Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zu-
satzpunkt 6 auf:
13. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung von Fristen und Bezeichnungen im
Neunten Buch Sozialgesetzbuch und zur Ände-
rung anderer Gesetze
– Drucksache 15/124 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 15/317 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt
ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über die Beschäf-
tigung schwerbehinderter Menschen im öffent-
lichen Dienst des Bundes
– Drucksache 15/227 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! In der Behindertenpolitik konnten in den letzten vierJahren große Erfolge erzielt werden. Rot-Grün hat unterder Federführung unseres Behindertenbeauftragten KarlHermann Haack gemeinsam mit den Menschen mit Be-hinderungen und den Behindertenverbänden viel auf denWeg gebracht. Mit unserer Behindertenpolitik übernimmtDeutschland in Europa eine Vorreiterrolle und setzt auchinternational wichtige Maßstäbe.
Der Deutsche Behindertenrat hat beschlossen, derBundesrepublik zu empfehlen, sich um den Franklin D.Roosevelt International Disability Award, einen Preis fürbedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Behinderten-politik, zu bewerben. Diese Anerkennung motiviert uns.Die Behindertenpolitik wird auch in der 15. Legislaturpe-riode ein Schwerpunktthema für Rot-Grün und die Minis-terin sein.Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die Behinder-tenpolitik kein Minderheitenthema ist: Rund 37 MillionenEuropäer, davon 8 Millionen in Deutschland, sind Men-schen mit Behinderungen. Das Thema geht uns alle an,weil Barrieren nicht allein den Lebensraum und den All-tag behinderter Menschen einschränken, sondern auchHindernisse für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger so-wie für Familien mit Kindern sind.Mit den größten gesetzgeberischen Reformen seit den70er-Jahren hat die Bundesregierung Maßstäbe gesetzt.Wir haben die Lebenswelt behinderter Menschen wesent-lich verbessert. Dabei gibt es einen roten Faden: weg vonder staatlichen Fürsorge hin zu einem Recht auf Selbstbe-stimmung, zu einem Recht von Bürgerinnen und Bürgernauf Teilhabe.
Wichtige Tragpfeiler sind dabei das Sozialgesetz-buch IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Men-schen –, in Kraft getreten am 1. Juli 2001, und das Gesetz
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003
Helga Kühn-Mengelzur Gleichstellung behinderter Menschen, in Kraft getre-ten am 1. Mai 2002. Den Anfang unserer erfolgreichen Be-hindertenpolitik markiert natürlich – nicht ohne Grund –das Gesetz zur Bekämpfung der ArbeitslosigkeitSchwerbehinderter vom Oktober 2000. Erwerbsarbeitist nun einmal für Menschen mit Behinderungen, aberauch für alle ein zentrales Anliegen, auch für die Ver-bände, Organisationen, Gewerkschaften, der Arbeitgeberund eben auch für uns.Das war nicht immer so. Liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Opposition, im Ausschuss haben Sie nachden Zahlen gefragt. Ich will sie Ihnen vorstellen: LassenSie uns zuerst einen Blick auf Ihre Regierungszeit werfen.In der Zeit von 1990 bis 1998 nahm die Zahl der beschäf-tigten Schwerbehinderten von 959 435 auf 739 993 ab,also um 219 442. Die Zahl der arbeitslosen Schwerbehin-derten stieg von 126 671 auf 188 449. Das sind allein indiesem Zeitraum 61 778 Arbeitslose mehr. Die Zahl dernicht besetzten Pflichtplätze stieg in diesem Zeitraum von433 369 auf 525 569. Aber Sie haben nichts unternom-men.Diesem Negativtrend haben wir mit unserer Offensiveein Ende gesetzt. Das Gesetz zur Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit Schwerbehinderter und die Kampagne„50 000 Jobs für Schwerbehinderte“ sind ein großartigerErfolg.
Die Zahl der erwerbslosen schwerbehinderten Menschenkonnte von 189 766 im Oktober 1999 auf nunmehr144 292 im Oktober 2002 gesenkt werden. 45 474 ar-beitslose Schwerbehinderte weniger: Dieser Rückgangum rund 24 Prozent innerhalb von drei Jahren ist eingroßartiger Erfolg.
Die spezifische Arbeitslosenquote schwerbehinderterMenschen wurde danach wie folgt verringert: Die Ar-beitslosenquote betrug im Oktober 1999 17,7 Prozent undim Oktober 2002 nur noch 14,2 Prozent. Hervorhebenmöchte ich, dass sich diese Ergebnisse deutlich vom all-gemeinen Trend des Arbeitsmarktes abheben und vor demHintergrund einer konjunkturellen Schwäche besonderspositiv zu bewerten sind. Um die Zahl der arbeitslosenschwerbehinderten Menschen zu reduzieren, waren alleinüber 150 000 Vermittlungen während der Kampagnezeiterforderlich. Diese Zahl verdeutlicht auch, welcher Kraft-akt hier nötig war.Zusätzlich flankiert wurden die Bemühungen durch dieneuen Grundlagen für offensive Arbeitsvermittlungsstra-tegien wie das Job-AQTIV-Gesetz, JUMP und die Refor-men der Bundesanstalt für Arbeit. Wir waren so besonderserfolgreich, weil alle Beteiligten – die Arbeitgeber, dieGewerkschaften, die Behindertenverbände und die öf-fentliche Verwaltung – an einem Strang gezogen haben.Diese Kooperation war vorbildlich und ihr gebührt hoheAnerkennung. Wir werden sie gerade auch mit Blick aufdie jetzt einsetzende Neuordnung auf dem allgemeinenArbeitsmarkt fortsetzen.Wir werden trotz enger werdender finanzieller Spiel-räume Möglichkeiten suchen und finden, um die Situationder Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Ichdenke, wir haben gezeigt, dass wir das wollen und auchkönnen.
Die wesentlichen Instrumente des 2001 in das SGB IXeingegliederten Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslo-sigkeit Schwerbehinderter sind bekannt: die Stärkung derRechte der Schwerbehinderten und der Schwerbehinder-tenvertretungen, der Ausbau der betrieblichen Präventionund die Schaffung eines Anspruchs auf Übernahme derKosten für eine notwendige Arbeitsassistenz, Auf- undAusbau eines flächendeckenden Netzes von Integrations-fachdiensten und natürlich auch die Neugestaltung desSystems der Beschäftigungspflicht und der Ausgleichsab-gabe. Damit haben wir dafür gesorgt, dass sich die Ein-stellung schwerbehinderter Menschen nicht nur unter so-zialen Gesichtspunkten lohnt, sondern sich auch fürArbeitgeber und Arbeitgeberinnen rechnet.Damit die Arbeitgeber auch weiterhin motiviert sind,wollen wir die Anhebung der Beschäftigungspflicht-quote um 5 auf 6 Prozent um ein Jahr auf den 1. Januar2004 verschieben. Das geschieht vor dem Hintergrund,dass die anvisierte Senkung der Arbeitslosigkeit Schwer-behinderter im Prinzip erreicht wurde. Leider wurde dieLatte von 25 Prozent am Ende um 1 Prozentpunkt knappgerissen. Nach geltender Rechtslage müsste infolgedessendie Pflichtquote auf 6 Prozent angehoben werden. Dieshatten wir beschlossen, um die Arbeitgeber zu motivieren.Um aber den erfolgreich in Gang gesetzten Reform-prozess nicht empfindlich zu stören, wird die Anhebungim heute hier vorliegenden Gesetzentwurf um ein Jahrausgesetzt. Das gibt uns Zeit, mit allen Beteiligten wei-terhin Zielvorgaben und Konzepte zum weiteren Abbauder Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen zu ent-wickeln. Wir arbeiten bereits daran und sind sehr motiviert.Die Erfolgsstory zeigt: Wir können nur erfolgreichsein, wenn alle Beteiligten partnerschaftlich, sozusagenauf gleicher Augenhöhe, mithelfen.Vorbildlich hat sich hier auch der Bund als Arbeitgeberim Jahre 2001 gezeigt. Der Anteil der im öffentlichenDienst beim Bund beschäftigten Schwerbehinderten lag2001 bei 6,4 Prozent. Das geht aus dem nun vorliegendenBericht der Bundesregierung über die Beschäftigungssi-tuation schwerbehinderter Menschen hervor.Damit sind2 421 Schwerbehinderte mehr beim Bund angestellt alsgesetzlich vorgeschrieben.Mit diesen guten Ergebnissen unserer Behindertenpo-litik können wir selbstbewusst in das Europäische Jahr derMenschen mit Behinderung 2003 gehen. Wir verstehendieses Jahr auch als Verpflichtung. Rot-Grün wird mit derMinisterin und dem Beauftragten der Bundesregierungfür die Belange behinderter Menschen daran arbeiten undhier Fortschritte erzielen.Wir haben das SGB IX und das Gleichstellungsgesetzbewusst als Haus gebaut, das alle Bewohnerinnen und Be-
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wohner ausbauen können, damit es den Bedürfnissen derMenschen optimal gerecht wird.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort Kollegen Hubert Hüppe, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenjetzt von Frau Kühn-Mengel sehr viel zu allgemeinenThemen, aber auch einige Zahlen gehört. Ich denke, manmuss an dieser Rede einiges zurechtrücken.Wenn wir heute über die Integration von Schwerbehin-derten auf dem Arbeitsmarkt sprechen, dann werden auchSie erkennen, dass die katastrophale Wirtschafts- und Ar-beitspolitik der Bundesregierung natürlich auch für Men-schen mit Behinderung – vielleicht sogar besonders fürsie – nicht ohne Folgen bleibt.
Das zeigt, dass Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik keineGegensätze sind, sondern einander bedingen. Ohne wirt-schaftlichen Aufschwung, ohne mehr Beschäftigung wirdes immer schwieriger, gerade Schwerbehinderte in dasArbeitsleben zu integrieren. Geht ein Betrieb Pleite – daskam letztes Jahr viel zu oft vor –, verliert eben nicht nurder Nichtbehinderte, sondern gleichermaßen auch der Be-hinderte seinen Arbeitsplatz.Dies zeigen vor allem die neuesten Zahlen der Bun-desanstalt fürArbeit für den Monat Dezember 2002. DieArbeitslosigkeit insgesamt hat sich im Dezember gegen-über dem Vormonat von 9,7 Prozent auf 10,1 Prozent er-höht. Der Anstieg der Arbeitslosenquote bei den Schwer-behinderten war noch dramatischer: Hier hat sich dieQuote von 14,6 Prozent im November auf 15,3 Prozent imDezember erhöht. Damit beträgt sie 150 Prozent der Ar-beitslosenquote bei den Nichtbehinderten. Frau Kühn-Mengel, deswegen kann ich überhaupt nicht verstehen,dass Sie sich jetzt auf den so genannten Erfolgen ausru-hen. Vielmehr müssen wir alle uns hier in sämtlichenBereichen anstrengen – für alle Menschen, denen Ar-beitslosigkeit droht, vor allen Dingen aber für die Schwer-behinderten.Meine Damen und Herren, wir alle wissen, wie schwie-rig es ist, in den jetztigen Zeiten die Integration Schwer-behinderter in die Berufswelt durchzusetzen. Sie wissen,dass wir, wenn wir hier im Bundestag über die Integrationvon Menschen mit Behinderungen geredet haben, überdie Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsame politische Ent-scheidungen getroffen haben, weil wir uns grundsätzlichim Ziel kaum unterscheiden. Sie haben eben zwei Bei-spiele genannt: das SGB IX und das Gleichstellungsge-setz. Zu beiden haben wir Ja gesagt, weil wir die dortigenMaßnahmen für vernünftig halten. Ich finde es gut, dassman hier über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammenar-beiten kann und vor Augen hat, dass es um Menschengeht, denen wir nicht nur im Beruf, sondern allgemeinChancengleichheit eröffnen wollen.
Meine Damen und Herren, auch heute werden wir demVorschlag der Regierungsparteien zustimmen, die Er-höhung der Pflichtquote zur Beschäftigung Schwerbehin-derter von 5 auf 6 Prozent, die eigentlich – auch das mussman sagen – schon am 1. Januar 2003 hätte erfolgen müs-sen, auf das Jahr 2004 zu verschieben. Wir tun dies, weilwir wissen, dass eine Ablehnung keinen zusätzlichen Ar-beitsplatz für Schwerbehinderte schaffen würde.Die CDU/CSU-Fraktion wird weiterhin alles daran set-zen, die Bereitschaft von Arbeitgebern, Arbeitsplätze mitSchwerbehinderten zu besetzen, zu wecken und zu för-dern. Genauso wichtig – auch darauf möchte ich ein Au-genmerk legen – ist darüber hinaus, die Arbeitsplätze vonSchwerbehinderten zu erhalten und zu stabilisieren.Wir wollen ferner – darüber wird kaum gesprochen –,dass Schwerbehinderte sich selbstständig machen oderihre Selbstständigkeit erhalten können. Das gilt insbeson-dere für Selbstständige, bei denen die Schwerbehinderungerst später eintritt. Es ist natürlich ein ganz wichtigerPunkt, dass wir es Schwerbehinderten ermöglichen, selbstals Arbeitgeber auf dem Markt tätig zu sein. Hier gibt essehr viele Beispiele dafür, dass wir noch einiges mehr ma-chen könnten.An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen be-danken, die in diesem Bereich mithelfen: beim Hand-werk, bei den Arbeitgeberverbänden, den Behinderten-verbänden, den Gewerkschaften und vor allem bei denMitarbeitern vor Ort in den verschiedenen beteiligtenBehörden.Trotzdem teile ich nicht die Euphorie des Beauf-tragten der Bundesregierung für die Belange behin-derter Menschen, Herrn Haack. Ich hoffe, er ist inzwi-schen anwesend. – Nein, ich sehe ihn nicht. Das kann ichnicht ganz verstehen. – Herr Haack hat in einer Presseer-klärung vom 7. November 2002 erklärt, beim Rückgangder Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen sei ein„großartiger Erfolg“ zu verzeichnen.Tatsache ist: Das selbst gesteckte Ziel der Bundes-regierung, die Zahl arbeitsloser Schwerbehinderter vonOktober 1999 bis zum Oktober 2002 um mindestens25 Prozent zu senken, ist nicht erreicht worden. Dies istauch der Grund dafür, dass das Gesetz, das Rot-Grünbeschlossen hat, heute wieder korrigiert werden muss.Wir werden im Übrigen in diesem Jahr noch einmal überdiese Änderung sprechen müssen, da ansonsten am 1. Ja-nuar 2004 automatisch die Pflichtquote erhöht werdenmuss. Denn eigentlich sollte es ja im Oktober 200225 Prozent weniger arbeitslose Schwerbehinderte geben.Da es hier keine Änderung gab, ist diese Zahl weiterhinfestgeschrieben. Das würde eine Erhöhung der Pflicht-quote ab dem 1. Januar 2004 bedeuten.Nun werden Sie sagen – das haben Sie soeben auchgetan; im Ausschuss wurde ähnlich argumentiert –: JetztHelga Kühn-Mengel
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Hubert Hüppeseid mal nicht so kleinlich. Immerhin gibt es einen Rück-gang um 23,9 Prozent. – Allerdings sieht die Situation ganzanders aus, wenn man sich anschaut, wie es zu diesemRückgang gekommen ist, der in Wahrheit gar keiner istbzw. nur in geringem Maße erfolgt ist. Die Arbeitslosenzahlist eben nicht deswegen um 23,9 Prozent gesunken, weilmehr Schwerbehinderte einen Arbeitsplatz auf dem erstenArbeitsmarkt gefunden haben, sondern deswegen, weilmehr Schwerbehinderte aus Altersgründen aus der Statis-tik herausgefallen sind.
Wer sich die aktuelle Alterseinteilung bei den schwer-behinderten Arbeitslosen anschaut, kann feststellen, dassüber vier Fünftel der Abgänge im Vergleich zu 1999 ausder Altersgruppe der 55-Jährigen und Älteren stammen.Bei den jüngeren schwerbehinderten Arbeitslosen un-ter 55 Jahren war nirgendwo ein Rückgang von über20 Prozent zu verzeichnen. Bei der Gruppe der unter25-jährigen Schwerbehinderten – hören Sie bitte zu! –müssen wir sogar einen Anstieg der Arbeitslosigkeit fest-stellen.Ich hoffe, dass heute niemand behaupten will, dieannähernde Halbierung der Zahl der schwerbehindertenArbeitslosen im Alter von 55 und höher innerhalb von dreiJahren sei in erster Linie auf einen erheblichen Anstiegder Beschäftigung in dieser Altersgruppe zurückzuführen.Das nimmt Ihnen keiner ab. Der Hauptgrund für dieseEntwicklung ist die Frühverrentung.Auch das Bundesministerium hat nun deutlich ge-macht, dass es in den letzten Jahren stetig weniger ar-beitslose Schwerbehinderte gab – das ist richtig –, dass al-lerdings die Zahl der Abgänge in die Beschäftigung jedesJahr geringer wurde. Das heißt, es sind zwar mehrSchwerbehinderte aus dem Erwerbsleben ausgeschieden;aber immer weniger schwerbehinderte Menschen habentatsächlich Arbeit gefunden.Besondere Anstrengungen werden nötig sein, wenn wirden jüngeren schwerbehinderten Arbeitslosen zu einemArbeitsplatz verhelfen wollen. Herr Haack hat in der De-batte zur Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfungder Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter am 7. Juli 2000mit dem JUMP-Programm der Bundesregierung ge-prahlt, mit dem Hunderttausende von jungen Arbeitslosenin Arbeit gebracht werden sollten. Wir haben dieses Pro-gramm schon damals als milliardenschweres Strohfeuerkritisiert. Heute zeigt sich, dass dieses Programm ge-scheitert ist und an den schwerbehinderten jungen Men-schen offensichtlich völlig vorbeigegangen ist. Was dieArbeitslosen – behinderte wie nicht behinderte – jetzt brau-chen, ist eine nachhaltige Wirtschafts- und Arbeitsmarkt-politik, die auf Dauer Arbeitsplätze schafft und sichert.Nun noch ein paar Worte zur Unterrichtung der Bun-desregierung über die Beschäftigung schwerbehinderterMenschen im öffentlichen Dienst des Bundes. Natürlichhat der öffentliche Dienst – da stimmen wir mit dem Be-richt überein – Vorbildfunktion. Ich finde es gut, dassbeim Bund die Pflichtquote erfüllt wird;
darauf wurde soeben hingewiesen. Verschwiegen wurdeaber – auch das müssen wir hier feststellen –, dass bei denArbeitsplätzen des Bundes sowohl die Zahl als auch dieBeschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen zu-rückgegangen ist. Sie ist eben nicht gestiegen. Damit kannman sich doch nicht zufrieden geben! Wenn man auf dereinen Seite sagt, dass man mehr Arbeitsplätze schaffenmöchte, und zwar vor allen Dingen im öffentlichen Dienstbeim Bund, dann kann man sich doch auf der anderen Seitenicht damit zufrieden geben, dass die Quote sinkt, auchwenn die Beschäftigtenzahl insgesamt zurückgegangenist. Damit, meine Damen und Herren, können wir nicht zu-frieden sein. Diesen Trend müssen wir wieder umkehren.
Besonders bedrückend ist, dass in dem Bericht erwähntwird, dass bei den Beschäftigten des Deutschen Bun-destags die Zahl der Schwerbehinderten zurückgegangenist und wir nur noch eine Quote von 4,9 Prozent erreichen.Natürlich weiß ich, dass es unter anderem auch durch denUmzug nach Berlin Probleme gab. Aber diese gab es auchbei anderen Behörden und Arbeitgebern. Wenn wir abervon anderen etwas verlangen, müssen wir selber Vorbildsein. Das gilt insbesondere für dieses Haus, aber auch fürden öffentlichen Dienst insgesamt. Wir alle sollten daranmitarbeiten, dass sich diese Zahl wieder erhöht.
Meine Damen und Herren, die Regierungsparteien ha-ben in ihrem Gesetzentwurf und auch in ihrer Koalitions-vereinbarung angekündigt, weitere Konzepte zur Verrin-gerung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter zuerarbeiten und hier im Hause zu beschließen. Bisher habeich diese Konzepte allerdings vermisst. Ich habe auchnoch keinen entsprechenden Ansatz festgestellt. Ichmeine, wir können nicht so lange warten, bis der Bericht,der ja nach § 160 SGB IX bis zum 30. Juni dieses Jahreszu erstellen ist, vorgelegt wird. Wir müssen jetzt handelnund dafür sorgen, dass die Menschen – Behinderte wieNichtbehinderte – wieder in Arbeit kommen. Die Unionist bereit, daran mitzuarbeiten, wie wir das auch bei ande-ren Gesetzesvorhaben gemacht haben. Es geht uns um diegleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinde-rungen auch am Arbeitsleben, aber nicht nur dort. Hierwäre jedes parteipolitische Kalkül völlig fehl am Platze.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Markus Kurth, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich mussmich schon etwas darüber wundern, dass Herr Hüppe hierin dieser Art und Weise und so selektiv die Zahlen einesBremer Instituts zitiert. Sie haben das auch schon im Aus-schuss getan und ich habe Ihnen dort entgegnet. Ich hättenicht gedacht, dass Sie hier noch einmal so einseitig be-haupten würden, der Hauptgrund für die derzeitige Be-
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schäftigungssituation schwerbehinderter Menschen seidie Frühverrentung, und dass Sie die Erfolge, die wir hiererreicht haben, kleinreden würden.
Sie hätten nämlich, wenn Sie die Zahlen vollständig zi-tiert hätten, auch sagen müssen, dass wir die Arbeitslo-sigkeit in der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen sowohlbei den Männern als auch – das erfreut mich insbesondere –bei den Frauen um jeweils zweistellige Raten reduzierthaben. Natürlich haben wir das ehrgeizige 25-Prozent-Ziel nicht vollständig erreicht. Aber es ist schon ein ganzbemerkenswerter Erfolg, dass wir es geschafft haben, die-sem ehrgeizigen Ziel so nahe zu kommen.
Insgesamt aber freue ich mich, dass wir in diesemHause eine recht konstruktive Debatte über die berufli-che Eingliederung Schwerbehinderter führen. Auchbin ich erfreut darüber, dass wir diese Änderung des So-zialgesetzbuches IX im Ausschuss mit den Stimmen allerFraktionen beschließen konnten.Für bemerkenswert halte ich allerdings nicht nur dasVerfahren und den sachlichen Erfolg. Bereits bei der ers-ten Lesung des Gesetzentwurfes habe ich auf die Wirksam-keit der kooperativ ausgerichteten Steuerungsinstrumente indiesem Politikbereich hingewiesen und festgestellt, dasshier eine durchaus beispielhafte Philosophie gesetzgeberi-schen Handelns zum Tragen kommt, die auch bei der Re-form der sozialen Sicherungssysteme lohnend sein kann.Warum? Die Offensive für 50 000 neue Jobs fürSchwerbehinderte hat gezeigt, dass man nicht allein mitmonetären Anreizen effektive Politik betreiben kann.Denn die bis zum Jahr 2000 übliche Praxis einer stetigenAnhebung der Ausgleichsabgabe, um die Arbeitgeber al-lein über finanziellen Druck zu zwingen, Schwerbehin-derte einzustellen, hat sich als nur begrenzt wirksam er-wiesen. Wir haben nämlich – das ist bemerkenswert –einen neuen Akzent gesetzt, der ökonomische Anreize mitAufklärungsarbeit und Beratung für die Unternehmenverknüpft und zusätzlich durch innovative Öffentlich-keitsarbeit begleitet hat. Heute können wir sagen: Der Ab-bau von Denkbarrieren, den wir erreicht haben, hat sichgegenüber der Regulation durch Zwang als mindestensebenso wirksam, wenn nicht gar als wirksamer erwiesen.
Auch darauf sollten wir achten.Diese Beratungsarbeit haben wir mit den Integrations-ämtern und Integrationsfachdiensten in den Betrieben ge-leistet. Wir haben die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeberdavon überzeugt, dass Menschen mit Behinderungennicht zwangsläufig leistungsgemindert sind, sondern dasssie nur angemessene, ihren Fähigkeiten und Bedürfnissenentsprechende Arbeitsplätze brauchen.
Vor allen Dingen haben wir – das ist der große Unter-schied zu Ihrer Regierungszeit – den Arbeitgebern die ent-sprechenden Instrumente an die Hand gegeben: Arbeits-assistenzen, Dolmetscher für die Gebärdensprache undvieles andere mehr.Weil die Betriebe das Angebot der rot-grünen Bundes-regierung angenommen haben, können wir jetzt auf einAnziehen der Schraube „Beschäftigungspflichtquote fürSchwerbehinderte“ verzichten. Wir können allerdingsnicht – Herr Hüppe, darin gebe ich Ihnen Recht – auf eineVerstärkung der gemeinsamen Anstrengungen der Politik– auch des Deutschen Bundestages – und der Wirtschaftverzichten, um auch in 2003 unsere ehrgeizigen beschäf-tigungspolitischen Ziele in diesem Bereich zu erreichen.
