten sind.Den Vorschlag, die Beschneidung eines Jungen biszum 14. Lebensjahr zu verbieten, lehne ich ab. AlsChristin und auch als Mutter kann ich sehr gut nachvoll-ziehen, dass Eltern ihrem Kind so früh als irgend mög-lich eine religiöse Heimat, und zwar die volle und nichteine vorläufige oder möglicherweise symbolische Auf-nahme in ihre Religionsgemeinschaft wünschen.Ich respektiere, wenn mir Juden darlegen, dass für siedas Gebot der Thora, ihre Söhne am 8. Lebenstag zu be-schneiden, um in den Bund mit Gott und in die Gemein-schaft der Juden aufgenommen zu werden, bindend ist.Genauso respektiere ich, wenn muslimische Familiennach dem Beispiel des Propheten Mohammed die Be-schneidung ihres Sohnes vornehmen lassen und feiernmöchten.Ich sage deshalb auch: Wir haben als Staat einfachnicht das Recht, diese Glaubensinhalte infrage zu stellen.Das ist eine Frage des Respekts vor der Trennung vonKirche und Staat in unserem Land; das hat der KollegeThierse eben sehr zutreffend ausgeführt.Doch natürlich legitimiert die religiöse Erziehungkeineswegs alles. Ihr sind Grenzen gesetzt, die sich amMaßstab des Kindeswohls orientieren müssen. Deshalbnennt der Gesetzentwurf ausdrücklich die Voraussetzun-gen, unter denen Eltern in die medizinisch nicht erfor-derliche Beschneidung ihres Kindes einwilligen dürfen:Sie wird nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchge-führt. Das umfasst eine umfassende Aufklärung der El-
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Dr. Maria Flachsbarth
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tern über die Risiken, die fachliche Qualifikation undeine angemessene Schmerztherapie.Urologen bestätigen uns, dass die Komplikationsratebei Beschneidungen, egal welcher Indikation, insgesamtbei unter 1 Prozent liegt. Die Kritik an der Ausnahmere-gelung für die beauftragten Personen der Religionsge-meinschaften, die in den ersten Monaten nach der Ge-burt die Beschneidung vornehmen dürfen, teile ich nicht.Gerade Beschneidungen in Israel, wo sie besonders häu-fig durch Mohalim, also jüdische, durch medizinischeund religiöse Ausbildung beauftragte Personen, durch-geführt werden, weisen nach Studien eine besonders ge-ringe Komplikationsrate auf. Eine potenzielle Gefähr-dung der kindlichen Gesundheit würden wir dagegenzumindest billigend in Kauf nehmen, würde ein Verbotder Beschneidung durchgesetzt. Dann nämlich wären re-ligiöse Familien wirklich gezwungen, die Beschneidungihrer Söhne unter gegebenenfalls schlechteren Bedin-gungen in einem anderen Land oder gar in der Illegalitätvornehmen zu lassen.Die Beschneidung von Jungen wurde und wird inDeutschland seit Jahrhunderten durchgeführt, in derBundesrepublik seit Beginn ihrer Geschichte, und siestand vor dem Kölner Urteil niemals zur Disposition. Esgibt weltweit kein Land, das die Beschneidung nichtein-willigungsfähiger Jungen völlig verbietet. Der Verzichtauf Beschneidung durch jüdische Eltern stand dagegenhistorisch immer im Zusammenhang mit antisemitischerRepression.Ich finde es abstrus, dass man nun gerade in Deutsch-land auf den Gedanken kommt, jüdische Söhne vor ihrenMüttern und Vätern zu schützen. Es ist ein großes undunverdientes Geschenk für uns, dass sich nach demGrauen der Schoah wieder jüdisches Leben in all seinenGlaubensrichtungen in Deutschland entfaltet. Mit einerbreiten Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf könntenwir einmal mehr beweisen, dass dies nicht nur so daher-gesagt ist, sondern es uns mit dieser Aussage ernst ist.Wir freuen uns über lebendige jüdische Gemeinden inDeutschland genauso wie über die muslimischen Ge-meinden.Lassen Sie uns dieses Gesetz deshalb nach parlamen-tarischer Diskussion und Expertenanhörung mit breiterMehrheit verabschieden, als Zeichen der Verbundenheit,der Toleranz und des Respekts vor den jüdischen undmuslimischen Bürgerinnen und Bürgern in unseremLand.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kerstin Griese für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zum Ende dieser Debatte will ich mich ersteinmal dafür bedanken, dass wir diese Debatte in einersehr ernsthaften und sehr respektvollen Art und Weisegeführt haben. Es ist gut, dass wir jetzt nach einigen auf-geheizten Diskussionen in diesem Hause so respektvolldarüber sprechen. Vielen Dank dafür!
Ich möchte noch einmal auf den Auslöser unserer De-batte zurückkommen, auf das Urteil der kleinen Straf-kammer des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012, dasinteressanterweise zunächst öffentlich gar nicht zurKenntnis genommen worden ist, sondern erst sechs Wo-chen später, als die Financial Times Deutschland da-rüber berichtet hat. Dann setzte eine, glaube ich, bei-spiellose Entwicklung ein, die viele Juden und Muslimein unserem Land sehr verunsichert hat.Seit über 50 Jahren leben Muslime in Deutschland.Bis zu diesem Urteil hat niemand ihren Ritus, ihre Söhnebeschneiden zu lassen, wenn diese im Grundschulalteroder jünger sind, infrage gestellt. Auch das jüdische Ri-tual, männliche Säuglinge am achten Tag nach der Ge-burt zu beschneiden, stand bisher nicht zur Disposition.Aber in diesem Sommer war die Empörung groß.Ich hätte mir sehr gewünscht, dass wir zuerst einmalunseren jüdischen und muslimischen Bürgerinnen undBürgern zugehört hätten, dass wir sie gefragt hätten: Wa-rum macht ihr das? Welche Bedeutung hat das für euch?Gibt es vielleicht eine Veränderung, eine Diskussion in-nerhalb der Religionsgemeinschaften darüber, wie sichdiese Praxis ändern, entwickeln kann?
Wenn man zuerst zuhört, dann kann man anschließendauf Augenhöhe miteinander darüber sprechen, welcheRegeln der Staat dafür setzen soll und wie sich die Praxisin Zukunft vielleicht verändern kann.Ich weiß – das habe ich in vielen Gesprächen erfahren –,wie verletzt Juden und Muslime von dieser Debatte sind,in der ihnen – nicht heute hier, wohl aber sehr häufig ananderer Stelle, wie wir alle in den Zeitungen und im In-ternet lesen konnten – unterstellt wird, sie quälten ihreKinder und missachteten Kinderrechte. Ich halte einesolche pauschale Herabwürdigung von Menschen fürunerträglich.
Für mich und sicherlich auch für viele andere in die-sem Parlament gilt: Juden und Muslime gehören zuDeutschland. Sie leben hier. Sie sind hier willkommen.Sie sind Bestandteil unserer Gesellschaft, und zwar mitihrer Religion.
Das gilt für mich nicht nur aufgrund unserer historischenVerantwortung, sondern auch und gerade für die Zukunfteiner multireligiösen Gesellschaft.Mir ist besonders wichtig, dass wir die Kinderrechteund die Religionsfreiheit nicht gegeneinander ausspie-len; denn sie sind kein Gegensatz. Wir können und wol-
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Kerstin Griese
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len beides vereinbaren. Deshalb habe ich besonders da-rauf geachtet, was der UN-Kinderrechtsausschuss zudiesem Thema gesagt hat. Ich habe mit dem langjährigendeutschen Vertreter im UN-Kinderrechtsausschuss ge-sprochen. Laut Art. 14 der UN-Kinderrechtskonvention– sie wurde schon zitiert – haben Kinder das Recht, dassEltern sie bei der Ausübung des Rechts auf Religions-freiheit leiten, also das Recht auf religiöse Erziehung.Der UN-Kinderrechtsausschuss kritisiert zwar, dass dieBeschneidung von Jungen in afrikanischen Ländern teil-weise unter hygienisch nicht einwandfreien Bedingun-gen stattfindet. Aber die Beschneidung von Jungen wirdvom UN-Kinderrechtsausschuss nicht grundsätzlich in-frage gestellt. Mir ist wichtig, das noch einmal zu beto-nen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines der großenMissverständnisse in der aktuellen Debatte ist die An-nahme, dass man Religion von Kindern so lange fernhal-ten müsse, bis sie sich im Alter von 14 Jahren – quasivollkommen aus dem Nichts heraus – für die eine oderandere Religion entscheiden könnten. Selbstverständlichgilt ab 14 Jahren die Religionsfreiheit. Jugendlichekönnten sich dann entscheiden, aus einer Religionsge-meinschaft auszutreten oder in eine Religionsgemein-schaft einzutreten. Aber das kann man doch nur, wennman die Chance hatte, in einer Religion aufzuwachsenund sie kennenzulernen und zu erleben. Selbstverständ-lich kann man dann mit 14 Jahren aus der Religionsge-meinschaft austreten. Viele Schüler wählen den Religi-onsunterricht ab, egal ob sie beschnitten oder getauftsind.Die Praxis, dass jüdische und muslimische Söhne be-schnitten werden, ist nicht ein Akt der Misshandlung,sondern ein Akt des Aufwachsens in ihrer Religion undKultur. Heribert Prantl hat das in der Süddeutschen Zei-tung treffend beschrieben – ich zitiere –: „Sie macht dasKind zum Subjekt des Glaubens, bedeutet den Eintritt indie Gemeinschaft.“ Man mag das für sich selbst nichtglauben oder annehmen – das muss auch niemand –,aber es geht darum, dass wir akzeptieren, was das für Ju-den und Muslime bedeutet. Deshalb ist es mir wichtig,noch einmal daran zu erinnern – darauf haben schonviele hingewiesen –, dass die Beschneidung am achtenTag für Juden konstitutiv ist, wenn nicht der Gesund-heitszustand dagegenspricht. Wir haben in vielen Ge-sprächen erfahren, wie wichtig die Gesundheit gerade imJudentum ist. Die Beschneidung findet durch jüdischeMohalim in der Synagoge statt, die eine medizinischeund theologische Ausbildung haben. Einige sind auchausgebildete Ärzte. Schon jetzt ist es so, dass zuvor einKinderarzt das Kind begutachtet und dass schmerzstil-lende Mittel eingesetzt werden. Wichtig ist auch zu wis-sen, dass die Beschneidung von allen jüdischen Richtun-gen unterstützt und durchgeführt wird.Bei den Muslimen findet die Beschneidung meistensin einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis unter Be-täubung oder Narkose statt. Wir haben in den letztenWochen mit vielen aus den Bereichen der Medizin undder Rechtswissenschaft sowie mit jüdischen und musli-mischen Vertretern gesprochen. Dafür bedanke ich michganz ausdrücklich; denn das war sehr hilfreich. Beson-ders hilfreich waren die Vorschläge des Ethikrats, dervier Punkte definiert hat, unter denen die Beschneidungvon Jungen in Deutschland geregelt werden soll und diemeines Erachtens im Gesetzentwurf der Bundesregie-rung zum Großteil umgesetzt worden sind. Ich plädieredafür, über die Änderungsanträge sehr ernsthaft zu bera-ten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, für unsere Debatteim Bundestag ist wichtig: Es geht jetzt in der Gesetzge-bung um die Frage, ob wir, wie es das Kölner Urteil na-helegt, die Beschneidung von Jungen verbieten wollenoder nicht. Eigentlich wäre ein solches Gesetz unnötig,wenn nicht ein einzelnes Gericht ein solches Verbot er-lassen wollte. Ein solches Verbot lehne ich ab. Wir brau-chen jetzt ein Gesetz, mit dem wir – das ist sicherlich einguter Schritt – auch Standards für die Beschneidung vonJungen regeln. Ich bin sehr dafür, dass wir im Gesetzklare Standards setzen, und zwar bei der medizinischenAusbildung der Mohalim, bei der fachgerechten Durch-führung, bei der qualifizierten Schmerzbehandlung undbei der umfassenden Aufklärung sowie bei der Anerken-nung des Vetorechts des Kindes. Das Kindeswohl mussin unseren Beratungen im Vordergrund stehen; das istmir besonders wichtig. Ich hoffe und wünsche, dass wireine Regelung finden, die das Kindeswohl berücksich-tigt sowie Juden und Muslime auch in Zukunft bei unswillkommen heißt.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-che 17/11295 soll an die in der Tagesordnung aufgeführ-ten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie mit diesemÜberweisungsvorschlag einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/11430 sollebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse überwiesen werden, die Federführung ist jedochstrittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDPwünschen Federführung beim Rechtsausschuss, die Ab-geordneten Rupprecht, Dörner, Golze und weitere wün-schen Federführung beim Ausschuss für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derAbgeordneten Rupprecht, Dörner, Golze und weitere –also Federführung beim Familienausschuss – abstim-men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überwei-sungsvorschlag ist damit mehrheitlich abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und FDP – Federführungbeim Rechtsausschuss – abstimmen. Wer stimmt für die-sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mehr-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25461
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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heitlich angenommen. Damit liegt die Federführungbeim Rechtsausschuss.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen nun dieHaushaltsberatungen fort.Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.17 auf:Einzelplan 30Bundesministerium für Bildung und For-schung– Drucksachen 17/10823, 17/10824 –Berichterstattung:Abgeordnete Eckhardt RehbergKlaus HagemannHeinz-Peter HausteinMichael LeutertDr. Tobias LindnerDie Fraktion Die Linke hat einen Entschließungsan-trag eingebracht, über den wir morgen nach der Schluss-abstimmung abstimmen werden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen RenéRöspel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Debatte, die wir gerade geführt haben, be-dürfte es eigentlich, dass man sie noch ein bisschen re-flektiert. Es fällt mir gar nicht leicht, nach diesemschwierigen ethischen Thema wieder auf die Haushalts-politik umzuschalten. Ich will aber trotzdem versuchen,jetzt den Angriff zu starten.Es überkommt einen doch ein bisschen Wehmut,wenn man hier steht; denn das wird für viele Jahre derletzte Etatentwurf einer schwach-gelben Regierung imBildungsbereich sein.
Dabei fing das damals gar nicht so schlecht an. Ich erin-nere mich, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel vor eini-gen Jahren fast wie das Ungeheuer von Loch Ness in derBildungspolitik auftauchte:
Sie verkündete die Bildungsrepublik Deutschland undtauchte dann wieder ab. Das war übrigens ein Plagiat;denn der Begriff „Bildungsrepublik Deutschland“ wurdeviele Jahre vorher vom Wissenschaftsminister der SPDJürgen Zöllner geprägt.
– Eben! – Bei Loch Ness überlegen einige, ob es diesesUngeheuer wirklich gibt. Bei der BildungsrepublikDeutschland ist die Meinung relativ einhellig: Sie istnicht gekommen.Es ist jetzt Zeit, Bilanz zu ziehen und zu fragen: Washaben denn die Menschen von diesen vier Jahrenschwach-gelber Regierungszeit im Bildungsbereich ge-habt? Woran werden sie sich erinnern? Was wird blei-ben? Wir werden sicherlich gleich auch ein paar buch-halterische Reden hören, wie viel Geld ausgegebenworden ist. Wir finden es ausdrücklich gut, dass dieseRegierung den Kurs fortgesetzt hat, den die rot-grüneRegierung 1998 begonnen hat,
nämlich Bildung und Forschung endlich wieder einenneuen Stellenwert zu geben.
Nachdem der Etat jahrelang abgewirtschaftet wordenwar, hat Rot-Grün ihn wieder nach oben gefahren.
Wir haben das in der Großen Koalition fortgesetzt. – Daswar mein Lob an Sie. Wir finden es ausdrücklich gut,dass Sie das – nämlich Geld für Bildung und Forschungauszugeben – in Ihrer Regierungszeit fortgesetzt haben.Wir sind überzeugt, dass es von Ihnen sehr klug war,einen Großteil dieses Geldes – 75 oder 80 Prozent; daskann man nicht genau beziffern – in Projekte zu investie-ren, die nicht diese Regierung auf den Weg gebracht hat,sondern eben die Vorgängerregierung. Das waren imWesentlichen Projekte, welche die Sozialdemokratie aufden Weg gebracht hat.
– Herr Schirmbeck, es ist, wie es ist.
Den Pakt für Forschung und Innovation hat nämlichnicht die CDU/CSU ins Leben gerufen, sondern das wardie SPD-Bildungs- und Forschungsministerin EdelgardBulmahn.
Es war ein wichtiges Versprechen gegenüber Wissen-schaftlern und Forschern, ihnen jedes Jahr einen konti-nuierlichen Zuwachs an Geldmitteln für ihre Arbeit zurVerfügung zu stellen. Wir sind froh und dankbar, dassSie das aufgenommen und sogar noch von 3 auf 5 Pro-zent pro Jahr erhöht haben.Das zweite für diese Republik und für die Menschenso wichtige Projekt war die Exzellenzinitiative – auch
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René Röspel
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dies war eine SPD-Initiative –, die viel Bewegung undDynamik in die deutsche Forschungs- und Hochschul-landschaft gebracht hat. Von dem dritten Projekt, demHochschulpakt, der mithilfe der SPD-regierten Ländergeschlossen wurde, wird gleich noch die Rede sein.Diese Projekte waren und sind wichtig. Es war gut,dass Sie viel Geld hineingesteckt haben. Aber wenn mansich den Haushalt genau ansieht, erkennt man, dass Siedie Mittel zwar 2013 noch einmal ein bisschen erhöhen– das ist das Wahljahr –, aber dann nicht das Verspre-chen halten, das wir alle gemeinsam den Wissenschaft-lern gegeben haben, nämlich 2014 und 2015 erneut füreinen Zuwachs zu sorgen.
Die mittelfristige Finanzplanung – Herr Schirmbeck,lesen Sie es nach – weist keine Zuwächse mehr auf.Vielmehr werden die Ausgaben für Bildung und For-schung eingefroren. Das ist keine nachhaltige Politik.Unser Versprechen werden Sie 2014 und 2015 brechen –bzw. Sie würden es brechen, wenn Sie noch an der Re-gierung wären,
worüber die Menschen nächstes Jahr entscheiden wer-den. Jedenfalls braucht man kein großer Prophet zu sein,um zu behaupten, dass diese Koalition nicht mehr an derRegierung sein wird. – Herr Braun möchte eine Zwi-schenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege Röspel, Sie haben gerade darauf hinge-
wiesen, dass es die SPD war, die die Exzellenzinitiative
auf den Weg gebracht hat. Dann haben Sie darauf hin-
gewiesen, dass Sie sich Sorgen um die Zukunft machen,
weil die CDU/CSU-geführte Regierung keine ausrei-
chenden Mittel in die mittelfristige Finanzplanung
einstellt. Können Sie bestätigen, dass der damalige
Finanzminister, der 2005 Steinbrück hieß, für die Exzel-
lenzinitiative in der mittelfristigen Finanzplanung nicht
einen einzigen Euro vorgesehen hatte?
Es war in der Großen Koalition nicht immer einfachmit Ihnen als Partner.
Wir werden in unserem Wahlprogramm entsprechendeMaßnahmen aufführen. Auch für diesen Haushalt hattenwir Maßnahmen vorgeschlagen, die dazu beitragen, dassman diese Programme weiterhin finanzieren kann. Wirwollen zum Beispiel höhere Steuereinnahmen über einenhöheren Spitzensteuersatz und die Wiedereinführung derVermögensteuer erreichen. Ich bin sehr gespannt, wieSie diese Maßnahmen, wenn Sie sie denn fortsetzenmöchten, finanzieren wollen. Dazu findet sich bei Ihnenüberhaupt nichts. Sind Sie bereit, Steuern zu erhöhen?Wo wollen Sie einsparen, um die Exzellenzinitiative undden Pakt für Forschung und Innovation weiterzuführen?Nichts, aber auch gar nichts findet man bei Ihnen dazu.Ich bin gespannt, zu hören – das können die nachfolgen-den Redner gleich erklären –, wie Sie das finanzierenwollen.
