Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reformder elterlichen Sorge nicht miteinander ver-heirateter Eltern– Drucksache 17/11048 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendEs soll hierzu eineinhalb Stunden debattiert werden. –Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort fürdie Bundesregierung der Bundesministerin SabineLeutheusser-Schnarrenberger.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Die Formen des Zusammenlebens der Menschenin unserer Gesellschaft haben sich in den letzten Jahrenund Jahrzehnten deutlich verändert. Seit Jahren gibt eseine ansteigende Zahl von Kindern, deren Eltern nichtmiteinander verheiratet sind. 15 Prozent betrug der An-teil 1995 und 33 Prozent im Jahr 2010.An diese Entwicklung muss auch unser Familienrechtangepasst werden, was die Stellung der nicht verheirate-ten Eltern, von Mutter und Vater, im Interesse des Kin-deswohls angeht. Bisher galt: Mütter haben mit Geburtdas alleinige Sorgerecht für ihr nicht eheliches Kind. Vä-ter konnten die Zustimmung der Mutter nicht einklagen,bis das Bundesverfassungsgericht und auch der Europäi-sche Gerichtshof für Menschenrechte diese Schlechter-stellung der nicht verheirateten Väter ausdrücklich bean-standet haben.Genau da setzt der Gesetzentwurf der Bundesregie-rung an. Er orientiert sich an dem Leitbild der gemeinsa-men Sorge auch der nicht verheirateten Eltern für ihrKind. Wir legen zugrunde, dass es das Beste ist, wennsich beide Elternteile, auch wenn sie nicht verheiratetsind, um ihr Kind oder ihre Kinder kümmern – es seidenn, das Kindeswohl steht dem ausdrücklich entgegen.Der Gesetzentwurf will diese Interessen, die im Raumsind – der Mutter nach der Geburt, des Vaters und natür-lich des Kindes –, in Einklang bringen.Damit eines ganz klar ist: Wenn Eltern, die nicht mit-einander verheiratet sind, sich einigen, dann brauchenwir eigentlich überhaupt keine gesetzlichen Regelungen.Da, wo man sich verständigt – möglichst früh und viel-leicht schon vor der Geburt statt erst nach der Geburt –,hat der Gesetzgeber keine Vorgaben zu machen. Deshalbbefasst sich der Gesetzentwurf mit den Lebensgestaltun-gen und Lebenssituationen – diese sind in unserer Ge-sellschaft sehr vielfältig –, in denen es nicht zu einer Ei-nigung der beiden Elternteile, von Mutter und Vater,kommt.Wir regeln Folgendes: Es bleibt beim Grundsatz, wieer bis heute gilt: Die Mutter hat mit der Geburt die allei-nige Sorge. Natürlich gibt es andere Modelle in der Dis-kussion und auch in der Beratung dieses Gesetzentwur-fes. Bei der Erstellung des Gesetzentwurfes haben wirdie verschiedenen Modelle in den Blick genommen. Diegemeinsame Sorge von Geburt an für die nicht verheira-teten Eltern ist ein Modell, dem auch wir als FDP einigesabgewinnen konnten. Aber natürlich gibt es auch Argu-mente dagegen. Denn was ist, wenn eine Beziehung derEltern nicht besteht oder wenn sie nur ganz lose war undin einem oder mehreren kurzen Treffen bestand, sodasses keine enge Verknüpfung gibt? Soll da immer von Ge-burt an die gemeinsame Sorge bestehen? Das sind dieArgumente, die wir abgewogen haben.Wir haben uns in der Koalition entschieden, zu sagen:Mit Geburt hat die Mutter die alleinige Sorge. Aber derVater, der in seinen Rechten durch die Rechtsprechungdes Bundesverfassungsgerichts gestärkt worden ist, kannnatürlich beantragen, die gemeinsame Sorge mit derMutter auszuüben. Er kann auch sagen, dass es aus sei-
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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nem Blickwinkel am besten ist, wenn er derjenige ist,der die alleinige Sorge für das gemeinsame Kind hat.Die Gründe kann er in einer Erklärung niederlegen undeinen entsprechenden Antrag stellen.Natürlich hat dann die Mutter die Gelegenheit – dasist doch selbstverständlich und unverzichtbar –, zu sa-gen, wie sie zu diesem Antrag auf gemeinsame Sorgesteht. Wenn es Gründe gibt, dass es aufgrund des Kin-deswohles angemessener wäre, das Sorgerecht für dasKind allein bei der Mutter zu belassen, dann kann dieMutter diese nicht nur vortragen, sondern dann sollte siediese unbedingt vortragen. Dann müssen die unter-schiedlichen Vorstellungen und Interessen – immer ge-messen am Wohl des Kindes – in einem Verfahren beimFamiliengericht geklärt werden. Das Familiengerichtwird auf der Grundlage der bestehenden Regelungen zueiner Entscheidung unter Berücksichtigung der unter-schiedlichen Interessen kommen.Darüber hinaus ist es den Elternteilen freigestellt,zum Jugendamt zu gehen. Das Jugendamt kann natürlichberaten sowie Anregungen und Hilfestellungen geben.Wir sehen aber nicht vor, dass das in jedem Fall zwin-gend zu erfolgen hat. Ich glaube, wir müssen den Eltern-teilen nicht vorschreiben, dass sie sich in jeder Situationimmer und zuallererst an das Jugendamt wenden müs-sen. Es ist aber gut, wenn sie diese Anlaufstelle und diedort vorhandene Kompetenz und vorhandenen Erfahrun-gen meinen, für sich in Anspruch nehmen zu wollen.Das ist ihnen, wie gesagt, freigestellt.Auch in Debatten im Deutschen Bundestag zu ande-ren rechtspolitischen Anträgen ging es um die Frage,warum mit diesem Gesetzentwurf ein zügigeres Verfah-ren vorgesehen werden soll, ein vereinfachtes und einbeschleunigtes Verfahren zur Entscheidung über dieFrage, ob das Sorgerecht beiden Elternteilen und damitauch dem Vater übertragen wird.Mir ist es wichtig, deutlich zu machen, dass diesesVerfahren nur für eine ganz bestimmte Situation gilt,wenn nämlich die Mutter bezüglich des Antrags des Va-ters keine Gründe vorträgt, warum dieser Antrag auf ge-meinsame Sorge sich gegen das Kindeswohl richtet, siesich in der Sache also überhaupt nicht einlässt. Dazu sa-gen wir: Wenn dem Gericht nicht sowieso schon andereGründe vorliegen, die selbstverständlich zu berücksich-tigen sind, dann hat es in einem schriftlichen Verfahren,in dem man natürlich wiederum alle Gründe vorbringenkann, zu entscheiden. Wenn sich in diesem schriftlichenVerfahren herausstellt, dass die Situation doch eine an-dere ist, als sie sich im Antrag des Vaters darstellt, dann– das ist ausdrücklich in der Begründung des Gesetzent-wurfs und in den Verweisen dargelegt – kann natürlichunter Einhaltung einer bestimmten Frist in einer Anhö-rung alles erörtert werden, was wichtig ist.Ich glaube, damit tragen wir den Vorgaben des Bun-desverfassungsgerichts Rechnung, die Rechte der Väterim Falle nicht verheirateter Eltern eindeutig zu stärken.Wir belassen es bei der alleinigen Sorge der Mutter mitder Geburt. Im Verfahren muss dann aber den Rechtender Väter Rechnung getragen werden. Wir verbinden dieunterschiedlichen Interessenlagen in einer angemesse-nen Weise miteinander. Dem Vater wird mit dem Ver-fahren für den Fall eine Möglichkeit eröffnet, seineSituation darzulegen, dass sich die Mutter nicht mit derNennung von Gründen, die gegen eine gemeinsameSorge sprechen, einbringt.Ich freue mich auf spannende und angeregte Beratun-gen im Rechtsausschuss und in den anderen Ausschüs-sen. Das ist ein wichtiges Thema, das viele Menschen inunserer Gesellschaft berührt. Deshalb ist der heutige Tagein guter Tag, an dem wir erstmals nach der Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichts über gesetzlicheRegelungen beraten.Vielen Dank.
Der Kollege Burkhard Lischka hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauBundesjustizministerin, es ist in der Tat ein wichtigesThema. Das Thema, über das wir heute Morgen debattie-ren, brennt vielen Hunderttausend Vätern, Müttern undauch Kindern auf den Nägeln. Sie haben es gesagt: InDeutschland wird inzwischen jedes dritte Kind nichtehelich geboren. In den ostdeutschen Bundesländernsind es sogar über 60 Prozent der Kinder. Das Ganze istalso überhaupt kein Randthema.In diesen Zahlen spiegelt sich gesellschaftlicher Wan-del wider, der in den letzten Jahren und Jahrzehntenstattgefunden hat. Vor etwa 40 Jahren hatten wir inDeutschland eine komplett andere Rechtslage. Nichteheliche Kinder waren sogenannte Niemandskinder. Siewaren mit ihrem Vater nicht einmal verwandt. Sie warenvon der Erbfolge ausgeschlossen. Sie hatten nicht einmaleinen Anspruch auf einen Pflichtteil. Sie hatten keineneigenen Unterhaltsanspruch. Auf der anderen Seite hatteder Vater keinen durchsetzbaren Anspruch auf Umgangmit dem Kind, geschweige denn die Möglichkeit, über-haupt eine gemeinsame Sorge zu bekommen. Das alleshat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert.Das ist auch gut so.
Denn Kinder haben ein Recht auf liebevollen Umgangmit beiden Elternteilen, egal ob sie einen Trauschein ha-ben oder nicht.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte voretwa drei Jahren und das Bundesverfassungsgericht vorzweieinhalb Jahren hatten uns die Aufgabe gegeben, die-ses Sorgerecht weiterzuentwickeln. Gesetzliches Leit-bild soll die gemeinsame Sorge sein. Es soll nicht mehrprinzipiell an dem Veto eines Elternteils scheitern. Auchdas ist gut so.
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Burkhard Lischka
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Die Bundesregierung hat sich allerdings viel Zeit ge-lassen, um diesen Gesetzentwurf vorzulegen. Ursprüng-lich war ein solcher Gesetzentwurf für das Jahr 2010angekündigt. Da ist nichts passiert. Dann kam die An-kündigung für 2011. Auch da ist nichts passiert. Jetzt ha-ben wir Ende 2012. Obwohl sich die Bundesregierungzweieinhalb Jahre Zeit gelassen hat: Der ganz großeWurf – das sage ich vorweg – ist es nicht geworden. Ichwill nicht verkennen, dass eine gesetzliche Neuregelungvor allen Dingen mit drei Schwierigkeiten zu kämpfenhat.Erste Schwierigkeit. Die Debatte über die Ausgestal-tung der elterlichen Sorge – das wissen wir alle – wirdsehr emotional, sehr leidenschaftlich und teilweise auchsehr verbissen geführt. Es gibt im Wesentlichen zwei Lö-sungsmodelle, die seit Jahren diskutiert werden. Daseine ist die sogenannte Antragslösung, bei der der Vatervor Gericht gehen muss, um eine gemeinsame Sorge zubekommen. Das andere ist die Widerspruchslösung, diebeiden Eltern zunächst einmal das Sorgerecht zuweist.Wenn dies dann aber nicht sachgerecht ist, weil sich bei-spielsweise der Vater schon vor der Geburt aus demStaub gemacht hat, dann muss die Mutter zum Gerichtgehen, um daran etwas zu ändern. Diese beiden Lö-sungsmodelle stehen sich sehr unversöhnlich gegenüber.Der eine zeigt auf den anderen und fragt: Warum mussbei deinem Modell der Vater zum Gericht laufen? Dieserwiederum fragt zurück: Warum muss das bei deinemModell die Mutter tun?Ich glaube, dass eine gesetzliche Neuregelung imSinne der Kinder Brücken bauen muss. Die Kinder lei-den am meisten darunter, wenn sich ihre Eltern über dasSorgerecht streiten, was zu der misslichen Situation füh-ren kann, dass ein Elternteil den anderen verklagt. Einegesetzliche Regelung muss die Gemeinsamkeiten der El-tern fördern und nicht den Streit. Das ist in diesem Ge-setzentwurf noch nicht richtig gelungen.
Zweite Schwierigkeit. Hinter dem Thema Sorgerecht fürnicht verheiratete Eltern – Sie haben das angesprochen –verbergen sich ganz unterschiedliche Fallgruppen: ange-fangen bei den Eltern, die auch ohne Trauschein ein Le-ben lang zusammenbleiben und sich gemeinsam rührendum ihre Kinder kümmern bis hin zu den flüchtigen Be-kanntschaften, bei denen der Vater schon lange vor derGeburt verschwunden ist. Eine gesetzliche Neuregelungmuss das Kunststück fertigbringen, all diesen Fallgrup-pen gerecht zu werden. Das ist kein leichtes Unterfan-gen.Schließlich die dritte Schwierigkeit. Jede noch so gutgemeinte gesetzliche Regelung auf dem Papier ist daraufangewiesen, dass die Eltern sie vor Ort im Alltag verant-wortungsbewusst und einvernehmlich umsetzen. Wenndie Eltern das nicht tun, wenn sie beispielsweise ihreKonflikte auf dem Rücken der Kinder austragen, dannläuft jede noch so gute Regelung vollkommen ins Leere.Deshalb muss es doch das Ziel einer gesetzlichen Rege-lung sein, die Eltern zu unterstützen und da, wo Kon-flikte vorhanden sind, diese Konflikte mit den Eltern zubereden und sie nicht alleine zu lassen.
Den Eltern muss gesagt werden: Ihr habt ein gemeinsa-mes Kind. Seid für euer Kind da. Es braucht Vater undMutter. Lasst uns einmal gemeinsam schauen, wie wirhier zu einer vernünftigen Lösung kommen.Aber was bewirkt dieser Gesetzentwurf, zumindest inTeilen? Ich sage es ganz offen: Die Eltern werden im Re-gen stehen gelassen. Sie haben es bereits angesprochen:In einem vereinfachten und beschleunigten Verfahrensoll beispielsweise ein Familienrichter über das Sorge-recht in Konfliktfällen entscheiden. Der Pferdefuß dabeiist: Er soll das tun, ohne jemals Vater oder Mutter gese-hen, geschweige denn mit ihnen gesprochen zu haben.Auch das Jugendamt ist außen vor. Der Richter entschei-det nur nach Aktenlage. Die Eltern sind außen vor. Siewerden zu Zaungästen des gesamten Verfahrens. Das istdoch ein Unding.
So löst man keine bestehenden Konflikte, sondern manverschärft sie nur. Da Sie so mit Hunderttausenden vonVätern und Müttern umspringen, sprechen Sie in diesemZusammenhang in Zukunft bitte nicht mehr von starkenFamilien und starken Eltern.
Auch die Familienrichter stöhnen schon und fragen:Wie sollen wir in diesem vereinfachten Verfahren ei-gentlich entscheiden? Wie sollen wir in Zukunft solcheschwerwiegenden Entscheidungen über die Ausübungdes Sorgerechts über die Köpfe der Betroffenen – derVäter, der Mütter, der Kinder – hinweg treffen können?Meine Damen und Herren, hier geht es um das Wohl vie-ler nicht ehelicher Kinder in unserem Land. Über dasKindeswohl entscheidet man nicht nach Aktenlage.
Das Kindeswohl eignet sich nicht für schwarz-gelbe Ex-perimente. Deshalb werden wir diesen Gesetzentwurf inden kommenden Wochen sehr kritisch begleiten.Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben vor einemknappen Jahr unsere Lösungsvorschläge auf den Tischgelegt. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam schauen: Wassind die besten Lösungen für die betroffenen Väter, fürdie Mütter, aber vor allen Dingen auch für die betroffe-nen Kinder?Recht herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion ergreift jetzt die KolleginAndrea Voßhoff das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, heute liegt der Gesetzentwurf der christlich-liberalenKoalition zur Reform der elterlichen Sorge nicht mitei-nander verheirateter Eltern endlich vor. Wir haben diesesThema in diesem Hause schon oft genug diskutiert, zu-letzt noch bei der Haushaltsberatung.Ich glaube, wir sind uns, auch wenn wir später hin-sichtlich der Ausgestaltung sicherlich noch streiten wer-den, dem Grunde nach sicherlich einig: Das Sorgerechtist im Bereich des Familienrechts immer eine besondereHerausforderung für den Gesetzgeber. Es muss nämlichhöchst unterschiedlichen Lebens- und Beziehungssitua-tionen, in die Kinder heutzutage hineingeboren werden,gerecht werden. Auch aus diesem Grund haben wir inder Koalition die Vorlage des heutigen Entwurfs sehrausführlich, sehr intensiv und sehr zeitaufwendig bera-ten, und zwar, wie ich finde, mit einem guten Ergebnis.Wir haben – dies ist schon betont worden – eine Viel-zahl unterschiedlicher Regelungsmodelle miteinanderdiskutiert. Herr Lischka, Sie und auch die Ministerin ha-ben es erwähnt: Ob Widerspruchslösung oder Sorgerechtab Geburt – es müssen sehr divergierende Interessenaustariert werden. Sie haben unsere Überlegungen undauch die Erarbeitung des heutigen Entwurfs als Opposi-tion begleitet, im Wesentlichen sachlich. Ich glaube, dasgebietet das Thema auch. Es eignet sich nicht für partei-politische Präsentation und Darstellung. Vielmehr soll-ten wir im Interesse der Kinder, der Eltern und der Fami-lie eine sachgerechte Diskussion darüber führen. Ichfreue mich darüber, dass das bisher weitgehend gelungenist.
Könnte man diesem Gesetzentwurf eine Überschriftgeben, die das Leitmotiv treffend zum Ausdruck bringt,so müsste die Überschrift dieses Gesetzentwurfes eigent-lich lauten: „Mutter und Vater sind gut fürs Kind“. Wirimplantieren die gemeinsame elterliche Sorge als Leit-bild ins Sorgerecht, und zwar in den Fällen, in denen dieEltern nicht miteinander verheiratet sind und über dasSorgerecht keine Einigung finden können.Wir alle wissen: Nach bisherigem Recht – das istheute schon gesagt worden – erhielten Eltern, die nichtmiteinander verheiratet waren, das gemeinsame Sorge-recht nur, wenn sie heirateten oder sich übereinstimmendfür die gemeinsame elterliche Sorge entschieden haben.Wir wissen auch: Neben dem EGMR hat auch dasBundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung ausdem Jahr 2010 festgestellt, dass der Gesetzgeber da-durch unverhältnismäßig in das Elternrecht des Vaterseines nicht ehelichen Kindes eingreift, dass er ihn gene-rell von der Sorgetragung für sein Kind ausschließt,wenn die Mutter des Kindes ihre Zustimmung zur ge-meinsamen Sorge mit dem Vater oder zu dessen Allein-sorge für das Kind verweigert, ohne dass ihm die Mög-lichkeit einer gerichtlichen Überprüfung am Maßstabdes Kindeswohls eingeräumt wird. Der Gesetzgeber wardaher gefordert, diesen nach der bestehenden Rechtslagemöglichen unverhältnismäßigen Eingriff in das Eltern-recht des Vaters zu korrigieren. Das tun wir heute mitdiesem Gesetzentwurf.Es ist bereits gesagt worden: Die gesellschaftlicheEntwicklung auch der Familien ist seit der letzten großenKindschaftsrechtsreform nicht stehen geblieben. DerProzentsatz der nicht ehelich geborenen Kinder hat, ge-messen an der Gesamtzahl der Geburten, stetig zuge-nommen. Die Zahlen sind bereits genannt worden: Heut-zutage wird etwa jedes dritte Kind nicht ehelich geboren,in den neuen Bundesländern liegt die Zahl der nicht ehe-lich geborenen Kinder sogar bei über 61 Prozent.Der weit überwiegende Teil dieser Kinder lebt dabeidurchaus in stabilen Verhältnissen. Viele Eltern sehenzwar – was ich bedaure – keinen Grund für eine Heirat,wollen sich aber – und das ist sehr zu begrüßen – ge-meinsam um ihr Kind kümmern und geben entspre-chende Sorgerechtserklärungen ab. Die Statistik besagt,dass dies in über 50 Prozent der Fälle geschieht. Das istgut so. Wir alle würden uns sicherlich darüber freuen,wenn dieser Prozentsatz steigen würde.Ebenso ist erfreulich, dass immer mehr nicht verhei-ratete Väter eine echte Vaterrolle übernehmen und des-halb mitsorgeberechtigt sein wollen. Es muss daher un-ser Ziel sein, möglichst viele Eltern dazu zu bewegen,sich aus freien Stücken dafür zu entscheiden, die elterli-che Sorge gemeinsam tragen zu wollen. Darin sind wiruns vielleicht auch noch einig: Eine bewusste und frei-willige Entscheidung der Eltern ist um ein Vielfachesbesser als ein gesetzlicher Automatismus oder ein Ge-richtsurteil, durch welches das Sorgerecht zwangsweisegeregelt wird. Das ist für uns als Union auch vom christ-lichen Menschenbild her eine wichtige Zielvorgabe. Esist immer besser, wenn der Staat etwas nicht regelnmuss, weil die Familie es selbst regeln kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen einegesetzliche Neuregelung aber eindeutig für die Fälle, indenen die Eltern sich eben nicht einvernehmlich über dieSorge verständigen können. Ich sagte es bereits: Nachder bisherigen Gesetzeslage hatte es die Mutter in derHand, darüber zu entscheiden, ob auch der Vater an derelterlichen Sorge beteiligt werden sollte oder nicht. DerGesetzgeber hatte seinerzeit bei der Kindschaftsrechtsre-form gute Gründe, dies so zu regeln. Wir erinnern uns:Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinerEntscheidung aus dem Jahr 2003 anerkannt, indem essagte, der Gesetzgeber dürfe davon ausgehen, dass eineVerweigerungshaltung der Mutter von schwerwiegendenGründen mit Blick auf die Wahrung des Kindeswohlsgetragen ist.Das Bundesverfassungsgericht hat diese Wertung inseiner Entscheidung von 2010 jedoch geändert: Eskönne nicht angenommen werden, dass die Zustim-mungsverweigerung in aller Regel auf Gründen beruht,die mit der Wahrung des Kindeswohls zusammenhän-gen. – Wir wissen auch aus einem vom Bundesministe-rium der Justiz in Auftrag gegebenen Forschungsvorha-ben, dass in vielen Fällen eine gemeinsame Sorge ausGründen verweigert wird, die vielleicht verständlichsind, aber nicht unbedingt einen Bezug zum Kindeswohlhaben.
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Andrea Astrid Voßhoff
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Wir alle kennen auch die vielen Zuschriften von Vä-terinitiativen, die seit Jahren um eine Beteiligung an derelterlichen Sorge kämpfen. Mit der Entscheidung desEGMR und des Bundesverfassungsgerichts haben sie ih-rem Anliegen nicht nur Gehör verschafft; durch die Ent-scheidung der genannten Gerichte ist der Gesetzgebernunmehr gezwungen, eine Reform des Sorgerechts vor-zunehmen.Wir haben Ihnen diesen Gesetzentwurf heute in ersterLesung vorgestellt. Ich glaube, wir haben einen ausge-wogenen und die Interessen aller Beteiligten durchausberücksichtigenden Entwurf vorgelegt. Er soll den nichtmit der Kindesmutter verheirateten Vätern im Lichte derzwischenzeitlich eingetretenen gesellschaftlichen Ent-wicklungen auch bei fehlender Zustimmung der Mutterden Zugang zur elterlichen Sorge ermöglichen. Wir ha-ben uns dabei von drei zentralen Gesichtspunkten leitenlassen:Erstens. Für uns gilt der Grundsatz – ich sagte es –:Jedes Kind braucht Vater und Mutter. Das ist ein Leitmo-tiv, das für uns von der Union auch im Zusammenhangmit diesem Gesetzentwurf von besonderer Bedeutungist. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in einer frü-heren Entscheidung festgestellt,dass die gemeinsame elterliche Sorge grundsätzlichden Bedürfnissen des Kindes nach Beziehungen zubeiden Elternteilen entspricht und ihm verdeutlicht,dass beide Eltern gleichermaßen bereit sind, für dasKind Verantwortung zu tragen.Das bedeutet, dass Väter am Sorgerecht beteiligt werdenmüssen, ohne dass dies ausschließlich vom Willen derMutter abhängen darf. Die gemeinsame elterliche Sorgesoll, wenn möglich, der Regelfall sein, weil es nach un-serer Überzeugung das Beste fürs Kind ist.Ich komme damit zum zweiten Punkt. Wir wollen,dass in den Fällen, in denen sich die Eltern uneinig sindund um die Sorge streiten, ein Familiengericht einge-schaltet wird. Es gibt verschiedene Entwurfsmodelle ausden Oppositionsfraktionen, die zum Teil vorsehen– beim Modell der Grünen ist das der Fall –, dass das Ju-gendamt entscheidet. Das halten wir für falsch. Wir wol-len, dass das Familiengericht eingeschaltet wird undprüft, ob das Kindeswohl Schaden nehmen würde.
Drittens. Wir wollen, dass für die Beteiligten mög-lichst früh Klarheit geschaffen wird, wie sich die sorge-rechtliche Verantwortung verteilt.Jetzt komme ich zur Ausgestaltung. Ich will es nichtin aller epischen Breite darstellen; das werden die nach-folgenden Redner sicherlich noch im Detail tun. HerrKollege Lischka, ich weiß – auch uns erreichen Zu-schriften –: Das vereinfachte Verfahren wird kritisch be-trachtet. Ich finde es nur nicht angemessen, wenn Siehier sagen, dass wir die Eltern „im Regen stehen lassen“oder als „Zaungäste“ betrachten. Sie vergessen bei dieserArgumentation immer, dass die Mutter aufgefordertwird, Stellung zu nehmen, innerhalb von sechs Wochennach der Geburt – schriftlich, mündlich. Der Normalfallwird doch sein, Herr Kollege Lischka, dass die Muttervon dieser Möglichkeit auch Gebrauch macht, wenn sieGründe nennen kann – Sie muss sie künftig vortragen –,die das Kindeswohl betreffen.
Deshalb ist es falsch, die Behauptung aufzustellen, wirwürden die Eltern „im Regen stehen lassen“ oder als„Zaungäste“ betrachten. Nur in dem Fall, dass sich dieMutter gar nicht äußert und das Gericht keine Erkennt-nisse hat, kommt das beschleunigte Verfahren zum Zuge.Warum soll es das? Weil es auch im Interesse der Be-teiligten, der Eltern und des Kindes, ist – das gehört zumdritten Punkt, den ich vorhin genannt habe –, dass dieseEntscheidung schnell gefällt wird, wenn es keine Gründedafür gibt, das Verfahren mit Anhörung aller Beteiligteneinschließlich Jugendamt in extenso durchzuführen. Ichkenne und höre die kritischen Anmerkungen, die es dazugibt. Wir werden eine Anhörung haben und uns mit denArgumenten sehr wohl noch einmal auseinandersetzen.Die Vorschläge aus der Opposition in dieser Frage be-deuten für die Eltern, insbesondere für den Vater,enorme Hürden.
Der Vater hätte sozusagen mit sämtlichen Behörden zutun, vom Standesamt über das Jugendamt bis hin zumGericht. Das sind enorme Hürden für den Vater, der dasSorgerecht möchte; es ist letztendlich auch für die Mut-ter belastend, die sich mit ihm darüber nicht einigenkann.Meine Damen und Herren, ich finde, es ist aller Mü-hen wert, dass wir uns in der Anhörung sehr intensiv mitdiesem Entwurf befassen. Er ist ein gelungener Kompro-miss zwischen den unterschiedlichen Interessen. DieÜberschrift des Gesetzes hätte eigentlich lauten müssen– ich sagte es eingangs –: „Mutter und Vater sind gutfürs Kind“. Ich finde, dieser Gesetzentwurf leistet einenguten Beitrag.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt Jörn Wunderlich
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Ich bin Vater, aber habe kein Recht, für meinKind zu sorgen.“ So oder so ähnlich lautete die Be-schwerde, die Anlass für eine Entscheidung des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr2009 und für eine Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts vom 21. Juli 2010 war, um die bis dahin gel-tende Regelung der elterlichen Sorge nicht verheirateterEltern neu zu regeln.
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24544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Jörn Wunderlich
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Die Rechtslage bis dato war: Mutter wurde man durchGeburt des Kindes, sorgeberechtigter Vater durch einegemeinsame Sorgerechtserklärung oder durch Heirat derKindesmutter. Der ledige Vater hatte keinerlei Möglich-keiten, das gemeinsame Sorgerecht gegen den Willender Kindesmutter zu erlangen. Zur gesamten familien-rechtlichen Historie hat der geschätzte Kollege Lischkaschon ausführlich gesprochen.Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes lautet wie folgt:Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli-che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob-liegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht diestaatliche Gemeinschaft.Was sagt dieser Art. 6 aus? Inwieweit bezieht sich dasBundesverfassungsgericht darauf? Ich zitiere aus derEntscheidung vom 21. Juli 2010, in der es heißt:Das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG gebietet esauch nicht, Väter nichtehelicher Kinder generellmit wirksamer Anerkennung ihrer Vaterschaft …kraft Gesetzes das Sorgerecht für ihr Kind gemein-sam mit der Mutter zuzuerkennen.Allerdings heißt es in den Gründen drei Absätze wei-ter:Dies hindert den Gesetzgeber allerdings nicht da-ran, angesichts des Umstandes, dass immerhin fürdie Hälfte der nichtehelichen Kinder eine gemein-same Sorgetragung der Eltern begründet wird, denVater eines nichtehelichen Kindes mit der rechtli-chen Anerkennung der Vaterschaft zugleich kraftGesetzes in die Sorgetragung für das Kind mit ein-zubeziehen …Das heißt, wir als Gesetzgeber sind nicht gehindert, esgleichwohl so zu regeln, auch wenn es gegenwärtig nichtgeboten ist.Nun gibt es verschiedene Lösungsansätze: die ge-meinsame Sorge per Gesetz; die Widerspruchslösung,das heißt, man kann Widerspruch gegen die gemeinsameSorge einlegen; die Antragslösung, das heißt, gemein-same Sorge nur auf Antrag des Vaters. Für jede Lösungs-variante kann jeder zum Teil extreme Beispiele anfüh-ren, sowohl positive als auch negative. Welche ist diebeste? Welche kommt den Interessen des Kindes amnächsten? Welche benachteiligt keinen Elternteil?Jetzt liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierungvor. Das ist so eine Art modifiziertes Antragsmodell; wirhaben schon gehört: ein Kompromissvorschlag, über denlange beraten worden ist, wobei ich das Ergebnis alsnicht unbedingt sehr gelungen betrachte.
– Danke, Frau Voßhoff, ich finde es toll, dass Sie so vielWert auf mein Urteil legen. Das freut mich.
– Das auch.
Es ist und bleibt allerdings problematisch – das istschon dargelegt worden –, dass im Falle der Nichteinig-keit der Eltern Familiengerichte unter gewissen Voraus-setzungen im Schnellverfahren ohne Anhörung der Be-teiligten über die elterliche Sorge entscheiden können.Das FamFG soll dahin gehend geändert werden, dassohne Anhörung der Eltern und ohne Anhörung des Ju-gendamtes entschieden werden kann, wenn keineGründe vorgetragen werden oder ersichtlich sind, diedem Kindeswohl entgegenstehen. Nun ist richtig: Justi-tia soll ohne Ansehen der Person entscheiden. Aber von„ohne Anhören“ habe ich nichts gelesen.
Kindeswohlfragen nach Aktenlage zu entscheiden, halteich aus meiner Sicht als Familienrichter für völlig nebender Sache. Wir haben im Familienrecht bereits ein be-schleunigtes Verfahren; das hat sich bewährt. Warumbleiben wir nicht dabei?Es gibt noch die Anträge der anderen Fraktionen. DieMehrheit meiner Fraktion hat sich für Folgendes ausge-sprochen: Soweit sich die Eltern einig sind, sollte sichder Staat in Familien nicht einmischen. Familien alskleinste soziale Gemeinschaft dieses Staates solltenmöglichst wenig von staatlichen Eingriffen tangiert sein.
Wenn der Vater die Vaterschaft anerkennt und zusätzlicherklärt, dass er die gemeinsame Sorge mit der Mutter tra-gen will, dann soll diese gemeinsame Sorge auch be-gründet sein.Ich habe es eingangs gesagt: Sorgeberechtigt wirdman, wenn man die Kindesmutter ehelicht, oder man istper se, wenn man verheiratet ist und ein Kind in dieserEhe geboren wird, sorgeberechtigter Vater, unabhängigdavon, ob man der biologische Vater ist oder nicht; manist sorgeberechtigter Vater lediglich aus der Tatsache desEhelebens heraus. Bezogen auf das Kind ist eine solcheVaterschaftsanerkennung mit der Erklärung „Ich willmich um dieses von mir anerkannte Kind sorgen“ eindeutliches Mehr als der Trauschein mit der Mutter.Den Sorgewillen und die Sorgeerklärung des Vatersdarf man nicht vom Willen der Kindesmutter abhängigmachen. Wenn beide dann letztlich sorgeberechtigt sind,dann ist das Kind rechtlich einem ehelichen Kind gleich-gestellt; beide Elternteile haben Anfechtungsmöglich-keiten nach § 1671 BGB.Aber egal, für welches Modell man sich am Ende ent-scheidet: In jedem Fall sollten eine Mediation und eineBeratung der Eltern vorgeschaltet sein, im Interesse derKinder und im Interesse der Eltern. Eine Gerichtsent-scheidung sollte nur Ultima Ratio sein.Insofern freue ich mich auf die Beratungen im Aus-schuss und auf die Berichterstattergespräche, dankeschon einmal für das Lob und hoffe, dass wir dann imErgebnis wirklich zur besten Lösung für unsere Kinderund auch für die Eltern kommen.Danke für die Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24545
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Das Wort hat die Kollegin Ingrid Hönlinger für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unser Grundgesetz und die Europäische Menschen-
rechtskonvention verbriefen die Grundüberzeugung, dass
Recht diskriminierungsfrei gestaltet werden muss. Das ist
ein hoher, aber in einem Rechtsstaat notwendiger An-
spruch. Diskriminierungsfrei muss auch die Rechtsstel-
lung von Müttern und Vätern gegenüber ihren Kindern
sein. Alle Kinder müssen vom Recht gleichbehandelt
werden, unabhängig davon, ob ihre Eltern verheiratet,
verpartnert oder keines von beidem sind; denn für Kinder
ist es egal, ob ihre Eltern in einer rechtlich formalisierten
Beziehung leben oder nicht. Wichtig ist, dass die Bezie-
hung des Kindes zu seinen Eltern und die Beziehung der
Eltern zu ihrem Kind in Ordnung ist.
Im Dezember 2009 hat der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte in Straßburg entschieden, dass die
bisherige deutsche Regelung zum Sorgerecht unverhei-
ratete Väter unangemessen benachteiligt, und zwar ge-
genüber Müttern und verheirateten Vätern. Dieser
Rechtsauffassung hat sich im Juli 2010 auch das Bun-
desverfassungsgericht angeschlossen.
Auf dieser Grundlage haben wir Grünen im Oktober
2010 unseren Antrag zum Sorgerecht vorgelegt. In den
vergangenen zwei Jahren haben wir hier im Bundestag
wiederholt über eine Neuregelung des Sorgerechts de-
battiert. Alle diese Initiativen kamen zustande, weil die
Oppositionsfraktionen sie beantragt haben. Deshalb
freue ich mich umso mehr, dass Sie sich innerhalb der
Regierung nun endlich auf eine Neuregelung des Sorge-
rechts für nicht miteinander verheiratete Eltern verstän-
digen konnten. Darauf haben nicht nur wir Grünen, da-
rauf haben auch sehr viele unverheiratete Väter sehr
lange gewartet. Dieser Entwurf war längst überfällig,
meine Damen und Herren.
Wenn ich mir Ihren Gesetzentwurf anschaue, stelle
ich mit großer Freude viele Parallelen zu unserem Grü-
nen-Antrag von 2010 fest. Das zeigt zwei Dinge: Ers-
tens. Gutes setzt sich durch. Zweitens. Bei manchen dau-
ert es halt länger.
Wichtig ist uns Grünen, dass beide Elternteile mög-
lichst frühzeitig Verantwortung für ihr gemeinsames
Kind übernehmen. Das schafft eine wechselseitige Ver-
bindlichkeit sowohl im Eltern-Kind- als auch im Eltern-
verhältnis. Wir möchten den Vätern, die nicht mit der
Mutter ihres Kindes verheiratet sind, über ein Antrags-
modell Zugang zum gemeinsamen Sorgerecht ermögli-
chen; denn das Antragserfordernis trägt dazu bei, dass
die Väter, die Interesse an ihrem Kind haben – davon ist
im Regelfall auszugehen –, auch die elterliche Mitver-
antwortung erhalten können.
Allerdings sprechen wir uns im Gegensatz zur Bun-
desregierung dafür aus, dass der Vater den Antrag beim
Jugendamt stellen kann und nicht beim Familiengericht
stellen muss; auch die Mutter soll einem Sorgerechtsan-
trag des Vaters niedrigschwellig widersprechen können.
Meine Damen und Herren, auch hierfür sollten wir prak-
tikable Lösungen suchen. Der Weg zum Jugendamt ist
für die meisten Menschen niedrigschwelliger als der
Weg zum Gericht. Er beinhaltet weniger Konfliktpoten-
zial, ist kostengünstiger und schneller. Erst dann, wenn
die Mutter dem Antrag des Vaters widerspricht und der
Vater weiterhin Mitinhaber der elterlichen Sorge sein
will, soll der Weg zum Gericht beschritten werden kön-
nen. Der Vater muss dann eine Entscheidung des Fami-
liengerichts herbeiführen. Das Familiengericht wiede-
rum überträgt den Eltern die gemeinsame Sorge, wenn
dies dem Kindeswohl nicht widerspricht.
Vor diesem Hintergrund sollten Sie in Ihren Gesetz-
entwurf noch folgende Verbesserungen aufnehmen: Der
Weg über das Gericht sollte so spät wie möglich erfol-
gen. Die Widerspruchsfrist für die Mutter sollte auf acht
Wochen nach der Geburt des Kindes verlängert werden;
diese Frist ist in Ihrem Gesetzentwurf mit sechs Wochen
zu kurz bemessen. Außerdem sollten Regelungen für
den Konfliktfall wie Beratungs- und Mediationsange-
bote implementiert werden. An diesem Gesetzgebungs-
verfahren werden wir Grünen uns konstruktiv beteiligen.
Weitere Schritte müssen aber folgen.
Unser Rechtssystem ist insbesondere im Bereich des
Familienrechts noch lange nicht frei von Diskriminie-
rungen. Hier gibt es noch sehr viel zu tun. Leider zeigt
die jetzige CDU/CSU-FDP-Regierung wenig Elan und
setzt gesellschaftliche Realitäten nur sehr verzögert um.
Nach den Bundestagswahlen im kommenden Jahr wird
auch die Rechts- und Justizpolitik bei einer neuen Regie-
rung mit anderen Prioritäten einen Modernisierungs-
schub erhalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Stephan Thomae hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Kinder haben einRecht auf beide Eltern. Kinder haben einen Anspruchdarauf, dass beide Elternteile für sie sorgen. Die Elternsollen die gemeinsame Verantwortung für das Kindübernehmen. Deswegen muss das Gesetz den Rahmenso ziehen, dass die gemeinsame Verantwortung der El-tern für das Kind der Normalfall ist und immer mehrwird. Deswegen ist unsere Aufgabe, Hindernisse zu be-seitigen; Herr Kollege Lischka hat es so genannt: Brü-cken zu bauen.
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24546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Stephan Thomae
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Der Regierungsentwurf, den wir heute in erster Le-sung beraten, beseitigt zwei entscheidende Hindernisse.Erstens senkt er die Zugangsschwelle für die Väter. Bis-lang müssen nach geltender Rechtslage die Väter darle-gen, dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl ent-spricht. Die Väter sind also darlegungs- und eventuellauch beweispflichtig. Künftig wird es nach dem Regie-rungsentwurf so sein, dass das Familiengericht, wennder Fall zu ihm kommt, die gemeinsame Sorge schondann zuspricht, wenn dies dem Kindeswohl nicht wider-spricht. Das ist also eine Umkehr der Darlegungs- undBeweislast. Deswegen werden Väter künftig leichter zurgemeinsamen Sorge zusammen mit der Mutter für dasgemeinsame Kind kommen können. Das ist das ersteHindernis, das wir abbauen, die erste Brücke, die wirbauen.Das zweite Hindernis ist, dass die Einwendungen ge-gen die gemeinsame Sorge künftig auf das KindeswohlBezug nehmen müssen. Es müssen kindeswohlrelevanteEinwände vorgebracht werden. Es genügt also nicht,sich nur auf Kommunikationsprobleme zwischen den El-tern zu berufen. Das soll nicht mehr ausreichend sein;denn Kinder dürfen erwarten, dass ihre Eltern Kommu-nikationsprobleme, wenn sie denn bestehen, eben aus-räumen.
Insofern formen wir das Gesetz nach dem Kindeswohl.Nun gibt es Kritik an dem Verfahren, wie es hier vonRednern der Opposition auch schon vorgetragen wordenist. Diese Kritik betrifft den neuen § 155 a FamFG. Dazuist zum einen Kritik am vereinfachten Verfahren vorge-tragen worden. Es ist schon gesagt worden: Falls nun dieMutter gar keine Stellungnahme gegen den Antrag desVaters auf die gemeinsame Sorge abgibt oder aber in ih-rer Stellungnahme keine kindeswohlrelevanten Gründevorträgt, dann kann das Gericht zunächst einmal einfachim schriftlichen Verfahren ohne Anhörung der Elternund ohne Anhörung des Jugendamtes zu einer Entschei-dung kommen. Das ist das, was Sie, Herr KollegeWunderlich, kritisiert haben.
Ihre Kritik und auch die Kritik von Ihnen, Herr Kol-lege Lischka, hat zum Ziel, dass das Jugendamt immerbeteiligt sein soll. Aber es ist doch ganz normal, dass dasJugendamt immer nur dann eingeschaltet und beteiligtwird, wenn es irgendwelche Anhaltspunkte dafür gibt,dass das Kindeswohl in Gefahr ist. Nach Ihrer Vorstel-lung ist offenbar – so muss ich das verstehen – das Kin-deswohl immer schon dann in Gefahr, wenn das Jugend-amt nicht beteiligt ist und wenn die Eltern nichtmiteinander verheiratet sind.