Drei Punkte möchte ich besonders herausgreifen:Erstens: Tatsache ist leider, dass in 97,2 Prozent derkleinen und mittleren Betriebe mit unter 100 Beschäf-tigten keine Schwerbehinderten beschäftigt sind. Geradebei kleinen und mittleren Betrieben müssen wir darumkämpfen, Einstellungshemmnisse abzubauen. Außer-dem müssen wir dort weiter massiv für die BeschäftigungSchwerbehinderter werben. Viele Arbeitgeber wissen im-mer noch nicht, welche Potenziale hier ungenutzt bleiben;denn häufig sind Menschen mit Behinderungen nicht nurgut ausgebildet, sondern auch sehr viel leistungsbereiterals Menschen ohne Behinderungen. Hier gilt es, gemein-sam mit den Unternehmen und dem Handwerk Informa-tionsdefizite und Vorurteile abzubauen.Zweitens. Die mehr als 180 Integrationsfachdienste,die aus der Ausgleichsabgabe finanziert werden, leisteneine wichtige Vermittlungshilfe bei der Überzeugung undBeratung der Arbeitgeber. Dies zeigt, dass man durch ent-schlossenes Engagement – nicht zuletzt durch finanziel-les Engagement – auch denjenigen Arbeitsuchenden hel-fen kann, die bisher als nicht vermittelbar oder gar alsnicht arbeitsfähig gegolten haben.Im Rahmen der Gesetze für moderne Dienstleistun-gen am Arbeitsmarkt muss und wird in diese Richtungweitergegangen werden. Wir brauchen – die Antwortendes Ministeriums auf schriftliche Anfragen im Aus-schuss ermutigen mich – eine sinnvolle Verzahnung vonIntegrationsfachdiensten und Personal-Service-Agentu-ren.Drittens. Zur erfolgreichen Fortsetzung der bisherigenBehindertenpolitik ist es überdies notwendig, dass dieBundesanstalt für Arbeit auch nach der Neustrukturierungder Ministerien die Belange der Menschen mit Behinde-rungen wie bisher mit Nachdruck unterstützt. Bei der Mit-telvergabe ist es unbedingt erforderlich, sicherzustellen,dass die Bundesanstalt neben den Mitteln aus dem Aus-gleichsfonds auch eigene Mittel zur beruflichen Wieder-eingliederung einsetzt. Gerade im Europäischen Jahr derMenschen mit Behinderungen werden wir Parlamentarier– da bin ich mir sicher – die weitere Entwicklung ge-meinsam genau beobachten.Meine Damen und Herren, unser Modell der Integra-tion von Menschen mit Behinderungen in den erstenMarkus Kurth
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003
Markus KurthArbeitsmarkt ist international anerkannt. Aus diesemGrund werden wir den Erfahrungsaustausch auf lokaler,nationaler und europäischer Ebene stärken. Durch unsereErfolge und Erfahrungen wollen wir in diesem Jahr, demEuropäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen, an-deren europäischen Staaten Impulse geben. Ich würde michfreuen, wenn wir das in dieser Frage weiterhin ebenso ein-mütig wie entschlossen tun könnten.Danke.
Ich erteile dem Kollegen Daniel Bahr, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfreue mich, dass wir uns gleich in der ersten Sitzungs-woche des neuen Jahres, des Europäischen Jahres derMenschen mit Behinderungen, der Situation behinderterMenschen in Deutschland widmen. Wir sollten dieses Jahrals Ansporn nutzen, notwendige Verbesserungen auf denWeg zu bringen. Insofern kann ich dem Kollegen Hüppenur Recht geben: Wir sollten uns nicht auf etwaigen Er-folgen ausruhen, sondern uns gegenseitig anspornen. Dasist die Devise für dieses Jahr.
Die FDP will sowohl die größtmögliche Freiheit als auchein höchstmögliches Maß an Eigenverantwortung für jedeneinzelnen Menschen. Diese Prinzipien sind auch Richt-schnur einer liberalen Politik für Menschen mit Behinde-rungen. Für Liberale ist Behindertenpolitik keine Sparten-oder gar Nischenpolitik. Nein, sie ist Bürgerrechtspolitik.
Es ist in diesem Hause unser gemeinsames Anliegen,dass mehr behinderte Menschen auf dem ersten Arbeits-markt eine Chance erhalten. Ich finde es schön, dass Red-ner aller Fraktionen dieses gemeinsame Anliegen hierbetont haben. Für jeden Bürger ist die Aufnahme einer be-zahlten Beschäftigung ein wichtiger Beitrag zu mehrSelbstständigkeit und Selbstsicherheit. Wir alle in diesemHause sind uns darüber einig, dass die Arbeitslosigkeit beibehinderten Menschen mit 14,2 Prozent in 2002 und imDezember mit über 15 Prozent immer noch viel zu hochist.
Dennoch freuen wir uns alle, dass diese Arbeitslosen-quote in den letzten Jahren gesunken ist. Ich will gar nichtverhehlen, Herr Kollege Kurth, dass das insgesamt einguter Rückgang ist. Wenn man aber versucht, 20- bis25-Jährige gegen über 55-Jährige auszuspielen, dann darfman nicht vergessen, dass ein ganz eklatanter Anteil amRückgang der Arbeitslosigkeit auf den Rückzug der über55-Jährigen zurückzuführen ist. Es sollte uns nachdenk-lich stimmen, ob wir bei jungen behinderten Menschengenügend Anstrengungen unternehmen, um sie in Arbeit zubringen. Deswegen müssen wir hier weitere Ansätze finden.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit von dieser Stelle ausall denen danken, die ihren Beitrag zu dieser Entwicklunggeleistet haben. Insbesondere die Arbeitgeber, die Bun-desanstalt für Arbeit, das Handwerk und die Verbände ha-ben daran einen ganz großen Anteil; denn bei den Arbeit-gebern und im Handwerk entstehen die Arbeitsplätze.Deswegen sollten wir ihnen ganz besonders danken.
Die FDP unterstützt den vorliegenden Gesetzentwurfder Koalition. Die gesunkene Arbeitslosigkeit bei behin-derten Menschen in dem Zeitraum, in dem die Pflicht-quote gesenkt wurde, zeigt, dass eben nicht die Höhe derAusgleichsabgabe entscheidend ist. Vielmehr kommt esauf die Motivation, Einsicht und Überzeugung der Ar-beitgeber an, behinderte Menschen einzustellen. Eine er-neute Fristsetzung mit Androhung einer erhöhten Aus-gleichsabgabe ab dem 1. Januar 2004 ist daher unnötig.
Das Entscheidende ist die Einsicht und Motivation der Ar-beitgeber. Dort müssen wir weitere Anstrengungen unter-nehmen.Dazu zählen neben der wichtigen Aufklärungsarbeit,dass Menschen mit Behinderungen meist sehr zuverläs-sige, hoch motivierte und eben auch produktive Arbeit-nehmer sind, auch vermehrte Anreize für Unternehmen,Menschen mit Behinderungen einzustellen. StaatlicherDirigismus führt nicht weiter. Gefragt sind individuelleKonzepte, die die berechtigten Interessen von Menschenmit Behinderungen und die berechtigten Interessen vonArbeitgebern zusammenführen.Ich möchte auch etwas zur Situation schwerbehinderterMenschen im öffentlichen Dienst des Bundes sagen. Dervorliegende Bericht zeigt leider eine negative Entwick-lung. Die Beschäftigungsquote der mit schwerbehindertenMenschen besetzten Arbeitsplätze ist nämlich rückläufig.
Sie ist von 6,5 auf 6,4 Prozent gesunken. Übrigens be-fürchte ich, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird.Wenn wir uns die Neueinstellungen anschauen, dann stel-len wir fest, dass in den Jahren 2000 mit 4,4 Prozent und2001 mit 4,7 Prozent der Anteil schwerbehinderter Men-schen bei den Neueinstellungen unter der schon gesenk-ten Pflichtquote von 5 Prozent liegt.
Hier enttäuscht der Bund die Erwartungen. Wir werdendie Entwicklung kritisch verfolgen und sie daran messen.
Ich möchte bei der ersten behindertenpolitischen De-batte in dieser Legislaturperiode noch ein anderes Themaansprechen. Die SPD hat im Bundestagswahlkampf 2002
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003 1565
durch ihre Kandidaten und Fraktionsmitglieder ein Leis-tungsgesetz für Menschen mit Behinderung in dieserWahlperiode versprochen.
Gerade vor diesem Hintergrund ist es schwer enttäu-schend, dass ein Leistungsgesetz im Koalitionsvertragnicht vorgesehen und nach Auskunft von MinisterinSchmidt in der letzten Fragestunde auch nicht geplant ist.Ebenso wenig sind Ansätze zu erkennen. Wir werden dieRegierung an ihren Versprechungen messen. Wir erwar-ten von ihr, dass in dieser Legislaturperiode ein solchesGesetz im Bundestag eingebracht wird.
Die FDP hat sich seit jeher dafür eingesetzt, den Ge-setzes- und Vorschriftendschungel gerade auch im Be-reich der Behindertenpolitik zu lichten. Es hilft nämlichniemandem und den behinderten Menschen und ihren An-gehörigen erst recht nicht, wenn nur schwer nachvollzieh-bar und eben nicht eindeutig ist, von wem welche Hilfe-leistung zu erwarten ist. Gerade in der Behindertenpolitikbrauchen wir klare Zuständigkeiten, verständliche Regelnund vor allem Transparenz.
Deswegen möchte ich zum Schluss betonen, dass dieFDP-Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen wird.Lassen Sie uns in diesem Europäischen Jahr der Men-schen mit Behinderungen gemeinsam weitere Anstren-gungen unternehmen, damit mehr behinderte Menschenauf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance erhalten. Da-rüber werden wir gemeinsam im Bundestag hoffentlichnoch viele Vorschläge diskutieren.Herzlichen Dank.
Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie bereits
ausgeführt wurde, stehen wir am Beginn des Europä-
ischen Jahres der Menschen mit Behinderungen, das den
Belangen und Nöten dieser Menschen gewidmet ist. Ich
meine, die schwerbehinderten Menschen haben ein Recht
darauf, dass gerade in diesem Jahr sehr intensiv und kon-
struktiv über das Erreichte gesprochen und über neue
Konzepte gestritten wird.
Wir wollen nicht darüber hinwegsehen, dass es der Re-
gierung gelungen ist, Projekte aufzulegen und neue An-
stöße zu geben, aber es ist sicherlich nicht Sinn und
Zweck eines Jahres, das den Menschen mit Behinderun-
gen gewidmet ist, dass vor allem die eigenen Erfolge ge-
lobt und Proklamationen abgegeben werden, obwohl
– damit komme ich zu dem Kern des Gesetzentwurfs, über
den wir abzustimmen haben – das gesetzlich vorgeschrie-
bene Ziel nicht erreicht wurde.
Im Gesetz war vorgesehen, die Arbeitslosigkeit von
schwerbehinderten Menschen von Oktober 1999 bis Ok-
tober 2002 um wenigstens 25 Prozent zu senken. Sie ha-
ben in Ihrem Gesetzentwurf selbst festgestellt, dass dieses
Ziel nicht erreicht wurde. Der Kollege von den Grünen hat
es als ein sehr „ehrgeiziges Ziel“ bezeichnet. Ihren Wor-
ten war zu entnehmen, dass Sie der Meinung sind, dieses
Ziel konnte nicht erreicht werden.
Ich meine, bei Gesetzen, in denen konkrete Zahlen
festgeschrieben werden, kann man nicht später zu der In-
terpretation kommen, das sei ein ehrgeiziges Ziel und man
könne stolz sein, dieses Ziel fast erreicht zu haben, statt
selbstkritisch dazu Stellung zu nehmen, dass das Ziel ein-
deutig nicht erreicht wurde.
23,9 Prozent wurden erreicht.
Das ist weniger, als im Gesetz vorgesehen war. Was mir
in der Debatte etwas zu kurz kam, ist die Tatsache, dass
diese Zahl wenig aussagt. Zahlen an sich sagen nichts
über die Art und Länge der Beschäftigung aus. Insbeson-
dere die Qualität der Arbeitsplätze von Menschen mit
Behinderungen ist nicht ausreichend dargestellt und inter-
pretiert worden. Wenn Sie Ihrem eigenen Gesetz folgen
würden, müssten Sie jetzt die Pflichtquote von 5 Prozent
auf 6 Prozent anheben. Sie dürften also diesem Gesetz-
entwurf nicht zustimmen.
Es sollte Ihnen doch zu denken geben, meine Damen
und Herren von der Regierungskoalition, dass von einem
Vertreter der FDP festgestellt wurde, die FDP wolle über-
haupt keine Quoten, und dass die gesetzliche Vorgabe
nicht erreicht wurde, sei nicht so schlimm.
Ich meine, wenn man sich Ziele setzt und diese gesetz-
lich festschreibt, dann sollte man auch ehrlich sein und
sich daran halten. Deshalb werden wir diese Gesetzesän-
derung ablehnen.
Herzlichen Dank.
Ich erteile der Kollegin Barbara Lanzinger, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Wir sind uns sicherlich in der Grundintentiondarüber einig, dass alle Maßnahmen und Anstrengungenergriffen werden müssen und müssten, um vor allemauch Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen,Daniel Bahr
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Barbara Lanzingerinsbesondere die Schwerbehinderten, in den Arbeitsmarktzu vermitteln und zu integrieren.Wie heute schon einige Male ausgeführt wurde, wirdnun in der Begründung des von der Bundesregierung vor-gelegten Gesetzentwurfs darauf verwiesen, dass bis EndeOktober 2002 gegenüber Oktober 1999 ein Abbau derArbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen um rund23,9 Prozent stattgefunden hat. Kolleginnen und Kolle-gen der Regierungskoalition, lässt man diese Zahl alsgenerelle Aussage so stehen, mag sie durchaus positivklingen. Zunächst klingt bei Ihnen immer alles positiv– zumindest verkaufen Sie es so –, auch wenn es noch sonegativ ist.In diesem Fall kommen allein angesichts der Tatsache,dass die allgemeinen Arbeitsmarktzahlen dramatisch zu-gelegt haben, Zweifel ob der Richtigkeit Ihrer Aussagenauf. Hinzu kommt auch, dass Sie als Regierung nicht inder Lage waren, uns, der Opposition, im Gesundheitsaus-schuss in sich schlüssige, brauchbare Zahlen zu liefern.Was nützen mir einerseits Prozentzahlen und andererseitsnicht dazu in Relation stehende Zahlenangaben? Das istfür mich schlichtweg Verschleierungstaktik.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es kann dochnicht sein, dass es keine konkreten Angaben und Zahlenüber die entscheidende Vermittlung in den ersten Arbeits-markt gibt und auch nicht die dazugehörige Auf-gliederung in Altersgruppen. Interessant ist, dass der Jah-resbericht 2002 der Bundesarbeitsgemeinschaft der Inte-grationsämter und Hauptfürsorgestellen bei der Zuord-nung der schwerbehinderten Menschen in Altersgruppensehr deutlich zeigt, dass vor allem ältere Menschen über-proportional vertreten sind. Laut Angaben des Statisti-schen Bundesamtes 2002 sind mehr als 65 Prozent derschwerbehinderten Menschen 60 Jahre und älter.Ich teile hier die Aussagen des Kollegen Hüppe ganzentschieden, dass es so ist, dass die Zahl der von der Sta-tistik erfassten über 55-Jährigen bei den allgemeinen Ar-beitsmarktzahlen sinkt. Dies ist ganz erkennbar kein Gangin die Beschäftigung, sondern in den Vorruhestand.
Nun sage ich Ihnen, dass gerade die älteren schwerbehin-derten Menschen aus dem Arbeitsmarkt genommen wer-den. Wir wissen es alle: Eine Unterschrift reicht, um demArbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Das istnatürlich auch eine Art Bereinigung von Arbeitsmarkts-zahlen.Bestätigt werde ich hier vom Leiter einer Behinderten-werkstatt mit 400 Beschäftigten, der dieses Gesetz für un-realistisch hält, vor allem auch im Hinblick auf die nach-haltige Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt.Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wir teilenIhre positive Einschätzung zwar nicht, jedoch werden wirfür den Gesetzentwurf stimmen, der vorsieht, die Be-schäftigungsquote bei 5 Prozent zu belassen. Diese Quotejetzt auf 6 Prozent anzuheben wäre das falsche Signal inder derzeit äußerst angespannten und zu keinem Spiel-raum mehr fähigen wirtschaftlichen Lage der Arbeitgeber.
Äußerst interessant ist in diesem Zusammenhangdie Aussage der Regierungskoalition in der Ausschuss-drucksache 0053 in dieser Sache. Die Bemühungen derBundesregierung zielen gerade darauf, Arbeitgeber dermittleren und kleineren Betriebe zu motivieren, schwer-behinderte Menschen zu beschäftigen. Kollege Kurth,Ihre Aussagen dazu schlagen dem Fass den Boden aus.Denn Ihr Regierungsrezept der Motivationsförderungder Betriebe ist keineswegs so, wie Sie es darstellen, son-dern sieht vielmehr folgendermaßen aus: Sie nehmen Mit-bestimmungsgesetz, Bürokratie ohne Ende, Energie- undÖkosteuer, somit höhere Stromkosten und daraus resul-tierende Konzessionsabgaben, nicht mehr tragbare Lohn-nebenkosten und Sozialabgaben, kontraproduktive Tarif-abschlüsse im öffentlichen Dienst, mischen das Ganzekräftig durch und verschließen es mit einem Stöpsel.
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition,wann merken Sie endlich, dass Sie den Betrieben die Luftzum Atmen nehmen und ihnen keinen Spielraum mehrlassen und sie ersticken? Ich frage mich: Wo können daunsere schwerbehinderten Menschen noch Platz finden,bei denen Zielvorgaben wie prozentuale Beschäftigungs-quote, Zeitdruck und Erreichung des Jahreslimits fastschon zynisch klingen? Wäre es nicht besser, Ziele zu for-mulieren, die eine grundsätzliche nachhaltige Beschäfti-gung und Eingliederung der Schwerbehinderten auch un-ter menschlichen und sozialen Gesichtspunktenanstreben?Genau die schwerbehinderten Menschen mit ihren Fa-milien sind es doch, die uns im Prinzip tagtäglich zeigen,was wir in unserer Gesellschaft tun müssen: weg von derSpaßgesellschaft und weg davon, tun und lassen zu kön-nen, was man will. Sie, meine Damen und Herren von derRegierung, haben diese gesellschaftliche Entwicklung,die letztendlich Kälte produziert, ganz hauptsächlich mit-zuverantworten.
Gerade die Menschen mit Behinderungen sind es doch,die uns lehren, was es heißt, persönliche Verantwortungund Wertorientierung zu haben und Eigen- und Selbst-verantwortung zu übernehmen. Es muss unser allerBemühen sein, Menschen mit Behinderungen und Schwer-behinderte in den Arbeitsmarkt einzugliedern, um ihnen da-mit eine ganz wesentliche Teilhabe am gesellschaftlichenLeben zu ermöglichen. Für die Würde unserer Menschenmit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und für dieStärkung ihrer Fähigkeit, ihr Leben so weit wie möglichselbst zu gestalten und selbst zu bestimmen, ist die Ein-gliederung und Integration vor allem auch ins Arbeitsle-ben und in den ersten Arbeitsmarkt von elementarer Be-deutung.Wir von der CDU/CSU-Fraktion erwarten, dass von ei-ner rot-grünen Bundesregierung und deren Behinderten-beauftragten Herrn Haack – ich weiß nicht, ob der schonanwesend ist – Zielvorgaben entwickelt werden, die un-
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seren Menschen mit Schwerbehinderungen eine effektiveund nachhaltige Teilnahme am Arbeitsleben ermöglichenund so das Jahr 2003 wirklich zu einem erfolgreichen Jahrder Menschen mit Behinderungen werden lassen.Motivation, Frau Kühn-Mengel, ist eigentlich eineGrundvoraussetzung für eine Regierung. Aber sie alleinereicht meiner Meinung nach noch lange nicht aus. Wirwerden jedoch bei allen konstruktiven und machbarenVorschlägen der Bundesregierung unsere Mitarbeit nichtverweigern.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Dies war die erste Rede der Kollegin Lanzinger. Ich
gratuliere Ihnen herzlich dazu.
Nun erteile ich das Wort Kollegin Silvia Schmidt,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Herr Hüppe und Frau Lanzinger, zurErklärung: Herr Haack vertritt heute die Bundesregierungbei einer internationalen Tagung der Sprachheilpädago-gen in Fulda. Das ist besonders wichtig. Übrigens hat dieBundesregierung, die für den vorliegenden Bericht ver-antwortlich ist, natürlich den Parlamentarischen Staats-sekretär Franz Thönnes als ihren Vertreter geschickt. Ichglaube, damit muss das geklärt sein.
Des Weiteren möchte ich Herrn Bahr sagen: FrauMinisterin Schmidt hat in ihrer letzten Rede durchaus deut-lich gemacht, dass die Eingliederungshilfe bedarfsorientiertausgerichtet werden müsse und dass am Ende durchaus einLeistungsgesetz stehen könne. Lesen Sie es einfach nach!Noch ein Wort zu der Zahl der Stellen, die die Bundes-regierung im öffentlichen Dienst abgebaut hat: Es wareninsgesamt 4 850 Mitarbeiter. Das sollte man in die Be-trachtungen einbeziehen; denn das, was Sie betreiben, istPolemik. Lesen Sie die Zahlen bitte richtig.
„Nichts über uns ohne uns“ – das ist das Motto des Eu-ropäischen Jahres 2003 der Menschen mit Behinderung.Dieses Motto ist auch die Leitlinie für unsere sozialde-mokratische Politik. Wir werden den eingeschlagenenWeg in der Behindertenpolitik konsequent fortsetzen, si-cherlich auch mit Ihnen. Wir alle wissen aber auch: In derBehindertenpolitik waren die Kohl-Jahre verlorene Jahre.Betroffene sagen:16 Jahre lang fand ein Integrationszirkus statt, dermit den Forderungen und Bedürfnissen der Men-schen mit Behinderung nichts zu tun hatte.Für die Betroffenen war das ein menschenverachtendesSchauspiel; denn die Behinderten waren lange genug Ob-jekt. Der Paradigmenwechsel seit unserem Regierungsan-tritt ist der richtige Weg. Das Gesetz zur Bekämpfung derArbeitslosigkeit Schwerbehinderter, das Neunte Buch So-zialgesetzbuch und das Gleichstellungsgesetz sind dreiwichtige Schritte in die richtige Richtung. Wir alle müssenjetzt diese Gesetze mit Leben erfüllen. Das ist die zentralebehindertenpolitische Aufgabe dieser Legislaturperiode.Wir haben nicht nur Gesetze gemacht, sondern aucheine grundlegende Neuausrichtung in der Behinderten-politik eingeleitet. Nicht die Behinderung steht im Mit-telpunkt, sondern der Mensch. Im Vordergrund steht derAnspruch auf Selbstbestimmung und gesellschaftlicheTeilhabe. Hindernisse, die dem entgegenstehen, werdenwir weiter abbauen. Wir haben die Gesetze auch nichtüber die Köpfe der Betroffenen hinweg erlassen. Nein, siewurden gemeinsam mit den behinderten Menschen, ihrenVerbänden und Leistungserbringern erarbeitet. Viele Re-gelungen gehen auf ihr Engagement und ihre Erfahrungenzurück. Ohne diesen ständigen Dialog wäre die Reform sonicht möglich gewesen. Der Behindertenbeauftragte derBundesregierung, Karl Hermann Haack, hat diesen Dia-log angestoßen und mit aller Kraft befördert. Ihm gilt be-sonders großer Dank.Wir setzen mit unserer Behindertenpolitik internatio-nale Maßstäbe. Wir haben endlich eine Vorreiterrolle inEuropa. Gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichenLeben beinhaltet auch den Zugang zum Arbeitsmarkt. In-tegration bedeutet mehr als nur ein schönes Heim, einengoldenen Käfig. Es bedeutet vielmehr, dabei zu sein, je-den Tag zu leben und zu arbeiten. Arbeit ist nicht nur Brot-erwerb, sondern bedeutet auch, sich zu beweisen, Aner-kennung zu erleben und Leistung zu erbringen. Dafürmüssen die Voraussetzungen vorhanden sein.
Das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeitschwerbehinderter Menschen schafft dafür neue Wegeund Instrumente; ich werde noch einige Beispiele vortra-gen. Wir stellen die Kompetenz und Fähigkeiten behin-derter Menschen bei der Arbeit und im Beruf in den Mit-telpunkt: Integration statt Ausgrenzung. Unser Ziel ist es,die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschenspürbar und dauerhaft zu senken. Als Anreiz für die Ar-beitgeber wurde, wie bereits erwähnt, gleichzeitig diePflichtquote der Beschäftigung schwerbehinderter Men-schen von 6 Prozent auf 5 Prozent gesenkt. In nur zweiJahren ist es gelungen, viele tausend behinderte Menschenauf den Arbeitsmarkt zu vermitteln. Der Rückgang der Ar-beitslosenzahlen lag Ende Oktober bei 45 305. Das habenSie alle festgestellt. Auch diese Zahlen sind bekannt.Integrationsamt, Arbeitsamt, Integrationsfachdienste,Unternehmen und Gewerkschaften haben zu diesem Er-folg – es ist ein Erfolg; Frau Kühn-Mengel hat die Zahlendazu genannt – beigetragen. Dazu müssen wir auch ste-hen. Sie haben dieses Gesetz ebenfalls mitgetragen.