Ich denke, dass Sie nichts dazu sagen werden.
An den Stellen, an denen Sie Verantwortung tragenoder überlegt haben, selbst Maßnahmen auf den Weg zubringen, kann man wirklich nicht von Erfolgen sprechen.Wir haben Sie mehrfach aufgefordert, im Bereich derValidierungsforschung etwas zu tun. Dabei geht es umdie Überlegung, wie man gute wissenschaftliche Ergeb-nisse aus den Hochschulen sozusagen kommerziell inTechnologie umsetzen kann. Da haben Sie lange nichtreagiert. Dann hat das Bundesministerium die Förder-maßnahme VIP aufgelegt; das ist alles andere als Vali-dierungsforschung. Das ist nichts anderes als fortge-setzte Projektförderung. Das überzeugt nicht wirklich.Über das Deutschlandstipendium – eine Ihrer großenHoffnungen – wird gleich noch etwas gesagt werden.Dafür reicht meine Redezeit nicht.Sie haben das Vorhaben, steuerliche Forschungsför-derung zu machen, also jene Unternehmen steuerlich zuentlasten, die in Forschung und Entwicklung investieren,in den letzten Jahren wie eine Monstranz vor sich herge-tragen. Dieses Vorhaben haben Sie nicht umgesetzt.Ein letztes Beispiel: Im Rahmen des Programms„Zwanzig20“ wollen Sie in Ostdeutschland 500 Millio-nen Euro zu Forschungszwecken investieren. Auch diesist im Haushalt nicht finanziell unterlegt. Das wird eineLuftnummer sein.In anderen Bereichen, in denen tatsächlich mehrInvestitionen stattfinden müssen – dies wird von Exper-tenkommissionen außerhalb der Regierung und des Par-laments gefordert –, kürzen Sie den Etat. Im Bereich derMikrosystemtechnik kürzen Sie den Etat auf den Standvon 2009. Im Bereich der Produktionssysteme fahrenSie die Mittel herunter auf den Stand von 2009. Im Be-reich der Dienstleistungs- und Arbeitsforschung wird eseine Kürzung der Mittel geben. Im Bereich der neuenWerkstoffe und der Nanotechnologie wird der Etat aufden Stand von 2009 abgeschmolzen. Dies alles sind Be-reiche, die dazu beitragen, dass die mittelständische In-dustrie, dass Unternehmen neue Werkstoffe zur Verfü-gung gestellt bekommen; darauf sind sie angewiesen.Überall dort kürzen Sie. Sie kürzen sogar bei der Ener-
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gieeffizienz und Energietechnologie. Auch die Mitteldieses für die Energiewende wichtigen Bereichs reduzie-ren Sie auf den Stand von 2009. Wenn man die Men-schen fragt, was für sie Bildungsrepublik bedeutet, dannhört man: Sie machen sich zum Beispiel Sorgen, ob esgelingt, mehr Kindergartenplätze zur Verfügung zu stel-len; sie wollen für ihre Kinder nämlich eine U-3-Betreu-ung. Aber: völlige Fehlanzeige bei dieser Regierung! Dapassiert gar nichts. Sie bieten den Ländern nicht einmalin vernünftigem Maße Hilfe an.Bei der Ganztagsschulbetreuung – viele Jahre von Ih-nen bekämpft – passiert nichts, obwohl die Eltern unddie Oberbürgermeister wissen, wie wichtig sie ist undwie wichtig auch eine Förderung des Bundes wäre.Vom Kooperationsverbot und von der Möglichkeitdes Bundes, den Kommunen, die kein Geld mehr haben,eine Hilfestellung zu geben, weil die Eltern dringend aufUnterstützung angewiesen sind, wird noch die Redesein.Das Fazit zum Thema Bildungsrepublik, die von Ih-nen ausgerufen wurde, ist schlecht. Sie schleppen sichbis zum Wahltag. Für die Zeit danach haben Sie keineVisionen, Sie machen keine Angebote und stellen keineÜberlegungen an, wie Ihre Vorhaben finanziert werdenkönnen. Eigentlich müsste man Ihnen wünschen, dassSie eine weitere Legislaturperiode dranhängen müssen,
damit Sie die Suppe, die Sie der nächsten Regierung ein-gebrockt haben, selbst auslöffeln müssen. Aber das darfnicht sein; denn Deutschland hat eine bessere Zeit ver-dient. Dementsprechend werden sich die Menschen imHerbst 2013 auch entscheiden.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord-
nete! Ich glaube, Herr Röspel, Sie haben sehr deutlich
gemacht, was uns unterscheidet:
Sie meinen, Bildung und Forschung finanzieren zu
können, indem Sie den Menschen in Deutschland in die
Tasche greifen.
Wir haben in den letzten Jahren eine andere Politik ge-
macht. Wir haben durch Wachstum Steuermehreinnah-
men generiert: beim Bund in Höhe von 30 Milliar-
den Euro und bei den Ländern in Höhe von
30 Milliarden Euro in den letzten vier Jahren. Insgesamt
konnten Bund und Länder aufgrund des Wirtschafts-
wachstums also Steuermehreinnahmen von 60 Milliar-
den Euro verzeichnen.
Gleichzeitig haben wir, beginnend mit den entspre-
chenden Maßnahmen unter Schwarz-Rot bis hin zum
Wachstumsbeschleunigungsgesetz, die Bürgerinnen und
Bürger entlastet, und zwar, bezogen auf die volle Jahres-
wirkung, in Höhe von 38 Milliarden Euro. Meine sehr
verehrten Damen und Herren, das verstehen wir unter
Politik: den Menschen Freiräume lassen, den Menschen
Chancen geben und aus Freiräumen und Chancen politi-
sche Vorhaben finanzieren. Das ist soziale Marktwirt-
schaft. Das ist die Politik der christlich-liberalen Koali-
tion.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Röspel?
Sehr gerne.
Herr Rehberg, Sie haben gerade gesagt, dass Sie die
Finanzierung Ihrer Vorhaben vom Wachstum abhängig
machen und dass Sie auf Wachstum hoffen. Nach den
Daten, die uns vorliegen – ich weiß nicht, ob Sie andere
haben –, wird sich das Wachstum in Deutschland, für das
Sie wahrscheinlich genauso wenig können wie wir – da
muss man ehrlich sein –,
in Zukunft leider nicht so positiv entwickeln; schließlich
ist Deutschland auch in die Weltwirtschaft eingebunden.
Wie wollen Sie die Aufwüchse der nächsten Jahre also
konkret finanzieren, wenn Wachstum und damit zusätz-
liche Einnahmen ausbleiben?
Sehen Sie, Herr Röspel, auch das unterscheidet uns:Unsere Politik ist wachstumsorientiert; das haben dieletzten Jahre gezeigt.
Deutschland ist deutlich stärker aus der Krise heraus-gekommen, als es in sie hineingegangen ist. Sie verfol-
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gen nur einen Ansatz: den Menschen in die Tasche zugreifen.
Sie sollten einmal an Ihre eigene Regierungszeit zurück-denken.
Unter der Regierung Schröder haben Sie den Spitzen-steuersatz, der unter Helmut Kohl bei 53 Prozent lag, auf42 Prozent und den Eingangssteuersatz von 24 auf letzt-endlich 15 Prozent gesenkt.
Sie haben den Arbeitsmarkt flexibilisiert und die ent-sprechenden Rahmenbedingungen gesetzt. Aber jetztschlagen Sie sich in die Büsche und wollen eine ganz an-dere Politik machen.Herr Röspel, wenn Ihnen das an dieser Stelle nochnicht reicht, schlage ich vor: Schauen Sie sich doch ein-mal die Situation in Frankreich an. Innerhalb wenigerWochen ist die Politik des französischen SozialistenHollande völlig in sich zusammengebrochen.
Nun blickt er nach Deutschland, um zu sehen, wie manerfolgreiche Politik macht, Herr Röspel.
Wenn Sie sagen, dass Bildung und Forschung für Rot-Grün einen hohen Stellenwert hatten, muss ich Ihnen wi-dersprechen. Die Zahlen belegen etwas ganz anderes.Sie haben in sieben Jahren Rot-Grün durchschnittlich7 Milliarden Euro pro Jahr für Bildung und Forschungausgegeben.
Wir haben in den Jahren der Merkel-Regierung unter derBildungs- und Forschungsministerin Schavan 10,5 Mil-liarden Euro pro Jahr für Bildung und Forschung ausge-geben. Das sind 50 Prozent mehr als zu Ihrer Regie-rungszeit. Ich werde Ihnen beweisen: Dieses Geld fürden Bereich Bildung und Forschung ist gut angelegtesGeld.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir habenWort gehalten: Wir haben für diese Legislaturperiode beiBildung und Forschung einen Zuwachs von 12 Milliar-den Euro versprochen. Es sind letztendlich 13,3 Milliar-den Euro geworden.Die Zahlen sind beeindruckend. Nehmen wir zumBeispiel die Zahl der Studienanfänger: Heute nimmtjeder Zweite eines Jahrgangs ein Erstsemesterstudiumauf. Dies finanzieren wir über den Hochschulpakt.
Wir haben die Mittel für Bildung um 800 Millionen Euroaufgestockt. Der Hochschulpakt II umfasst insgesamt3,5 Milliarden Euro. Die Zahl der Hochschulabsolventenist in den letzten 15 Jahren von 14 Prozent auf 30 Pro-zent eines Jahrgangs gestiegen. Im Bereich der Ingeni-eurwissenschaften ist die Zahl der Studienanfänger imletzten Jahr um 24 Prozent gewachsen.
Wenn Sie an diesen Zahlen nicht erkennen, dass das gutangelegtes, gut investiertes Geld ist, dann leben Sie in ei-nem anderen Land, Herr Röspel, oder Sie können Zahlennicht lesen oder leiden an der einen oder anderen Stellean Gedächtnisschwund.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutsch-land ist ein weltoffenes Land. Wir haben die Zahl derStudenten mit ausländischem Pass in den letzten 15 Jah-ren vervierfacht, von 10 000 auf fast 38 000.
Es hat sich gelohnt, die Mittel für den DAAD oder dieAlexander-von-Humboldt-Stiftung aufzustocken, nichtnur im Einzelplan 30, sondern auch in den Einzelplänendes Auswärtigen Amtes und des Entwicklungshilfemi-nisteriums.
– Herr Kollege Hagemann, jede Position im Bildungsbe-reich, im Schavan-Ministerium, hat in den letzten achtJahren einen Aufwuchs erfahren.
Wir stellen uns den Herausforderungen der Zukunft.Auch da, Herr Röspel, sind die Zahlen mehr als beein-druckend. Im Bereich der beruflichen Bildung haben wirvon 2012 auf 2013 einen Zuwachs von fast 30 MillionenEuro. Seit 2005 haben wir einen Aufwuchs um 162 Pro-zent. Das kommt positiv zum Tragen.Bei den Altbewerbern haben wir von Rot-Grün einebesonders schwierige Situation übernommen. In denletzten drei Jahren haben wir die Zahl der Altbewerberum 90 000 reduzieren können. Das ist deswegen einschwieriges Unterfangen, weil diejenigen Altbewerberzuerst wieder in eine berufliche Ausbildung kommen,die die beste Qualifikation haben. Selbstverständlichwird es dann immer schwieriger, die Zahl der Altbewer-ber weiter abzubauen. Wir sind auf diese Herausforde-rung eingegangen; wir haben reagiert.Wir Haushälter sind flexibel – ich bedanke mich andieser Stelle insbesondere bei meinem Kollegen PeterHaustein –: Wir haben die Mittel für die Initiative „Bil-dungsketten“ um 10 Millionen Euro aufgestockt, weildie Antragslage entsprechend war.
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Eckhardt Rehberg
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Wir haben die Förderung der überbetrieblichen Aus-bildungsstätten verstetigt: auf dem Niveau von 40 Mil-lionen Euro; das ist das Niveau der Konjunkturpakete.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlichgeht hier nichts ohne die Länder. Es ist erschreckend,wenn man im Zusammenhang mit dem Fachkräftebünd-nis lesen muss – ich zitiere –:„Es ist mehr als ein Ärgernis“, so Schlüter,– Herr Schlüter ist der stellvertretende Vorsitzende desDGB Bezirk Nord; dieser Bezirk umfasst die LänderSchleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern –wenn sich offenbar Bildungsminister … Brodkorb
und Sozialministerin … Schwesig (SPD)
nicht einigen könnten, wer dafür zuständig ist.Man muss doch von den Ländern erwarten können, dasssie dort, wo der Bund aktiv ist, sich einbringen, stattdanebenzustehen und zuzuschauen, ohne die Problemezu lösen.
Schauen wir uns die Bilanz im Bereich der Forschungan. Wir sind kurz davor, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen.Besonders beeindruckend ist, dass die öffentlichen In-vestitionen, die Mittel des Bundes, private Investitionenin erheblicher Größenordnung nach sich gezogen haben.Wir haben auch deswegen eine so positive wirtschaftli-che Entwicklung, weil gerade im Bereich der Forschungin den letzten acht Jahren eine Menge getan worden ist.Herr Röspel, Sie stellen sich hier kleinkariert undkleinlich hin und sagen, dieses und jenes sei von derSPD gekommen.
– Natürlich. – Im Gegensatz zu Ihnen stehen wir aberdazu, dass wir vier Jahre lang mit Ihnen regiert haben,und ich werde nichts schlechtreden, was wir in dieserZeit positiv mit Ihnen gemeinsam gestaltet haben. Aberso zu tun, als ob wir in den letzten vier Jahren keine Er-folge gehabt hätten, insbesondere im Forschungsbereich,ist das komplette Gegenteil der Realität. Herr Röspel,das Geld, das wir angelegt haben, ist gut angelegtesGeld.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkungzu den neuen Bundesländern machen. Dieses Themawird ja garantiert auch von den Linken wieder angespro-chen.Erstens. Die neuen Bundesländer sind bei der Einwer-bung von öffentlichen Drittmitteln vorne. Die Nummereins ist Mecklenburg-Vorpommern, Nummer zwei istThüringen, Nummer drei ist Berlin, Nummer vier istSachsen, und Nummer fünf ist Brandenburg. Das heißt,diese Länder haben in den letzten zehn Jahren dendurchschnittlich höchsten Zuwachs an öffentlichen Mit-teln gehabt.Zweitens. Ich glaube, auch diese Zahl muss in diesemHause einmal genannt werden: Vom Gesamtetat des For-schungsministeriums sind in den verschiedenen Rubri-ken im Ist 2011 1,83 Milliarden Euro in die neuen Bun-desländer geflossen.Deswegen glaube ich, dass sich gerade diese Bundes-regierung ihrer Verantwortung gegenüber den neuenBundesländern bewusst ist und ihr auch gerecht gewor-den ist. Ich denke ganz einfach, wer heute einmal anUniversitäten und an Fachhochschulen im OstenDeutschlands geht, wer den baulichen Zustand und dieQualität von Lehre und Forschung betrachtet und werauch sieht, wie weit vorne diese Universitäten und Fach-hochschulen in den Rankings der Studenten sind, derweiß, dass wir hier etwas mehr als Positives und sehrGutes vorzuweisen haben.
Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Röspel, bin ich ganzeinfach der Auffassung: Diesem Land, gerade im Be-reich der Bildung und Forschung, tun nur weitere vierJahre CDU/CSU-FDP-Regierung gut.
Unter Ihnen – das haben Ihre sieben Jahre unterSchröder gezeigt – wurde die Forschung nicht gerade gutbehandelt.
Bei der Bildung haben Sie viele Sprechblasen im Mundgeführt. Heute, das muss ich Ihnen sagen, sind Sie völligaußer Rand und Band. Sie fordern 20 Milliarden Eurozusätzlich für Bildung und Forschung, davon 10 Milliar-den Euro vom Bund und 10 Milliarden Euro von denLändern.
Ich kann Ihnen nur sagen: Viel Vergnügen in Wolken-kuckucksheim.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! DieserBildungshaushalt markiert aus meiner Sicht keinen Auf-bruch, sondern er ist pure bildungspolitische Stagnation.
Die Regierung findet für sich selbst natürlich viele lo-bende Worte und behauptet, man bewege sich auf dieganz oft und auch schon sehr lange beschworene Bil-
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Nicole Gohlke
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dungsrepublik zu. Aber ich muss Ihnen sagen: Sie sindja dermaßen leicht zufriedenzustellen. Ihnen reicht es jaoffenbar schon aus, dass der Bildungshaushalt nicht, wieandere Haushaltsposten, auch noch abgeschmolzen wird.
Die Frage ist aber nicht, ob die Regierung zufriedenge-stellt ist, sondern die Frage ist, ob die Menschen zufrie-den sind.
Ich sage Ihnen: Für die jungen Menschen, für dieSchülerinnen und Schüler, für die Studierenden und fürdie Auszubildenden, ist es eine Katastrophe, wie Sie dieAugen vor deren Problemen verschließen.
Ich bin mir aber sicher, dass die Studierenden und dieSchülerinnen und Schüler Sie schon noch darauf auf-merksam machen werden. Offenbar brauchen Sie immererst eine Protestbewegung, bevor Sie politisch etwas da-zulernen. In meinem Bundesland Bayern kommt ja sogardie CSU infolge der Bildungsproteste und im Angesichtder politischen Niederlage zu ganz ungeahnten Einsich-ten und will jetzt auf einmal die Studiengebühren ab-schaffen.
Die Linke sagt Nein zu diesem Haushalt, und ich sageIhnen auch, warum:Erstens. Er verwaltet den Mangel, er bietet aber we-der dem Bildungs- noch dem Wissenschaftssystem eineZukunft.Zweitens. Die finanziellen Aufstockungen kommennicht da an, wo sie am dringendsten gebraucht werden,sondern Sie schieben das Geld wieder in Elite- undStandortprojekte.Drittens. Damit verfestigt diese Regierung auch imBereich Bildung die soziale Spaltung in der Gesell-schaft, und das ist vor allem eine gesellschaftspolitischeKatastrophe.
Was ist der Stand der Dinge? In den letzten Monatengab es gleich mehrere Untersuchungen, die wieder ein-mal belegt haben, wie sehr die soziale Herkunft den Bil-dungserfolg in der Bundesrepublik bestimmt. Da dieBundesregierung diese Ergebnisse offenbar nicht mehrpräsent zu haben scheint, zitiere ich noch einmal daraus.Die Studie „Aufstiegsangst“ der Vodafone-Stiftung bei-spielsweise sagt, die Chance von Kindern aus akademi-schen Elternhäusern, ein Studium aufzunehmen, seisechsmal höher als bei Kindern aus sogenannten bil-dungsfernen Schichten.Die OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ sagt,dass nur 20 Prozent der jungen Erwachsenen in der Bun-desrepublik ein höheres Bildungsniveau als ihre Elternerreichen. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 37 Prozent.22 Prozent der jungen Erwachsenen schließen ihre Aus-bildung sogar mit einem niedrigeren Bildungsabschlussals ihre Eltern ab. Damit ist Deutschland eines von dreiLändern, in denen die Bildungsmobilität nach unten stär-ker ausgeprägt ist als nach oben.Die DGB-Studie „Generation abgehängt“ sagt, dass2,2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahrenkeinen Berufsabschluss, dementsprechend schlechtePerspektiven auf dem Arbeitsmarkt haben und kaum ih-ren Lebensunterhalt verdienen können. Das sind Faktenund nicht etwa linke Ideologie.Alle Studien zeigen ausnahmslos: In der Bundesrepu-blik werden Bildungschancen vererbt. Es ist in der Bil-dung wie in einer Art Kastensystem: bildungsnah bleibtbildungsnah, und bildungsfern bleibt bildungsfern. Da-ran soll sich nach dem Willen von Schwarz-Gelb offen-sichtlich auch nichts ändern. Reden Sie doch nicht vonder Bildungsrepublik, wenn Sie noch nicht einmal aufdie Idee kommen, dass ein Bildungshaushalt in einer sol-chen Situation viel mehr leisten müsste, als ein paar Lö-cher zu stopfen und ein bisschen nachzubessern. So vielIgnoranz muss man in einer solchen Situation erst ein-mal aufbringen.