In meinen Augen ist es aber keine sehr moderne, keinesehr zeitgemäße Vorstellung, zu sagen: Immer dann,wenn Eltern nicht verheiratet sind, ist das Kindeswohl inGefahr.
Was ist denn das für eine rückständige Vorstellung? Dasist eine Vorstellung, die ich nicht zu teilen vermag.
Im Übrigen gilt: Wenn das Jugendamt oder andereBeteiligte irgendwelche Anhaltspunkte dafür haben, dassdas Kindeswohl in Gefahr ist, steht es ihnen frei, diesdem Gericht bekannt werden zu lassen. Damit sind wirbei dem neuen § 155 a Abs. 4 FamFG, sozusagen bei derNotbremse: Wenn dem Gericht irgendwelche entgegen-stehenden Gründe bekannt werden, dann kann es einenmündlichen Termin anberaumen und dann sind wir imganz normalen mündlichen Verfahren. Die Vorstellung,dass man bei allen nicht ehelichen Kindern immer dieBehörde zur Kontrolle ins Kinderzimmer schicken muss,die halten wir für antimodern.
Der zweite Kritikpunkt, den Sie, Frau KolleginHönlinger, gerade angesprochen haben, bezieht sich aufdie Sechswochenfrist, die Sie verlängert wissen wollen.Üblich sind in gerichtlichen Verfahren Zweiwochenfris-ten und Vierwochenfristen. Wir sagen schon: Diese Fristdarf nicht innerhalb der ersten sechs Wochen nach Ge-burt des Kindes ablaufen. Wir erhöhen also die Schutz-frist für die Mutter, weil wir das für angemessen halten,auch wenn der Antrag schon kurz nach der Geburt zuge-stellt wird.
Die Mutter braucht aber nicht schon im Wochenbett sei-tenlange Schriftsätze zu verfassen, sondern sie muss zu-nächst einmal nur auf den Antrag des Vaters reagieren.
Sie braucht dem Gericht nur in einfachen Worten zu sa-gen, dass die gemeinsame Sorge dem Kind schadet, undschon kommt man in das normale Verfahren hinein.Diese Schwelle ist denkbar niedrig.
Deswegen meine ich, dass die Kritik am Verfahrendramatisiert ist. Uns allen ist das Kindeswohl wichtig.Für uns alle gilt der Grundsatz, dass sich beide Eltern-teile um das Kind sorgen sollen. Wir meinen aber: DerVater muss das Sorgerecht leichter zusammen mit derMutter erhalten können. Die Mütter haben auch nach un-serem Entwurf immer noch genügend Möglichkeiten,ihre Einwände vorzutragen.Dies ist ein gelungener Entwurf. Ich freue mich schonauf die Beratungen in den Ausschüssen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24547
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Jetzt hat Sonja Steffen das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bis vor eini-ger Zeit hat unser Familienrecht zwischen verheiratetenund nicht miteinander verheirateten Eltern beim Sorge-recht einen großen Unterschied gemacht. Sehr wichtigist in diesem Zusammenhang, dass diese Regelung dienicht ehelichen Kinder gegenüber den ehelichen Kinderndiskriminierte; die Kollegin Hönlinger hat das vorhinschon ausgeführt. Das Kind hat grundsätzlich ein Rechtdarauf, dass beide Eltern an der Sorge teilhaben dürfen.Wir haben es eben schon gehört: Mutter und Vater sindgut für das Kind. Das ist richtig so.
Seit den Entscheidungen des Europäischen Gerichts-hofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungs-gerichts ist im Bundestag, bei den Betroffenen, beiVerbänden, Familiengerichten, Rechtsanwälten und Ju-gendämtern viel über das Sorgerecht gesprochen wor-den. Gegenwärtig verfahren die Familiengerichte so– das ist eine Übergangslösung –, dass die gemeinsameSorge für nicht eheliche Väter dann beschlossen wird,wenn dies dem Kindeswohl entspricht.Meine Damen und Herren, wahrscheinlich haben diemeisten von Ihnen Kinder und erinnern sich noch gernean die Zeit nach der Geburt. Gleich nach der Geburt war-tet eine turbulente Zeit auf Mama und Papa. Sie müssensich von der Entbindung erholen – die Mütter sind oftgeschwächt, krank; sie müssen also erst einmal ihre Ge-sundheit wiederherstellen –, gleichzeitig rund um dieUhr für das Neugeborene sorgen und sich in ihre neueFamilienrolle einfinden. In einer guten Beziehung wer-den sich die Eltern schon vorher für eine gemeinsameSorgeerklärung entschieden und diese vielleicht auchschon abgegeben haben. Spätestens jedoch nach der Ge-burt des Kindes werden sie diese Erklärung abgeben.Es gibt aber auch die Fälle, in denen die Eltern nieeine Beziehung hatten oder sich bereits vor der Geburtgetrennt haben. Manchmal ist es so, dass der Vater garkeine gemeinsame Sorgeverantwortung übernehmenwill. Deshalb halten wir die Lösung „automatisch ge-meinsame Sorge bei Anerkennung der Vaterschaft“ fürproblematisch; deshalb lehnen wir sie ab.Im Regierungsentwurf ist dieses automatische Sorge-recht nicht vorgesehen, aber auch er geht nach unsererAuffassung an einer lebensnahen Lösung derzeit völligvorbei.
Denn von den Müttern soll verlangt werden, dass sie in-nerhalb von sechs Wochen nach der Geburt des Kindesdem Antrag des Vaters auf gemeinsame elterliche Sorgewidersprechen, wenn sie diese nicht wollen. Tun sie diesnicht, so soll das Familiengericht ohne weitere Prüfung,ohne Anhörung des Jugendamtes und der Eltern ent-scheiden dürfen.Im Klartext heißt das Folgendes: Die junge Mutter,die noch voll und ganz mit ihrem Säugling beschäftigtist, muss sich innerhalb einer unglaublich kurzen Fristvon sechs Wochen mit der schwierigen Frage des ge-meinsamen Sorgerechts beschäftigen. Diese Frage istwirklich nicht leicht zu beantworten; denn das gemein-same Sorgerecht bindet die Eltern sehr eng und sehrlange, und zwar auch in den Fällen, in denen die Elternauf der Erwachsenenebene überhaupt nicht miteinandersprechen können. Hier sind eine umfangreiche Beratungdurch Jugendämter und eine sorgfältige Abwägung er-forderlich.Die Kindesmütter sind in der Regel nicht juristischgeschult. Sie werden sich daher in den meisten Fällen ei-nen Termin beim Anwalt holen müssen, und zwar nacherfolgter Erkundigung darüber, zu wem man am bestengeht. Dort wird die Mutter eine überzeugende Begrün-dung für die Ablehnung des gemeinsamen Sorgerechtsvorbringen müssen. Diese muss der Anwalt dann mit ih-rer Hilfe zu Papier bringen. Jeder Familienrechtler undinsbesondere jeder Anwalt weiß, wie – im wahrstenSinne des Wortes – sorgeintensiv Sorgerechtsverfahrensind. Hier geht es nämlich nicht nur um Geld oder sons-tige materielle Dinge, sondern es geht auch um Lebens-modelle, Enttäuschungen, Versagensängste und Verlust-ängste.Nicht ohne Grund räumt übrigens das Mutterschutz-gesetz der jungen Mutter eine achtwöchige Arbeitspausenach der Geburt ein, damit sie sich voll und ganz auf ihrBaby konzentrieren kann. Nun wollen Sie, meine Kolle-ginnen und Kollegen, der Frau innerhalb dieser Zeitdiese ganzen Behörden-, Anwalts- und Gerichtsgängezumuten. Möglicherweise hält sie sich auch gar nicht zuHause auf. Sie ist immerhin alleinerziehende Mutter undverbringt vielleicht die ersten Wochen – dies tun übri-gens viele – bei ihrer Familie, damit sie dort Hilfe erhält.Die Frist ist tatsächlich viel zu kurz gedacht. Ich be-haupte einmal: Jede Mutter mit ihren ganz eigenen Er-fahrungen nach einer Geburt würde Ihren Gesetzentwurfin der gegenwärtigen Fassung bei einer Befragung rund-weg ablehnen.
Herr Wunderlich, ich gebe Ihnen da völlig recht.
Es bedarf dieses Schnellverfahrens gar nicht. Denn seitder letzten Familienrechtsreform 2008 besteht in Kind-schaftssachen schon ein beschleunigtes Verfahren inklu-sive der notwendigen mündlichen Verhandlung. DiesesVerfahren hat sich nach der Aussage aller Beteiligten be-währt. In der mündlichen Verhandlung kommen nichtnur die Eltern, sondern auch die Jugendämter und gege-benenfalls der Verfahrensbeistand, der Anwalt des Kin-des, zu Wort. Gerade Jugendamt und Verfahrensbeistandhaben einen besonderen Fokus auf das Kindeswohl.Es ist daher nicht zu verstehen, dass Sie dem Gerichtzukünftig die alleinige Entscheidungsverantwortung
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24548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Sonja Steffen
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übertragen wollen, ohne mündliche Verhandlung, ohneAnhörung der betroffenen Eltern und ohne Anhörungder Jugendämter. Das geht nach unserer Auffassung amInteresse des Kindeswohls völlig vorbei.
Denn Regelungen zum Sorgerecht – darüber sind wiruns, glaube ich, alle einig – sind allein aus der Sicht desKindes und unter Berücksichtigung des Kindeswohls zutreffen.Lassen Sie mich zum Schluss noch einen anderen As-pekt anführen, der mir sehr wichtig erscheint. Nach derschon erwähnten vom BMJ in Auftrag gegebenen Studiekönnen viele Eltern mit dem Begriff des Sorgerechts oft-mals wenig anfangen. Viele meinen, es gehe um dasRecht, über die Belange des Kindes zu entscheiden. Da-rum geht es jedoch nicht. Es geht tatsächlich darum, dassdie gemeinsame elterliche Sorgeverantwortung über-nommen wird, dass man sich also gemeinsam um dasKind kümmern will.Viele nicht miteinander verheiratete Paare haben inder Vergangenheit die gemeinsame Sorge schlichtwegnicht erklärt, weil sie nicht informiert waren und oftmalsgar nicht wussten, dass diese gemeinsame Sorge nichtautomatisch besteht. Da setzt unser Vorschlag an. Dererste Gang junger Eltern nach der Geburt ist der Gangzum Standesamt. Hier sollen sie über die Möglichkeit ei-ner gemeinsamen Sorgeerklärung beraten werden. Siesollen informiert werden, und sie sollen hier schon zu ei-ner Äußerung über die gemeinsame Sorge aufgefordertwerden. Das heißt, sie werden an dieser Stelle informiertund für dieses Thema sensibilisiert. Sie können auchschon auf dem Standesamt die gemeinsame Erklärungüber das Sorgerecht abgeben. Wenn sie sich an dieserStelle nicht über das gemeinsame Sorgerecht entschei-den, dann soll das Jugendamt zwischen den Eltern ver-mitteln. In dem Fall, dass man zu keiner gemeinsamenLösung kommt, kann das Jugendamt einen Antrag aufEntscheidung beim Familiengericht stellen. Das kommtallen Beteiligten zugute, auch den Vätern. Es werdenkeine Hürden aufgebaut, es werden Hürden abgebaut.Der Vater, der sich ebenfalls in einer schwierigen Situa-tion befindet, wird entlastet.Unser Vorschlag ist gut durchdacht, praktikabel undausgewogen. Vor allem – das ist ganz entscheidend – ister in allererster Linie am Kindeswohl orientiert. Ichhoffe daher, dass wir im Verlauf des Gesetzgebungsver-fahrens konstruktiv zusammenarbeiten und dass mög-lichst viele unserer wirklich guten Ideen zum SorgerechtEingang in das Gesetz finden werden.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort die
Kollegin Ute Granold.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin! Kinder brauchen Mutter und Vater; hie-rüber sind wir uns in diesem Haus einig, denke ich.Aber nach den bisherigen Beiträgen und gerade beidem letzten Debattenbeitrag, Frau Kollegin, ist aufgefal-len, dass die Väter ein Stück weit zu kurz kommen. Dashat die Union aufgegriffen. Die Bundesregierung hat zu-sammen mit der Koalition einen Entwurf vorgelegt, dergenau dem entspricht, was an Bedarf da ist.Wir haben gehört: Heute wird jedes dritte Kind nichtehelich geboren. In den letzten 15 Jahren ist dieser An-teil um über 100 Prozent gestiegen, und er wird weitersteigen. 2010 wurden 43 Prozent der Kinder nicht ehe-lich geboren, und die Zahl nicht ehelicher Lebensge-meinschaften nimmt zu. Das ist – das haben wir alle er-kannt – gesellschaftliche Realität.Wir haben bereits in der letzten Wahlperiode daraufreagiert, indem wir die Reform des Unterhaltsrechts aufden Weg gebracht haben. Sie ist sehr gut gelungen undsehr praktikabel. Wir haben nicht eheliche und ehelicheKinder bei der Unterhaltsberechtigung im Rang gleich-gestellt. Wir haben auch die betreuenden Elternteilegleichgestellt und nicht zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern unterschieden. Alle Kinder sindgleich.Jetzt müssen wir das Sorgerecht überarbeiten. DasBundesverfassungsgericht hatte noch 2003 die Rechts-lage, die bislang gegolten hatte, für verfassungskonformerklärt. Das bedeutete, die Mutter eines nicht ehelichenKindes hatte die Alleinsorge. Eine gemeinsame Sorgeerforderte eine Erklärung beim Jugendamt. Verweigertedie Mutter diese Erklärung, hatte der Vater keine Mög-lichkeit, gemeinsam mit ihr das Sorgerecht zu bekom-men.Wie mehrfach erwähnt, hat der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte im Jahr 2009 – gefolgt vomBundesverfassungsgericht 2010 – entschieden, dass dieRechtslage, die ich gerade erläutert habe, nicht verfas-sungskonform sowie unverhältnismäßig ist und überar-beitet werden muss. Vor diesem Hintergrund haben wirnach langen Beratungen einen Entwurf für eine Neure-gelung vorgelegt. Bis zur Änderung der Gesetzeslagehaben Väter nach der Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts die Möglichkeit, direkt das Gericht anzu-rufen und eine Regelung herbeizuführen.Wenn man sich mit der Rechtsprechung in den da-rauffolgenden Jahren befasst, sieht man, dass quer durchdie Republik erst- und zweitinstanzliche Entscheidungengetroffen wurden, die sehr unterschiedlich sind. DieHürden für den Vater, zu einer gemeinsamen Sorge zukommen, sind relativ hoch, weil er die Darlegungs- undBeweislast trägt. Es gibt also eine große Rechtsunsicher-heit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24549
Ute Granold
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Die Entscheidungen der Justiz haben sich in unsererDebatte, in der wir uns um eine gesetzliche Neuregelungbemüht haben, widergespiegelt. Wir haben für die Neu-regelung Zeit gebraucht; das ist nicht von der Hand zuweisen. Das Thema eignet sich aber nicht für Hektik,hier braucht es gründliches Arbeiten. Dem sind wirnachgekommen: Wir haben uns bei unseren Beratungenunzählige Male getroffen und die Argumente der Oppo-sition – teilweise lagen Entwürfe vor –
in unsere Beratungen einbezogen. Beim Abwägen habenwir immer den Maßstab angelegt: Das Kind braucht füreine gedeihliche Entwicklung Mutter und Vater, egal obehelich oder nicht ehelich geboren. Mit diesem Maßstabund mit dem Ziel, den Vätern einen effektiven und nied-rigschwelligen Zugang zur gemeinsamen Sorge zu ge-ben, haben wir uns für die nun vorliegende Regelungentschieden.Schon heute erklären 50 Prozent der nicht miteinan-der verheirateten Eltern beim Jugendamt die gemein-same Sorge, 50 Prozent aber eben nicht, und genau umdiese geht es bei der gesetzlichen Neuregelung. Das For-schungsprojekt, das vom Justizministerium auf den Weggebracht wurde, zeigt, dass in vielen Fällen die gemein-same Sorge aus Gründen verweigert wird, die keinenBezug zum Kindeswohl haben. Aus der Lebenssituationheraus hatten die Mütter Argumente dafür vorgetragen,warum sie keine gemeinsame Sorge wollten. Wir habendiese Fälle zu regeln. Es gibt verschiedene Lösungsmo-delle. Da ist ein breites Spannungsfeld: von gemeinsa-mer elterlicher Sorge ab Geburt kraft Gesetzes bis hinzur Widerspruchslösung. Wir haben uns für die Lösungentschieden, bei der die gemeinsame Sorge durch ge-richtliche Entscheidung erfolgt, wenn der Vater einenAntrag stellt. Der Maßstab ist, wie bereits mehrfach ge-sagt, allein das Kindeswohl.Unser Vorschlag ist ein Kompromissvorschlag, der al-len Interessen, denken wir, gerecht wird. Wir haben eineRegelung im materiellen Recht, im BGB, und auch eineim Verfahrensrecht getroffen; dies wurde bereits mehr-fach angesprochen. Unser Wille ist es, dass der Vaterfrühestmöglich die Chance hat, eine gemeinsame Sorgezu erreichen, und zwar durch die Sorgerechtserklärungoder aber durch den Weg zum Gericht. Dabei ist eine so-genannte negative Kindeswohlprüfung vorzunehmen.Das heißt, Grundsatz ist: Die gemeinsame elterlicheSorge entspricht dem Wohl des Kindes. Wenn dem nichtso ist, dann muss ein Vortrag dazu erfolgen.Gerade in der frühkindlichen Phase, in der viele Ent-scheidungen getroffen werden, benötigt das Kind auchden Vater für eine gedeihliche Entwicklung. Deshalbsind Modelle, die lange Fristen vorsehen, um dem Vaterdie Möglichkeit der gemeinsamen Sorge zu geben, füruns nicht akzeptabel.
Man denke nur daran, dass eine Operation vorzuneh-men ist, die zwar keine Eilsache ist, die aber vorgenom-men werden muss, oder dass eine Regelung über die Re-ligion getroffen werden sollte. Das sind schwerwiegendeEntscheidungen für das Kind, die, wenn es keinen Grundgibt, den Vater auszuschließen, von beiden Elternteilengetroffen werden sollten.Wir sollten bei der Diskussion auch daran denken,dass es möglich ist, Teilbereiche der elterlichen Sorge zuübertragen, wie die Gesundheitssorge, das Aufenthalts-bestimmungsrecht, die Vermögenssorge und auch dieReligion. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, für jedeneinzelnen Fall eine Entscheidung zu treffen, die aus-schließlich am Kindeswohl orientiert ist.Es bleibt mit der Neuregelung dabei – das wurde be-reits mehrfach gesagt; deshalb möchte ich es abkürzen –,dass mit der Geburt des Kindes zunächst die alleinigeSorge bei der Mutter liegt. Der Vater hat aber die Mög-lichkeit, entweder beim Jugendamt einen Sorgerechtsan-trag zu stellen oder aber direkt bei Gericht eine gerichtli-che Regelung herbeizuführen.Hier müssen wir – ich habe es schon einmal gesagt –den Weg für den Vater niedrigschwellig machen. Er hatlediglich die Gründe anzugeben, weshalb er eine ge-meinsame Sorge begehrt, wobei wir, was das Verfahrenangeht, der Meinung sind, dass ein Schweigen der Mut-ter im gerichtlichen Verfahren – wir haben das lange dis-kutiert – nicht automatisch als gemeinsame Sorge wir-ken sollte; vielmehr sagen wir, das Schweigen derMutter reicht nicht aus, weil sie nach der Geburt in einerbesonderen Situation ist. Es muss dann eine gerichtlicheEntscheidung herbeigeführt werden, und das in einemsogenannten vereinfachten beschleunigten Verfahren.Wir haben ja vor einiger Zeit hier in diesem Hausedas Familienverfahrensgesetz beschlossen, ein sehr gu-tes Verfahrensgesetz. Darin gibt es das Gebot des Vor-rangs der Beschleunigung in Kindschaftssachen. Dasheißt, wenn ein Antrag bei Gericht eingeht, muss binnenMonatsfrist terminiert werden – terminiert, aber nichtentschieden. Diese Verfahren können sich auch hinzie-hen, wenn Sachverständige angehört werden usw. usf.Im Hinblick darauf, dass das Kind auch ein Recht aufseinen Vater hat, ist es schon angemessen, zu sagen, dassin den Fällen, in denen die Mutter schweigt und keineGründe vorgetragen wurden oder dem Gericht bekanntsind, die gegen eine gemeinsame Sorge sprechen, aufAntrag des Vaters die gemeinsame Sorge dann im ver-einfachten Verfahren auf beide Elternteile übertragenwird.Wenn auch nur ein Anhaltspunkt dafür besteht, dassdas Kindeswohl in Gefahr sein könnte, wird das Gericht– ich denke, so viel Vertrauen haben wir in unsere Jus-tiz – natürlich nicht das vereinfachte Verfahren auf denWeg bringen, sondern das ganz normale Verfahren nach§ 155 FamFG einleiten. Das ist auch angemessen. Inso-fern denken wir, dass man mit dieser Verfahrensregelungwirklich beiden Elternteilen gerecht wird.
Insofern bin ich auch etwas unglücklich und ent-täuscht über diese Onlinekampagne, die teilweise jaauch gesteuert ist – man muss sich nur ansehen, wer un-terschrieben hat – und in der es heißt:
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24550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Ute Granold
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Es kann doch nicht sein, dass über das Kindeswohl,um das es zuallererst geht, gerade in Streitfällenausschließlich nach Aktenlage entschieden wird.Das ist überhaupt nicht der Fall. In Streitfällen wirddas ganz normale Verfahren nach § 155 FamFG auf denWeg gebracht. Nur da, wo kein Streit herrscht, wo ein-fach keine Äußerung der Mutter vorliegt und auch keineGründe ersichtlich sind, die der gemeinsamen elterlichenSorge entgegenstehen, wird das vereinfachte Verfahrenauf den Weg gebracht. Ich denke, da sollten wir einStück weit auch bei den Tatsachen bleiben.
Ich empfehle jedem, einfach noch einmal einen Blickin unseren Gesetzentwurf, insbesondere in die Begrün-dung zu werfen, in der es genau heißt, dass dann, wenndem Gründe entgegenstehen, das normale Verfahren aufden Weg gebracht wird. Nur dann, wenn das nicht derFall ist, bedarf es keiner gerichtlichen Entscheidung mitallen Verfahrensbeteiligten; dann kann nach Aktenlage,nach den Erkenntnissen des Gerichts entschieden wer-den.Wir werden in der Anhörung, die ansteht, sicherlichnoch einmal darüber sprechen, ob vielleicht das Jugend-amt doch eingebunden werden sollte oder nicht. Daskann man ja besprechen und mit den Sachverständigendiskutieren. Aber es sollte ein niedrigschwelliges zügi-ges Verfahren sein, das dazu führt, dass der Vater dieMitsorge hat.Lassen mich noch in einigen wenigen Sätzen auf dieVorschläge der Opposition eingehen. Hier ist zu honorie-ren, dass wir uns – alle Fraktionen in diesem Haus –wirklich miteinander um Regelungen zum Wohl desKindes bemüht haben. Das war in Teilen der SPD-Frak-tion zum Beispiel auch nicht immer so ganz einfach, wieman gehört hat, da die Interessen der Familienpolitikerund der Rechtspolitiker ein Stück weit nicht konformsind.
Wir haben das auch bei uns in der Koalition sehr aus-führlich besprochen.Bei dem Vorschlag der SPD stört uns die Tatsache,dass Sie ein sehr langes Verfahren vorschlagen: Regis-trierung beim Standesamt, Aufklärung beim Standesbe-amten, Abwarten der Äußerungen des Jugendamtes undStellen eines Antrags durch das Jugendamt auf gerichtli-che Entscheidung über die elterliche Sorge.
Das halten wir für einen sehr langwierigen bürokrati-schen Weg.Ich muss sagen: Wenn zunächst einmal eine Entschei-dung des Jugendamtes ansteht, dann hat das Jugendamtwirklich sehr viel Macht in Bezug auf die Entscheidungüber die gemeinsame elterliche Sorge. Für den Vater, dereinen Antrag bei Gericht stellen will, weil er mit der Ent-scheidung des Jugendamtes nicht einverstanden ist, istdas eine sehr hohe Hürde, weil die Entscheidung des Ju-gendamtes doch schon ein Stück weit präjudiziert. DieseHürde sehen wir auch vor der Maßgabe, was uns dasBundesverfassungsgericht hinsichtlich einer gesetzli-chen Neuregelung mit auf den Weg gegeben hat. DieserWeg ist für uns also nicht praktikabel.
Lassen Sie mich auch noch einige Sätze zu dem sa-gen, was Sie, Frau Kollegin Hönlinger, als das Modellder Grünen hier vorgestellt haben.Die Mutter soll nach unserem Vorschlag bis sechsWochen nach der Geburt eine Entscheidung darüber tref-fen, ob sie die gemeinsame Sorge befürwortet oder nicht.Sie sagen: Sechs Wochen sind zu kurz. Sicherlich ist eseine besondere Situation, wenn ein Kind auf die Weltkommt – ich habe auch zwei Kinder –, aber wenn mansich die sonstigen Gerichtsfristen von zwei und vier Wo-chen ansieht, dann erkennt man, dass die Frist von sechsWochen aus Rücksicht darauf gewählt wurde, dass dieMutter gerade ein Kind geboren hat.Ich möchte aber auch noch zu bedenken geben, dassdas Kind nicht vom Himmel fällt. Es gibt ja noch dieSchwangerschaft, eine Zeit, in der man weiß, dass einKind auf die Welt kommt. Ich denke, in dieser Zeitmacht man sich schon Gedanken darüber, wie es mit derBeziehung und dem Sorgerecht für die Kinder aussieht.Insofern meine ich schon: Nach Abwägung der Interes-sen und nach Abwägung zwischen dem Schutz der Mut-ter und dem Recht des Vaters auf Mitsorge, sind diesechs Wochen angemessen.
Ihr Entwurf enthält eine Karenzzeit von sechs Wo-chen vor und acht Wochen nach der Geburt. Diese Fristsoll dann noch einmal um acht Wochen verlängert wer-den. In dieser Zeit ist der Vater ausgeschlossen. Das hal-ten wir für nicht praktikabel – immer unter dem Ge-sichtspunkt, dass wir beide Elternteile frühestmöglich indie elterliche Sorge möglichst ohne Spannungen einbin-den wollen. Alles, was außerhalb des Gerichts praktiziertwird, findet natürlich unsere Zustimmung. Wenn dasaber nicht geht, dann muss es möglich sein, in einem Ge-richtsverfahren zügig und sorgfältig zu einer Entschei-dung zu kommen, damit auch der Vater die Möglichkeithat, an der gemeinsamen elterlichen Sorge teilzuhaben.Ich denke, dass wir den Gesetzentwurf, der heute inerster Lesung in diesem Haus beraten wird, in der Anhö-rung, die ja schon für Ende November terminiert ist,noch einmal ein Stück weit intensiver beraten könnenund dann hoffentlich zu einer Lösung kommen, die, wiedas auch bei anderen Verfahren in Familiensachen derFall ist, vom ganzen Hause getragen werden kann.Herzlichen Dank.
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Ich erteile Barbara Höll für die Fraktion Die Linke
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Granold, wenn wir hier über das Sorgerecht debat-tieren, dann geht es nicht an, dass Sie die vielen Millio-nen Alleinerziehenden in der Bundesrepublik de factodiskriminieren:
Ein Kind braucht für eine gedeihliche Entwicklung Mut-ter und Vater.Es ist gut, wenn Mutter und Vater Verantwortungübernehmen, aber Millionen Kinder wachsen derzeit beidem alleinerziehenden Vater oder der alleinerziehendenMutter auf bzw. sind dort gut und gedeihlich aufgewach-sen. Diese haben sicher oftmals mit Schwierigkeiten zukämpfen, aber sie haben auch ihre jeweiligen sozialenNetze gebildet. Das war eine gedeihliche Entwicklung.Das darf man hier also nicht einfach diskriminieren. Esist nicht defizitär.
Ich glaube, wir sind uns einig, dass es nicht angehenkann, dass die Übernahme des Sorgerechts durch denVater am Veto der Mutter scheitert. Hier herrscht einewirkliche Einigkeit im Hause.Unterschiede gibt es hinsichtlich der Frage, wie trotzder Konfliktsituation, dass Mutter und Vater sich nichteinigen, tatsächlich eine gemeinsame Verantwortungs-übernahme organisiert werden kann. Klar ist: Es ist eineSchwierigkeit – vielleicht die Hauptschwierigkeit – füralleinerziehende Väter und Mütter, dass sie bei aller Be-ratung, die man sich suchen kann, letztendliche Ent-scheidungen stets allein treffen müssen.Trotzdem finde ich es richtig, dass der jetzt vorlie-gende Gesetzentwurf vorsieht, dass das Sorgerecht nachder Geburt grundsätzlich erst einmal der Mutter zuzu-ordnen ist, wenn die Aufteilung unklar ist, wenn alsokeine Einigkeit zwischen den Eltern erzielt wird; denndie Mutter ist ab Geburt nun einmal eine zuverlässigeund sichere Bezugs- und Entscheidungsperson. Dasbraucht das Kind.Der vorliegende Entwurf enthält aus meiner Sicht dieebenfalls richtige Regelung, dass der Vater aktiv werdenmuss, wenn er die elterliche Verantwortung für das Kindübernehmen will; denn schließlich setzt die gemeinsameSorge bei beiden Elternteilen die tatsächliche Bereit-schaft voraus, nicht nur Rechte herleiten zu wollen, son-dern auch Pflichten gegenüber dem Kind zu überneh-men, also Verantwortung zu tragen.Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Ent-scheidung im Juni 2010 festgelegt, dass zum Inkrafttre-ten einer gesetzlichen Neuregelung das geltende Rechtmit Maßgaben so umzuändern ist, dass das Familienge-richt den Eltern auf Antrag eines Elternteils die elterlicheSorge oder einen Teil der elterlichen Sorge gemeinsamüberträgt, soweit zu erwarten ist, dass das dem Kindes-wohl entspricht.Hier sind Sie eindeutig von dem Urteil des Bundes-verfassungsgerichtes abgewichen. Sie als Gesetzgeberschlagen jetzt vor, dass eine negative Kindeswohlprü-fung ausreichend ist, das heißt also: wenn es dem Kin-deswohl nicht widerspricht. Das, finde ich, ist ein großerUnterschied. Es ist mir bisher auch in den Beiträgennicht klar geworden, warum Sie das als Vereinfachungempfinden. Kinder sind das höchste Gut, das wir haben.Wir müssen alles dafür tun, um Bedingungen für einegute Entwicklung des Kindes zu schaffen, dass die Si-tuation also dem Kindeswohl entspricht. Eine Negativ-definition ist einfach zu wenig.Das schriftliche Schnellverfahren, welches Sie jetzteinführen wollen, hat bereits zu sehr viel Bewegung ge-führt. Ich möchte darauf hinweisen, dass nicht einfachnur einige Abgeordnete der Meinung sind, dass eine Ent-scheidung des Gerichtes ohne Beratung, einfach auf-grund der Aktenlage, nicht im Interesse der Kinder ist.Ich möchte auf die Massenpetition verweisen, die vomAktionsbündnis der Katholischen Frauengemeinschaft,des Sozialdienstes katholischer Frauen, der Arbeitsge-meinschaft für allein erziehende Mütter und Väter imDiakonischen Werk der EKD, des Deutschen Juristin-nenbundes, der Evangelischen Aktionsgemeinschaft fürFamilienfragen, des Familienbundes der Katholiken ge-meinsam getragen wird. Breit über gesellschaftlicheSchichten hinweg gibt es äußerst große Bedenken gegendieses Schnellverfahren, weil wir über Situationen re-den, in denen Menschen erst einmal nicht miteinanderklarkommen.Bedenken Sie bitte Folgendes: Schwangerschaft undEntbindung sind natürliche Vorgänge. Die Mutter istnach der Entbindung nicht krank. Aber sie hat damit zutun, ihr Leben neu zu organisieren. In sechs Wochen jus-tiziabel nachzuweisen, warum die gemeinsame Sorgedem Kindeswohl widerspricht, ist einfach für viele eineÜberforderung. Ich weiß nicht, ob wir hier im Haus allein der Lage sind, sofort einen justiziablen Schriftsatzaufzusetzen. Ich denke, da wären wir überfordert.Was ist denn das Kindeswohl? Ich finde, das ist wirk-lich problematisch: Wir reden hier über das Sorgerecht.Die daraus erwachsenden Pflichten sind aber im Weite-ren nicht definiert.
Es gibt das Recht auf Unterhalt, der gezahlt werdenmuss. Gut. Aber es ist nirgends einklagbar, dass zumBeispiel ein Vater den Umgang wahrnimmt, dass er tat-sächlich zu einer verlässlichen Bezugsperson für seinKind wird. Das kann auch eine alleinerziehende Mutterderzeit nicht einklagen.
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24552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Dr. Barbara Höll
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Deshalb ist es richtig, hier die Vorschläge aufzuneh-men, nach denen es in solchen Konfliktsituationen abso-lut notwendig ist, dass erst einmal eine Aufklärung er-folgt: Was ist einerseits mit der Übernahme desSorgerechts verbunden? Wie kann man das andererseitsgestalten? Das ist hier noch nicht erwähnt worden. Washeißt das denn ganz praktisch? Sie wollen für das Kind einSparbuch anlegen. Dafür brauchen Sie die Unterschriftdes zweiten Sorgeberechtigten. Die 17-jährige Tochterwill den Führerschein vor Vollendung des 18. Lebensjah-res machen. Dafür brauchen Sie die Unterschrift des an-deren Sorgeberechtigten. Das Kind soll auf Klassenfahrtgehen. Dafür brauchen Sie die zweite Unterschrift.
Bei Situationen des täglichen Lebens muss man sichdoch einig sein und wissen: Ich übernehme diese Sorge.Das heißt aber auch: Ich muss im Zweifelsfall zur Verfü-gung stehen, um zum Beispiel eine Unterschrift zu leis-ten. Der andere verhält sich noch nicht einmal unbedingtböswillig, aber er muss einfach da sein.Ein gemeinsames Sorgerecht soll im besten Fall sosein, dass man auch dann, wenn man als Elternteile viel-leicht nichts mehr miteinander zu tun hat, gemeinsamberät und gemeinsam entscheidet: Was ist für die Ent-wicklung des Kindes richtig? Diese Entscheidung sollteman in dem Bewusstsein treffen, dass es durchaus Pro-bleme geben kann, zum Beispiel bei der Schulwahl.Auch wenn es in meiner Fraktion, was die Ansätze be-trifft, unterschiedliche Auffassungen gibt, ob es eine au-tomatische Übertragung des Sorgerechts bei Vater-schaftsanerkennung geben sollte oder nicht –
Frau Kollegin.
– mein letzter Satz –, sind für uns tatsächlich Bera-
tung, Mediation, die unbedingt notwendige Einschaltung
des Jugendamtes und die Anhörung der Eltern entschei-
dend.
Danke.
Die Kollegin Katja Dörner hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Ich möchte vorab sagen, dass ich einigeBeiträge in der Debatte heute Morgen schon als einiger-maßen verwunderlich und verwirrend empfunden habe.
Wie passt beispielsweise der Beitrag von Frau Dr. Höllzu dem uns vorliegenden Antrag der Linken,
in dem ein automatisches gemeinsames Sorgerecht dernicht miteinander verheirateten Eltern gefordert wird?Wie kann man denn gleichzeitig kritisieren, dass, so wiees der Gesetzentwurf der Bundesregierung vorsieht, amEnde eines Verfahrens per Aktenlage entschieden wird– wohlgemerkt am Ende eines Verfahrens –, wenn manselber ein solches Verfahren per se für überflüssig undunsinnig hält? Wie diese etwas wirren Positionen zusam-menpassen, sollten Sie noch einmal erklären.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich finde grund-sätzlich, dass dieses Thema und der Gesetzentwurf derBundesregierung, der uns heute vorliegt, kein Anlasssind, in den typischen Opposition-versus-Regierung-Modus zu verfallen. Wir haben es schon gehört: Wirbrauchen keine Regelung für nicht miteinander verheira-tete Paare, die sich gut verstehen oder sich zumindest sogut verstehen, dass sie bereit sind, von sich aus die ge-meinsame Sorge zu beantragen; es ist ja auf unkompli-zierte Weise möglich, eine gemeinsame Sorgeerklärungabzugeben. Wir brauchen eine Regelung für die Fälle, indenen die Mütter kein gemeinsames Sorgerecht wollen;hierfür kann es bekanntlich vielfältige Gründe geben.Das bedeutet, dass wir in erster Linie eine Regelung fürnicht miteinander verheiratete Eltern brauchen, bei de-nen durchaus gravierende Konflikte vorliegen können.Ich bin der Meinung, dass in einem Entwurf eines Ge-setzes zum gemeinsamen Sorgerecht nicht miteinanderverheirateter Eltern widerstreitende und gegenläufigeInteressen gut unter einen Hut gebracht werden müssen.Das ist mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierungdurchaus gut gelungen. Meine Kollegin IngridHönlinger hat bereits einige Anmerkungen dazu ge-macht, wie man den Regierungsentwurf weiterqualifi-zieren könnte. Ich hoffe, dass wir darüber ins Gesprächkommen. Ich finde allerdings, dass er eine gute Grund-lage für die Diskussion darstellt.
– Da darf auch vonseiten der Regierungsfraktionen ge-klatscht werden.
Das Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Elternbietet sich nicht als Zankapfel zwischen den Fraktionenan – das ist heute Morgen schon sehr deutlich geworden –,weil die Diskussionen in den verschiedenen Fraktionenund Parteien sehr ähnlich verlaufen. Überall gibt es Kol-leginnen und Kollegen, denen die Regelung, die vorge-schlagen worden ist, nicht weit genug geht,
die in Richtung eines automatischen gemeinsamen Sor-gerechts mit der Vaterschaftsanerkennung denken. Hier-für spricht das Recht des Kindes auf beide Elternteile,hierfür sprechen die guten Erfahrungen, die wir mit dem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24553
Katja Dörner
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gemeinsamen Sorgerecht geschiedener Eltern gemachthaben, und hierfür spricht auch die grundsätzliche Erwä-gung, dass es keinen Grund geben sollte, Ehepaare undnicht miteinander verheiratete Eltern per se unterschied-lich zu behandeln.Andere stellen die häufig schwierige Situation derMutter bzw. der werdenden Mutter in den Vordergrund.Sie weisen hin auf ausbleibende Unterhaltszahlungenund auf Väter, die ihr Sorgerecht nur nutzen, um denMüttern den Alltag mit ihren Kindern schwer zu ma-chen.Ich finde, beide Argumentationen haben etwas fürsich und sind nachvollziehbar. Deshalb ist das im Ge-setzentwurf vorgesehene niedrigschwellige Antragsver-fahren, insbesondere verbunden mit dem Prüfmaßstabder negativen Kindeswohlprüfung, der deutlich macht,dass der Gesetzgeber vom gemeinsamen Sorgerecht alsRegelfall ausgeht, wie ich finde, ein vernünftiger Vor-schlag. Wie gesagt, wir werden den Gesetzentwurf imparlamentarischen Verfahren durchaus wohlwollend be-gleiten.
Ich will mit einem Augenzwinkern sagen: Wir wollenhier zwar keine Plagiatsaffäre anzetteln. Da die Regie-rung aber 95 Prozent der Eckpunkte, die wir schon vorzwei Jahren vorgelegt haben, aufgegriffen hat, wäre einkleiner Hinweis auf das Copyright in den Reden der Kol-leginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen andieser Stelle durchaus fair und angebracht gewesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte kurz dieGelegenheit nutzen, über den Tellerrand zu gucken.Denn mit der Neuregelung des Sorgerechts sollten wirnoch lange nicht am Ende der Fahnenstange sein, wasdie Modernisierung unseres Familienrechts angeht. Eswäre beispielsweise wichtig, die Regelung der Stief-kindadoption bei lesbischen Paaren zu überwinden.
Sie kann nur ein Behelfskonstrukt sein. Denn sie istnicht im Sinne der Kinder, weil das Adoptionsverfahrenrund zwei Jahre dauern kann und die Kinder in dieserZeit nur eine unterhaltspflichtige sorgeberechtigte Mut-ter haben. Wir sind der Meinung, dass die Stiefkindadop-tion durch eine Regelung analog der gesetzlichen Fiktionersetzt werden sollte.Gestern habe ich der Presse entnommen, dass das Jus-tizministerium der Niederlande prüft, drei oder mehrMütter oder Väter als Eltern desselben Kindes anzuer-kennen. Damit sollen die Rechte von Familien mit ho-mosexuellen Eltern gestärkt werden. Solche Nachrichtenwürde ich mir auch aus unserem Justizministerium wün-schen.
Mehrelternkonstellationen, ob Regenbogenfamilienoder Patchworkfamilien, nehmen bekanntlich zu. Siesind gesellschaftliche Realität. Damit alle Kinder in un-serem Land unabhängig von der Familienform, in der sieaufwachsen, den gleichen Schutz und die gleiche Förde-rung und Unterstützung erfahren, bleibt noch viel zu tun.Wir haben Ideen dazu. Bei den Regierungsfraktionensieht es in diesem Bereich eher mau aus.
Auch wenn wir den heutigen Gesetzentwurf durchauspositiv begleiten, erkennt man doch deutlich, wer wiedie Koalition der gesellschaftlichen Entwicklung hinter-hertapert und vom Verfassungsgericht zum Jagen getra-gen werden muss, und wer wie wir gesellschaftspolitischnach vorne denkt.Vielen Dank.