Barbara Lanzinger
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Silvia Schmidt
Die Integrationsfachdienste sind Partner bei der berufli-chen Integration in den ersten Arbeitsmarkt.Auch die Integrationsfirmen sind Wegweiser. Ein er-folgreiches Beispiel dafür ist die Firma Docu-Safe ausGera. Das moderne Unternehmen bietet Dienstleistungenim Bereich Mikrofilm und elektronischer Archivierungan. Docu-Safe begann seine Geschäftstätigkeit – Sie erin-nern sich – 1999 als Bundesmodellprojekt. Es integriertschwerbehinderte und nicht behinderte Menschen in dasArbeitsleben. Weg von Fürsorge, hin zum selbstbestimm-ten Leben!Seit dem erfolgreichen Abschluss der ModellphaseEnde des Jahres 2001 arbeitet das Unternehmen alsgemeinnützige Gesellschaft. Dort sind 34 Vollzeitstellen.23 davon sind mit schwerbehinderten Menschen besetzt.Unter ihnen befinden sich Diplom-Mathematiker, Kauf-leute, Informatiker, Elektroniker, Bauingenieure, Büro-kauffrauen und Pädagogen.Ein weiteres Beispiel aus Ihrem Wahlkreis, Herr Hüppe:Acht Mitarbeiter, davon vier mit Behinderung, hat dieFirma Inno Vita in Schwerte.
Die gemeinnützige Integrationsfirma bewirtet drei städti-sche Firmen und bietet einen Cateringservice an.Im Arbeitsamtsbezirk Schwerin sind zwei Integra-tionsfirmen, ANKER Sozialarbeit und ZAGAPU, beson-ders erfolgreich. Dort arbeiten 50 Schwerbehinderte. HerrHüppe, das ist der erste Arbeitsmarkt! Das sind die kon-kreten Erfolge unserer sozialdemokratischen Behinder-tenpolitik. Die müssen wir endlich einmal zur Kenntnisnehmen.
Nach der geltenden Gesetzeslage müsste die Pflicht-quote zum 1. Januar 2003 wieder auf 6 Prozent angeho-ben werden. Das wäre natürlich das falsche Signal. Eswürde die Arbeitgeber, die sich positiv hervorgetan ha-ben, mit 340 Millionen Euro Mehrkosten belasten undihre Motivation, behinderte Menschen einzustellen, sen-ken, nicht erhöhen. Der erfolgreiche Reformprozess wäregefährdet. Daher wollen wir die Anhebung der Pflicht-quote für ein Jahr aussetzen.In der Zwischenzeit werden wir unsere Anstrengungenzum Abbau der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Men-schen weiterführen. Gemeinsam mit den Verbänden wol-len wir das Konzept weiterentwickeln und neue Zielvorga-ben umsetzen. Ich fordere Sie, meine Damen und Herrenvon der Opposition, ganz herzlich auf, sich auch diesemSchritt nicht zu verschließen.Mithilfe der Kampagne „50 000 neue Jobs für Schwer-behinderte“ sind 151 000 behinderte Menschen in Arbeitvermittelt worden. Trotz der schwierigen wirtschaftlichenLage haben wir erreicht, dass die Zahl der schwerbehin-derten Menschen in Beschäftigung allein von 2000 bis2001 um 35 000 anstieg.
Das ist keine Frühverrentung. Es sind 35 000 Beschäfti-gungsplätze!
Wir werden – das versprechen wir – in unseren An-strengungen nicht nachlassen. Wir wissen durchaus – dassagen wir auch –, dass die Arbeitslosigkeit Schwerbehin-derter heute noch überdurchschnittlich hoch ist. Ausbil-dung und Umschulung von Behinderten müssen mit densteigenden Anforderungen des Arbeitsmarkts abgestimmtwerden. Der Bund fördert die Netze der Berufsbildungs-und Berufsförderungswerke. Die Eingliederungsquote vonmehr als 70 Prozent ist ein deutlicher Beleg für deren Erfolg.Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe müs-sen in allen Bereichen praktiziert werden. Die Menschenmit Behinderungen wissen selbst am besten, was für sierichtig und wichtig ist. Aber sie müssen es auch einfor-dern und sie müssen es einfordern können. Dafür sind diegemeinsamen Servicestellen der Rehaträger eingerichtetworden.Der flächendeckende Aufbau der Servicestellen ist ab-geschlossen. Aber sie werden noch nicht in ausreichen-dem Maße in Anspruch genommen. Viele Leistungsbe-rechtigte wissen noch zu wenig Bescheid. Aufklärung undÖffentlichkeitsarbeit sind nötig. Diese Arbeit zu leisten istnatürlich in erster Linie Aufgabe der Rehabilitationsträger.Aber auch wir müssen unseren Teil dazu beitragen; dennwir stehen bei den Menschen mit Behinderung im Wort.Wo die Servicestellen noch nicht optimal funktionie-ren, müssen die Mängel zügig abgestellt werden. Dafürmüssen wir uns einsetzen. Ich sehe diesbezüglich vorallem bei der Schulung der Mitarbeiter Bedarf. Die Mit-arbeiter müssen umfassend beraten können und den Leis-tungsberechtigten den Gang durch den Behördendschun-gel abnehmen. Paradigmenwechsel in diesem Bereichheißt, über die Grenzen des einzelnen Trägers hinauszuse-hen, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und nichtin erster Linie zu fragen, wer die Leistungen bezahlen soll.Unsere besondere Sorge – wir haben es schon erwähnt –gilt der Früherkennung und der Frühförderung behinder-ter Kinder. Das SGB IX sieht ein System mit übergreifen-den und umfassenden Behandlungen vor. Probleme berei-tet die Ausgestaltung der gemeinsamen Empfehlung derRehaträger zu diesem Bereich. Seit Monaten können sichdie Krankenkassen und die kommunalen Spitzenverbändenicht auf eine endgültige Formulierung einigen.
Das ist ein unwürdiges Geschacher; denn es geht doch da-rum zu helfen.
Kollegin Schmidt, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja, Herr Präsident. – Für diesen Bereich muss es eineweitere Rechtsverordnung geben.
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2003 ist das Europäische Jahr der Menschen mit Be-hinderung. Ich fordere Sie alle auf, hier mitzuarbeiten undin die Öffentlichkeit zu treten; denn es ist ein gesell-schaftliches Problem, dass auf den Bereich der Behinder-tenpolitik nicht genug aufmerksam gemacht wird.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
gebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/124 zur
Änderung von Fristen und Bezeichnungen im Neunten
Buch Sozialgesetzbuch und zur Änderung anderer Ge-
setze. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Siche-
rung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/317, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Zusatzpunkt 6: Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 15/227 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Jugendschutzgesetzes
– Drucksache 15/88 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Staatsminis-
terin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen
des Freistaates Bayern, Christa Stewens, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Unsere Kinder und Jugendlichen brauchen einennachhaltigen und konsequenten Schutz vor schädlichenEinflüssen auf ihre Persönlichkeits- und Werteentwick-lung. Jugendschutz muss daher der wachsenden Gewalt-bereitschaft gerade bei der jüngeren Generation entschie-den entgegentreten. Notwendig ist dazu ein umfassendes,für Kinder und Jugendliche bedarfsgerechtes, für Elternverlässliches und für Vollzugsbehörden, Anbieter und Ge-werbetreibende transparentes, einheitliches gesetzlichesSchutzsystem. Das am 14. Juni 2002 verabschiedete neueJugendschutzgesetz wird diesem Anspruch in keiner Weisegerecht.
Insgesamt betrachtet weist das Gesetz gravierendeLücken auf. Eine zukunftsweisende Weichenstellung fürden Jugendschutz ist hier nicht erkennbar.Unter dem Eindruck der exzessiven Gewalttat in Erfurtmit bitteren Konsequenzen und in Erinnerung der drama-tischen Ereignisse andernorts – ich denke nur an Bad Rei-chenhall, Freising usw. – waren sich alle politisch Verant-wortlichen auf allen Ebenen in diesem Land einig, dassjunge Menschen vor Gewalt verherrlichenden Medienin-halten stärker und konsequenter geschützt werden müs-sen.
Der Bundeskanzler hat ja beispielsweise im Beisein derMinisterpräsidenten am 6. Mai 2002 die langjährige baye-rische Forderung nach einem generellen, altersunabhän-gigen Vermiet- und Verleihverbot ausdrücklich begrüßt.Das in einer Blitzaktion dann vorgelegte neue Jugend-schutzgesetz bleibt aber leider Gottes weit hinter demKonsens, der damals erzielt worden ist, zurück. Auch wurdedie Chance vertan, den Sachverstand der Länder über einenersten Durchgang im Bundesrat einzubinden.Auf Initiative Bayerns beschloss der Bundesrat am27. September letzten Jahres das Ihnen vorliegende Än-derungsgesetz. Aufgrund der fachlich und wissenschaft-lich fundierten Erkenntnisse ist es vollkommen unver-ständlich, dass die Bundesregierung die vorgeschlagenenRegelungen für ungeeignet hält, den Kinder- und Jugend-medienschutz im Interesse eines möglichst gewaltfreienAufwachsens der Kinder und Jugendlichen zu verbessern.Zu den wichtigsten Änderungsvorschlägen möchteich, meine Damen und Herren, die Position des Bundes-rates kurz darstellen:Als Erstes nenne ich das generelle Vermietverbot vonjugendgefährdenden Trägermedien. Die Bundesregierungspricht sich ja dagegen aus. Dabei verkennt sie völlig,dass mit einem solchen Vermietverbot ein notwendigesgesellschaftspolitisches Signal gesetzt wird.
Denn solche Produkte sind prinzipiell nicht erwünschtund ihr Vertrieb sollte starken Beschränkungen unterwor-fen werden. Das Argument der Bundesregierung, die hierdie Informationsfreiheit der Erwachsenen gefährdet sieht,ist für mich keineswegs stichhaltig. Hier geht der Schutzder Kinder und Jugendlichen eindeutig vor.
Silvia Schmidt
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Staatsministerin Christa Stewens
Der käufliche Erwerb ist ja weiterhin für Erwachsenemöglich; das muss man schon sehen.Zweitens. Zum generellen Vermietverbot gehört dannnatürlich auch das Verbot von Videoverleihautomaten.Dies lehnt die Bundesregierung unter Verweis auf dietechnischen Sicherungsmöglichkeiten, die eine Bedie-nung durch Kinder und Jugendliche verhindern können,ab. Es bestehen natürlich durchaus erhebliche Zweifel, obder Stand der Technik gewährleisten kann, dass Kinderund Jugendliche nur an die für ihre Altersgruppe vorgese-henen Angebote gelangen können. Qualifizierte Tests be-züglich biometrischer Verfahren beweisen, dass damit der-zeit eine ausreichende Zugangssicherung definitiv nichtgewährleistet werden kann.
Auf der anderen Seite gilt es auch, die negative Sog-wirkung von Videoverleihautomaten auf Kinder und Ju-gendliche einzuschränken.Drittens. Der Bundesrat fordert das Verbot von so ge-nannten Killerspielen. Die Bundesregierung macht essich hier wirklich zu leicht, indem sie sich auf die Positionzurückzieht, dass das Bundesverwaltungsgericht bereitsgrundsätzlich entschieden habe, dass derartige Spiele ge-gen die Menschenwürde verstoßen und deshalb regel-mäßig zu verbieten sind. Sie kann sich nicht mit einemsolchen Verweis von ihrer originären Gesetzgebungs-pflicht befreien. Eindeutige, klare gesetzliche Regelungensind notwendig. Man sollte sich hier nicht auf Urteilezurückziehen.
Der vierte Punkt: Zur Stärkung der Erziehungskom-petenz und zur Unterstützung der Eltern sind deshalbauch staatlicherseits strukturelle, klare gesetzgeberischeRahmenbedingungen und letztendlich auch Grenzen zusetzen. Wir müssen auch den Eltern, die hinsichtlich ihrerErziehungskompetenz verunsichert sind, ganz klar sagen,wo wir Grenzen setzen wollen. Davor hat sich der Ge-setzgeber nicht zu drücken.Deswegen: Etikettiert als Elternprivileg sieht das Ju-gendschutzgesetz Lockerungen vor, mit denen die fundier-ten und gesellschaftlich anerkannten Alterskennzeich-nungen der freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaftunterlaufen werden können. Eltern haben schlichtweg oftnicht die Möglichkeit, sich in allen Fällen vorab so umfas-send zu informieren, dass sie die Medienwirkung des Ki-nobesuches auf ihre Kinder sicher einschätzen können.Dies müssen wir gerade vor dem Hintergrund stärker ge-wichten, dass wir genau wissen, dass Erziehungsunsi-cherheiten heute stärker steigen als früher. Deswegen istes wichtig, dass wir unseren Eltern hier klare und verläs-sliche Informationen bieten.Der fünfte Punkt: Auch die Einführung der so genann-ten erziehungsbeauftragten Person ist entschieden ab-zulehnen. Zwar mag es in bestimmten Fällen notwendigsein, die Erziehungsberechtigung auf Dauer oder auchzeitweise übertragen zu können, jedoch muss – dies istganz wichtig – hierfür ein natürliches Autoritäts- bzw.Respektverhältnis bestehen. Aktive Jugendschützer inDeutschland befürchten, dass in der Praxis beispielsweisedie Erziehungsaufgaben an den Betreiber einer Diskothekübertragen werden. Solchen Auswüchsen muss durch eineklare und eindeutige gesetzliche Formulierung ein Riegelvorgeschoben werden.
Meine Damen und Herren, jetzt komme ich noch zu ei-nem Anliegen, das mir persönlich ganz besonders am Her-zen liegt – das ist der sechste Punkt –: Die Vorstufe vonKinderpornographie ist die Darstellung von Kindern inerotisch aufreizenden Posen. Das Jugendschutzgesetzmuss hier dem dringenden Schutzinteresse von Kindernund Jugendlichen besser Rechnung tragen und diese Artder Darstellung wie im Jugendmedienschutz-Staatsver-trag generell verbieten.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bringe keine Toleranz fürdiese Art der Darstellung auf. Kinder und Jugendlichesind definitiv keine Sexualobjekte; auch nicht fürErwachsene.
Im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag haben wir es Gottsei Dank erreicht, dass sie aus geschlossenen Benutzer-gruppen für Erwachsene herausgenommen worden sind.Ich meine, dass wir dies auch im Jugendschutzgesetz er-reichen müssen.
Hier sollte parteiübergreifende Einigkeit darüber bestehen,dass der Schutz unserer Kinder oberste Priorität habenmuss.
Die Gesellschaft reagiert nicht erst seit den schreckli-chen Ereignissen von Erfurt zunehmend mit Angst undSorge auf Gewalt, Extremismus und Pornographie in denMedien. Wir alle sind gefordert, Verantwortung für dieVermittlung von Normen und Werten zu übernehmen, diemit unserer Gesellschafts- und Sozialordnung in Einklangstehen. Zur Unterstützung des erzieherischen Jugendme-dienschutzes und zur Stärkung der elterlichen Erzie-hungsverantwortung gibt ein verbindlicher und verläss-licher Rechtsrahmen die notwendige Schubkraft.Sicherlich kann – darüber müssen wir uns alle im Kla-ren sein – Politik Gewaltphänomene nicht im Alleingangbewältigen. Notwendig ist eine breite gesellschaftlicheAllianz gegen Gewalt, in der Eltern und Pädagogen,Medienschaffende und politisch Verantwortliche gemein-sam mit verlässlichen Leitlinien unseren Kindern und Ju-gendlichen den notwendigen sicheren sozialen Halt ge-ben.Das zuständige Bundesfamilienministerium bedientsich oft und gerne des Zitats vom „Aufwachsen in öffent-licher Verantwortung“. Hier fordere ich mehr Verantwor-tung für Kinder und Jugendliche ein. Beim Jugendschutz-gesetz kann die Regierungskoalition die Probe aufsExempel machen. Hier kann sie unter Beweis stellen, wasletztendlich von den vielen schönen Worten zu halten ist.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003 1571
Ich appelliere an Sie als diejenigen, die hier im Parla-ment Verantwortung für die Gesetze tragen, die fachlichgebotenen Nachbesserungen über Partei- und Fraktions-grenzen hinweg im Interesse unserer Kinder und Jugend-lichen unverzüglich auf den Weg zu bringen.Danke schön.
Ich erteile das Wort der Kollegin Kerstin Griese, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FrauStaatsministerin, wir haben hier im letzten Sommer, imJuni 2002, ein neues Jugendschutzgesetz beschlossen.Darin sind viele gute Dinge enthalten. Ich freue mich sehr,dass dieses Gesetz am 1. April in Kraft treten kann. Dannkönnen wir darüber diskutieren, was sich dadurch in derPraxis verbessert. Es kann am 1. April Geltung erlangen,wenn auch der Staatsvertrag über den Schutz der Men-schenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk- undTelemedien in Kraft tritt; denn vieles darin ist Länderan-gelegenheit. Deshalb beraten wir hier den Bundesratsent-wurf.Ich will deutlich machen, was unser Konzept vonJugendschutz und Jugendpolitik ist. Unsere oberste Pri-orität, unsere Leitlinie ist, Jugendliche zu stärken und zuschützen.
Wir wollen Jugendliche stark machen gegen Gewalt undwollen sie schützen vor Gewalt und Gewaltdarstellungen.Dazu gehört – das vergessen Sie gerne –, die Medien-kompetenz zu stärken, damit Jugendliche mit den neuenMedien umgehen können, damit sie lernen, die neuen Me-dien kritisch einzuschätzen, damit sie aber auch derenChancen sinnvoll nutzen können. Darüber hinaus müssenaber auch die Eltern und die Erziehenden in ihrer Medien-kompetenz gestärkt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Jugendschutz ge-währleistet das Recht junger Menschen auf Schutz undIntegrität ihrer Persönlichkeit, er gewährleistet die Inte-gration in die Gesellschaft und die Teilhabe an der Ge-sellschaft. Deshalb dürfen wir Jugendliche nicht einfachwegsperren, sondern müssen sie stark machen und müssenihre Kreativität und Kompetenz fördern. Dieses Verständ-nis eines optimalen Jugendschutzes finden Sie in dem Ge-setz, das wir im letzten Sommer beschlossen haben.
Dieses Gesetz wurde übrigens nach sehr intensiven Be-ratungen beschlossen. Das sage ich ausdrücklich, da Sienämlich immer wieder behaupten, dass es nicht so gewe-sen sei. Im Vorfeld haben über zwei Jahre hinweg inten-sive Beratungen mit Fachleuten stattgefunden. Der bayeri-sche Entwurf, den wir heute hier als Bundesratsentwurfberaten, ist längst überholt und hilft nicht bei der Verbes-serung des Jugendschutzes.
In Ihrer Regierungszeit haben Sie es jahrelang nicht ge-schafft, den Jugendschutz den aktuellen Erfordernissenund den sehr deutlichen technischen Veränderungen an-zupassen. Wir haben das gemacht. Wir haben zum erstenMal durchgängige Alterskennzeichnungen für alleSpiele auf allen Medien eingeführt. Die Fachleute undPraktiker haben immer gefordert, nicht zu trennen, sodassauf Kinofilmen Alterskennzeichnungen zu finden sind,auf Videos, DVDs und Computerspielen aber nicht. Dashaben wir geändert. Eltern, Erzieher und Schulen findenjetzt Angaben, welche Medien für Kinder und Jugendli-che geeignet sind.Wir haben erstmals – das halte ich für ganz wichtig –den Jugendschutz im Internet angepackt. Das haben Sienicht gemacht, obwohl es das Internet seit 1985 gibt. In-zwischen hat mindestens die Hälfte aller Sechsjährigenbis 14-Jährigen Zugang zu einem Computer, etwa einFünftel dieser Altersgruppe surft mindestens einmal imMonat im Internet. Deshalb geht es darum, qualitativhochwertige Angebote im Internet zu unterstützen, Ange-bote, bei denen sich Eltern und Erziehende sicher seinkönnen, dass sie gut für ihre Kinder sind. Wir haben in derDebatte damals deutlich gesagt – das will ich auch heute be-tonen –, dass auch die positiven Ansätze wie Kinderportaleoder Zugänge mit sinnvollen Angeboten wichtig sind.
Für uns steht die Förderung der Medienkompetenz imMittelpunkt. Dazu haben wir schon viel getan. Im Rah-men des Programms „Schule ans Netz“ sind alle Schulenans Netz gekommen.
Jetzt soll die Jugendarbeit ans Netz kommen, damit diedigitale Spaltung der Gesellschaft überwunden werdenkann. Ich will nur ein Beispiel für ein gutes Angebot nen-nen, das sich gestern einige von uns beim Kinderhilfswerkansehen konnten, nämlich „www.kindersache.de“. Das istein Portal, zu dem man Kindern guten Gewissens Zuganggeben kann und in dem sie gute Angebote finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie behaupten immerwieder, es wäre weiterhin möglich, schwer jugendgefähr-dende Trägermedien Kindern zugänglich zu machen.Das stimmt nicht. Mit dem neuen Jugendschutzgesetz ha-ben wir den Katalog der schwer jugendgefährdenden Trä-germedien, also Medien, auf denen schwer jugendgefähr-dende Inhalte zu sehen sind, um Gewaltdarstellungen undDarstellungen, die die Menschenwürde verletzen und dieden Krieg verherrlichen, erweitert. Diese Medien unter-liegen weit reichenden Abgabe-, Vertriebs- und Werbe-verboten, die mit dem neuen Jugendschutzgesetz im Aprilin Kraft treten werden.Staatsministerin Christa Stewens
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Kerstin GrieseEin weiterer ganz wichtiger Punkt ist, dass wir aufinternationaler Ebene den Jugendschutz verstärken wol-len. Das Internet ist nun einmal ein World Wide Web; des-halb brauchen wir europäische und internationale Stan-dards. Ich hoffe, dass wir uns in diesem Punkt alle einigsind, denn es bedarf der Unterstützung des gesamten Hau-ses, um auch auf internationaler Ebene solche Standardszu setzen.
– Es ist schön, wenn wir das gemeinsam fordern.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass wir das imApril in Kraft tretende Jugendschutzgesetz ausführlichberaten haben. Es gab sehr viel Zustimmung aus Fach-kreisen. Ich darf Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, daran erinnern, dass Sie sich bei der Abstim-mung über dieses Gesetz – ich war nämlich dabei – ent-halten haben. Interessanterweise haben die Länder imBundesrat – dort haben Sie auch ein paar Stimmen – die-sem Gesetz zugestimmt. Das heißt, es war ein gutes Ge-setz und es war sinnvoll, dass dieses Gesetz im letztenSommer verabschiedet wurde.
Ich bin froh, dass Sie dieses Gesetz im Bundesrat mit sobreiter Mehrheit angenommen haben und die zuständigenFachleute, auch die Bundesprüfstelle für jugendgefähr-dende, wie sie jetzt heißt, Medien das Bemühen unter-stützt haben. Wir werden dieses Gesetz nach fünf Jahrenevaluieren – das ist festgelegt – und dann sehen, wie sichdie Regelungen bewähren.Ich will eine interessante Tatsache nicht verschweigen:Der zuständige Fachausschuss des Bundesrates, in dem dieFachminister sitzen, hat mehrheitlich beschlossen, den An-trag des Bundeslandes Bayern nicht einzubringen, hat ihnalso mehrheitlich abgelehnt. Die Fachminister der Länderhaben festgestellt – ich zitiere aus der Begründung –:Mit dem Inkrafttreten dieses– also unseres im letzten Jahr beschlossenen –Jugendschutzgesetzes wird den gewandelten Anfor-derungen an einen effektiven Kinder- und Jugend-schutz, insbesondere hinsichtlich der neuen Medien,Rechnung getragen und gleichzeitig eine wichtigeSäule des Kinder- und Jugendschutzes, die Förde-rung der Medienkompetenz der Jugendlichen undEltern berücksichtigt.Der bayerische Antrag hat im Fachausschuss des Bun-desrates keine Mehrheit gefunden. Deshalb rate ich Ihnen,sich erst einmal bei den zuständigen Fachleuten aus derPraxis Rat zu holen.