Schauen wir uns einmal konkret an, was die Regierungtut und was sie unterlässt. Statt Nachqualifizierungspro-gramme für junge Menschen ohne Berufsabschluss aufzu-legen, bleibt die Regierung beim Förderdschungel ver-schiedener Projekte. Niemand findet sich darin zurecht.Das Geld kommt nicht da an, wo es eigentlich sollte.Statt mit Bundesgeld endlich umfassend in eine bessereschulische Bildung zu investieren, die eine individuelleLernförderung ermöglichen würde, blockieren Sie dieumfassende Abschaffung des Kooperationsverbotes undverweigern, dass der Bund mit seinem Geld den Ländernin der Bildung helfen kann.
Statt die Forschung in der Breite auf solide Füße zustellen und statt endlich umfassende Forschungspro-gramme für die neuen Bundesländer und für Fachhoch-schulen auf den Weg zu bringen, setzen Sie weiter aufeine Politik der Eliteförderung. Sie kümmern sich nurum Ihre Leuchttürme und wollen nicht wahrhaben, dassdie längst in der Wüste stehen.Statt ein Programm für die Juniorprofessur aufzulegenund statt endlich die Tarifsperre für den Wissenschaftsbe-reich aufzuheben, betreiben Sie Projektfinanzierung undDeregulierung, heißt also miserable Beschäftigungsbe-dingungen beim wissenschaftlichen Personal.Zu all diesen Punkten sagt die Linke Nein.
Im Hochschulbereich haben wir die gleiche Misere:Statt den Hochschulpakt endlich bedarfsgerecht aufzusto-cken, statt die tatsächlichen Bedürfnisse der jungen Ge-
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neration zum Maßstab für die Finanzierung zu nehmen,bleiben Sie bei Ihren selbst berechneten Fantasiezahlen.Jetzt musste sogar schon die Kultusministerkonferenzihre Prognosen nach oben korrigieren und hat berechnet,dass bis zum Jahr 2020 mindestens 750 000 Studien-plätze fehlen werden. Aber selbst diese Zahl, selbst dieseFakten ignorieren Sie. Für 2012 geht die Bundesregie-rung von einer Studienanfängerzahl von 434 000 aus.Die KMK geht aber von 490 000 aus. Das heißt also, esfehlen schon jetzt mindestens 56 000 Studienplätze. Dievorgesehene Anhebung der Mittel für den Hochschul-pakt wird also bei weitem nicht ausreichen, um den Be-darf zu decken.
Während der Bedarf noch nicht einmal gedeckt ist,planen Sie aber schon, das Geld für den Hochschulpaktdirekt nach der Bundestagswahl ab 2014 wieder abzu-senken, weil ja dann – so argumentieren Sie, und so hof-fen Sie wahrscheinlich auch – das Studierendenhoch„überstanden“ ist. Fakt ist aber: Wir haben es eben nichtmit einer kurzfristigen Spitze zu tun, nicht nur mit ein-maligen doppelten Abiturjahrgängen und den Effektendes Aussetzens der Wehrpflicht, sondern mit einer ge-stiegenen Studierneigung. Das heißt, immer mehr jungeMenschen wollen studieren.
75 Prozent der Bachelorabsolventinnen und -absolven-ten wollen nach dem Bachelor einen Master machen.Darüber sollten wir uns freuen. Es könnten noch vielmehr sein, wenn nicht jedes Jahr Tausende von denHochschulen abgelehnt würden.
Die Folgen Ihrer Politik sind deutlich sichtbar: ImStudienjahr 2011 fehlten fast 100 000 Studienplätze. Ak-tuell rechnete man allein in Kassel mit 31 000 Bewer-bungen auf 3 500 Plätze. In Leipzig – auch das sind Fak-ten – kamen im Fach Psychologie auf 72 Studienplätzeknapp 4 000 Bewerberinnen und Bewerber. In Baden-Württemberg werden wahrscheinlich ab 2013 mindes-tens 7 000 Masterplätze fehlen.Eine Studienberechtigung reicht schon lange nichtmehr aus, um studieren zu dürfen. Die Studierwilligenmüssen ein absurdes und völlig intransparentes Geflechtvon Zulassungsbeschränkungen, Numerus clausus, Aus-wahlverfahren, Extratests, Motivationsschreiben übersich ergehen lassen. Von einem Recht auf Bildung undAusbildung keine Spur.Die Hochschulen platzen aus den Nähten. Vielleichtmüssen Sie einmal vor Ort gehen und es sich anschauen,wenn Sie es nicht glauben wollen. Die Wohnheime undMensen sind völlig überlastet. Die Studierenden müssenteilweise bis Weihnachten warten, bis sie ihr erstesBAföG erhalten. Aber Schwarz-Gelb fehlt natürlich jedeForm von Fantasie, sich vorzustellen, wie es ist, überdrei Monate ohne jede Finanzierung zu leben.
Sie wollen stattdessen die Mittel für das BAföG imkommenden Jahr um 15 Prozent kürzen, obwohl dasBAföG derzeit viel zu wenige erreicht und obwohl derdurchschnittliche BAföG-Satz derzeit bei nur 436 Euroliegt und obwohl im Übrigen allein ein Zimmer in Mün-chen schon 350 Euro kostet. Statt das BAföG zum In-strument des sozialen Ausgleichs zu machen, statt dieAltersgrenzen abzuschaffen, auf Vollzuschuss umzustel-len und endlich auch Schülerinnen und Schüler zu för-dern, erhöhen Sie die Mittel für Ihre Schnapsidee vomDeutschlandstipendium,
bei dem in diesem Jahr wahrscheinlich 16 MillionenEuro verfallen werden, weil sich nicht genügend Firmenoder Sponsoren finden, die dieses Programm kofinanzie-ren wollen. Das ist doch absurd und geht völlig an denBedürfnissen der Menschen vorbei.
Jetzt höre ich Sie natürlich schon wieder sagen, dassSie uns Linken eine Wünsch-dir-was-Politik vorwerfen.Aber in Ihren eigenen Studien finden sich sehr wertvolleHinweise, wie man eine gute Bildung für alle finanzie-ren kann. Im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundes-regierung heißt es zum Beispiel: Die vermögensstärksten10 Prozent der Haushalte vereinen 53 Prozent des ge-samten Nettovermögens auf sich; der unteren Hälfte derHaushalte bleibt gerade einmal 1 Prozent. – Die Süd-deutsche Zeitung hat angesichts dieser Zahlen getitelt:„Reiche trotz Finanzkrise immer reicher“.Während das Nettovermögen des Staates in den ver-gangenen 20 Jahren um über 800 Milliarden Euro zu-rückgegangen ist, hat sich das Nettovermögen der priva-ten Haushalte von knapp 4,6 Billionen auf 10 BillionenEuro mehr als verdoppelt. Auch hier finden sich in Ihreneigenen Berichten und Untersuchungen deutliche Zah-len: Eigentlich liegt der Zusammenhang auf der Hand.Wir haben ein Einnahme- und kein Ausgabenproblem.Wir müssen nicht sparen: Wir müssen umverteilen.
Die Steuerpolitik dieser Regierung und ihrer Vorgän-ger belastet aber seit Jahren die unteren Einkommens-schichten und entlastet die oberen Schichten, die mittler-weile gar nicht mehr wissen, wohin sie mit all dem Geldsollen. Wir brauchen endlich eine Umverteilung vonoben nach unten und nicht umgekehrt.Da wird auch nicht die von den Grünen auf ihremParteitag jetzt beschlossene einmalige Vermögensabgabereichen; denn wenn wir die Schieflage in dieser Gesell-schaft ändern wollen, dann müssen wir das eben nichteinmalig, sondern dann müssen wir das langfristig unddauerhaft tun. Wir brauchen neben einer Vermögensab-gabe eine Millionärsteuer, eine Anhebung des Spitzen-steuersatzes auf 53 Prozent und eine höhere Erbschaft-steuer. Die Linke will endlich Schluss damit machen,dass soziale und Bildungschancen wie im Feudalismusvererbt werden.
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Der Regierung ist so ein Denken freilich fremd. Sieverweigert Chancengleichheit. Sie verweigert aktivenAusgleich. Die FDP hält wie in Bayern an einer Politikfest, bei der man sich den Bildungszugang und die Bil-dungschancen käuflich erwerben kann, wie im Falle vonStudiengebühren. Aber die Bürgerinnen und Bürger wol-len nicht für das, was Ihnen rechtmäßig zusteht, zahlen.Sie wollen nicht, dass der Geldbeutel und der sozialeStatus der Eltern darüber bestimmen, welchen Bildungs-weg die Kinder nehmen. Damit haben sie recht; dennBildung ist ein Menschenrecht. Für dessen Gewährleis-tung hätte diese Regierung eigentlich zu sorgen.
Das Wort hat nun Heinz-Peter Haustein für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Da-men und Herren! Deutschland ist ein tolles Land: flei-ßige Menschen, gut ausgebildete Handwerker, kompe-tente Ingenieure und Ärzte, einfach ein schönes Land.
Es ist auch deshalb ein schönes Land, weil in diesemLand unter dieser Regierung von CDU/CSU und FDPder Schwerpunkt auf Bildung und Forschung gelegtwird.
Ich bin Berichterstatter für den Einzelplan 30 desMinisteriums für Bildung und Forschung der verehrtenFrau Annette Schavan. Herzlichen Dank für die sehrgute Zusammenarbeit! Dank geht auch an Herrn Lee,den Haushälter, an Herrn Helge Braun, an ThomasRachel. Es war ein richtig gutes Miteinander, so wie dasin unserer Koalition zwischen FDP und Union immer ist.
Als Haushälter ist man für Zahlen zuständig. Ich be-danke mich beim Hauptberichterstatter, Herrn KlausHagemann, bei Herrn Michael Leutert, bei TobiasLindner und natürlich ganz besonders bei meinem gutenFreund Herrn Eckhardt Rehberg aus Rostock. Gemein-sam haben wir das Zahlenwerk fundiert aufgestellt.Zahlen sind Fakten, und diese Fakten werde ich euch– vor allem euch von Rot-Grün – gerne vortragen. Wirhaben in diesem Jahr den Haushalt um rund 800 Millio-nen Euro auf 13,74 Milliarden Euro aufgestockt. DieseZahl müsst ihr erst einmal erreichen,
und das in einer Zeit, in der eine Wirtschafts- und Fi-nanzkrise weltweit ihr Unwesen treibt und Sparen ange-sagt ist. Das tun wir auch. Wir setzen bei Bildung undForschung Prioritäten und stocken dort auf. Denn wirwissen: Der einzige Rohstoff, den wir im Land haben, istunsere Bildung und der Grips zwischen unseren Ohren.In diesen Bereich wird investiert, und das ist Investitionin die Zukunft.
Ein paar Zahlen seien genannt, liebe Freunde. Wir ha-ben in Kap. 3002 3,25 Milliarden Euro. Ich nenne einpaar Details, um den Aufwuchs zu zeigen. Die Zu-schüsse an das Begabtenförderungswerk steigen um12 Prozent auf 198 Millionen Euro. Bei der Modernisie-rung und Stärkung der beruflichen Bildung gibt es einPlus von 15 Prozent auf 214 Millionen Euro und bei derStärkung des Lernens im Lebenslauf ein Plus von26 Prozent auf 168,5 Millionen Euro.Wir haben die Mittel für den Hochschulpakt um wei-tere 49 Prozent auf 2,17 Milliarden Euro aufgestockt,und wir haben die Mittel für den Qualitätspakt Lehre um15 Prozent auf 200 Millionen Euro erhöht. Im BereichKlimaforschung und Lebensraum Erde, Energie habenwir die Mittel um 135 Prozent auf 86 Millionen Euro er-höht.Diese Zahlen nimmt man so hin. Dabei lohnt sich einVergleich. Diese Regierung hat vor drei Jahren mit10,2 Milliarden Euro im Bereich Bildung und Forschungbegonnen und hat das dann im Haushalt um genau3,6 Milliarden Euro aufgestockt. Das sind 900 MillionenEuro pro Jahr. Schwarz-Gelb hat also etwas Gutes getan.
Sehen wir das im Vergleich zu Rot-Grün: Ihr hattetsieben Jahre Zeit zum Regieren.
Es wurde gesagt, ihr hättet viel für Bildung und For-schung getan. Deshalb nenne ich einfach Zahlen; dennZahlen sind Fakten. Ihr habt den Haushalt in sieben Jah-ren von 6,7 Milliarden Euro auf 7,6 Milliarden Euro,also um genau 911 Millionen Euro, erhöht. Schämteuch!
Das sind die Fakten. Dies ist eine Bildungsregierung,und wir machen eine Bildungsrepublik. Ihr aber habt dieBildung und die Forschung verschlafen. Das sind dieFakten.
Zum Abschluss in diesem Sinne ein herzliches Glück-auf aus dem Erzgebirge!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25469
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Das Wort hat nun Tobias Lindner für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Etatberatungenund vor allem Beratungen über den Bildungsetat in die-ser durchaus lebhaften Stimmung bei einem der letztenTagesordnungspunkte am heutigen Tag haben auch im-mer etwas von Schule und erst recht von Zeugnisver-gabe. Wie es bei Zeugnisvergaben so ist: Da gibt es Lobund Tadel.Ich möchte heute Abend durchaus mit einem Lob be-ginnen. Der Einzelplan 30 wächst im Jahr 2013 erneut,um 800 Millionen Euro. Das ist eine gute Nachricht,Frau Ministerin. Für diese Nachricht verdient die Bun-desregierung erst einmal ein Lob. So ehrlich sind wirgerne. Keine Angst: Es wird das einzige Lob in meinemBeitrag bleiben.
Der Feststellung, die Sie, geschätzter Herr KollegeHaustein, getroffen haben, nämlich dass Deutschland einschönes Land ist, würde ich durchaus beipflichten. Dassdie Koalition sich immer einig ist und bei Ihnen alles im-mer in Eintracht stattfindet, da hätte ich durchaus meineZweifel. Über zwei weitere Punkte sind wir uns aber si-cher einig: Bildung ist die wichtigste Voraussetzung fürgesellschaftliche Teilhabe. Mit Bildung beginnt alles,mit Bildung kann man vieles richtig machen, und wasman bei Bildung falsch macht, muss man später an vie-len anderen Stellen teuer und teurer korrigieren. Ge-nauso ist richtig – da hätten wir uns durchaus mehr vonIhnen gewünscht –: Der wichtigste Rohstoff der Indus-trienation Deutschland sind Wissen und Forschung. Ge-rade deshalb sind Mittel in dem Etat für Bildung undForschung so wichtig.
Kommen wir zu den Tadeln. Geld allein macht nichtglücklich, und mehr Geld allein bedeutet noch langenicht eine bessere Bildungs- und Forschungspolitik;denn es kommt entscheidend darauf an, wo man diesesGeld einsetzt und dass man die Prioritäten auf die richti-gen Projekte setzt. Mit bildungspolitischen Irrläufernwie dem Betreuungsgeld und mit der Förderung vonKerntechnik und Genforschung setzt diese Bundesregie-rung die falschen Schwerpunkte, obwohl sie mehr Geldausgibt. Das muss ein Ende haben.
Ich will ein Wort – das ist schon angesprochen wor-den – zur mittelfristigen Finanzplanung sagen. Es ist gut,dass dieser Etat anwächst, und es mag nicht unbedingtein Zufall sein, dass im nächsten Jahr eine Bundestags-wahl stattfinden wird. Aber wenn man sich die mittel-fristige Finanzplanung in vielen Bereichen anschaut,dann setzt man doch einige Fragezeichen hinsichtlichdessen, was nach dem Jahr 2013 kommen wird. Mankönnte auch sagen: Man fragt sich ernsthaft, ob der Etat2013 nicht nur Kosmetik ist. Nachhaltige, langfristigeFinanzierung im Bereich Bildung und Forschung siehtanders aus.
Ich habe über falsche Prioritäten gesprochen. Ichmöchte wegen der Kürze der Zeit das, was ich meine, anvier Beispielen kurz ausführen. Der erste Punkt ist dasnationale Stipendienprogramm. Obwohl sich die Anzahlder vergebenen Stipendien erhöht hat
– verdoppelt, das will ich durchaus konzedieren –, liegenwir immer noch bei nur 11 000 Stipendien angesichtsvon 2,3 Millionen Studierenden in diesem Land. Bil-dungsgerechtigkeit sieht anders aus. Mit anderen Wor-ten: Das Deutschlandstipendium ist ein Ladenhüter. Daswürden Sie noch nicht einmal am Grabbeltisch jetzt inder Weihnachtszeit loswerden.
Wir, Bündnis 90/Die Grünen, möchten diese Mittelverwenden, um mehr Geld für das BAföG bereitzustel-len. Wir möchten höhere Frei- und Förderbeträge. Ichfüge hinzu: Wir möchten auch lebenslanges Lernen ernstnehmen. Wir müssen schauen, dass wir den Einstieg inein Erwachsenen-BAföG hinbekommen.
Mein zweiter Punkt betrifft den Hochschulpakt. Es istbegrüßenswert, dass die Studierendenzahlen in Deutsch-land steigen. Wir und viele Experten glauben, dass dieStudierendenzahlen auf einem hohen Niveau verharrenwerden, dass wir es nicht mit einem Gipfel bei den Stu-dierendenzahlen zu tun haben, sondern mit einem Hoch-plateau. Dieser Erkenntnis, Frau Ministerin, wird derHochschulpakt nicht gerecht. Hier bedürfte es geradevom Bund eines Signals – ich will durchaus zugestehen:auch von den Ländern –, und hier müsste man einen stär-keren Schwerpunkt setzen.
Dritter Punkt. Ich will zum Thema Lernfähigkeit undzu einem vermeintlich großen Erfolg der Großen Koali-tion kommen, dem Kooperationsverbot. Ich bin frohüber die Lernfähigkeit der Sozialdemokraten. Ichglaube, wir sind uns einig, dass das Kooperationsverbotfallen muss. Es darf aber nicht nur im Bereich Forschungfallen, es darf nicht nur punktuell fallen, sondern es mussin der gesamten Bandbreite des lebenslangen Lernensfallen. Wenn wir über mehr inklusive Bildung redenwollen, über mehr Ganztagsschulen, dann muss auch andieser Stelle das Kooperationsverbot fallen.