Norbert Geis hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich schließe mich dem Lob der Frau Dörner an.Es ist in der Tat ein gelungener Gesetzentwurf. Das heißtnicht, dass wir nicht – auch nach der Anhörung – in denparlamentarischen Beratungen da und dort andere Ge-wichte setzen sollten. Es sind viele Aspekte genanntworden, die Anlass dazu geben, über den einen oder an-deren Punkt im parlamentarischen Verfahren nachzuden-ken.Mit dem Gesetzentwurf bleibt es dabei, dass eine derwichtigsten Aufgaben der Eltern die Sorge für das Kindist. Diese zuwendende Sorge ist Voraussetzung für einegute Entwicklung des heranwachsenden Kindes.Es bleibt auch dabei, dass das rechtliche Fundamentder Ehe zunächst einmal die Voraussetzung dafür ist,dass von vornherein ab Geburt beiden Elternteilen die el-terliche Sorge zugesprochen wird. Ich halte das fürwichtig, weil ich meine, dass eine solche Voraussetzung– entschiedene, auch von beiden Seiten rechtlich ent-schiedene Grundlagen – für eine so wichtige Stelle, diedas Sorgerecht innerhalb unserer Rechtsordnung habenmuss, notwendig ist. Ich halte es für wichtig, dass dierechtliche Grundlage Ehe erhalten bleibt.Natürlich weiß jeder von uns, dass sich die Realitätgeändert hat. Es gibt viele alleinerziehende Eltern, meistMütter, und damit viele Kinder, deren Eltern eben nichtzusammenleben und diese rechtliche Grundlage fehlt.
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24554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Norbert Geis
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Hier muss eine Möglichkeit geschaffen werden, dassauch der Vater zu seinem Sorgerecht kommt.Zunächst war es so – das haben wir 1997 im Kind-schaftsrechtsreformgesetz so entschieden –, dass in ei-nem solchen Fall, wenn ein Kind geboren wird und dieMutter nur eine kurzfristige Bekanntschaft mit dem Va-ter hatte oder die Mutter mit dem Vater zwar zusammen-lebt, sich aber nicht zu einer rechtlichen Bindung inForm der Ehe entschließen kann, die Mutter das allei-nige Sorgerecht hat. Das haben wir noch 1997 so ent-schieden.Der Grundgedanke dabei war – ich kann mich nochgut an die Debatten erinnern –, dass der Vater nicht dasRecht haben soll, sich, wenn die Mutter das nicht will, indas Leben der Mutter und damit auch in das Leben desKindes, das bei der Mutter wohnt, einzumischen. Dieshaben aber das Verfassungsgericht und auch der Euro-päische Gerichtshof für Menschenrechte nicht für richtiggehalten. Deswegen ist eine Neuregelung notwendig,und dieser Neuregelung stellt sich der Gesetzentwurf.Zunächst einmal bleibt es dabei, dass es möglich seinkann, dass beide Elternteile gemeinsam das Sorgerechtbeanspruchen. Sie gehen dann zum Jugendamt und sa-gen: Auch wenn wir getrennt leben, wollen wir trotzdemgemeinsam das Sorgerecht ausüben. – Diese Möglich-keit wird mit diesem Gesetzentwurf eröffnet. Ich finde,das ist richtig so; denn diese gemeinsame Erklärungschafft die beste Grundlage für eine vernünftige Rege-lung des Sorgerechts im praktischen Leben. Das wollenwir nach wie vor unterstreichen.Es gibt aber natürlich auch den Fall, dass sich dieMutter dagegen wehrt. Die Frau will nichts mit demMann zu tun haben. Sie wehrt sich ganz entschieden da-gegen, dass dem Vater auch das Sorgerecht zugespro-chen wird. Diesen Fall haben wir auch, und diesen Fallmüssen wir regeln.Für einen solchen Fall sieht der Entwurf vor, dass derVater dann einen Antrag stellen muss. Wenn sich dieMutter dagegen wehrt, muss dieser Antrag gerichtlichentschieden werden. Deshalb muss man sich überlegen,welches der Maßstab dieser gerichtlichen Entscheidungist. Das geht aus dem Gesetzentwurf auch hervor: DerMaßstab ist immer das Wohl des Kindes.Dabei bleibt aber zu überlegen, ob der Maßstab desWohls des Kindes nur das negativ festgestellte Kindes-wohl sein kann, wie es hier heißt. Wenn die Mutter wi-derspricht, wird dem Vater dennoch das Sorgerecht zu-gesprochen, wenn es dem Kindeswohl nichtwiderspricht. Das ist die negative Feststellung des Kin-deswohls.Man muss sich überlegen – das sollte man auch imLaufe des Verfahrens und nach der Anhörung tun –, obnicht auch die positive Feststellung des Kindeswohls an-gezeigt ist. Jedenfalls ist dies ein Gedanke, der mit über-legt werden muss. Es ist ja immer so, dass, wenn sich dieMutter emotional ganz entschieden gegen den Sorge-rechtsanspruch des Vaters, den dieser kraft des Grundge-setzes hat, wehrt, unmittelbar auch immer das Wohl desKindes mit betroffen ist. Man muss sich diese Spannungeinmal vorstellen.Her
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dem Vater wird das Sorgerecht zugesprochen, aberdas muss dem Kindeswohl förderlich sein. – Das ist alsodie positive Feststellung.Ich meine, dass dies ein Gedanke ist, der berücksich-tigt werden sollte, wenn man wirklich das Kindeswohlzum Maßstab nimmt. Ich weiß, dass das Widerspruchauslöst, weil zunächst einmal der Gedanke war, dem Va-ter genauso wie dem verheirateten Vater von vornhereindas Sorgerecht zuzusprechen. Das widerspricht natürlichdieser Überlegung. Meiner Auffassung nach muss aberzumindest einmal darüber nachgedacht werden, ob nichtdie positive Feststellung des Kindeswohls in einem sol-chen Fall – dabei geht es um Gerichtsverfahren, dabeiwerden Gutachten eingeholt, dabei wird dieses und jenesgemacht, und es kommt zu einem riesigen Verfahren –angezeigt ist, um zu einer anderen Lösung zu kommen.Wir werden darüber nachdenken, Herr Staatssekretär, so-bald die Anhörung stattgefunden hat.Eine weitere Frage bezieht sich auf das Schnellver-fahren. Ich will das einmal so abqualifizierend sagen,obwohl das wirklich abqualifizierend ist. Frau Granoldhat mit Recht gesagt, dass das Kind nicht vom Himmelherunterfällt, sondern dem ist eine neunmonatigeSchwangerschaft vorausgegangen. Im Übrigen weiß dieMutter, wer der Vater ist, und der Vater weiß in der Re-gel auch, dass er der Vater ist. Wenn man sich vorhernicht zusammensetzen und überlegen kann, wie das Sor-gerecht geregelt werden soll, wenn dann die Mutter nachder Geburt nicht auf die Zustellung des Antrags durchdas Gericht antwortet, kann man natürlich sehr schnelldazu kommen, zu sagen: Wenn die Mutter nicht antwor-tet, dann muss eben nach Aktenlage – ich nenne dasWort einmal, Herr Lischka – entschieden werden.Ich glaube aber, dass ihre Argumentation durchausGewicht hat. Ich glaube, dass es notwendig ist, in einemsolchen Verfahren das Jugendamt zumindest anzuhören.Es wäre auch besser, wenn in einem solchen Verfahrendie Mutter aufgefordert wird, vor Gericht zu erscheinen,
und wenn der Vater aufgefordert wird, vor Gericht zu er-scheinen. Nach meiner bescheidenen Meinung ist das so;denn ich komme aus der Praxis – ich habe immer nochdie Praxis als Rechtsanwalt – und habe solche Verfahrenbereits durchgeführt. Es ist besser, wenn die Parteien vorGericht eine Klärung herbeiführen bzw. das Gericht einesolche Klärung herbeiführt. Ich meine, man sollte über-legen, ob die Sechswochenfrist ausreicht.
– Ich bekomme von der falschen Seite Beifall. – Mankann vielleicht eine längere Frist ansetzen. Irgendwannmuss natürlich entschieden werden. Es geht nicht, dasssich die Mutter überhaupt nicht meldet. Wir sollten unsin der Anhörung ganz in Ruhe anhören, was die Sach-
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Norbert Geis
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verständigen dazu sagen, ob sechs Wochen reichen oderob es zwölf Wochen sein sollen, wie es vom BayerischenStaatsministerium der Justiz – das will ich nicht ver-schweigen; es ist ein gutes Staatsministerium – vorge-schlagen wird. Dann werden wir entscheiden.Diese Debatte zeigt, dass dies ein Kapitel in unsererRechtspolitik ist, das am besten gemeinsam zu regeln ist.Ich habe heute auch kein polemisches Wort gehört, mitAusnahme vielleicht des letzten Redebeitrages.
– Entschuldigung, es war nicht so schlimm. Ich nehmees gleich wieder zurück.Ich glaube, dass wir nach der Anhörung im Rechts-ausschuss, der in der Lage ist, Themen ruhig aufzugrei-fen und Argumente sachlich abzuwägen, im parlamenta-rischen Verfahren zu einer gemeinsamen Regelungkommen. Ich wünsche mir das sehr.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Sönke Rix hat das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Situation unverheirateter Eltern ist – denn
wir haben das Gesetz noch lange nicht beschlossen –
nicht zumutbar. Die Situation unverheirateter Eltern ist,
wenn es um die Frage des Sorgerechts geht – wir alle
kennen Briefe von Betroffenen und Schilderungen aus
unseren Wahlkreisen –, unbefriedigend. Diese Situation
war schon vor den Gerichtsurteilen so. Seit den Ge-
richtsurteilen hat sich die Situation nicht stark verändert.
Daher ist es sehr bedauerlich, dass erst jetzt ein Gesetz-
entwurf vorliegt.
Wir haben den Konflikten leider zu lange Raum gege-
ben.
Die Gemeinsamkeiten, die wir an dieser Stelle festge-
stellt haben, sind darin begründet, dass uns die Gerichte
einen eindeutigen Auftrag gegeben haben, in welche
Richtung wir das Sorgerecht ändern sollen. Wir sollen
gesetzlich festlegen, dass der Vater nach der Geburt des
Kindes von Anfang an die gleichen Rechte bekommt wie
die Mutter. Nun ist es so, dass immer dann ein Konflikt
entsteht, wenn entschieden werden muss. An welcher
Stelle wird es entschieden? Wie läuft dieses Verfahren
ganz genau ab? Wenn Unterschiede vorhanden sind und
wenn es zu einer Auseinandersetzung zwischen den El-
tern kommt, dann unterscheiden sich die Vorlagen, die
wir hier im Hause beraten. Bei unserem Vorschlag spielt
das Standesamt eine zentrale Rolle. Wir sagen: Es muss
eine Stelle geben, die die Eltern über die Bedeutung des
Sorgerechts aufklärt.
– Aufgeklärt in Sachen des Sorgerechtes. Vorher müssen
sie schon längst aufgeklärt sein; das hoffe ich zumindest.
An dieser Stelle muss klargestellt werden, wie die Si-
tuation ist. Wenn es dann zum Konflikt kommt, dann soll
sich nach unserer Auffassung das Jugendamt vermittelnd
einschalten. Ein schnelles Verfahren, wie es der Gesetz-
entwurf der Bundesregierung vorsieht, halten wir für
nicht richtig. Ein schnelles Verfahren würde bedeuten,
dass Eltern und Jugendämter nicht ausreichend zu Wort
kämen und das Kindeswohl zu wenig berücksichtigt
würde. Ein schnelles Verfahren bedeutet nicht unbedingt
immer eine Entscheidung zugunsten der Kinder. Aber
eine solche Entscheidung wollen wir herbeiführen.
Lieber Kollege Geis, Sie haben mehrfach darauf auf-
merksam gemacht, welche Gemeinsamkeiten vorhan-
den sind. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal einem
Ihrer Redebeiträge applaudieren würde.
Das wird sich spätestens bei der nächsten Debatte über
das Betreuungsgeld wahrscheinlich wieder ändern. Sie
haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir im Gesetz-
gebungsverfahren noch einmal über Kurzfristigkeit der
Sechswochenfrist sprechen und darauf hören sollten, wie
die Sachverständigen die Praxis bewerten. Ich finde es
sehr gut, dass Sie das an dieser Stelle gesagt haben. Ich
würde mich freuen, wenn Sie die Sachverständigenmei-
nung auch beim Betreuungsgeld so ernst nehmen wür-
den wie in dieser Frage. Es gibt schließlich Sachverstän-
dige und Experten, die hier Kritik geübt haben. Deshalb
hätten wir uns gewünscht, dies nicht erst im Verfahren
ändern zu müssen. Wenn aber eine gewisse Bereitschaft
besteht, darüber zu reden, dann sind wir Ihnen an dieser
Stelle natürlich dankbar.
Auch müssen wir klarstellen, dass die Situation von
unverheirateten Eltern aktuell nicht zufriedenstellend ist,
wenn es um die Frage des Sorgerechts geht. Das hat
auch etwas damit zu tun, dass sich das Bild, das wir nor-
malerweise von Familie haben, gewandelt hat. Ich
glaube noch immer, dass Herr Geis und ich in diesem
Zusammenhang unterschiedliche Bilder haben. Aber wir
haben eben erkannt, dass Väter und Mütter, also Männer
und Frauen, in der Kindererziehung gleichberechtigt
sein müssen. Deshalb ist es gut, dass wir an dieser Stelle
jetzt etwas verändern und vom alten, konservativen Bild
Abstand nehmen.
Ich hoffe, dass sich im Gesetzgebungsverfahren auf
Ihrer Seite das eine oder andere noch ändert und dass wir
noch mehr zugunsten des Kindes erreichen.
Danke schön.
Damit schließe ich die Aussprache.
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24556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/11048 an die Ausschüsse vor-geschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Gibt esandere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 44 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Eva Högl, Sebastian Edathy, Ingo Egloff,weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPDsowie den Abgeordneten Renate Künast, EkinDeligöz, Monika Lazar, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur För-derung gleichberechtigter Teilhabe von Frauenund Männern in Führungsgremien
– Drucksache 17/11139 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesNach einer interfraktionellen Verabredung ist für dieAussprache eine Zeit von eineinhalb Stunden vorgese-hen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat RenateKünast für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibtkein wirklich gutes Argument gegen eine Frauenquote,
solange die Chefetagen zum Gutteil noch frauenfreie Zo-nen sind. Es hat sich nämlich nichts geändert. Nichts hatsich in 63 Jahren Grundgesetz geändert. Nichts hat sichseit der letzten Änderung des Grundgesetzes geändert.Nichts hat sich seit der freiwilligen Selbstverpflichtunggeändert. Deshalb will ich, ehrlich gesagt, keine Gegen-argumente mehr hören, die ein gewisses Niveau nichtüberschreiten.Man hört zum Beispiel, bei der Personalauswahl gehees um Qualifikation und nicht um Geschlecht. MeineHerren, wenn es nach Qualifikation ginge, dann wärendie Vorstände voller Frauen.
Frauen haben die besseren Schulabschlüsse und die bes-seren Universitätsabschlüsse. Aber sie sind eben nichtdurch die Glasdecke gestoßen; denn Männer finden of-fensichtlich immer Männer. Das ist doch komisch, oder?Frauen sind zuhauf im mittleren Management vertreten,stoßen aber nicht durch die Glasdecke. Wahr ist, dass miteiner sogenannten Frauenquote eine 100-prozentigeMännerquote verhindert wird.
Ich will auch nicht mehr hören, dass eine FrauenquoteMänner benachteiligt. Das finde ich ein bisschen unlau-ter. Solange es faktisch Männerquoten von 100, 90 oder80 Prozent gibt, erhebt kein Mann seine Stimme. Wennder Männeranteil aber auf 80 oder 60 Prozent sinkt, dannmeinen Sie plötzlich nach 2 000 Jahren Männerdomi-nanz, jetzt seien die Männer benachteiligt. Dass auchnoch unsere Frauenministerin solche Argumente bringt,spottet eigentlich jeder Beschreibung.
– Wo ist sie? Fragen Sie mich, oder wen fragen Sie? Esist ja wohl typisch, dass Frau Schröder an dieser Stellenicht anwesend ist.
Ich glaube nicht, dass es mehr als zwei, drei Frauen inder Bundesrepublik Deutschland gibt, die sich von die-ser Ministerin irgendeine Verbesserung der Situation derFrauen erwarten.
Fakt ist: Die Geduld der Frauen ist zu Ende. Wir wol-len nicht länger warten. Wir wissen, dass Deutschlandhinterherhängt. Unter dieser Bundesregierung istDeutschland im internationalen Gleichstellungsrankingvom elften auf den dreizehnten Platz abgerutscht, weil eserstens immer noch große Lohnunterschiede gibt undweil zweitens den Frauen in Deutschland nicht der Zu-gang zu Karriere und besser bezahlten Jobs eröffnetwird. Deshalb sage ich Ihnen ganz klar: Wir haben dasSchröder/von-der-Leyen-Theater unter tatkräftiger An-führung von Angela Merkel satt.
Die eine ist dagegen, die andere ist dafür, und FrauMerkel lässt es zu, dass sich die Zeitungen ausführlichdamit beschäftigen. Wir haben als Abgeordnete diesesHauses den aktuellen Gleichstellungsauftrag des Grund-gesetzes zu erfüllen. Dieser besagt: Wir müssen so langeaktiv Maßnahmen ergreifen, bis die Gleichstellung er-reicht ist. Deshalb bringen wir heute unseren Gesetzent-wurf in den Deutschen Bundestag ein.
Wenn ich ehrlich bin, ist das auch der Versuch, dasVersagen der Europäischen Kommission in dieser Wo-che bei der Regelung der Frauenquote ein wenig wettzu-machen. Dass die Europäische Kommission das Themaauf einen späteren Termin vertagt hat, ist ein Affront ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24557
Renate Künast
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gen die Frauen in Europa und eine Blamage für dieGleichstellungspolitik der Europäischen Kommission.Deutschland hat die Aufgabe, einen gewissen Druckauszuüben.Wir Grünen haben alles versucht. Wir haben in dieserLegislaturperiode einen eigenständigen Gesetzentwurfeingebracht. Er ist von Ihnen abgelehnt worden. Darauf-hin haben wir uns entschieden, sozusagen auf Knien zuden Frauen der anderen Fraktionen zu rutschen und fürdie Abfassung einer Berliner Erklärung zu werben. Wirhaben uns auf den Kompromiss eingelassen, dass in denFührungsgremien, zum Beispiel in den Aufsichtsräten,der Frauenanteil nicht mindestens 40 Prozent, sondernmindestens 30 Prozent betragen soll. Wir haben es ge-schafft, dass die Frauen dieses Hauses eine Berliner Er-klärung unterschrieben haben. Diese Erklärung wurdedes Weiteren unterschrieben von vielen anderen Frauenin der Republik, aus der Wissenschaft, aus der Wirt-schaft und aus den Medien. Selbst Friede Springer, diemit ihrem Konzern bislang sicherlich nicht die Speer-spitze der Frauengleichstellungsbewegung bildete, hatdiese Erklärung unterschrieben. Nun wollen wir aucheine Abstimmung im Deutschen Bundestag mit einementsprechenden Ergebnis herbeiführen. Es ist meineBitte an die Frauen der Union, sich jetzt nicht kleinkrie-gen zu lassen.
Die Frauen in diesem Land warten auf uns.Ich glaube, wir haben als Fraktion durchaus eine Leis-tung erbracht. Wir Grüne fordern: mindestens 40 Pro-zent Frauen, und das in einem viel kürzeren Zeitraum.Nachdem nun der Bundesrat unter Führung von FrauKramp-Karrenbauer und Herrn Haseloff, also zweierCDU-Ministerpräsidenten, Frau Merkel die Gefolg-schaft versagt und einen Kompromiss angenommen hat,haben wir beschlossen, uns auf diesen Kompromiss ein-zulassen, der auf den Vorschlag von Hamburg zurück-geht und der einen Anteil von nur 20 Prozent Frauenvorsieht.
Wir lassen uns auf diesen Kompromiss ein. Das ist andieser Stelle unser Angebot an Sie. Ich sage Ihnen: DieZeit drängt. Was ich nicht sehen und lesen möchte, HerrGrosse-Brömer, ist, dass Sie sich im nächsten CDU-oder CSU-Wahlprogramm – dem Seehofer trauen wir jaalles zu – in Formulierungen ergehen wie etwa „Frauenmüssen gleichberechtigt sein“.Das Jahr 2013 ist sozusagen ein Superwahljahr fürAufsichtsräte. Mehr als 80 Aufsichtsratssitze in denDAX-30-Unternehmen werden im Jahr 2013 besetzt. Ichmöchte, dass dieses Haus vorher dafür Sorge trägt, dassmindestens 20 Prozent Frauen in die Aufsichtsräte ge-wählt werden müssen.
Die Entscheidung hierüber ist in diesem Jahr zu treffen.Mein letzter Punkt. Wir strecken mit unserem Kom-promissangebot die Hand aus. Anders als Herr Fuchsheute in einem Interview bin ich jedoch der Meinung:Was beim Thema „Patientenverfügung“ oder beimThema „Beschneidung“ möglich ist – die Annahme, dasses sich hierbei um eine Gewissensfrage handelt, bei der eskeine Fraktionsdisziplin gibt –, das muss dann bitte schönauch bei den Themen „Frauenquote“ und „Gleichstellungvon Frauen“ möglich sein. Rita Pawelski hat im Septem-ber dieses Jahres gesagt: Die Hamburger Hürde liegt mit20 Prozent nun wirklich sehr niedrig. Weniger zu fordern,das geht nicht. Es kann keine Kollegen, also Männer, ge-ben, die jetzt noch Nein sagen.
Frau Kollegin!
An dieser Stelle kann ich nur sagen: Wir bitten um
Ihre Stimmen. Die Frauen dieses Landes bitten um Ihre
Stimmen, damit sie endlich gleiche Chancen haben.
Das Wort hat der Kollege Dr. Stephan Harbarth für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir habenheute erneut Gelegenheit, uns mit dem wichtigen Themaeiner Frauenquote zu befassen. Frau Künast, ich habe ei-nes in Ihrer Rede ein wenig vermisst: Sie haben über dieAufgabe, den Anteil von Frauen in Führungspositionender Wirtschaft auszubauen, überhaupt nichts gesagt. Siehaben über die Aufsichtsräte, aber nicht über die Vor-stände gesprochen, erst recht nicht über die nachgeord-neten Führungsebenen.
Der perspektivisch verengte Ansatz, nur den Aufsichts-rat herauszupicken, wird der Unternehmenswirklichkeitund den Interessenlagen der Frauen in unserem Landnicht gerecht.
Sie haben im Jahr 2001 zunächst einmal eine Selbst-verpflichtung der Unternehmen auf den Weg gebracht.In der Tat hat man nach dem großen Showeffekt des Jah-
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24558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Dr. Stephan Harbarth
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res 2001, also in der Zeit, in der auch Sie der Bundesre-gierung angehört haben, nicht mehr darauf geachtet, obdiese Selbstverpflichtung eingehalten wird. Das ist dasErgebnis Ihrer Regierungspolitik. Das Ergebnis unsererRegierungspolitik ist, dass sich in dieser Frage noch nieso viele Veränderungen ergeben haben wie in den letztenzwei oder drei Jahren. Das ist der Unterschied.
Ich glaube, über den Ausgangspunkt sind wir überalle Fraktionsgrenzen hinweg einer Auffassung. Wirsind der Auffassung, dass der Anteil der Frauen in Vor-ständen, in Aufsichtsräten und in den nachgeordnetenManagementebenen bei weitem zu gering ist. Wer sichdie Unternehmenswirklichkeit vor Augen führt, der stelltaber auch fest, dass in der jüngeren Vergangenheit mehrin Bewegung gekommen ist als jemals zuvor. Es gibt seiteinem Jahr eine Selbstverpflichtung der Dax-30-Unter-nehmen; sie haben sich durchgängig für die kommendenJahre Ziele gesetzt, die schon deshalb ambitioniert sind,weil die Belegschaftsanteile der Frauen teilweise geringsind.Ich nenne nur zwei Beispiele. ThyssenKrupp mit ei-nem Frauenanteil von 13 Prozent hat sich das Ziel ge-setzt, den Frauenanteil auf 15 Prozent auszubauen. VWmit einem Frauenanteil an der Belegschaft von 16 Pro-zent hat sich zum Ziel gesetzt, den Frauenanteil auf30 Prozent zu erhöhen. Das zeigt: Im Augenblick ist vielin Bewegung. Deshalb denke ich, dass man die augen-blicklichen Entwicklungen nicht mit staatlichen Vorga-ben abwürgen sollte.
Es geht im Kern um die Fragen: Wie erreichen wir,dass mehr Frauen in den Führungsebenen der deutschenWirtschaft sitzen? Setzen wir auf starre Quotenvorga-ben, oder setzen wir im Sinne des Stufenplans und derFlexiquote auf für die Unternehmen maßgeschneiderte,passgenaue Lösungen? – Zur Wirklichkeit gehört ebenauch – das müssen Sie zur Kenntnis nehmen –, dass derFrauenanteil an den Belegschaften unterschiedlich hochist. Man stellt fest, dass der Frauenanteil in der Dienst-leistungssparte über 50 Prozent liegt.
In vielen anderen Sparten liegt der Frauenanteil teilweiseunter 20 Prozent. Da müssen Sie den Menschen docheinmal erklären, warum eigentlich ein Unternehmen miteinem Frauenanteil an der Belegschaft von 60 oder70 Prozent auf den Führungsebenen die gleichen Frau-enquoten erfüllen soll wie ein Unternehmen mit 10 oder20 Prozent Frauenanteil.
Wir haben zu konstatieren: Ihr Gesetzentwurf ist ver-engt, weil er sich – ganz anders als die Überlegungenetwa zur Flexiquote – überhaupt nicht mit der Frage be-fasst: Was tun wir auf den nachgeordneten Unterneh-mensebenen? Wenn man bei den Dax-30-Unternehmeneine Frauenquote von 20 Prozent einführen würde, dannwürde man feststellen, dass sich in der Summe die Zahlder Frauen, die zusätzlich in den Aufsichtsräten säßen,nur geringfügig erhöhte, weil der Anteil schon heute beinahezu 20 Prozent liegt. Wenn man bei den Dax-30-Un-ternehmen eine Frauenquote von 40 Prozent zugrundelegte, dann würde man ungefähr 100 zusätzliche Frauenin den Aufsichtsräten dieser Dax-Unternehmen benöti-gen.
Wenn man unterstellt, dass manche der 100 Frauen meh-rere Aufsichtsratsmandate wahrnehmen, dann läge dieZahl der Frauen, für die man etwas täte, unter 100. WennSie aber die Managementverpflichtungen der deutschenWirtschaft übernähmen,
würden Sie etwas für über 5 000 Frauen tun.
Das zeigt, dass Ihr Modell wenig weiterhilft.
Sie sprechen von der gläsernen Decke. Sie machen diegläserne Decke aber nicht durchlässig. Sie setzen auf diegläserne Decke quasi ein paar Frauen obendrauf und be-haupten, damit sei Durchlässigkeit erreicht.
Deswegen ist Ihr Gesetzentwurf eine Mogelpackung.
Ihren auf Aufsichtsräte begrenzten Ansatz könntenwir nachvollziehen, wenn wir eine Chance sähen, dassmehr Frauen in Aufsichtsräten zu einem höheren Frau-enanteil auf nachgeordneten Führungsebenen führen. Sieführen häufig Norwegen als Beispiel an. Schauen Siesich die Untersuchungen des Osloer Instituts für Unter-nehmensvielfalt an. Natürlich ist der Anteil von Frauenin Aufsichtsräten in Norwegen angewachsen. Aber dashat nicht dazu geführt, dass auch der Anteil von Frauenauf nachgeordneten Führungsebenen angestiegen ist.Das zeigt, dass Ihre perspektivische Verengung falschist.
Wir konstatieren, dass der Anwendungsbereich, denSie vorsehen, in vielerlei Hinsicht zu weit gefasst ist. Sieführen gerne die Situation in den Dax-30-Unternehmenan. Der Anwendungsbereich in Ihrem Gesetzentwurf ist
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24559
Dr. Stephan Harbarth
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aber viel weiter gefasst. Es geht um die Einführung vonFrauenquoten in über 2 000 Unternehmen. Sie sprechenmedienwirksam immer von den Dax-30-Unternehmen.Aber Ihre Vorgaben betreffen auch die mittelständischenBetriebe, die, offen gestanden, andere Sorgen haben, alssich jeden Morgen zu überlegen: Was können wir gegenFrauen tun?
Die Realität ist doch, dass es in Familienbetrieben alsnormal angesehen wird, dass die Tochter anstelle desSohns die Geschäftsführung übernimmt. Es ist deshalbnicht nachvollziehbar, warum Sie einen derart weitenAnwendungsbereich vorschlagen.
Sie wollen, dass die Frauenquote für alle börsennotier-ten Unternehmen gelten soll. Börsennotierte Unterneh-men sind aber nicht nur die Dax-30-Unternehmen. Wirhaben in Deutschland – je nach Sichtweise – 700 bzw.1 500 börsennotierte Unternehmen. Viele dieser Unter-nehmen haben 100, 150 oder 200 Mitarbeiter.
Erklären Sie doch einmal, warum die Börsennotierungals Anknüpfungspunkt für die Einführung der Frauen-quote taugen soll. Das ist mitnichten so. Eine Börsenzu-lassung ist sehr wohl ein tauglicher Anknüpfungspunktfür eine Reihe schärferer Vorschriften, etwa im Bereichder Bilanzierung. Aber warum ein börsennotiertes Un-ternehmen, das 100 Mitarbeiter beschäftigt, allein auf-grund seiner Börsennotierung eine Frauenquote einfüh-ren soll, während das nicht börsennotierte Unternehmenmit 300 Mitarbeitern keine einführen soll, ist doch inkeinen Kopf zu bekommen.
Auch für den Bereich der mitbestimmten Unterneh-men möchten Sie die Quote gelten lassen. In Deutsch-land gibt es über 2 000 Unternehmen, die mitbestimmtsind. Einige fallen unter das Mitbestimmungsgesetz,weil sie über 2 000 Arbeitnehmer beschäftigen. Sehrviele Unternehmen, ungefähr 1 500, fallen unter dasDrittelbeteiligungsgesetz, weil sie mehr als 500 Arbeit-nehmer beschäftigen. Ich bitte Sie: Führen Sie sich dieRealität vor Augen! Wie läuft das bei einem mittelstän-dischen Betrieb mit 500 Mitarbeitern in der Praxis ab?Die Familie, die das Unternehmen führt, überlegt, werdas Unternehmen in der nächsten Generation überneh-men kann; dann wird pragmatisch entschieden. SolcheUnternehmer haben jeden Tag ganz andere Sorgen. Siekümmern sich um die Aufrechterhaltung der Produktion,die Erhöhung der Marktanteile und die Sicherung vonArbeitsplätzen. Ich glaube nicht, dass sie sich von Ihnenund Ihrer Frauenquote gängeln lassen wollen.
Wir müssen vermehrt darüber sprechen, wie wir esgewährleisten können, den Frauenanteil in vielen Aus-bildungszweigen zu erhöhen. Wenn wir wollen, dass ineinigen Jahren der Anteil an Managerinnen etwa imdeutschen Maschinenbau anwächst, dann wird es nichtausreichen, nur auf die Aufsichtsräte zu schauen und ir-gendeinen Antrag für das Schaufenster zu produzieren.Es wird darauf ankommen, mehr Schülerinnen davon zuüberzeugen, etwa Ingenieurwissenschaften zu studieren.Wenn wir uns die heutigen Zahlen anschauen, dann stel-len wir fest, dass wir dort leider noch nicht so weit sind,wie wir es eigentlich sein sollten. Deshalb appelliere ichnachdrücklich an Sie, uns in den Beratungen darüberauszutauschen, welche wirklich wirksame Maßnahmenwir ergreifen können, um den Anteil an Frauen in denFührungsgremien zu erhöhen. Wir sollten uns mit derThematik in ihrer Gesamtheit und nicht isoliert, nur mitdem Blick auf den Aufsichtsrat, befassen. Wir sollteninsbesondere die Fragen in den Blick nehmen, was wirauf den nachgeordneten Managementebenen tun kön-nen, was wir in puncto Vereinbarkeit von Familie undBeruf tun können und was wir hinsichtlich der Steige-rung des Anteils von Studentinnen in vielen wichtigenAusbildungsfeldern tun können.
Für uns ist das, was Sie machen, zu kurz gegriffen.
Sie wollen, dass sich im Aufsichtsrat als Schaufensterder Unternehmen etwas ändert. Aber tatsächlich bleibtalles beim Alten. Das lehnen wir ab, und deshalb werdenwir Ihrem Gesetzentwurf auch in den weiteren Beratun-gen nicht zustimmen.Vielen Dank.
Jetzt hat Ingo Egloff das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Harbarth, es war wirklich ein star-kes Stück, was Sie hier vorgetragen haben.
Sie stellen sich hierhin und sagen, es greife zu kurz, inAufsichtsräten Frauenquoten einzuführen. Wir habeneine andere Vorlage in die Ausschüsse eingebracht, dieauch die Vorstände berücksichtigt. Sie können dieser zu-stimmen.
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Ingo Egloff
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Wir werden Sie daran messen; denn das, was Sie hiervorgetragen haben, ist einfach verlogen gewesen, meineDamen und Herren.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf, der ursprünglichauf die Hamburger SPD-Senatsfraktion zurückgeht, bie-tet Ihnen eine weitere Chance, meine Damen und Herrenvon der Koalition, sich endlich zu besinnen und mit da-für zu sorgen, dass die Ungerechtigkeit bei der Beset-zung von wirtschaftlichen Führungsgremien aufhört. Siesollten sich ein Beispiel an einigen Ihrer Landesregie-rungen nehmen, die im Bundesrat dieser Regelung zuge-stimmt haben. Der Entwurf ist moderat. Er sieht zuBeginn eine Quote von 20 Prozent vor, die dann schritt-weise auf 40 Prozent angehoben wird, und er lässt be-gründete Ausnahmen zu. Sie hätten sich das genau an-schauen sollen, bevor Sie hier auf diese Art und Weiseargumentierten.Natürlich hat sich meine Fraktion auch etwas anderesvorstellen können. Deswegen haben wir den Gesetzent-wurf hier eingebracht. Da haben Sie die Chance, sichnoch einmal zu beweisen. Sie sagen, die Aufsichtsräteallein reichten nicht aus. Wir sind gerne bereit, auch dieVorstände einzubeziehen. Das ist überhaupt kein Pro-blem.
Das können wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfah-rens gerne tun.Ich habe schon in der letzten Debatte darauf hinge-wiesen, dass es nicht nur eine Frage der Gerechtigkeitist, an dieser Stelle für geschlechtergerechte Verhältnissezu sorgen. Vielmehr ist es ein Akt wirtschaftlicher Klug-heit. Wenn Frauen bereits im Jahre 2008 zu 67 Prozentüber einen Hochschulabschluss verfügten, die Männerjedoch nur zu 62 Prozent, und dass die Frauen darüberhinaus die besseren Examina haben, dann müssten dieUnternehmen doch mit dem Klammerbeutel gepudertsein, diese Potenziale im Bereich der Führungskräftenicht zu nutzen.
Insofern ist es ein Akt wirtschaftlicher Vernunft, auchangesichts des Fachkräftemangels, der auf uns zukommt.Ihrer Argumentation, Herr Kollege, dass es zu wenigeAbsolventinnen im technischen Bereich gibt, halte ichFolgendes entgegen: In den Naturwissenschaften sind es40 Prozent, in den Ingenieurwissenschaften sind es22,6 Prozent. Aber schauen Sie sich doch die Vorständeder Dax-Unternehmen an. Zu ungefähr 60 Prozent sitzendort Juristen und Volkswirte. Das, was Sie hier vortra-gen, ist doch ein vorgeschobenes Argument.
Alle wissenschaftlichen Untersuchungen belegen,dass Unternehmen, in denen Frauen gleichberechtigt inFührungspositionen tätig sind, aufgrund höherer Profita-bilität und höheren Wachstums erfolgreicher sind undbessere Kapitalmarkterfolge erzielen. Das haben so un-verdächtige Firmen bzw. Organisationen wie McKinseyund die OECD festgestellt.
Da aber in einem Bereich wie der Wirtschaft, von demman ja gemeinhin annimmt, dass dort immer rational ge-prägte Entscheidungen getroffen werden, die Führungs-ebenen anscheinend nicht bereit sind, diese Tatsachen zuberücksichtigen, muss man sie zu ihrem Glück zwingen.Die 2001 vereinbarte freiwillige Selbstverpflichtung,mehr Frauen in Aufsichtsgremien und in andere Füh-rungspositionen zu bringen, hat jedenfalls nicht zum Er-folg geführt.Zum Thema Verfassungsmäßigkeit. Es sind in derVergangenheit auch immer wieder einmal Zweifel ange-meldet worden, dass hier möglicherweise ein Verstoßgegen Art. 14 vorliegt, das geschützte Recht der Anteils-eigner, die innere Organisation der Unternehmen selbstzu regeln. Aber das, was wir hier beschließen wollen, isteine nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz zulässigeInhalts- und Schrankenbildung. Da gilt nämlich genaudas Gleiche wie bei der Mitbestimmungsregelung. Dazuhat das Verfassungsgericht eindeutig festgestellt, dass sieverfassungsgemäß ist. Hier geht es nur darum, die Auf-sichtsgremien anders zu besetzen.
Die Mindestquote verfolgt den Zweck, die Unterre-präsentation von Frauen in Aufsichtsräten zu beseitigen.Dieser Zweck – darauf hat die Kollegin Künast hinge-wiesen – ist durch Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz ge-boten, wonach der Staat die tatsächliche Durchsetzungder Gleichberechtigung von Männern und Frauen fördertund auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwir-ken muss. Das ist 1994 in die Verfassung hineingeschrie-ben worden, und das gilt nicht nur für den Bereich deröffentlichen Verwaltung, sondern auch für den privat-rechtlichen Sektor. Wir sind verpflichtet, hier die Gleich-berechtigung durchzusetzen, meine Damen und Herren.
Halten wir also fest: Mit diesem Gesetz verfolgen wireinen Verfassungsauftrag. Wir versuchen, ihn in die Rea-lität umzusetzen. Nehmen wir uns ein Beispiel an ande-ren europäischen Ländern wie Norwegen, Island, Frank-reich oder Spanien. Die Entwicklung dort zeigt, dass die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24561
Ingo Egloff
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Umsetzung einer solchen Regelung ohne Probleme mög-lich ist.Wir sollten hier gemeinsam diese für die deutscheWirtschaft bedeutsame und positive Regelung treffen.Ich finde, dass insbesondere die Kolleginnen aus denKoalitionsfraktionen jetzt ihren Worten Taten folgen las-sen müssen, sonst nimmt ihnen niemand mehr ab, dasssie es wirklich wollen.
Wenn das aus Ihrer Sicht zu kurz greift, was wir hiervorgelegt haben, dann machen Sie einen Vorschlag, wiewir beispielsweise die Vorstände mit einbeziehen kön-nen. Wir sind an Ihrer Seite, wenn Sie einen solchen Vor-schlag machen.
Seien Sie gewiss, meine Damen und Herren von derKoalition, wenn Sie hier mit fadenscheinigen Argumen-ten wieder verhindern, dass ein solches Gesetz beschlos-sen wird: Wir werden Sie nicht aus der Verantwortungherauslassen. Wir werden das dann eben nach der Bun-destagswahl im Interesse der Wirtschaft, im Interesse derGesellschaft und im Interesse der Gleichberechtigung re-geln.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Marco Buschmann für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die gleichen Karrierechancen für Männer undFrauen sind ein wichtiges gesellschaftspolitisches Anlie-gen. Daher bin ich ein Stück weit entsetzt darüber, aufwelch niedrigem Niveau hier insbesondere SPD undGrüne die Sache debattieren.
Man hat den Eindruck, Sie wollen gar nichts gegen diegläserne Decke tun, sondern reine Schaufensterpolitikbetreiben. Wenn der Kollege Harbarth hier als Lügnerbezeichnet wird oder die Kollegin Künast sagt, sie wolleuns gar nicht mehr zuhören: Wofür dann überhaupt nocheine Debatte?
– Sie haben gesagt, Sie wollen nichts mehr hören, Siewollen keine Argumente mehr hören.
Wer eine parlamentarische Debatte auf ein solches Ni-veau zieht, dem geht es nicht um Maßnahmen gegen diegläserne Decke, sondern um rein symbolische Schau-fensterpolitik für den Bundestagswahlkampf und dengrünen Kandidatenwahlkampf.
Was den parlamentarischen Stil angeht, möchte ichhier mit gutem Beispiel vorangehen
und Ihnen ausdrücklich dafür danken, dass Sie einenkonkreten Gesetzentwurf vorgelegt haben – dies ver-dient Respekt, weil es immer große Mühe erfordert –,auch wenn er bürokratisch ist, auch wenn er sich aufKosten Dritter einigt, nämlich der kleinen und mittlerenUnternehmen, und auch, wenn er im Ergebnis untauglichist. Sie wissen das; diese Argumente haben wir Ihnenhier schon vorgetragen.
Erstens. Wir haben empirische Studien, die belegen,dass eine rein symbolische Frauenquote für die Auf-sichtsräte in den Führungsebenen darunter nichts be-wirkt. Catherine Hakim, eine exzellente Soziologin derLondon School of Economics, hat die Entwicklung inNorwegen untersucht und belegt, dass der Anteil anFrauen in der zweiten und dritten Führungsebene sogarnoch niedriger als in Deutschland ist. Das kann dochnicht das richtige Vorbild sein. Ihre Quote ist untauglich,wenn es darum geht, die Karrierechancen insgesamt füreine relevante Zahl von Frauen zu erweitern.
Dafür in die Rechte der Hauptversammlung und in dieRechte der Aktionäre einzugreifen, ist schlichtweg un-verhältnismäßig.Zweitens. Tun Sie bitte nicht so, als ob wir nichts be-wirkt hätten.
Ich sage es noch einmal: Ihre alte Selbstverpflichtunghat nichts gebracht; das ist völlig richtig. Die Änderungdes Corporate Governance Kodex hat aber dazu geführt,
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Marco Buschmann
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dass sich der Anteil von Frauen in der Gruppe der Neu-besetzungen gegenüber der Gruppe der Amtsinhabermittlerweile vervielfacht hat.
Wir können einen Faktor Vier konstatieren. Das ist mehrals nichts. Das ist mehr als das, was Sie bewirkt haben.Deshalb sollten Sie aufhören, uns an Ihren untauglichenMaßnahmen von 2001 zu messen. Messen Sie uns bittean den zwar noch kleinen, aber deutlich messbaren Er-folgen. Wir haben in einem Jahr mehr bewirkt als Sie invielen Jahren. Tun Sie nicht so, als gäbe es nichts zukonstatieren.