Ich komme auf einige Ihrer Vorschläge im Einzelnenzu sprechen:Sie wollen die Telemedien neu definieren. Ich rate Ih-nen, sich auch diesbezüglich mit den zuständigen Me-dienpolitikerinnen und -politikern – Frau Krogmann seheich jetzt nicht – zusammenzusetzen, denn es handelt sichum eine komplizierte Materie. Die von uns vorgeseheneDefinition von Telemedien wurde im Konsens mit denLändern abgestimmt und ist deshalb umsetzbar.Das Gleiche gilt für Ihren Vorschlag, die nutzerautono-men Filtersysteme zu streichen. Ich weiß, dass es inner-halb der CDU/CSU-Fraktion zwischen den Medien-, denWirtschafts- und den Jugendpolitikern darüber schwereAuseinandersetzungen gibt. In der Fachwelt hat sich in-zwischen längst die Überzeugung durchgesetzt, dass imGegensatz zu pauschalen Filtern nur solche Filter, derenKriterien klar sind und die von Eltern, Erziehenden undLehrern eingesetzt werden können, weil sie selbst ent-scheiden können, was gefiltert werden soll, sinnvoll sind.Außerdem machen gute Angebote für Kinderportale Sinn.Auch in diesem Punkt ist Ihr Vorschlag hinter der Zeitzurückgeblieben.Ich komme auf Ihren Vorschlag zu sprechen, zu der al-ten Regelung zurückzukehren, welche vorsah, dass Kin-dern und Jugendlichen unter 16 Jahren verboten wird, anelektronischen Bildschirmspielgeräten zu spielen, de-ren Nutzung Geld kostet. Das ist ein interessantes Thema.Wir haben das Kriterium verändert. Uns geht es darum,welche Inhalte auf diesen Geräten sind. Uns geht es umeine Alterskennzeichnung. Das Kriterium soll also nichtsein, ob das Spielen mit diesem Gerät 1 Euro kostet, son-dern welche Inhalte und welches Programm dort vorhan-den sind. Es gibt mit Sicherheit kostenfreie Zugänge zujugendgefährdenden Medien; es gibt aber auch Zugängezu sehr sinnvollen Lernprogrammen, die etwas kosten.Deshalb ist in der heutigen Zeit das Kriterium nicht dasTaschengeld, sondern die inhaltliche Frage: Was schütztKinder und Jugendliche?
Frau Stewens, Sie suggerieren mit Ihrem Vorschlag in§ 13 Abs. 3 des Jugendschutzgesetzes – Sie haben daswiederholt – fälschlicherweise, dass die Darstellung vongewalttätigen Handlungen, von Kriegsverherrlichung undsexuelle Darstellungen von Kindern Kindern zugänglichgemacht würden. Das ist falsch. Ich will es ganz deutlichsagen: Es ist strafbar, sexuelle Handlungen an Kindernüberhaupt darzustellen. Wir reden also über das Strafge-setz. Es ist aber auch nicht zulässig, derartige Inhalte Kin-dern zugänglich zu machen. Natürlich ist das schon längstgeregelt, und zwar in § 15 Abs. 2 des Jugendschutzgesetzes.Sie haben ferner vorgeschlagen, das Indizierungsver-fahren bei der Bundesprüfstelle, das sich sehr bewährthat, zu verändern. Sie wollen von einer Zweidrittelmehr-heit auf eine einfache Mehrheit gehen. Ich kann Ihnen nurraten, dabei sehr vorsichtig zu sein. Die Indizierung, dieZensur, ist ein sehr sensibles Thema. Deshalb halten wiran der Zweidrittelmehrheit fest, die sich in der Praxis po-sitiv bewährt hat.Alles in allem: Der Gesetzentwurf des Bundesrates istein Überbleibsel aus Herrn Stoibers Wahlkampf. Den hater verloren. Packen Sie diesen Entwurf lieber wieder ein
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und lassen Sie uns gemeinsam an der Umsetzung einesmodernen und effektiven Kinder- und Jugendschutzes ar-beiten! Lassen Sie uns das neue Gesetz begleiten und aus-werten! Wir sind natürlich bereit, gute Veränderungsvor-schläge aufzunehmen. Lassen Sie uns nach den bestenLösungen im Sinne der Kinder und Jugendlichen suchen!Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Haupt, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieHektik, mit der die damalige Jugendministerin Bergmanninnerhalb weniger Sitzungstage am Ende der letzten Le-gislaturperiode das Jugendschutzgesetz durch die Gremiengepeitscht hat, hat dem Gesetz nun wirklich nicht gut getan.
So ein Vorgehen führt zu baldigem Nachbesserungsbedarf.Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf des Bundesratesweist auf einige problematische Punkte hin und enthält be-grüßenswerte Elemente. Andererseits beinhaltet dieser Ge-setzentwurf, der übrigens mit den CDU/CSU-Änderungs-anträgen des letzten Sommers weitgehend übereinstimmt,
auch Punkte, die den Jugendschutz nicht voranbringenoder unverhältnismäßig sind.
Der notwendige gesetzliche Jugendschutz darf nichteinzig und allein von dem Ziel geprägt sein, Kinder undJugendliche vor Gefährdungen zu schützen. Kinder in ei-nem Glashaus aufwachsen zu lassen, in dem sie von allenunerfreulichen Dingen dieser Welt völlig abgeschirmtsind, kann kein Ziel des Jugendschutzes sein.
Der notwendige Jugendschutz ist deshalb immer abzuwä-gen gegen die für eine Kompetenzentwicklung erforderli-chen Freiheiten der Kinder und Jugendlichen.
Zu berücksichtigen ist zudem auch das Recht der Kinderund Jugendlichen auf ihre eigene Kultur, auf kindgerechteMedien und Medieninhalte.
Der Bundesrat fordert die Abschaffung des Elternpri-vilegs bei Kinobesuchen. Das widerspricht seiner eigenenForderung, die Eltern in ihrer Erziehungsverantwortungund -kompetenz zu stärken.
Zugleich weist das jedoch tatsächlich auf einen echtenSchwachpunkt der alten und der neuen Jugendschutzbe-stimmungen hin: Die Systematik der Altersgruppendif-ferenzierung im Rahmen der FSK ist den tatsächlichenkindlichen Entwicklungsschritten überhaupt nicht ange-passt.
Die FDP ist der bei vermutlich allen Fraktionen zu-stimmungsfähigen Auffassung, dass sich im Alter zwi-schen sechs und zwölf Jahren Kinder erheblich stärkerverändern und entwickeln als zwischen 16 und 18 Jahren.
Dementsprechend wäre zumindest eine zusätzliche Al-tersgrenze zwischen sechs und zwölf Jahren zu erwägen.Doch den Eltern die Möglichkeit zu nehmen, mit ihrenKindern gemeinsam einen eigentlich erst eine Alters-klasse höher freigegebenen Film zu besuchen, zeugt voneinem Menschenbild, in dem dem Gesetzgeber oder derFSK mehr zugetraut wird als den verantwortlichen Men-schen, nämlich den Eltern.
Wenn das neu geregelte Jugendschutzgesetz ein verän-dertes Bewertungsverhalten der FSK zur Folge hätte, wiees kirchlicherseits vermutet wird, so wäre das durchausbegrüßenswert. Eine zusätzliche Altersgrenze würde auchunter diesem Aspekt sinnvoll sein.In Bezug auf Bildschirmspielgeräte schlägt der Bun-desrat die Rückkehr zur alten Regelung vor, die Kindernund Jugendlichen das entgeltliche Spielen verbot und soder Gefahr des Verspielens größerer Geldsummen begeg-nete. Die Neuregelung des Jugendschutzes schreibt dieAlterskennzeichnung vor und ermöglicht eine differen-zierte Freigabe, lässt aber die Entgeltproblematik offen. Inder Abwägung beider Aspekte bevorzugen wir die Alters-kennzeichnung. Es ist jedoch überlegenswert, auch dieEntgeltproblematik im Jugendschutz zu regeln.Wir können hier nur mahnen, bei allen berechtigtenund wohl zu verstehenden Schutzvorschlägen immer da-ran zu denken, dass Jugendliche irgendwann, spätestensmit 18, reif sein müssen, verantwortungsbewusste Ent-scheidungen selbst zu treffen.
Wir wollen Kinder und Jugendliche nicht nur vor Gefähr-dungen schützen; wir wollen und müssen sie auch befähi-gen, mit Gefährdungen besonnen und kritisch umzugehen.
Ein generelles Verbot, jugendgefährdende Trägerme-dien zu verleihen, auch an Erwachsene, wie in der Bun-desratsinitiative gefordert, halten wir Liberale für un-zweckmäßig und unverhältnismäßig. Es kann nicht sein,Kerstin Griese
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Klaus Hauptdass jugendgefährdende Trägermedien zwar verkauftwerden und im Internet zugänglich sein können, dass aberder Verleih, auch an Erwachsene, verboten wird.
Das trägt nur zur Diskriminierung eines Wirtschaftszwei-ges, nicht aber zum Jugendschutz bei.
Denn wenn trotz des ohnehin existierenden Verbots ju-gendgefährdende Medien in die Hand von Jugendlichengelangen können, dann gilt dies natürlich nicht nur fürMedien, die durch Verleih, sondern eben auch für solche,die durch Verkauf oder via Internet in Umlauf gelangen.
Ein Verleihverbot trägt ganz offensichtlich nicht zur Lö-sung dieses Problems bei.Das Gleiche gilt für das Automatenverbot bei Bild-trägern. Das Jugendschutzgesetz in der demnächst inKraft tretenden Fassung schreibt technische Vorrichtun-gen vor, die verhindern sollen, dass die entsprechendenAutomaten von Kindern und Jugendlichen bedient wer-den können. Wer damit nicht zufrieden ist, müsste sichkonsequenterweise generell gegen den Automatenverkaufaussprechen, etwa auch bei Zigaretten. Das tut aber derBundesrat aus wohl überlegten Gründen nicht.
Mit Sympathie betrachte ich dagegen das geforderteVerbot der Darstellung von Kindern in unnatürlicher, ge-schlechtsbetonter Körperhaltung. Hier nähern wir uns zusehr einer Grauzone zum sexuellen Missbrauch von Kin-dern und Jugendlichen und der Gesetzgeber kann garnicht klar genug sagen, dass auch Informations- oderKunstfreiheit nicht ansatzweise als Vorwand dienen dür-fen, Kinder und Jugendliche auch nur in die Nähe dieserGrauzone zu bringen.
Ich kann nur erneut versuchen, in Erinnerung zu rufen:Rechtliche Regelungen zum Jugendschutz können nie mehrals einen Beitrag dazu leisten, dass die Gesellschaft alsGanzes Kinder und Jugendliche vor Gefährdungen schützt.Die Vorschläge des Bundesrates zur Novellierung des Ju-gendschutzgesetzes machen deutlich, dass es auf diesemGebiet weiterhin Handlungsbedarf gibt. Aber damit der ge-setzliche Jugendschutz seine Aufgabe wirkungsvoll erfüllenkann, braucht es auch ein breites Engagement aller für dasAufwachsen der jungen Generation verantwortlichen In-stanzen, nicht nur der staatlichen Stellen. Die Verantwor-tung jedes Einzelnen darf nicht aus dem Blickfeld geraten.Danke.
Ich erteile das Wort Kollegin Jutta Dümpe-Krüger,Bündnis 90/ Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Zwei Jahre lang ist zwischen Bund und Ländern dis-kutiert worden, bevor der Bundesrat im Juni 2002 demneuen Jugendschutzgesetz zugestimmt hat. Das Gesetzzum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit wurde mitdem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdenderSchriften und Medieninhalte zusammengeführt, um zu ei-nem einheitlichen Jugendschutzgesetz zu kommen.Warum war das gut und richtig, meine Damen und Her-ren? – Um den Schutz von Kindern und Jugendlichen dazu verbessern, wo es nötig ist, und trotzdem mit Augen-maß den Rahmen dafür zu schaffen, dass Jugendliche ei-nerseits einen besonderen und umfassenden Schutz ge-nießen, andererseits aber auch noch in der Lage sind,eigenverantwortlich zu handeln. Denn unsere Gesell-schaft – und damit auch unsere Wirtschaft, die Unterneh-men und die Betriebe – braucht junge Menschen, die inder Lage sind, selbstständig zu denken, zu handeln undEntscheidungen zu treffen.Der Jugendschutz ist nicht nur verbessert, er ist ja auchverschärft worden – ein Wort, das Ihnen, meine Damenund Herren auf der rechten Seite dieses Hauses, besondersgut gefällt. Ich beschränke mich auf einige Beispiele.Computer und Bildschirmspielgeräte müssen mitAltersfreigabekennzeichnungen versehen werden. Werdiese Bildträger an Kinder und Jugendliche abgibt, diejünger sind, kann mit Bußgeldern bis 50 000 Euro bestraftwerden.Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medienkann ohne Antrag Medien aller Art auf eine Verbotslistesetzen.Trägermedien, die Gewalt verherrlichen oder porno-graphisch sind, werden mit weit reichenden Abgabe-, Ver-triebs- und Werbeverboten belegt. Sie dürfen Jugendli-chen nicht zugänglich sein.Heute liegt uns der Gesetzentwurf des Bundesratesvor, der vom Freistaat Bayern eingebracht wurde. Warum,meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dieser Vor-stoß aus dem tiefen Süden der Republik? Die Antwort isteinfach, auch wenn man wie ich nur aus Nordrhein-West-falen kommt – als neue Abgeordnete hatte ich miraufgrund etlicher Diskussionen in der letzten Zeit vorge-nommen, mich zu gegebener Zeit einmal dafür zu ent-schuldigen; das möchte ich hier tun –: Weil Ihnen selbst-verständlich wieder einmal all das, was im Gesetz steht,viel zu windelweich erscheint.
Sie fordern in Ihrem Gesetzentwurf nämlich nicht nureine Verschärfung des bestehenden Gesetzes, sondernfallen auch in Uraltregelungen längst überholter Law-and-order-Politik zurück. Das machen schon Ihre Be-
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griffsverwendungen deutlich: „Verbot“, „Rückkehr“, „Ab-schaffung“ oder auch „Erhöhung des Bußgeldrahmens“.Wo ist da Neues? Wo ist da Innovatives?
Ich greife einige Punkte heraus:Erstens. Sie wollen – so der Gesetzentwurf – die Ab-schaffung des Elternprivilegs bei Kinobesuchen. Sie sa-gen einerseits, Elternleistung dürfe nicht durch gesetzlicheRegelungen konterkariert werden. Im gleichen Atemzugfügen Sie hinzu:Verbindliche und bewährte Altersempfehlungen, wiesie für Kinofilme durch die Freiwillige Selbstkon-trolle der Filmwirtschaft ... bestehen, sollten deshalbnicht durch ein so genanntes Elternprivileg ... unter-laufen werden.Meine Damen und Herren, Sie stellen damit nicht nur El-tern ein Armutszeugnis aus; dieser Widerspruch fällt Ih-nen nicht einmal auf. Nein, Sie unterstellen auch, dass esso etwas wie den fiktiven Acht- oder Zwölfjährigen gibt.An der grob über den Daumen gepeilten Definition des-sen Entwicklungsstandes wäre ich sehr interessiert.Unser Jugendschutzgesetz gibt den Eltern die Möglich-keit, unterschiedliche Entwicklungsstufen ihres Kindes zubeachten, und zwar individuell. Das ist gut und richtig so,weil Eltern ihr Kind am besten kennen und seinen Ent-wicklungsstand deswegen am besten einschätzen können.
Zweitens. Wenn es nach Ihnen geht, dann soll es an-scheinend unterschiedliche Bußgeldrahmen für gleichgeartete Vergehen geben. Das würde nicht nur das Ver-hältnismäßigkeitsgebot auf den Kopf stellen, sondernauch dem Gleichbehandlungsgrundsatz widersprechen.Außerdem ist doch längst bekannt, dass schärfere Sank-tionen nicht zu einem höheren Schutz des gefährdetenRechtsguts – hier des Jugendschutzes – führen.Drittens. Sie führen in Ihrem Gesetzentwurf eine Un-menge unbestimmter Rechtsbegriffe, Regelbeispiele undGeneralklauseln ein, zum Beispiel im Bereich der Killer-spiele oder beim „Verbot für Darstellungen von Kindernund Jugendlichen in unnatürlicher, geschlechtsbetonterKörperhaltung“. Niemand, der Recht anwenden muss,wüsste, wie er das überhaupt machen sollte.Das heißt im Klartext: Ihr Gesetzentwurf führt zu kei-ner Effektivitätssteigerung und auch nicht zu einem bes-seren Jugendschutz. Er führt lediglich dazu, dass Ihnenanerkannte Fachleute attestieren, dass Sie einen „deut-lichen Nachholbedarf an fachlicher Beratung haben“.
Die Situation der Jugend ist in jeder Generation eineandere. Auf den ständigen Wechsel in diesem Bereichmuss der heutig Gesetzgeber reagieren. Rot-Grün hat rea-giert, indem das Jugendschutzgesetz umfassend und ingeeigneter Weise reformiert wurde.Wir haben es soeben bereits gehört – ich wiederholees –: Zwischen Bund und Ländern besteht das Einverneh-men, die neuen Vorschriften innerhalb von fünf Jahrenständig zu evaluieren. Die Neuregelung wird zu Verbes-serungen führen; davon bin ich überzeugt. Vielleicht mussan der einen oder anderen Stelle nachgebessert werden;das ist normal. Aber auch das wird laufend hinterfragtwerden. Akteure auf allen Ebenen werden dauerhaft indiesen Prozess eingebunden sein.Das Fazit kann nur sein: Das, was Sie uns hier über denBundesrat vorlegen, wäre eine Verschlimmbesserung,von der wir tunlichst die Finger lassen sollten.Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für IhreAufmerksamkeit.
Dies war die erste Rede der Kollegin Dümpe-Krüger.
Herzlichen Glückwunsch!
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas
Scheuer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Frau Griese, Sie haben so liebe Worte gefunden. Deshalbmöchte ich Ihnen sagen: Schauen Sie sich doch zuerst ein-mal die Werbekampagne der SPD in Niedersachsen an, inder Sie Kinder für Ihre Sache instrumentalisieren. Par-teiübergreifender Konsens mit Ihnen? – Ich sage: Wahn-sinn!
Auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der Ko-alition, nicht gern daran erinnert werden, kann ich es Ih-nen nicht ersparen, noch einmal auf die Geschichte derReform des Jugendschutzgesetzes einzugehen. Es waram Beginn der Regierungszeit von Rot-Grün, als GerhardSchröder zum Thema Jugendschutz – seine Phrasen sindaber beliebig auf alle Politikbereiche anwendbar – sagte:Das ist ganz wichtig, da müssen wir etwas tun. Dann ge-schah erst einmal wie gewohnt gar nichts.Die Union mahnte, dass eine Reform dringend not-wendig sei. Es folgte die Nullnummer Bergmann. Mitweit gehenden Reformen ist man ja ohnehin – das wissenwir – bei Rot-Grün sehr sparsam. Man verkündete alsozunächst einmal, dass keine Reform des Jugendschutzge-setzes in der 14. Legislaturperiode mehr angepackt werde.So der Plan.Dann ereignete sich die Bluttat in Erfurt. Es musseben leider immer erst etwas passieren, damit gehandeltwird. Sie hinken mit Ihrer Politik immer hinterher undwundern sich, dass die Instrumente nicht oder zu spätgreifen.
Jutta Dümpe-Krüger
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Andreas ScheuerNach dem Ereignis in Erfurt wurde mit glühend heißerNadel gearbeitet. Rot-Grün brauchte schnell etwas zumVorweisen, um von der langen Untätigkeit abzulenken.Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie hör-ten nicht auf Expertenratschläge,
ignorierten weitgehend wichtige Änderungsanträge undpeitschten das Gesetz einfach durch. Das ist ja auch ver-ständlich; denn in der SPD macht man sich lieber intensivGedanken, wie man die Hoheit über den Kinderbettennach den Vorgaben von Müntefering und Scholz erreichenkann,
als vielmehr vollständige und zukunftsfähige Konzepteauf den Weg zu bringen.Ja, meine Damen und Herren von der Koalition, daswerden Sie noch öfter zu diesem Thema hier im HohenHaus hören;
denn Sie machen Gesellschaftspolitik aus der SPD-Partei-zentrale heraus. Sie wollen insgesamt eine Gesellschaft– lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen – à la DDRlight. Das ist wahrlich traurig.
An drei Beispielen will ich den Sinn und die Praxis-nähe unseres Vorschlags deutlich machen. Erstes Bei-spiel: Ballerspiele an Bildschirmgeräten. Es ist doch Rea-lität, dass in den Spielhöllen die jungen Freaks vor allemdurch Ihre Lockerung der Altersgrenze öffentlich um denSieg ballern können.
Die Spiele werden zudem mit den neuen Grafiken anHightechbildschirmen immer realer.Zweites Beispiel: Laserdromes und Gotchaspiele.Schießen auf alles, was sich bewegt, und Abknallen des Mit-spielers sind der Inhalt dieser Spiele. Besser kann man einenAmoklauf gar nicht trainieren. Das passt nicht in unser Wer-tesystem. Da muss der Riegel vorgeschoben werden.
Drittes Beispiel: Videoverleihautomaten. Selbst derVideofachhandelsverband, IVD, geht gegen diese Auto-maten vor. Nach wie vor ist die soziale Kontrolle beimBetreten eines Ladengeschäftes höher als beim Zugang zueinem Automatenraum. Durch Strohmänner kann der Ju-gendliche locker gefährliches und schädliches Materialausleihen. Die Chipkarte – seien wir doch ganz ehrlich –und der Fingerabdruck sind leicht von einem 18-jährigenKollegen organisiert – und dann geht das wilde Verleihenlos.Meine Damen und Herren, dass es bei diesem Themaimmer Lücken geben wird, ist klar. Wenn wir aber dieLücken nicht schließen, die wir schließen können, dannerfüllen wir im Deutschen Bundestag unsere Aufgabenicht.
Zu Beginn dieser Legislaturperiode war MinisterinRenate Schmidt mit der Friedenspfeife unterwegs. Sie hatbei ihrem Auftritt im zuständigen Ausschuss beteuert, Siewerde alle Vorschläge prüfen und dankend aufnehmen,die von der Union eingebracht würden.
Frau Beck, Sie sind Ihre Vertreterin. Teilen Sie ihr bittemit, dass sie im Wort steht. Greifen Sie jetzt zu bei denVerbesserungen im Jugendschutz!Meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben Siekeine Angst. Wir wissen ja, dass Sie immer wieder beiden verschiedensten Themen unsere Hilfestellung brau-chen, um die Fehler und Blindstellen Ihrer Gesetze aus-zumerzen.
Wir verzeihen Ihnen ja Ihre Flickschusterei und Ihre Hek-tik bei diesem Thema, wenn Sie jetzt bei dieser Gesetzes-änderung mitmachen.Zum Schluss möchte ich Ihnen einen Spruch des ehe-maligen Oberbürgermeisters von Stuttgart, ManfredRommel – der Spruch ist für Rot-Grün wie geschaffen –,in Erinnerung rufen:Der Mensch kommt nicht umhin, sein ganzes Lebenlang ein Irrender zu sein. Er hat aber die Chance, sichzu einem immer weniger Irrenden zu entwickeln.Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es gibt alsonoch Hoffnung für Sie. Nutzen Sie sie!Herzlichen Dank.
Dies war die erste Rede des Kollegen Scheuer. Nach
seinem Zitat des Oberbürgermeisters Rommel gratuliere
ich ihm besonders herzlich dazu.
Nun erteile ich der Kollegin Sabine Bätzing, SPD-Frak-
tion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist schon erstaunlich, dass Sie, meine Damen undHerren von der Union, uns heute, zu Beginn des neuenJahres, so alte Hüte präsentieren.
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Wir nehmen das aber dankbar auf, um noch einmal deut-lich zu machen, wie erfolgreich und vor allem zukunfts-orientiert unsere rot-grüne Regierungspolitik ist.
– Passen Sie gut auf! – Vor allem sind wir, offensichtlichim Gegensatz zu Ihnen, auf der technischen Höhe der Zeitangelangt und stellen uns der Realität.Statt zu begrüßen, dass mit dem Jugendschutzgesetzund dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der noch inKraft treten muss, eine deutliche und zeitgemäße Verbes-serung des Jugendschutzes erreicht wird, halten Sie sichmit Änderungswünschen auf, die entweder überholt sindoder einen deutlichen Rückschritt bedeuten würden.
Sie geben dem Jugendschutzgesetz und dem Jugendme-dienschutz-Staatsvertrag überhaupt keine Chance, aufihre Wirksamkeit hin überprüft zu werden. Wie Sie wis-sen, haben sich die Länder in ihrem Eckpunktepapier aufeine Evaluierungsphase von fünf Jahren verständigt. Wirsollten dem Gesetz die Chance geben, diese fünf Jahre ersteinmal in Kraft zu sein.Herr Scheuer, aus Ihrer Kritik zum Jugendschutzgesetzkönnte man schließen, es sei vom rot-grünen Regierungs-himmel einfach auf Sie gefallen. Wir wissen aber, dassdieses Gesetz mit großer Mehrheit – auch im Bundesrat –verabschiedet wurde. Im Übrigen möchte ich auch daraufhinweisen, dass – ein absolutes Novum – auch Mitgliederder Bundesschülerinnen- und schülervertretung an derAnhörung des Bundestages zum Jugendschutzgesetzteilgenommen haben. Auch hier wird der Unterschiedzwischen unserer Regierungsarbeit und Ihrer Politik deut-lich:
Wir nehmen Kinder, Jugendliche und deren Eltern ernst.Wir machen keine Politik über Jugendliche, sondern fürjunge Menschen und deren Familien. Das funktioniert nurgemeinsam. Das nennt man Politik gestalten.