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25470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Dr. Tobias Lindner
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Meinen vierten und letzten Punkt könnte ich über-schreiben mit: Anwendung von gelernten Fähigkeiten,Merkfähigkeit oder Teamfähigkeit. Meine Fraktion hatim Haushaltsausschuss einen Antrag zu Open Sourceeingebracht. Darin geht es darum, dass wir dann, wennwir staatliche Fördergelder für die Forschung bereitstel-len, wollen, dass die Ergebnisse in einer Datenbank ge-sammelt werden und öffentlich zugänglich sind undnicht ausschließlich in teuren Fachjournalen publiziertwerden. Das Problem ist: Wir haben diesen Antrag fastwortwörtlich abgeschrieben. Ich will hier gern gestehen,dass er durchaus ein Plagiat sein mag. Wir haben in die-sem Antrag eine Forderung aus der Enquete-Kommis-sion „Internet und digitale Gesellschaft“ übernommen.Wenn ich es richtig im Kopf habe, dann hat die Koalitiondiese Forderung dort mitgetragen. Im Haushaltsaus-schuss konnten Sie sich anscheinend nicht mehr daranerinnern. Ich bedauere sehr, dass Sie diesen Antrag ab-gelehnt haben.Ich komme zum Schluss. Sie wollen mit dem Etatent-wurf 2013 ein letztes Mal Rekordausgaben präsentieren.Mehr Geld allein macht nicht glücklich. Sie setzen diefalschen Schwerpunkte. So wird das nichts mit der Bil-dungsrepublik, Frau Ministerin. Angesichts dieser Leis-tung ist Ihre Versetzung im nächsten Jahr akut gefährdet.Wir Grüne haben aufgezeigt, wo wir es besser gemachthätten. Dem sind Sie nicht gefolgt, und deshalb lehnenwir Ihren Etatentwurf ab.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Bundesministerin Annette Schavan.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der größte Anteil der Wert-schöpfung in Deutschland basiert auf Forschung. Es istdie erste Leitlinie für Forschungs- und Innovationspoli-tik in Deutschland, Sorge dafür zu tragen, dass diesePolitik konzeptionell so angelegt ist, dass dieser Anteilstark ist, sich weiterentwickeln kann und dass damitauch in Zukunft Grundlagen für wirtschaftliches Wachs-tum vorhanden sind.Die Zukunftschancen der jungen Generation zu si-chern, gehört zu den vornehmsten Aufgaben einer Ge-sellschaft.
Die zweite Leitlinie für unsere Bildungs- und For-schungspolitik ist, beim Thema Zukunftschancen starkzu sein und Sorge dafür zu tragen, dass junge Menschenin Deutschland gute Chancen bekommen.Wissenschaftssysteme überall in der Welt werden im-mer stärker auf Internationalisierung ausgerichtet. EineWissenschaftsnation, die etwas auf sich hält, trägt Sorgedafür, dass der eigene Wissenschaftsstandort für die an-deren starken Wissenschaftsstandorte attraktiv ist. Diedritte Leitlinie unserer Bildungs- und Forschungspolitikist, dafür zu sorgen, dass Deutschland ein starker, rele-vanter Forschungsstandort ist, an den Forscher und For-scherinnen aus aller Welt kommen.
Diese drei Leitlinien – die Basis für künftige Wert-schöpfung, die Signale an die junge Generation und dieInternationalisierung, um attraktiv zu sein – haben dieseBundesregierung und die sie tragenden Fraktionen indieser Legislaturperiode verfolgt. Davon zeugt dieserHaushalt. Davon zeugen insgesamt vier Haushalte. Dassagt Ihnen jeder in der Szene. Das wissen Sie auch;manchmal sind Sie sogar dabei, wenn das gesagt wird.Das wird überall in der Welt gesagt. Das führt bei unsüberhaupt nicht dazu, dass wir uns irgendwie selbstge-recht zurücklehnen. Die Arbeit ist viel zu spannend, alsdass wir, die Union oder die FDP, sagen würden: Wir ha-ben jetzt alles getan, was man tun muss. – Vielmehr wis-sen wir längst, was die nächsten Schritte sind. Wir disku-tieren darüber. Sie allerdings lamentieren, unentwegt.
Ich kann das ja verstehen. Es ist gar nicht schlimm.
Das kann man in der Opposition. Das fällt kaum auf. Esstört auch keinen.
Es stört überhaupt nicht. Aber ich finde das schon be-dauerlich. Wir stehen jetzt zehn Monate vor einer Bun-destagswahl, und die SPD ist vollkommen im Wahl-kampfmodus, bei allem. Sie haben einfach umgeschaltet.Statt jetzt zur Kenntnis zu nehmen, dass in solch schwie-rigen Zeiten, wie wir sie haben – in Europa, aber auchglobal; ich denke nur an das Thema „Zukunftschancender jungen Generation“ – –
– Immer wenn Sie mir geholfen haben, habe ich dasauch gesagt. Das war gar kein Problem. Aber was ichheute hier gehört habe, ist für eine kreative bildungs-oder wissenschaftspolitische Diskussion nicht gerade ge-eignet.
Ich nehme das alles jetzt so zur Kenntnis. In derGWK, der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, gibtes auf der A-Seite kluge Minister und Ministerinnen, diemir unter vier Augen sagen: Wir würden das gernemachen. Sie haben ja recht. Es ist wichtig, dass wir denArt. 91 b Grundgesetz ändern. Es ist wichtig, dass wirdie Lehrerausbildung wechselseitig anerkennen und mitder Qualitätsoffensive beginnen können. Es ist wichtig,dass das, was vorgeschlagen wurde, durchgeführt wer-den kann. Aber wir befinden uns in einem Prozess, aus
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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dem wir nicht ausbrechen dürfen. Wir müssen dies alleserst einmal ablehnen.
Das ist nicht gut für das Land und nicht klug in der poli-tischen Auseinandersetzung. Das merken die Menschen.
Also, Sie sind im Wahlkampfmodus, spielen Verwei-gerung auf ganzer Linie. Ich nehme das zur Kenntnis.Wir werden die offenen Punkte überall ansprechen.Ich komme jetzt zum Art. 91 b Grundgesetz. Das län-deroffene Gespräch hat stattgefunden. Es sind vier Prüf-aufträge vergeben worden: zwei für die Länder, zwei fürden Bund. In der letzten Woche habe ich im Vorfeld derGWK auf die Frage, wie es mit der Prüfung auf derEbene der Länder aussieht, nur die Antwort bekommen:Wir waren bei den beiden Prüfaufträgen nicht sicher,was wir da prüfen sollten. Es braucht alles noch Zeit. –Auf meine Frage, auf was sich die Länder, auf was sichdie A-Seite und die B-Seite einigen könnten, gab es dieAntwort: Sie wissen ganz genau, dass es keine Einigungauf der Ebene der 16 Länder gibt. Die einzig möglicheEinigung ist, dass der Bund Steuerpunkte abgibt undsich ansonsten heraushält. – Das kommt nicht infrage,weil das nichts mit Kooperation zu tun hat.
– Wir haben ein Angebot gemacht. Das betrifft die Än-derung des Art. 91 b.
– Natürlich heißt das: für alle Hochschulen.
Seit wann sind bei Bundesprogrammen Hochschulenvon vornherein ausgeschlossen?
– Das sagen Sie. Das ist Ihr schwaches, von Ihnen im-mer wieder wiederholtes Argument. Sie können noch sooft in Deutschland über Exzellenz wettern. Der StandortDeutschland braucht Exzellenz, sonst wird er irrelevantin der Welt. Sie wissen außerdem, dass Zentren fürislamische Studien, Gesundheitsforschungszentren undvieles andere überhaupt nichts mit Exklusivität zu tunhaben, sondern dringend notwendige Impulse in unse-rem Wissenschaftssystem setzen.
Das Etikett, dass ich nur eine Vorliebe für die Elite habe,habe ich schon so lange, dass es mich immer wenigerstört.Wenn Sie sich den Haushalt anschauen – damitkomme ich zum zweiten großen Projekt –, dann wissenSie, dass er nicht mit Eliteprojekten bestückt ist. DiePosition Hochschulpakt enthält zum Beispiel für dasJahr 2013 Mittel in Höhe von 1,8 Milliarden Euro –1,8 Milliarden Euro in einem einzigen Jahr zur Schaf-fung von Studienplätzen. Es sind, dieses Jahr ein-bezogen, in den vergangenen Jahren 500 000 neue Studi-enplätze an Hochschulen und insbesondere an Fach-hochschulen entstanden.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Nein, ich werde keine Zwischenfragen zulassen.Nie war die Lust aufs Studieren so groß wie heute.Niemals zuvor hat eine Bundesregierung mit Unterstüt-zung der sie tragenden Fraktionen so viel Geld in dieBreite der Hochschulen, in die Grundfinanzierung derHochschulen gegeben wie diese Bundesregierung. Nur,das Problem der Hochschulen ist doch nicht der Bund.Das Problem der Hochschulen ist, dass nahezu keinLand nachweisen kann, wie es die Kofinanzierung auf-bringen will.
Wenn Sie den Hochschulen und den Studierenden inDeutschland etwas Gutes tun wollen, dann machen SieIhren Landesregierungen klar, dass sie die Gelder für dieHochschulen nicht kürzen dürfen, sondern erhöhen müs-sen, und zwar in dem Maße, wie es der Bund macht.
Tatsache ist – da brauchen Sie sich gar nicht so zuechauffieren –, dass wir ein eindeutiges Verfahren zwi-schen Bund und Ländern vereinbart haben. Ende desMonats gibt es die Schnellmeldung. Dann wissen wir,wie viele junge Leute tatsächlich im Wintersemester ihrStudium begonnen haben. Dann werden sich die Staats-sekretäre treffen und ausrechnen, was das mit Blick aufbislang Geplantes bedeutet und ob eventuell zugelegtwerden muss.Auch an dieser Stelle gibt es keinen graduellen, son-dern einen fundamentalen Unterschied: Immer dann,wenn Schnellmeldungen ergeben haben, dass die Zahlen
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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größer sind als prognostiziert, hat der Bund bei denMitteln zugelegt, und zwar jedes Jahr. Allein im Haus-haltsjahr 2013 gibt es gegenüber der ursprünglichenPlanung ein Plus von 660 Millionen Euro. Der Bund hatjedes Jahr zugelegt,
die Länder aber nicht, und das ist schlecht, HerrHagemann.
Wenn die Länder bei den Mitteln nie zulegen, dann führtdas halt zu schwierigen Situationen an den Hochschulen.
Verweigerung führt zu gar nichts.Wir hätten in Deutschland eine Supersituation, wennjeder in dem Bereich, in dem er Verantwortung trägt,dafür sorgt, dass das, was vereinbart wurde, auch einge-halten wird. Es gibt viele Länder, in denen Sie Verant-wortung tragen. Deutschland könnte ein Bildungspara-dies sein, wenn die Länder in diesem Bereich so viel wieder Bund tun würden. Kümmern Sie sich also darum!
Über die Zukunftschancen der jungen Generationhaben wir in der letzten Debatte gesprochen. Sie wissen,dass wir in Deutschland die niedrigste Jugendarbeits-losigkeit haben. Sie wissen, dass andere Länder unsereduale Ausbildung übernehmen wollen. Sie wissen umdie Reduzierung im Übergangssystem. Alle Zahlen sindbekannt.Jetzt zur Zukunft. Meine Partei wird in 14 Tagen ei-nen Bundesparteitag abhalten.
– Was ich jetzt sagen will, könnte Sie schon interessie-ren, Frau Ziegler. Hören Sie mir doch einfach bis zumEnde des Satzes zu. – Dieser Bundesparteitag wird einenBeschluss fassen, in dem es heißt: Auch in Zukunft plus5 Prozent für die Forschungsorganisationen in Deutsch-land.
Von Ihnen höre ich dazu überhaupt nichts. Die einensagen: maximal 3 Prozent. Andere sagen wiederum: Dasist alles sowieso viel zu anstrengend.
– Lieber Herr Röspel, es zählen die Fakten, und es zähltdie Akzeptanz. Politik besteht immer aus Sachgerechtig-keit und Akzeptanz.
Über beides können wir uns nicht beklagen.Wir haben eine Aufbruchsstimmung am Wissen-schaftsstandort Deutschland. Es zeigt sich eine deutlicheVerbesserung der Zukunftschancen der jungen Genera-tion. Das ist ein wunderbares Fundament, um genau indieser Konstellation in Deutschland weiter Politik zumachen.Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Kollegin
Agnes Alpers.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Frau Schavan, Sie
haben verschiedene Punkte angesprochen. Sie haben un-
ter anderem gesagt, die Opposition leiste keine konstruk-
tiven Beiträge und weigere sich, inhaltlich auf Art. 91 b
einzugehen. Ich glaube, alle Oppositionsparteien hier im
Bundestag haben ihren Beitrag dazu geleistet, das Ko-
operationsverbot aufzuheben und in eine Diskussion
über ein Kooperationsgebot einzusteigen.
Ein wesentlicher Vorschlag in diesem Zusammenhang
ist – Stichwort Art. 104 b Grundgesetz –, nicht nur ein
Kooperationsgebot für Hochschulen, sondern für die ge-
samte Bildung zu schaffen. Ich finde es bedauerlich,
dass Sie auf diese konstruktiven Beiträge der Opposition
mit keinem Wort eingegangen sind. Im Übrigen halte ich
Ihre Ausrichtung auf die Bildung in diesem Diskussions-
prozess insgesamt für bedenklich. Da wir heute bei den
Haushaltsberatungen sind, bitte ich Sie, ein Angebot zu
machen. Welche Chancen, Perspektiven sehen Sie und
welche konstruktiven Vorschläge können Sie vorlegen,
um das Kooperationsgebot auf Art. 104 b Grundgesetz
auszuweiten? Sie argumentieren, wie so häufig, folgen-
dermaßen: Wir bieten Zukunftschancen für alle. – Sie
haben vorhin gesagt, dass Sie auf Ihrem nächsten Bun-
desparteitag beschließen wollen, im Haushalt 5 Prozent
mehr für Hochschulen draufzulegen. Das waren Ihre
Worte. Meine Frage ist: Was wollen Sie denn für die
1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren, die
ohne Ausbildung sind, drauflegen? Wo ist da Ihr
Schwerpunkt?
Werden Sie dazu auf Ihrem Bundesparteitag Lösungs-
wege aufzeigen und konkrete Vorschläge machen?
Frau Ministerin, wollen Sie reagieren?
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Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Ich reagiere kurz.Erstens. Meine Angaben zum Bundesparteitag bezie-hen sich auf die jährliche Steigerung um 5 Prozent fürsämtliche Forschungsorganisationen. Das ist ein zentra-ler Punkt.Zweitens. Der Hochschulpakt zwischen Bund undLändern – das Angebot ist längst erfolgt – gilt bis 2020.Die dritte Phase wird dann entsprechend den Prognosenausverhandelt.Drittens. Zur Frage, welches Angebot ich im Blickauf Art. 104 b mache: Wir reden hier nicht über mögli-che Finanzhilfen in Notlagen, sondern wir reden überKooperation.
Eine Kooperation zwischen Bund und Ländern lässt sichjedoch über Art. 104 b nicht regeln.Darum war mein Angebot und damit auch das Ange-bot der Bundesregierung an die Bundesländer: Erstensgehen wir den Schritt, bei dem offenkundig bei den16 Ländern und dem Bund Konsens besteht; das betrifftdie Wissenschaft. Zweitens schaffen wir analog zumWissenschaftsrat einen Bildungsrat mit zwei Kammern,der zunächst den Auftrag erhält, Möglichkeiten für eineKooperation im Bildungsbereich auszuloten. Ich bindazu bereit, aber man muss darüber diskutieren.
Der Bildungsrat wird seitens der Länder jedoch abge-lehnt. Es wird immer gesagt, es gehe alles nicht schnellgenug. Aber es würde schneller gehen, wenn man sichnicht einfach nur verweigern würde.
Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, FrauMinisterin, Sie haben recht: Es herrscht eine Aufbruch-stimmung bei Bildung und Forschung in unserem Lande.Die Zahlen stimmen, zumindest im Hinblick auf diewachsende Zahl der Studierenden. Dieser Erfolg ist abernicht in den letzten drei Jahren vom Himmel gefallen,darüber sind wir uns sicherlich einig.
Das ist vielmehr ein Resultat der Arbeit von vielen Jah-ren, von unterschiedlichen Koalitionen, die das Ganzedurchgesetzt haben. Ich schaue jetzt zu meinem Kolle-gen Klaus-Peter Willsch. In der Großen Koalition habenwir vieles von dem durchgesetzt, was heute Anwendungfindet. Ich frage mich nur: Was gehört davon eigentlichzu den klassischen Projekten von Schwarz-Gelb? Dableibt nicht sehr viel übrig.
Ich möchte noch einmal auf die Geschichtsklitterung,die hier vorgenommen worden ist, zurückkommen. Wiewar denn die Situation, als Rot-Grün 1998/99 die Ver-antwortung übernommen hat? Wie viel Geld wurde daausgegeben für Bildung und Forschung? Es waren7,2 Milliarden Euro. Als Rot-Grün abgelöst wurde, warder Bildungshaushalt – hier muss man das Ganztags-schulprogramm hinzurechnen – auf fast 10 MilliardenEuro gesteigert worden.
Es war eine tolle Leistung – da können die Grünen jetztruhig mitklatschen –,
dass wir das geschafft haben, nachdem Herr Rüttgersweg war vom Fenster und wir endlich eine progressiveBildungs- und Forschungspolitik machen konnten.
Lieber Kollege Eckhardt Rehberg, ich möchte nochzu einem anderen Punkt Stellung nehmen. Sie habenvorhin gesagt, die jetzige schwarz-gelbe Koalition lebedavon, dass wir ein so gutes Wachstum haben. Ja, wirhaben ein gutes Wachstum, wir hatten noch nie so vieleSteuereinnahmen wie jetzt, nämlich 600 MilliardenEuro. Das ist richtig. Wir hatten aber auch noch nie soviele Schulden wie jetzt.
Da die Mehreinnahmen aus dem Wachstum für dieFinanzierung Ihres Haushalts nicht reichten, ist dieVerschuldung enorm gestiegen. Als Gerhard Schröderabgetreten ist, hatten wir eine Verschuldung von68,5 Prozent, jetzt liegt die Verschuldung bei knapp82 Prozent, nämlich bei 81,7 Prozent. Diese Koalitionhat in den letzten drei Jahren für ein Mehr an Schuldenin Höhe von 115 Milliarden Euro gesorgt. Auch dassollte man sagen.
Warum hat sich das Wachstum so gut entwickelt?Weil wir 2009 ein Konjunkturprogramm aufgelegt habenund weil wir die Regelungen für das Kurzarbeitergeldverbessert haben, um die Krise zu überwinden.
Bitte sagen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herrenvon der Koalition, dass Sie sozusagen noch heute davonleben. Das sollten Sie wirklich herausstellen.
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Klaus Hagemann
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Es wurde erwähnt, dass der Pakt für Forschung undInnovation eingeführt wurde. Herr Kollege Braun, Siesitzen jetzt nicht mehr bei Ihrer Fraktion, sondern auf derRegierungsbank. Sie haben gesagt, Steinbrück, der da-malige Finanzminister, habe für die Exzellenzinitiativekeine Mittel in die mittelfristige Finanzplanung einge-stellt.
Die Ministerin hieß damals aber Annette Schavan, lieberHerr Braun.