Drittens. Der Kollege Egloff hat dem KollegenHarbarth vorhin eine Umkehrung der Argumente vorge-worfen. Das finde ich, Frau Künast, sehr bemerkenswert.Bislang haben Sie uns immer gesagt: Ihr müsst dieQuote einführen, weil uns die Europäische Kommissiondazu zwingen wird.
Jetzt haben unsere sachlichen Argumente offenbar Ge-hör bei der Kommission gefunden.
Die Kommission hat jetzt gesagt: „Das ist kein vernünf-tiges Mittel“, und sich dagegen entschieden.
Und jetzt sagen Sie: Jetzt müssen wir Deutsche dieKommission vor uns hertreiben. Also, wenn hier Argu-mente verdreht werden, dann gilt das insbesondere fürSie.
Abgesehen von diesen grundsätzlichen Argumentengegen eine solche Zwangsquote ist Ihr konkreter Gesetz-gebungsvorschlag mit sehr vielen Problemen verbunden.Ich konstatiere – dafür bedanke ich mich auch –, dassSie unsere Kritik, was die kleinen Gremien angeht, auf-genommen haben. Das zeigt, dass die sachliche Kritik,die wir hier vorgetragen haben, nicht ganz falsch war.Sonst wären Sie ja nicht darauf eingegangen.Ich kritisiere aber, dass Sie damit ein bürokratischesMonstrum schaffen. Sie wollen demnächst nämlich jededer 16 000 deutschen Aktiengesellschaften verpflichten,sich Bescheide beim Bundesamt für Justiz einzuholen.Künftig soll jede AG sich einmal pro Jahr, weil man dasfür die Körperschaftsteuererklärung brauchen soll, einenBescheid über die geschlechtergerechte Besetzung desAufsichtsrats besorgen. 16 000 Unternehmen sollendazu verpflichtet werden. Das sind 16 000 Anträge, dieim Verlauf des ersten Halbjahres eines jeden Jahres imBundesamt für Justiz bearbeitet werden müssen. Wennman das herunterbricht und nur eine Stunde Zeit für dieBearbeitung eines solchen Antrages ansetzt, stellt manfest, dass man in den 100 Arbeitstagen, die bis zum31. Mai eines Jahres anfallen – das ist die Frist, die Siesetzen –, 160 Bescheide pro Tag bearbeiten müsste. Bei60 Minuten für einen Bescheid und bei acht Arbeitsstun-den pro Tag wären das 20 neue Planstellen, die man imBundesamt für Justiz allein für die Realisierung dieseseinen Details Ihres Gesetzentwurfs vorsehen müsste.Meine Damen und Herren, seien Sie ehrlich! Sieschreiben in der Einleitung Ihres Gesetzentwurfs, dieBürokratiekosten und der Bürokratieaufwand für dieUmsetzung Ihres Vorschlages seien gering und zu ver-nachlässigen. Das ist schlichtweg die Unwahrheit. Alleindie Umsetzung dieses Details würde dazu führen, dasssich im Bundesamt für Justiz 20 Leute mit nichts ande-rem mehr beschäftigen könnten oder 20 neue Planstellengeschaffen werden müssten.
Im Übrigen wäre es auch rechtspolitisch ein falschesSignal, wenn man private Unternehmen wieder unterstaatliche Aufsicht stellen würde, was ihre internen Gre-mienbesetzungen angeht. Als Rechtshistoriker fühlt mansich ein wenig an die Ideen des Reichs-Aktienamtes er-innert. Wir sind weg davon! Überall im Gesellschafts-recht gehen wir weg von der staatlichen Aufsicht, wasdie internen Verhältnisse angeht. Sie wollen jetzt denumgekehrten Weg gehen, zurück zum Beginn des letztenJahrhunderts, in dem diese Ideen noch modern waren.Heute sind sie gänzlich unmodern.Zum Schluss will ich noch eines sagen: Jetzt konze-diere ich einmal, es gebe diese Fortschrittsverweigerer,es gebe jene, die sich hartnäckig verweigern und obstru-ieren.
Gegen diese Fortschrittsverweigerer hilft Ihr Entwurfnicht, weil Sie ausschließlich Aktiengesellschaften inden Fokus nehmen. Auch bei der grenzüberschreitendenVerschmelzung nehmen Sie ausschließlich Aktiengesell-schaften in den Blick. Dann machen die Unternehmeneben einen Formwechsel. Das ist auch in Norwegengeschehen. Dort haben die Unternehmen – Familienbe-triebe, kleine Betriebe und vor allem die Maschinenbau-unternehmen –, die Probleme hatten, weibliche In-genieure in der erforderlichen Anzahl und mit dernotwendigen Berufserfahrung zu finden, schlichtweg dieRechtsform gewechselt.
Das wird dann bei Verschmelzungen auch passieren.Selbst wenn wir unterstellen, dass Ihre Auffassung rich-tig ist, dass es renitente Fortschrittsverweigerer gibt, so
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24563
Marco Buschmann
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bleibt festzuhalten: Ihr Gesetzentwurf macht das Scheu-nentor für Umgehungstransaktionen ganz weit auf.Wir halten im Ergebnis fest: Ihr Vorschlag wird in dergesellschaftlichen Breite nichts bringen. Er ist kein Bei-trag gegen die gläserne Decke, sondern nur Schaufens-terpolitik. Umgehungsmöglichkeiten stehen sperrangel-weit offen.
Man kann aus guten Gründen, gerade wenn man für ef-fektive Frauenförderung ist, gerade wenn man für glei-che Karrierechancen für Männer und Frauen in diesemLand ist, in diesem Vorschlag kein taugliches Instrumenterkennen. Deshalb werden wir ihn ablehnen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Frau Cornelia Möhring für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Buschmann, das müssen Sie uns zugestehen: Ange-sichts der vielen guten Argumente für die Quote, die wirhier in gefühlten 150 Debatten schon ausgetauscht ha-ben, werden Sie sicherlich verstehen, dass wir an IhrerLernfähigkeit langsam erhebliche Zweifel haben.
Die Quote bedeutet deutlich mehr als eine Verbesse-rung von Karrierechancen für Frauen. Die Quote ist einInstrument für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauenund Männern an den Entscheidungen und den Ressour-cen in unserer Gesellschaft. Die Linke steht dazu undsagt es immer wieder: Wir sind für eine geschlechterge-rechte Gesellschaft, und wir sind auch für eine ge-schlechtergerechte Besetzung von Vorständen und Auf-sichtsratsgremien. Wenn es nach uns ginge, würde sichdies auch in Zahlen ausdrücken. Der Hälfte der Bevölke-rung steht auch die Hälfte zu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schlicht nichthinnehmbar, dass Frauen mit einem Anteil von lediglich15,6 Prozent in Aufsichtsräten und von nur 4,2 Prozentin Vorständen vertreten sind.
– Herr Kauder, auf Ihre Zwischenrufe gehe ich gerne ananderer Stelle ein. Jetzt kümmere ich mich um das We-sentliche.
Der Gesetzentwurf, den wir heute behandeln, wecktin mir trotzdem, ehrlich gesagt, zwiespältige Gefühle,weil er, wie ich finde, Ausdruck eines aussichtslosentaktischen Spielchens ist. Sie glauben doch nicht allenErnstes, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPDund von den Grünen, dass CDU/CSU und FDP sich da-rauf einlassen? Die zeigen heute wieder deutlich, dasssie so blockiert sind, dass sie schlicht keine geschlech-tergerechte Gesellschaft wollen.
Ich muss aber auch deutlich sagen: Ich hatte schon beider Einbringung der Bundesratsinitiative zur Festschrei-bung einer verbindlichen Quote zwiespältige Gefühle.Einerseits verstehe ich es natürlich: Angesichts der Un-beweglichkeit dieser Regierungskoalition in der Frageder gesetzlichen Quote wäre es natürlich erfreulich,wenn wir auch mit den Stimmen von CDU-regiertenLändern tatsächlich erstmals eine verbindliche Quotefestschreiben könnten. Andererseits – das finde ich be-dauerlich – waren Grüne und SPD in ihren Forderungenschon einmal erheblich weiter,
sowohl in ihren eigenen parlamentarischen Initiativenals auch im Rahmen des überparteilichen Bündnisses derBerliner Erklärung.In diesem Bündnis haben wir gemeinsam mit Kolle-ginnen und Kollegen aus allen Fraktionen – auch mit ei-nigen aus den Koalitionsfraktionen – als ersten Schrittgefordert, dass alle börsennotierten, mitbestimmungs-pflichtigen und öffentlichen Unternehmen verpflichtetwerden, in ihren Aufsichtsräten bis zum Jahr 2018 – ichbetone das; denn 2013 finden die entscheidenden Wah-len statt – eine Mindestquotierung von 30 Prozent zu er-reichen und diesen Anteil dann zügig weiterzuentwi-ckeln. Weil wir alle wissen, dass Freiwilligkeit zukeinem Erfolg führt, haben wir spürbare Sanktionen vor-gesehen: So sollten, wenn die Zusammensetzung einesAufsichtsrates dieser Regelung widerspricht, die Be-schlüsse unwirksam werden.Jetzt, wo sogar der Entwurf eines entsprechendenfraktionsübergreifenden Gruppengesetzes auf dem Tischliegt, verlassen ausgerechnet SPD und Grüne den Kon-sens dieses Bündnisses und legen den vorliegenden Ge-setzentwurf vor, einen Gesetzentwurf, der deutlich hinterden bisherigen Eckpunkten der Berliner Erklärung zu-rückbleibt. In welchen Punkten gibt es Abweichungen?Diese möchte ich hier nennen, weil ich darauf aufmerk-sam machen möchte, dass wir entsprechende Ände-rungsanträge einbringen werden.Erstens. Für Unternehmen gibt es in diesem Gesetz-entwurf viel zu viele Ausnahmen.Zweitens. Erst ab 2018 soll die erste Stufe mit 20 Pro-zent Frauen in Aufsichtsräten erreicht werden.Drittens. Sie haben ein paar butterweiche Sanktioneneingebaut, nämlich die Namensnennung von Unterneh-men, die gegen das Gesetz verstoßen, und die Streichungder steuerlichen Absetzbarkeit von Aufsichtsratsvergü-tungen. Ich sehe schon, wie alle Angst bekommen.
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24564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Cornelia Möhring
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Warum weichen also SPD und Grüne von den ge-meinsam ausgehandelten und breit getragenen Forderun-gen der Berliner Erklärung kampflos ab? Weil Ihnen derSpatz in der Hand lieber ist als die Taube auf dem Dach?Oder aus wahltaktischen Gründen?
Sollte Ihnen damit tatsächlich die Meisterleistung gelin-gen, die Regierungskoalition auf den Weg einer gesetz-lichen Quote zu bringen, werde ich die Erste sein, diesagt: Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war einGlanzstück.Sie werden wahrscheinlich erwidern, dass die Ein-bringung des Bundesratsentwurfs durch die Bundes-regierung dauern würde, bis wir hier alle Moos ansetzen.
Das glaube ich auch. In den letzten 22 Jahren hat näm-lich keine Bundesregierung – im Übrigen auch nicht dierot-grüne – etwas Substanzielles geleistet, um denGleichstellungsauftrag des Grundgesetzes im Hinblickauf die Vertretung von Frauen in Führungspositionenumzusetzen. An dieser Tatsache kommen Sie nicht vor-bei. Das hätten wir alles auf Grundlage der Berliner Er-klärung diskutieren können.Ich sehe, meine Zeit hier geht langsam dem Ende zu,
deswegen abschließend noch zwei Bemerkungen:Für die Linke bleibt es dabei: Wir wollen, dass es indiesem Land geschlechtergerecht zugeht. Wir halten unsan die im Bündnis „Berliner Erklärung“ getroffenen Ver-einbarungen.
Wir wissen: Es gibt genug qualifizierte Frauen, umschon 2013 Gremien wie Aufsichtsräte anders zu beset-zen. Deshalb werden wir entsprechende Änderungsan-träge in die weiteren Beratungen einbringen.Ich vermute, dass sich CDU/CSU und FDP diesenÄnderungsanträgen wie Ihrem Gesetzentwurf, liebeKolleginnen und Kollegen von den Grünen, nicht an-schließen werden. Deswegen will ich Sie schon jetzt er-muntern, sich dann unseren Änderungsanträgen anzu-schließen, damit wir konstruktiv vorankommen.
In diesem Sinne wünsche ich uns weitere konstruktiveDebatten und endlich einen Schritt in Richtung mehr Ge-schlechtergerechtigkeit.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Elisabeth Winkelmeier-Becker für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben indieser Woche die Situation der Frauen unter verschiede-nen Aspekten in den Blick genommen: Minijobs standenauf der Tagesordnung; über den Unterhaltsvorschusswurde debattiert; um die Finanzierung von Frauenhäu-sern geht es heute noch. Aktuelle Themen sind darüberhinaus die Berücksichtigung von Erziehungszeiten beider Rente, Altersarmut und, vor allem, die allgemeineEntgeltungleichheit.Für all das gibt es Pro und Kontra, auch unter Frauenwerden diese Themen differenziert diskutiert. Häufigkann man erkennen, dass die persönliche Lebenserfah-rung oder auch das Alter zu unterschiedlichen Einschät-zungen führen. Mir geht es in diesem Zusammenhangdarum, zu zeigen, dass das alles Facetten desselben The-mas sind. Bei all diesen Punkten spielt es eine Rolle,dass alle Frauen eine andere Lebenssituation haben, diesich in einem je anderen Zugang zu eigener sozialer Si-cherheit, zu eigener beruflicher Karriere und eigenemEinkommen äußert.Es gibt Ursachen, die auf freiwillige Entscheidungenzurückgehen – die Berufswahl zum Beispiel; auch wennman daran sicherlich einiges ändern könnte –, aber auchUrsachen, die in den Strukturen liegen: traditionelle Un-terschiede in der Beteiligung an der Arbeit in der Fami-lie; Erwartungshaltungen, die sich auswirken; anderePrioritäten. Es gibt auch strukturelle Ursachen, die kaumzu beeinflussen sind. Gerade beim Thema Quote habenwir es mit Strukturen zu tun, die sich individuell nichtbeeinflussen lassen. All diese Dinge greifen ineinander,und all diese Dinge haben ihre Auswirkungen darauf,dass Frauen in höheren Positionen so stark unterreprä-sentiert sind.
Weshalb sage ich das? Ich will zeigen, dass „Frauenin Führungspositionen“ kein Luxusthema ist, das einezwei- bzw. maximal dreistellige Zahl von Frauen be-trifft. Vielmehr handelt es sich um die Ausprägung einerallgemeinen Problematik. Das betrifft Kassiererinnen beiEdeka ganz genauso wie Alleinerziehende oder Frauen,die über Jahre in einem Minijob festhängen und ihren ur-sprünglichen Beruf nicht weiter betreiben können, oderWissenschaftlerinnen, die keine angemessene Professurbekommen. All das sind Ausprägungen desselben The-mas, dass sich unterschiedliche Lebenserwartungen, un-terschiedliche Traditionen in der gleichen Weise auswir-ken.Es gibt noch einen Grund, weshalb „Frauen in Füh-rungspositionen“ kein Thema ist, das nur einige wenigeFrauen in einer privilegierten Situation betrifft. Wieviele Frauen wir sichtbar in Führungspositionen haben,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24565
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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wird nämlich weit über diese Funktionen hinauswirken,weil Frauen in Führungspositionen Vorbilder schaffen,die in die Struktur der Unternehmen hineinwirken undein Umdenken bewirken, nicht nur in den Unternehmen,sondern in der gesamten Gesellschaft.
In Deutschland wird man nie wieder infrage stellen,ob eine Frau auch Kanzlerin sein kann. Damit ist zu-gleich auch die Frage beantwortet, ob eine Frau Abtei-lungsleiterin einer Behörde sein, ob sie Filialleiterin ei-ner Bank sein kann, ob sie Leiterin eines Supermarktessein kann.
Genauso wird zum Beispiel in den USA nie wieder dieFrage gestellt werden, ob ein Schwarzer Präsident seinkann. Das sind Fragen, die dadurch beantwortet wordensind, dass diese besonders herausgehobene Position ein-mal von einer entsprechenden Person wahrgenommenworden ist. Deshalb ist es auch ein Beitrag zur Lösungdes ganzen Problems an allen Stellen in der beruflichenund in der gesellschaftlichen Hierarchie. Wenn wir mehrFrauen in Führungspositionen haben, wird das auchAuswirkungen auf die unteren Hierarchieebenen haben.
Deshalb ist der Einwand, den wir häufig hören:„Kümmert euch doch nicht um so ein Luxusproblem,sondern kümmert euch darum, wie die Frauen über dieRunden kommen, die in ganz anderen Lebenssituationensind“, nicht berechtigt. Wir dürfen das eine nicht gegendas andere stellen, sondern alle Themen gehören zusam-men.
Heute ist das Thema die Quote, über das wir unsschon oft ausgetauscht haben, wenn jetzt allerdings auchschon ein paar Monate nicht mehr. Von daher noch ein-mal die wichtigsten Punkte für Sie alle, meine liebenKolleginnen und Kollegen.Brauchen wir mehr Frauen in Führungspositionen? –Ja, klar.
Das ist mittlerweile Allgemeingut. Da kriegen wirApplaus aus dem ganzen Haus.
Der Grund ist doch auch klar: Wer nach guten Leutennur in der Hälfte der Bevölkerung sucht, der schöpft dasPotenzial an Intelligenz, Kreativität, Qualifikationen undIdeen nicht aus. Deshalb ist es schon aus der egoisti-schen Sicht der Unternehmen wichtig, nach Talenten un-ter den Frauen Ausschau zu halten.Ein weiterer Aspekt ist folgender: Gemischte Teamshaben die besseren Ergebnisse. Wo unterschiedliche Le-benserfahrungen zusammenkommen, da wird an alle As-pekte gedacht, und die Entscheidung ist am Ende besser.Dazu gibt es wissenschaftliche Untersuchungen.Ich will auch auf den Aspekt der Chancengleichheithinweisen. Wo Frauen die gleichen Qualifikationen ha-ben – gerade in den entscheidenden Ausbildungsgängen,Jura, Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft, haben sielängst gleich gute Qualifikationen –, da müssen ihnenauch die gleichen Chancen gegeben werden.
Nur, brauchen wir dazu eine gesetzliche Quote?
Ja! Denn von allein wird sich wenig ändern. Das zeigtuns doch die Erfahrung.
Gerade die Sinus-Studie des Frauenministeriums hat ge-zeigt: Es bestehen stark verfestigte Strukturen und Ri-tuale, die sich selbst reproduzieren, die sich perpetuierenund das Nachrücken von Frauen behindern.Wir können zwar Fortschritte erkennen; die gibt es imMoment. Aber die vollziehen sich vor dem Hintergrundunserer momentanen Debatte, wodurch das Thema allepaar Monate auf der Tagesordnung steht und den Unter-nehmen auch signalisiert wird, dass sich etwas tut. ImVorgriff darauf oder auch, um eine gesetzliche Regelungzu verhindern, strengen sie sich jetzt besonders an.Aber 70 Prozent und mehr der Entscheidungsträger inden Unternehmen selber – das zeigt die empirische Stu-die des Frauenministeriums von Carsten Wippermann –glauben nicht, dass das bereits ein selbsttragender Effektist und dass sich ohne verbindliche Vorgaben etwas tunwird. Die wissen, wovon sie sprechen.Wir sehen also, die abstrakte Erkenntnis „Wir brau-chen mehr Frauen in Führungspositionen“ endet da, woes die eigene Situation, die eigene Position im Aufsichts-rat, im Vorstand betrifft. Im eigenen Umfeld soll dochbitte alles so bleiben, wie es ist. Wir fangen einmal ganzunten an und schauen in 30 Jahren weiter.
Deshalb brauchen wir eine gesetzliche Regelung. Siekann durchaus vernünftige Ausnahmen vorsehen. Wennein Familienunternehmen von den Mehrheitseignernselbst geführt wird, da kann eine Ausnahme in Ordnungsein, weil man natürlich die Positionen in der Familieweitergibt. Wer mit fünf Söhnen oder – wie meine Eltern– mit fünf Töchtern gesegnet ist, der wird auch darunterseine Nachfolger suchen. Wo es trotz ernsthafter Suchekeine geeignete Kandidatin gibt, da kann es auch Aus-nahmen geben; das ist in Ordnung.Eines steht aber fest: Wir brauchen eine gesetzlicheRegelung. „Gesetzlich“ bedeutet „verbindlich“. Es reicht
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Elisabeth Winkelmeier-Becker
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nicht, wenn „Gesetz“ draufsteht, dieses aber nur freiwil-lige Regelungen enthält.
Es hat auch nichts mit den Grenzen vielleicht sinnvol-ler Flexibilität zu tun, wenn der Adressat der Regelungselber entscheidet, welche Vorgaben er sich gibt, ohnedass ihm irgendwelche Kriterien vorgegeben werden.Flexibilität gibt es in gesetzlichen Regelungen an vielenStellen: Nicht jeder zahlt die gleichen Steuern, das Tem-polimit ist an unterschiedlichen Stellen, je nach Straßen-lage, unterschiedlich. Dass sich aber der Adressat derRegelung, die sein Verhalten ausrichten soll, selber ohnebesondere objektive Kriterien aussucht, zu was er sichverpflichten will: Das hat noch nie funktioniert. Auf dieIdee kommt man an anderen Stellen nicht.
Sollten wir es nicht allein der Bestenauslese überlas-sen?
Das ist auch ein häufig gehörtes Argument. Es wäre jaschön, wenn es die Bestenauslese gäbe. Dass alle bishe-rigen Aufsichtsräte und Vorstände durch einen hartenProzess knallharter Bestenauslese gegangen seien, glau-ben allenfalls sie selber.
Das ist ein Mythos. So hat es uns auch die neue Perso-nalchefin der Telekom, Frau Professor Schick, diese Wo-che noch einmal erklärt. Gleiches haben wir vorher vonHerrn Sattelberger gehört. Gleiches bestätigt auch dieWippermann-Studie des Frauenministeriums. Hier kom-men eben andere Strukturen zum Tragen: die Loyalitä-ten, die Rituale, die Closed-Shop-Situation. Es ist teil-weise schon bitter, von wem man sich erklären lassenmuss, dass es doch nur die Besten sind, die sich durch-setzen.
Sollten wir uns mehr um andere Rahmenbedingungenkümmern? Natürlich müssen wir uns auch um andereRahmenbedingungen kümmern. Wir tun das auch. DieBetreuungssituation und die Ermunterung an Frauen,sich mehr für MINT-Berufe zu entscheiden, ist wichtig.All das alleine reicht aber auch nicht. Schauen wir nachFrankreich. Dort ist zum Beispiel die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf seit vielen Jahren deutlich einfacher.Trotzdem hat es auch dort erst der Quote bedurft, umFrauen stärker in Führungspositionen zu platzieren. Wirmüssen also beides tun. Lasst uns doch nicht immer nurdas Entweder-oder bedenken, sondern wir müssen incumulo alles zusammentun, um an den wirklichen Ver-hältnissen in Führungspositionen etwas zu verändern.Ich freue mich, dass ich hier sehr viel Bereitschaft er-lebt habe, konstruktiv daran mitzuwirken, zu Regelun-gen zu kommen, die auch wirklich funktionieren. Hierwurden einige Dinge kritisiert. Das kann man sich be-stimmt noch einmal im Einzelnen anschauen. Im De-zember haben wir ja eine Anhörung dazu. Wir müssendann aber auch zu konstruktiven Vorschlägen dafürkommen, wie das klappen kann.
Der Antrag hat natürlich auch eine taktische Seite. Esgibt noch einen anderen Antrag der SPD im Verfahren.Sie müssen jetzt schon einmal sagen, was denn nun gel-ten soll. Geht es auch um Vorstände? Ja oder nein? Wel-che Sanktionen sollen es denn nun sein?
– Nein, das zeigt leider – das ist dann doch ein Stückweit Kritik –, dass es Ihnen auch sehr viel um Taktikgeht.
Ich finde das auch schade vor dem Hintergrund, dassein Antrag aus dem Bundesrat kommt, ohne ein eindeu-tiges ausschließliches Parteisiegel zu tragen. Er kommtaus Hamburg, das ist klar, aber er wird von der Minister-präsidentin des Saarlandes und vom Ministerpräsidentenaus Sachsen-Anhalt unterstützt. Ich weiß nicht, wer dasschon mitbekommen hat: Mittlerweile hat sich auch un-sere Landtagsfraktion des Landtages Baden-Württem-berg diesen Antrag zu eigen gemacht.
Sie wissen, dass es nicht ohne Bedeutung ist, dass Siediesem Antrag Ihr parteipolitisches Siegel jetzt noch ein-mal zusätzlich aufgedrückt haben. Wir brauchen darüberheute aber noch nicht zu entscheiden. Ich hoffe, dass wirauch aufgrund dieses Antrages in eine weiterhin konst-ruktive Beratung eintreten werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Christel Humme für die SPD-Frak-tion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24567
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Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Frau Winkelmeier-Becker, ich gratuliere Ihnen zu diesermutigen Rede.
Ihre mutige Rede zeigt aber auch, dass ich Ihnen eineQuote in Ihrer Partei gewünscht hätte. Dann hätten Sie inIhrer Fraktion mehr Unterstützung, und wir wären si-cherlich gemeinsam schneller zu einem Konsens gekom-men.„Willkommen in der Macho-AG.“ In Sachen weibli-ches Topmanagement sei Deutschland ein Entwick-lungsland. – Das war vor einigen Jahren die Feststellungin der Zeitschrift Wirtschaftswoche. Die SüddeutscheZeitung schrieb, das deutsche Topmanagement sei sofrauenfreundlich wie Saudi-Arabien.
In der Tat, 2006 gab es in den Vorständen der200 größten Unternehmen nur 1 Prozent Frauen, und inden Aufsichtsräten waren sie mit 8 Prozent vertreten.Herr Harbarth, Sie behaupten, es habe sich in den letztenJahren sehr viel getan. Schauen wir doch einmal genauhin, was sich in der Macho-AG geändert hat.Der Anteil der Frauen in Vorständen ist von 1 Prozentauf sage und schreibe 3 Prozent gestiegen und der inAufsichtsräten von 8 auf 12 Prozent. Das ist den Arbeit-nehmerinnen auf der Arbeitnehmerbank zu verdanken.
Dieses Schneckentempo, Herr Harbarth, wollen wirnicht mehr haben; denn dann würden wir 120 Jahre war-ten, bis wir einen Anteil von 40 Prozent in den Vorstän-den erreicht hätten, und 60 Jahre, bis wir einen Anteilvon 40 Prozent in den Aufsichtsräten hätten. Es isthöchste Zeit für eine verbindliche Quote.
Dabei gibt es doch schon in der Gesellschaft – FrauWinkelmeier-Becker hat es aufgezeigt – einen breit an-gelegten Konsens von Männern und Frauen über allepolitischen Lager und gesellschaftlichen Schichten hin-weg. Das haben die Nürnberger Resolution von 2009,die Berliner Erklärung von 2011, die Initiative der Jour-nalistinnen „Pro Quote“, der aktuelle Vorstoß der Medi-zinerinnen „Pro Quote in der Medizin“ und schließlichder Bundesratsbeschluss zusammen mit der CDU am21. September 2012 deutlich gemacht. Der Druck imKessel wird doch immer größer. Es ist Zeit, dass sichauch parteiübergreifend im Bundestag etwas bewegt.
Die feste Quote von 40 Prozent ist das Ziel der SPD. Wirwollen nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.Wir wollen Taten sehen und in der Gleichstellung einenSchritt vorwärtskommen.Erst diese Woche hat Deutschland vom World Econo-mic Forum wieder einmal den Spiegel vorgehalten be-kommen: Deutschland ist im Gleichstellungsranking vonPlatz 11 im letzten Jahr auf Platz 13 abgerutscht.
Vor fünf Jahren, 2007, waren wir als eine der größtenVolkswirtschaften auf Platz 6. Mittlerweile haben unsalle skandinavischen Länder, Island, Irland, die Nieder-lande und die Schweiz überholt. Die Gründe für dieseschlechte Note sind im Wesentlichen zwei Dinge: ers-tens die geringe Beteiligung der Frauen in Führungsposi-tionen und zweitens die unglaublich große Lohnlückevon 22 Prozent.Ich glaube, mit dieser Regierung drohen wir weiterabzurutschen. Warum? In der Quotenfrage ist sie zer-stritten. Zum Thema „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“gibt es noch nicht einmal im Ansatz einen Vorschlag.Das ist schwarz-gelbe Realität. Es reicht nicht, am EqualPay Day Klagelieder anzustimmen oder über mangelndeFrauenbeteiligung zu jammern. Es reicht nicht, sich vorkonkreten Entscheidungen zu drücken, weil Sie immernoch dem Irrglauben verfallen sind, Sie schadeten damitder Wirtschaft, Herr Buschmann und Herr Harbarth.Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Mit gemischten Teams– auch Frau Winkelmeier-Becker hat das betont –, mitFrauen in der Führung sind Unternehmen eindeutig er-folgreicher.
Ich bedauere, dass die Kommissarin Reding mit ih-rem Vorstoß zur Einführung einer festen Quote bis jetztgescheitert ist. Mal sehen, was im November kommt. Esgab Vorbehalte, auch von der deutschen Regierung. Vorallem von der FDP wird bezweifelt, ob Europa so weit-reichende Einflüsse auf das Wirtschaftsgeschehen habendarf.
Ich frage Sie von der FDP: Darf es möglich sein, dassdie Gleichstellung vor den Toren der Betriebe halt-macht? Ich sage: Sicher nicht! Welchen Wert hätte sonstArt. 3 des Grundgesetzes – das wurde vorhin schon vonHerrn Egloff zitiert –, in dem der Staat aufgefordertwird, die Gleichberechtigung von Männern und Frauendurchzusetzen? Ich wünsche Frau Reding viel Kraft.Hoffentlich bleibt sie bei der verbindlichen Quote undverwässert ihren Gesetzentwurf nicht nach dem Konzeptwirkungsloser Schröder’scher Flexiquote. Dann solltesie es besser bleiben lassen.
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24568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Christel Humme
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Herr Harbarth, Sie haben völlig recht: Die feste Quotealleine wird in Deutschland keine Gleichstellung garan-tieren. Sie wird ein Baustein sein müssen, ein Bausteinin einem umfassenden gleichstellungspolitischen Kon-zept. Sie wäre allerdings – das wäre sie mit Sicherheit –ein Signal dafür, wie ernst es uns mit der Gleichstellungvon Frauen und Männern ist.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die SPD-Bundes-tagsfraktion hat ein umfassendes gleichstellungspoliti-sches Konzept.
Wir wollen eine 40-Prozent-Quote für Aufsichtsräte undVorstände; der entsprechende Gesetzentwurf liegt demBundestag zurzeit zur Beratung vor. Frau Möhring, da-rüber werden wir sicherlich noch diskutieren. Wir wol-len gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit. Wir wolleneine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dafürwollen wir das Elterngeld weiterentwickeln und dieGanztagsbetreuung ausbauen, aber sicherlich kein Be-treuungsgeld. Wir wollen das Ehegattensplittung refor-mieren und Minijobs in sozialversicherungspflichtigeBeschäftigungsverhältnisse umwandeln. Sie sehen: DieSPD hat mehr in ihrem Konzept als nur die Quote. Esgeht um ein konsequentes gleichstellungspolitischesKonzept und nicht, wie Sie behaupten, nur um die Quoteund um sonst nichts.
Ich sage Ihnen auch: Bedauerlicherweise ist die Re-gierung – mit einer Frau als Bundeskanzlerin, mit einerFrau als Arbeitsministerin und mit einer vermeintlichenFrauenministerin – von solch einem Konzept meiner An-sicht nach meilenweit entfernt – und mit Herrn Kauderauch.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, nächstes Jahr fin-den viele Aufsichtsratswahlen statt. Lassen Sie uns imParlament ein Zeichen setzen und gemeinsam eine ge-setzliche Quotenregelung auf den Weg bringen! Dafürgibt es ab heute eine reale Chance. Das ist ein Angebotan Sie, Herr Kauder, dem auch Sie zustimmen können.Wer die verbindliche gesetzliche Quote nicht vernünftigregeln will, der nimmt die Frauen nicht ernst. Gleichstel-lungspolitisch wird man so auch in anderen Bereichenscheitern.Schönen Dank.
Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wirhaben in den letzten Monaten hier im Plenum schon sehrhäufig über die Frage diskutiert, wie wir den Anteilweiblicher Führungskräfte in Spitzenpositionen derdeutschen Wirtschaft steigern können. Wir sind uns ei-nig: Dieser Anteil ist noch viel zu gering und passt nichtzum Ausbildungsstand der Frauen, da der Anteil derHochschulabsolventinnen über dem Anteil männlicherAkademiker liegt. Wir brauchen mehr Frauen in Füh-rungspositionen, und zwar nicht nur in Vorständen undAufsichtsräten, sondern überall dort, wo Entscheidungengefällt werden.Allerdings halten wir Liberale – da sage ich Ihnennichts Neues – eine Zwangsquote für den denkbarschlechtesten Weg. Der Staat hat sich aus unternehmeri-schen Entscheidungen herauszuhalten. Wie wir geradeam Beispiel der EU-Kommission erleben durften, stehenwir damit keineswegs alleine da. Ich bin nicht über-rascht, dass Frau Reding am Dienstagabend mit ihrerEU-Quoten-Forderung für Aufsichtsräte gescheitert ist.Es ist bezeichnend, dass es ausgerechnet drei Kommis-sarinnen waren, die das Projekt Zwangsquote verhinderthaben.Aus der Kommission ist zu hören, dass der Begriff„Quote“ im neuen Vorschlag von Frau Reding gar nichtmehr auftauchen darf. Das finde ich sehr interessant. Esgeht laut einem FAZ-Bericht eher darum, Unternehmenzu bewegen, den geringen Frauenanteil in Führungsposi-tionen auszubauen, und zwar durch ein – ich zitiere –„faires, transparentes Verfahren“. Das entspricht genaudem, was wir als FDP-Fraktion seit langem fordern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen, aus diesem Grund wird die FDP-Fraktion Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zu-stimmen. Ich mache aber keinen Hehl daraus, dass ichIhrem Gesetzentwurf, was die relativ langen Übergangs-fristen betrifft, durchaus etwas Positives abgewinnenkann. Dazu, wie Sie in Ihrem Gesetzentwurf auf mehrals einer Seite das Grundgesetz auslegen, muss ich Ihnenallerdings sagen: Hier habe ich eine ganz andere Auffas-sung. Da können Sie, Frau Künast – sie hört leider nichtzu –, wie beim letzten Mal auch heute gerne wieder mitdem Grundgesetz wedeln und Art. 3 Abs. 2 Grundgesetzvortragen.
Für mich zählt die unmissverständliche Aussage inArt. 3 Abs. 3 Grundgesetz, in dem es heißt:Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seinerAbstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, sei-ner religiösen oder politischen Anschauungen be-nachteiligt oder bevorzugt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24569
Nicole Bracht-Bendt
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Wenn das Thema Quote für Aufsichtsräte wieder ein-mal auf der Tagesordnung steht, wird automatisch dasBeispiel Norwegen als vorbildlich herausgestellt. Daswar auch heute schon der Fall. Aber auch in Norwegenhat die Quote nicht das bewirkt, was sie sollte, nämlichdass die Zahl der Frauen in Aufsichtsräten insgesamtsteigt.
In Wirklichkeit ist es doch so, dass eine Elite von rund70 Topmanagerinnen 300 Aufsichtsratsmandate auf sichvereint.Warum Sie im Bundestag nicht schon zu rot-grünenZeiten eine Quote gefordert haben, sondern ausgerech-net zu einem Zeitpunkt, an dem sich etwas bewegt, einenGesetzentwurf dazu vorlegen, erschließt sich mir nicht.Laut einer neuen Untersuchung wurden rund 40 Prozentaller neu zu besetzenden Führungspositionen im vergan-genen Jahr an Frauen vergeben. Das ist immer nochnicht der große Wurf – das gestehe ich ein –, aber es istein klarer Trend. Wir brauchen keine gesetzlichen Quo-tenregelungen. Das sage nicht nur ich, sondern das istdie Meinung der meisten Menschen, auch der überwie-genden Zahl der Frauen.Wir brauchen gesellschaftliche Akzeptanz. Diese lässtsich nicht per Gesetz verordnen. Ich bin sicher, dass wirhier auf einem guten Weg sind.
Die FDP-Fraktion hat im vergangenen Jahr ein Posi-tionspapier für mehr Frauen in Führungspositionenvorgelegt, und zwar unter dem Motto „Rahmenbedin-gungen für mehr Teilhabe verbessern“. Einige Stich-worte hieraus sind:Erstens. Grundlagen für mehr Frauen in Führungs-positionen schaffen. Dazu gehört der Führungskräf-tenachwuchs. Hier müssen unbedingt die Bedingungenverbessert werden. Nicht die oberste Hürde ist dieschwerste, sondern die darunter: Auf der zweiten Ebenemüssen mehr Frauen im operativen Geschäft gefördertwerden.
Zweitens. Flexibilisierung von Arbeitszeiten. Das isterklärtermaßen ein häufig genannter Wunsch von Müt-tern und Vätern, auch von solchen in Führungspositio-nen.Drittens. Verbindliche Berichtspflichten und transpa-rente Selbstverpflichtungen. Das sind sozusagen Quoten,die sich die Unternehmen selbst geben. Wenn das auffreiwilliger Basis geschieht, sind auch wir Liberalen füreine Quote.
Meine Damen und Herren, beim Thema gleichberech-tigte Teilhabe von Frauen und Männern in Führungsgre-mien konzentrieren wir uns meiner Meinung nach vielzu sehr auf die börsennotierten DAX-Unternehmen. Inden mittelständischen Unternehmen sind Frauen sowohlals Unternehmerinnen als auch in leitender Positionlängst keine Exoten mehr. Weit über 20 Prozent beträgtder Anteil von Chefinnen und leitenden Mitarbeiterin-nen.Warum funktioniert das im Mittelstand viel besser?Diese Frage sollten wir uns häufiger stellen.
Wenn es nach den Erfahrungen von Personalberaterngeht, stehen die Zeichen gut, dass auch große Unterneh-men nachziehen. Bei allen Führungspositionen, für dieBewerber gesucht werden, heißt es: Es sind explizitKandidatinnen erwünscht.Ich gebe zu: Dieser Wandel ist zum Teil vermutlichauf die öffentliche Debatte über eine staatliche Frauen-quote zurückzuführen. Das ist auch gut so. Dann hättedieser unerträgliche Streit aus meiner Sicht wenigstensetwas Gutes bewirkt.
Ich möchte zum Schluss noch auf eines hinweisen,das mir in jeder Quotendiskussion extrem missfällt. Ge-setzlich verordnete Quoten sind auf Ergebnisgleichheitausgerichtete Vorgaben, also nichts anderes als Planwirt-schaft.
Dieser unsägliche Kollektivismus steht in krassem Wi-derspruch zu unserer freiheitlichen Gesellschaftsord-nung.
Die FDP-Fraktion bleibt dabei: Wir wollen keineQuote für die Aufsichtsräte.
Wir sind sicher, dass wir es auch ohne eine Quote hinbe-kommen und dass die Zeiten, in denen dezentes Graudas Bild der Aufsichtsräte und Vorstände prägt, auchohne eine Zwangsquote ein Ende haben.
Danke.
Das Wort hat nun Yvonne Ploetz für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichdenke, in der Debatte wurde eines klar: Wir sind uns alle
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24570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Yvonne Ploetz
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einig, dass Frauen ein strukturelles Karriere-Handicaphaben und dass wir dringend etwas dagegen tun müssen.Umso unerträglicher ist es für mich, dass es bei die-sem Gezerre um die Frauenquote immer noch kein Endegibt. Umso unerträglicher ist für mich auch, dass dieQuote auf EU-Ebene diese Woche wieder ausgebremstwurde.
Deutschland hat sich nur zu einer sehr mutigen Enthal-tung durchgerungen, und das, obwohl wir gerade jetztein sehr couragiertes Signal in Richtung Quote dringendgebraucht hätten.2013 ist das Superwahljahr der Aufsichtsräte. VielePosten werden neu besetzt. Ich frage mich ernsthaft:Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie damit beginnen,männliche Machtzirkel zu knacken?
Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie damit beginnen, dieTüren für Frauen in Spitzenjobs zu öffnen? Wann, wennnicht jetzt, wollen Sie mit sozialer Gerechtigkeit undGleichberechtigung am Arbeitsmarkt beginnen?
Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie Frauen die Möglich-keit eröffnen, andere Frauen nachzuziehen und zu för-dern? Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie damit begin-nen, in den Unternehmen die Weichen in RichtungGleichberechtigung zu stellen?Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt dazu. Um alldas geht es, wenn wir über die Quote reden. Es geht abernicht etwa darum, dass das eventuell der Wirtschaftdient.Dennoch möchte ich heute einen Satz dazu verlieren.Seit der letzten Woche wissen wir, dass die Quote unteranderem auch volkswirtschaftliche Vorteile mit sichbringt. 100 Milliarden Euro mehr in der Staatskasse istschon etwas, über das man reden sollte. Ich finde, dassman auch darüber nachdenken sollte, die Krise als frau-enpolitische Chance zu nutzen.Das ist dank der schwarz-gelben Blockade reine Zu-kunftsmusik. Ich beschäftige mich gerade mit etwasganz anderem, nämlich mit den vorläufigen Ergebnissendes 4. Armuts- und Reichtumsberichts. Diese belegennämlich, dass die ungleichen Chancen von Frauen undMännern auf dem Arbeitsmarkt mit dafür verantwortlichsind, dass auf der einen Seite privater Reichtum rasantzunimmt und auf der anderen Seite das öffentliche Ver-mögen rasant abnimmt.Ein Forschungsprojekt der Internationalen Arbeits-organisation, ILO, bestätigte, dass die Entgeltungleich-heit und der hohe Anteil von Frauen in Minijobs mit ver-antwortlich dafür sind, dass die Schere zwischen Armund Reich in Deutschland immer weiter auseinander-geht. Sie befeuern das aktuell auch noch, indem Sie dieMinijobs ausweiten, und zwar ohne Rücksicht auf Ver-luste aufseiten der Frauen, die bewiesenermaßen heuteArmutslöhne und morgen Armutsrenten beziehen. Ichdenke, beides ist völlig unerträglich.