In den Ausführungen der Opposition wurde heute im-mer wieder vom Erziehungsbeauftragten gesprochen. Ab-gesehen davon, dass Sie den Erziehungsbeauftragten inder Debatte mit dem Elternprivileg vermischt und ver-wechselt haben – diesen Eindruck hatte ich –, glaube ich,dass Sie die Begrifflichkeit und deren Bedeutung nochnicht verstanden haben. Ich erläutere es Ihnen aber gernenoch einmal.Sie kritisieren, dass es sich bei dem Erziehungsbeauf-tragten zum Beispiel um den volljährigen Freund derTochter handeln könnte, wodurch die minderjährigeTochter praktisch ständig die Möglichkeit hätte, mit ihmin der Disko zu versumpfen. Sie verkennen dabei aber– ob wissentlich oder unwissentlich lasse ich einfach ein-mal dahingestellt –,
dass ein Auftrag zur bloßen Begleitung durch den Freundnicht als Erziehungsauftrag angesehen werden kann undvon uns auch nicht als Erziehungsauftrag angesehen wird.Oft sind es die Tanten, die Großeltern oder die bereitsvolljährigen Geschwister, die mit den Kindern und Ju-gendlichen zu Veranstaltungen gehen und sie nicht nur be-gleiten, sondern auch beaufsichtigen. Es kommt auf denAuftrag zur Beaufsichtigung und somit zur Erziehung undnicht auf die bloße Begleitung an.
Es ist auch verwunderlich, dass Sie in der Begründungzu Ihrem Änderungsgesetz die Stärkung der Erziehungs-kompetenz und der Elternkompetenz anführen; denn Sielassen Ihren Worten keine Paragraphen folgen. Auf der ei-nen Seite wollen Sie einen Schritt zurückgehen und denBegriff des Erziehungsberechtigten wieder einführen, umdie Erziehungskompetenz zu stärken. Auf der anderenSeite trauen Sie den Eltern nicht zu, einzuschätzen, ob einKinofilm ihr Kind emotional oder intellektuell überfor-dert. Hier sprechen Sie den Eltern jegliche Erziehungs-kompetenz ab. Wir trauen den Eltern diese Erziehungs-kompetenz zu; denn es sind doch die Eltern, die ihreKinder und deren Entwicklung tagtäglich erleben. Wer,wenn nicht Vater oder Mutter, soll Kinder denn einschät-zen können?Auch gehört es zur Erziehungsverantwortung der El-tern, dass sie sich – das ist selbstverständlich –, bevor siesich mit ihrem Kind einen Film anschauen, über dessenInhalt informieren und dann entscheiden, ob sie ihn ihremKind zumuten können oder nicht. Es gibt so viele TV- undKinozeitschriften, in denen sie sich darüber informierenkönnen. Sie brauchen sich den Film nicht vorher extra an-zuschauen, sondern es reicht, wenn sie sich über den In-halt in entsprechenden Zeitschriften informieren.Das Elternprivileg ist keine utopische Träumerei voneiner besseren Welt. Dieses System funktioniert in Groß-britannien unter dem Stichwort Parental Guidance her-vorragend. Horrorszenarien von Kindern zu malen, diedurch den gemeinsamen Kinobesuch mit ihren Eltern ge-schädigt werden, ist an dieser Stelle gänzlich unange-bracht.
Dieses Elternprivileg stärkt die Erziehungsverantwor-tung der Eltern. Ihre vorgeschlagene Änderung, meineDamen und Herren von der Opposition, ist dagegen eineEntmündigung der Eltern und steht im Übrigen im Wi-derspruch zu Ihrer Begründung. Trauen Sie doch den El-tern die Erziehungskompetenz zu! Unterstützen wir sie,indem wir für sie optimale Rahmenbedingungen schaffen.Sie tragen die Verantwortung und sie wollen und könnendiese Verantwortung auch tragen.Auch die Medienkompetenz im neuen Jugendschutz-gesetz ist ein wichtiges Stichwort. Aber dieses Stichwortwird in dem uns vorliegenden Änderungsgesetz fast durchein Medienverbot ersetzt. Sie wollen Medienkompetenzdurch Verbote und Vorschriften ersetzen. Natürlich – darinsind wir uns wohl alle einig – bergen die Entwicklung desInternetangebots und der sonstigen InformationslandschaftSabine Bätzing
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Sabine Bätzingsowie deren Nutzung für die jungen Menschen auch Ge-fahren; das will niemand bestreiten.
Auch sind wir uns einig, dass Verstöße gegen das Ju-gendschutzgesetz in besonderem Maße geahndet werdenmüssen. Daher haben wir uns für die Erhöhung des Buß-geldes auf 50 000 Euro bei entsprechenden Gesetzesver-stößen eingesetzt. Dabei handelt es sich um mehr als dasDreifache des vorherigen Betrages.
Die in Ihrem Änderungsgesetz gewünschte Erhöhung auf500 000 Euro sprengt allerdings die Grenzen der Verhält-nismäßigkeit.
Eine solche Bußgelddrohung ist nicht nur unverhältnis-mäßig, sondern sie wird auch dem Gesamtgefüge desBußgeldrahmens im Nebenstrafrecht nicht mehr gerecht.
Ich frage mich, wie Sie begründen wollen, dass bei Zu-widerhandlungen gegen Vorschriften des Jugendschutz-gesetzes 500 000 Euro erforderlich sein sollen, jedoch beigegen die Menschenwürde verstoßenden Spielen – dabeihandelt es sich schließlich um ein Grundrecht – ein Buß-geld von 5 000 Euro ausreicht. Diese Erklärung bleibenSie schuldig.Spannend ist auch der Art. 2 des Änderungsgesetzes.Er ist schlicht überflüssig. Sie wollen im Ordnungswid-rigkeitengesetz den § 118 a neu einführen, nach dem sogenannte Killerspiele wie Gotcha, Laserdrome oderPaintball verboten werden sollen. Aber in diesem Bereichhinken Sie der Entwicklung leider um etwa anderthalbJahre hinterher; denn bereits im Oktober 2001 hat dasBundesverwaltungsgericht in einer Grundsatzentschei-dung klargestellt, dass diese Spiele, die ohne Zweifel ge-gen die Menschenwürde verstoßen – ich betone, dass esirrelevant ist, ob dabei Laserpistolen oder Farbmarkie-rungswaffen eingesetzt werden –, über die polizeilicheGeneralklausel zu verbieten sind.Ich bin mir sicher, dass Ihnen der Schutz der Kinderund Jugendlichen ebenso am Herzen liegt wie mir. Aberglauben Sie wirklich, dass Sie Heranwachsende aus-schließlich durch Verbote und Regelungen vor Gewaltschützen können? Ist es nicht eher so – denken Sie dabeibitte an Ihre eigene Kindheit und Jugend zurück –, dass ge-rade das, was verboten ist, den besonderen Reiz darstellt?
Wir können junge Menschen nicht nur durch Verboteschützen, Herr Zöller. Wir wollen das auch nicht.
Wir wollen sie nicht vor Gefahren und Problemen ver-stecken. Wir wollen unsere Kinder so auf die neuen Me-dien vorbereiten, dass sie einen verantwortungsbewusstenUmgang damit lernen und Medienkompetenz ohne einenWust von Verboten und Regelungen erreichen. Deshalbmüssen die Kinder zu ihrem eigenen Schutz frühzeitig ler-nen, wie sie bestimmte Medien einzuschätzen und wie siemit ihnen umzugehen haben. Stärken wir lieber die Me-dienkompetenz der Kinder und Jugendlichen sowie dieErziehungskompetenzen der Eltern.
Hören Sie auf mit diesem Wust von Verboten!
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Michaela Noll,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gutgemeint, aber leider nicht gut gemacht: Das beste Beispieldafür ist das erst vor sechs Monaten verabschiedete Ju-gendschutzgesetz. Ziel war es, den Jugendschutz zu stär-ken. Dieses Ziel wurde verfehlt. Ursachen dafür sind unsallen bekannt: Erfurt, Hektik im Gesetzgebungsverfahrenund mangelnde Umsetzung der kritischen Stimmen.Wir durften uns ja hier und heute schon vieles anhören.Aber an dieser Stelle möchte ich vor allem auf Ihre Maß-nahmen eingehen, die sich als ungeeignet, als nicht prak-tikabel und als schlichtweg misslungen darstellen.
Novellierung des Jugendschutzes muss Stärkung desJugendschutzes bedeuten. Der Bundesratsentwurf leistetdazu einen effektiven Beitrag.
Es ist doch ein Schließen der Augen, wenn die Regie-rungskoalition gebetsmühlenartig auf die Reformen desletzten Jahres verweist. Erinnern Sie sich noch an die kri-tischen Urteile der Sachverständigen? – Anscheinendnicht. Kritik wurde zur praktischen Umsetzung des Erzie-hungsbeauftragten und zum Elternprivileg geäußert. Kri-tik wurde auch zur auffälligen Geschwindigkeit der par-lamentarischen Beratungen geäußert. Das Ergebnis istbekannt. Es hat sich ja herausgestellt, dass die von Ihnenbeschlossenen Maßnahmen nicht alltagstauglich sind.Der Bundesrat schlägt in seinem Entwurf vor, das sogenannte Elternprivileg wieder abzuschaffen. Eltern kön-nen jetzt für die untere Altersstufe entscheiden, ob sieihren achtjährigen Sohn ins Kino mitnehmen, obwohl derFilm erst ab zwölf Jahren freigegeben ist. Das Elternpri-vileg unterläuft damit die Einstufung durch die FSK. Hiergehen unsere Meinungen diametral auseinander.
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Sie träumten davon, dass Eltern und Kinder einen be-gleiteten, gemeinsamen und harmonischen Medienkon-sum erleben.
Nur, die Realität ist eine andere. In dem Film „Herr derRinge“ tummeln sich Sechsjährige.
Aber diese Filme sind für Sechsjährige – bei aller Begeis-terung – nicht geeignet, weder ohne noch in Begleitung.
Die Erfahrungen haben gezeigt, dass Eltern nur un-zulänglich mit dem Medienkonsum ihrer Kinder umge-hen können. Eltern müssten die Filme aus ihrer Eltern-verantwortung heraus im Vorfeld anschauen, um sichpersönlich ein Bild davon zu machen, ob diese Filme fürihre Kinder geeignet sind.
Aber das geschieht eben nicht – aus Mangel an Zeit, ausÜberforderung oder schlicht aus Desinteresse.Hier werden wir mit dem Elternprivileg erst rechtnichts erreichen – ganz im Gegenteil. Sinnvoller wäre es,Eltern stark zu machen. Ich wünsche mir Eltern, die aufbittende Fragen ihrer Kinder auch einmal Nein sagen kön-nen. Wenn ein Achtjähriger vor ihnen steht und mit gieri-gen Augen fragt, ob er sich den Film „Herr der Ringe“ an-sehen darf, braucht es starke Eltern, die den Mut zurErziehung haben. Denn Nein sagen fällt Eltern sehr vielschwerer als Ja sagen.Die Stärkung der Erziehungs- und Medienkompetenzder Eltern steht daher bei uns mit an erster Stelle. Erzie-hungskompetenz stärken heißt aber auch, Eltern zu ermu-tigen, Grenzen zu setzen. Das ist der richtige Weg.
Der Schutz der Kinder und Jugendlichen muss den Stel-lenwert erhalten, der ihm zukommt. Dies darf durch die Re-gelungen des Jugendschutzes nicht konterkariert werden.Das Elternprivileg widerspricht auch der Vorbildfunktionder Eltern, da so Sechsjährige hautnah erfahren, wie leichtSchutzbestimmungen umgangen werden können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jugendschutzwird der aktuellen Entwicklung und auch den gesell-schaftlichen Veränderungen hinterherlaufen. Allerdingsziehen wir auch hier andere Schlussfolgerungen als Sievon der Regierungskoalition. Wir wollen starke Eltern,die eigenverantwortlich und verantwortungsbewusst han-deln. Sie dagegen wollen die „Lufthoheit“. Die Einstel-lung, die dahinter steckt, ist gegenüber der Familie rück-sichtslos und zynisch.
Das ist nicht nur ein flotter Spruch, sondern erinnert an so-zialistische Herrschaftsansprüche über die Familie.
Auch der neu eingeführte Erziehungsbeauftragtemacht die Eltern nicht stark und fördert nicht die Medien-kompetenz der 16-Jährigen. Sie sind bis heute die Antwortschuldig geblieben, wie das Konzept des Erziehungs-beauftragten konkret aussehen soll. Angeblich ist die Ein-führung des Erziehungsbeauftragten eine Anpassung andie längst bestehende Realität.Wir sagen: Sie rennen nur dem Zeitgeist hinterher. Siewollen alles, was chic und cool erscheint und die Wähler-stimmen der Jugendlichen bringt, ermöglichen. Die Ge-fahren nehmen Sie billigend in Kauf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verweigern Sie sichnicht und lassen Sie uns konstruktiv und ohne Hektik dasunzureichende Jugendschutzgesetz konsequent verbessern!Vielen Dank.
Frau Kollegin Noll, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer erstenRede im Deutschen Bundestag.
Nun erteile ich das Wort der Parlamentarischen Staats-sekretärin Marieluise Beck.Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun-desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend;Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-linge und Integration:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich denke, wir alle sollten im Vorfeld konzedieren,dass die Debatte über dieses Thema zunehmend schwieri-ger wird. Es geht darum, wie Jugendliche vor Gewalt, vorBrutalität, vor Pornographie geschützt werden können ineiner Zeit, in der die Medien eine immer größere Rolle imLeben der Kinder spielen und die technologische Ent-wicklung dazu führt, dass die Medienträger in rasanterGeschwindigkeit gewechselt werden können. Hier bedarfes einer klugen Gesetzgebung.Frau Noll, Sie haben gesagt, Sie wünschen sich, dassEltern ihre Kinder zum Beispiel nicht in den Film „Herrder Ringe“ gehen lassen sollten, wenn sie dafür noch zujung sind. Sie müssen aber bedenken, dass es nur wenigeMonate dauern wird, bis dieser Film, der zunächst in ei-nem öffentlichen Raum gezeigt wird, auf den der Gesetz-geber noch Zugriff hat, in den Geschäften auf Video zukaufen ist und in den privaten Haushalten Verwendungfindet. Damit geht es um die Frage der Erziehungskom-petenz der Eltern. Sie müssen entscheiden, ob sie diesenFilm dem Kind im privaten Raum zugänglich machenoder nicht. In einem weiteren Schritt geht es darum, dassjunge Menschen selbst entscheiden, vielleicht lieber ein-mal nicht hinzuschauen, weil sie das Gefühl haben, durchDarstellungen, die sie nicht verarbeiten können, seelischverletzt werden zu können.
Michaela Noll
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003
Parl. Staatssekretärin Marieluise BeckIm Gesetzgebungsverfahren haben wir uns mit diesemSchnittfeld, den verfassungsrechtlichen Möglichkeitenund Grenzen und der rasanten technologischen Entwick-lung, auseinander gesetzt. Die Konsequenz, die aus denBeratungen gezogen werden muss, lautet: Viel hilft nichtimmer viel.Es ist schon vielsagend, dass der Fachausschuss imBundesrat dieses heute wieder aufgewärmte Gesetz nichtpositiv beschieden hat.
Wir sind gut beraten, neben den gesetzlichen Vorschriftendarüber nachzudenken, wie sowohl die Erziehungskom-petenz der Eltern als auch die Entscheidungskompetenzder Kinder und Jugendlichen gestärkt werden können.Wir kennen einen anderen Bereich des Jugendschutzes,in dem ein Verbot sehr wenig greift: den Tabakkonsum. Wirkönnen uns bemühen, das Rauchen insgesamt zu verbietenoder das Aufstellen von Zigarettenautomaten. Trotzdemgibt es eine Grenze, ab der kein Zugriff auf die Jugendli-chen mehr möglich ist, es sei denn, es ist uns gelungen, siewirklich davon zu überzeugen, dass Tabak ihnen nicht guttut. Einen ähnlichen Ansatz brauchen wir beim Konsumvon Gewalt, von Brutalität, von Pornographie. Der ei-gentliche Dollpunkt liegt da, wo Kinder und Jugendlicheselbst das Gefühl haben: Das tut mir nicht gut.
Der Bundesrat hat dem neuen Jugendschutzgesetz mitgroßer Mehrheit zugestimmt, aber das Gesetz ist nochnicht einmal in Kraft. Sie legen also zu einem Zeitpunktnach, an dem das Gesetz noch nicht einmal zu wirken be-gonnen hat. Sie alle wissen, dass wir auf das Ende des Ver-fahrens zur Ratifizierung des Jugendmedienschutz-Staats-vertrags warten und dass das neue Gesetz ab 1. April 2003seine Wirkung entfalten wird.
Lassen Sie uns also vernünftig sein und nicht ausHilflosigkeit von einem Gesetzgebungsverfahren zumnächsten springen. Es gilt jetzt, vernünftig zu sein, dasGesetz zur Anwendung zu bringen und dann immer wie-der zu überprüfen, ob es an die technologischen Entwick-lungen angepasst werden muss. Wir sollten also gemein-sam in den Evaluierungsverfahren schauen, wo vielleichtnoch Nachjustierungen notwendig sind. Ich versichere fürdie Bundesregierung, dass gerade im Bereich des Jugend-schutzes sinnvolle Vorschläge, die aus dem öffentlichenRaum kommen, immer Gehör finden werden.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/88 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für
Kultur und Medien vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände-
– Drucksache 15/297 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Anton Schaaf, SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Not-wendigkeit der Haushaltskonsolidierung ist weitestge-hend unumstritten. Haushaltskonsolidierung ist für unsaber kein Selbstzweck, also nicht Sparen um des Sparenswillen. Wir erarbeiten uns damit vielmehr notwendigeSpielräume insbesondere für Investitionen.
Wir leisten damit aber auch einen Beitrag dazu, dass künf-tige Generationen nicht zusätzlich belastet werden. Wennwir die Gerechtigkeitsdebatte schon überall führen, dannsollten wir diesen Aspekt der Debatte, also die Genera-tionengerechtigkeit, besonders im Blick haben.
Wir haben auch von dieser Stelle aus immer wiederdeutlich betont, welche Prioritäten wir in den Politikfel-dern in der laufenden Legislaturperiode setzen wollen. ImBereich der Familien- sowie der Kinder- und Jugendpoli-tik haben sich Regierung und Koalition viel vorgenom-men. Wir werden dies auch umsetzen.
Als Beispiel sei hier die Ganztagsbetreuung genannt. Inden genannten Politikfeldern wird zusätzlich investiert.An dieser Prioritätensetzung wird klar, in welchen Be-reichen wir nicht sparen werden und – das füge ich aus-drücklich hinzu – auch nicht sparen dürfen. Dennochmuss jedes Ressort zur Konsolidierung des Haushalts bei-tragen, so auch das Bundesministerium für Familie, Seni-oren, Frauen und Jugend. 90,6 Millionen Euro müssen ein-gespart werden. Der zur Verfügung stehende Spielraum isteng, wie wir alle aus den Ausschussberatungen wissen.In den schon durchgeführten Etatberatungen zum Ein-zelplan 17 haben wir deutlich gemacht, dass es aus unse-
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rer Sicht nur möglich ist, den zu erbringenden Sparbei-trag im Bereich des Etatansatzes für den Zivildienst zuerzielen.
Darüber, wie die notwendigen Einsparungen im Bereichdes Zivildienstes erbracht werden können, ist insbeson-dere mit den Wohlfahrtsverbänden sehr ausführlich dis-kutiert worden. Es wurden zwischen dem Ministeriumund den Verbänden die verschiedenen Möglichkeiten aus-gelotet, wie der Einsparungsbetrag zu erbringen ist. Zu denMöglichkeiten gehörten der Verzicht auf Einführungs-kurse, die Verkürzung der Zivildienstdauer oder die Sen-kung der Zahl der Zivildienstleistenden.Als verträglichste Lösung erachteten alle Beteiligtenaber den von uns eingebrachten Vorschlag, § 6 Abs. 2Satz 2 des Zivildienstgesetzes dahin gehend zu ändern,dass die Kostenerstattung an die Beschäftigungsstellenvon derzeit 70 Prozent auf 50 Prozent sinkt. Mit dieserMaßnahme und gezielten Steuerungsmaßnahmen bei derVerteilung nicht verbrauchter Kontingentanteile lassensich die notwendigen Einsparungen erzielen. Diese Maß-nahme – das sei hier noch einmal ausdrücklich betont – istbis zum Ende dieses Jahres befristet.
Um in den vielen Bereichen, in denen Zivildienstleis-tende hervorragende Arbeit tun, zum Beispiel bei derSchwerstbehindertenbetreuung, Kontinuität zu gewähr-leisten, haben die Wohlfahrtsverbände dieser Maßnahmezugestimmt. Die Mehrkosten pro Zivildienstleistendenund Monat – um einmal deutlich zu sagen, über welcheBeträge wir reden – belaufen sich auf 66,61 Euro.
– Frau Lenke, wenn Sie sich schon bei der Einbringungdes Gesetzentwurfs so aufregen, dann, fürchte ich, müs-sen wir bei der abschließenden Beratung für Sie ärztlicheHilfe mitbringen.
Die Zahl der Zivildienstleistenden wird aufgrunddieser Maßnahme sicherlich etwas zurückgehen, aber nurdie von uns vorgeschlagene Änderung des § 6 des Zivil-dienstgesetzes kann verhindern, dass die Zahl der Zivil-dienstleistenden im Jahresdurchschnitt dramatisch sinkenmuss, was von Ihnen, meine Damen und Herren von derOpposition, ja befürchtet wird.
Allerdings halte ich hier fest, dass sinkende Zivil-dienstleistendenzahlen auch ein Schritt in die richtigeRichtung sind, nämlich – das dürfen wir in diesem Zu-sammenhang auch ausdrücklich erwähnen – in RichtungWehrgerechtigkeit.
Die Diskussion um die Wehrgerechtigkeit steht aktuell ehan. Wir werden sie weiterführen, insbesondere mit denWohlfahrtsverbänden. Wir müssen auf die Kontinuität derguten Zusammenarbeit der Ministerien, der Politik undder Wohlfahrtsverbände, insbesondere im Bereich des Zi-vildienstes, setzen.
Besonders erwähnenswert finde ich, dass Sie, meineDamen und Herren von der Union, in den Ausschussbera-tungen dem Antrag der FDP auf Wiedereinstellung derMittel für den Zivildienst nicht zugestimmt haben. IhreBegründung war und ist nach wie vor richtig: Die FDPhatte schlichtweg keinen Deckungsvorschlag.
Sie erkennen also an, dass gespart werden muss, sagenaber, wie üblich, nicht, wie und wo gespart werden soll.
Ihre Anträge im Ausschuss hätten die notwendigen90 Millionen Euro bei weitem nicht erbracht.
Ihre Vorschläge hätten darüber hinaus – auch das soll hierbetont werden – wichtige Projekte, insbesondere gegenRechtsradikalismus, zerstört.
Auch wenn Ihre Vorschläge für uns nicht akzeptabelwaren, könnte man Ihr Verhalten – ich muss ehrlich sagen,dass ich schon überrascht war – doch als konstruktiv be-zeichnen; denn Sie haben endlich mal Vorschläge einge-bracht. Das war in dieser Legislaturperiode bisher nochnicht so und es ist im Besonderen erwähnenswert.
Seit 1961 ist es möglich, Ersatz- oder Zivildienst zuleisten. Hunderttausende junger Männer haben in diesen40 Jahren für die Gesellschaft Hervorragendes geleistet.Wurden Zivildienstleistende von manchen zunächst alsDrückeberger wahrgenommen, die über den Zivildienstsozusagen abgestraft wurden – das wurde durch die Un-gleichbehandlung zwischen Wehr- und Zivildienstleisten-den deutlich –, genießen diese jungen Männer mittlerweileund zu Recht höchste Anerkennung. In einigen Bereichensind Zivildienstleistende nicht mehr wegzudenken.
Wir haben allen Grund, denke ich, den Zivildienstleisten-den für ihre wertvolle Arbeit zu danken, und das will ichhier auch ausdrücklich tun.
Anton Schaaf
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003
Anton SchaafDie Absenkung der Erstattung des Bundes für Zivil-dienstleistende als Beitrag zur Haushaltskonsolidierungist übrigens kein neues Instrument.
Vielleicht erinnern Sie, meine Damen und Herren von derUnion und von der FDP, sich noch an einen Gesetzent-wurf aus dem Jahr 1993, auch wenn das schon lange herist, mit dem wunderschönen Titel: Entwurf eines Gesetzeszur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachs-tumsprogramms. Zur Änderung des Zivildienstgesetzesstand darin Folgendes – ich zitiere das gern einmal –:Das Bundesministerium für Frauen und Jugend legtim Einvernehmen mit dem Bundesministerium derFinanzen– höchst spannend! –für die Erstattung einheitliche Pauschalbeträge fest.Gott sei Dank ist es nicht so weit gekommen. Ergebniswar am Ende, dass die Erstattung von 100 auf 75 Prozentgesenkt worden ist.
Wenn Sie unseren Vorschlag kritisieren, dann schauen Siesich einmal Ihre alten Vorlagen an! Sie wollten die Erstat-tung sogar konjunkturabhängig machen. Anders ist nichtzu erklären, dass der Finanzminister bei der Entscheidungein besonderes Wörtchen mitzureden hatte.
Friedrich Merz sagte in einem Zeitungsinterview, dasser die Zivildienstleistenden am liebsten nur im Dienst amMenschen sehen würde. Lassen Sie mich an dieser Stelledeutlich sagen: Die Aufgabe des Zivildienstes ist eszunächst einmal nicht, den Sozialstaat zu sichern;
Aufgabe des Zivildienstes ist es, jungen Männern, diegemäß Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes als Kriegsdienst-verweigerer aus Gewissensgründen anerkannt sind, einenErsatzdienst zu ermöglichen.