Sie hat nicht durchgesetzt, dass die Gelder in die mittel-fristige Finanzplanung aufgenommen werden. Auch dassollten Sie sagen, Herr Braun.Ich komme nun auf die schwarz-gelben Projekte zusprechen. Lieber Kollege Haustein, wir beide schätzenuns sehr; das möchte ich hier unterstreichen. Nichtsdes-totrotz möchte ich das Deutschlandstipendium nennen,das die Süddeutsche Zeitung in ihrem gestrigen Kom-mentar als „teuren Flop“ bezeichnet hat. Dem ist nichtshinzuzufügen.Ein weiteres Projekt von Schwarz-Gelb, das im Ko-alitionsvertrag steht – Frau Flach hat es immer wie eineMonstranz vor sich hergetragen –, nämlich die steuerli-che Forschungsförderung, wurde klammheimlich beer-digt; man hört nichts mehr, man sieht nichts mehr. DieWirtschaft ist ganz schön sauer.Das Bildungssparen ist schon einmal von FrauSchavan versenkt worden. Jetzt ist es wiederbelebt wor-den. Ich kann Herrn Meinhardt leider nicht für seineRede in der Debatte über das Betreuungsgeld loben.
Aber die FAZ hat Sie für Ihre Rede gelobt. Es wurde indem Artikel allerdings herausgestellt, dass diese RedeIhnen bei der Kandidatenkür nicht geholfen habe, ver-ehrter Herr Kollege Meinhardt.
– Ich habe zitiert, was in der FAZ steht. – Nur achten Siebitte darauf, dass Sie nicht hinter die Fichte geführt wer-den, Herr Meinhardt. Ich habe nämlich gestern eineFrage zum Bildungssparen gestellt. In der Antwortwurde zum Fördervolumen, zu Fördervoraussetzungenund zu Einkommensgrenzen nichts gesagt.Man muss generell sagen: Bei Forschung und Bil-dung ist in den Haushalten viel Geld obendrauf gekom-men. Das unterstützen wir; darüber freuen wir uns sehr;aber bei der Umsetzung hapert es doch immer wieder.Ich muss hier eigentlich nicht die immer gleichen Bei-spiele nennen, die zeigen, was nicht umgesetzt wordenist. Ich will nur das Beispiel „Qualitätspakt Lehre“ er-wähnen: Da sind die Mittel zwar zu 97 Prozent belegt.Aber es hapert noch daran, dass das Geld auch wirklichin die Universitätskassen und Hochschulkassen fließt: Essind erst 44,3 Prozent der Mittel dorthin ausgezahlt wor-den.Meine Damen und Herren, ich greife noch einmal dasDeutschlandstipendium auf. 20 Millionen Euro Bil-dungsmittel wurden nicht abgerufen und fließen an denFinanzminister zurück. Der Kommentator der Süddeut-schen Zeitung schreibt,
dass sich ein Staat zwar das Stipendiensystem für dieBesten leisten könne. Dann sagt er aber richtigerweise:Seine Kernaufgabe– also die Kernaufgabe des Staates –muss es aber sein, nicht nur die Besten zu fördern,sondern auch diejenigen, die sich Bildung erst er-kämpfen müssen.
Für den Aufstieg durch Bildung – das sei dazu gesagt– wurde beim BAföG nichts getan; nicht einmal einenInflationsausgleich hat es gegeben.
Der Baransatz ist verringert worden.Mich hat am meisten geschockt, lieber KollegeRehberg, was ihr in der Bereinigungssitzung nachts umhalb eins oder halb zwei noch vorgelegt habt:
Erstens wurde die globale Minderausgabe um 30 Millio-nen Euro heraufgesetzt. Das heißt, dass 30 MillionenEuro zusätzlich einzusparen sind. Darüber hinaus wurdebeim Meister-BAföG – auch das möchte ich erwähnen –eine Streichung von 11,5 Millionen Euro vorgenommen.Meine Damen und Herren, das sind Mittel, die geradebei der Finanzierung eines Aufstiegsstudiums fehlen.Das ist heftig zu kritisieren.
Lassen Sie mich beim Stichwort „Schlecht undschleppend umgesetzt“ den Fall der acatech, der Deut-schen Akademie der Technikwissenschaften, anspre-chen, der im Rechnungshofbericht erwähnt wird. FrauMinisterin, hier kam es in Ihrem Haus zu Kontrollversa-gen und Aufsichtsversagen. Sonst hätte der Rechnungs-hof in seinen Bericht nicht geschrieben,
dass hier Mittel für Partys im China Club – ich wusstegar nicht, was das ist – zur Verfügung gestellt wordensind. Sowohl die Vergabe von Aufträgen als auch die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25475
Klaus Hagemann
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Abrechnung von Reisekosten werden kritisiert. Ich binfroh und dankbar, dass der Berichterstatter im Rech-nungsprüfungsausschuss, Kollege Fischer, für nächsteWoche zu einem Berichterstattergespräch eingeladenhat, um diese Fragen zu klären. Denn so kann man dasnicht stehen lassen.
Sie haben gesagt, wir würden nur lamentieren, FrauMinisterin.
Nein, wir sind ganz guter Stimmung.
Frau Ministerin, Sie wollen auf Ihrem Bundesparteitagentsprechende Beschlüsse fassen. Wir haben bereits kon-krete Anträge in den Bundestag eingebracht. Jedes Jahrsollen 2 Milliarden Euro mehr für Bildung ausgebenwerden. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht: ange-fangen bei der Bildung der Kleinsten, über Ganztags-schulprogramm, Berufsbildung, Studium bis hin zurWeiterbildung. Was haben Sie mit den von uns unter-breiteten Vorschlägen gemacht? Sie haben sie einfachmit der Mehrheit der Koalition weggewischt. Das istdoch kein Aufbruch! Wir hingegen haben konkrete Vor-schläge vorgelegt. Das zeigt: Wir lamentieren nicht, son-dern wir tun zukunftsorientiert etwas für die Bildungs-republik. Das möchte ich noch einmal unterstreichen.
Warum wollen Sie in Art. 91 b GG nicht auch die Un-terstützung für die Schulen aufnehmen? Wir hatten eingutes Ganztagsschulprogramm. Warum soll das jetzt nurüber Winkelzüge möglich sein? Wir sollten die Schul-sozialarbeit unterstützen. Sie sehen: Unsere Forderunggeht etwas weiter als das, was Sie vorgetragen haben.
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!2008 haben Bund und Länder das ehrgeizige Ziel verein-bart, die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben:7 Prozent für Bildung und 3 Prozent für Forschung. Daswar ein ehrgeiziges Ziel. Wie wir heute gehört haben,sind gerade SPD und Grüne schnell dabei, wenn es da-rum geht, sich ambitionierte Ziele zu stecken. Für meineFraktion, für unsere Koalition kann ich sagen: Wir ste-cken uns nicht nur Ziele, sondern wir setzen diese Zieleauch tatsächlich um.
Im Moment liegen der Anteil für Bildung bei 7 Pro-zent und der Anteil für Forschung bei 2,8 Prozent desBruttoinlandsproduktes.
– Herr Hagemann, die Zielmarke von 10 Prozent wirderreicht, weil die Schwerpunktsetzung unserer Politikauf Bildung und Forschung gerichtet ist.
Dieses Ziel werden wir daher eher erreichen, als Sie sichdas hätten träumen lassen.Unser Haushalt für Bildung und Forschung 2013 istein Zeichen für unsere erfolgreiche Politik. Ich nennediese Zielmarke, weil es hier manchmal zu Verwechs-lungen kommt. Mit Ausgaben für Bildung und For-schung sind nicht nur öffentliche Gelder, sondern auchprivate Investitionen gemeint. Das ist ganz wichtig.
Da wir gerade von privaten Investitionen sprechen:Sie sind eben wieder auf dem Thema Deutschlandstipen-dium herumgeritten. Bevor wir damals überhaupt losge-legt haben, hatten Sie es schon für tot erklärt. Geradeeben haben Sie es wieder getan. Selbst jetzt, wo dasDeutschlandstipendium von den Studierenden an denUniversitäten und auch von der Gesellschaft immer bes-ser angenommen wird
und sich die Zahl der Stipendien verdoppelt hat, tun Sieso, als wäre nichts geschehen.Das Deutschlandstipendium ist ein Erfolg, und eswird auch ein Erfolg bleiben.
Es ist vor allem deswegen ein Erfolg, weil es zu mehrprivaten Investitionen in Bildung führt; denn beimDeutschlandstipendium – das muss man begreifen – gehtes nicht nur um Zahlen, sondern wir leiten damit einenKulturwandel hin zu einer völlig neuen, modernen undauch international geprägten Stipendienkultur ein.
Am Ende werden wir deutlich über dem geplanten 10-Pro-zent-Ziel liegen.Noch eine Bemerkung zur acatech, lieber KollegeHagemann. Sie haben die Zahlen genannt. Wir werden
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Dr. Martin Neumann
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darüber reden. Aber klar ist auch: Das fällt zum großenTeil in die Zeit, in der Sie Verantwortung getragen ha-ben.
Lassen Sie mich zum Einzelplan 30 Folgendes sagen:Wir werden uns an diesem Haushalt messen lassen. Dassage ich mit Stolz. Denn es zeigt, dass diese Koalitionerfolgreich ist.Wir haben in den letzten drei Jahren im Bereich Bil-dungs- und Wissenschaftspolitik einen unendlich großenFußabdruck hinterlassen. Die Zielsetzungen, die wir an-gehen, sind eindeutig zukunftsfähig, und zwar nicht nurin qualitativer oder quantitativer Hinsicht. Wir habenauch etwas tatsächlich Neues auf den Weg gebracht.Herr Hagemann, Sie hatten gerade bemängelt, dass wirnichts Neues auf den Weg gebracht hätten.Ich will an dieser Stelle einmal unseren Haushalt,auch hinsichtlich der Struktur, mit dem Haushalt von2005 vergleichen, dem letzten Haushalt, den Rot-Grünzu verantworten hatte – daran müssen Sie sich messenlassen –: Ich glaube, dass dieser Haushalt eine klareHandschrift trägt. Eine solche Handschrift hatte derHaushalt 2005 eben nicht.
Ich erinnere beispielsweise an die voneinander getrenntenFörderbereiche Biotechnologie, Biomedizin, Gesundheitund Medizin – alles stand für sich. Auch im Bereich derNanoelektronik haben Sie die Förderschwerpunkte vonei-nander getrennt: Nanomaterialien, optische Technologienund andere. Ich könnte diese Liste unendlich fortführen.Der Haushalt 2005 war das Abbild einer orientierungslo-sen Politik. Das war eine Zusammenstellung von Einzel-punkten, ohne Struktur und ohne klare Zielrichtung.
Was haben wir jetzt gemacht? Wir haben die For-schungsförderung auf wesentliche Programme konzen-triert. Wir haben die Forschungsbereiche auf eine Mis-sion ausgerichtet: für die Gesellschaft, für die Wirtschaftund für die Menschen.
Wir haben zum Beispiel das vorher nur in Ansätzen exis-tente Rahmenprogramm Biotechnologie weiterentwi-ckelt. Heute haben wir – das kann man nachlesen, HerrRöspel – mit der Nationalen Forschungsstrategie Bio-Ökonomie 2030 ein substanzielles Programm.
Wir haben Ihre vergleichsweise magere Förderungder biomedizinischen Forschung in einem völlig neuen,von uns gestalteten Rahmenprogramm Gesundheitsfor-schung weiterentwickelt. Das ist ein ganz wichtigerPunkt. Das 2010 aufgelegte Rahmenprogramm Gesund-heitsforschung übersteigt mit seinem Fördervolumenvon 5,5 Milliarden Euro eindeutig das, was Sie 2005 ge-macht haben.
Mit der Gründung von fünf Gesundheitszentren im Rah-men dieses Programms haben wir die Gesundheitsfor-schung deutlich – ich sage: deutlich – optimiert,
hin zu einer besseren medizinischen Behandlung derVolkskrankheiten und hin zu einer gesteigerten Lebens-qualität.Wir haben in dieser Legislaturperiode – daran habenauch Sie einen Anteil – die Hightech-Strategie 2020 zumErfolg geführt.
– Ich sagte es ja: Daran waren Sie beteiligt; das ist völligklar. – Aber wir haben aus der Hightech-Strategie einGesamtkonzept gemacht; denn man muss den komple-xen Zusammenhang zwischen Forschung, Innovationund Technologie sehen.
Die christlich-liberale Koalition hat die Hightech-Strate-gie auf fünf zentrale, globale Herausforderungen zuge-schnitten.
Es war die christlich-liberale Koalition, die den Schwer-punkt der Hightech-Strategie auf die Förderung der klei-nen und mittleren Unternehmen gelenkt hat. Dafür,meine Damen und Herren von der Opposition, dürfenSie uns ruhig loben.Ich könnte die Liste beliebig fortführen. Ich denke nuran die Bündelung im Bereich der Nanotechnologie, densogenannten Aktionsplan Nanotechnologie 2015, oderan das Rahmenprogramm „Forschung für die zivile Si-cherheit“ oder an das Programm zum demografischenWandel mit dem Thema „Das Alter hat Zukunft“. DieErfolge dieser Koalition sind sichtbar. Sie sind allerdingsfür diese Erfolge blind.Am Ende wird man immer zum gleichen Ergebniskommen: Unter Ihnen wäre das Haushaltsvolumen bei7,6 Milliarden Euro geblieben und immer noch eineSammlung von vielen Einzelmaßnahmen.
Wir haben den Haushalt über die Forschungsprogrammehinaus maßgeblich neu geprägt, unter anderem durch dasWissenschaftsfreiheitsgesetz. Wir haben der Forschungper Gesetz mehr Freiraum gegeben.
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Dr. Martin Neumann
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Wir haben vor allen Dingen – das ist wichtig – denWissenschaftlern mehr Vertrauen entgegengebracht undihnen mehr Verantwortung übertragen,
damit die Forschungseinrichtungen nicht nur mehr Geldhaben, sondern dieses auch besser einsetzen können;denn wir wissen, dass es in der Wissenschaft vor allemdarauf ankommt, dass das Geld zielorientiert ausgege-ben wird.Wir wollen mit der Änderung des Art. 91 b desGrundgesetzes die rechtliche Grundlage dafür schaffen,dass sich der Bund in Kooperation mit den Ländern ander Finanzierung der Hochschulen beteiligt, damit dasGeld zielgerichtet ausgegeben werden kann. Bislang ha-ben die Länder im Bundesrat – das richte ich gerade andie Adresse von SPD und Grünen – eine solche Ände-rung abgelehnt. Machen Sie doch diesen Schritt! Er istwichtig, auch für unsere Hochschulen.
Mit dieser Haltung konterkarieren Sie jede Kritik, dieSie heute zur Hochschulpolitik und zum Haushalt geäu-ßert haben. Wenn es Ihnen tatsächlich um die Wissen-schaft und den sinnvollen Einsatz von Finanzmittelngeht, dann bewegen Sie doch endlich Ihre Kollegen inden Ländern zum Umdenken. Anderenfalls – das istmeine Schlussbemerkung – disqualifizieren Sie sich fürdie Übernahme von Verantwortung in der Wissen-schaftspolitik.
Das Wort hat nun Arfst Wagner für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.Arfst Wagner (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichkann mein Manuskript in die Tonne treten, weil Sie michin der Diskussion so angeregt haben, dass ich darauf garnicht zurückgreifen möchte. Ich komme von der Nord-seeküste; da geht es meistens stürmisch zu. Ich wünschemir aber in der Bildungsdebatte ein wenig von der Sensi-bilität, die wir in der vorangegangenen Debatte über dieBeschneidung erlebt haben.Wir müssen uns immer bewusst machen, wer eigent-lich unsere Auftraggeber und Auftraggeberinnen in derBildung sind. Wenn ich Schülerinnen und Schülern dieseFrage stelle, dann antworten sie unsicher: Das Kultusmi-nisterium? Darauf frage ich: Habt ihr noch eine andereAntwort? Dann kommt vielleicht von einem bescheide-nen Mädchen aus der letzten Reihe die Antwort: MeineMutter? Dann sage ich: Geht es nicht ein bisschen ge-nauer? Aber sie kommen in der Regel nicht auf die rich-tige Antwort, sodass ich als Lehrer meistens sagen muss:Jetzt bin ich enttäuscht von euch. Das seid doch ihr.Bei der Gewichtung der bisherigen Debatte habe ichals Pädagoge – ich war bis vor einem halben Jahr Lehrer –bemerkt, dass viele Kolleginnen und Kollegen denSchwerpunkt des Bildungsbegriffes am Ende des Bil-dungsprozesses sehen. Er liegt eher bei der Forschungoder bei dem Thema, mit dem ich jetzt im Ausschuss be-sonders befasst bin, nämlich bei der Qualifikation undinsbesondere bei der Berufsqualifikation. Wir müssenuns aber klarmachen, dass der Bildungsbegriff viel wei-ter gefasst ist und dass dabei nicht nur eine Rolle spielt,wie wir junge Menschen auf den Beruf vorbereiten – dasist sicherlich wichtig, und auch ich werde das wichtignehmen, weil es meine Aufgabe ist –, sondern dass Bil-dung ein umfassendes Menschenbild erfordert.
Nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen sowie dieFrage, ob wir den Menschen von seiner Qualifikationher so vorbereiten, dass er in seinem Beruf funktionierenkann, sind wichtig. Nicht die Ausrichtung auf den Ar-beitsmarkt, sondern die Bildung zum ganzen Menschenist zuallererst wichtig.
Das erfordert natürlich eine Umstrukturierung derBildung. Darüber sollten wir alle in den nächsten Jahrensehr viel nachdenken. Wir sollten vielleicht parteiüber-greifend einen Bildungsprozess anstoßen, der die Bil-dungsrepublik Deutschland wahr werden lässt. Auch inder Debatte über Europa müssen wir die kulturelle Bil-dung der Kinder und Jugendlichen sowie der Erwachse-nen noch viel stärker ins Auge fassen. Europa ist bisherin den bundesdeutschen Schulen so gut wie gar nicht an-gekommen. Das muss geändert werden.
Es geht nicht nur um berufliche Qualifikation, son-dern auch darum, dass junge Menschen in die Lage ver-setzt werden, ihre Emotionen auszudrücken und eineSprache für die Dinge zu finden, die sie bewegen, ob siegut träumen oder eine gute Verdauung haben, ob sie viel-leicht von Wut erfüllt sind und von unterdrückten Be-gierden bestimmt werden. Das sind Themen, die in derBildung eine genauso wichtige Rolle spielen. Wie wiralle wissen, ist die heutige Welt komplex. Wenn ich soetwas sage, spreche ich nicht gegen eine vernünftigeVorbereitung auf einen Beruf.Wir müssen auch in der Migration Wege finden, of-fensichtliche Ungereimtheiten in der internationalenVerknüpfung der Qualifikationen zu begradigen. Wennzum Beispiel die Qualifikation eines russischen Kran-kenpflegers in Deutschland nur deshalb nicht anerkanntwird, weil er zwei Jahre zu lange studiert hat, ist das völ-lig absurd. Er hat fünf Jahre gelernt – hier sind nur dreiJahre erforderlich –, und dann wird das nicht anerkannt.Eine Vergleichbarkeit funktioniert leider nicht einmalin unserem Bachelor-/Master-System länderübergrei-
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Arfst Wagner
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fend. Auch da müssen wir schauen, dass das System eva-luiert wird und dass wir erst einmal innerhalb Deutsch-lands die Begradigung der Ausbildung innerhalb derBachelor-/Master-Studiengänge hinbekommen. Dasmüssen wir unbedingt vorantreiben; denn wenn wir esnicht schaffen, die Menschen von der inneren Mobilitäther auf die äußere geforderte Mobilität vorzubereiten,verlieren wir erst einmal menschliches Kreativpotenzial.Wir verlieren aber auch für die Volkswirtschaft Fähig-keiten; denn jeder Mensch, bei dem es nicht gelingt, des-sen Kreativpotenzial entsprechend zu fördern, belastetletztlich sogar die Volkswirtschaft. Es ist einfach zuteuer, nicht entsprechend in die Bildung zu investieren,um diese Dinge auch im Hinblick auf den erweitertenBildungsbegriff in Angriff zu nehmen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Arfst Wagner (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ich komme zum Ende. Vielleicht habe ich aber einen
kleinen Sonderbonus von zehn Sekunden. – Das als
Schluss: Ich habe gestern eine Mail von einem Studenten
bekommen, der sein Studium selber finanziert. Er wird
jetzt 30. Die Krankenversicherung fällt weg, und das
BAföG fällt weg, weil er innerhalb des Bachelor-/Mas-
ter-Systems studiert. Er fragt mich: Soll ich lieber ar-
beitslos werden? Das ist für den Staat viel teurer, als
wenn er mir ein anständiges BAföG bezahlt, ich in ei-
nem Jahr 50 000 Euro verdiene und dann anständig
Steuern zahlen kann. Insofern: Bitte, BAföG-Erhöhung
sofort! – Das möchte ich zum Schluss sagen. Das
nächste Mal mehr.