Ich muss Ihnen von der Union recht geben, wenn Siesagen, dass die Forderung nach mehr Frauen in Auf-sichtsräten nicht weit genug geht. Das sehe ich genauso.Darüber sollten Sie aber auch einmal mit Ihrer Frauen-ministerin reden, die seit Beginn ihrer Amtszeit als frau-enpolitische Mottenkugel unterwegs ist und alles zurSeite schiebt, was mit Frauenpolitik zu tun hat.
Unterm Strich bleibt stehen: Die Armutsfalle Mini-jobs, Niedriglöhne und Lohnunterschiede zwischenMann und Frau müssen zurückgedrängt werden. Altba-ckene Unternehmenskulturen müssen verändert werden.Wir brauchen ein Entgeltgleichheits- und ein Wahlar-beitszeitengesetz. Wir brauchen eine Mindestquotierungvon 50 Prozent für Aufsichtsrats- und auch für Vor-standsposten; das sehe ich als vordringlich an. Wir brau-chen aber auch eine Individualbesteuerung anstatt einesEhegattensplittings. Wir brauchen Kitaplätze statt Be-treuungsgeld.Außerdem brauchen wir endlich eine Aufwertung dersogenannten Care-Tätigkeiten, also der Sorgearbeit.
Pflege und Erziehung bleiben seit jeher sehr versteckt infamiliären Kreisen und werden von Frauen – meistensunentgeltlich – erledigt. Wenn diese Tätigkeit dann dochberuflich ausgeübt wird, zum Beispiel als Kranken-schwester, als Hebamme, als Sozialarbeiterin oder alsAltenpflegerin, dann leben diese Frauen oftmals existen-ziell am Rande der Gesellschaft.Ich verlange heute nicht mehr und nicht weniger, alsdass wir gemeinsam eine Care-Revolution vorantreiben.Die Arbeit am Menschen darf niemals weniger wert seinals die Arbeit beispielsweise mit Geld.Anstatt sich den zahlreichen Aufgaben zu stellen, fuhrFrau Schröder zum Beispiel in der letzten Woche zurKonferenz „Männerpolitik“.
Ich finde, es war sehr peinlich, dass ihr dort vom öster-reichischen Arbeitsminister Hundstorfer gesagt wurde,dass er sehr wohl eine feste Quote bevorzuge. Ich zitiereihn: Dies sei ein Anstoß zur Veränderung. Damit ernteteer begeisterten Applaus. Das ist ein wichtiges Signal, daswir brauchen.
Die selbstverpflichtende Flexiquote hat bis heute kei-nen Beifall bekommen. Ich glaube, das ist ein ebensowichtiges Signal.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24571
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Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörer! Nur um das klarzustellen: Wir debattie-ren heute den Gesetzentwurf des Bundesrates, der am21. September mit den Stimmen der Grünen, der SPD,der Linken und der CDU angenommen wurde und somitdie Mehrheit im Bundesrat gefunden hat.
Liebe Kollegin Möhring, natürlich geht uns das nichtweit genug. In unserem Gesetzentwurf fordern wir eineQuote von 40 Prozent. Wir werden auch sehr wohlwol-lend Ihre Änderungsvorschläge unterstützen. Wir wer-den auch den Gesetzentwurf der SPD unterstützen. Wirwollen viel mehr.Aber wir dürfen in diesem Haus doch nicht zulassen,dass das Signal, das uns der Bundesrat hierher entsandthat, sang- und klanglos untergeht.
Wenn wir uns auf diese Regierung verlassen hätten, dannwären wir doch in dieser Frage verlassen. Das zeigenuns die Reden, die hier gehalten werden.
Weil wir uns auf diese Spielchen nicht einlassen wollen,bringen wir jetzt den heute vorliegenden Gesetzentwurfein.Im Bundesrat haben mutige CDU-Ministerpräsiden-ten – Frau Kramp-Karrenbauer und Herr Haseloff – ge-sagt: Unsere Überzeugung, unser politisches Mandat istuns wichtiger als jede Parteiräson. Das müssen wir aner-kennen; denn hier geht es um die Sache.
Ich weiß sehr genau, dass wir in den Reihen des Bun-destages eine politische Mehrheit hätten. Mindestens40 Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktio-nen würden hier sofort mit Ja stimmen, wenn sie es denndürften. Geben Sie endlich an dieser Stelle den Zwangauf! Geben Sie die Abstimmung zu diesem Punkt frei!
Ich sage meinen Kolleginnen auch: Ja, ich höre zwarIhre Reden, ich höre Ihren Ruf. Aber es liegt auch in derVerantwortung jedes Mandatsträgers, frei nach seinemGewissen zu entscheiden. Dazu sind wir gezwungen.Wenn Sie von unserem Vorhaben überzeugt sind, dannstimmen Sie einfach mit Ja. Das ist relativ einfach. Ichkann es Ihnen gerne vormachen.Liebe Kolleginnen von der Koalition, Sie haben indieser Woche eine Anhörung gehabt. Sie haben vierLeute eingeladen. Drei haben Ihnen eindrücklich ge-zeigt, Sie müssen an dieser Stelle für eine feste Quotestimmen. Wir haben Expertisen ohne Ende. Wir habenZahlen, wir haben Argumente. Selbst das AuswärtigeAmt gibt inzwischen interne Papiere heraus und sagt:Wenn wir nicht mehr Frauen in die Führungsetagen be-kommen, wird dies in Deutschland zu einem Wettbe-werbsnachteil führen. Wir werden die Aufträge verlie-ren.
Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie doch zu-mindest Ihrem eigenen Haus. Die sagen es doch.
Schon im Jahre 2001 haben wir über eine Selbstver-pflichtung gesprochen. Es waren meine Fraktion und dieFraktion der SPD, die damals die Selbstverpflichtung indiesem Land durchgesetzt haben. Es hat uns nichts ge-bracht. Wir haben dazugelernt. Warum sind nicht auchSie in der Lage, dazuzulernen?
Es geht nicht um einen Selbstzweck. Es geht darum,dass wir die bestqualifizierte Frauengeneration aller Zei-ten haben, dass Frauen nicht mehr stille Teilhaber in derGesellschaft sein wollen, wenn es um Verantwortung indiesem Land geht.
Es geht darum, dass nur 16 Prozent – ich möchte dieseZahl betonen – der Aufsichtsratsmandate nach Qualifi-kation besetzt werden. Alle anderen werden nach Netz-werken besetzt. In diesen Netzwerken heißt es fürFrauen: Ihr müsst von draußen zugucken. – Das lassenwir uns nicht mehr gefallen.
Es geht auch darum, dieses Land moderner zu machen.Die französischen Ministerinnen und Minister habeneinen Brief geschrieben. Sie haben gesagt: Wir brauchendie Quote; denn wenn wir es bei der derzeitigen Ge-schwindigkeit belassen, dann ist der Fortschritt langsa-mer als eine Schnecke. Ich wünschte mir an dieser Stellein diesem Land etwas mehr französischen Mut – vondieser Regierung, von diesem Parlament. Lassen Sie unsmutig sein. Modernisierung lässt sich nicht aufhalten.Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Fortschritt geht nurmit Frauen.
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24572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
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Das Wort hat nun Carsten Linnemann für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich gebezu: Ich rede zum ersten Mal in diesem Hause zu diesemThema. Es ist sehr viel Emotionalität und Schärfe imSpiel. Das wundert mich, weil wir alle das gleiche Zielhaben: Mehr Frauen in Führungspositionen.
Es gibt unterschiedliche Wege. Diese Debatte führenwir auch in unserer Fraktion. Ich persönlich bin gegeneine starre Quote. Es gibt Kollegen, die dafür sind. Esgibt diese Debatte.
– Herr Oppermann, der Unterschied zwischen Ihnen unduns ist, dass Sie diesen Gesetzentwurf einbringen.
Sie halten Vorträge, sind im Lande unterwegs und redenüber die Frauenquote. Ihre Fraktion hat zwar den Ge-setzentwurf eingebracht. Ihr Fraktionsvorsitzender aberist noch nicht einmal hier im Parlament, wenn darüberentschieden wird. Unser Fraktionsvorsitzender, VolkerKauder, sitzt hier. Sie sehen, wie ernst wir dieses Themanehmen und wie ernst Sie es nehmen.
– Herr Oppermann, wir verstehen uns doch beim Fußballgut, dann verstehen wir uns auch hier.
Zunächst einmal zu den Argumenten. Wir müssenüber die Ursachen sprechen, übrigens auch über dieWirklichkeit. Wenn man sich das hier anhört, muss manden Eindruck gewinnen, dass wir in Deutschland flä-chendeckend ein Problem haben. Diesen Eindruck mussman gewinnen, wenn man Sie hört.
– Nein. – Sie erwecken den Eindruck, dass das, was inDax-Unternehmen abgeht, die Lebenswirklichkeit indiesem Land ist, und das ist falsch.
Sie reden – das muss man sich einmal vorstellen –über 1 800 Unternehmen. Wir haben in Deutschland3,6 Millionen Unternehmen. Das heißt, Sie reden über0,05 Prozent der Unternehmen in Deutschland. Aber Siereden überhaupt nicht über die 99 Prozent Mittelstand inDeutschland.
Kümmern Sie sich doch auch einmal um den Mittel-stand, nicht nur um die großen Unternehmen!
Im Mittelstand ist nämlich die Zahl der Frauen in Füh-rungspositionen signifikant höher als in den Großunter-nehmen. Im Durchschnitt liegt die Quote bei 30, teil-weise sogar 35 Prozent.Die zweite Wirklichkeit: Ich höre von Ihnen nichtszur Demografie, die erst jetzt voll durchschlägt. DieMenschen der Babyboomergeneration – das sind dieLeute, die zwischen 1950 und 1965 geboren wurden; daswaren 1,3 Millionen in der Spitze; heute ist es nur nochdie Hälfte – gehen ab 2015 in Rente. Das heißt, der Ef-fekt kommt ab 2015 bis 2030 mit voller Wucht.
Die BA hat ausgerechnet, dass das Erwerbspersonen-potenzial bis zum Jahr 2025 um 6,5 Millionen sinkenwird. Das heißt, wir brauchen die Frauen; das ist Reali-tät.
– Das ist keine Prognose, das ist Demografie. Sie könnennichts daran ändern.Ich möchte Sie gerne einmal in fünf oder zehn Jahrenhier erleben, wenn Sie über die Frauenquote reden. Er-innern Sie sich noch? Sie haben im Jahr 2004 hier geses-sen und wollten auch eine Quote einführen – Sie habendies sogar beschlossen –, nämlich eine Ausbildungs-quote. Das hieß damals Ausbildungsplatzabgabe. Dem-nach müssten die Unternehmen im Rahmen einer Quotebeachten, wie viele Auszubildende sie einstellen. Wennsie diese nicht beachten, gibt es eine Sanktion. Davonsprechen Sie heute nicht mehr, weil heute das Gegenteilrichtig ist. Heute werden nämlich händeringend Leutegesucht.
Herr Oppermann, Sie haben das damals verabschie-det. Herr Clement ist seinerzeit hinausgerannt und hat esnicht mit verabschiedet. Gott sei Dank hat es dann derBundesrat kassiert. Das ist die Lebenswirklichkeit inDeutschland.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24573
Dr. Carsten Linnemann
(C)
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– Nein.
Sie selbst haben doch damals den Ausbildungspaktauf den Weg gebracht, den wir konstruktiv begleitet ha-ben. Das war ein freiwilliger und erfolgreicher Ansatz.Deswegen ist der Weg, den Frau Schröder geht, richtig.
Sie wollen – das müssen Sie sich einmal vorstellen –eine Behörde mit 20 Planstellen besetzen. Sie wollenBürokatie, Sie wollen Sanktionen usw. Aber damit kom-men Sie nicht weiter. Mit staatlichem Dirigismus hat indiesem Land noch nie etwas funktioniert.
Selbst bei der EU-Kommission ist das angekommen.Sie hat sich die Argumente angehört. Die Quote wurdeabgelehnt – meinetwegen: verschoben –, weil die Reali-tät auch bei der Kommission angekommen ist.Ich nenne Ihnen nur einmal zwei, drei Zahlen, wassich in Deutschland bereits geändert hat: Im vergange-nen Jahr sind in Deutschland 40 Prozent der neu zu be-setzenden Aufsichtsratsposten in Dax-Unternehmen anFrauen gegangen. Da gibt es einen Geisteswandel. 2011haben fast alle 30 Dax-Unternehmen freiwillige Zielquo-ten vereinbart, einige sogar höher als die von Ihnen anvi-sierte Quote: Telekom 30 Prozent, Allianz 30 Prozent,Adidas 35 Prozent, Commerzbank 30 Prozent, schon ab2015.
Natürlich gibt es auch Unternehmen, die gar keineFrauen in Führungspositionen haben; das gebe ich zu. Esgibt die einen, die sagen, das liege daran, dass es ver-krustete männliche Strukturen gibt. Ja, die muss manaufbrechen. Es gibt die anderen, die sagen: Die Frauensind die Menschen, die die Kinder bekommen. Auch dasist richtig. Daran will ich nichts ändern; das ist Biologie.Insofern müssen wir etwas an den Rahmenbedingungenändern; da sind wir doch einer Meinung.Flexibilität ist richtig. Warum brauchen wir beispiels-weise in Großunternehmen oder sonst wo nach 17 Uhrnoch Besprechungen? Warum kann man das nicht ehermachen?
– Den Frauenversteher bekommen Sie jetzt zum Schluss.
– Ich meine das ernst, das ist mir in der Sache wichtig.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Frauen – übri-gens nicht nur demografisch betrachtet – Eigenschaftenbesitzen, die wir Männer gar nicht haben.
Gehen Sie einmal in eine Sitzung, in der nur Männersind. Das ist eine Katastrophe, weil jeder nur auf sich fi-xiert ist. Die Frau hat eher den Teamgedanken. Das giltauch beim Kundenkontakt.
– Frau Künast, mit einer starren Quote schaffen Sie dasnicht; da bin ich mir sicher. Ich möchte gerne sehen, wieSie in fünf oder zehn Jahren über starre Quoten spre-chen.In diesem Sinne herzlichen Dank für Ihre Aufmerk-samkeit.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Stefan Rebmann für die SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Carsten Linnemann – –
– Ja, ich habe ihn schon gesehen. Wir spielen ja auch zu-sammen Fußball.
Lieber Carsten Linnemann, das war jetzt wirklicheine tolle kabarettistische Leistung, die wir sicherlichheute Abend in der heute-show sehen können.Zur Frage, wo unser Fraktionsvorsitzender sei: Da-rüber können wir hier natürlich ausführlich diskutieren.Wir können hier aber auch darüber diskutieren, wie oftdenn Ihre Ministerinnen bei ganz wichtigen Themen ge-fehlt haben, unter anderem bei einer Diskussion zum ge-setzlichen Mindestlohn. Wir haben mehrfach versucht,die Ministerin herbeizuzitieren. Sie war jedoch nicht da.Insofern können wir diese Diskussion gerne miteinanderführen.
Wir führen heute sowieso eine recht seltsame Diskus-sion.
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24574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
(C)
(B)
Herr Kollege Rebmann, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Hinsken? – Ja oder Nein?
Ja, mache ich.
Verehrter Herr Kollege Rebmann, können Sie mir er-
klären, warum bei dieser wichtigen frauenpolitischen
Debatte – es geht immerhin um Frauen in Führungsgre-
mien – nur sechs Kolleginnen der SPD anwesend sind –
das sind etwa 12 Prozent aller Frauen in der SPD-Frak-
tion –, während weit über 25 Prozent der Frauen der
CDU/CSU-Fraktion anwesend sind?
Das hebt sich insofern positiv ab, als es zeigt, dass man
daran interessiert ist, einen Dialog zu führen, und dass
man um ein vernünftiges Ergebnis besorgt ist.
Lieber Herr Kollege, gehen Sie einmal davon aus,dass unsere Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Frak-tion ihre Arbeit in diesem Deutschen Bundestag so ver-richten, wie es sich gehört, und dass sie derzeit ihrer Tä-tigkeit nachgehen. Sie allerdings haben dafür Sorge zutragen, dass genügend Mitglieder Ihrer Fraktion anwe-send sind, um den Gesetzentwurf, über den wir gleichabstimmen werden, ablehnen zu können. In Ihren eige-nen Reihen sind nämlich genügend Fürsprecherinnenund Fürsprecher für unseren Gesetzentwurf.
Um eine Abstimmungsniederlage zu verhindern, ist IhreFraktion hier so zahlreich vertreten.
– Ach, Herr Kauder, jetzt lassen Sie es doch gut sein.
– Genau. Dann dreht es sich noch um Qualität.Noch einmal: Wir führen heute doch wirklich eineseltsame Debatte. Praktisch jeder hier in diesem Haushat erklärt: Wir brauchen mehr Frauen in Führungsgre-mien, wir müssen etwas tun. – Das war auch in den letz-ten Debatten immer so. Wenn wir uns die Debatten derletzten Jahre noch einmal vor Augen führen, dann stellenwir fest: Immer wieder bestand quer durch dieses HausÜbereinstimmung darüber, dass man etwas tun müsse.Ich frage mich dann schon allen Ernstes: Wenn in die-sem Hause ein derart breiter Konsens besteht, warum istdann noch nichts geschehen? Sind das alles nur Lippen-bekenntnisse? Warum sind wir noch nicht vom Redenzum Handeln gekommen?
Wir hätten diese Debatte schon längst abschließen undein entsprechendes Gesetz vorlegen können.Ich weiß, jetzt kommen – das haben wir schon ge-hört – die üblichen Einwände aus den Reihen der Koali-tion. Es heißt, dieser Antrag, der auf die Initiative Ham-burgs zurückgeht und – auch das ist schon gesagtworden – von der CDU im Saarland, in Berlin, in Sach-sen-Anhalt und, wie wir gerade eben erfahren haben, of-fensichtlich auch von der CDU-Landtagsfraktion in Ba-den-Württemberg mitgetragen wird
– das ist aber gesagt worden – und der offensichtlichauch in Ihren Reihen eine ganze Reihe von Fürspreche-rinnen und Fürsprechern findet, sei nicht umsetzbar, ersei ein bürokratisches Monster und überdies nicht ziel-führend. Außerdem sei das alles im Grunde eine Gänge-lung der Wirtschaft, es sei staatliche Bevormundung,und überhaupt sei eine freiwillige Lösung die bessereAlternative. Idealerweise wird diese freiwillige Lösungmit einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaftund einer unverbindlichen Sanktionierung kombiniert.Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kollegin-nen und Kollegen, die Wahrheit ist doch: Mit solchenIdeen täuscht man Aktivitäten vor, ohne wirklich etwastun zu müssen.
Diese Regierung rührt keinen Finger, wenn es umGleichstellungsthemen geht.Sie wissen ganz genau, dass 70 Prozent der Menschenim Niedriglohnsektor in Deutschland Frauen sind, unddennoch bleibt diese Regierung bei ihrem Nein zum flä-chendeckenden Mindestlohn. Sie wissen ganz genau,dass Frauen bei gleicher Arbeit 23 Prozent weniger be-kommen als Männer, in Führungspositionen sogar30 Prozent weniger als Männer; aber auch da kommtnichts aus Ihren Reihen. Nein, Sie setzen mit Ihrem Be-treuungsgeld sogar noch einen drauf. Sie ignorieren da-bei alle, die Ihnen sagen: Das Betreuungsgeld ist gegenFrauen gerichtet, beschäftigungsfeindlich, falsch und fürdie deutsche Wirtschaft alles andere als sinnvoll.Meine Damen und Herren, in Vorstandsetagen habenwir ein Verhältnis von 3 Frauen zu 97 Männern. Unter10 Aufsichtsräten befindet sich nur eine einzige Frau.
Ein Drittel der 160 DAX-Unternehmen hat keine Frauim Führungsgremium. Wenn es stimmt, dass Frauen– bedauerlicherweise im Gegensatz zu uns Männern –mit beiden Hirnhälften denken können und damit die Fä-higkeit besitzen, Wissen und emotionale Intelligenz zukombinieren,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24575
Stefan Rebmann
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dann bedeutet das: Ein Drittel der Dax-Unternehmenverzichtet auf zusätzliche Fähigkeiten und zusätzlichesWissen. Das bedeutet auch: In diesen Dax-Unternehmenwird faktisch zu 100 Prozent mit nur einer GehirnhälfteGeschäftspolitik betrieben.
Und trotzdem kommt von der rechten Seite des Hausesder Hinweis: Die Wirtschaft hat andere Probleme; dasregelt die Wirtschaft schon selbst; das machen die auffreiwilliger Basis.Unser Grundgesetz ist da schon wesentlich weiter. Eswurde heute schon mehrfach auf Art. 3 GG hingewiesen.Ich sage: Wir sind von seiner tatsächlichen Durchset-zung, von der Beseitigung bestehender Nachteile weiterentfernt, als wir denken und es uns lieb sein kann. LiebeKolleginnen und Kollegen, wenn Sie schon nicht auf dieOpposition und auch nicht auf die Frauen in Ihren eige-nen Reihen hören, dann nehmen Sie zumindest dasGrundgesetz zur Hand und schauen einmal hinein.Die Begründung, Sie seien gegen staatliche Zwängeund deshalb auch gegen eine Quotenregelung, nehme ichIhnen nicht ab. Ihnen liegen dieselben Daten und Faktenvor wie auch uns.
Wir haben doch die bestqualifizierten Frauen aller Zei-ten. Sie wissen doch, dass Frauen im Durchschnitt diebesseren Abschlüsse machen. Frauen sind in vielen Be-reichen meist besser qualifiziert als Männer. Frauen stel-len mehr als die Hälfte der Bevölkerung, und trotzdemsind sie in den Führungsetagen kaum aufzufinden. Daskann nicht daran liegen, dass die Frauen nicht wollen;vielmehr lasst ihr sie einfach nicht. Deshalb brauchenwir jetzt endlich eine gesetzliche Lösung.
Wer eine gesetzliche Lösung ablehnt, kann das nur auseinem Grund tun: Er hat gar kein Interesse daran, diesesProblem tatsächlich anzugehen. Sie verteilen Beruhi-gungspillen und wollen keine wirkliche Verbesserung fürFrauen. Allen Kollegen hier im Haus, die wirklich fürVerbesserungen stehen, sage ich: Gleichstellungspolitikist nicht nur Sache der Frauen. Das geht uns Männer ge-nauso an. Deshalb gilt es, heute hier in diesem HauseFarbe zu bekennen.Ich hätte gerne gesehen, dass sich mehr Männer ausden Reihen der Koalition wie Herr Klimke für eine ge-setzliche Quote ausgesprochen hätten und sich mehrFrauen so mutig zu Wort gemeldet hätten wie FrauPawelski oder wie Frau Winkelmeier-Becker eben ge-rade; sie hat es schon im Dezember und im März bei derDebatte hier in diesem Haus getan. Meinen hohen Res-pekt, Frau Winkelmeier-Becker, vor Ihrer Position undvor Ihrem Mut, sich hierhinzustellen und gegen Ihre ei-gene Fraktion zu reden.
Vielleicht haben die Männer in der Koalition aber auchnur Angst davor, dass Frauen wie Sie den Männern ir-gendwelche Posten streitig machen oder etwas wegneh-men.
So oder so: Blockieren und Ausweichen als Aktivitätenzu verstehen, ändert nichts an – –
– Wie bitte? Sie reden hier von „geistiger Tiefflieger“?Oder habe ich das jetzt gerade falsch verstanden, HerrKauder?
– Ich diskreditiere mich selber? Ich diskreditiere michnicht selber, Herr Kauder. Ich sage Ihnen: Sie diskredi-tieren sich selber mit Ihren Äußerungen, mit Ihrer Ver-weigerungshaltung. Ich rate Ihnen: Stimmen Sie unse-rem Gesetzentwurf zu.Natürlich müssen wir noch vieles machen; wir habenauch noch eine andere Vorlage. Ich sage Ihnen: WennSie nicht zustimmen, wenn Sie den Frauen weiterhin diekalte Schulter zeigen, dann gehören Sie abgewählt.
Die nächsten Wahlen stehen vor der Tür.Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Noch einen Satz. Herr Kauder – –
Sie müssen Schluss machen, Herr Kollege.
Gut.
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Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol-
lege Kauder.
Ich wollte nur darauf hinweisen: Wenn man hier mit
einem solchen Anspruch antritt, wie Sie ihn gerade for-
muliert haben, dann muss man sich auch an der Realität
messen lassen, die Grüne und SPD in Baden-Württem-
berg geschaffen haben.
Dort sind gerade einmal 4 von 27 neu geschaffenen B-3-
Stellen – nicht alte, sondern neu geschaffene – an Frauen
gegangen.
27 neu geschaffene B-3-Stellen, 4 Frauen! Ich sage Ih-
nen: Nehmen Sie den Mund nicht so voll.
Kollege Rebmann, wollen Sie darauf erwidern? –
Nein.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 17/11139 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die
Federführung beim Rechtsausschuss liegen soll. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 45 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Umsetzung eines Maß-
nahmenpakets zur Stabilisierung des Finanz-
– Drucksache 17/11138 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Steffen Kampeter das Wort.
S
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich denke noch ein bisschen darüber nach, wer vonden drei Troikanern bei der SPD für die Frauenförderungzuständig war.
Aber das war Thema der letzten Debatte.Wir beschäftigen uns mit dem Finanzmarktstabilisie-rungsgesetz. Es gilt, ein auf den Finanzmärkten verlorengegangenes wichtiges und knappes Gut zurückzugewin-nen: das Gut Vertrauen. Gerade das Kreditwesen ist vonVertrauensbeziehungen geprägt. Die Wortbedeutungmacht dies deutlich.
Ich will meine Rede dazu nutzen, um deutlich zu ma-chen, dass die Bundeskanzlerin, Angela Merkel, aber ins-besondere auch der Finanzminister, Wolfgang Schäuble,nach dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothersund den Festlegungen des Gipfels von Pittsburgh auf na-tionaler und internationaler Ebene dafür gesorgt haben,dass sich der Finanzkapitalismus immer stärker am Leit-bild der sozialen Marktwirtschaft orientiert. Das halte ichangesichts der Größe der Herausforderung für eine res-pektable Bilanz.Ich will auf einige Punkte hinweisen, die zur Einord-nung des heute hier vorgelegten Gesetzentwurfes wich-tig und notwendig sind. Es ist uns gelungen, mehr Ver-antwortung im Finanzwesen zu mobilisieren, indem wirSchritt für Schritt dort, wo es geboten ist, mehr haftendesEigenkapital vorgesehen haben. Schon Walter Euckenhat festgestellt: Nur wer haftet, handelt verantwortlich.In diesem Eucken’schen Sinne bauen wir das Finanzsys-tem um.Neben der abstrakten, auf Kapital basierenden Verant-wortung wollen wir, dass denjenigen, die im Kreditwe-sen tätig sind, eine stärkere persönliche Verantwortungzukommt. Beispielsweise haben wir erstmals durchge-setzt, dass in Europa Hedgefonds-Manager in den Marktnicht einfach eintreten können, sondern dass sie dafüreine Zulassung brauchen. Gegen den teilweise nachvoll-ziehbaren Widerstand der deutschen Anlageberaterkonnten wir in diesem Bereich unsere Forderung nachhöherer persönlicher Qualifikation durchsetzen.Wir konzentrieren uns in unseren Aktivitäten nichtnur auf die Anbieter von Finanzdienstleistungen; da-rüber hinaus haben wir durch den verstärkten Schutz derMenschen, die in Deutschland bei einer Bank Geld anle-gen, erhebliche Verbesserungen erreicht.Hinzuweisen ist auch darauf, dass wir die Regulie-rung des Handels mit Finanzmarktprodukten erheblichverbessert, intensiviert und in wesentlichen Bereichenauch verschärft haben. Den Handel mit bestimmten Pro-dukten, deren Sinnhaftigkeit keiner mehr zu begründenwusste, haben wir – wie die Leerverkäufe – einge-schränkt und letztendlich verboten.Wir haben in diesen Tagen eine Initiative gestartet,um den sogenannten Hochfrequenzhandel stärker zu re-gulieren. Der graue Kapitalmarkt ist ebenfalls Gegen-
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Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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stand unserer Regulierungsbemühungen. Wir wollenweg vom regellosen Kapitalismus, und wir wollen fürdie Finanzindustrie die Prinzipien der sozialen Markt-wirtschaft durchsetzen. Das ist das Anliegen der christ-lich-liberalen Koalition.
Dazu gehört im Übrigen auch eine verbesserte Aufsicht.National bekommt sie mehr Kompetenzen. Internationalist sie stärker als zuvor verzahnt.Aber all diese Aktivitäten können Unfälle nicht ver-hindern, wie auch gute Brandschutzvorschriften einenBrand nicht immer verhindern werden. Wir brauchen da-her auch so etwas wie Feuerwehrmaßnahmen. Zwei da-von haben wir im nationalen Regelungsrahmen veran-kert: zum einen das sogenannte Restrukturierungsrechtund zum anderen den Soffin, eine abgestufte, maßge-schneiderte Möglichkeit der Reaktion auf die Unbill vonBanken- und Finanzmarktkrisen. Der Entwurf des Drit-ten Finanzmarktstabilisierungsgesetzes, den wir heuteberaten, zielt auf eine Verlängerung dieser Maßnahmenab.Auch wenn all die Schritte, die ich beschrieben habe,richtig und zielführend waren, glaube ich, dass wir aufdie Finanzmarktfeuerwehr, den Soffin, noch nicht ver-zichten können. Diese Feuerwehr muss so lange in Be-trieb bleiben, bis wir auch diese Dinge in Europa – wahr-scheinlich mit Beginn des Jahres 2015 – gemeinsamangehen werden. Insofern lautet unser Vorschlag, dieDauer der Möglichkeit, beim Soffin Mittel zu beantra-gen, bis zum Ende des Jahres 2014 zu verlängern, umauch vor dem Hintergrund der europäischen Einigungs-bemühungen voranzuschreiten.Ein weiterer wichtiger Punkt ist die stärkere Inan-spruchnahme des Finanzmarktsektors. Unser Vorschlagdazu lautet, dass wir die Finanzindustrie durch die Ver-zahnung der beiden parallel laufenden Bereiche – Ban-ken, Restrukturierung – stärker in die Pflicht nehmen.Die Finanzindustrie stärker in die Pflicht zu nehmen,heißt auf der anderen Seite, den Steuerzahler stärker zuentlasten und das Risiko bei den Eigentümern dieser Un-ternehmen und damit dort zu belassen, wo es eigentlichhingehört. Denn der Eigentümer eines Finanzinstituts istder vorrangige Ansprechpartner, wenn sein Institut inSchwierigkeiten ist und zusätzliches Kapital braucht. Ei-gentümerverantwortung ist Trumpf. Auch das ist einMarkenzeichen in diesem Bereich.
In diesem Kontext ist auch unser dritter Vorschlag zusehen: ein klarer Vorrang des Restrukturierungsrechts.Eine Bank, die kein Geschäftsmodell hat, soll durch eineMaßnahme des Soffin nicht künstlich am Leben erhaltenwerden; vielmehr soll es möglich sein, die Instrumentedes Restrukturierungsrechts, das ja europaweit vorbild-lich ist und als Blaupause für weitere Bereiche in diesemKontext genommen wird, einzusetzen. Somit würde derVorrang der Restrukturierung im Grundsatz klargestellt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Bestrebender Bundesregierung war es, in diesem Verbund einenneuen Bauplan für die Finanzindustrie im Hinblick aufsoziale Marktwirtschaft vorzulegen, aber gleichzeitignicht zu ignorieren, dass man trotz guter präventiverVorschriften auch eine Finanzmarktfeuerwehr braucht,die dann, wenn ein Unfall passiert, eingreifen kann. Vondiesen beiden Momenten, soziale Marktwirtschaft undFinanzmarktfeuerwehr, ist dieser Gesetzentwurf getra-gen.Die Bundesregierung bedankt sich bei den Koali-tionsfraktionen, dass sie diese Initiative aufgegriffen ha-ben. Wir glauben, dass Deutschland damit ein Stück weitstabiler wird und dass die Menschen, die ihr Geld beiSparkassen, Volksbanken und anderen Finanzinstitutio-nen anlegen, auch ein Stück mehr Vertrauen in diesesKreditwesen haben können. Das ist das Kernanliegendes Gesetzentwurfs.
Das Wort hat nun Carsten Schneider für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Diese dritte Fortschreibung des Finanzmarktstabilisie-rungsgesetzes ist sicherlich nicht einzig und allein dievertrauensbildende Maßnahme, auf die KollegeKampeter eben hingewiesen hat; denn zwingend not-wendig wäre neben dieser Verlängerung – vor einemJahr waren Sie ja noch der Auffassung, Sie bräuchtendas nur noch für ein Jahr –, dass wir eine stärkere Regu-lierung auf den Finanzmärkten dahin gehend zustandebringen, dass große Banken den Staat künftig nicht mehrerpressen können, indem sie gefährliche Geschäfte ma-chen, ihre Gewinne privatisieren und im Verlustfall denSteuerzahler haften lassen. Das ist nicht akzeptabel.
Herr Kollege Kampeter, darauf gibt dieser Gesetzent-wurf aber keine Antwort. Ihre Maßnahmen zur Abwick-lung von Banken sind eine Fortsetzung oder ein Aufgrei-fen eines Gesetzentwurfs von Peer Steinbrück undBrigitte Zypries, der Restrukturierungs- und Abwick-lungsmöglichkeiten enthielt, die Sie nun in einen Ge-setzentwurf gegossen haben. Das ist in Ordnung. Nichtin Ordnung ist, dass dann, wenn eine Bank einmal abge-wickelt werden sollte, was in einem Markt möglich seinmuss, dafür der Steuerzahler haftet, nicht aber der Ban-kensektor selbst.
An diesem Punkt bleiben Sie einfach deutlich zurück,und dies auf zwei Ebenen: Die erste ist die europäischeEbene, und die zweite ist die nationale Ebene. Zur natio-nalen Ebene kann man ganz klar sagen: Ihnen ist es nichtgelungen, den Bankensektor in Deutschland neu zustrukturieren.
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24578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Carsten Schneider
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Herr Kampeter, nehmen wir einmal als Beispiel die Lan-desbanken. Sie selbst haben zu einem großen Gipfel ein-geladen – ich glaube, das war im Jahre 2010 –, bei demes darum ging, wie denn der Landesbankensektor – dergrundsätzlich ein Problem ist – neu strukturiert werdensoll. Ergebnis: Fehlanzeige. Dies wird Ihnen auch vonder Europäischen Kommission bestätigt. Es ist in der Tatrichtig, dass es hier eine Lücke, gibt. Sie haben sichnicht darum gekümmert.
Der zweite Fehler betrifft die ganz zentrale Frage, werhier eigentlich dafür zahlt. Sie korrigieren sich hier indiesem Gesetzentwurf erstmals. Wenn eine Bank abge-wickelt wird, soll die Verluste also der Bankenhaftungs-fonds tragen. In diesen Fonds kommt pro Jahr aber nureine halbe Milliarde Euro hinein, weil Sie die Bankenschonen. Ich nehme die Deutsche Bank als Beispiel: Da-für, dass sie so groß und systemrelevant ist, hat sie in derRefinanzierung gegenüber Sparkassen und Kleinbankeneinen Zinsvorteil von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Ichfinde, diese 2,5 Milliarden Euro müsste man abschöpfen.
– Dies müssten Sie korrigieren, ja.
– Lesen Sie die Studie des Internationalen Währungs-fonds von Frau Weder di Mauro, einem ehemaligen Mit-glied im Sachverständigenrat, in der sie ganz klar sagt:Weil die Deutsche Bank so groß ist, dass sie nicht pleite-gehen kann, der Staat sie nicht pleitegehen lassen darf,was natürlich auch alle anderen Partner wissen, be-kommt sie so günstige Zinsen, um sich zu refinanzieren. –Ihr Wettbewerbsvorteil macht in Summe 2,5 MilliardenEuro aus. Dafür sind wir Garantiegeber. Wir bekommennur nichts. Ich finde, da müssten Sie handeln, damit un-sere Leistung auch bezahlt wird.
Hier in Deutschland schöpfen Sie mit diesem Restruktu-rierungsgesetz die Vorteile, die der Bankensektor hat,tatsächlich nicht ab, sondern lassen mehr oder wenigerdie Steuerzahler haften.Der zweite Punkt betrifft die europäische Dimension.Auf der europäischen Ebene ist zwingend notwendig,dass wir zu dem von Herrn Draghi am Mittwoch vordem Haushalts- und Finanzausschuss skizzierten Kon-zept einer stärkeren Bankenunion, eines gemeinsamstrukturierten Bankenmarktes mit klaren Regeln kom-men. Nun hat Ihre Bundeskanzlerin auf dem EU-Gipfelam 29. Juni 2012 zugesagt, eine Bankenaufsicht einzu-führen; das ist so weit in Ordnung. Aber dass die vondenjenigen Ländern, die in der Vergangenheit Schindlu-der mit ihren Banken getrieben haben, deren Bankenauf-sicht schlecht war, die sich nicht gekümmert haben unddie zu große Banken hatten – für deren Risiken müssenjetzt andere einstehen; ich denke hier an Irland und Spa-nien – verursachten Kosten vom Euro-Rettungsfonds,das heißt, vom deutschen Steuerzahler und von andereneuropäischen Steuerzahlern, getragen werden müssen,ohne dass die Banken einen Cent dafür bezahlen, istnicht akzeptabel.
Sie haben vorhin das Thema Vertrauen angesprochen.Wir haben jetzt durch die Maßnahmen der EZB ein biss-chen Ruhe. Es ist eine Scheinruhe; ich glaube nicht, dasssie lange anhält. Zwingend notwendig ist, dass wir aufeuropäischer Ebene zu einem klaren Rechtsrahmen imBankensektor kommen. Jetzt zögern Sie das aber immerweiter hinaus. Sie tun das nicht, weil Sie die Bankenauf-sicht nicht wollten, sondern deswegen, weil Sie vor derBundestagswahl keine Entscheidung wollen, dass euro-päische Banken durch deutsches Steuergeld rekapitali-siert werden. Das haben Sie aber zugesagt. Ich finde,dazu müssen Sie auch stehen. Das müssen Sie jetzt auchdurchführen, zumindest hinsichtlich der Bankenaufsicht.Das sollten Sie nicht auf die lange Bank schieben; denndas würde letztendlich zu einem Verlust an Vertrauenund höheren Gemeinkosten führen.
Eines kann ich Ihnen nicht ersparen: Die Bankenret-tung in Deutschland war nicht umsonst. Für die HypoReal Estate, für Teile der WestLB und für andere Berei-che fallen Kosten an. Wir haben schon 2008, bei der ers-ten Lesung – Kollege Kampeter, das wissen Sie ganz ge-nau –, vorgeschlagen, dass die Banken dafür haften. DieCDU/CSU hat dies damals verhindert. Sie sind jetzt zueiner anderen Einsicht gelangt. Das ist gut. Nur: IhreNichteinsicht vor vier Jahren hat dazu geführt, dass jetztdie Steuerzahler und nicht die Banken einen zweistelli-gen Milliardenbetrag finanzieren müssen; das ist nicht inOrdnung.
Der Haushaltsausschuss hat beschlossen, nochmalsExperten zu diesem Thema anzuhören, zumindestschriftlich. Wir werden konstruktiv an diesem Gesetz-entwurf mitarbeiten. Die zentralen Fragen sind unseresErachtens noch nicht beantwortet. Erstens: Wie kannverhindert werden, dass eine Bank einen Staat erpressenkann? Zweitens: Wie kann dafür gesorgt werden, dassdie Kosten einer Bankenpleite, auch rückwirkend, nichtvom Steuerzahler, sondern vom Bankensektor selbst ge-tragen werden?Vielen Dank.
Das Wort hat nun Florian Toncar für die FDP-Frak-tion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man sich gedanklich in das Jahr 2008 zurückver-setzt, als hier das Erste Finanzmarktstabilisierungsgesetzbeschlossen worden ist, wenn man sich noch einmal vorAugen führt, wie die Stimmung hier damals war, wiegroß auch die Unsicherheit darüber war, wie es weiterge-hen werde, dann muss man insgesamt feststellen, dassdie Einrichtung des Sonderfonds Finanzmarktstabilisie-rung, des sogenannten Soffin, eine Erfolgsgeschichte ge-wesen ist. Der Markt in Deutschland konnte stabil gehal-ten werden. Teilweise gab es auch eine Konsolidierung.Bestimmte Schwächen wurden abgestellt.Wichtige Teile werden abgewickelt: Große Teile derHypo Real Estate werden abgewickelt, verschwindenvom Markt; ein großer Teil der WestLB wird abgewi-ckelt, verschwindet vom Markt; die Commerzbank bauteinen ganz großen Teil der Problemposten ab. Der Soffinhat eine solche Konsolidierung möglich gemacht. Daswar die Voraussetzung dafür, dass sich die Wirtschaft er-holen konnte. Dass wir heute so ausgezeichnet dastehen,dass Deutschland in Europa ein Anker der Stabilität ist,das hat auch damit zu tun.Die Mitarbeiter der Behörde, die dafür zuständig ist– die Finanzmarktstabilisierungsanstalt in Frankfurt –,leisten im täglichen Geschäft eine ganz ausgezeichneteArbeit. Dafür sollten wir ihnen einmal einen Dank aus-sprechen.
Das Konzept, das 2008 beschlossen worden ist, hattenatürlich auch Schwächen. Zum Teil kam es auch zuFehlern. Banken hatten das Gefühl, dass sie sich daraufverlassen können, dass schon jemand kommt und ihnenhilft, dass der Staat bzw. der Steuerzahler mit Steuergel-dern einspringt, selbst dann, wenn sie Fehler gemachthaben. Entsprechend teuer war die Lösung an einigenStellen für den Steuerzahler. Insbesondere bei der HypoReal Estate hat der Staat eine ganze Menge Geld verlo-ren. Das war ein teures Unterfangen.Das hatte auch mit politischen Fehleinschätzungen zutun. Ich glaube, dass der Steuerzahler sowohl bei derHypo Real Estate als auch bei der Commerzbank eher zuviel Geld gezahlt hat. Das ist bemerkenswert, weil derFinanzminister, der das zu verantworten hatte, PeerSteinbrück hieß.
– Doch, er hat das damals gemacht, Kollege Binding.Die Hypo Real Estate wurde übernommen, als HerrSteinbrück Finanzminister war. Wenn Sie mir eine Zwi-schenfrage stellen würden, könnte ich Ihnen ausführlicherklären, welche Fehler er dabei gemacht hat.