In diesem Sinne werden wir den Zivildienst weiterent-wickeln. Die Absenkung der Erstattungspauschale istsachlich vertretbar und – ich betone es noch einmal – sieist auf dieses Jahr befristet.Es sind die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, dieUmweltverbände und die vielen kirchlichen und kommu-nalen Einrichtungen, die den Zivildienst in den vergan-genen vier Jahrzehnten in guter Partnerschaft mit allenBundesregierungen erfolgreich und zum Wohl unserer Ge-sellschaft durchgeführt haben.
Auf diese Partnerschaft haben wir in der Vergangenheitgesetzt und das werden wir auch in Zukunft tun.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Schaaf, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede in diesem Hohen Hause sehr herzlich und wün-
sche Ihnen persönlich und politisch für Ihre Zukunft alles
Gute.
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Willi
Zylajew, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In-teressant an diesem Gesetzentwurf ist nicht das, was daringeschrieben steht, sondern das, was darin nicht geschrie-ben steht. Dieser Gesetzentwurf folgt dem Motto – dem-entsprechend müsste sein Titel sein –: Haushaltssanierungauf Kosten der Alten, der Pflegebedürftigen und der Be-hinderten.
– Ja, natürlich stimmt das. Als Maurer müssten Sie ei-gentlich wissen, wo vorne und hinten ist.
Nicht das Gegenteil, sondern das, was ich gesagt habe, istrichtig.Sie finanzieren hiermit Ihren Haushalt ein Stück weitauf Kosten der Schwachen und der Schwächsten in unse-rer Gesellschaft. Das ist unerhört.
Im Gesetzentwurf heißt es lapidar:1. Die vorgeschlagene Änderung führt für die Trägerdes Zivildienstes zu einer Kostensteigerung in Höhevon 66,-- je Zivildienstleistender je Monat. ...Nur für sich betrachtet ist das – es ist schon angesprochenworden – kein besonders großer Betrag. Multipliziert mandiesen Wert aber mit 123 000, also mit der Zahl der Zivil-dienstleistenden in unserem Land, dann sind das 8,1 Mil-lionen Euro. Dies sind die monatlichen Mehrkosten derTräger des Zivildienstes. Berücksichtigt man dann nochdie Dienstzeit, dann kommt man auf einen Betrag von über80 Millionen Euro. Dieses Geld entziehen Sie dem sozia-len Versorgungssystem einfach. Diese Mittel sind weg.
Dies führt dazu, dass es zu Leistungseinschränkun-gen kommen wird. Das ist ganz eindeutig.
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Die Leidtragenden sind die Hilfsbedürftigen und ihre An-gehörigen, niemand anders. Dies nehmen Sie ausdrück-lich in Kauf. Herr Kollege Schaaf, das können Sie nichtschönreden.
Auf die Wohlfahrtsverbände komme ich noch zu spre-chen. Bleiben Sie nur ruhig!Im Gesetzentwurf heißt es weiterhin:Auswirkungen auf Einzelpreise und das Preisniveau,insbesondere das Verbraucherpreisniveau, entstehennicht.Das ist doch schlichtweg Blödsinn; denn erstens werdenLeistungskürzungen vorgenommen. Ich gebe zu, dass dasPreisniveau in manchen Bereichen gleich bleibt; dafür istdie angebotene Leistung aber schlechter. Zum Zweitenwerden natürlich auch Leistungsentgelte erhöht, und zwarin einer Größenordnung von fast 70 Prozent. Man mussalso künftig für dieselbe Leistung 70 Prozent mehr be-zahlen. Dass Sie sagen: „Das spielt keine Rolle; das ist imsozialen System nicht so wichtig“, kann ich nicht nach-vollziehen.Sie müssen sehen: Die Zivildienstleistenden erbringensehr praktische, handfeste und unbedingt notwendigeLeistungen. Sie kaufen für ältere Menschen ein. Sie be-treuen in Pflegeeinrichtungen. Sie sind in Behinderten-schulen weitgehend für die hauswirtschaftlichen und fürdie pflegerischen Leistungen zuständig. Nach Verab-schiedung Ihres Gesetzentwurfs würden die Träger desZivildienstes, bei denen diese Leistungen erbracht wer-den, mit Mehrkosten in Höhe von über 80 Millionen Eurobefrachtet. Das ist nicht in Ordnung und dafür gibt esüberhaupt keine Rechtfertigung.
Der einzige Bereich, in dem die Mehrkosten aufgefan-gen werden können, ist der der normalen Tarifangestell-ten; das muss hier auch einmal deutlich angesprochenwerden. Weil die Budgets für die Alten- und Pflegeheimefür das laufende Jahr schon aufgestellt sind – die Ver-handlungen sind ja schon abgeschlossen –, ist festzuhal-ten, dass Sie mit den Mehrkosten für die Zivildienst-leistenden das Personalkostenbudget befrachten und derTräger keine andere Chance hat, als dieses Geld bei Tarif-angestellten einzusparen.
Dazu, Herr Schaaf, gibt es keine Alternative; das weiß ich,denn ich habe schließlich 16 Jahre in diesem Bereich ge-arbeitet. Das kostet Arbeitsplätze – und das wollen Sieals Gewerkschafter und als Mitglied einer Partei, die sichimmer wieder lobt, dass sie vieles im Einvernehmen mitden Gewerkschaften erledigt! Sie gehen hin und kürzenschlichtweg zulasten von Tarifangestellten Leistungen imsozialen Bereich. Das ist aus meiner Sicht schon fast schä-big.Ich sage noch einmal ganz deutlich, dass uns dieser Ge-setzentwurf in einer Phase trifft, in der den Krankenhäu-sern und Pflegeheimen sowieso schon wenig Geld zurVerfügung steht. Sie befrachten diese Einrichtungen nunmit der Arbeit, zusätzliche Mittel aufbringen zu müssen,und sagen: Das machen wir ja nur übergangsweise für einJahr. Damit haben Sie die Wohlfahrtsverbände ja auchein Stück weit gelockt. Eines Ihrer Argumente war ja, dassdiese Kürzungen nur ein Jahr lang Bestand haben.
– Von wegen Planungssicherheit; die Träger können si-cher sein, dass sie nächstes Jahr noch weniger bekommen.Die Litanei, die wir nächstes Jahr von Ihnen hören wer-den, kennen wir ja schon. Die Weltwirtschaftslage ist wie-der unendlich schwierig, es droht uns wieder ein blauerBrief von der EU, wir haben hier und dort Probleme.
Das führt dazu, dass Sie dann sagen: Das hat in diesemJahr mit 50 Prozent funktioniert, dann muss es auch imnächsten Jahr mit 50 Prozent funktionieren.
So gehen Sie doch vor.
Wir sollten deutlich sagen, dass dieses Einvernehmenmit den Wohlfahrtsverbänden, das Sie ja so gelobt haben,deshalb zustande gekommen ist, weil Sie ihnen gesagt ha-ben: Ihr könnt zwischen Pest auf der einen und Choleraauf der anderen Seite wählen.
Da sie denken, die Pest sei im Moment vielleicht ein biss-chen besser beherrschbar, haben sie dem zugestimmt. DieTräger sind letztendlich von Ihnen erpresst worden.
Nichts anderes ist geschehen, als dass sie erpresst wordensind nach dem Motto: entweder weniger Stellen oder we-niger Geld. Ich weiß nicht, ob solch ein Handeln einerBundesregierung überhaupt zusteht. Ich finde es nicht inOrdnung, wenn man mit Trägern, freien Wohlfahrtsver-bänden und Kommunen in der Form umgeht.
Eine weitere Bemerkung: In vielen Fällen wird dieseRegelung im Übrigen auch die Kommunen direkt treffen,da der eine oder andere Träger Vereinbarungen getroffenhat – ich kenne die Situation in meinem Wahlkreis sehrgut und kann das deswegen beurteilen –, nach denen90 Prozent der ungedeckten Kosten die Kommune trägt.Sie schieben also einen Teil dieser 80 Millionen, die Sieeinsparen wollen, schon wieder auf die Kommunen abund belasten sie damit. Dieses Verfahren können wirebenfalls nur kritisieren. Diese Regelung gilt mit Sicher-heit – da bleibt überhaupt keine andere Chance; das sageich noch einmal – nicht nur für ein Jahr, sondern für wei-tere Jahre.Willi Zylajew
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Willi ZylajewNun sagen Sie, dass Sie hier kürzen, um den Haushaltzu konsolidieren und – Herr Schaaf, Sie haben es eben an-gesprochen – um Handlungsraum für Investitionen zu be-kommen. Wo gibt es denn diese Investitionen? Wo pas-siert denn etwas? Sie stellen irgendwelche möglichenLeistungen in Aussicht, so im Bereich der Ganztagsbe-treuung von Kindern
in den nächsten vier Jahren.
Aber was danach passiert, interessiert Sie doch überhauptnicht. Sie schauen nur bis zur nächsten Wahl und lassendie Kommunen dann mit diesen und anderen Belastungenwieder einmal im Regen stehen.
Das ist Ihr Konzept, etwas anderes haben wir hier nichtgehört.
Ich will noch einen weiteren Bereich ansprechen: Esgibt im zuständigen Ministerium einen Beirat für denZivildienst. Diesen Beirat beteiligen Sie immer gernedann, wenn er Ihnen applaudiert. Dann sind Sie ganz groß,inszenieren seine Arbeit und nehmen seine Aussagengerne als Beleg für Ihr Handeln in Anspruch. In der jetzi-gen Situation haben Sie den Beirat aber nicht einmal be-teiligt.
Dazu kann man nur sagen: außer Spesen nichts gewesen.Die Beiratsmitglieder haben nicht einmal die Chance, hierPosition zu beziehen und ihren Beitrag zu leisten. Dieszeigt, wie es um Ihre Bereitschaft zur demokratischen Zu-sammenarbeit bestellt ist. Herr Ströbele hat Recht: Beidem, was hier von Ihnen vorgetragen wird, kann man imGrunde genommen nur die Möbel zerdeppern.
Ich sage klipp und klar: Wir werden dieses Gesetz ab-lehnen. Wir haben dem Antrag der FDP nicht zugestimmt,
weil wir ein geordnetes Verfahren mit der entsprechen-den weiteren Beratung möchten. Dann werden wir auchDeckungsvorschläge nach dem Gesamtdeckungsprinzipeinbringen. Wir halten es für völlig falsch, jeden Antragals Einzelantrag zu sehen, ihm zuzustimmen und dann zu-zusehen, wie wir nachher auf der Strecke bleiben. Wirbringen Ihnen ordentliche und ausgewogene Haushalt-vorschläge,
die zu gleichmäßigen Belastungen und Entlastungen derGesellschaft führen, die fair und ordentlich sind.Was Sie hier mit dieser Initiative machen, ist aus unse-rer Sicht rundherum beschämend. Sie sparen über 80 Mil-lionen Euro zulasten der Behinderten, der Kranken,
der Schülerinnen und Schüler; und dies tun Sie als Ver-treter einer Partei, die sonst versucht, sich die soziale Pla-kette ganz oben ans Revers zu heften. Dieses Verfahren istwie Wasser: durchsichtig und geschmacklos.
Es ist bedauerlich, dass Sie zu keinen anderen Ergebnis-sen kommen.Schönen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen in diesemJahr die Bundeszuschüsse zu den Geldleistungen fürZivildienstleistende von 70 auf 50 Prozent gesenkt wer-den. Dadurch steigt der Kostenanteil der Träger von30 auf 50 Prozent.
Das Echo auf diesen Entwurf ist geteilt. Dies sehen wirdeutlich. Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege habenschriftlich ihre Zustimmung zu diesem Kompromiss er-klärt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sowie dieVertreter der Umweltverbände haben ihre Zustimmungmündlich erklärt. Bedenken kommen von den kommuna-len Spitzenverbänden und es kommen Proteste von klei-neren Trägern. Dies können wir nicht übersehen. Ich mussauch sagen, dass man den Protesten der kleineren Trägernicht widersprechen kann, weil vor allem die kleinen Trä-ger unter dieser Veränderung zu leiden haben werden. Eswäre vielleicht sinnvoll gewesen, an den entsprechendenministeriellen Beratungen auch den Beirat für den Zivil-dienst und die Bremer Zentralstelle für Recht und Schutzder Kriegsdienstverweigerer zu beteiligen.
Warum ist nichtsdestoweniger dieser Entwurf notwen-dig? Erstens. Im Haushalt 2003 müssen in Einzelplan 1790,6 Millionen Euro eingespart werden. Daran führt keinWeg vorbei. Wir müssen schauen, welches die Alterna-tiven sind: Eingriffe in Familienleistungen oder Ein-sparungen beim Zivildienst.
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Die Konsequenz ist klar.Zweitens. In der Koalitionsvereinbarung haben wirvereinbart, die Anzahl der besetzten Zivildienstplätze der-jenigen im Wehrdienst anzugleichen, und zwar weil eshier bisher eine Einberufungsungerechtigkeit gibt. ImGrunde werden nämlich alle Kriegsdienstverweigerer ausGewissensgründen, die zur Verfügung stehen, auch ein-gezogen, während dies bei den Wehrdienstleistendennicht der Fall ist und in Zukunft noch weniger Wehr-dienstleistende eingezogen werden. Insofern wäre in die-sem Fall die Absenkung der Zahl der Einberufungen amsinnvollsten gewesen.Dem stand allerdings ein erhebliches praktisches Pro-blem entgegen, denn die Kontingente für Einberufungenim Haushaltsjahr 2003, welches schon im Oktober letzenJahres anfing, wurden bereits seit Mai letzten Jahres ver-teilt und sind zum großen Teil seit November letzten Jah-res „verbraucht“. Wenn man dann mit einer erheblichenReduzierung der Einberufungen gekommen wäre, hättedies bedeutet, dass es ab dem dritten Quartal dieses Jah-res einen erheblichen Einbruch gegeben hätte; und dies zueinem Zeitpunkt, wo der Bedarf an Zivildienstplätzen we-gen der Abiturienten und derjenigen jungen Männer, diegerade ihre Ausbildung abgeschlossen haben, besondershoch ist. Das wäre ein massiver Eingriff in die Lebenspla-nung der jungen Männer gewesen und hätte die Konti-nuität bei den Trägern unterbrochen. Aus diesem Grundhalten wir diesen Schritt für notwendig und unvermeidbar.
Die Einwände der FDP – wir werden sie gleich hören– gehen, wie sich beim Zuhören bestätigen wird, daneben,und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens. Die Maßnahmen gehen in keiner Weise zulastender Zivildienstleistenden. Zweitens. Sehr geehrte FrauLenke, Sie von der FDP predigen sonst immer den Abbauvon Subventionen.
Auch hier geht es um Subventionen.
Es ist erstaunlich, dass Sie hier auf einmal dagegen sind.
– Sie sind gleich dran. Sie können in Ihrer Rede daraufeingehen.
Zusammengefasst: Es ist notwendig, den gewähltenSchritt jetzt zu tun. Uns ist aber auch klar, dass es nur eineZwischenlösung ist. Deswegen haben wir das auch nur fürdieses Jahr beschlossen und nicht für die folgenden Jahre.Die jetzt gefundene Zwischenlösung entbindet uns abernicht von der Verpflichtung, die Zahl der Einberufungenzum Zivildienst zu senken und an die Zahl der Einbe-rufungen zum Wehrdienst anzugleichen. Der Druck, dieZahl der besetzten Zivildienstplätze zu senken, wird mitFortgang der Bundeswehrreform noch zunehmen. In die-sem Jahr, so die nüchterne Zahl, werden nur noch94 500 Wehrdienstplätze zu besetzen sein. Von daher be-steht beim Zivildienst entsprechender Druck.Im weiteren Verlauf dieser Legislaturperiode werdenwir – so lautet auch unsere Abmachung im Koalitionsver-trag – die Wehrform grundsätzlich auf den Prüfstand stel-len. Dann wird die von den Grünen lange geforderte Ab-schaffung der Wehrpflicht nicht nur möglich, sondernangesichts der sicherheitspolitischen Entwicklung unse-rer Auffassung nach auch wahrscheinlich. Deshalb müs-sen wir uns endlich der Frage stellen, wie die Absenkungbeim Zivildienst und der wahrscheinliche Ausstieg ausdem Zivildienst sozialverträglich gestaltet werden können.Die „Frankfurter Rundschau“ kommentiert den heuti-gen Gesetzentwurf folgendermaßen:Die kurzfristige Therapie für die heutige Notsituationdarf nicht zur Strategie werden. ... Dringend notwen-dig ist eine aufrichtige Debatte darüber, wie der Pfle-gesektor den absehbaren Verlust der günstigen Zivisverkraften kann.Die Vorschläge der Grünen dazu liegen seit Jahren aufdem Tisch.
Wenn jetzt angeregt wird, wie in der vorherigen Legisla-turperiode eine Arbeitsgruppe „Zukunft des Zivildiens-tes“ zu bilden, so ist das unserer Auffassung nach sinnvollund unbedingt zu unterstützen. Allerdings muss eine An-forderung hinzukommen: Es muss in diesem Rahmenendlich die Frage überprüft werden, wie die so genannteZivildienstkonversion bewältigt werden kann. Dafür soll-ten wir uns alle fraktionsübergreifend einsetzen, egal, wiewir sonst zu der Frage der Wehrform und, daraus resultie-rend, des Zivildienstes stehen. Diese Frage zu klären ist,so denke ich, vorausschauende Verantwortung.Danke schön.
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ina
Lenke, FDP-Fraktion.
Herr Nachtwei, politisch haben die Grünen in den letz-ten Jahren in dieser Regierung nichts durchgesetzt. Sie re-den immer von Aussetzung der Wehrpflicht und von Ge-rechtigkeit, haben dazu aber nichts durchgesetzt. DieseKritik richtet sich an Herrn Beck und an Sie.
Winfried Nachtwei
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003
Ina LenkeWas bedeutet eigentlich Wehrungerechtigkeit? – Wennwir 100 000 Zivildienstleistende und 100 000 Wehrpflich-tige haben, dann ist das für Sie Wehrgerechtigkeit. WissenSie, was für die FDP Wehrungerechtigkeit ist? – Wenn indiesem Jahr 200 000 junge Männer einen Pflichtdienstverrichten müssen und 200 000 junge Männer nicht. Dasist Wehrungerechtigkeit und nicht dieser Quatsch, den Siehier erzählen.
Ich komme auf das Thema Subventionen zu sprechen.Sie wissen ganz genau: Die Träger haben Ihnen nichtdankbar zu sein.
Herr Nachtwei, die Bundesregierung ist verpflichtet, denKriegsdienstverweigerern solche Stellen zur Verfügungzu stellen. Das ist kein Geschenk an die Einrichtungen,sondern die Einrichtungen müssen diese Stellen anbieten.
Wo wollen Sie die Kriegsdienstverweigerer sonst unter-bringen? Wenn Sie eine Diskussion mit einer solchenSchieflage führen wollen, dann kann ich nur sagen: Damache ich nicht mit.
Meine Damen und Herren, mit dem scheibchenweisenRückzug aus der Finanzierung der Zivildienststellen – dasgilt auch für Sie, Herr Beck – hat Rot-Grün den Anfangvom Ende des Zivildienstes eingeläutet.
Sie haben in den vergangenen Jahren bei der Rentenver-sicherung der Zivildienstleistenden und beim Entlas-sungsgeld gespart und die Einrichtungen weiter belastet.Jetzt machen Sie das bei den monatlichen Zahlungen andie Zivildienstleistenden. Das geht nicht. Wir als FDPsind gegen diese scheibchenweise Verlagerung der Kos-ten vom Haushalt auf die Träger.
– Hören Sie doch auf, Herr Beck! Wenn Sie den Anfangvom Ende des Zivildienstes einläuten, dann frage ichmich, Herr Beck, warum Sie als prominenter Grüner nichtgleich über die Abschaffung des Zivildienstes beraten.Die zuständige Ministerin, Frau Schmidt, hat im Aus-schuss gesagt, sie sei gegen die Wehrpflicht und die Bun-desregierung werde 2006 darüber entscheiden. Ich habedie Frau Ministerin gefragt, ob das vor oder nach der Bun-destagswahl geschehen solle. Die gleichen Töne habenauch Sie angeschlagen. Aber Sie reden nur davon, dassder Zivildienst ein auslaufendes Modell sei, Herr Beck. Inden letzten vier Jahren haben Sie nicht einen Cent dazu-getan, um das wirklich anzugehen.
In diesem Jahr wollen die Ministerin und die Bundes-regierung 30 000 Zivildienststellen einsparen. Das bedeu-tet 30 000-mal weniger Betreuung für ältere Menschenund Menschen mit Behinderungen.
Durch die Streichung von Zivildienststellen in diesemJahr werden Sie die himmelschreiende Wehrungerech-tigkeit in unserem Land noch verstärken; denn durch IhrePolitik wird bald jeder zweite junge Mann zu keinemDienst mehr herangezogen.
Herr Beck, Sie haben doch dem Einzelplan 17 denHans-Eichel-Preis gegeben und das geforderte Einspar-volumen nahezu aus dem Bereich des Zivildienstes er-bracht. Es kann aber auch bei Gutachten und anderen Din-gen gestrichen werden und nicht nur in den Bereichen,von denen Sie, Herr Nachtwei, gesprochen haben.Wir lehnen Ihr Änderungsgesetz also ab, weil Sie beiden Haushalten der Zivildienstträger, der Alteneinrich-tungen, der Krankenhäuser im Laufe eines Haushaltsjah-res buchstäblich von heute auf morgen – dagegen könnenSie ja nun wirklich nicht protestieren, Herr Beck –, näm-lich ab dem 1. März 2003, den Finanzierungsanteil desBundes von 70 auf 50 Prozent reduzieren,
ohne den Trägern und Einrichtungen eine Vorbereitungdarauf zu ermöglichen, nach dem Motto: Sollen doch dieAlten- und Pflegeheime und die Krankenhäuser selber se-hen, wie sie die Misswirtschaft von Rot-Grün, von dieserBundesregierung ausgleichen.Meine Damen und Herren, das Gesetz ist befristet. Essoll von März bis Dezember dieses Jahres gelten. Und wasdann, Herr Nachtwei? Glauben Sie tatsächlich, dass Sieund andere sich dafür einsetzen werden, dass wir ab 2004wieder zu einem 70-prozentigen Finanzierungsanteilzurückkehren?
Sie wollen dann Ihre merkwürdige Vorstellung von Wehr-gerechtigkeit realisieren, indem Sie die Zahl der Zivil-dienststellen von 135 000 auf 100 000 senken. Das nen-nen Sie Wehrgerechtigkeit.
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Ich komme jetzt zum Schluss. Anstatt endlich, meineDamen und Herren von Rot-Grün, ein schlüssiges Kon-zept für die Umwandlung von Zivildienststellen in einenMix aus regulären Arbeitsplätzen und verschiedenen An-geboten zur Ableistung von freiwilligen, ehrenamtlichenEngagements vorzulegen, wie es die FDP als Konzeptschon in der letzten Legislaturperiode vorgelegt hat,trocknen Sie lediglich den Zivildienst langsam aus.
Frau Kollegin Lenke, Sie haben ohnehin eine sehr
großzügig bemessene Redezeit. Deshalb bitte ich Sie,
zum Schluss zu kommen.
Das war mein letzter Satz.
Ein Minus von 33 Sekunden ist nicht viel.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, beenden
Sie Ihre kopflose Flickschusterei und schaffen Sie end-
lich Planungssicherheit! Die FDP lehnt diesen Gesetz-
entwurf ab. Wir werden Ihnen aber in diesem Jahr noch
ein gutes Konzept zur Umwandlung des Zivildienstes
vorlegen.
Frau Kollegin Lenke, wir hatten Ihnen aus Versehen
fünf Minuten Redezeit eingeräumt. Eigentlich hätten der
FDP nur drei Minuten Redezeit zugestanden.