Danke schön.
Lieber Kollege Wagner, Sie haben einen Bonus von
100 Sekunden bekommen, weil das heute Ihre erste
Rede war. Gratulation und alles Gute für die weitere Ar-
beit!
Jetzt hat Michael Kretschmer für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist schon so: Die Zahlen, die wir im Rahmendes Haushalts zu besprechen haben, sind beeindruckend.Viel spannender aber sind die Geschichten hinter denZahlen bzw. hinter dem Geld. Das sind Geschichten, dielauten beispielsweise wie folgt: Als ich in den DeutschenBundestag kam, hatte eine rot-grüne Regierung hier Ver-antwortung. Da wurden die Haushalte für die außeruni-versitären Forschungseinrichtungen überrollt. In den Ge-sichtern der Präsidenten und der Institutsleiter konnteman lesen, dass sie nicht wussten, wie es weitergeht;denn wenn man einen Haushalt bei steigenden Kostenüberrollt, heißt das eben nicht, dass alles wie bisher wei-terläuft, sondern es gibt einen Abbruch. Das haben wir– durch 3 Prozent und jetzt 5 Prozent kontinuierlichenAufwuchs – beendet. Das war eine ganz wichtige Maß-nahme.
Wir haben eine Veränderung des Personalrechts er-lebt. Sie beinhaltete eine Befristung, die dafür gesorgthat, dass viele, die sich engagiert haben und in den Insti-tuten wichtige Funktionen hatten, auf einmal vor demEnde ihrer Karriere standen.Wir haben das Arbeitsrecht für die Wissenschaft ver-ändert und damit viele Karrierechancen verbessert. Wirhaben durch mehr Geld und starke Aufwüchse Karriere-chancen für junge Leute eröffnet. Durch Planbarkeit ha-ben wir bei den Familien dieser jungen Wissenschaftlerviel Sicherheit erreicht.In der Krise haben wir in Bildung, Forschung undWissenschaft investiert. Damit haben wir den Grund-stein dafür gelegt, dass die deutsche Wirtschaft heutebesser dasteht, dass wir mehr Steuereinnahmen habenund dass die Lebenschancen der Menschen in der Bun-desrepublik Deutschland um ein Vielfaches besser sindals in allen anderen europäischen Ländern. Das, was sichhinter diesen Zahlen verbirgt, ist ein großartiger Erfolg.
Wir haben, als ich vor zehn Jahren in den DeutschenBundestag kam, eine Diskussion darüber geführt, dassdie wirklich besten Wissenschaftler nicht nach Deutsch-land, sondern nach Amerika gegangen sind. Heute habenwir die Situation, dass die Topleute aus Stanford, ausOxford und aus Harvard an Institute und Hochschulen inDeutschland möchten, weil sie hier mehr Chancen se-hen; denn hier wird noch investiert und nicht gekürzt.Das ist das Ergebnis unserer Politik.
Ich finde es sehr traurig, dass die Vertreter zweier gro-ßer Parteien, die früher in der Wissenschaft ein Standinghatten, SPD und Grüne,
und auch der eine oder andere von den Linken, der in derWissenschaftspolitik schon ordentlich Staub gewischthat, heute hier Reden gehalten haben, die derart ärmlichwaren, wie es gar nicht schlimmer sein konnte.
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Michael Kretschmer
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Sie haben auch durch Ihr Verhalten in der Frage derGrundgesetzänderung und durch die bereits angespro-chene Blockade in der Gemeinsamen Wissenschaftskon-ferenz und der Kultusministerkonferenz so viel Ansehenverloren,
dass es auch für uns als Unionspolitiker traurig ist, dieszu beobachten.
Ich sage noch einmal ganz deutlich: Wir können, wirwollen und wir werden nicht einfach Geld an die Ländergeben; denn, Kollege Hagemann, das Land, aus dem Siekommen, hat mit dem Nürburgring
das beste Beispiel dafür geliefert, warum man das nichttun darf.
Über andere Länder liest man in der Zeitung, dass sieihre Mittel für den Hochschulpakt kürzen, weil der Bundja das Geld gibt. Sie stehlen sich damit aus der Verant-wortung. So kann es nicht funktionieren.
Wir haben hier als Bundespolitiker, als Forschungs-politiker und Wissenschaftspolitiker eine Verantwor-tung für das Gesamtsystem. Das Wissenschaftssystem ineinem föderalen Land besteht nun einmal aus zwei kom-munizierenden Röhren. Das heißt, wenn wir mehr Geldhineingeben und andere mehr herausnehmen, dann istam Ende nicht mehr, sondern im Zweifel sogar wenigerda. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen daraufbestehen, dass unser Geld ordentlich eingesetzt wird unddass wir Kontrolle darüber haben, was damit passiert.
Wir tun schon heute viel. Der Bundesrechnungshofhat es in seinem letzten Bericht dargestellt: 20 Prozentunseres Einzelplans umfassen Ausgaben an die Länder.12 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt fließen fürBildung und Wissenschaft an die Länder. Das ist eine ge-waltige Leistung.
Dies zeigt auch, dass Kooperation möglich ist. Wer mehrmöchte, muss bereit sein, der Änderung von Art. 91 bdes Grundgesetzes zuzustimmen. Ich kann Ihnen nur ei-nes sagen: Mit jedem Tag, den Sie diese notwendigeMaßnahme im Bundesrat blockieren, verlieren Sie Anse-hen bei den Wissenschaftlern, bei den Studenten, bei al-len Menschen, die dies beobachten. Ich kann Ihnen nursagen: Hören Sie auf mit diesem Spiel! Sie schaden sichin einem unglaublichen Maße.
Damit schaden Sie auch dem WissenschaftsstandortDeutschland.Wir haben eine ganze Menge vor. Wir haben nachdem Auslaufen der Exzellenzinitiative die Notwendig-keit, etwas zu tun, und wir sind auch bereit, in Zukunftentsprechend Verantwortung zu übernehmen.
Aber dies tun wir nur unter der klaren Voraussetzung,dass wir die Kontrolle haben. Deswegen ist diese Grund-gesetzänderung so wichtig. Wir lassen uns – auch daswill ich sagen – nicht aufhalten und blockieren.
Es gibt eine ganze Reihe möglicher Kooperationen. DieBeispiele KIT sowie Max-Delbrück-Centrum undCharité sind in dieser Debatte schon genannt worden.
Wir werden weitere Kooperationen zwischen außeruni-versitärer Wissenschaft und Hochschulen finden. Damitzeigen wir einmal mehr, wie wichtig und wie ernstUnion und FDP dieses Thema ist. Mit jeder weiterenKooperation wird deutlicher werden, dass die Grundge-setzänderung richtig und sinnvoll ist.
Es ist natürlich wesentlich komplizierter, den Wegüber Fraunhofer-, Max-Planck-, Leibniz- oderHelmholtz-Institute zu gehen, als direkt zu sagen: Dieserexzellente Bereich einer Hochschule, diese Graduierten-schule an einer Universität soll von uns unterstützt wer-den. Sie kommen mit jedem Tag mehr unter Druck. Ichkann Ihnen nur noch einmal sagen: Hören Sie auf mitdiesem Spiel! Sie haben das nicht nötig.
Der Haushalt setzt Akzente für die neuen Bundeslän-der.
Ich bin stolz darauf. Wir haben nach der Wiedervereini-gung eine schwierige Situation gehabt, zum Beispieldurch Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Auch heutegibt es noch in weiten Teilen Probleme. Es gibt einengroßen Unterschied zwischen Ost und West.Dieses Ministerium ist ein wirkliches Aufbau-Ost-Ministerium. In den letzten 10, 15 Jahren hat es kontinu-ierlich investiert.
Mit dem neu aufgelegten Programm „Zwanzig20 –Partnerschaft für Innovation“ wird jetzt noch einmal eindeutlicher Akzent gesetzt. Ich bin sehr dankbar dafür,
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25480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Michael Kretschmer
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Frau Bundesministerin, dass auch Sie persönlich hiereinen Schwerpunkt gesetzt haben. Die Resonanz beiWissenschaftlern, bei Politikern in den neuen Bundes-ländern und bei der Wirtschaft zeigt, dass dieses Signalankommt. Ich erhoffe mir davon einen Schub für mehrArbeitsplätze und mehr Chancen. Gut, dass wir die Kraftdazu aufbringen!
Zum Thema Stipendien und zum Stipendienpro-gramm ist schon einiges gesagt worden. Ich will, da Siedie Süddeutsche Zeitung zitiert haben, nur darauf hin-weisen: Selbst der Spiegel kommt zu der Erkenntnis,dass es nichts Unredlicheres gibt, als das Stipendienpro-gramm mit dem BAföG zu vergleichen: erstens, weil dieGrößendimensionen – 2 bis 3 Milliarden Euro beimBAföG, wenige Millionen Euro beim Stipendienpro-gramm – überhaupt nicht zusammenpassen; zweitens,weil wir das BAföG in einem noch nie dagewesenenUmfang erhöht haben;
drittens, weil es in der Sache richtig ist, dafür zu sorgen,dass dieses Land, das keine Stipendienkultur kennt, jetztendlich einen Schritt vorankommt. Sie sollten darübernicht klagen, sondern sich selbst einbringen. NehmenSie ein bisschen Geld in die Hand, und vergeben Sie einStipendium! Die Leute werden Ihnen dankbar dafür sein.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Herr Präsident, ich bin am Schluss.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Swen Schulz für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe diese
Debatte mit einem lachenden und einem weinenden
Auge verfolgt: mit einem lachenden Auge, weil der
Haushalt für Bildung und Forschung in der Tat erhebli-
che Steigerungen erfährt – das ist gut, und das unterstüt-
zen wir –, mit einem weinenden Auge, weil die Vertrete-
rinnen und Vertreter der Koalition, so mein Eindruck,
auf einem verdammt hohen Ross sitzen.
Da wird sogar dreiste Geschichtsklitterung betrieben,
um darstellen zu können, wie großartig gerade die
Koalition gewesen sei.
Ich will daran erinnern, dass Rot-Grün den Haushalt
für Bildung und Forschung nach der Kohl-Ära erst aus
dem Keller holen musste. Das BAföG, Kollege
Kretschmer, war eine Ruine. Wir mussten es unter Rot-
Grün erst wieder aufbauen.
Ich will auf die Diskussion über die Eigenheimzulage
zu sprechen kommen. Ich erinnere mich noch sehr gut
daran: Rot-Grün hatte vorgeschlagen, die Eigenheimzu-
lage zu streichen und die frei werdenden Mittel für Bil-
dung und Forschung zu verwenden. CDU, CSU und
FDP haben das im Bundesrat blockiert und verhindert.
Erst in der Großen Koalition hat es die SPD geschafft,
CDU und CSU davon zu überzeugen, dass es der rich-
tige Weg ist, in die Köpfe statt in Beton zu investieren.
Diesen Weg sind wir gegangen. Durch die Streichung
der Eigenheimzulage haben wir, jährlich steigernd, dafür
gesorgt, dass heute pro Jahr über 6 Milliarden Euro mehr
für Bildung und Forschung zur Verfügung stehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kalb?
Ja, gerne.
Herr Kollege, sind Sie sich wirklich sicher, dass die
Eigenheimzulage gestrichen worden ist?
Ja, natürlich bin ich mir sicher. Dabei haben Sie mit-gemacht. Ich kann Ihnen das gerne im Protokoll zeigen.
– Ist das jetzt ein Zwiegespräch? – Auf diese Art undWeise sind 6 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung undForschung mobilisiert worden. Wenn ich mir die Steige-rung der Haushaltsmittel von 2005 bis jetzt ansehe – aufden Haushaltsplan 2013 sind Sie ja so stolz –, stelle ichfest: Genau diese zusätzlichen 6 Milliarden Euro veran-schlagen Sie jetzt. Wissen Sie, wie man das beimFußball nennt? Das ist ein Abstaubertor.
Ich finde, Sie sollten sich, anstatt hier großkotzig auf-zutreten, lieber für Ihre damalige Blockade, als es um dieStreichung der Eigenheimzulage ging, entschuldigen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25481
Swen Schulz
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und sich bei der SPD bedanken, dass wir den Weg dafürbereitet haben, dass Sie überhaupt einen solchen Haus-halt vorlegen können.
Das ist von Ihnen aber nicht zu erwarten, weil Sie, wiegesagt, auf einem sehr hohen Ross sitzen.Ich will jetzt einen Blick in die Zukunft werfen. DieZukunft sieht tatsächlich nicht besonders gut aus. DasRoss Bildung und Forschung ist von dieser Koalition aufDiät, auf Magerkost gesetzt worden. Um das zu sehen,reicht ein Blick in die mittelfristige Finanzplanung: DieBundesregierung plant, dass die Ausgaben für Bildungund Forschung wieder sinken – natürlich erst nach demBundestagswahljahr 2013 –, und zwar bis 2016 um über0,5 Milliarden Euro. Wenn wir Frau Schavan und ihreStaatssekretäre fragen, wie sie sich das vorstellen, be-kommt man die Antwort: Na ja, machen Sie sich malkeine Sorgen! Es wird nichts so heiß gegessen, wie esgekocht wird. Das mit der mittelfristigen Finanzplanungmuss man alles nicht so ernst nehmen.Ihre Chefin, Frau Schavan, die BundeskanzlerinMerkel, sieht das vollkommen anders. Gestern in derHaushaltsdebatte hat sie stolz und klar gesagt, wie wich-tig die mittelfristige Finanzplanung ist – ich zitiere –:2016 – das können Sie der mittelfristigen Finanz-planung entnehmen – wollen wir die Neuverschul-dung auf null geführt haben.Gegen dieses Ziel haben wir nichts – aber doch nichtauf Kosten der Zukunft, nicht auf Kosten von Bildungund Forschung!
Die Auswirkungen der bevorstehenden Kürzungenspüren wir schon jetzt schmerzhaft, weil Frau Schavangar nicht die Möglichkeit, das Mandat, die Erlaubnis hat,irgendwelche Finanzierungszusagen zu geben. Wie ist eszum Beispiel mit dem BAföG? Seit Januar liegt derBAföG-Bericht vor. Wo ist der Vorschlag der Regie-rungskoalition, das BAföG anzuheben? Fehlanzeige.Auch beim Hochschulpakt gibt es dringenden Hand-lungsbedarf. Die Entscheidung ist von Frau Schavan aufApril 2013 verschoben worden. Mal schauen, was Ihnenbis dahin noch so einfällt.Frau Schavan, Sie haben in Ihrer Rede wieder daraufverwiesen, mit den Ländern sei es schwierig
und die Verantwortung liege schließlich bei den Län-dern. Das alles sind Nebelkerzen, Sie spielen auf Zeit.Die Wahrheit ist: Die mittelfristige Finanzplanung gibtdefinitiv nichts anderes her.
Frau Schavan, damit keine Missverständnisse entste-hen: Ich will Ihnen das nicht persönlich vorwerfen. DieVerantwortung für diese Blockade in der Bildungspolitikliegt bei der Bundeskanzlerin; ihr können wir das sehrwohl vorwerfen. Was Frau Merkel unter der Bildungs-republik Deutschland versteht, hat sie gestern in derHaushaltsrede sehr deutlich gesagt: Sie will nicht nur beider Bildung kürzen, sie verteidigt auch das irrsinnigeBetreuungsgeld. Man kann es nicht häufig genug sagen:Das Betreuungsgeld ist erstens bildungsfeindlich, undzweitens fehlt das Geld, das für das Betreuungsgeldausgegeben wird, an anderer Stelle, nämlich bei derBildung. Dort wird es dringend benötigt.
Ein weiterer wichtiger Punkt: BundeskanzlerinMerkel hat einer Streichung des Kooperationsverbotes inder Bildung eine klare Absage erteilt. Übersetzt bedeutetdas: Frau Merkel will nichts für die Schulen tun.
Wir wollen ein zweites Ganztagsschulprogramm. Daserste hat Rot-Grün auf den Weg gebracht. Es hat eineMenge bewirkt. Jetzt wollen wir einen weiteren Schrittmachen: Wir wollen einen Rechtsanspruch auf einenguten Ganztagsschulplatz, und zwar überall in Deutsch-land, schaffen. Dafür müssen wir das Grundgesetzändern. Frau Merkel lehnt das ab.
Wir wollen gleiche Chancen und optimale Förderung füralle Schüler, egal wo sie herkommen, egal aus welcherFamilie sie stammen, egal wie viel Geld in ihrem Eltern-haus vorhanden ist. Das ist der richtige Weg.Ihr hohes Ross, Frau Schavan, entpuppt sich bei nähe-rer Betrachtung als ein lahmer, schwindsüchtiger Gaul,mit dem Sie bei der Bundestagswahl 2013 noch über dieZiellinie zu kommen versuchen. Das reicht nicht aus.Herzlichen Dank.
Als letztem Redner in der Debatte erteile ich Kolle-
gen Albert Rupprecht für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Frau Ministerin Schavan, Sie haben die Redebeiträgeinsbesondere von Frau Gohlke – die jetzt mit Telefonie-ren beschäftigt ist – und von Herrn Röspel als Lamentie-ren bezeichnet. Ich möchte die Kritik noch ein Stückschärfer formulieren: Hier wurde der BildungsstandortDeutschland diskreditiert. Damit schadet die Oppositionunserer gemeinsamen Sache.
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25482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Albert Rupprecht
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Dass in der Haushaltsdebatte hingelangt wird und diekritischen Punkte auch zugespitzt werden, ist normal.Ein Zerrbild zu zeichnen, schadet jedoch unserer ge-meinsamen Sache.Was ist die Realität? Die Realität ist, dass noch nie inder Geschichte Deutschlands die Bürgerinnen und Bür-ger unseres Landes einen derart hohen Ausbildungs-stand, ein derart hohes Ausbildungsniveau hatten wie imJahr 2012.
Schauen Sie sich die Zahlen an: 86 Prozent der Deut-schen haben entweder eine abgeschlossene Berufs-ausbildung, die Hochschulreife oder einen Hochschul-abschluss. Das ist im internationalen Vergleichherausragend. Das gab es in Deutschland in dieserDimension historisch noch nie.