Wenn Sie das wissen wollen, fragen Sie mich. Ich bingerne bereit, ins Detail zu gehen.Ich finde, das ist bemerkenswert, nicht weil ich derMeinung bin, dass in einem so komplexen Umfeld keinFehler passieren kann, sondern weil Herr Steinbrück im-mer wieder den Eindruck erweckt, er sei der Einzige inDeutschland, der etwas von Finanzen versteht. Ich finde,diese Beispiele zeigen, dass man diese Vorstellung ge-trost ad acta legen kann. Es sind einige Fehler gemachtworden.Wir haben in dieser Koalition die Schwächen, von de-nen ich gerade gesprochen habe, benannt und abgestellt.Wir haben 2010 das sogenannte Restrukturierungsgesetzverabschiedet. Das ist ein besonderes Insolvenzrecht fürden Bankensektor. Dabei haben wir die Punkte, die vor-her falsch gelaufen sind, aufgegriffen. Seitdem stehtnicht mehr die Frage im Vordergrund, wie der Steuerzah-ler eine Bank retten kann, die so schwere Fehler gemachthat, dass sie eigentlich vom Markt verschwinden müsste.Der Steuerzahler geht, seitdem das Restrukturierungsge-setz in Deutschland gilt – das ist jetzt seit fast zwei Jah-ren der Fall –, eben nicht mehr her und rettet Banken,egal wie das Geschäftsmodell aussieht. Jetzt sind wir inder Lage, sie abzuwickeln, sie vom Markt zu nehmen,wenn sie kein entsprechendes Geschäftsmodell haben.Damit können Banken den Staat nicht mehr unter Drucksetzen. Das ist ein ganz entscheidender Vorteil. Diesenwichtigen Schritt haben wir vor zwei Jahren gemacht.
Ich sage: Die Drohung, dass sich Banken nicht mehrdarauf verlassen können, dass der Staat, dass die Steuer-zahler helfen, wirkt. Als das in Kraft war, haben Rating-agenturen sofort das Rating der Banken herabgestuft,was dazu führte, dass die Banken mehr Zinsen für dasGeld, das sie aufnahmen, zahlen mussten; denn es istwahrscheinlicher geworden, dass sie pleitegehen konn-ten. Die Ratingagenturen haben das also sofort umge-setzt, und die Banken haben das sofort zu spüren bekom-men.Auch beim Fall WestLB, über den im letzten Jahr dis-kutiert wurde – es musste darüber verhandelt werden,wie es weitergeht –, war es, glaube ich, gut, dass wir alsBund sagen konnten: Wenn ihr euch als Eigentümernicht einigt, wenn ihr nicht zurande kommt, wenn ihrschon wieder darauf hofft, dass am Ende Steuergeldfließt, und wenn sich nichts ändert, dann werden wir mitdiesem Restrukturierungsgesetz die Probleme anders lö-sen. Einigt euch also! – Ich glaube, auch das hat gehol-fen.Das Gesetz führt dazu, dass die Grundsätze der sozia-len Marktwirtschaft wieder zum Tragen kommen, dassdie Haftung von Eigentümern wieder durchgesetzt wer-den kann und dass die Bürger sehen, dass es hier wiedergerecht zugeht und nicht derjenige, der Fehler macht,auch noch dadurch belohnt wird, dass er Steuergeld be-kommt.
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24580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Florian Toncar
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Weil dieses Konzept so gut ist, hat es auch in Europaeine Diskussion darüber gegeben. Der Binnenmarkt-kommissar möchte das, was wir in Deutschland im Jahr2010 als Erste umgesetzt haben, jetzt auch in Europaeinführen. Man muss einmal darauf hinweisen: Wennwir über die Frage reden, wie es mit dem Finanzmarktund mit unserer Währung in Europa weitergeht, wirdmanchmal gesagt, Deutschland sage zu allem Nein. Ichfinde, dies ist ein ganz gutes Beispiel dafür, dass wir nurzu den falschen Vorschlägen Nein sagen, andererseitsaber eigene Ansätze, eigene Vorschläge einbringen. Mitunserer Antwort auf die Frage, wie man mit Banken um-geht, die pleite sind, leisten wir einen Beitrag dazu, dasses auch in Europa in Richtung soziale Marktwirtschaftgeht, dass ihre Grundsätze wieder gelten und dass wie-der ein bisschen mehr Gerechtigkeit in diesem Bereichherrscht.
Bis dieses europäische Regelwerk gilt, gibt es aller-dings immer noch eine hohe Unsicherheit in der Banken-branche und auch in der Wirtschaft insgesamt, zum ei-nen wegen der Risiken im Euro-Raum, zum anderennatürlich auch wegen der Frage, wie profitabel einzelneGeschäftsmodelle von Banken sind. Das hängt auch einStück weit davon ab, welche Regeln in den nächstenJahren noch verabschiedet werden.Deswegen wollen wir als Vorsorgemaßnahme dieGültigkeit der Instrumentarien des Soffin um knapp zweiJahre verlängern. Ich glaube, das ist auch ein psycholo-gisches Signal in Richtung Markt: Wir werden hiernichts anbrennen lassen, wir werden den Markt weiter-hin stabil halten, und wir verfügen auch über die not-wendigen Instrumente.Weil wir allerdings auch sagen, dass die Haftung derEigentümer Vorrang hat, gestalten wir die Regeln beimSonderfonds Finanzmarktstabilisierung so, dass erst dieEigentümer zahlen müssen, dass erst privates Kapitalmobilisiert werden muss und dass Banken, deren Ge-schäftsmodelle nicht tragfähig sind, abgewickelt werdenkönnen. Wir zeigen damit, dass die Restrukturierung, dieKonsolidierung des Bankensektors Vorrang hat vor derRettung der Banken mit Steuergeld.Ich glaube, dass das eine ganz sinnvolle Mischung ist.Wir haben damit einen guten Instrumentenkasten, undwir werden auf dieser Grundlage die Konsolidierung imBankensektor voranbringen. Es wird noch weitere Ver-änderungen geben müssen, zum Beispiel bei den Ge-schäftsmodellen und sicherlich auch bei den Marktantei-len. Der Sektor wird sich in den nächsten Jahren nochein bisschen sortieren müssen. Wir werden den Prozessaufmerksam begleiten.Finanziert werden soll das in Zukunft nicht wie bisherüber Steuergelder, sondern über die Bankenabgabe.
Die Branche selber zahlt eine Abgabe dafür, dass dieserFonds einspringen kann. Ich glaube, dass auch das deut-lich macht, dass wir es ernst meinen. Wir wollen denSteuerzahler aus der Haftung entlassen. Falsche Ge-schäftsmodelle werden nicht mehr vom Steuerzahler amLeben erhalten, sondern verschwinden vom Markt.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Roland Claus für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Worüberreden wir hier?
Das muss nach diesem kapitalismuskritischen Auftrittvon Staatssekretär Kampeter einmal klargestellt werden.
Wir reden nicht über Athen, sondern über die Fortset-zung der Rettung und die Stabilisierung deutscher Ban-ken durch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Wir erinnern uns: Nach der Lehman-Pleite 2008 ka-men Banken und internationale Finanzmärkte in Not.Bankenvorstandschefs und die Aufsicht rufen ihre Re-gierungschefs und Finanzminister an. Kurz darauf tretenAngela Merkel und Peer Steinbrück vor die Medien undsagen den legendären Satz: Die Ersparnisse sind sicher.2008 haben wir im Bundestag binnen einer Woche ei-nen gigantischen Rettungsschirm mit Garantien und Ka-pitalbeteiligungen in einem Umfang von fast 500 Mil-liarden Euro beschlossen. Das muss hier gesagt werden,weil die Rettung deutscher Banken in den Medien kaumnoch ein Thema ist.Angesichts der Hysterie, die gegenüber Griechenlandund anderen südeuropäischen Staaten verbreitet wird,und angesichts der Hetze, die zum Teil betrieben wird,ist es wichtig, heute auch anzusprechen: Wir wenden– nominell und mit den Instrumenten, die dafür zur Ver-fügung stehen – einen etwa dreimal so großen Betragwie für die Stabilisierung des Euro für die Rettung deut-scher Banken auf. Auch das gehört zur Wahrheit.
Die Stabilisierung des Euro dominiert die öffentlicheDebatte. Wir reden hier aber auch über inzwischen ver-staatlichte Banken: über die Hypo Real Estate in Mün-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24581
Roland Claus
(C)
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chen, die WestLB, die teilverstaatlichte Commerzbankund andere mehr.Ich sage der Koalition: Solange Sie als Ursache derKrise das ausmachen, was Sie in der Begründung IhresGesetzentwurfes geschrieben haben – dass der Kern derKrise eine anhaltende Staatsschuldenkrise sei –, habenSie den wahren Kern des Problems nicht erkannt.
Wir haben es mit einer Krise der Banken und der inter-nationalen Finanzmärkte zu tun.Was schlägt die Koalition vor? Sie behauptet zwar, essei alles gut, was sie gemacht habe; dennoch soll derSoffin – Staatsgarantien und Kapitalhilfen – zwei Jahrelänger wirken, also Soffin forever. Ich denke, darin isteine Menge Vorsorge für das Wahljahr.Statt des Bundeshaushalts soll für Neuanträge amEnde nun der Restrukturierungsfonds haften; seine Mit-tel kommen aus der Bankenabgabe. Dann muss manaber weiterlesen. In dem Gesetzentwurf steht auch– dazu hat mein Vorredner nichts gesagt –, dass der Re-strukturierungsfonds nur so lange haften soll, wie dervorhandene Bestand reicht. Was ist daran zu kritisieren?Sie feiern die Bankenrettung als Erfolg, spannen aberdennoch den Rettungsschirm wieder auf. Das passt nichtzusammen.
Solange Frau Merkel davon spricht, dass sie – davonhat sie mehrfach gesprochen – eine finanzmarktkon-forme Politik betreiben will, muss ich sagen: Das ist derfalsche Weg.
Die Politik muss wieder die Dominanz über dieseMärkte erlangen.Sie sagen: Wir holen uns das Geld der Steuerzahlervom Bankenfonds zurück. Ich sage Ihnen, Herr Staats-sekretär – das richtet sich an die Adresse der Koalition –:Das ist organisierter Selbstbetrug.
In dem Fonds ist im Moment nichts drin. Er enthält etwa5 Prozent dessen, was schon als realer Verlust eingetre-ten ist. Das Risiko der faulen Papiere, die in die BadBanks ausgelagert sind, bleibt beim Steuerzahler.Ich will daran erinnern, dass es noch vor dem Auf-spannen dieses Schirms ein Finanzminister PeerSteinbrück war, der vor diesem Bundestag immer undimmer wieder erklärt hat, dass auch die IKB DeutscheIndustriebank eine systemrelevante Bank sei. DieseBank gehört inzwischen dem Hedgefonds Lone Star.Das war übrigens in einer Zeit, als Peer Steinbrück dieFinanztransaktionsteuer noch eine linke Spinnerei ge-nannt hat. Daran muss man ihn gelegentlich erinnern;denn im Moment erweckt er den Eindruck, als wäre erder Vater der Idee einer Finanztransaktionsteuer.
Alternativen sind machbar, meine Damen und Herren.Was schlägt die Linke vor? Wir sind ja in der Pflicht, et-was vorzuschlagen, weil wir als einzige Fraktion demRettungsschirm nicht zugestimmt haben. Die Verursa-cher müssen endlich zur Verantwortung gezogen wer-den, und hohe Vermögen gehören höher besteuert alsbisher. Wir brauchen eine radikale Eindämmung derFinanzmärkte. Ich will Schattenbanken verdammt nochmal nicht regulieren, ich will sie schließen.
Die Linke schlägt vor, eine europäische Bank für öf-fentliche Anleihen, wenn man so will eine KfW Europe,zu gründen. Wir brauchen endlich eine gemeinsam abge-stimmte europäische Wirtschafts-, Finanz- und auch So-zialpolitik. Daran können deutsche Banken und derenGroßanleger gern mitwirken.
Den Gesetzentwurf der Koalition lehnen wir ab. Erfolgt der Logik von Frau Merkel, dass Banken gerettet,Rentnerinnen und Rentner, Geringverdienende und Ar-beitsuchende aber betrogen werden.
Das muss anders werden, und das kann anders werden.
Das Wort hat nun Gerhard Schick für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist in der bisherigen Debatte schon deutlich geworden,dass es bei diesem Gesetzentwurf um eine weitere Not-maßnahme geht. Ich finde es wichtig, sich noch einmalklarzumachen: Warum brauchen wir das jetzt eigentlich?Die Begründung der Bundesregierung ist: Wir sind aufeuropäischer Ebene noch nicht so weit. – Das klingt ersteinmal plausibel; denn europäische Politik braucht ihreZeit, wie auch hier Gesetzgebung und Diskussion ihreZeit brauchen.Trotzdem ist die Geschichte leider für die Bundes-regierung nicht ganz so vorteilhaft. Die EuropäischeKommission hat bereits im Oktober 2009, also vor dreiJahren, eine sehr gute Mitteilung mit dem Titel „Ein EU-Rahmen für das grenzübergreifende Krisenmanagementauf dem Banksektor“ vorgelegt, in der eigentlich allessteht, was man hätte tun müssen. Dann kommt ein Drei-vierteljahr später, im Juli 2010, im Europäischen Parla-ment ein Vorschlag für einen europäischen Restrukturie-rungsfonds – damals Europäischer Stabilitätsfondsgenannt – auf den Tisch, der aus Bankenabgaben zufinanzieren gewesen wäre.Kommission und Parlament haben also schon vorüber zwei Jahren die Grundlagen dafür gelegt, dass manin Europa Banken grenzüberschreitend retten und abwi-ckeln kann, finanziert über Bankabgaben. Warum ist das
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24582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Dr. Gerhard Schick
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immer noch nicht vorangekommen? Weil der Rat – undin diesem Rat auch diese Bundesregierung – das blo-ckiert hat.
Genau deswegen ist die Verlängerung in Deutschlandnötig; denn die Bundesregierung hat die notwendigenVorbereitungsmaßnahmen auf europäischer Ebene aus-gebremst. Deswegen ist die Begründung, wir seien inEuropa noch nicht so weit, nichts anderes als das Einge-ständnis, dass die Verweigerung europäischer Lösungenin der Krise, durch die sich diese Bundesregierung im-mer wieder auszeichnet, für Deutschland selbst teuerwird.
Da muss man dann bitte einmal ehrlich sein: Wennjetzt die Bundesregierung, die Bundeskanzlerin daraufdrängt, es sollte jetzt beschleunigt werden, dann geht daseigentlich an die eigene Adresse.Sie haben sich auch bei der Verabschiedung des Re-strukturierungsgesetzes in Deutschland leider etwas vor-gemacht. Damals schon sprachen die Sachverständigen– ich zitiere aus dem Jahresgutachten 2010/2011 desSachverständigenrates der Bundesregierung – von einerProblematik nationaler Vorgehen mit unterschiedlichenInsolvenzverfahren. Ich zitiere:Lassen sich die vorgesehenen deutschen Regelun-gen nämlich nicht auf Derivatverträge anwenden,die unter ausländischem Recht geschrieben wurden,so würden letztlich dieselben negativen Finanzsys-temwirkungen entstehen, die das spezielle Insol-venzverfahren gerade vermeiden will.Auch das wurde vor über zwei Jahren geschrieben.Die Bundesregierung hat eben nicht die Konsequenz da-raus gezogen, schon 2010 aktiv für eine europäische re-strukturierungsrechtliche Grundlage und einen europäi-schen Restrukturierungsfonds zu werben, sondern sie hates immer wieder mit dem Verweis auf die Finanzauftei-lung und darauf blockiert, dass es doch teurer fürDeutschland wäre. Heute haben wir den Beweis, dassdiese Strategie ein Fehler war.
Ich will noch zu zwei Punkten, was den konkreten In-halt angeht, etwas sagen. Der eine ist ein kurzer Punkt.Es gibt eine Stärkung des Bundestages. Es gibt nämlicheinen Vorbehalt des Bundestages in der Weise, dass beider Auflösung des Finanzmarktstabilisierungsfonds zu-künftig wir hier entscheiden. Das ist jetzt allerdingsnicht etwas, was freiwillig geschieht, sondern das ist aufein Diktum des Bundesverfassungsgerichts vom Februardieses Jahres zurückzuführen. Wir sind natürlich zufrie-den, dass es hier eine Stärkung des Bundestages gibt.Aber es ist schon erschreckend, dass dieses Parlamentimmer wieder erst den Hinweis aus Karlsruhe braucht,bevor es sich selber die nötigen Rechte einräumt.
Ein weiterer Punkt – man könnte andere nennen, aberich will darauf einen Schwerpunkt legen – ist die Frageder Transparenz bei der Bankenrettung. Wissen Sie, ichfinde eigentlich: Bei den Kosten, um die es da geht– Milliarden –, besteht die Notwendigkeit, wirklichTransparenz zu schaffen. Warum steht eigentlich dieSumme, die aufgelaufen ist, warum stehen die Progno-sen, welche weiteren Lasten aus der Bankenrettung inDeutschland zu erwarten sind, nicht klar auf der Home-page der Finanzmarktfonds? Warum muss ich mir das daund dort zusammensuchen, und warum unterliegt immeralles Mögliche der Geheimhaltung? Wir sitzen jedenFreitag einer Sitzungswoche in dem Finanzmarktgre-mium, und wir müssen doch einmal sagen: Einen ganzgroßen Teil dessen, was wir dort diskutieren, könnte manauch öffentlich machen. Wir haben hier einen viel zugroßen Bereich der Geheimhaltung. Wir Grünen sind beider Bankenrettung für mehr Transparenz.
Ich will das an einem Punkt kurz deutlich machen:Auf meine Initiative hin ist wenigstens eine rudimentäreTeilfassung des Jahresabschlusses des Soffin öffentlichgemacht worden. Entscheidende Informationen fehlenaber noch immer.Es ist doch nicht einzusehen, dass ein börsennotiertesUnternehmen seinen Jahresabschluss und das Testat desWirtschaftsprüfers veröffentlichen muss und damit um-fassende Transparenz geschaffen wird, während wirdort, wo die Steuerzahler betroffen sind, keine entspre-chende Transparenz haben.Wir werden das noch einmal in die Beratungen ein-bringen; denn wenn die Bürger zur Kasse gebeten wer-den, haben sie auch einen Anspruch auf die relevantenInformationen.Danke schön.
Das Wort hat nun Georg Schirmbeck für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lieber Carsten Schneider, ich habe eben gehört: DieCDU/CSU und die FDP sind das Problem. Wenn sie wegwären, wäre alles klar und die Welt heile.
Dazu muss ich sagen: Wir leben in einem demokrati-schen Staat. 70 Prozent der Leute glauben, dass dieMerkel das gar nicht so schlecht macht, um nicht zu sa-
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Georg Schirmbeck
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gen, dass sie es gut macht, und wir als Koalition unter-stützen sie. Das ist der Auftrag, den wir aus der Bevölke-rung haben.
Sie müssen sich jetzt nicht selber schlechter machen,als Sie sind, aber es waren doch nicht Steinbrück undZypries – Frau Zypries mag als Justizministerin ihreAufgabe ja sogar gut wahrgenommen haben –, sondernin der Tat, wie das eben schon gesagt wurde, die Bundes-kanzlerin und der Finanzminister, die durch ihre legen-däre Fernsehansprache versucht haben, wieder Vertrauenzu schaffen und Ruhe in die Bevölkerung zu bringen. Esist uns dann in Wochenfrist ohne kleinkarierte Ge-schäftsordnungsanträge und dem, was es sonst immergibt, gelungen, hier im Deutschen Bundestag Beschlüssezu fassen. Danach gab es wieder eine gewisse Stabilisie-rung. Was wäre denn gewesen, wenn wir das in dieserWochenfrist nicht hinbekommen hätten? Darauf könnenwir doch gemeinsam stolz sein!Es wird hier immer so getan, als seien die einen dieGuten und die anderen die Bösen. Wir müssen aber fra-gen, warum es die eine oder andere Entwicklung gege-ben hat. Haben Sie schon einmal den Namen Neuber ge-hört? Es gab einmal eine WestLB in Nordrhein-Westfalen, und es gab da auch einen MinisterpräsidentenRau und einen Ministerpräsidenten Steinbrück. Regierthat aber eigentlich ein Mann namens Neuber. Weil dasviele gar nicht mehr wissen: Er war TUI- und RWE-Auf-sichtsratsboss.Warum ist es denn zu dieser Entwicklung gekommen?Wer hat denn das große Rad gedreht und drittrangigeWerte irgendwo in der Welt gekauft? Jetzt heißt es: DieEigentümer sollen eintreten. – Die Überlegung, dass dieEigentümer in erster Linie haften sollen, ist ja richtig.Aber wer waren denn die Eigentümer?
Das waren das Land Nordrhein-Westfalen und die Spar-kassen in Nordrhein-Westfalen. Wer musste nach Düs-seldorf fahren und die entsprechenden Gespräche überdie Abwicklung führen? Das war der hier anwesendeStaatssekretär Kampeter. Wer musste das Geld zur Ver-fügung stellen? Das waren wir! Wir, der Haushaltsaus-schuss, mussten es aus der Bundeskasse nehmen. Das istdoch die Wahrheit!
So viel zu den Eigentümern. Da, wo Sie Verantwortunggetragen haben, hätten Sie die Verantwortung wahrneh-men können.
Sie kritisieren die Fristverlängerung für den staatli-chen Bankenrettungsfonds Soffin, sie kritisieren Sof-fin III. Stellen Sie in der abschließenden Beratung dochden Antrag, dass wir Soffin III nicht machen sollen.Vielleicht bekommen Sie eine Mehrheit. Aber schauenSie sich einmal im Land um. Wer schützt die Sozialde-mokraten eigentlich vor sich selber?
Ich kenne Ministerpräsidenten, die Ihnen dann aufsDach steigen und fragen würden: Seid ihr verrückt ge-worden? – Das ist doch die Wahrheit!
Ich höre, dass wir die Schulden in Europa vergemein-schaften sollen. Das sei die Lösung des Problems. Wennwir dem, was Sie hier sagen, nachgeben würden
– Sie sprechen doch in jeder Rede über Euro-Bondsusw.; das ist doch Ihre tägliche Aussage –, dann müssteich mich fragen, welche Reformen in Europa überhauptnoch in Angriff genommen würden. Wenn der Druckvom Kessel genommen wird: Bewegt sich dann noch ir-gendwo etwas?
Die Wahrheit ist, dass es zu dieser Politik keine Alter-native gibt. In geschlossenen Räumen bestätigen Sie dasauch, aber wenn die Türen auf und die Fernsehkamerasda sind, dann erzählen Sie auf einmal tolle Dinge. Dieaber sind wirkungslos, führen in die falsche Richtungund bewirken das Gegenteil dessen, was wir brauchen.Was wir in der Vergangenheit gemeinsam falsch ge-macht haben, nicht nur wir Politiker, sondern die ganzeGesellschaft, ist: Wir haben nicht nachhaltig gelebt. Daszeigt sich in den kommunalen Haushalten, aber in wei-ten Teilen auch im privaten Bereich.Wenn jemand zu mir kommt und sagt: „Die Merkelsoll mir mein Geld wiedergeben und für die Zinsen auf-kommen, die mir entgangen sind“, dann kann ich nursagen: Wenn man bei einer Geldanlage für sein Geld we-sentlich mehr Zinsen als bei der Sparkasse bekommt– das weiß schon jeder Grundschüler –, dann ist dieseGeldanlage riskanter. Dann kann man auch nicht sagen:Das ist jahrelang gut gegangen. – Irgendwann ist dieBlase so groß geworden, dass sie geplatzt ist. Diejeni-gen, die in der Vergangenheit viel an den Zinsen verdienthaben, haben dafür zahlen müssen. Das ist zum Schluss
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Georg Schirmbeck
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der Bürger und in vielen Fällen auch der ganz einfacheBürger.Ich gehöre zu denen, die sich für die deutsche Forst-wirtschaft interessieren. Hans Carl von Carlowitz hat vor299 Jahren seine Gedanken zur Nachhaltigkeit aufge-schrieben. Das sollten Sie einmal nachlesen. Was dasteht, gilt nämlich nicht nur für die Forstwirtschaft, son-dern das gilt auch für die Finanzwirtschaft.Jetzt kann man natürlich immer einen Prügelknabenfinden, auf den man einschlagen kann, in diesem Fall dieDeutsche Bank. Seien wir doch zufrieden – darauf kön-nen wir an der einen oder anderen Stelle vielleicht stolzsein –, dass die Deutsche Bank unsere Hilfe noch nichtgebraucht hat.
Sollen wir denen, die ihren Karren noch halbwegs amLaufen halten, einfach in den Rücken fallen und ihnensagen, was sie machen sollen?Ich sage Ihnen eines voraus: Mit diesem Thema wer-den wir uns in den nächsten 20 Jahren noch zu beschäfti-gen haben; denn dieses Problem ist nicht in einem Jahr,nicht in kurzer Zeit zu beheben. Ehrlicherweise mussman auch sagen, dass es lange Zeit gut gelaufen ist undes gedauert hat, bis die Blase geplatzt ist.Sie haben ja wirklich ganz billige Argumente ange-führt. Wenn es nach Ihnen geht, sollen wir das Gegenteilvon dem machen, was ökonomisch und finanzpolitischrichtig ist. Dadurch lösen wir diese Aufgabe nicht. Zudem, was die Bundeskanzlerin in Europa und auch hiermit unserer Unterstützung beschließen lässt, gibt eskeine Alternative.Deshalb sage ich nur: Wir haben wieder Vertrauen zu-rückgewonnen. Dieses Vertrauen sollten wir hier nichtzerreden. Ich glaube, wir können auf die gemeinsameArbeit in den vergangenen Jahren stolz sein.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Icherlaube mir, die Damen und Herren, die zuhören oderzuschauen, eingangs darauf aufmerksam zu machen,dass der aktuelle Tagesordnungspunkt heißt: Fortschrei-bung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes. Ich möchtegerade vor dem Hintergrund der letzten Rede daran erin-nern: Darüber reden wir. Es geht hier um einen Rahmenvon bis zu 500 Milliarden Euro. Wir haben eine gewich-tige Entscheidung zu treffen. Da verbietet sich in diesemHaus jedes Geklimper und Getöse.
Ich will in diesem Zusammenhang – zu Ihnen werdeich gleich noch etwas sagen, Herr Staatssekretär – etwaszur Einordnung sagen: Dies ist das Dritte Finanzmarkt-stabilisierungsgesetz. Es ist ein Dokument der Kontinui-tät der Politik dieser Kanzlerin Angela Merkel. Es istdeshalb ein Dokument der Kontinuität, weil sich in allendrei Gesetzen eine Regel nicht verändert hat: Für dieFolgen der Finanzmarktkrise 2008/2009 haftet im Kernder Staat, und es zahlt der Steuerzahler. Hieran ändertsich auch mit diesem Gesetzentwurf nichts.
Er ist die Fortsetzung einer Notmaßnahme, die imGrundsatz nichts korrigiert. Aber die Rednerinnen undRedner der Koalition, auch der Staatssekretär, haben na-türlich versucht, hier den Eindruck zu vermitteln, alleswürde sich verändern, weil jetzt erstmalig über das groß-artige Konstrukt der deutschen Bankenabgabe, die au-ßerordentlich hoch sein soll, der Bankensektor selber he-rangezogen würde.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will den Blickauf diesen zentralen Punkt lenken und sagen: Das isteine Mogelpackung, die Sie uns an dieser Stelle vorle-gen.Erstens. Ausweislich des Gesetzentwurfs wird derRestrukturierungsfonds erst für Maßnahmen ab 2013 he-rangezogen. Die großen Kosten von 2008/2009, das, wasim Soffin schon an Mitteln gebunden ist, werden nichtvom Finanz- und Bankensektor getragen.
Hier gilt weiterhin, dass der Steuerzahler haftet; das istder Kern.Kollege Toncar, da Sie gerade einen Zwischenruf ge-macht haben, will ich Ihnen sagen: Natürlich war dasbeim ersten Mal eine Rettungsmaßnahme, die schnell er-griffen werden musste. Aber die Korrektur in RichtungHaftung des Sektors, der Finanzinstitute und der Speku-lanten hätte man schon beim zweiten Stabilisierungsge-setz vornehmen können. Das haben Sie aber versäumt.Das war damals nämlich Ihr Gesetz.
Wenn Sie jetzt sagen: „Mittlerweile ist doch allesstrukturiert; schauen wir uns nur einmal die HRE an“,dann muss ich Ihnen entgegnen: Das ist die größte Ge-fahr, die in Sachen Bad Bank eventuell noch auf uns zu-kommt. Wir wissen noch lange nicht, wie wir das finan-zieren sollen. Dieses Risiko verbleibt beim Steuerzahler.Zweiter Punkt. Ab 2013 wird für alle Maßnahmen aufdie Bankenabgabe und den Restrukturierungsfonds zu-rückgegriffen. Aber was bedeutet das? Mehrere meinerVorredner haben bereits darauf hingewiesen: Bisher flos-sen jährlich etwa 500 Millionen Euro in diesen Fonds.Ich möchte gerne wissen, was man mit diesen Mittelnfinanzieren will, wenn es ernst wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24585
Dr. Carsten Sieling
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Carsten Schneider hat deutlich gemacht: Die Deut-sche Bank hat aufgrund der Staatshaftung einen Vorteilim Umfang von 2,5 Milliarden Euro. Das ist nichts ande-res als Fallobst, das die Bank aufgrund der Staatshaftungeinfach ernten kann. Das sind Windfall Profits, nichtsanderes. Hier würde man erwarten, dass eine stärkereHeranziehung stattfindet. Das ist eine Frage der Gerech-tigkeit und solider Politik.
Man fragt sich auch: Was passiert eigentlich, wennein großes Geldinstitut – ich will gar nicht unbedingt dieDeutsche Bank nennen; es kann auch ein anderes großesInstitut sein – in Probleme gerät? Dann werden die500 Millionen Euro nicht ausreichen.
Insofern ist das, was Sie uns hier bieten, ein Potem-kin’sches Dorf. Das ist eine Fassade, aber nichts, was zueiner wirklichen Stabilisierung beiträgt.
An dieser Stelle will ich sagen: Herr Staatssekretär,das, was Sie vorgetragen haben, ist, jedenfalls für mich,die eigentliche Überraschung dieser Debatte; das höreich von christdemokratischen Politikern nämlich selten.Ich höre selten, dass christdemokratische Politiker in ih-ren Reden vom Finanzkapitalismus sprechen
und sagen: Wir werden die zügellosen Entwicklungenstoppen und den Kapitalismus bändigen.
Da ist man fast geneigt, „Bravo!“ zu rufen – wenn mansich nicht an den guten alten Spruch erinnern würde: Diegrößten Kritiker der Elche waren früher selber welche.Wer hat das Ganze denn durch die eigene Politik mitausgelöst, liebe Kolleginnen und Kollegen?
Sie müssen geeignete Maßnahmen zur Finanzmarktregu-lierung ergreifen, und die Bankenabgabe so regeln, dasssie ihren Sinn erfüllt. Um das Risiko zu bündeln, müssendie Geschäftsbereiche der großen Banken getrennt wer-den. Was die Bankenrettung betrifft, brauchen wir einenToo-big-to-fail-Bereich. Darum müssen wir einenSchritt in Richtung Trennbankensystem machen.Der letzte Punkt. Bei der Finanzmarktregulierungmüssen endlich auch die Schattenbanken in den Blickgenommen werden. Ich wäre froh, wenn Sie beim G-20-Gipfel Ende November dieses Jahres ein ordentlichesErgebnis mit nach Hause bringen würden. Damit würdenSie einen größeren Beitrag zur Finanzmarktstabilisie-rung leisten als mit Ihrem heute vorliegenden Gesetzent-wurf.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Bartholomäus Kalb für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Sieling, in einem
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es war diese Bundesregierung, ins-besondere Finanzminister Dr. Schäuble und Staatssekre-tär Kampeter, die die entscheidenden Maßnahmen zurRegulierung der bis dahin hemmungslos agierenden Fi-nanzmärkte eingeleitet hat. Ich erinnere an das Verbotvon Leerverkäufen, die Einführung einer Bankenabgabe,die Einschränkung des Hochfrequenzhandels und vieleandere Maßnahmen, die auf europäischer und internatio-naler Ebene ergriffen worden sind. In Ihrer Regierungs-zeit hingegen herrschte der Glaube: Wenn man dem Bei-spiel Londons und seiner unregulierten Märktebedingungslos folgt, wird alles gut.
– Nein, nein, nein.
Die Zulassung von Hedgefonds ist erst unter der Regie-rung Schröder erfolgt.
Ich will auf den eigentlichen Gegenstand unserer heu-tigen Beratungen zurückkommen. Einige meiner Vorred-ner haben es bereits angesprochen: Diejenigen, die demParlament schon damals angehört haben, werden sichsehr genau daran erinnern, wie sehr uns dieses Themaumgetrieben hat. Es war eine unheimlich schwierigeEntscheidung, die in sehr kurzer Zeit getroffen werdenmusste. Wir konnten uns damals nicht sicher sein, dassall das, was wir beschließen, richtig ist und gut geht. Wirhaben seinerzeit auch ein hohes Risiko auf uns genom-men, und wir sind von viel Kritik begleitet worden.Heute können wir sagen, dass das Finanzmarktstabili-sierungsgesetz ein Erfolgsmodell geworden ist und sichals absolut richtig erwiesen hat. Alle, die in den zustän-digen Gremien vertreten sind, wissen auch, dass die Pro-bleme, die wir früher als sehr viel größer einschätzenmussten, sich Gott sei Dank als sehr viel geringer dar-stellen. Was die gesamte Finanzmarktstabilisierung kos-ten wird, kann man erst nach Ablauf der Tätigkeit desSoffin, also des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung,feststellen.Deswegen haben wir aus guten Gründen im Februardieses Jahres das zweite Finanzmarktstabilisierungsge-
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24586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Bartholomäus Kalb
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setz aufgelegt, um auch die Stoßwellen aus dem europäi-schen Raum, die wir befürchten mussten, mit abfedernzu können. Der Kollege Claus, glaube ich, hat gesagt,die Schirme würden neu aufgespannt. Nein, wir sind zuder Überzeugung gekommen, dass wir diesen Schirm,der sich als absolut erfolgreich erwiesen hat, jetzt nichtzumachen sollten, sondern ihn im Hinblick auf weitereEntwicklungen zumindest bis zum Ende des Jahres 2014offenhalten sollten. Dann können wir davon ausgehen,dass auch die Entwicklungen und Initiativen auf europäi-scher Ebene – der Kollege Dr. Schick ist darauf einge-gangen – weiter vorankommen.Wir müssen dafür Sorge tragen, dass mit diesen Maß-nahmen, die wir jetzt weiter ermöglichen, auch ein Si-gnal an den Bankensektor und die Finanzmärkte insge-samt ausgeht und dass damit von uns unterstrichen wird:Uns liegt in besonderer Weise daran, dass der Banken-sektor und der Finanzmarkt insgesamt stabil bleibenkönnen. Das liegt im Interesse der Sparer, der Kredit-kunden und der Wirtschaft insgesamt und damit insbe-sondere im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklungund der Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in Deutschland.
Wir sollten auch dafür Sorge tragen – auch das ist vonmeinen Vorrednern, dem Kollegen Toncar und demHerrn Staatssekretär, schon gesagt worden –, dass dieStabilisierungsmaßnahmen noch besser miteinander ver-zahnt werden und dass, wo immer möglich, auch dieVerantwortung der Beteiligten und der Eigentümer ge-stärkt wird.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf mitd
Das Gesetz, das wir jetzt auf den
Weg bringen, dient dazu, das Vertrauen zu stärken. Ver-
trauen ist das wichtigste Kapital für uns Politiker, aber
auch für die Banken und den Finanzsektor insgesamt.
Das wollen wir mit dem Gesetzentwurf erreichen, und
das werden wir mit dem Gesetzentwurf erreichen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11138 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 46 a bis 46 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Alleinerziehende besser unterstützen
– Drucksache 17/11032 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Anton Schaaf, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neue Strategien für eine bessere Förderung
von Alleinerziehenden in der Grundsicherung
– Drucksache 17/11038 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Alleinerziehende entlasten – Unterhaltsvor-
schuss ausbauen
– Drucksache 17/11142 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Keine andere Familienform hat in Deutschland inden letzten Jahren so an Bedeutung gewonnen wie dieEinelternfamilie. Wir reden hier von 1,6 Millionen Al-leinerziehenden und insgesamt 2,2 Millionen Kindernund Jugendlichen.Alleinerziehende sind zu 90 Prozent Frauen. Alleiner-ziehende leisten täglich Enormes zur Bewältigung ihresAlltags. Das verdient zu Beginn dieser Debatte zunächsteinmal Anerkennung und ganz viel Respekt,
und es verdient, dass Alleinerziehende in besondererWeise von Staat und Gesellschaft unterstützt werden.Wir brauchen auch hier in Deutschland gesellschaftli-che Rahmenbedingungen, die die Lebenssituation derAlleinerziehenden und ihrer Kinder verbessern undwirkliche Chancengleichheit ermöglichen. Davon sindwir auch deshalb noch ein gutes Stück entfernt, weil
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24587
Caren Marks
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diese schwarz-gelbe Bundesregierung – es sind leidernicht viele Mitglieder der Bundesregierung bei dieserDebatte anwesend – zwar viel redet – auch bei diesemThema am liebsten durcheinander –, aber leider nichthandelt. Diese schwarz-gelben Regierungsjahre sindauch für Alleinerziehende verlorene Jahre.
So ist – auch das ist eine Tatsache – mehr als ein Drittelaller Einelternfamilien arm. Daher haben auch Transfer-leistungen für Alleinerziehende eine wichtige Bedeu-tung. Diesen Aspekt wird meine Kollegin GabrieleHiller-Ohm nachher noch näher beleuchten.Meine Kolleginnen und Kollegen, Alleinerziehendemüssen stärker in den Blick der Arbeitsmarkt-, der Bil-dungs-, der Sozial- und der Familienpolitik rücken unddürfen hier nicht singulär schubladenmäßig betrachtetwerden.Die SPD-Bundestagsfraktion will Alleinerziehendebesser unterstützen und Antworten auf neue gesell-schaftliche Herausforderungen geben. Dabei ist einMaßnahmenbündel notwendig, das sich an den Wün-schen, den Bedürfnissen und auch an den zeitlichen Res-sourcen von Alleinerziehenden orientiert. Vorschlägehierzu finden Sie in unseren beiden Anträgen. Auf vierHandlungsfeldern – Betreuung und Infrastruktur, Ar-beitsvermittlung und gute Arbeit, Bildung und Qualifi-zierung sowie gezielte finanzielle Unterstützung – ma-chen wir Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen derRegierungskoalition, ganz konkrete Vorschläge, wieman Alleinerziehende wirklich besser unterstützen kann.Gute, verlässliche und auch zeitlich flexible Bil-dungs- und Betreuungsangebote in Kitas, aber auch inSchulen sind eine ganz wichtige Grundvoraussetzungdafür, dass Alleinerziehende erwerbstätig sein können.Nur so kommen sie aus der Armutsfalle heraus.
Das geplante Betreuungsgeld hingegen steht einer eigen-ständigen Existenzsicherung von Alleinerziehenden ent-gegen. Das ist nur einer von vielen Gründen, die dafürsprechen, dieses unsinnige Vorhaben endlich zu beerdi-gen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, für eine gelingendeVereinbarkeit von Familie und Beruf benötigen Alleiner-ziehende neben einer verlässlichen Infrastruktur neuegesetzlich verankerte Arbeitszeitmodelle, die auch eineverbesserte Durchsetzbarkeit des Rechts auf Teilzeit ent-halten. Das ist eine wichtige Voraussetzung. Dazu zählenauch geschlechtergerechte Arbeitszeitmodelle wie diesogenannte große Teilzeit mit einer wöchentlichen Ar-beitszeit von 30 Stunden; denn nach wie vor haben Al-leinerziehende bisher nur eingeschränkte Möglichkeiten,einer existenzsichernden Arbeit nachzugehen und damitauch eine eigenständige Alterssicherung zu betreiben.Daher würden vor allem Alleinerziehende von einemflächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn profitieren.
Was Alleinerziehende allerdings nicht brauchen, istdie von Schwarz-Gelb gestern beschlossene Ausweitungder Minijobs. Minijobs und prekäre Beschäftigungsver-hältnisse reichen heute für die Familien nicht zum Lebenund führen insbesondere Frauen direkt in die Altersar-mut.
Ebenso notwendig ist es, die in unserem Land beste-hende Lohnungerechtigkeit zwischen Männern undFrauen endlich zu beenden.
Die vorhandene Lohnlücke von 23 Prozent muss endlichgeschlossen werden. Richtig, Herr Kollege: Zeit wird’s.
Weil es Zeit wird, diese Lohnlücke endlich zu schließen,appellieren wir an Schwarz-Gelb: Sie brauchen nur demGesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zuzustim-men, dann wird dieses Problem gelöst.
Einen besonderen Blick müssen wir auch auf jungeAlleinerziehende ohne Schul- und Berufsabschluss rich-ten. Diese benötigen einen Rechtsanspruch auf Teilzeit-ausbildung und auf das Nachholen eines Schulabschlus-ses. Es sollte für junge Eltern und insbesondere fürAlleinerziehende möglich sein, in Teilzeit zu studieren.Wir brauchen auch dringend eine Anpassung des BAföGan die Lebenswirklichkeit von Alleinerziehenden.Es ist auch wichtig, ehe- und familienbezogene Leis-tungen auf den Prüfstand zu stellen, auch im Hinblickauf Alleinerziehende. Der Unterhaltsvorschuss ist sinn-voll weiterzuentwickeln. Das gestern von der Regierungeingebrachte Unterhaltsvorschussentbürokratisierungs-gesetz geht genau in die falsche Richtung.
Abschließend, meine Kolleginnen und Kollegen,möchte ich Ihnen sagen: Dies war nur ein Ausschnittunseres umfassenden Konzepts für eine bessere Unter-stützung von Alleinerziehenden. Wir, die SPD-Bundes-tagsfraktion, haben den Anspruch, Alleinerziehende um-fassend zu unterstützen. Vorschläge sind gemacht. Es istan der Zeit, dass diese Bundesregierung und auch die Fa-milienministerin endlich aufwachen und handeln. DieAlleinerziehenden mit ihren Kindern haben es verdient.Herzlichen Dank.