Deshalb stimmt das mit der halben Minute nicht ganz.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/297 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Sondergutachten des Sozialbeirats zur Renten-
reform
– Drucksache 14/5394 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche
Rentenversicherung, insbesondere über die Ent-
wicklung der Einnahmen und Ausgaben, der
Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderli-
chen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalender-
jahren gemäß § 154 SGB VI
und Gut-
achten des Sozialbeirats zum Rentenversiche-
rungsbericht 2001
– Drucksache 14/7639 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche
Rentenversicherung, insbesondere über die Ent-
wicklung der Einnahmen und Ausgaben, der
Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderli-
chen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalender-
jahren gemäß § 154 SGB VI
und Gut-
achten des Sozialbeirats zum Rentenversiche-
rungsbericht 2002
– Drucksache 15/110 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Zum Rentenversicherungsbericht 2002 liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Erika Lotz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Wir diskutieren heute die Rentenversicherungsberichte2001 und 2002 sowie die dazugehörigen Gutachten desSozialbeirats.Allen Unkenrufen der Opposition zum Trotz stellt derSozialbeirat fest, dass unsere Rentenreform „ein zu-kunftsweisender Kompromiss zwischen den im Konfliktstehenden rentenpolitischen Zielen der Finanzierbarkeitbzw. Beschäftigungs- und Wachstumseffizienz, der Ver-sorgungssicherheit, des sozialen Ausgleichs und der Ge-nerationengerechtigkeit“ ist. Er bestätigt unsere Renten-reform, die von der Opposition nicht mitgetragen wurde.Aber er beschreibt auch die Anforderungen an unsereRentenversicherung: Finanzierbarkeit – das heißt: bezahl-bare Beiträge –, Sicherheit im Alter, sozialer AusgleichIna Lenke
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Erika Lotzund Generationengerechtigkeit. Das war das Ziel unsererReform. Wir haben es erreicht.Die Berichte enthalten eine Fülle von Informationen.Die Lektüre lohnt sich für jeden in diesem Hause. Die Be-richte widerlegen aber auch einen Punkt, der in der öf-fentlichen Debatte immer mal wieder eine Rolle spielt.Das Thema Frühverrentung wurde erst kürzlich wiederproblematisiert. Aber ich sage – das belegt auch derBericht –: Die Menschen gehen heute nicht wesentlichfrüher in Rente als vor 40 Jahren. In den alten Bundeslän-dern liegt der Zugang zur Altersrente bei durchschnittlich62,7 Jahren. 1960 lag er bei 64,7 Jahren. Es stimmt alsoeinfach nicht, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerimmer früher in Rente gehen und dass es eine Kompensa-tion in Form höherer Abschläge geben müsste.
Bei der Erwerbsminderungsrente dagegen – ich denke,hier müssen wir schon sauber trennen – ist das durch-schnittliche Zugangsalter gesunken. Erwerbsminderungs-rente bekommt man aus gesundheitlichen Gründen. Manmuss sich also genau ansehen, welche Gründe es für dieseEntwicklung gibt. Ich würde mich an dieser Stelle sehrfreuen, wenn auch die Arbeitgeber einmal ein Augenmerkdarauf richten würden.
Trotz aller öffentlichen Meinungsmache: Unser solida-risches System ist sehr wohl auch für die Zukunft trag-fähig. Die gesetzliche Rentenversicherung ist in der Ver-gangenheit immer wieder an veränderte gesellschaftlicheEntwicklungen angepasst worden, und zwar auch im Hin-blick auf die demographischen Veränderungen.Ich glaube, wir dürfen auch nicht vergessen, dass eineder größten Leistungen der Rentenversicherung – eine,die ich persönlich noch immer für bemerkenswert halte –die im Zusammenhang mit der deutschen Einheit zu be-werkstelligende Überführung der Renten Ostdeutsch-lands in unsere gemeinsame Rentenversicherung war.Kein Versorgungssystem und keine private Vorsorge hättediese Aufgabe schultern können. Kein anderes Systemkönnte den finanziellen Ausgleich zwischen West undOst, der leider immer noch notwendig ist, leisten. ImJahre 2002 betrug dieser Transfer 13 Milliarden Euro.Aber die Rentenversicherung bewältigt nicht nur die-sen Ausgleich. Sie schafft den sozialen Ausgleich zwi-schen denen, die langjährig erwerbstätig sind, und denen,die die Erwerbstätigkeit wegen Familienarbeit unterbre-chen müssen. Sie sorgt mit Rehabilitation dafür, dassMenschen wieder erwerbsfähig werden. Auch das sindLeistungen, die wir von einem rein kapitalgedeckten Sys-tem niemals erwarten dürften.Die rot-grüne Rentenreform hat die Anpassungsformelmodifiziert, verschämte Altersarmut verhindert, die so-zialen Härten des Rentenreformgesetzes der Vorgängerre-gierung von 1999 bei Erwerbsminderung beseitigt. Damithaben wir den demographischen Veränderungen Rech-nung getragen.
Frau Merkel und die CDU wollen ja offenbar das Ren-tenniveau weiter absenken; das konnte ich jedenfalls indiesen Tagen der „Berliner Morgenpost“ entnehmen. Ichdenke, wir haben die notwendigen Schritte mit unsererRentenreform 2001 eingeleitet.
Schauen wir uns doch einmal die Renten an. Nach45 Jahren Erwerbstätigkeit sind es im Schnitt 1 164 Euroin den alten Bundesländern, in den neuen sind es1 022 Euro. Nun weiß ich auch, dass diese Durchschnitts-werte – wer erreicht schon noch 45 Versicherungsjahre? –nicht unbedingt korrekte Aussagen über die Masse derRentenbezieher oder über das Haushaltseinkommen er-lauben. Allerdings zeigen sie – denke ich –, dass dort rie-sengroße Sprünge nicht gemacht werden können. Ich willnoch einmal betonen: Die Rentenstrukturreform 2001 hatauf eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Realitätenreagiert.Zwei davon will ich noch einmal beispielhaft nennen:Wir haben dafür gesorgt, dass die Kindererziehung inder Rente besser anerkannt wird, und zwar sowohl bei er-werbstätigen als auch bei Vollzeitmüttern.
Es gibt eine Kinderkomponente bei der Hinterbliebenen-versorgung ebenso wie eine Höherbewertung unterdurch-schnittlich bezahlter Tätigkeiten bei gleichzeitiger Kin-dererziehung.
Auch diese Verbesserungen haben wir gegen den Wider-stand der Opposition durchsetzen müssen. Ferner hat Rot-Grün mit der bedarfsorientierten sozialen Grundsicherungdafür gesorgt, dass Altersarmut in Zukunft kein Themamehr ist.
Unser solidarisches, umlagefinanziertes Rentensystemist leistungsfähig, sehr leistungsfähig. Auf ihm lastennicht nur der soziale Ausgleich und die deutsche Einheit,sondern auch die schwierige Situation auf dem Arbeits-markt. Die gesetzliche Rentenversicherung steht also kei-neswegs auf unsicheren Beinen und auch nicht vor einerunsicheren Zukunft. Wir sollten dieses auch nicht herbei-reden und die Menschen, die Rentnerinnen und Rentner,verunsichern.
– Wir verschließen die Augen nicht;
denn wenn das so wäre, hätten wir keine Rentenreform2001 auf den Weg gebracht. Damit können wir uns sehenlassen. Der Sozialbeirat hat uns das bestätigt; lesen Siedas doch bitte nach!
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Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Storm, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Lotz, das, was Sie uns heute Morgen hier erzählt ha-ben, klingt eher wie ein verspätetes Weihnachtsmärchenim Januar, aber mit der Rentenwirklichkeit in diesemLande hat es nun nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Denn anderthalb Jahre nach Verabschiedung der Riester-Reform stehen Sie vor einem einzigen rentenpolitischenScherbenhaufen.
Die Finanzlage der gesetzlichen Rentenkassen ist desas-trös
und die Riester-Rente ist ein einziger Flop.
Bei der Verabschiedung wurde gesagt, der Rentenbeitragwerde in diesem Jahr bei 18,7 Prozent liegen. Tatsächlichliegt er bei 19,5 Prozent – und das nur aufgrund der Not-operationen,
die Sie vor Weihnachten durchgezogen haben. Ohnediese, Frau Lotz, läge er sogar bei 20,2 Prozent.
Die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit sind1,5 Beitragssatzpunkte
oder 13 Milliarden Euro. Dieses zeigt, wie unsolide diegesamte Rentenreform finanziert ist.
Bereits jetzt tun sich neue Löcher in den Rentenkassenauf. Die Aussage von Ihnen, Frau Ministerin Schmidt, vonvor anderthalb Monaten bei der Vorstellung des Renten-versicherungsberichts 2002, wonach der Rentenbeitragfür dieses Jahr auch bei verschlechterter wirtschaftlicherEntwicklung und erkennbaren Finanzrisiken ausreiche,ist bereits jetzt Makulatur. Sie haben vorgestern im Sozial-ausschuss eingestanden,
der Rentenbeitrag für dieses Jahr sei auf Kante genäht.Es dürfe keine zusätzlichen Risiken mehr geben. Sonstkomme man nicht mehr hin.
Aber diese Risiken sind bereits eingetreten. Sie grün-den sich vor allen Dingen auf drei Faktoren: Zum Erstensind die Beitragseinnahmen im November und Dezemberletzten Jahres komplett weggebrochen. Zum Zweiten sinddie Annahmen der Bundesregierung zur Entwicklung derLohnsumme, die der Beitragskalkulation zugrunde liegt,völlig hinfällig. Selbst die Rentenversicherungsträger ha-ben noch im November und Dezember darauf hingewie-sen, dass die Annahme, die Beitragslohnsumme wachse indiesem Jahr um 2,5 Prozent, völlige Illusion ist. Zum Drit-ten kam es vor wenigen Tagen im öffentlichen Dienst zueinem Tarifabschluss. Die Ergebnisse dieses Abschlussesbelasten die Kassen der Sozialversicherungsträger in die-sem Jahr mit 2 Milliarden Euro.
Damit ist bereits jetzt klar, dass der Rentenbeitrag von19,5 Prozent 2003 nicht ausreichen wird. Das bedeutet:Die bereits massiv gesenkte Rücklagenvorgabe von einerhalben Monatsausgabe wird in diesem Jahr erheblich un-terschritten.
Wenn nicht noch weitere Verschlechterungen hinzukom-men, wird die Reserve am Jahresende zwischen maximal0,42 und 0,47 einer Monatsausgabe liegen. Frau Schmidt,das bedeutet, dass wir in den kritischen Monaten, im Spät-sommer und im Frühherbst, eine Rente haben werden, dievon den Rentenversicherungsträgern nicht mehr aus eige-ner Kraft finanziert werden kann, und dass Herr Eichel andie Rentenversicherungsträger Kredite vergeben muss.Damit ist die finanzielle Eigenständigkeit der Rentenver-sicherung bedroht.
Eine weitere Konsequenz dieser unsoliden Politik ist,dass der Beitrag im nächsten Jahr nicht sinken kann, son-dern steigen wird. Auch das haben Ihnen die Rentenversi-cherungsträger zum Jahreswechsel in Ihr Stammbuch ge-schrieben. Eine Beitragsuntergrenze wäre im nächstenJahr 19,7 Prozent. Wenn die Entwicklung weiterhinschlecht verläuft, droht sogar ein Anstieg auf die 20-Pro-zent-Marke.Damit würde die Fahrt des Bundesfinanzministers am21. Mai dieses Jahres nach Brüssel, wo er der EU-Kom-mission die notwendigen Sparmaßnahmen im Hinblickauf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme,Erika Lotz
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Andreas Stormum das Defizit der öffentlichen Haushalte zu verringern,erläutern muss, zu einem Gang nach Canossa.
Deshalb zeichnet sich bereits heute ab, dass Rot-Grünweitere Sparmaßnahmen bei der Rente plant. Die stell-vertretende Fraktionsvorsitzende der SPD KolleginSchaich-Walch hat am Jahresende in der „Financial TimesDeutschland“ deutlich gemacht, dass eine weitere Bei-tragssatzsteigerung mit den Grünen schwierig werdendürfte. Der Boden für Leistungseinschnitte bei der Renteist mit dem Strategiepapier gelegt worden, das das Kanz-leramt vor Weihnachten lanciert hat. Ich zitiere wörtlichaus diesem Strategiepapier:Sowohl unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunk-ten als auch unter Aspekten der Gerechtigkeit wirdman der Diskussion über eine weitere Beteiligungauch der Rentner an der Rückführung der konsum-tiven Ausgaben nicht ausweichen können.
Bei allen großen Ausgabenblöcken ... muss dasTempo des Anstiegs deutlich gedrosselt werden bzw.in einzelnen Jahren auch mal zum Stillstand kom-men.Das bedeutet im Klartext: Es soll erneut in die Renten-anpassung eingegriffen werden, so wie wir das bereits imJahr 2000 unter dem damaligen Arbeitsminister WalterRiester erlebt haben.
Möglicherweise droht den Rentnern sogar eine Null-runde, also eine Rente nach Kassenlage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mit Sicherheitkein Zufall, dass dieses Kanzleramtspapier das Licht derÖffentlichkeit an dem Tag erblickt hat, als der DeutscheBundestag die Erhöhung der Rentenbeiträge zum 1. Ja-nuar dieses Jahres beschlossen hat. Frau MinisterinSchmidt mag noch so oft beteuern, dass mit ihr eine Null-runde bei den Rentnern nicht zu machen sei. Im Zweifelmuss sie darüber gar nicht mehr entscheiden. Dann ver-zichtet der Kanzler auf sie, wie er das auch mit ihremAmtsvorgänger, Herrn Riester, zur Überraschung seinereigenen Fraktion im Oktober getan hat.Die Unterstützung des Vorschlages einer Nullrunde beiden Rentnern durch die Grünen dürfte dem Kanzler sichersein. Ich erinnere daran, dass die Grünen bereits AnfangNovember 2002 eine Aussetzung der Rentenanpassungzum 1. Juli dieses Jahres gefordert haben. Damals ging esnoch um die Frage, ob der Rentenbeitrag auf 19,3 Prozentoder 19,5 Prozent steigen soll. Es wäre nicht nur konse-quent, sondern ganz logisch, wenn sie an dieser Forde-rung auch festhielten.In der Tat hat der sozialpolitische Sprecher der Grünen,Markus Kurth, am 30. Dezember noch einmal den „Bei-trag der Rentner“ ins Gespräch gebracht. Er sagte in der„Financial Times Deutschland“ wörtlich:Dann werden wir sicher auch noch mal über eineNullrunde für Rentner reden müssen.In der heutigen Ausgabe der „Financial Times Deutsch-land“ sagt Herr Kurth zur Entwicklung der Beiträge:Es ist klar, dass es knapp wird. Als Grüner schließeich Beitragserhöhungen aus.Meine Damen und Herren, wenn Beitragserhöhungenausgeschlossen werden,
dann geht es an die Leistungsseite. Deswegen: SchenkenSie den Rentnerinnen und Rentnern, aber auch den Bei-tragszahlern reinen Wein ein, und zwar schon vor dem2. Februar! Die Menschen wollen wissen, was auf sie zu-kommt. Wir wollen nicht wieder so etwas wie 1999 erle-ben, als Sie vor der Europawahl heilige Eide geschworenhaben, dass keine Eingriffe in die Rente erfolgen werden,und sich der Bundeskanzler ein Vierteljahr später bei derdeutschen Öffentlichkeit für den Rentenbetrug, den Rot-Grün begangen hat, entschuldigen musste.Meine Damen und Herren, nicht nur die katastrophaleFinanzsituation der Rentenversicherung ist ein Thema,sondern auch die Riester-Rente. Sie hat sich als einzigerRohrkrepierer entpuppt.
Nach Schätzungen des Gesamtverbandes der DeutschenVersicherungswirtschaft haben gerade einmal 3 MillionenBerechtigte
so genannte Riester-Verträge abgeschlossen. Ausgehendvon über 40 Millionen potenziell förderberechtigten Per-sonen sind das noch nicht einmal 10 Prozent.Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Erstens. DieFörderung der privaten Altersvorsorge ist völlig praxis-fremd und überbürokratisiert. Der Sachverständigenratschreibt Ihnen in seinem Jahresgutachten ins Stammbuch,dass – ich zitiere wörtlich –das komplizierte Gesetzeswerk dazu führt, dass derAnleger und selbst der Finanzberater Schwierigkei-ten haben, alle Fördermöglichkeiten und Förderkom-binationen zu überblicken.Damit hat der Sachverständigenrat wieder einmal den Na-gel auf den Kopf getroffen.
Zweitens. Den Bürgern wird eine staatlich garantierteAlterssicherung vorgegaukelt, die nicht existiert und überdie Notwendigkeit einer zusätzlichen Altersvorsorge hin-wegtäuscht. Im Rentenversicherungsbericht steht, dasswir im Jahr 2016 immer noch ein Rentenniveau von70 Prozent erreichen werden, obwohl Sie, Frau Schmidt,immer wieder darauf hinweisen, dass die Rentenanpas-
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sung in den nächsten Jahren Jahr für Jahr um 0,5 Prozentbis 0,6 Prozent niedriger ausfallen wird. Das heißt, Siehaben die Statistik in einer Art und Weise manipuliert, dassjede Versorgungslücke wegretuschiert wird. Daher ist esauch kein Wunder, wenn sich die Menschen nicht mehr imKlaren darüber sind, in welcher Form sie vorsorgen müssen.Drittens. Wenn die Menschen ergänzend vorsorgensollen – das ist ein entscheidender Punkt –, brauchen siedafür auch den finanziellen Spielraum im Portemonnaie.Diesen nehmen Sie ihnen; denn die Beitragssatzspiraledreht sich ununterbrochen weiter: ein Anstieg der Ren-tenbeiträge in diesem Jahr um 0,4 Prozentpunkte, ein An-stieg der Krankenkassenbeiträge um 0,4 Prozentpunkte,die Ankündigung großer Kassen, dass die nächste Bei-tragswelle im Gesundheitswesen unmittelbar bevorstehtund die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in derRentenversicherung um 600 Euro.Unter solchen Rahmenbedingungen sind die Men-schen nicht in der Lage, ergänzend vorzusorgen.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Wir brauchen eine grundlegende Reform nicht nur im
Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern auch
bei der Riester-Rente. Sie muss durch eine Förderrente ab-
gelöst werden, die den Menschen auf breiter Front ermög-
licht, ein zweites Standbein in der Alterssicherung zu haben.
Ein rentenpolitischer Neubeginn ist unbedingt erfor-
derlich. Wenn Sie zur Umkehr bereit sind, ist die Union
auch bereit, daran tatkräftig mitzuwirken.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Storm, das einzig Aufschlussreiche an Ihrer Rede warder Hinweis auf ein Datum, nämlich auf den 2. Februar.Das erklärt das ganze Theater hier.
Sie versuchen, den hessischen Landtagswahlkampf hierim Bundestag zu führen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und derFDP, ich finde, das ist sehr durchsichtig und auch ein we-nig anstrengend. Sie machen sich nicht einmal die Mühe,in Ihrer Argumentation für ein wenig Konsistenz zu sor-gen. Sie sprechen von „hätte“, „wäre“, „wenn“ und brin-gen die Nummer „Wie hoch könnte der Beitrag sein, wennihr nicht dieses hättet und wenn man noch jenes weiter ge-rechnet hätte?“.
Ich rechne Ihnen jetzt auch einmal etwas vor: Würdedie Ökosteuer fehlen – das wäre nach Ihren Vorstellungenso –, läge der Beitrag höher. Das Fehlen der Ökosteuer– sie macht 9 Milliarden Euro aus – würde den Beitrag umfast einen Prozentpunkt steigen lassen.
Wenn man Ihren Konzepten gefolgt wäre, würden diese9 Milliarden Euro fehlen und der Rentenbeitrag wärehöher. Halten wir das einmal fest.
Hinzu kommt das Gejammer, wir hätten die Schwan-kungsreserve zu weit abgesenkt. Sie machen den LeutenAngst, indem Sie sagen, sie würden ihre Renten nicht er-halten. Sie wissen genau, dass das sehr wohl der Fall ist.Hätten wir die Schwankungsreserve nicht abgesenkt,wäre der Rentenbeitrag höher. Wollen Sie das?
Sie können doch nicht die Höhe der Rentenbeiträge undgleichzeitig die strukturellen Maßnahmen und die Not-maßnahmen, die wir im letzten Jahr noch ergriffen haben,kritisieren.Besonders schön macht das auch die FDP. Mit großemInteresse habe ich Ihren Antrag gelesen. Es ist einfachwunderschön. Dort steht zum Beispiel der Satz:Die Rentenpolitik der Bundesregierung ist ein einzi-ges Desaster.
Wenn man weiterliest – Sie haben sich ja schon die Mühegemacht, sich das ein wenig anzuschauen –, erfährt man:Die Finanzkrise der Rentenversicherung hat nochkeine demographischen Ursachen, sondern beruht al-lein auf der schlechten Konjunkturlage und der damitzusammenhängenden Massenerwerbslosigkeit.
Da sage ich: Ei, guck a mal, schau! Es hat also tatsächlichetwas mit der Konjunkturlage zu tun, die bei Ihnen auchnicht anders aussähe.
Andreas Storm
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Birgitt BenderDiese beschert uns ein Problem.Der einzige Schluss, den man daraus ziehen kann – aufdiesen sollten wir uns verständigen –, ist, dass unsere so-ziale Sicherung in der Tat sehr konjunkturanfällig ist unddass dies ein Grund für eine weitere Rentenreform ist, mitder die Konjunkturanfälligkeit der sozialen Sicherung re-duziert wird. Darum geht es doch.
Das Gemäkel über den jetzigen Beitragssatz bringt unsnicht weiter.Die FDP will nicht nur die Schwankungsreserve wie-der heraufsetzen, sondern auch die Beitragsbemessungs-grenze wieder heruntersetzen.
Nach diesen Maßnahmen würden Sie sowieso bei19,9 Prozent liegen. Das würde Ihnen auch nicht gefallen.
Im Übrigen: Vielleicht haben auch Sie gelesen, dassder Sozialbeirat sehr unterschiedliche Positionen zur He-raufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze einnimmt.Wenn das auch in der Politik so ist – wir waren uns daauch nicht ganz einig –, kann man es also kaum als Feh-ler ansehen. Es gibt weiteren Reformbedarf bei der Renten-versicherung; das ist gar keine Frage. Das ist aber keinGrund, die vorangegangene Rentenreform in Grund undBoden zu stampfen. Es waren nämlich die richtigen Schritte.Wenn Sie sich die Unterlagen, die heute eigentlich zurDebatte stehen – schließlich gibt es eine Tagesordnung –,angeschaut hätten, wüssten Sie, dass wir durch den Be-richt des Sozialbeirates aus dem letzten und dem vorletz-ten Jahr genau darin unterstützt werden.
In diesen Berichten steht nämlich, dass es richtig war, füreine Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Rente zusorgen und in diesem Zusammenhang eine kapitalge-deckte Säule aufzubauen. Wer hat das denn getan? – Daswar Rot-Grün.
Die staatliche Förderung dafür wird in den Berichtenals beachtlich beschrieben. Allerdings steht dort auch,dass zwischen der Beitragsfestlegung und der Renten-niveaufestlegung auf Dauer ein Zielkonflikt bestehenkann. Deswegen wird man in der Tat überlegen müssen,was die Leistungsempfänger und -empfängerinnen zurFinanzierbarkeit der Rente und zur Nichtüberlastung derjüngeren Generation beitragen können. Mit dieser Fragemuss man sich beschäftigen.
Ich sage Ihnen: Die Politik wird auch mithilfe der Rürup-Kommission, die Vorschläge machen soll,
das Verhältnis zwischen der Beitragslast der Jüngeren undden Ansprüchen der Älteren überprüfen. Auch die Leis-tungsempfänger und -empfängerinnen werden ihren Bei-trag leisten müssen.
Schauen wir uns einmal die Zahlen in diesem Berichtan. Ich erinnere einmal an die sehr niedrigen Renten, etwadie Witwenrente, die im Durchschnitt etwas weniger als150 Euro ausmacht. Dabei denkt man zunächst einmal,dass dies ein Armutsfall ist. Für einen solchen Fall habenwir die Grundsicherung geschaffen. Ich weiß auch garnicht, was es daran wieder zu mäkeln gibt. Sie ist nämlichbedarfsorientiert. Wir stellen aber fest, dass diese Witwenim Durchschnitt ein Nettoeinkommen von 850 Euro zurVerfügung haben. Das Existenzminimum ist also sehr wohlgesichert. Auch bei Ehepaaren liegt das Nettoeinkommenbei nahezu 2 000 Euro, obwohl der Rentenzahlbetrag gerin-ger ist. Die soziale Absicherung ist folglich gewährleistet.Wir stellen fest, dass die gesetzliche Rente bereits jetztfür viele nur einen Teil ihres Alterseinkommens darstellt.Wir werden diese verschiedenen Säulen in Zukunft neuzueinander ins Verhältnis setzen müssen. Dabei werdenwir die kapitalgestützte Säule stärken.
Herr Storm, Sie haben wieder einmal die Riester-Rentemadig gemacht. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, wasSie daran genau stört.
Sagen Sie uns, ob Sie ein Problem mit dem Verwaltungs-verfahren zur Zertifizierung haben. Darüber ließe sich re-den. Sagen Sie uns, ob Sie die Kriterien, die im Interessedes Verbraucherschutzes bei der Riester-Rente einbezo-gen wurden, einschränken wollen.
Ich möchte gerne genau wissen, wie dann Ihre Vorschlägeim Hinblick auf die soziale Sicherheit aussehen. Wenn wireine private Absicherung staatlich fördern, muss der Ver-braucherschutz gewährleistet sein. Dazu sollten Sie ein-mal etwas auf den Tisch legen.
Wenn Sie dazu gar nichts anzubieten haben, dann weiß ichnicht, was an der Riester-Rente so schlecht sein soll, dassSie sie in Grund und Boden stampfen. Dafür gibt es kei-nen Grund.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003 1593
Zusammengefasst: Diese Debatte, wonach in der Ren-tenpolitik angeblich alles falsch läuft, ist dem Landtags-wahlkampf in Hessen geschuldet. Ich hoffe, dass wir da-nach wieder sachlich miteinander reden und bei denReformvorstellungen tatsächlich in einen Wettbewerb tre-ten können.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Bender, es bleibt dabei: Die Rentenpolitikder rot-grünen Bundesregierung ist ein einziges Desaster.