Darüber hinaus hat es auch in den letzten Jahren, ins-besondere in Erinnerung an den PISA-Bericht 2000, sehrwohl substanzielle Verbesserungen gegeben. Ich erin-nere daran: Die Bundeskanzlerin hat gemeinsam mit denMinisterpräsidenten – auch mit Ihren Ministerpräsiden-ten – 2008 die Bildungsrepublik Deutschland ausgeru-fen. Dabei hat man gemeinsam sieben Bereiche benannt,in denen man sich Ziele gesetzt hat.Vier Jahre später haben die KMK und die GWK über-einstimmend und gemeinsam – auch mit den SPD-geführten Ländern – einen Zwischenbericht abgegeben.In diesem steht – ich zitiere –, dass die damals beschlos-senen Maßnahmen beachtliche Erfolge zeigen. Das undnicht dieses Zerrbild, das Sie eingangs beschriebenhaben, ist die Realität.
Ich meine das in aller Ernsthaftigkeit. Wir könntendie einzelnen kritischen Punkte hier in der Tat herausar-beiten, aber dieses pauschale, platte Abdisqualifizierendes Bildungslandes Deutschland ist in der Tat schädlich.
Ich nenne jetzt exemplarisch nur einige wenigeErfolge und zitiere diese laut Bericht:Die Quote der Hochschulabsolventen lag 1995 bei14 Prozent. 2010 waren es 30 Prozent. Das ist eineVerdoppelung. Das ist doch ein Riesenerfolg!
– Entschuldigung, diese Bemerkung zu Rot und Grünhier ist mir doch, ehrlich gesagt, wirklich zu doof. Wirreden über unser gemeinsames Bildungsland Deutsch-land und über einen Bildungsgipfel der Ministerpräsi-denten über alle Parteigrenzen hinweg.
Die duale Ausbildung ist nach wie vor ein Erfolgsmo-dell. Wir haben die Jugendarbeitslosigkeit in Deutsch-land in den letzten Jahren halbiert. Auch das ist ein Rie-senerfolg.
Im europäischen Vergleich haben wir in einer Zeit, in der50 Prozent der jungen Menschen in Spanien keineArbeit haben,
die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit.
Das sind tolle Erfolge.
Wir haben die Quote der Schulabgänger ohne Ab-schluss um 25 Prozent gesenkt.
– Nein, entschuldigen Sie, Kollegin Schieder, das sinddie Zahlen aus dem gemeinsamen Bericht der KMK undder GWK; das sind nicht meine Zahlen.Es ist heute allgemein anerkannt, dass die frühkind-liche Bildung der Schlüssel ist. Auch bei der frühkind-lichen Bildung haben wir, mit Verlaub gesagt, Erfolge.96 Prozent der Vierjährigen besuchen eine Vorschuleoder einen Kindergarten.Zu den Kitaplätzen: Entschuldigung, ist es nicht auchein Erfolg, dass wir in drei Jahren einen Zuwachs anKitaplätzen um 63 Prozent erreicht haben? Das ist sehrwohl ein Erfolg!
Wer anderes behauptet, ist schlichtweg ein Ignorant.
Dass der Kanzlerkandidat der SPD, Steinbrück, beider Generaldebatte hier vorne steht und behauptet, dieseBundesregierung hätte für Bildung nichts getan, zeigt,dass auch dieser Kandidat ein Ignorant ist. Er hat näm-lich null Komma null Ahnung von der Bildungspolitik indiesem Land.
– Herr Röspel, er hat gesagt, wir hätten nichts getan.Noch einmal zu den Superlativen: Seit wir in derVerantwortung sind – Sie haben das im Haushaltsaus-schuss mitbeschlossen –, haben wir 13 Milliarden Euro
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25483
Albert Rupprecht
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mehr für Bildung und Forschung ausgegeben. Das ist einZuwachs gegenüber 2005, als Steinbrück noch an derRegierung beteiligt war, um 82 Prozent. Das ist nichtsgetan? Entschuldigung!
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Wir tun sehr wohl etwas; das ist unsere klare Prioritä-
tensetzung. Ich glaube, wir sind übereinstimmend der
Meinung, dass sie notwendig ist. Das aber kleinzureden
und zu diskreditieren, ist schlichtweg falsch.
Sehr geehrte Damen und Herren, nichtsdestotrotz
haben wir ohne Zweifel große Aufgaben vor uns, aber
die muss man konkret benennen
und auch lösen. Man darf nicht das Kind mit dem Bade
ausschütten.
Um nur zwei Themen zu nennen:
In der Tat kommt in den großen Städten jedes zweite
Kind aus einer Familie mit Migrationshintergrund.
Natürlich ist Teilhabe ohne Sprachkompetenz nicht
möglich. Deswegen haben wir in dieser Regierung – und
auch schon in der Großen Koalition – ein Bündel an
Maßnahmen beschlossen. Wir können bei weitem nicht
abschließend sagen, dass wir zufrieden sind, aber wir
haben vieles aufs Gleis gesetzt,
sodass wir heute mit Fug und Recht sagen können, dass
kein Kind mehr in Deutschland existiert, lebt und auf-
wächst, um dessen Sprachkompetenz wir uns nicht küm-
mern. Es gibt mehrere Etappen, bei denen geprüft wird,
wo die Kinder stehen. Es gibt Förderprogramme ohne
Ende, mit denen sie in der Sprachkompetenz unterstützt
werden. Das ist der richtige Weg.
Die Familienstrukturen werden in der Tat brüchiger.
Jede dritte Ehe wird geschieden. Die Politik, selbst die
beste Bildungspolitik, kann niemals die Familie erset-
zen. Deswegen ist es in erster Linie notwendig und
wichtig, dass wir das in der Verfassung verankerte Gebot
des Schutzes von Familie und Ehe hochhalten,
statt dies zu relativieren oder gar zu diskreditieren, Frau
Gohlke.
Was wir politisch machen können, ist nicht, die Fami-
lie zu ersetzen, aber wir können die Eltern unterstützen.
Ich glaube – schauen Sie einmal in den Haushalt! –, man
kann mit Fug und Recht behaupten und auch mit Stolz
sagen, dass wir viele Milliarden in Programme investie-
ren – ob das lokale Bildungsbünde sind, ob das Bildungs-
ketten sind, ob das das Bildungspaket für Hartz-IV-Kinder
ist und vieles andere mehr. Ich gestehe durchaus zu, dass
diese Pakete nicht immer der Weisheit letzter Schluss
sind und dass man sie, beispielsweise das Bildungspaket
für Hartz-IV-Kinder, nach einer bestimmten Zeit auf den
Prüfstand stellen und genau hinschauen muss, was gut
gelaufen, was aber auch schlecht gelaufen ist. Aber die
Grundrichtung, die Intention als solche stimmt.
Sehr geehrte Damen und Herren, aufgrund der fortge-
schrittenen Zeit komme ich zum letzten Thema. Das
kann man drehen und wenden, wie man will – es ist und
bleibt ein Thema.
Eines der Kernprobleme der Bildungspolitik ist in der
Tat, dass die Bildungspolitik in den Bundesländern sehr
unterschiedlich ist. Wenn wir einmal eine der jüngsten
Studien anschauen, beispielsweise die IQB-Studie, in der
Viertklässler in vielen Bereichen betrachtet worden sind,
dann stellen wir fest, dass Bayern in allen Bereichen, die
untersucht worden sind, an erster Stelle ist. Zur selben
Zeit erleben wir, dass in Brandenburg 11 000 Lehrer auf
die Straße gehen, weil sie gegen Platzeck und, wie sie es
formulieren, gegen das unterfinanzierte Bildungssystem
streiken wollen.
Wen wundert das? Denn Brandenburg ist im bundeswei-
ten Vergleich der Ausgaben für Bildung in den Etats
schlichtweg Schlusslicht.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. – Das ist die bildungspoliti-sche Realität in Deutschland.Wir haben mit diesem Haushalt in der Tat nicht nurgeredet, sondern erstklassig gehandelt. Was wir vorle-
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25484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Albert Rupprecht
(C)
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gen, ist ein Rekordhaushalt für Forschung und Bildung,der nicht nur national herausragend ist, sondern auch in-ternational anerkannt und respektiert wird.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 30
– Bundesministerium für Bildung und Forschung – in
der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Einzelplan 30 ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt III auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen
Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaß-
nahme
– Drucksache 17/11513 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Durch die neue Rechtsprechung des Bundesge-richtshofs vom Sommer dieses Jahres ist eine Zwangs-behandlung im Rahmen der betreuungsrechtlichen Un-terbringung nicht mehr zulässig. Die hier entstandeneLücke soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ge-schlossen werden, um schwerwiegende gesundheitli-che Schäden von Betroffenen abzuwenden und eineausreichende medizinische Versorgung zu gewährleis-ten.Hierzu schaffen wir eine hinreichend bestimmteRechtsgrundlage, damit der Betreuer in eine notwen-dige ärztliche Behandlung des Betreuten einwilligenkann, die von diesem selbst abgelehnt wird. Dabei gehtes um Fälle, in denen der Betreute aufgrund einer psy-chischen Krankheit oder einer seelischen oder geisti-gen Behinderung die Notwendigkeit einer ärztlichenMaßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Ein-sicht handeln kann.Die Einwilligung des Betreuers in eine ärztlicheZwangsbehandlung wird unter enge Voraussetzungengestellt, die den größtmöglichen Schutz des Betroffe-nen garantieren. Dazu zählt, dass die ärztliche Maß-nahme zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um ei-nen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadenabzuwenden. Außerdem wird die Einwilligung des Be-treuers einer Genehmigung durch das zuständige Be-treuungsgericht unterworfen.Schließlich ist zu beachten, dass es um Betreutegeht, die bereits mit richterlicher Genehmigung in ei-ner geschlossenen Einrichtung untergebracht sind,was seinerseits nur zulässig ist, wenn dies aufgrund ei-ner psychischen Krankheit oder einer seelischen odergeistigen Behinderung zum Wohl des Betreuten erfor-derlich ist. Diese Betreuten befinden sich also schon instaatlich verantworteter Obhut, weshalb ihnen einenotwendige ärztliche Behandlung nicht generell ver-sagt werden darf, sondern grundsätzlich ermöglichtwerden muss.Wir behandeln dieses Vorhaben in einem regulärenGesetzgebungsverfahren, auch wenn aus den bereitsgenannten Gründen eine Eilbedürftigkeit zur Regelungder Materie besteht. Aber trotz des vorhandenen Zeit-drucks befassen wir uns in aller Ausführlichkeit mitdem vorliegenden Gesetzentwurf. Bereits am vergan-genen Montag haben wir sechs Sachverständige ange-hört. Dieses erweiterte Berichterstattergespräch fandzwar nicht öffentlich statt, stand aber in der Sache ei-ner öffentlichen Anhörung in nichts nach. Dabei warennicht nur die Berichterstatter des Rechtsausschusses,sondern auch Mitglieder des Gesundheitsausschussesmit einbezogen.Die Sachverständigen haben aus Sicht von Wissen-schaft und Praxis deutlich gemacht, dass die vorgeschla-genen Regelungen zielführend sind und die Vorgabenvon Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshofangemessen berücksichtigen. Auch in Bezug auf dieWahrung der Verhältnismäßigkeit zogen die Sachver-ständigen eine durchweg positive Bilanz. Es wurde be-tont, dass die Zwangsbehandlung erst der letzte Schrittsein dürfe, wie dies im Gesetzentwurf ausdrücklichvorgesehen ist. Vorrangig müsse darauf hingewirktwerden, das Einverständnis des Betroffenen einzuho-len. Flankierend hierzu wurde angeregt, die Informa-tionspflichten gegenüber dem Betroffenen über dievorzunehmende ärztliche Behandlung zu definieren.Auch wurde diskutiert, ob zur Begutachtung der Ein-sichtsfähigkeit des Betroffenen grundsätzlich ein exter-ner Sachverständiger herangezogen werden sollte.Diese und weitere Punkte werden wir im weiterenVerfahren erörtern. Wir sind uns zudem einig, dass wirzur abschließenden Lesung eine Plenardebatte führenwollen, um unsere Überlegungen im öffentlichen Dis-kurs darzulegen.Die Frage der Zulässigkeit einer ärztlichenZwangsbehandlung stellt sich freilich auch jenseits ei-ner betreuungsrechtlichen Unterbringung. Von Ärztenund Juristen sowie aus mehreren Bundesländern ver-nehmen wir, dass zusätzlich Bedarf nach der Möglich-keit einer ärztlichen Zwangsbehandlung außerhalb derbetreuungsrechtlichen Unterbringung besteht. Darun-ter fällt nicht nur eine ambulante, sondern auch einestationäre Zwangsbehandlung, soweit keine Unter-bringung in einer geschlossenen Einrichtung erfolgtist. Diesem Anliegen müssen wir uns stellen. Aller-dings besteht für eine solche weiter gehende Regelung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25485
Thomas Silberhorn
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jedenfalls nicht eine durch die geänderte höchstrich-terliche Rechtsprechung begründete Eilbedürftigkeit.Für die betreuungsrechtliche Unterbringung abermüssen wir jetzt zügig entscheiden. Aufgrund des engbegrenzten Anwendungsbereichs sowie der klar defi-nierten und einer richterlichen Überprüfung unterzo-genen Verhältnismäßigkeitsvorgaben schaffen wirkeine neuen Eingriffsmöglichkeiten, sondern lediglicheine eindeutige Rechtsgrundlage, damit die bisher ge-übte und bewährte Praxis rechtssicher fortgeführtwerden kann.
Der 38-jährige Sachbearbeiter Robert R. hattenachts Möbel aus seiner Wohnung im dritten Stock ei-nes Wohnhauses geworfen und dabei laute Musikgehört, mitten in einem Wohnviertel von Köln. Auf Ver-anlassung der Nachbarschaft wurde er in die Landes-klinik eingeliefert, lehnte jedoch die Behandlung mitMedikamenten vehement ab. Aufgrund seines desola-ten gesundheitlichen Zustandes erwirkte seine Ehefraudie Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung. Der Be-treuer wiederum erteilte seine Einwilligung in die me-dikamentöse Behandlung.Diese Vorgehensweise war bislang die gängige Pra-xis der Betreuer und der Kliniken, wenn betreute Men-schen gegen ihren eigenen Willen medizinisch behan-delt werden sollten.Nachdem zwei Gerichtsurteile des Bundesgerichts-hofes im Juni 2012 die Selbstbestimmungsrechte be-treuter Personen völlig zu Recht erheblich gestärkthaben, sind aktuell Zwangsbehandlungen psychischErkrankter, die unter Betreuung stehen, nicht mehr zu-lässig. Der Bundesgerichtshof stützt seine Entschei-dungen auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts aus dem Jahr 2011. Es fehlt fürdie Zwangsbehandlung betreuter Menschen an einerentsprechenden gesetzlichen Ermächtigungsgrund-lage.Weder die gegenwärtige Fassung des § 1906 BGBnoch die übrigen betreuungsrechtlichen Vorschriftenenthalten hinreichende Bestimmungen zur Frage derZwangsbehandlung. Denn es finden sich dort nur Aus-führungen zur Unterbringung. Insofern ist es nun dieAufgabe des Gesetzgebers, die Zwangsbehandlung imLichte der Verhältnismäßigkeit zu regeln. Es ist auchfestzustellen, dass die Zwangsbehandlung nur dasletzte Mittel darstellen darf; eine weniger in Grund-rechte eingreifende Behandlung muss also aussichts-los sein.Wie wir wissen, sind die Anforderungen an denGrad der Bestimmtheit eines Gesetzes umso strenger,je intensiver der Grundrechtseingriff ist. Die medizini-sche Behandlung eines Menschen gegen seinen natür-lichen Willen greift in das Grundrecht auf körperlicheUnversehrtheit ein. Dieses Grundrecht schützt die kör-perliche Integrität und damit auch das diesbezüglicheSelbstbestimmungsrecht. Zu seinem traditionellen Ge-halt gehört der Schutz gegen jegliche staatlicheZwangsbehandlung. Der Betroffene wird durch einemedizinische Zwangsbehandlung genötigt, eine Maß-nahme zu dulden, die den Straftatbestand der Körper-verletzung erfüllt.Ein von anderen Menschen gezielt vorgenommenerEingriff in die körperliche Integrität wird als umso be-drohlicher erlebt werden, je mehr der Betroffene sichdem Geschehen hilflos und ohnmächtig ausgeliefertsieht. Insofern besteht aus der Sicht des Betroffenenauch ein erheblicher Unterschied, ob es sich um denEinsatz von Heilmitteln der Allgemeinmedizin, bei-spielsweise ein Mittel gegen eine Zuckererkrankung,handelt oder um den Einsatz von Psychopharmakabzw. Neuroleptika. Nach der Rechtsprechung des Bun-desverfassungsgerichts stellt die Gabe von Neurolep-tika gegen den natürlichen Willen des Patienten einenbesonders schweren Grundrechtseingriff auch im Hin-blick auf die Wirkungen der Medikamente dar. Diesgilt schon im Hinblick auf die nicht auszuschließendeMöglichkeit schwerer, irreversibler und lebensbedroh-licher Nebenwirkungen.Weiter stellt das Bundesverfassungsgericht in seinerEntscheidung aus dem Jahr 2011 fest: „Psychophar-maka sind auf die Veränderung seelischer Abläufe ge-richtet. Ihre Verabreichung gegen den natürlichen Wil-len des Betroffenen berührt daher, auch unabhängigdavon, ob sie mit körperlichem Zwang durchgesetztwird, in besonderem Maße den Kern der Persönlich-keit.“Andererseits gehört zum Wohl des Betreuten auchdie Erhaltung seiner Gesundheit. Wenn der Betreuteaufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht erken-nen kann, welche Behandlung wichtig für ihn ist, dannmuss der Betreuer die Möglichkeit haben, rechtsstaat-lich gültig seine Einwilligung in ärztlich geboteneMaßnahmen zu geben. Auch die UN-Behinderten-rechtskonvention verbietet ärztliche Maßnahmen nichtbei vorhandener krankheitsbedingter Unfähigkeit, sichselbst zu bestimmen. Hier gilt es daher, sämtliche Inte-ressen, Pflichten und Rechte sorgfältig gegeneinanderabzuwägen.Bei der nun zu treffenden Neuregelung sind auf-grund der großen Grundrechtsrelevanz besondersstrenge Anforderungen im Hinblick auf die Einhaltungdes Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beachten:Das Behandlungsziel muss selbstverständlich Er-folg versprechen. Die Dauer des Eingriffs ist zu be-grenzen. Die Zwangsmedikation darf nicht fortgeführtwerden, um die Betreuung des Patienten zu erleich-tern. Und selbstverständlich darf die Zwangsbehand-lung nur als letztes Mittel eingesetzt werden, zu demkeine Alternative gegeben ist. Zusätzlich muss, notfallsauch aufwendig, zunächst versucht werden, den Be-troffenen selbst zu überzeugen. Auch die Auswahl derkonkret anzuwendenden Maßnahmen nach Art undDauer – einschließlich der Auswahl und Dosierungeinzusetzender Medikamente und begleitender Kon-Zu Protokoll gegebene Reden
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25486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Sonja Steffen
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trollen – ist zu bestimmen. Und die Zwangsbehandlungdarf schließlich nicht außer Verhältnis zu dem erhoff-ten Nutzen stehen.Der Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriumsgreift viele Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsund des Bundesgerichtshofes auf. Und mit der Einfü-gung weiterer Änderungsvorschläge könnte das Rechtder Betroffenen noch weiter gestärkt werden. Wichtigist uns vor allem, dass eine externe Begutachtung desBetroffenen erfolgt und dass eine Regelung zur fach-ärztlichen Qualifikation des Sachverständigen getrof-fen wird.Besonders wichtig ist uns jedoch, dass die Rechteder Betroffenen, auch bei der Erstellung des Gesetzes,ausreichend berücksichtigt werden. Ich erinnere andieser Stelle ausdrücklich noch einmal an die UN-Be-hindertenrechtskonvention. Sie legt besonderen Wertauf Teilhabe und Einbeziehung der Betroffenen in an-stehende Entscheidungen. Es ist daher ganz wichtig,dass die Betroffenen selbst vor dem Erlass des Geset-zes gehört werden.Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass diese zwarin ihrem Umfang eher kleine, aber für die Betroffenenmit großen Auswirkungen verbundene Regelung nicht,wie ursprünglich vorgesehen, als „Omnibusgesetz“zustande kommen soll, sondern den ganz normalenGang des Gesetzgebungsverfahrens gehen wird. Hiersollen die Experten und auch die Betroffenen in denGesetzgebungsprozess mit einbezogen werden, damitwir mit einer breiten Mehrheit zu einer guten gesetzge-berischen Lösung finden.