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24588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
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Das Wort hat die Kollegin Nadine Schön für dieUnionsfraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Kollegen der Opposition, Ihre Anträgeund auch die Debatte heute sind der untaugliche Ver-such, Alleinerziehenden zu suggerieren, dass man nurSPD und Linke wählen müsse, und dann sei alles gut.
Dieser Versuch ist leicht zu durchschauen, und dem wirdkeiner auf den Leim gehen.Alleinerziehende brauchen erstens einen fairen Um-gang auf Augenhöhe und zweitens Hilfe, die dort an-kommt, wo sie benötigt wird. Was meine ich mit fairemUmgang auf Augenhöhe? Damit meine ich, dass manAlleinerziehende nicht immer als hilflose Opfer darstel-len sollte. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich be-streite nicht, dass es schwierig ist, in weitestgehend eige-ner Verantwortung ein Kind oder mehrere Kindergroßzuziehen. Dazu kommen die Belastungen durch dieTrennung oder vielleicht durch den Tod des Partners, dasEinstellen auf eine neue Lebenssituation, Ängste undBefürchtungen. Das ist nicht einfach.Viele Alleinerziehende leben auch in schwierigen fi-nanziellen Situationen. Oft sind es die Frauen – nämlichin neun von zehn Fällen –, die sich anschließend um dieKinder kümmern. Wenn vorher der Mann der Haupt-erwerber war, ist es für die betroffene Frau besondersschwierig, mit der Situation umzugehen.Die Probleme und Schwierigkeiten, die es gibt, kön-nen nicht als Rechtfertigung dienen, dass Alleinerzie-hende allzu oft in den Medien, aber auch in der politi-schen Diskussion als bemitleidenswerte Menschen, dieeinsam und verlassen sind, dargestellt werden. Das wirdder Lebenssituation und vor allem der Selbstwahrneh-mung der Mehrheit der Alleinerziehenden nicht gerecht.
Wie ist die Selbstwahrnehmung? Interessante Ergeb-nisse dazu liefert eine Studie im Auftrag des Bundesfa-milienministeriums aus diesem Jahr. Man kann sehr guterkennen, dass die Eigenwahrnehmung und die Lebens-wirklichkeit viel facettenreicher sind, als wir es anneh-men. Die Unterschiede zwischen dem, was die offizielleDefinition von Alleinerziehenden bedeutet, und dem,was die Betroffenen selbst unter alleinerziehend verste-hen, sind sehr groß.Nach der amtlichen Statistik oder auch nach der poli-tischen Definition ist man dann alleinerziehend, wennman ein Kind unter 18 Jahren erzieht und in einemHaushalt ohne Ehe- oder Lebenspartner lebt. Die Haus-haltssituation ist also maßgeblich bei der Definition vonAlleinerziehenden. Spricht man aber mit Alleinerziehen-den selbst, dann kommt man zu ganz anderen Schlüssen.Sie sehen weniger die Haushaltssituation als maßgebli-chen Anknüpfungspunkt, sondern die Frage, wie dieVerantwortung verteilt ist oder ob sie allein für die Erzie-hung ihres Kindes verantwortlich sind. So kann es zumBeispiel sein, dass man sich als alleinerziehend ansieht,obwohl man schon mit einem neuen Partner zusammen-lebt. Umgekehrt kann es sein, dass man sich nicht als al-leinerziehend ansieht, obwohl man mit keinem Partnerzusammenlebt. Das ist dann der Fall, wenn es funktio-nierende Netzwerke, Freunde, Familie und ein Umfeldgibt, das Unterstützung leistet. Dann fühlen sich die Be-troffenen nämlich gerade nicht als alleinerziehend. Des-wegen ist der Eindruck von der hilflosen Einsamkeit, dersich immer aufdrängt, wenn man über Alleinerziehendespricht, falsch und trifft auf die meisten nicht zu.Kollegin Marks, ich habe mich darüber gefreut, dassSie am Anfang Ihrer Rede von Einerzieherfamilien ge-sprochen haben.
– Einelternfamilien. Ich denke, da gibt es keinen großenUnterschied. – Genauso unterschiedlich und facetten-reich wie die Selbstwahrnehmung und die Lebenssitua-tion ist auch die finanzielle Situation. Auch hier störe ichmich daran, dass Sie von der SPD immer suggerieren,dass erst einmal die SPD kommen müsse, damit Allein-erziehende endlich anständig finanziell unterstützt wer-den. Damit verkennen Sie erstens, dass nicht alle Allein-erziehenden in prekären Situationen sind. Sie verkennenzweitens, dass es für Alleinerziehende mit geringemoder auch ohne eigenes Einkommen bereits ganz vieleUnterstützungsleistungen gibt. Vieles, was Sie mit IhremAntrag fordern, gibt es bereits. Was Sie alles fordern,hört sich zwar gut an und ist auch sehr umfangreich, aberdie Realität ist doch eine andere.Sie verschweigen viele Dinge, etwa dass es das El-terngeld für Alleinerziehende 14 Monate gibt statt12 Monate. Sie verschweigen auch, dass wir gerade indieser Legislaturperiode den Unterhaltsvorschuss erhöhthaben. Auch das Bildungs- und Teilhabepaket haben Sieverschwiegen, das gerade Familien mit geringem Ein-kommen zugutekommt. Sie haben nicht nur komplettverschwiegen, dass es bereits Unterstützungsnetzwerkefür Alleinerziehende gibt, sondern Sie fordern sie in Ih-rem Antrag sogar noch. In meinem Wahlkreis gibt eseine solche Initiative, ein Netzwerk für Alleinerzie-hende. Genau das brauchen Alleinerziehende, nämlichdass man bei der Koordination von Beruf und Familieund bei der Gestaltung des Alltags hilft. Das leistendiese Netzwerke. Dort wird eine hervorragende Arbeitgemacht.
Alleinerziehende brauchen in erster Linie Rahmenbe-dingungen, die es ihnen ermöglichen, ein möglichst un-abhängiges und selbstständiges Leben zu führen. Dazugehört in erster Linie ein auskömmliches Einkommen,also ein Job.
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Nadine Schön
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Eine Arbeitsstelle ist die beste Antwort auf Risiken, diemit der alleinigen Erziehung eines Kindes auf das El-ternteil zukommen.Gerade wenn es um Arbeitsmöglichkeiten für Allein-erziehende geht, ist ein Punkt besonders wichtig, der einSchwerpunkt der Familienpolitik in dieser Legislaturpe-riode war, und zwar der Ausbau der Kinderbetreuung.Insbesondere für Alleinerziehende ist es ungemein wich-tig, dass sie ihr Kind gut betreut wissen, wenn sie einerArbeit nachgehen, und dass es flexible Öffnungszeitender Kitas gibt. Deshalb freue ich mich darüber, dass wirvon Bundesseite zusätzlich 580 Millionen Euro in dieHand nehmen, um zusätzlich 30 000 neue Kitaplätze zufördern. Sie wissen, das ist eigentlich Aufgabe der Län-der und Kommunen. Wir haben bereits über 4 MilliardenEuro investiert.
Wie gesagt: Wir werden jetzt noch einmal 580 MillionenEuro investieren. Da nimmt der Bund seine Verantwor-tung wahr, und das ist gerade im Sinne der Alleinerzie-henden.
Um Alleinerziehenden wirklich zu helfen, müssenkeine großartigen Anträge geschrieben werden. Was Siedirekt machen können, ist: Sprechen Sie mit den Regie-rungen in den Ländern, in denen Ihre Parteifreunde Re-gierungsverantwortung haben, damit der Ausbau der Ki-tas und der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungendort vorankommt. Damit können Sie Alleinerziehendenganz konkret helfen. Das empfehle ich Ihnen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte heute den Schwerpunkt meiner Rede auf denAntrag der Linken legen, da die Zeit nicht reicht, um aufalle Forderungspunkte der SPD einzugehen.Der Unterhaltsvorschuss soll die finanzielle Situationvon Alleinerziehenden und ihren Kindern verbessern,wenn der unterhaltspflichtige Elternteil seinen Unter-haltsverpflichtungen nicht oder nicht ausreichend nach-kommen kann. Der Unterhaltsvorschuss kommt damitunmittelbar den Kindern von Alleinerziehenden zuguteund unterstützt alleinerziehende Elternteile vorüberge-hend. – So heißt es sinngemäß in der Begründung desvon der Regierung eingebrachten Unterhaltsvorschuss-entbürokratisierungsgesetzes, welches wir gestern hierim Bundestag behandelt haben.Die Unterhaltsleistung nach dem Unterhaltsvorschuss-gesetz ist eine besondere Hilfe für alleinerziehende El-ternteile und ihre Kinder. Sie hilft den Alleinerziehenden,wenn sie wegen des Ausfalls der Unterhaltszahlungen desanderen Elternteils nicht selbst für die Betreuung und Er-ziehung des Kindes sorgen können, sondern auch für denausfallenden Barunterhalt aufkommen müssen.Alleinerziehende Elternteile und ihre Kinder sind indieser Lebenssituation besonders zu unterstützen.… Deshalb … wird eine Erhöhung der Altersgrenzeum zwei Jahre geprüft.Auch das ist ein Zitat, und zwar aus einer Antwort derBundesregierung vom 29. März 2010 – also fast dreiJahre alt – auf eine Kleine Anfrage der Linken. Des Wei-teren wird dort ausgeführt:Eine Anhebung der Altersgrenze für UVG-Leistun-gen auf die Vollendung des 18. Lebensjahrs … ent-spräche nicht dem Sinn und Zweck … dieser Vor-schrift. Die Unterhaltsleistung nach dem UVG hilft,wenn die Kinder aufgrund ihres Alters eine beson-ders intensive Fürsorge und persönliche Betreuungdurch den alleinerziehenden Elternteil brauchen.Da erstaunt es schon, dass nach der Düsseldorfer Ta-belle der Unterhalt für die Altersstufe von 0 bis 5 Jahrenam geringsten ist, dann für die Altersstufe von 6 bis11 Jahren steigt und in der Altersklasse von 12 bis17 Jahren nochmals um circa 20 Prozent erhöht wird.Das heißt doch im Klartext, dass laut diesen Empfehlun-gen die Bedarfe von Kindern steigen, unabhängig vomFürsorge- und Betreuungsbedarf. Frau Schröder – es istheute wieder einmal bezeichnend, wie sehr sie sich fürdie Sache interessiert; Herr Kues, ich weiß, dass Sie sichdafür interessieren, aber Ihre Ministerin wie immer nicht –dreht sich halt die Welt, wie sie ihr gefällt.Schon im Koalitionsvertrag steht unter der Über-schrift „Unterhaltsvorschuss“ geschrieben:Wir werden das Unterhaltsvorschussgesetz dahingehend ändern, dass der Unterhaltsvorschuss entbü-rokratisiert und bis zur Vollendung des 14. Lebens-jahres eines Kindes gewährt wird.
Ich betone: „Wir werden“, nicht: wir wollen. Aus diesem„Wir werden“ wurde dann ein Prüfauftrag, wie wir 2010ja gehört haben. Warum wird das Versprechen nicht ein-gelöst? Die FDP schreit hier immer: „Vertragstreue! Ver-tragstreue! Koalitionsvertrag!“ Die wissen schon nichteinmal mehr, wie der Einband aussieht.Dieses Versprechen einzulösen, wäre ein Leichtes.Stattdessen soll den Alleinerziehenden ein Monatsbei-trag vom Unterhaltsvorschuss im Rahmen der Entbüro-kratisierung abgezogen werden. Fünf Minuten Zeiter-sparnis, wie es im Gesetzentwurf heißt – und dafürverlieren Alleinerziehende einen Monatsbeitrag Unter-halt. Das ist ein „Sieg“ auf ganzer Linie, wie auch immerdie Koalition dies bezeichnen mag. Und dafür klopfenSie sich gegenseitig auf die Schultern. Das ist schwarz-gelbe Familienpolitik, wie sie im Buche steht.
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Jörn Wunderlich
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Das geschieht ja nicht das erste Mal. Das Ganze – dasregt mich als Lutheraner maßlos auf –
wird von dieser Regierung selbst immer als „christlich-liberal“ bezeichnet.
Ich weiß nicht, wie oft diese Bezeichnung hier im Laufeeiner Woche fällt. Nach meinem Dafürhalten grenzt dasschon an Blasphemie.
Diese Politik ist nicht christlich. Erklären Sie doch ein-mal einer alleinerziehenden Mutter oder einem alleiner-ziehenden Vater, warum das Jugendamt ab dem 13. Le-bensjahr den Barunterhalt einstellt. Braucht das Kindkein Essen mehr? Braucht es keine Bücher, keine Klei-dung, keine Teilhabe mehr? Erklären Sie das doch ein-mal. Das versteht keiner.Der Unterhaltsvorschuss ist zwingend auszubauen.Das habe ich schon mehrfach gesagt. Das erste Mal habeich es 2006 gesagt – die Vorsitzende des Familienaus-schusses wird sich vielleicht noch daran erinnern kön-nen –, da waren Sie ja noch in der Opposition. Seit sechsJahren fordere ich also den Ausbau des Unterhaltsvor-schusses.Die maximale Bezugsdauer von sechs Jahren ist mitnichts zu rechtfertigen, ebenso wenig die Altersober-grenze von zwölf Jahren. Fragen Sie vor Ort doch ein-mal die Familienrichter, die Rechtspfleger, die Anwälte,die Jugendämter, die Jugendamtsmitarbeiter und vor al-lem die Betroffenen. Wann kommt diese Regierung end-lich in der Realität an?
Kürzungen zulasten der Familien sind jedenfalls keineFamilienpolitik, wie sie die Familien brauchen, undkeine Familienpolitik, die von der Linken unterstütztwird.
Zu den Anträgen der SPD lässt sich konstatieren, dassin dem Maßnahmepaket mit seinen umfangreichen For-derungen viele gute Vorschläge enthalten sind, wie auchin den bereits gestellten Anträgen der Linken und derGrünen. Wir werden in den Beratungen – so hoffe ichwirklich – fraktionsübergreifend zu einem guten Ergeb-nis kommen, was den Familien in Gänze und insbeson-dere den Alleinerziehenden endlich wirklich hilft.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DasThema Alleinerziehende beschäftigt uns zum Ende die-ser Sitzungswoche. Ich denke, es wäre gut, wir würdenes mehr in den Fokus stellen; denn es geht hier mittler-weile um eine große Bevölkerungsgruppe.
Insofern freue ich mich, die ich selber Kinder alleinegroßgezogen habe, dass wir uns damit zumindest einmalauseinandersetzen. Ich glaube, dieses wichtige Thema,das die Veränderung unserer Gesellschaft betrifft, wirdin den nächsten Wochen, Monaten und Jahren auf derTagesordnung stehen.Die klassische Familienvorstellung von Vater, Mutterund Kindern ist immer seltener Realität. Scheidungensind an der Tagesordnung. Familien brechen auseinan-der, unabhängig davon, ob die Eltern verheiratet sindoder nicht. Heute Morgen haben wir den Gesetzentwurfzur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander ver-heirateter Eltern beraten. Da ist die Regierungskoalitiongut auf dem Weg. Wir kümmern uns durchaus um die Si-tuation von Alleinerziehenden, gerade auch um die Si-tuation der Kinder. Ich möchte das hier doch betonen,weil es ein bisschen unterzugehen scheint: Heute Mor-gen ist eine wirklich zentrale Reform im Familienrechtauf den Weg gebracht worden. Väter sind in Zukunft– das ist absehbar –, auch wenn sie nicht verheirateteVäter sind, sorgeberechtigt und auch sorgeverpflichtet.Ich glaube, da kommen wir zu einem Punkt, der beimThema Alleinerziehende zentral ist: In dem Wort „Al-leinerziehende“ steckt etwas drin, was wir uns vielleichtzu wenig bewusst machen, nämlich dass die Erziehungin einem solchen Fall die Aufgabe von nur einem Eltern-teil ist. Dazu gehören die tägliche Sorge, das Kümmernund das Organisieren des Alltags ohne die Hilfe einesPartners.In der Regel sind es Frauen, die alleinerziehend sind,auch wenn es zunehmend – das ist absolut zu begrüßen –alleinerziehende Väter gibt. Die Situation ist häufig fi-nanziell schwierig, weil die Väter oftmals keinen Unter-halt zahlen. Das ist meiner Ansicht nach kein Kavaliers-delikt. Das ist, wenn man es genau nimmt, sogar strafbar.
Aber in der Realität wird es hingenommen. Man stopftdie Löcher dann zum Beispiel mit dem Unterhaltsvor-schuss. Das ist aber nur die zweitbeste Lösung. Die besteLösung wäre, die Väter würden sich kümmern.
Gerade in dieser Hinsicht – zumindest an dieser Stellegibt es Einvernehmen mit den Bundesländern – wollen
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Sibylle Laurischk
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wir den Unterhaltsvorschuss verbessern: Wir wollen dieVorgehensweisen und die Verfahren entbürokratisieren.Ich bin weiterhin hoffnungsvoll, dass wir eine Aufsto-ckung des Unterhaltsvorschusses erreichen können; dasist ein erklärtes Ziel. Aber man muss da Geduld haben.Wir sind noch nicht am Ende der Diskussion; wir habendie Gesetzesberatungen noch vor uns.Alleinerziehende brauchen meiner Ansicht nach ganzdringend bessere Möglichkeiten zur Erwerbstätigkeit. Daist nicht nur ein Ausbau der Kinderbetreuung notwendig– das ist sicherlich ein zentrales Thema –; Alleinerzie-hende brauchen auch bessere Ausbildungsmöglichkeitenin der Wirtschaft. Es ist beispielsweise möglich, Halb-tagsausbildungen anzubieten. Alleinerziehende brauchenauch bessere Umschulungsmöglichkeiten. Gerade wennsie jung ein Kind bekommen haben und eventuell eineAusbildung oder ein Studium abbrechen mussten, ist diewirtschaftliche Situation oftmals schwierig. Ich glaube,auch in dieser Hinsicht ist noch einiges zu tun.Ich freue mich auf die kommenden Debatten im Aus-schuss.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Katja Dörner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Große Töne spucken, nichts dahinter:So lässt sich die Politik der Bundesregierung auch mitBlick auf Alleinerziehende charakterisieren; leider ist esso. Im Koalitionsvertrag wurde so einiges angekündigt.Aber in der an sich schon ziemlich mickrigen kinder-und familienpolitischen Bilanz von Schwarz-Gelb fälltauf, dass gerade die Umsetzung der Maßnahmen, diesich auf die Lebenssituation der Alleinerziehenden un-mittelbar positiv ausgewirkt hätten, nicht angegangenwird.Beispiel Unterhaltsvorschuss – das ist eben schon ge-nannt worden –: Angekündigt wurde, den Unterhaltsvor-schuss auszuweiten und bis zum 14. Lebensjahr einesKindes zu gewähren. Das ist eine wichtige und sinnvolleMaßnahme. Es gab sogar schon einen Gesetzentwurf.Die Umsetzung hat dann aber nicht stattgefunden; dennplötzlich war kein Geld mehr da. Ich wage mal, zu sa-gen: Das Geld wird jetzt wohl für das Betreuungsgeldgebraucht. Das ist völlig unsinnig und absolut inakzep-tabel.
Beispiel „Abzug von der Steuerschuld“. Selbstver-ständlich wäre es im Interesse der Alleinerziehenden,den bisherigen steuerlichen Entlastungsbetrag in einenAbzug von der Steuerschuld umzugestalten. Von dieserAnkündigung im Koalitionsvertrag will aufseiten derRegierungsfraktionen niemand mehr etwas wissen.Für Alleinerziehende wichtige Maßnahmen werdennicht umgesetzt. Dafür hat die Regierung flott an Stellengespart, die Alleinerziehende ganz besonders treffen,beispielsweise durch die Anrechnung des Sockelbetra-ges beim Elterngeld auf die Leistungen nach demALG II. Klar ist: Unterstützung können Alleinerzie-hende von dieser Regierung nicht erwarten.Das wundert auch nicht, wenn man sich anschaut,welches Bild Abgeordnete der Koalitionsfraktionen vonAlleinerziehenden haben.
„Alleinerziehende bevorzugt“ heißt eine Kolumne vonNorbert Geis,
die er im Februar 2010 in der Jungen Freiheit veröffent-licht hat. Leider ist der Kollege, der seine exponierteMeinung hier im Deutschen Bundestag immer wiedersehr gerne darlegt, jetzt nicht hier.
In seiner Kolumne kritisiert er, der Staat gebe den Al-leinerziehenden den Anreiz – Zitat –: „weder eine regu-läre Arbeit anzunehmen noch eine neue Partnerschafteinzugehen“. Er rechnet ganz genau aus, was eine Al-leinerziehende den Staat kostet und kommt zu demSchluss – Zitat –: „Da fällt es schwer, dem Sinn undZweck der staatlichen Hilfe noch Vertrauen zu schen-ken.“Alleinerziehende werden aus Sicht von Herrn Geisalso so gepampert, dass sie sich begeistert in ihrem Le-ben als Hartz-IV-Beziehende einrichten. Ich finde, dasist eine Unverschämtheit
angesichts der vielen Alleinerziehenden, die unterschwierigsten Bedingungen den Lebensunterhalt für sichund ihre Kinder verdienen, die mangels Kinderbetreu-ung nicht berufstätig sein können oder in Teilzeit odergar in Minijobs arbeiten müssen.
Fakt ist, dass knapp zwei Drittel der Alleinerziehen-den ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit bestrei-ten. Über die Hälfte der Alleinerziehenden arbeitet Voll-zeit. Damit liegt die Erwerbsquote deutlich höher als dieverheirateter Frauen. Trotzdem ist das Armutsrisiko vonAlleinerziehenden – zu 90 Prozent sind es bekanntlichFrauen – besonders hoch. Fakt ist auch, dass das durch-schnittliche Pro-Kopf-Einkommen in einem Haushaltmit Kindern unter drei Jahren bei etwa 1 230 Euro liegt;eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind unter dreiJahren kommt gerade einmal auf rund 750 Euro, alsorund ein Drittel weniger. Das besagt der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland.
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Katja Dörner
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Alleinerziehende sind häufig gesundheitlich beson-ders belastet. Der Anteil alleinerziehender Mütter, dievon ihren Krankenkassen zu Mutter-Kind-Kuren ge-schickt werden, liegt mit 34 Prozent deutlich über der In-anspruchnahme solcher Kuren durch Mütter, die in einerPartnerschaft leben. Auch das muss uns doch deutlichmachen, dass Alleinerziehende bessere Rahmenbedin-gungen brauchen.
Diffamierung von Alleinerziehenden ist also völligfehl am Platz. Es ist absolut notwendig, Alleinerzie-hende besser zu unterstützen. Hierzu gehört nicht nur dieAusweitung des Unterhaltsvorschusses, es gehört der be-darfsgerechte Kitaausbau dazu mit Öffnungszeiten, diesich am Bedarf der Eltern orientieren. Wir brauchen ge-setzliche Regelungen, die Eltern mehr Mitsprache beiUmfang und Einteilung ihrer Arbeitszeiten ermöglichen,auch hiervon würden insbesondere Alleinerziehendeprofitieren.Wir brauchen eine Kinder- und Familienförderung,die endlich mit dem unbegreiflichen Zustand Schlussmacht, dass die Familien, die sowieso ein hohes Ein-kommen haben, über die Freibeträge besonders von derstaatlichen Förderung profitieren, während Familien imALG-II-Bezug in die Röhre gucken. Wir Grüne finden:Eine Kindergrundsicherung wäre ein wichtiger und rich-tiger Schritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von dieser Bundes-regierung ist leider bei alldem nichts zu erwarten. Es istabsolut bitter, dass Alleinerziehende bei Ihnen, beiSchwarz-Gelb, keine Lobby haben. Wenn wir 2013 hiereine andere Regierungsmehrheit bilden, dann wird dasein Ende haben. Das können wir versprechen.
– Genau.Vielen Dank.
Der Kollege Frank Heinrich hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Ich halte es für ein Gerücht, dass dieAlleinerziehenden bei uns keine Lobby haben. Ich sagedas nur, um diesen Vorwurf einmal kurz aufzunehmen.Wir hören hier immer wieder und stimmen an dieserStelle auch überein, dass Politik immer mit dem Be-trachten der Wirklichkeit beginnt. Ich bin froh über dieersten beiden Rednerinnen, weil sowohl von Ihnen, FrauMarks, als auch von meiner Kollegin Schön herausgear-beitet worden ist, dass es Respekt ist, den wir denjenigenentgegenbringen, die aus unterschiedlichen Gründen al-leinerziehend sein müssen.Zwei Drittel aller Alleinerziehenden in Deutschlandsind erwerbstätig. Das hat mich sehr überrascht, als ichmich damit noch einmal neu auseinandergesetzt habe.Ja, Sie haben recht: Eine der Ursachen für Ihren Antragist, dass fehlende oder nicht ausreichende Erwerbstätig-keit einer der Gründe ist, warum die Hilfequote in die-sem Bereich so hoch ist, ganz ohne Frage. Das ist dieeine Seite. Auf der anderen Seite sind relativ viele Al-leinerziehende tatsächlich beschäftigt, wovor ich denHut ziehe. Da liegt ein Berg von Arbeit vor uns. Sie ha-ben angeboten, in den Ausschüssen dann auch wirklichkonstruktiv zusammenzuarbeiten, und da sind wir ganzOhr.Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt – aus Ar-beitslosigkeit und SGB-II-Bezug in diesem Fall – hatsich allerdings in den letzten Jahren verbessert. Ja, dashat auch mit der konjunkturellen Entwicklung zu tun, diewiederum allerdings mit den politischen Rahmenbedin-gungen zu tun hat: Schwarz-Gelb in den letzten drei Jah-ren, vorher in der Großen Koalition.Seit 2008 geht die Zahl der Bedarfsgemeinschaftenvon Alleinerziehenden in diesem Bereich tatsächlich zu-rück. Ich hatte hier die Worte „allmählich zurück“ ste-hen. Ja, das ist auch kritisch zu verstehen; diese Zahl istimmer noch viel zu hoch. Aber es wird ja schon eineganze Menge gemacht. Zur Darstellung der Realität ge-hört auch – eine entsprechende Bemerkung fiel vorhinschon einmal –, dass Sie eine Menge von den Dingen,die tatsächlich bereits unterwegs sind und schon passie-ren, in Ihrem Antrag verschweigen. Vieles von dem, wasSie in Ihren Anträgen an Aufträgen beschreiben, gibt esschon.So hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozia-les in die Zielvereinbarung aufgenommen, dass die Inte-grationsquote Alleinerziehender einen besonderen Stel-lenwert hat. Das heißt, da ist erkannt worden, dass da einMangel ist, dass da ein Problemfeld besteht, und dies hateine hohe Priorität bekommen. Neu ist, dass sich dieBundesagentur in der Zielvereinbarung für dieses Jahrauf die Steigerung der Integrationsquote dieser Perso-nengruppe verpflichtet hat. Ja, es ist nachdenkenswert,dass das fortgeschrieben wird.
Zu nennen ist, dass seit 2010/11 die „Erschließungvon Beschäftigungschancen für Alleinerziehende“ eingeschäftspolitischer Schwerpunkt der Bundesagentur ist.Das steht auch in Ihrem Antrag, Sie gehen darauf ein;das verschweigen Sie nicht.Ihr Antrag besagt außerdem, dass die Förderung vonAlleinerziehenden aus Mitteln des SGB II auch ihremAnteil an den Arbeitslosen im SGB II entspricht; also
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24593
Frank Heinrich
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keine explizite Benachteiligung der Personengruppe,keine Unterrepräsentierung.Ferner wurden seit 1. Januar letzten Jahres Beauf-tragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt gesetzlicheingeführt, die zum einen bei Gleichstellungsfragen un-terstützen und beraten sollen, zum anderen aber auch zurVereinbarkeit von Familie und Beruf, wobei der beson-dere Fokus auf der Situation von Alleinerziehendenliegt. Diese Beauftragten sind bei der Erarbeitung vonörtlichen Arbeitsmarkt- und Integrationsprogrammenbeteiligt bzw. sollen beteiligt werden. Das ist ihr Auf-trag. Ich denke, sie sorgen bei der Ausübung dieser Auf-gabe auch dafür, dass die Gleichstellung in den Köpfender Mitarbeiter der Jobcenter tatsächlich präsent ist.Das ist die erste Forderung Ihres Antrags; das ist et-was, was eingeführt und jetzt schon mehr als anderthalbJahre unterwegs ist. Dann kann man prüfen, ob das inden einzelnen Ämtern tatsächlich passiert. Aber es istbereits beauftragt.
Das Bundesministerium flankiert verstärkte Aktivie-rungs- und Integrationsbemühungen insbesondere durchzwei ESF-finanzierte Bundesprogramme. In dem Pro-gramm „Gute Arbeit für Alleinerziehende“ gibt es77 Projekte, die angeschoben wurden, um ganz beson-ders Erwerbs- und Verdienstchancen zu erhöhen und so-mit dieser Personengruppe danach ein Leben unabhän-gig von staatlichen Leistungen zu ermöglichen.Dazu zählt auch das Netzwerk, das vorhin von einemKollegen genannt wurde. Die „Netzwerke wirksamerHilfen für Alleinerziehende“ gibt es seit April letztenJahres; die Laufzeit reicht bis Mitte nächsten Jahres. DasProgramm umfasst Mittel in Höhe von 25 MillionenEuro. Dieses Förderprogramm zielt darauf, effektiveVerknüpfungen von Unterstützungsangeboten und diedauerhafte Verbesserung der Kooperationsstrukturen vorOrt zu ermöglichen
mit dem Ziel, herauszufinden, mit welchen Projekten inwelchen Netzwerken am besten gearbeitet wird, um sol-che Ansätze dann in die Regelorganisation insbesondereder Jobcenter zu überführen.
Kollege Heinrich, gestatten Sie eine Frage?
Einen kleinen Moment! Ich möchte zuvor gern noch
mit diesem Punkt zu Ende kommen.
Die Arbeitgeberansprache nimmt 2012 und 2013 eine
zentrale Rolle unter dem Dach der Fachkräfteoffensive
ein. Die Teilkampagne „Beschäftigungschancen für Al-
leinerziehende erschließen“ ist dafür ein Beispiel und
wird dort besonders genannt. Das Ziel ist eine möglichst
hohe Quote der Vermittlung von Alleinerziehenden in
Arbeits- und Ausbildungsstellen. Meine Erfahrung in
Chemnitz ist – ich habe die beiden letztgenannten Pro-
jekte bei mir vor Ort besucht –, dass diese Projekte tat-
sächlich Fuß fassen und wahrgenommen werden.
Die Zwischenfrage könnte jetzt gestellt werden.
Dann ist jetzt eine Frage oder eine Bemerkung nach
unserer Geschäftsordnung möglich.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben ja
sehr richtig erklärt, dass die Armut bei alleinerziehenden
Elternteilen – natürlich zu 80 Prozent Frauen – am bes-
ten durch die Integration in den ersten Arbeitsmarkt be-
seitigt werden könnte. Ich könnte mir vorstellen, dass
Sie mir zustimmen, wenn ich sage, dass als Vorausset-
zung dazu die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ge-
schaffen werden muss. Sie erinnern sich sicher – es ist ja
nicht lange her – an die gestrige Diskussion um das un-
sägliche Betreuungsgeld – Geld, das ja nicht dazu da
sein soll, Kindergartenplätze auszubauen. Dieser Ausbau
scheitert daran, dass die Kommunen kein Geld haben,
Erzieherinnen zu bezahlen,
und dass die Kommunen nicht genügend Erzieherinnen
ausbilden können, weil dafür die finanziellen Möglich-
keiten nicht vorhanden sind.
Können Sie mir zustimmen, dass die Netzwerke zur
Betreuung der Alleinerziehenden oder auch die Mittel,
die man für das Betreuungsgeld ausgibt, sicherlich bes-
ser in der Ausbildung von Erzieherinnen aufgehoben
wären, um die Voraussetzung zu schaffen, dass Allein-
erziehende sich auf dem ersten Arbeitsmarkt überhaupt
bewerben können?
Danke, Frau Kollegin. – Ich kann Ihnen in der Folge-rung dessen, was Sie in dieser Frage implizieren, nichtfolgen, dass nämlich das Betreuungsgeld und die Ausbil-dung von Erzieherinnen gegeneinander ausgespielt wer-den. Die Frage allerdings, ob die Förderung und die Aus-bildung von zum Beispiel Erzieherinnen tatsächlich einehöhere Priorität haben soll, kann ich klar mit Ja beant-worten. Das ist aber nicht nur ein Regelungsbedarf in derBundespolitik, sondern da sind tatsächlich die Netz-werkstrukturen vor Ort und damit auch die Kommunenund die Bundesländer mit verantwortlich. Aber dass sichdies gegen das Betreuungsgeld ausspielen ließe, dieseVerbindung sehe ich nicht; ich würde sie auch klar ver-neinen.Ich komme nun zu den Forderungen Ihres Antrags. Inder siebten und achten Forderung geht es um die Flexibi-lisierung der Kinderbetreuung und den Zusammenhangvon Kinderbetreuung und Arbeitsplatz. Sie stellen in Ih-rem Antrag einen zwingenden Zusammenhang her. Ei-nen solchen Zusammenhang gibt es tatsächlich an vielen
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Frank Heinrich
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Stellen; aber man kann auch genau das Gegenteil bele-gen. In einer Stadt, die nicht weit von meiner StadtChemnitz entfernt ist, in Gera, ist man zwar bei der Kita-ausstattung ganz vorne in der Statistik – das bezieht sichauch auf Ihre Frage von eben –, aber es gibt trotzdemeine überdurchschnittliche Anzahl arbeitsloser Allein-erziehender. Dies ist also nicht direkt miteinander ver-knüpft. Hier spielen also sehr viel mehr Faktoren als nurdiese beiden mit.Für definitiv richtig halte ich die Forderung nach ei-ner Flexibilisierung der Kinderbetreuung, die allerdingsnicht nur eine politische Angelegenheit ist, sondern diedie gesellschaftlichen Kräfte eher als uns hier im Bun-destag betrifft.
Ja, ich unterstütze, dass es nachdenkenswert ist, diearbeitsmarktpolitischen Maßnahmen auch mehr im Be-reich Teilzeit anzuwenden, aber ich sage Nein, wenn Siedas von Ihnen immer wieder genannte Allheilmittel „ge-setzlicher Mindestlohn“ in Ihrer neunten Forderungansprechen. Es ist aber nicht ein generelles Nein; Siekennen unsere Haltung dazu: branchenspezifisch undausgehandelt im freien Spiel der Kräfte bei der Entwick-lung von Tarifen. Da sind wir ja unterwegs. Flächen-deckende Mindestlöhne bewirken vielmehr, dass Ge-ringqualifizierte mit ihren Familien dauerhaft vomArbeitsmarkt ausgeschlossen werden.Zum Schluss ein grundsätzlicher Gedanke, um viel-leicht in moralischer Hinsicht den Faden aufzunehmen:Das Klima in Gesellschaft und Beruf ist leider immernoch nicht überall so positiv, was den Umgang mit Kin-dern angeht, wie das in Ihrem Antrag unterstellt wird.Das spüren nicht nur Alleinerziehende. Selten finden vorallem Frauen durchgehend Unterstützung bei Arbeitge-bern und Arbeitskollegen. Mein Plädoyer: Nicht nur derGesetzgeber muss das Problem stärker in den Fokus neh-men und handeln, sondern alle gesellschaftlichen Kräfte,die da sind: Familien, Betriebe, Gewerkschaften, Kir-chen, Vereine und am Schluss auch wir als Politik. Des-halb gehen wir auch mit Ihren Gedanken und Vorschlä-gen in die Debatte in den Ausschüssen und hoffen aufeine konstruktive Auseinandersetzung, die Sie, FrauMarks, angekündigt haben.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir brauchen uns nicht zu wundern, dass sich immerweniger Frauen in unserer Gesellschaft für Kinder ent-scheiden. Das Risiko, in Armut zu fallen, ist für Mütterenorm hoch. Ganz besonders betroffen sind Frauen inEinelternfamilien. Bei ihnen ist das Risiko fünfmal hö-her als bei Frauen, die einen Partner haben.Schauen wir uns einmal an, wie viele alleinerziehendeFrauen sehr schnell in Langzeitarbeitslosigkeit, also inden Hartz-IV-Bezug, fallen: Von den alleinerziehendenFrauen mit einem Kind sind es vier von zehn. Haben siemehrere Kinder, dann sind es schon acht von zehn. DieseZahlen müssen uns alarmieren. Das ist eine gesellschaft-liche Ungerechtigkeit, die wir unbedingt bekämpfenmüssen. Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt.
Herr Kollege Heinrich und Frau Kollegin Schön, die-ser Antrag ist auch dringend nötig. Wenn alles so toll, sogut und in Ordnung wäre, wie Sie es beschrieben haben,
dann hätten wir diese katastrophalen Zahlen nicht. Wirbrauchen Maßnahmen, damit sich in unserer Gesell-schaft etwas ändert, damit Alleinerziehende eine starkeLobby in unserem Land haben.
Wie sieht die Wirklichkeit für alleinerziehendeFrauen in unserer Gesellschaft aus? Sie üben häufig eineprekäre Beschäftigung aus, wenn sie überhaupt Arbeithaben. Sie verdienen weniger, sind öfter befristet be-schäftigt und arbeiten, obwohl die Quote der vollzeitbe-schäftigten Mütter unter den Alleinerziehenden beson-ders hoch ist, häufiger unfreiwillig Teilzeit als Mütteraus Paarhaushalten.Nun müssen wir schauen: Was tun die Bundesagenturfür Arbeit und die Jobcenter, um diese Situation zu ver-bessern? Fakt ist: Jahrelang wurde dort für Alleinerzie-hende auf Sparflamme gekocht. Sie mussten zugunstenArbeitsloser und Arbeitsuchender, die leichter zu vermit-teln sind, hinten anstehen. Das belegt eine Studie, diedas Bundesministerium für Arbeit auf unsere Initiativehin in Auftrag gegeben hatte. Unser damaliger Arbeits-minister Olaf Scholz hat diese Benachteiligung aufge-griffen und zum Thema gemacht.2010 klingelte es dann auch bei der Ministerin vonder Leyen. Die Förderung von Alleinerziehenden ist seit2010 einer von sechs Geschäftsschwerpunkten der Bun-desagentur für Arbeit. Das ist ein guter Schritt in dierichtige Richtung. Immer mehr Alleinerziehende sitzennun in Maßnahmen der BA und der Jobcenter. Eine neueStudie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung der BA sagt, dies erhöhe die ansonsten sehr nied-rige Chance auf sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung enorm. Das ist ein hoffnungsvolles Ergebnis.Tatsache ist aber auch: Noch immer werden anteils-mäßig zu wenig Alleinerziehende überhaupt gefördert.Leider belegt die Studie auch: Die Chance, aus Hartz IVheraus innerhalb der nächsten anderthalb Jahre eine be-darfsdeckende sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung zu finden, liegt bei Müttern aktuell bei unter 8 Pro-zent. Das muss man sich einmal vorstellen.
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Gabriele Hiller-Ohm
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Es bedarf also noch sehr großer Anstrengungen, umFrauen gerechte Chancen einzuräumen. Solche Anstren-gungen müssen dann aber auch unternommen werden.
Damit dies gelingt, müssen BA und Jobcenter dierichtigen Instrumente und vor allem das nötige Geld fürMaßnahmen bekommen. Was aber machen Sie, liebeKolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb?
Was macht Ihre Arbeitsministerin? Sie dampfen diedringend benötigten Gelder für eine erfolgreiche Ar-beitsvermittlung rigoros zusammen. Sie weiten die Mi-nijobs aus und rauben damit gerade AlleinerziehendenMöglichkeiten, in reguläre Beschäftigung zu kommen.Sie führen ein Betreuungsgeld ein, das Alleinerziehendein ihren beruflichen Perspektiven massiv benachteiligenwird. Diesen Ungerechtigkeiten muss ein Riegel vorge-schoben werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU undFDP, nehmen Sie die Wirklichkeit von Alleinerziehen-den endlich wahr und richten Sie die Arbeitsmarktpolitikdarauf aus! Denn hier liegt einiges im Argen. Nur zweiBeispiele dazu: Geforderte Arbeits- und Wegzeiten sindfür arbeitslose Alleinerziehende oft viel zu lang. GehenAlleinerziehende eine neue Partnerschaft ein und grün-den einen gemeinsamen Haushalt, ist der neue Partnersogar für die Kinder sofort einstandsverpflichtet. Paareohne Kinder haben ein Jahr Zeit, sich zu beschnuppern.Das ist eine hanebüchene Ungleichbehandlung mit fata-ler Konsequenz.
Alleinerziehende im Leistungsbezug bleiben meist al-leinerziehend. Das dürfen wir nicht länger zulassen.
Wir fordern deshalb in unserem Antrag: Gleichstel-lungspolitik im SGB II endlich gesetzlich verankern!Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und das Nachholenvon Schulabschlüssen in Teilzeit anbieten! Fördermaß-nahmen auch für Mütter in Elternzeit! Flexible Kinder-betreuung sicherstellen!Liebe Kolleginnen und Kollegen, es verstößt gegenGrundwerte unserer Demokratie, dass Frauen benachtei-ligt und vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, nurweil sie ihre Kinder allein betreuen und großziehen müs-sen.
Kollegin Hiller-Ohm, das Minus vor der Zeitangabe
zeigt Ihnen, dass Ihre Redezeit bereits entsprechend
überschritten ist.
Ich komme zum Schluss. – Wir können uns so etwas
auch überhaupt nicht leisten, wenn wir wollen, dass un-
ser Land wettbewerbsfähig bleibt. Wir brauchen Fach-
kräfte. Wir brauchen diese tollen, hochmotivierten
Frauen. Setzen Sie sich endlich für Alleinerziehende ein!
Diese brauchen eine starke Lobby.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Wunderlich, Sie haben sich hier in der Debatte alsbekennender Lutheraner gezeigt. Das finde ich gut.
Dann wissen Sie aber auch, dass die Heilige Schrift da-vor warnt, dass Propheten auftreten werden, die falscheWunder und Zeichen versprechen.
Herr Wunderlich, wenn ich mir Ihre Politik und dieAnträge, die Sie Woche für Woche in den DeutschenBundestag einbringen, anschaue, dann muss ich sagen:Sie versuchen immer wieder, den Eindruck zu erwecken,als könne Politik Manna vom Himmel regnen lassen. AlsLutheraner sollten Sie aber wissen, dass das den Men-schen und der Politik nicht möglich und Gott selbst vor-behalten ist.
Deshalb sollten Sie sich hier lieber mit realistischer Poli-tik auseinandersetzen und den Menschen nicht Sand indie Augen streuen.
Lieber Herr Wunderlich, zu dieser realistischen Poli-tik gehört es auch, dass die Integration von Menschen inden Arbeitsmarkt eine schwierige Aufgabe ist. Aberkaum eine Regierung – vor allen Dingen nicht in denletzten Jahrzehnten – war bei der Aufgabe, Menschen inden Arbeitsmarkt zu integrieren, so erfolgreich wie diese
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24596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Pascal Kober
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Regierungskoalition. Das betrifft ausdrücklich auch Al-leinerziehende im SGB-II-Bezug. Frank Heinrich hatschon darauf hingewiesen. In den Jahren dieser Regie-rungskoalition ist es gelungen, über 200 000 Alleinerzie-henden in die Erwerbstätigkeit zu verhelfen.Das ist für jeden Einzelnen, für jede Einzelne ein Rie-senerfolg. Darüber sollten wir uns zunächst einmal ge-meinsam freuen. Dass dieser Schritt vielen noch nichtgelungen ist und darüber hinaus weiterer Unterstüt-zungsbedarf besteht, will hier niemand bestreiten. Aberwir können keine Wunder versprechen, sondern wirmüssen realistisch Politik machen.Zu dieser realistischen Politik gehört, dass sich dieRegierungskoalition – Frank Heinrich hat schon daraufhingewiesen – mit einzelnen und klugen Programmendieser Aufgabe stellt. „Gute Arbeit für Alleinerzie-hende“ ist ein solches Programm, das wir mit insgesamt60 Millionen Euro fördern. Frank Heinrich hat auf die25 Millionen Euro hingewiesen, mit denen das Pro-gramm „Netzwerke wirksamer Hilfen für Alleinerzie-hende“ unterlegt ist.Am Ende – das wissen wir alle – ist das Hauptprob-lem für Alleinerziehende, dass es an Kinderbetreuungfehlt.
An dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen, muss man auch ein-mal darauf hinweisen, dass der Bund hier in den vergan-genen Jahren in Vorleistung getreten ist.
Er hat seine Aufgaben erfüllt, wenn es um den Ausbauvon Kinderbetreuung geht. Viele Bundesländer – auchSPD-regierte Länder – rufen die zur Verfügung gestell-ten Mittel jedoch nicht in dem Maße ab, wie es möglichwäre. Trotzdem steht diese Regierungskoalition auchweiterhin zum Ausbau von Kinderbetreuung. Wir wer-den den Ausbau von Kinderbetreuung ab dem Jahr 2014mit 845 Millionen Euro weiter fördern.
Das sind Riesenleistungen, die diese Gesellschaft er-bringt. Ich glaube, dass die Alleinerziehenden in dieserRegierungskoalition einen guten Anwalt haben.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün-sche Ihnen ein schönes Wochenende.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11032, 17/11038 und 17/11142 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 47 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem An-
trag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Klaus
Ernst, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Bundeseinheitliche Finanzierung von Frauen-
häusern sicherstellen
– Drucksachen 17/243, 17/2070 Buchstabe b –
Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Marlene Rupprecht
Nicole Bracht-Bendt
Cornelia Möhring
Monika Lazar
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat die Kollegin Winkelmeier-Becker für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Mit meiner zweiten Rede kann ich anschließen andie erste Rede, die ich heute gehalten habe. Auch hiergeht es wieder um den besonderen Blickwinkel auf dieSituation von Frauen, diesmal von Frauen in einer be-sonderen Lage, nämlich in einer Gefahren- und Notsi-tuation, in der sie schnell Hilfe brauchen, weil sie zuHause einen massiven und gewaltträchtigen Konflikt ha-ben, in der Regel mit dem Partner.Die Aspekte, die wir vorhin in der Debatte angespro-chen haben, spielen auch hier eine Rolle: Die eigene so-ziale Sicherheit, der eigene Status, die eigene Sicherheit– auch die Selbstsicherheit – der Frauen sind häufig,auch in der Entstehungsgeschichte eines solchen Kon-flikts, mit von Bedeutung. Auch in der Situation derHilfsbedürftigkeit macht es einen Unterschied, ob manauf eine eigene Absicherung zurückgreifen kann odernicht.Bei den Themen, die wir schon behandelt haben, kannman, wenn man so will, den einen oder anderen Stand-punkt kontrovers diskutieren. Bei dem Thema „Gewaltgegen Frauen“ gibt es ganz klar den gemeinsamen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24597
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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Standpunkt, dass das ein No-Go ist und wir da ein wirk-sames Hilfesystem entgegensetzen müssen.Dieses Hilfesystem ist in Deutschland sehr vielfältiggewachsen in der Zuständigkeit der Länder und Kom-munen. Da wird bereits jetzt sehr fachkundige, enga-gierte und auch wirkungsvolle Hilfe geleistet.
Trotzdem ist klar – das ist der Befund –, dass der Bedarfan niedrigschwelliger und erreichbarer Hilfe noch nichtgedeckt ist.Wir haben deshalb in dieser Legislaturperiode zweiDinge auf den Weg gebracht, um das System gezielt zuverbessern. Zum einen haben wir für Frauen in Notsitua-tionen eine Helpline organisiert, ein Telefonangebot, dasrund um die Uhr, 24 Stunden, niedrigschwellig undschnell zu erreichen ist.Am anderen Ende dieser Helpline sitzen qualifizierte,gut ausgebildete Beraterinnen mit mehrsprachigem An-gebot – denn es richtet sich ja auch an Frauen mit unter-schiedlichem Sprachhintergrund –, die dann beratenkönnen, was in der jeweiligen Situation schnell an Hilfeverfügbar und erreichbar ist. Das ist ein ganz wichtigesHilfsangebot, um die verschiedenen Dinge zu koordinie-ren und die Frau wirklich dorthin zu lotsen, wo ihr ge-holfen werden kann. Voraussetzung ist natürlich, dass esein Angebot gibt.Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, ob das An-gebot reicht. Das ist der zweite Punkt, den wir im Koali-tionsvertrag festgeschrieben hatten, nämlich zunächsteinmal eine gesicherte Faktenbasis über das zu schaffen,was denn in Deutschland in den verschiedenen Regionenbisher schon besteht und wo Defizite sind.Wir haben über 350 Frauenhäuser plus weitereSchutzwohnungen, die zusammen 6 000 Plätze bieten.Insgesamt werden diese 6 000 Plätze pro Jahr von etwa15 000 bis 17 000 Frauen und ihren Kindern, zusammenetwa 34 000 Personen, in Anspruch genommen. Dazukommen 750 Fachberatungsstellen mit verschiedenenArbeitsschwerpunkten, Migration, sexueller Missbrauchusw. Da sind verschiedene Themen von besonderer Be-deutung.Dieser Bericht konstatiert allerdings auch Zugangs-schwierigkeiten. 9 000 Frauen werden bei der Einrich-tung, bei der sie zunächst anklopfen, abgewiesen undmüssen weitervermittelt werden, wenn es denn über-haupt gelingt, etwas Angemessenes für sie zu finden.Klar ist also, dass weiterer Bedarf besteht, dass Defi-zite ausgemerzt werden müssen. Da stellen sich – wieimmer – zwei Fragen. Das eine ist die Frage: Was sollpassieren, und wie wird es finanziert? Die zweite Frageist: Wer ist zuständig, wer soll es machen?Die Linken schlagen in ihrem Antrag vor, das allesauf der Bundesebene zu machen und ein Bundesgesetzzur Regelung der Finanzierung der Frauenhäuser zuschaffen. Wir haben aber – ich sagte es eingangs – einehistorisch gewachsene Situation, was die Kommunenund die Länder angeht. Diese haben sich auf der gemein-samen Frauenministerkonferenz im Jahre 2010 auch fes-ten Willens gezeigt, diese Aufgabe weiter wahrzuneh-men. Wir haben konstatiert, dass sie diese Aufgabe sehrernst nehmen. Sie haben sich auch den Bericht angese-hen und werden jetzt schauen, was für sie daraus fürSchlüsse zu ziehen sind. Daher dürfte es auch unter ver-fassungsrechtlichen Gesichtspunkten sehr schwierigsein, zu sagen: Nein, Länder, ihr macht das alles nichtgut genug. Der Bund ist zuständig.Ich sehe auch nicht, dass sich die Hoffnung, die Siedamit verbinden, erfüllt, nämlich dass der Bund so etwasper se alles besser machen würde. Wenn der Bund dieLänder aus dieser Aufgabe entlässt, heißt das ja zunächstauch, dass die Länder das Geld, das sie da bisher hinein-stecken, nicht mehr für diese Aufgabe zur Verfügungstellen würden. Es müsste also der Bund all das substitu-ieren, was die Länder jetzt tun, und er müsste dann, da-mit sich vielleicht die Erwartung erfüllt, dass es besserwird, noch etwas obendrauf legen. Es ist zunächst sehrzweifelhaft, ob das passiert.Ich sehe, wie gesagt, auch nicht per se einen Vorteildarin, die Zuständigkeitsebene zu ändern. Die Ländersind durchaus in der Lage, da, wo es sinnvoll und not-wendig ist, zu kooperieren. Das haben sie gerade bei ih-rem Plan gezeigt, die Abiturprüfungen über die Länderhinweg in eigener Zuständigkeit besser zu koordinieren,weil da durchaus ein Bedarf gesehen wird. Das könnensie auch bei anderen Aufgaben machen, sodass sichnicht unbedingt die Notwendigkeit ergibt, den Bund indie Aufgabe eintreten zu lassen und damit die Länderaus der Aufgabe herauszudrängen.Das heißt nicht, dass der Bund sich damit automatischaus dem ganzen Thema verabschiedet. Der Bund hatdurchaus eigene Möglichkeiten, die Situation der betrof-fenen Frauen zu verbessern. Viele beziehen Leistungennach SGB II oder SGB XII. Genau in diesem Rege-lungsbereich sind Probleme ausgemacht, zum Beispielwenn es um die Situation von Studentinnen, von Mi-grantinnen geht oder wenn es auch nur darum geht, dieBewilligungszeiten zu verkürzen, damit die Frau nichtschon wieder aus dem Frauenhaus weg ist, bevor der be-willigende Bescheid kommt.Ich würde vorschlagen, wir machen da, wo wir mitSicherheit zuständig sind, unsere Hausaufgaben und ent-lassen die Länder nicht aus der Pflicht, sondern sorgendafür, dass auch sie weiterhin für die gemeinsame Auf-gabe zuständig sind.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin MarleneRupprecht das Wort.
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24598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe 20 Jahre lang ein Frauenhaus geführt. Nur ganznebenbei: ehrenamtlich, ohne Einkünfte.
Eigentlich habe ich gedacht, wir könnten uns heutedem widmen, was die Frauenhäuser derzeit wirklich be-lastet. Ich habe noch einmal nachgeguckt. Als wir beimletzten Mal darüber beraten haben, habe ich in meinerRede gesagt: Hinsichtlich der Finanzierung sind wirnoch immer am Anfang, wenn es darum geht, die Exis-tenz der Frauenhäuser abzusichern.Ich kann wirklich nur sagen: Es ist unerträglich, dasswir so lang dafür brauchen! Wir schaffen es, in Sommer-pausen Sondersitzungen durchzuführen und aus demStand über Nacht etwas zu machen, aber wir schaffendas nicht, wenn es um die Daseinsvorsorge von überwie-gend Frauen und Kindern geht, die von Gewalt betroffensind. Dahinter steckt doch System. Sonst würden wir et-was tun. So sehe ich das zumindest.Es gehört ganz eindeutig zur Daseinsvorsorge nachdem Grundgesetz, dass wir all das vorhalten, was Men-schen brauchen, um menschenwürdig am Leben teilha-ben zu können, und zwar ohne bedroht oder von Gewaltbetroffen zu sein. Wenn wir das so annehmen, dannmuss man im zweiten Schritt sagen: Die Daseinsvor-sorge – hier gebe ich Ihnen recht, Frau Winkelmeier-Becker – ist überwiegend Aufgabe der Kommune. Dasgehört ganz selbstverständlich dazu. Jeder würde sichwehren, wenn die Kommune das nicht machen würde.Zu ihren Aufgabengebieten gehören: Straßen, Wasser,Abwasser, Müllabfuhr und Licht. All das gehört dazu. Essind übrigens fast alles männliche Gewerke, die hier ver-geben werden. Deshalb wird das gemacht. Kein Mannwürde auf die Idee kommen, ehrenamtlich Gräben aus-zuheben, damit man endlich einen Abfluss bekommt.Niemand käme auf diese Idee.
Frauen sagen aber: Wir können es nicht mehr mit an-sehen, dass Frauen und deren Kinder von Gewalt betrof-fen sind, also tun wir etwas dagegen. Wir opfern unsereFreizeit und schauen, dass wir sie rund um die Uhr ver-sorgen, das heißt, sieben Tage die Woche 24 Stundenlang einen Dienst vorhalten.Das tun alle bei uns. Ich musste einmal meinem Vor-stand berichten, dass alle Mitarbeiterinnen bis auf eine,die Urlaub hatte, krank sind. Wir standen also ohne Mit-arbeiterinnen dar. Wissen Sie, was die Rechtsanwältin-nen, Bankerinnen und Stadträtinnen, die alle einmal imVorstand waren, getan haben? Sie haben in ihre Taschegegriffen, den Kalender herausgeholt, ihn aufgeschlagenund gesagt: Da könnte ich in der Firma eine Stundefreinehmen; da komme ich. Am nächsten Tag nehme ichhalt einen halben Tag Urlaub und komme. – Das hätteich gerne in einem Männergremium erleben mögen. Diehätten gesagt: Ja, gut, dann müssen wir überlegen, obwir jemanden einstellen. Wer macht es denn? Bilden wirvielleicht eine Arbeitsgruppe.Ich erzähle das bewusst deshalb, weil wir hier so zö-gerlich verfahren, wenn es um die Finanzierung geht.Ich bin der Ansicht, dass wir uns endlich daransetzenmüssen. Der Bund hat die ganz wichtige Aufgabe, zu sa-gen: Es darf nicht wie ein Flickenteppich aussehen undvom Engagement einzelner Beteiligter abhängen, ob einHaus gesichert ist oder nicht. Deshalb hat der Bund dieVerpflichtung, die Rahmenvereinbarungen mit denen zutreffen, die mit zuständig sind; da gebe ich Ihnen recht.Wir dürfen die Länder nicht außen vor lassen – aberauch die Kommunen nicht. Sie müssen sehen: Es ist ihreAufgabe, dass sie in ihrem Gebiet etwas vorhalten.Den Rahmen müssen wir aber setzen. Wir müssen unsdarauf verständigen, nicht über Tagessätze zu finanzie-ren. Wenn Telefonberatung und Nachsorge angebotenwerden: Wo wollen Sie das denn im Einzelnen abrech-nen? Soll ich die Frau fragen, wo ihr Konto ist, von demich abbuchen kann? Das kann ich doch nicht. Das allesmuss mit vorgehalten werden.Deshalb muss es eine bundeseinheitliche institutio-nelle Förderung geben, die so ausgestaltet werden muss,dass nicht die ganze Arbeitskraft damit gebunden wird,das Geld abzusichern. Das ist der erste wichtige Punkt,den wir angehen müssen.Der zweite Punkt. Wir müssen damit beginnen, hierzu sagen, was wir Frauen gemacht haben und was nochgemacht werden muss. Wir haben ein relativ vielfältigesAngebot. Ein gutes Beispiel dafür ist die Hotline fürFrauen. Das wird uns auch im Europarat bestätigt.Gleichzeitig heißt es dort: Ihr müsst viele Frauen abwei-sen, weil nicht genügend Plätze da sind. – Im RaumKöln/Bonn mussten weit über 2 000 Frauen im Jahr ab-gewiesen werden, weil kein Platz mehr vorhanden war.Diese Frauen kommen nirgendwo anders unter. Dasheißt, sie gehen entweder in eine Notschlafstelle, odersie müssen bei Verwandten auf der Luftmatratze auf demBoden schlafen, wenn sie der Gewalt entfliehen wollen.Das kann es nicht sein. Also müssen wir auch da se-hen: Wie viele Plätze brauchen wir für wie viele Frauenin den einzelnen Kommunen in unserer Republik? Dassdas der Bund nicht macht, weiß ich. Aber er muss dieRahmenbedingungen setzen und dafür sorgen, dass allean einem Tisch zusammenkommen – wir finden auf an-deren Gebieten immer einen Weg, alle zusammenzubrin-gen – und darüber reden, wie wir diese Lücke schließen.In dem Bericht über die Situation von Frauenhäusernsind im Wesentlichen all diese Punkte enthalten. Es wirdnicht kooperiert, die Frauenhäuser sind nicht miteinan-der vernetzt. Wir haben riesige Probleme, wenn Frauenaus Sachsen nach Bayern gehen oder Frauen aus Bayernnach Rheinland-Pfalz reisen, weil für die Aufnahme die-ser Frauen kein Ausgleich vorgesehen ist. Das heißt, esist den Häusern überlassen, wie sie das finanzieren.Weiterhin haben wir inzwischen einen hohen Migran-tinnenanteil aus den EU-Staaten. Diese dürfen einreisen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24599
Marlene Rupprecht
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– das ist im EU-Gebiet natürlich erlaubt –, aber sie ha-ben keinen Rechtsanspruch auf irgendeine Sozialleis-tung. Ein konkreter Fall aus dem von mir geleitetenFrauenhaus: Eine Migrantin wird nach Deutschland ge-holt, wo ihr die Heirat versprochen wird. Sie wird zurProstitution gezwungen und so misshandelt, dass sie diePolizei bei mir abliefert. Soll ich ihr dann sagen: „DamitSie hier unterkommen und für Ihre Unterkunft zahlenkönnen, gehen Sie weiter der Prostitution nach“? Überalllässt man sie abtropfen. Wie schizophren müssen dieMenschen sein, die sich eine solche Regelung überle-gen? Das, finde ich, ist unwürdig für ein Land, das sonstbei der Suche nach Lösungen immer phantasievoll ist.
Deshalb kann ich eigentlich den Linken-Antrag, so,wie er ist, begrüßen, auch wenn er mir nicht weit genuggeht. Ich hätte noch viel mehr aufgenommen; das findetsich in unserem Antrag. Wenn wir eine umfassende Re-form machen – diese müssen wir machen –, dann müs-sen wir wirklich alles bedenken, dann müssen die Fach-männer und Fachfrauen am Tisch zusammenkommenund sagen: So sieht es aus.Das Gutachten liegt jetzt vor. Das wird noch Gegen-stand einer Anhörung werden. Deswegen bedauere iches, dass heute die Linken ihren Antrag nicht zurückgezo-gen haben. Die Grünen und wir haben unseren Antragzurückgezogen, weil wir gesagt haben: Wir machen An-fang Dezember eine gemeinsame Anhörung zum Berichtund zum Rechtsgutachten. Dann bündeln wir unsereKräfte. Stattdessen beraten wir heute und machen eineSchlussabstimmung. Ich bedauere, dass ein einzelnerAntrag herausgenommen worden ist. Aber so ist es jetzt.Ich kann Ihnen sagen: Die Inhalte teile ich. Sie sindmir nicht weitgehend genug. Ich hätte weitere Forderun-gen aufgestellt. Aber wenn nicht wenigstens wir Frauenund die vernünftigen Männer, die wir auch haben, zu-sammenstehen, um eine Lösung zu finden, dann, würdeich sagen, bekommen wir das auch in 50 Jahren nichthin, wenn ich schon längst am Krückstock gehe. Ich willdann nicht sagen müssen: Haben wir das immer nochnicht gelöst?Ich bitte darum, diese Sache noch in dieser Legisla-turperiode zu Ende zu bringen, damit an dieser Frontendlich Ruhe ist und damit die, die in diesen Häusern be-schäftigt sind, ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen undwir Öffentlichkeitsarbeit machen können: gegen Gewaltin der Familie und im sozialen Nahraum. Das wünschei
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Packen wir es an!
Danke.
Die Kollegin Sibylle Laurischk hat für die FDP-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DasThema Frauenhausfinanzierung beschäftigt uns heute.Wir haben einen Bericht vorgelegt bekommen, der, wiegerade schon gesagt wurde, noch in einer Anhörung be-raten werden wird. Insofern wird mit dem vorliegendenAntrag eigentlich der zweite vor dem ersten Schritt ge-macht. Dennoch will ich nicht verkennen: Das Problemder Finanzierung von Frauenhäusern beschäftigt unsernsthaft, und zwar nicht erst in dieser Legislaturperiode.Wir hatten schon in der letzten Legislaturperiode eineAnhörung zu diesem Thema. Damals war die Mehrheitder Gutachter der Auffassung: Die Finanzierung vonFrauenhäusern ist ausschließlich Aufgabe der Länder. –Deswegen gibt es einen Flickenteppich von Finanzie-rungsmodellen. Da die Länder zuständig sind, sind dieAufstellung der Finanzierung der Frauenhäuser und dieSituation in den Frauenhäusern je nach Finanzkraft desLandes unterschiedlich.Das Thema, um das es geht, ist überall – bundesweitund weit über Deutschlands Grenzen hinaus – das glei-che, nämlich die Situation von Frauen in Not bzw. vonFrauen mit Kindern, die von Gewalt bedroht sind. Werschon einmal ehrenamtlich für ein Frauenhaus gearbeitethat, der weiß, wie die Situation dort ist. Oftmals werdenFrauen unter schwerster Traumatisierung stehend dort-hin gebracht. Mittlerweile wird es auch und gerade vonder Polizei immer wieder als große Hilfe betrachtet, dassOpfern von Gewalt in der akuten Situation in einemFrauenhaus Hilfe und Schutz gewährt werden kann.Schutz ist das, was ein Frauenhaus bietet: Schutz vorweiteren Übergriffen, die Möglichkeit zum Aussteigenaus einer permanenten Gewaltsituation, Schutz vor stän-digen Schlägen, vor Alkoholexzessen oder was auch im-mer. Diese Situationen bekommen auch die Kinder mit,die oftmals mindestens genauso traumatisiert sind wieihre Mütter.
An dieser Debatte hat mich erstaunt, dass bisher nie-mand darauf hingewiesen hat, dass es mittlerweile dasGewaltschutzgesetz gibt; in Baden-Württemberg bei-spielsweise ist es seinerzeit sehr stark auf Betreiben derFDP auf den Weg gebracht worden. Das Gewaltschutz-gesetz sorgt dafür, dass zumindest bei häuslicher Gewaltderjenige, der gewalttätig ist, also in vielen Fällen – denleider viel zu vielen Fällen – der Vater, Ehemann oderPartner der Frau, gehen muss. Derjenige, der gewalttätigist, muss also gehen. Mittlerweile gibt es eine recht klareRechtsprechung, die zumindest dies sicherstellt.Die Situation in den Frauenhäusern hat sich verscho-ben. Mittlerweile sind die große Anzahl der BetroffenenMigrantinnen, also Frauen, die nicht so schnell Rechtsrateinholen oder die Möglichkeiten des Gewaltschutzgeset-zes in Anspruch nehmen können. Gerade für dieseFrauen wäre es allerdings umso dringlicher – geradeweil sie in vielen Fällen keine familiäre Rückendeckung
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24600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Sibylle Laurischk
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haben und weil sie Verständigungsschwierigkeiten ha-ben –, diese ganz unmittelbare Schutzsituation in An-spruch nehmen zu können. Das müssen wir ernst neh-men; denn strukturell dürfen wir Gewalt, egal inwelchem Zusammenhang, nicht dulden.Ich denke, es ist dringend notwendig, ernsthaft überden Frauenhausbericht zu diskutieren. Wir werden dasim Rahmen einer entsprechenden Anhörung im Aus-schuss sicherlich tun, und zwar, wie ich hoffe, konsen-sual. Dieses Thema ist meiner Ansicht nach nämlichnicht geeignet, parteipolitische Profilierungsversuche zuunternehmen, sondern es ist wirklich ernst zu nehmen.Ich persönlich mache keinen Hehl daraus, dass ichmir eine möglichst einheitliche Finanzierung von Frau-enhäusern wünsche. Nur: Die Tendenz der Länder, sichvon ihren Aufgaben, sofern sie Geld kosten, zu ver-abschieden und zu sagen: „Das kann doch der Bund ma-chen“, wie es beispielsweise beim Betreuungsgeld ge-schieht, lehne ich ab. Auch da wird versucht, eineAufgabe der Länder, die in manchen Bundesländern nor-miert ist, dem Bund zuzuschieben. Insofern hängen dieDinge miteinander zusammen, und wir müssen die Si-tuation auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht klären.Die derzeitige Bewertung ist auch im vorliegendenGutachten nicht so eindeutig, dass man sagen kann: DerBund ist zuständig. – Ich glaube, dass hier noch einigerKlärungsbedarf besteht. Die noch offenen Fragen sindmeiner Ansicht nach in einer vorgezogenen Debattenicht sauber und abschließend zu beantworten. Damitsollten wir uns bei der weiteren Facharbeit im Ausschussbefassen. Ich freue mich auf eine engagierte und hoffent-lich zum Konsens führende Debatte.Danke schön.
Die Kollegin Yvonne Ploetz spricht nun für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Ich habe heute Nacht richtig gut geschlafen!“: Wennein zehnjähriger Junge, der mit seiner Mutter in einFrauenhaus geflohen ist, so etwas sagt, dann ist daskeine Selbstverständlichkeit. Ein Kind, das mit ansehenmuss, wie die Mutter zu Hause verprügelt und gedemü-tigt wird, kann nachts nicht mehr richtig schlafen. In sol-chen Notsituationen sind Frauenhäuser oftmals die ein-zige Schutzeinrichtung, in die Frau und Kind fliehenkönnen. Oftmals passiert das in Nacht-und-Nebel-Aktio-nen. Die Frauen werden dann von einer Frauenhausmit-arbeiterin aufgenommen, beraten und beschützt. Sie hateinen großen Anteil daran, dass ein zehnjähriger Jungewieder schlafen kann.Ich glaube, man kommt unweigerlich zu dem Schluss– das geht sicherlich uns allen so –, dass Frauenhäuserabsolut notwendig sind und es ein Desaster ist, wenn anallen Ecken und Enden Geld fehlt. Schutz können sieaber nur dann bieten, wenn die Plätze ausreichen. 2011– wir haben es schon gehört – mussten 9 000 Frauen ab-gewiesen werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen wir uns kurzvor, wir wären die Mitarbeiterin eines Frauenhauses undmüssten eine misshandelte Frau abweisen. Das ist diereinste Katastrophe, sowohl für die Frauenhausmitarbei-terin als auch für die schutzsuchende Frau. Deshalbstreiten wir heute wieder dafür, dass jeder Frau zeitnah24 Stunden täglich Schutz gewährt werden kann undmuss, und zwar in allen Lebenslagen.Das heißt, Frauen und Kinder mit Behinderungenbrauchen barrierefreien Zugang. Schwangere Frauenbrauchen Zugang zu Ärzten und Hebammen. Frauen undKinder, die kaum Deutsch sprechen, müssen Übersetze-rinnen zur Seite gestellt bekommen, damit sie sich ver-ständlich machen können. Überall fehlen Therapeutenund Therapeutinnen für traumatisierte Kinder. Auch siemüssen sich in vielen verschiedenen Sprachen verständ-lich machen können.Ich glaube, wir sind uns einig: Wenn hier Hilfe hilf-reich sein will, dann muss sie differenzieren. Das kostetaber Geld, das wir zur Verfügung stellen müssen.In nicht wenigen Fällen – auch das haben wir schongehört – wird die Finanzierung eines Frauenhausplatzesüber sogenannte Tagessätze direkt an die Frauen weiter-gegeben. Viele Länder und Kommunen finanzieren ihrFrauenhaus auf diese Weise. Das bedeutet, dass zumBeispiel eine Frau, die erwerbslos und auf staatlicheHilfe angewiesen ist, Gelder aus dem SGB II oderSGB XII beantragen muss, die eigentlich für eine Wie-dereingliederung in den Arbeitsmarkt zur Verfügung ste-hen.Ich glaube, das ist ein unhaltbarer Zustand. Mir liegenauch Briefe vor, in denen mir zum Beispiel Ursula vonder Leyen recht gibt.Was machen Frauen, die keinen Cent in der Taschehaben und keine staatliche Unterstützung bekommen?Studentinnen, Auszubildende, Schülerinnen, Frauen mitungeklärtem Aufenthaltsstatus oder auch Frauen, dieaufgrund der häuslichen Situation nicht an ihr Geld he-rankommen, können sich den Schutz nicht leisten. Ichwill aber noch einmal daran erinnern: Wir haben dengrundgesetzlichen Auftrag, uns für den Schutz von Leibund Leben einzusetzen. Ich glaube, wir sind uns darin ei-nig: Darum müssen wir uns zusammen kümmern.Es ist höchste Zeit für eine ausreichende bundesein-heitliche Finanzierung der Frauenhäuser. Jeder Frau inNot muss geholfen werden. Das kann aber nur passieren,wenn die Frauenhäuser nicht selbst um ihre Existenzkämpfen müssen. Es ist schließlich schon vorgekom-men, dass Frauenhäuser ihre Türen schließen mussten.Das wird in Zeiten der Schuldenbremse keine Seltenheitbleiben. Hier haben wir eine Aufgabe.Ich komme noch kurz zum Bericht zur Lage der Frau-enhäuser. Darin ist noch ein anderer Aspekt enthalten,nämlich die Arbeitssituation von Frauenhausmitarbeite-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24601
Yvonne Ploetz
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rinnen. Der Lagebericht beschreibt die Situation als„Selbstausbeutung“. Ich glaube, das haben wir heuteschon beispielhaft erlebt. Hier muss jeder und jede hell-hörig werden und bitte aufhören, auf die Zuständigkeitvon Ländern und Kommunen zu pochen. Ich denke, wirsollten uns auch als Bund darum kümmern, und zwarnicht für mich oder die Linke, sondern für die Kinderund Frauen, die Schutz brauchen.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zu Beginn dieser Wahlperiode haben alle Oppositions-fraktionen Anträge zur Finanzierung der Frauenhäuserim Parlament eingebracht. Von der Bundesregierung warzu hören, dass sie erst einmal die Ergebnisse des Be-richts abwarten will.Der Bericht liegt nun endlich vor – zwei Jahre verspä-tet. Der Zeit des Wartens ist jetzt leider die Zeit desSchweigens gefolgt. Von der Ministerin hat man seitdemnichts gehört. Es kann nicht sein, dass da bis jetzt nichtspassiert ist.Aber ich habe den Eindruck, das ist nicht der einzigeBericht, der in den Regalen der Ministerin verstaubt. Mitdem Bundesgleichstellungsbericht scheint es sehr ähn-lich zu sein.
Ich zitiere aus dem Bericht der Bundesregierung:Das Unterstützungsangebot ist mehrheitlich unterfi-nanziert. Das Volumen an Personal/Arbeitszeitreicht oft nicht aus, um spezifische Aufgabenberei-che in gewünschter Qualität umzusetzen.An anderer Stelle heißt es:Die Finanzierung der Einrichtungen ist uneinheit-lich, abhängig von der Politik auf Landesebene undin den Städten und Landkreisen.Weiter liest man:Nicht nur unterscheidet sich die Politik der Bundes-länder, auch kommunal existieren unterschiedlichePraxen nebeneinander.Ich glaube, wir haben alle schon von diesen Proble-men gehört.Die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauen-häuser bringt es in ihrer Stellungnahme zu diesem Be-richt auf den Punkt:Dieser Zustand ist kein vorübergehender, sondernein seit Jahrzehnten chronischer.In der Schlussfolgerung der Bundesregierung wird je-doch keine grundsätzliche Neuregelung angedacht. Da-bei ist die Situation eigentlich in fast allen Bundeslän-dern dramatisch.Aus meinem Heimatland Sachsen weiß ich, dass dieMitarbeiterinnen in den Frauenhäusern bis an ihre Gren-zen gehen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Fälle wer-den immer schwieriger. Immer mehr Frauen kommenmit psychischen Belastungen oder Erkrankungen in dieEinrichtungen.Doch die Finanzierung ihrer Arbeit ist immer nur sehrbegrenzt gesichert; denn dies gehört zu den freiwilligenAufgaben der Kommunen.Bei Ausstattung und Personal für die Frauenschutz-häuser und -wohnungen rangiert Sachsen bundesweitweit hinten. Hier darf der Bund nicht wegsehen, sondernmuss auch seine Unterstützung zusichern.
Das Hilfetelefongesetz wurde vorhin schon angespro-chen. Dies ist ein richtiger Schritt. Im Übrigen haben wirdieses Gesetz im Bundestag einstimmig verabschiedet.Allerdings weisen die in diesem Zusammenhang vorge-legten Informationen immer noch Lücken auf. In meinenReden habe ich häufig darauf hingewiesen, dass es nichtsein kann, dass wir das Hilfetelefon zwar haben, wennsich die Frauen dann aber an die Einrichtungen wendenwollen, stehen sie quasi vor verschlossenen Türen oderwerden abgewiesen, wie wir es vorhin schon gehört ha-ben.Im Zentrum unserer Überlegungen muss die Unter-stützung und der Schutz von Gewaltbetroffenen stehen.Sowohl bei der Ausgestaltung als auch bei der Finanzie-rung des Unterstützungsnetzwerkes sehen wir immernoch sehr deutliche Mängel. Unser Ziel muss sein, jederFrau, egal ob sie in der Stadt oder im ländlichen Raumlebt, einen zeitnahen und niedrigschwelligen Zugang zuHilfe zu ermöglichen, dies aber nicht erst dann, wenn esbereits zu spät ist.
Die Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern wendenvielerorts aufgrund der unsicheren Finanzierung vielZeit auf, um Projektanträge zu schreiben und Dokumen-tationen zu erstellen, statt die Zeit für die wichtige Ar-beit mit den Frauen aufzuwenden.Besorgniserregend ist auch, dass die personellen Res-sourcen für den Kinderbereich in den Frauenhäusern vielzu gering sind, was auch in dem Bericht sehr deutlichangesprochen wird.Wir Grünen werden bei der Beratung unseres Vor-schlags unsere Landtagsfraktionen und auch die Gutach-ten einbeziehen, die es über den Bundesbericht hinausgibt. Dies ist beispielsweise das Gutachten des Bundes-verbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe so-wie das Gutachten des Bündnisses der Wohlfahrtsver-bände. Ich hoffe, dass die Anhörung im Dezember imBundestag noch weitere Möglichkeiten aufzeigen wird.Kollegin Rupprecht hat es schon angesprochen. SPD
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24602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012
Monika Lazar
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und Grüne lassen ihren Antrag noch im Verfahren, weilwir es durchaus richtig finden, erst das gesamte Verfah-ren abzuwarten.Ich glaube, wir sind uns hier alle einig: Wir wollen et-was erreichen. Wir sollten die verbleibenden Monate indieser Wahlperiode nutzen, für von Gewalt betroffeneFrauen eine Lösung zu finden, die diese Bezeichnungauch wirklich verdient.In diesem Sinne appelliere ich sehr herzlich an Sie, andie Frauen zu denken, die das betrifft. Helfen wir ihnenendlich ausreichend.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Nadine Schön für dieUnionsfraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es war hier in Berlin, als 1976 die Geschichteder Frauenhäuser für von Gewalt betroffene Frauen be-gann. Damals wurden die ersten Frauenhäuser gegrün-det, damals noch als Modellprojekte. Ein Jahr späterwurden die ersten Beratungsstellen für vergewaltigteFrauen eingerichtet. Es folgten Hilfseinrichtungen fürMädchen. Heute verfügt Deutschland über ein dochrecht dichtes Netz an Hilfsangeboten und Unterstüt-zungseinrichtungen für von Gewalt betroffene Frauen.Insgesamt gibt es im Bundesgebiet 353 Frauenhäuser,davon die meisten in Städten und Ballungszentren.Langfristiger Schutz wird Frauen auch gewährt durchetwa 40 Wohnungen, die teilweise an Frauenhäuser oderBeratungseinrichtungen angegliedert sind. Insgesamtstehen damit über 6 000 Plätze zur Verfügung. Jährlichsuchen etwa 15 000 bis 17 000 Frauen und ihre Kinderin diesen Frauenhäusern und Wohnungen Zuflucht.Insgesamt sind es etwa 30 000 bis 34 000 Personen,30 000 bis 34 000 Frauen und Kinder, die unter Gewaltin ihrer eigenen Familie, Gewalt oft vonseiten des eige-nen Partners, leiden, Frauen und Kinder, denen Schlim-mes widerfahren ist. Frau Rupprecht hat das vorhin sehreindringlich geschildert. Für über 30 000 Menschen sinddie Frauenhäuser der einzig sichere Platz.Das Schlimme ist: Diese Zahlen spiegeln längst nichtdas tatsächliche Ausmaß der Gewalt gegen Frauen wi-der. Das tatsächliche Ausmaß ist wesentlich höher; dennnach wie vor gibt es eine Hemmschwelle, solche Schutz-einrichtungen aufzusuchen. Es erfordert sehr viel Mut,diese Hemmschwelle zu überwinden. Gerade Frauen ausreligiös-konservativen und von Männern dominiertenKulturkreisen fällt es besonders schwer, diesen Schrittzu tun. Daher ist es wichtig, dass wir uns nicht nur heute,sondern generell mit dem Thema Frauenhäuser im Bun-destag beschäftigen. Die Kollegen haben es schon ange-sprochen: Wir wollen im Dezember mit den Betroffenen,mit den Verantwortlichen der Frauenhäuser sprechenund eine Anhörung durchführen. Danach wollen wir ent-scheiden, was zu tun ist. Obwohl Sie, liebe Kollegen vonder Linken, das wissen, legen Sie schon heute einen An-trag vor. Ich finde, das ist eine Missachtung der Ge-sprächspartner. Ich schließe mich hier der Kritik derKollegen an.
Die Kollegin Winkelmeier-Becker hat beschrieben, wievielfältig die Thematik und Problematik ist und dass eskeine einfachen Lösungen gibt. Frau Kollegin Ploetz,Sie haben wortwörtlich gesagt: Wir brauchen einfachmehr Geld.
So einfach ist es nicht. Es gibt rechtliche Bedenken, dassder Bund sich für alle Frauenhäuser zuständig erklärtund deren Finanzierung übernimmt. Deshalb müssen wiruns ausführlich im Ausschuss damit beschäftigen undLösungen finden, die tragfähig sind.
Wenn wir über Gewalt gegen Frauen und über Frau-enhäuser diskutieren, dann müssen wir den Bogen etwasweiter spannen. Dann müssen wir auch über andereHilfsangebote reden. Dann müssen wir generell darüberreden, wie die gesellschaftliche Diskussion geführt wird.Wir müssen uns fragen, warum in den Medien der Fokusimmer noch allzu oft auf den Tätern liegt und nicht mehrauf den Opfern. Wir müssen uns fragen, wie wir als Ge-sellschaft mit diesem Thema umgehen und ob wir esnicht immer noch zu sehr tabuisieren. Ich bin froh, dasssich in den letzten Jahren vieles getan hat, nicht zuletztin den Sicherheitsinstitutionen. Die Kompetenz der Poli-zei und insbesondere der Bundespolizei sowie der Justizbeim Thema häusliche Gewalt hat sich durch umfas-sende Schulungsmaßnahmen erhöht. In meinem Heimat-land, dem Saarland, gehört das Thema häusliche Gewaltzur polizeilichen Grundausbildung. Das sind wichtigeFortschritte. Damit hilft man Frauen.Wir haben das Hilfstelefon auf den Weg gebracht; dasist schon mehrfach gesagt worden. Trotz knapper Kassenhaben wir mehrere Millionen Euro bereitgestellt, umdieses neue Angebot zu ermöglichen. Hier können Hilfe-suchende kostenlos rund um die Uhr und in mehrerenSprache Hilfe bekommen. Keine Frau muss Bedenkenhaben, dass sie wegen dieses Hilfegesuchs zusätzlicheRepressionen erleidet; denn es ist anonym und vertrau-lich. Auch das ist ein wichtiger Schritt.Frau Lazar, Sie haben gesagt, ein Manko des Hilfe-telefons sei, dass nicht ausreichend Plätze zur Verfügungstehen würden. Das Telefon soll gerade klären, woPlätze zur Verfügung stehen.
Wir schließen damit eine Lücke im Hilfsangebot.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. Oktober 2012 24603
Nadine Schön
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In dieser Legislaturperiode haben wir – das ist beimThema Gewalt gegen Frauen ebenfalls ein sehr wichtigerPunkt – die Zwangsheirat zu einem eigenständigenStraftatbestand im Strafgesetzbuch gemacht. Hier wirderstmals die Nötigung zur Einigung erfasst. Die Antrags-frist zur Aufhebung der Ehe wird verlängert. Die betrof-fenen Frauen können nun leichter die Ehe wieder auflö-sen. Auch das ist eine sehr wichtige Maßnahme, die dieschwarz-gelbe Koalition in den letzten drei Jahren be-schlossen hat.All das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nur ei-nige Punkte, an denen wir versuchen, die wichtige Ar-beit der Frauenhäuser durch Hilfsangebote zu unterstüt-zen, zu ergänzen und zu begleiten. Ich freue mich auf dieAnhörung der Expertinnen und Experten im Ausschussund wünsche mir eine gute Diskussion.Zum Schluss möchte ich mich bei allen bedanken, diesich ehrenamtlich oder hauptberuflich für Frauen, aberauch für Männer – es muss einmal gesagt werden, dassauch Männer unter häuslicher Gewalt leiden – in denHilfs- und Beratungsstellen, in den Frauenhäusern sowieim gesellschaftlichen wie persönlichen Umfeld einset-zen. Herzlichen Dank für dieses Engagement!Ich denke, damit können wir ins Wochenende starten.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Bundeseinheitliche Finanzierung
von Frauenhäusern sicherstellen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/2070, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/243 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 7. November 2012, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute, auch für das bevorste-
hende Wochenende.