Unsere Verfassung garantiert jedem Bürger einRecht auf ein selbstbestimmtes Leben. Dies ergibt sichaus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. Nun gibt esauch Menschen, die aufgrund einer psychischen Er-krankung oder geistigen oder seelischen Behinderungnicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst-ständig zu besorgen. Für sie kann nach den Vorschrif-ten des BGB ein Betreuer bestellt werden.Aber selbst wenn ein Mensch unter Betreuung lebt,ist sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben nicht ein-geschränkt. Dies spiegelt sich in den Grundsätzen desBetreuungsrechts wider. Danach muss der Betreuer dieAngelegenheiten des Betreuten so besorgen, wie esdessen Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten ge-hört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähig-keiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen undVorstellungen zu gestalten .Art. 2 Abs. 2 GG garantiert das Recht auf körperli-che Unversehrtheit. Daraus ergibt sich für den Staateine Schutzpflicht gegenüber demjenigen, der nicht inder Lage ist, sich selbst vor körperlichen Schäden zuschützen. Dies gilt nicht für Menschen, die sich freiwil-lig dazu entschließen, auf medizinische Maßnahmen zuverzichten, obwohl diese medizinisch indiziert wären.Auch dies ist Ausdruck des freien Willens.Problematisch wird es dort, wo das Krankheitsbildder Betroffenen dafür sorgt, dass sie die Notwendigkeitmedizinischer Behandlungen nicht erkennen oder abernicht in der Lage sind, entsprechend einer solchen Er-kenntnis zu handeln. Hier muss es einen Rechtsrahmengeben, mit dem der Staat seinem Schutzauftrag gegen-über dem Einzelnen gerecht werden kann. Eine medizi-nische Behandlung gegen den natürlichen Willen desBetroffenen stellt einen Eingriff in seine Rechte dar,folglich bedarf es hierfür einer Rechtsgrundlage.Diese wurde bis zum 20. Juni 2012 in § 1906 BGB ge-sehen. Dann hat jedoch der BGH seine bisherige stän-dige Rechtsprechung geändert und entschieden, dass§ 1906 BGB nicht mehr als Rechtsgrundlage ausreiche
. Durch diese
Norm sei lediglich die Einwilligung des Betreuers indie Unterbringung eines Betreuten, nicht aber inZwangsmaßnahmen gedeckt.Die neue Rechtsprechung des BGH hat zur Folge,dass Betreute zwar untergebracht, aber nicht mehr ge-gen ihren natürlichen Willen medizinisch behandeltwerden können. Sie dürfen aber festgehalten und müs-sen dann fixiert werden.An dem nun eingeleiteten Verfahren wird oft die ver-meintlich unnötige Eile kritisiert. Dabei muss man sichjedoch vor Augen halten, dass es jeden Tag mehr Fällewerden, in denen Menschen nicht mehr medizinischbehandelt, sondern nur noch verwahrt werden können.Dies ist sowohl für die Betroffenen selber als auch fürderen Angehörige ein unhaltbarer Zustand. Es ist nursehr schwer zu ertragen, wenn ein Angehöriger er-kennbar medizinischer Hilfe bedarf, er diese abernicht erhalten kann, weil dafür eine gesetzliche Grund-lage fehlt. Auch für die Ärzte und Pfleger in den Ein-richtungen bedeutet die aktuelle Situation eine erheb-liche Belastung. Es gibt sogar schon Fälle, in denenPflegekräfte entsprechender Einrichtungen um Verset-zung auf andere Stationen gebeten haben, weil sie sichder beschriebenen Situation physisch und psychischnicht mehr gewachsen sehen.Der enge Zeitplan für die erforderlichen Änderun-gen hat einen ganz konkreten Hintergrund: Nur mitihm ist es möglich, den Bundesrat noch in diesem Jahreinzubinden. Würden die Beratungen länger dauern,könnte das neue Gesetz frühestens im März 2013 inKraft treten. Dies bedeutete aber weitere zwei Monate,in denen den Menschen nicht angemessen geholfenwerden könnte. Eine beschleunigte Befassung bedeutetauch nicht, dass diese weniger intensiv ausfällt. DasBundesministerium der Justiz und der Deutsche Bun-destag haben Gespräche mit Experten und Betroffenengeführt, die Berichterstatter der im Deutschen Bundes-tag vertretenen Fraktionen stehen im engen Austauschmiteinander. Zum Wohle aller bedürfen wir vor diesemHintergrund zügig einer gesetzlichen Regelung.An dieser Stelle setzt unser Gesetzentwurf an. Derneue § 1906 BGB schafft eine Grundlage dafür, dassder Betreuer unter sehr engen Voraussetzungen inärztliche Maßnahmen einwilligen kann, auch wennZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25487
Stephan Thomae
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diese dem natürlichen Willen des Betreuten widerspre-chen. Dabei handelt es sich um folgende Voraussetzun-gen, die kumulativ vorliegen müssen:Erstens. Der Betreute kann aufgrund einer psychi-schen Erkrankung oder einer geistigen oder seelischenBehinderung die Notwendigkeit der medizinischenMaßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Ein-sicht handeln.Zweitens. Die ärztliche Zwangsmaßnahme ist imRahmen der Unterbringung zum Wohle des Betreutenerforderlich, um einen drohenden erheblichen gesund-heitlichen Schaden abzuwenden.Drittens. Der erhebliche gesundheitliche Schadendarf nicht durch eine andere zumutbare gesundheitli-che Maßnahme abgewendet werden können, undViertens. Der zu erwartende Nutzen der ärztlichenZwangsmaßnahme muss die zu erwartenden Beein-trächtigungen deutlich überwiegen.Nur wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind,darf der Betreuer in die Maßnahme einwilligen. Da-durch wird deutlich, dass die Maßnahme nur dann ge-gen den natürlichen Willen des Betreuten vorgenom-men werden kann, wenn dies erforderlich ist, um demSchutzauftrag des Staates gegenüber dem Einzelnengerecht werden zu können. Die im Zuge der Debatteum dieses Gesetzgebungsverfahren geäußerte Kritik,es solle über die Köpfe der Betroffenen hinweg in wo-möglich auch noch grundlose Maßnahmen eingewil-ligt werden, geht also fehl. Im Gegenteil: Der Gesetz-entwurf legt größten Wert darauf, dass dem Willen desBetreuten, soweit es möglich ist, Folge geleistet wird.So muss der Betreuer den Betreuten informieren undversuchen, eine auf Vertrauen basierende Einwilligungherbeizuführen, bevor er eine Zwangsmaßnahme nach§ 1906 BGB durchführen lässt. Der Betreuer muss denBetreuten dabei auf eine Art und Weise informieren,die den Fähigkeiten des Betreuten gerecht wird. Zudembedürfen medizinische Maßnahmen nach § 1906 BGBimmer einer Genehmigung durch ein Gericht.Der Bundesgerichtshof hat in seinen Urteilen vomJuni 2012 nicht entschieden, dass medizinische Maß-nahmen gegen den Willen des Betreuten per se ausge-schlossen seien. Er hat lediglich festgestellt, dass eshierfür an einer Rechtsgrundlage mangelt, die denVorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerechtwird. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in sei-nem Urteil vom 23. März 2011 ent-schieden, dass eine medizinische Maßnahme gegenden Willen einer im Maßregelvollzug untergebrachtenPerson gerechtfertigt sein kann. Hierfür bedürfe esaber klarer gesetzlicher Grundlagen.Diese schaffen wir nun mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf. Sie berücksichtigen die Belange der Be-troffenen und erlauben es der Praxis, die notwendigenMaßnahmen vorzunehmen, um Schaden von den Be-treuten abzuwenden. Ich bitte Sie daher, den Gesetz-entwurf zu unterstützen.
Uns liegt ein Gesetzentwurf der Regierungskoali-tion zur Zwangsbehandlung im Betreuungsrecht vor.Dass wir diesen Entwurf nicht in einer normalen Sit-zungswoche im Plenum debattieren, sondern in einerHaushaltswoche zu Protokoll geben, ist nur ein Aspektin diesem parlamentarischen Verfahren, der zeigt, wiewenig Interesse die Koalition an den Betroffenen hat,für die sie diesen Antrag angeblich schreibt, und wiewenig sie das Parlament achtet.Zunächst sollte dieser Gesetzentwurf an ein laufen-des Gesetzesverfahren als Änderungsantrag ange-hängt werden, damit dieses Thema noch weniger imParlament und Plenum diskutiert werden kann. DieserÄnderungsantrag erreichte die Mitglieder des Rechts-ausschusses als Anhang an eine E-Mail, ohne dass indem E-Mail-Text etwas davon erwähnt war. Er sollteohne Anhörung und ohne Einführung ins Parlamentals völlig sachfremder Anhang des Entwurfs „einesGesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkom-mens vom 23. November 2007 über die internationaleGeltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kin-dern und anderen Familienangehörigen sowie zurÄnderung von Vorschriften auf dem Gebiet des inter-nationalen Unterhaltsverfahrensrechts“, eventuell garohne Debatte Ende November verabschiedet werden.Gegen dieses Verfahren wehrt sich meine Fraktion hef-tig.Nun hat die Koalition einen gesonderten Gesetzent-wurf vorgelegt, um wenigstens formal die Beteiligungdes Parlamentes herzustellen. Im Endeffekt wird hieraber nur hau ruck durch ruck zuck ersetzt. Die Beteili-gung des Parlamentes bleibt ebenso wie die Beteili-gung der Betroffenen und Fachverbände eine Farce,wenn ein Gesetz am 22. November zu Protokoll einge-bracht wird und bereits am 29. November verabschie-det werden soll. Ich habe bei der Parlamentsdokumen-tation nachgefragt. In den letzten drei Wahlperiodenhat es genau zwei Gesetzesinitiativen gegeben, dieschneller durch das Parlament gepeitscht wurden: ers-tens das Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpa-kets zur Stabilisierung des Finanzmarktes, zweitensdas Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen zumErhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunionerforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Re-publik. Deren höchst fragliche Geschwindigkeit wurdemit einem Systemzusammenbruch begründet.Eine solche Geschwindigkeit ist in diesem Fall aberschon mit nichts zu begründen. Seit den Urteilen desBundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsge-richts ist Zeit ins Land gegangen, ohne dass der Not-stand ausgebrochen ist. Im Gegenteil. In einem Briefan den Bundestag teilt der Chefarzt der Kliniken desLandkreises Heidenheim mit, dass sich „durch die ak-tuelle Situation, nach der es in Baden-Württembergkeine rechtliche Grundlage für die Zwangsbehandlungmehr gibt, in der Behandlung neue Möglichkeiten zurvertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Patientenund Behandlungsteam ergeben“. Also die mangelndeZu Protokoll gegebene Reden
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25488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012
Dr. Martina Bunge
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rechtliche Grundlage hat zur vertrauensvolleren Zu-sammenarbeit geführt, und er möchte „deshalb nahele-gen, zu prüfen, ob nicht auf eine gesetzliche Grundlagezur medikamentösen Zwangsbehandlung grundsätz-lich verzichtet werden kann“. Ähnliche Aussagen fin-den sich auch in der Stellungnahme von Professor Dr.Lipp der Universität Göttingen. Also von Eilbedarfkann gar nicht die Rede sein. Man muss hier das Ge-fühl bekommen, dieses Thema soll unter der Decke ge-halten werden. Vermutlich muss sich die Koalitionetwas anderes einfallen lassen, weil derzeit keine Fuß-balleuropameisterschaft stattfindet, bei der Deutsch-land gegen Italien spielt.Wir diskutieren zu Recht über Organspende undTransplantation, Beschneidungen von Jungen, überden Maßregelvollzug oder über PID ausgiebig im Par-lament, weil es um ethische Fragen geht, weil es umgrundlegende Rechte, wie die körperliche Unversehrt-heit oder Freiheitsrechte, geht. Das betrifft genausodie Zwangsbehandlung, aber dieses Thema soll in ei-nem Schnellverfahren durch das Parlament gepeitschtwerden. Psychisch kranke Menschen, die sich gegenZwangsmaßnahmen wehren, die einen gleichwertigenAnspruch auf die Wahrung ihrer Grundrechte haben,werden so zu Menschen zweiter Klasse.Die Linke hat eine Kleine Anfrage zu Zwangsbe-handlungen und Zwangseinweisungen gestellt, mit er-schreckenden Ergebnissen. In Bayern wurden 2011nach dem hier diskutierten Betreuungsrecht elfmalmehr Menschen zwangseingewiesen als in Thüringen.Im Westen Deutschlands wurden zweieinhalbmal sohäufig Menschen zwangseingewiesen wie im Osten. ZuZwangsbehandlungen und ihrem Nutzen liegen derBundesregierung keine Erkenntnisse vor, aber es gibtkeinen Grund, anzunehmen, dass hier die Abweichun-gen zwischen den Bundesländern geringer sind. Wirmüssen davon ausgehen, dass ein großer Teil von Pa-tientinnen und Patienten, die in einem Bundeslandzwangsbehandelt wurden, dies in anderen TeilenDeutschlands erspart geblieben wäre. Wenn wir ge-sundheitliche Unterschiede als Ursache dieser Unter-schiede ausschließen, weil es für mich keinen Grundgibt, dass in Westdeutschland mehr als doppelt so vieleMenschen psychisch krank sein sollen als im Osten,müssen andere Gründe eine Rolle spielen. Das ist in-tensiv zu hinterfragen.In diesem Zusammenhang möchte ich an den Sozio-logen Michel Foucault erinnern, der Verrücktheit, Psy-chose, und psychische Normalität nicht als objektiveDiagnosen, sondern als subjektive Urteile ansieht.Laut Foucault dient die Abgrenzung zwischen Norma-lität und Verrücktheit auch zur gesellschaftlichen Kon-trolle. Die klinische Psychiatrie könne so als normstif-tende Machtinstanz dienen.Wir dürfen massive Einschränkungen der Freiheits-rechte, der Selbstbestimmung nicht auf offensichtlichunsichere Kriterien und mangelnde Belege der Wirk-samkeit der Behandlungen stützen und so anderen Mo-tiven die Tür öffnen. Das ist genau die Debatte, diegeführt werden muss, mit Betroffenen, mit Fachver-bänden und in der Öffentlichkeit. Wir dürfen auchnicht vergessen, dass Deutschland wegen der Ge-schichte der Psychiatrie in der NS-Zeit eine besondereVerantwortung trägt und mit gutem Beispiel vorange-hen sollte. Dieses Gesetzesverfahren wird dem in kei-ner Weise gerecht.
Der Bundesgerichtshof hat bereits im Juni 2012festgestellt, dass es für die ärztliche Behandlung vonMenschen, die unter Betreuung stehen und selbst in dieBehandlung nicht einwilligen können, keine gesetz-liche Grundlage gibt. Hierauf hat die Bundesregierungerst verspätet reagiert. Dies führte nun zu einemverkürzten parlamentarischen Verfahren, um eine län-gere Phase der Rechtsunsicherheit für die Praxis zuvermeiden.Wir sind froh, dass wir auf unseren Druck hin nundoch noch dieses Gesetz hier im Parlament eigenstän-dig diskutieren können. Es war absolut nicht angemes-sen, einen so schweren Grundrechtseingriff verstecktin einem vollständig anderen Gesetz durch das Parla-ment zu peitschen.Eine Zwangsbehandlung darf nur letztes Mittelsein, um Schaden abzuwenden. Die höchstrichterli-chen Urteile haben letztlich auch darauf reagiert, dassim psychiatrischen Alltag der Willen eines Patientenzu oft übergangen wird, obwohl es auch mildere Mittelgegeben hätte. Die höchstrichterliche Rechtsprechunghat ausdrücklich betont, dass ein solch schwerer Ein-griff in Grundrechte nur erfolgen darf, wenn wenigereingreifende Maßnahmen aussichtslos sind. Außerdemmuss der behandelnde Arzt versuchen, die aufVertrauen und Einsicht gegründete Zustimmung desPatienten zu erreichen. Genau hieran mangelt es impsychiatrischen Alltag häufig. In den Einrichtungenfehlen oft das Konzept, die Zeit oder schlicht dasPersonal, mit der Folge einer zwangsweisen Medika-tion. Wir stehen deshalb in der Pflicht, zu erwirken,dass auf Zwangsbehandlungen so weit wie möglichverzichtet wird.Dennoch haben wir es mit einem Dilemma zu tun.Vollständig werden wir auf eine Zwangsbehandlungnicht verzichten können, als Ultima Ratio ist sie inmanchen medizinischen und psychiatrischen Konstel-lationen zum Schutz eines Patienten nicht zu vermei-den.Minister Bahr muss dafür sorgen, dass die Patien-tenautonomie und Patientenorientierung in psychiatri-schen Krankenhäusern strukturell, finanziell undpersonell gestärkt wird. Dazu zählen bei Bedarfzusätzliche Sitzwachen und Rückzugsräume in einerreizarmen Umgebung, die sich auch in dem Entgeltsys-tem niederschlagen müssen. Wichtig sind Nachsorge-angebote unter Einbeziehung von Psychiatrieerfahre-nen und Angehörigen psychisch Kranker, die daraufZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. November 2012 25489
Maria Klein-Schmeink
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ausgerichtet sind, das Auftreten einer psychischenKrise frühzeitig zu erkennen.Ergänzend brauchen wir dringend einen Ausbauvon neuen Formen der akuten Krisenhilfe, um Patien-ten, die eine medikamentös gestützte Behandlungablehnen, Alternativen bieten zu können. Umso kurz-sichtiger ist die Rechtsverordnung für das neue Psych-iatrie-Entgeltsystem, denn dieses entzieht die für dieSchwerstkranken notwendigen Mittel.Im Rahmen des Patientenrechtegesetzes setzen wiruns für eine gesetzliche Verankerung der Behand-lungsvereinbarungen ein. Damit sollen die Kranken-häuser verpflichtet werden, ihren Patientinnen undPatienten mit wiederkehrenden Krankheitsepisodeneine Behandlungsvereinbarung anzubieten, in der diePatienten für die Zeiten der EinwilligungsunfähigkeitArt und Umfang der Behandlungsmaßnahme mit demBehandelnden festlegen können.Wir erwarten noch Nachbesserungen in den ange-sprochenen Bereichen. Das schnelle Verfahren zurBeratung dieses wichtigen Gesetzentwurfs zum sensi-blen Thema der Zwangsbehandlung erhöht unsererMeinung nach zudem die Verpflichtung des Gesetz-gebers, die Auswirkungen der jetzigen Regelungen ge-nau zu beobachten und gegebenenfalls schnell aufFehlentwicklungen zu reagieren.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11513 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 23. November 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
freundlichen Abend.