Ich finde es vor dem Hintergrund der aktuellen Ent-wicklung geradezu skandalös, dass die Bundesgesund-heits- und Sozialministerin heute offensichtlich kneifenwill. Ich habe jedenfalls der vorliegenden Rednerliste ent-nommen, dass der von mir sehr geschätzte StaatssekretärThönnes in der Debatte für die Bundesregierung redensoll. Das beweist mir einmal mehr, dass die Rente das un-geliebte Findelkind der Gesundheits- und Sozialministe-rin ist.
Das ist auch in der Aussprache nach der Regierungser-klärung deutlich geworden. Es soll wohl Normalität vor-gegaukelt werden. Ich will Ihnen sagen: Es brennt schonunter dem Dach. Aber Sie haben noch nicht gemerkt, dasses bereits so weit ist. Ich will Ihnen das näher erläutern.Frau Ministerin Schmidt, Sie kneifen, weil auch Siewissen, dass der Rentenversicherungsbericht 2002 dasPapier nicht wert ist, auf dem er gedruckt ist. Ich fordereSie auf: Ziehen Sie diesen Rentenversicherungsbericht2002 zurück und legen Sie diesem Haus einen neuen Be-richt mit aktuellen und realistischen Zahlen vor.
Sie können Ihre Politik des Tarnens und Täuschens nichteinfach fortsetzen, wie das vor der Bundestagswahl ge-schehen ist.Nach dem Rentenversicherungsbericht 2000 hättenach der ungünstigsten Annahme und ohne Absenkungder Mindestreserve der Rentenversicherungsbeitrag für2003 18,9 Prozent betragen sollen. Nach dem Rentenver-sicherungsbericht 2001 hätten es in diesem Jahr 19,2 Pro-zent sein sollen. Das ist Ihre Berichtslyrik. Wie sieht dieRealität aus? Keine zwei Wochen nach der Bundestags-wahl im September 2002 haben Sie den Offenbarungseidablegen müssen und trotz der Absenkung der Mindestre-serve und der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzeden Beitragssatz für die Rente von 19,1 auf 19,5 Prozenterhöhen müssen. So soll es offensichtlich weitergehen. Je-denfalls lese ich das aus Ihrem Rentenbericht heraus. Siewollen die Tradition des Verschleierns und Beschönigensfortsetzen. Allmählich mutiert der jährlich zu erstellendeRentenbericht wirklich zu einer Geschichte aus Tausend-undeiner Nacht. Frau Schmidt, so ist es. Aber Sie ver-schließen die Augen davor. Sie müssen verstehen, dasswir in diesem Punkt etwas sensibel sind. Denn Sie habendie Öffentlichkeit schon vor der Bundestagswahl – ichkann es nicht anders ausdrücken – über die Situation beider Rente belogen. Jetzt versuchen Sie es hier erneut.
Frau Schmidt und Frau Lotz, ich sage Ihnen voraus,dass der Rentenbeitrag, wenn Sie so weitermachen undIhre Augen vor der Realität verschließen, im Jahre 2006nicht auf 19,1 Prozent sinken wird, sondern dass er aller Vo-raussicht nach bereits im kommenden Jahr, im Jahr 2004,über die 20-Prozent-Marke steigen wird, weil Ihre An-nahmen betreffend die Entwicklung der Einnahmen inder gesetzlichen Rentenversicherung einfach fernabvon jeder Realität sind.Betrachten Sie doch einmal die Zahlen, die vorliegen.Für das vergangene Jahr hatten Sie mit einem Zuwachsder gesamten Beitragseinnahmen von 2,75 Prozentpunk-ten gerechnet. Das können Sie in Ihrem Bericht nachprü-fen. Vorgestern musste die Ministerin, Frau Schmidt, imAusschuss zugeben, dass die Pflichtbeiträge, die jaannähernd 85 bis 90 Prozent der Gesamtbeiträge ausma-chen, im Jahre 2002 um nur 0,1 Prozent gewachsen sind.
Wie Sie bei der gegenwärtigen düsteren konjunkturel-len Situation und nach der korrigierten Wachstumspro-gnose – auch Herr Clement musste ja einen Schritt zurück-gehen – weiterhin davon ausgehen wollen und können,dass die Gesamtbeitragseinnahmen in diesem Jahr um4,5 Prozentpunkte wachsen werden, ist mir schlicht un-verständlich.Frau Ministerin, Sie haben vorhin von der Regierungs-bank in einem Zuruf geäußert – das ist ja eigentlich un-zulässig –, das dies alles eingerechnet sei. Aus meinerSicht sind die Einnahmeausfälle in der gesetzlichen Ren-tenversicherung aufgrund der Neuregelung der Minijobsund der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse in Höhevon 500 Millionen Euro in diesem Jahr und 700 MillionenEuro in den nächsten Jahren nicht eingerechnet.
Aus meiner Sicht sind die absehbar fehlenden 2 Milli-arden Euro aus dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienstund der Verschiebung der Beitragszahlen in Ihrem Berichtnicht eingerechnet. Frau Schmidt, deswegen stelle ichfest, dass in der Rentenkasse ein riesiges Loch klafft. VonBirgitt Bender
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Dr. Heinrich L. KolbIhnen, Frau Ministerin, wollen wir hier und heute wissen– das ist Ihre Aufgabe; dafür sind Sie hier auch vereidigtworden –, wie Sie es schließen wollen.
Was wir Ihnen vorwerfen, ist Folgendes: Bei Ihren Pro-gnosen, insbesondere wenn es um Entwicklungen geht,die noch weit in der Zukunft liegen, stellen Sie die Dingesehr schön und günstig dar. Wenn es aber darum geht, diePrognosen zu erfüllen – Butter bei die Fische zu geben –,dann müssen Sie regelmäßig eingestehen, dass die Pro-gnosen nicht tragen, dass Sie sich geirrt haben und dassSie eigentlich absehbare Entwicklungen schöngefärbt ha-ben. Deswegen, Frau Schmidt, glaubt Ihnen niemandmehr: weder die Rentner noch die Beitragszahler noch dieWähler in diesem Lande.
Ich komme nun zur Schwankungsreserve. Das Gut-achten des Bundesrechnungshofes vom Dezember letztenJahres war für Sie ja eine schallende Ohrfeige. Darinwurde deutlich gesagt, dass die Liquidität der Rentenver-sicherung in Monaten mit niedrigem Beitragsaufkommennur mit zusätzlichen Bundesmitteln sichergestellt werdenkann. Das war die Perspektive des letzten Jahres. Aberjetzt gehen Sie mit einer Vorbelastung in das ohnehinschwierige Jahr 2003. Denn sie hatten eben nicht die0,66 Prozent einer Monatsausgabe als Reserve am Jahres-ende 2002 erreicht, wie Sie eigentlich wollten, sondern sieliegen deutlich darunter. Das heißt, dass es zu einer Ver-schiebung nach unten gekommen ist. Deswegen ist voll-kommen klar – Frau Ministerin, wenn Sie ehrlich sind, ha-ben Sie es ja auch eingeräumt –, dass die Liquidität derRentenversicherung im Oktober dieses Jahres ohne zu-sätzliche Zuschüsse und wahrscheinlich auch ohne die In-anspruchnahme der Bundesgarantie nach § 214 SGB VInicht aufrecht erhalten werden kann. Hierzu wollen wirheute etwas von Ihnen hören. Sie können sich nicht ein-fach darüber ausschweigen.
Meine Damen und Herren, wir sind wirklich bereit, zurLösung der Probleme beizutragen. Aber Sie müssen sichendlich einmal der Realität stellen. Sie können nicht ein-fach die Augen verschließen und die Probleme aussitzenwollen. Es muss gehandelt werden – je schneller, destobesser. Bewegen Sie sich endlich!Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Dreßen, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kolb, durch ständiges Wiederholen werden IhreZahlen nicht richtiger. Natürlich hat diese Bundesregie-rung die Liquidität der Rentenversicherung sichergestellt.Gehen Sie einmal davon aus und verunsichern Sie dieRentner und Rentnerinnen nicht durch solche Miesma-chermethoden. So kommen wir nicht weiter!
Das Sondergutachten des Sozialbeirats zur Renten-reform – Sie sollten es einmal lesen – belegt eindeutig,dass die Rentenversicherung auf soliden Füßen steht.Auch wenn Sie es nicht gerne hören, meine Damen undHerren von der Opposition: Wir haben die Weichen rich-tig gestellt. Im Gutachten ist formuliert, man müsse beider Rentenpolitik in einer alternden Gesellschaft versu-chen, die Kosten ökonomisch sinnvoll, sozial ausgewo-gen und generationengerecht zu verteilen. Diese ehrgeizi-gen Grundsätze verfolgt die rot-grüne Bundesregierungseit 1998 mit großem Elan und mit großem Erfolg.Walter Riester – damit gehe ich auf Herrn Storm ein –hat mit der zusätzlichen, kapitalgedeckten Eigenvor-sorge einen Weg beschritten, den inzwischen alle Fach-leute und alle verantwortungsbewussten Politiker und Po-litikerinnen, aber auch immer mehr Bürger als richtigansehen. Walter Riester ging seinen Weg unbeirrt. DieserWeg war anfangs steinig. Jetzt aber befinden wir uns aufeiner asphaltierten Straße.
Für diese Leistung möchte ich Walter Riester an dieserStelle im Namen meiner Fraktion ein herzliches Danke-schön sagen.
Wenn Sie die Berichte der Arbeitsgemeinschaft für be-triebliche Altersversorgung lesen, werden Sie feststellen,dass die Riester-Rente mit dafür sorgt, dass die betrieb-liche Altersvorsorge in ihren unterschiedlichsten Arten ei-nen Boom in ungeahnter Höhe erlebt. Und das ist gut so;denn das wollten wir damit erreichen.Kritiker werfen uns vor, wir hätten mit dem Zertifizie-rungsgesetz ein bürokratisches Monster geschaffen. Die-ses Gesetz ist aber ausschließlich zum Schutz der Ver-braucher erarbeitet worden. Wer mit einfachen Mittelndasselbe Ziel zu erreichen glaubt, sollte im Bundestag ent-sprechende Vorschläge vorlegen. Bisher jedoch – das hatIhnen die Kollegin Bender schon gesagt – haben wir sol-che Vorschläge weder gehört noch gelesen.Ich bin froh, dass es diese Schutzvorschriften gibt.Denken Sie nur an die USA! Dort gibt es keinen Verbrau-cherschutz dieser Art. Die Folge ist, dass Pensionsfondsmit Hunderten von Milliarden US-Dollar verschwundensind, auch in der Unterwelt. Die Beitragszahler stehenjetzt ohne Alterssicherung da und sind mit 70 oder 80 Jah-ren gezwungen, wieder zu arbeiten. Eine solche Situationwollen wir unseren Menschen ersparen. Deswegen gibt esdas Zertifizierungsgesetz.Das Beitragssatzsicherungsgesetz war sicherlichkeine Rentenreform, sondern eine Anpassung der Renten-versicherung an die wirtschaftlichen Gegebenheiten.
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Im Übrigen hat die Politik diese Stellschrauben in jederWahlperiode verändert.Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie ha-ben in den Jahren von 1995 bis 1997 mit dem Wachstums-und Beschäftigungsförderungsgesetz, das in Wirklichkeitein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm war, den Bei-tragssatz von 18,6 auf 20,3 Prozent erhöht. Sollten Sie esvergessen haben, darf ich Sie daran erinnern, dass wir Ih-nen damals aus der Patsche geholfen haben, indem wir ei-ner Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunktzugestimmt haben. Die dadurch eingenommenen Steuer-mittel wurden der Rentenkasse zugeführt. Wäre dies nichtgeschehen, hätten Sie den Beitragssatz weit mehr anhebenmüssen, auf 21 Prozent. Sie sollten wissen: Wer unter die-ser Glaskuppel sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. An-sonsten fallen die Glassplitter auf ihn selbst nieder.In letzter Zeit wird behauptet, dass es keine Gerech-tigkeit zwischen den Generationen gebe. Das halte ichwirklich für absurd. Sinnigerweise wird dies oft von Men-schen behauptet, die sich an diesem Solidarsystem über-haupt nicht beteiligen. Es sind diejenigen, die nach demMotto leben: Wozu brauchen wir Kinder? Es sind diejeni-gen, die sich aufgrund ihres hohen Einkommens rundumprivat absichern können und sich aus der solidarischenGemeinschaft ausklinken. Auf den Ratschlag dieser Men-schen kann ich gern verzichten.Es ist klar, dass wir auch in Zukunft für die Erhaltungunseres Rentensystem einiges tun müssen. Ich will Ihneneinmal einige Punkte nennen:Erstens. Wir müssen alles daransetzen, dass in Zukunftauch ältere Arbeitnehmer bis zum 65. Lebensjahr be-schäftigt werden. Das Gutachten des Sozialbeirats sagtklar aus, dass das heutige Renteneintrittsalter in denneuen und alten Bundesländern bei 62 Jahren liegt, wennman die Zahl der Empfänger von Erwerbsminderungs-renten herausrechnet.
– Wenn Sie die entsprechende Passage genau lesen, dannstellen Sie fest, dass das nur sehr wenig angenommenwird. Von der Regelung betreffend das Brückengeld– darin bin ich mir sicher – werden auch nicht sehr vieleGebrauch machen; denn für den Einzelnen – ich glaube,auch Sie werden zu diesem Schluss kommen, wenn Siegenau nachlesen – bleibt nicht viel übrig. Diejenigen, diedavon Gebrauch machen können, sollen das natürlich tun.Sollte es uns gelingen, das Renteneintrittsalter bei al-len Renten um ein Jahr zu erhöhen, könnten wir den Bei-tragssatz um 1,3 Prozentpunkte senken. Sie sollten diesim Sondergutachten des Sozialbeirats zur Rentenreformauf Seite 21 noch einmal nachlesen; denn ich habe dasGefühl, dass manche, die hier gesprochen haben, diesenBericht überhaupt nicht gelesen haben.
Zweitens. Es muss uns gelingen, die in den nächstenJahren zu erwartende steigende Produktivität an der Re-form der Finanzierung unserer Sozialversicherungssys-teme in irgendeiner Form zu beteiligen. Ich hoffe und er-warte, dass dieser Aspekt von der Rürup-Kommissionaufgegriffen wird. Dort ist ja genügend Sachverstand ver-sammelt, um Vorschläge zu diesem komplexen Thema zuerarbeiten.Drittens. Es dürfen keine unnötigen Verwaltungskos-ten entstehen. Allerdings befürchte ich, dass uns hier wie-der der Föderalismus durch egoistische Machtansprücheeine sinnvolle Lösung vermasseln wird. Dabei ist eslängst Zeit, im Bereich der Verwaltung grundsätzlich um-zudenken. Das setzt allerdings den Willen bei allen Betei-ligten voraus, an einer drastischen Senkung der Verwal-tungskosten im Rentenbereich aktiv mitzuwirken. Wirleisten uns zurzeit – um das einmal protokollarisch fest-zuhalten – neun landwirtschaftliche Alterskassen, 23 Lan-desversicherungsanstalten, davon allein fünf in Bayern,eine knappschaftliche Alterskasse, die Bahnversiche-rungsanstalt, die Künstlersozialkasse und die Bundesver-sicherungsanstalt für Angestellte. Hier könnten durch Zu-sammenschlüsse Synergieeffekte erzielt und viel Geldeingespart werden.Ich glaube, wir sind bei der Rentenversicherung aufdem richtigen Weg. Es ist gut, dass uns dieses Thema auchin den nächsten Jahren weiter beschäftigen wird. Ich binauch froh, dass dies von der rot-grünen Bundesregierungbehandelt wird. Denn wenn ich mir die Vorstellungen derFDP zu diesem Thema anschaue, dann muss ich wirklichsagen: Heinrich, mir graut vor dir.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hildegard Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die einschlägigen Schlagworte sind auch heutewieder von diesem Rednerpult aus mehrfach angeklun-gen. Wenn man als Neuling im Bundestag in die Archiveschaut und sich die Protokolle und Drucksachen der ver-gangenen Legislaturperiode durchliest, dann stellt manfest, dass alle Rednerinnen und Redner immer wieder dendemographischen Wandel und die Verantwortung gegen-über künftigen Generationen ansprechen. Das darf offen-bar in keiner Debatte fehlen.Auch die uns heute von der Bundesregierung vorge-legten Berichte benennen das Thema jeweils schon aufder ersten Textseite. Auch Herr Dreßen hat sich – wennich Ihnen ein Arbeitszeugnis ausstellen darf – im Rahmenseiner Möglichkeiten bemüht.
Aber umso mehr muss es zum Nachdenken anregen, dassbislang alle von der Bundesregierung und der rot-grünenPeter Dreßen
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Hildegard MüllerKoalition in diesem Haus vorgelegten Anträge und Ge-setzentwürfe zu diesem Thema der Lösung dieses Pro-blems leider weiter aus dem Weg gehen. Wenn man sichdie Medienberichte der letzten Wochen dazu ansieht, dannkann man leicht den Eindruck gewinnen, dass einige Da-men und Herren noch immer nicht gemerkt haben, oder,Herr Dreßen, vielleicht auch nicht wahrhaben wollen, dasssich die Arbeitswelt in diesem Land bereits verändert hatund noch weiter verändern wird. Der 45 Jahre lang abhän-gig beschäftigte Arbeitnehmer gehört der Vergangenheit an.Auch zur Erinnerung: 1992 war noch jeder fünfte Bür-ger älter als 59 Jahre. Im Jahre 2040 wird es jeder drittesein. Allein dieses dramatische Zahlenverhältnis zeigtdoch schon, dass wir handeln müssen und nicht bloß mitIhren Rezepten weiter herumdoktern können.
Die Bundesregierung behauptet in ihrem Bericht, dieRentenversicherung modernisiert zu haben, um „die künf-tigen Herausforderungen insbesondere der demographi-schen Entwicklung meistern zu können“. In Ihrem aktu-ellen Rentenversicherungsbericht rechnen Sie sogar mitsinkenden Beiträgen bis 2006.Auch der Sozialbeirat mit Herrn Professor Rürup anseiner Spitze hat im vergangenen Jahr in einem Sonder-gutachten zur Rentenreform die Lage noch sehr optimis-tisch gesehen: Die neuen Anpassungsformeln reichen aus,um den Beitragssatz bis weit ins nächste Jahrzehnt unter20 Prozent zu halten.Angesichts der aktuellen Zahlen, die uns jetzt vorlie-gen, stellt sich schon die dringliche Frage, ob man überdiese Aussagen heute eher weinen oder lachen soll. IhreJahrhundertreform hat noch nicht einmal ein Jahr gehal-ten. Von nachhaltiger Entwicklung im Sinne der Generatio-nengerechtigkeit kann angesichts der heutigen Lage nichtmehr die Rede sein. Sie haben kein Strukturproblem gelöst.
Zur Erinnerung: Schon im Oktober drohte der Anstiegdes Rentenbeitrags auf 19,8 Prozent. Das Thema Schwan-kungsreserve haben wir bereits angesprochen. FrauBender, Sie haben gerade wieder erwähnt, wir würdenhier mit Blick auf den 2. Februar Wahlkampf machen. Sieverschweigen der Bevölkerung mit Blick auf den 2. Fe-bruar nach wie vor die wirklichen Zusammenhänge beimThema Finanzlage.
Nur eine Schwankungsreserve in ausreichender Höhegibt die Möglichkeit, konjunkturelle Anfälligkeiten zu be-seitigen. Wenn die Rente konjunkturanfällig ist – FrauBender, Sie sagen das ja und begründen auch immer wie-der, warum die Lage aktuell so ist –, dann dürfen Sie dieSchwankungsreserve nicht weiter absenken.
Sie sehen: Rot-Grün hat also auch schon jetzt eineneinzigartigen rentenpolitischen Offenbarungseid geleis-tet: Im Jahr 2001 zunächst eine Rentenreform, mit der sta-bile Beiträge bis zum Jahr 2030 versprochen worden sind,im Jahr 2002 ein getrickster Rentenbeitrag, der nur durchdie Absenkung der Schwankungsreserve stabil gehaltenwerden konnte,
und im Jahr 2003, Herr Dreßen, wird erneut getrickst; trotz-dem kann ein Anstieg des Rentenbeitrags nicht verhindertwerden.
Wir werden am Ende des Jahres 2003 sehen, dass das keindummes Geschwätz ist,
sondern der Wahrheit entspricht.
Mit solch einer unsoliden Rentenpolitik führt die Bundes-regierung die gesetzliche Rentenversicherung als tra-gende Säule der Altersversorgung in Deutschland immerweiter in eine Vertrauenskrise.Das ist leider das Gegenteil der so oft bemühten Ge-nerationengerechtigkeit. Die Rentenpolitik von Bundes-regierung und Koalition stellt eine einseitige Belastungder jungen Generation dar.
Die Lasten müssen aber gleichmäßig verteilt werden, umdadurch auch den jungen Menschen den notwendigenSpielraum für die private Vorsorge zu geben. Die Beiträgesteigen, das Rentenniveau sinkt und die private Alters-vorsorge ist zu bürokratisch angelegt, für viele nicht fi-nanzierbar.
Nun zum Beweis für diese Aussage; Herr Storm hatdazu auch schon etwas gesagt. Der Gesamtverband derVersicherungswirtschaft hat von nur 3 Millionen Verträgengesprochen. Da ist also nichts mit 18 Millionen Verträgen.Mit 5 Millionen Verträgen zur Riester-Rente ist gerechnetworden. Frau Ministerin Schmidt, Sie selbst haben nochim November gesagt, dass 4 Millionen private Rentenver-träge Maßstab für den Erfolg der Riester-Rente sind.
Danach ist selbst nach Ihren eigenen Kriterien die Renten-politik gescheitert, Frau Schmidt; geben Sie das endlich zu!
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Frau Bender, zum Verbraucherschutz gehört auch,dass die Menschen verstehen können, was sie abschließensollen. Vielleicht machen Sie sich einmal Gedanken da-rüber, warum so wenig Menschen entsprechende Verträgeabgeschlossen haben.
Verbraucherschutz heißt für mich auch Transparenz undKlarheit. Gerade bei Riester ist das nicht gegeben.
Da kann es nicht verwundern, dass die viel zitierte Ka-kophonie in der Koalition wieder losbricht. Ich erinnerenur an Herrn Berninger, der dringenden Reformbedarf beider Riester-Rente sieht. Von der Fraktionsklausur vonBündnis 90/Die Grünen am Wochenende hörte man, dassSie vor allem die betriebliche und private Altersvorsorgeweiter ausbauen wollen. Das ist generell ja löblich, aberdie aktuellen Gesetzesänderungen betreffen gerade dieseBereiche.Mit der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzehaben Sie in den Betrieben große Besorgnis ausgelöst.Das ist auch in der Ausschussanhörung am 12. Novembervon den Sachverständigen ausdrücklich hervorgehobenworden.
Gegen die Anhebung sprach nämlich eine grundsätzlicheErwägung. Zahlreichen Arbeitnehmern werden jetzt schlag-artig wesentliche Gehaltsbestandteile entzogen, die bislangfür die kapitalgedeckte Alterssicherung zur Verfügungstanden.
Insofern ergibt sich schon ein auffälliger Widerspruch zurIntention der angeblichen Rentenreform, nämlich derStärkung der kapitalgedeckten Säule der Altersvorsorge.
Heute stehen wir im Übrigen noch vor einem weiterenProblem. Sehr viele Formen der betrieblichen Altersvor-sorge nehmen implizit oder explizit auf die Beitragsbe-messungsgrenze Bezug. Das Resultat der Anhebungdieser Grenze ist, dass bei nahezu allen Durchführungs-wegen reale Verluste bei den Betriebsrenten entstehenwerden. Und da sprechen Sie, meine Damen und Herren,von einer Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge!
Auch wenn die Grünen noch so lange versuchen, derSPD die Rolle des reformunwilligen Besitzstandwahrerszuzuschreiben – Herr Dreßen, Sie zeigen gerade ein her-vorragendes Beispiel dafür –: Sie vonseiten der Grünenhaben die katastrophale Rentenreform mit zu verantwor-ten. Wer sich für Generationengerechtigkeit einsetzt, darfnicht beim geringsten Gegenwind einknicken.
Wir müssen die Ziele der Rentenreform endlich lang-fristig verfolgen, um zu einer ehrlichen, generationenge-rechten Rentenreform zu kommen. In die Rentenformelmuss wieder ein demographischer Faktor eingebaut wer-den. Für eine bessere Entwicklung sind realistische, zwi-schen den Generationen austarierte Annahmen vonnöten.Angesichts der veränderten Lage müssen wir die privateVorsorge wesentlich vereinfachen und dürfen sie nichtweiter bürokratisieren. Anders als bei der Riester-Rentedarf es keine weitere Bevormundung geben. Ansonstenwerden wir diese schwierige Aufgabe nicht lösen.Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Müller, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede in diesem Hohen Hause sehr herzlich und wün-
sche Ihnen ebenfalls persönlich und politisch alles Gute.
Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekre-
tär Franz Thönnes.
F
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werte Kollegin Müller, um bei dem Vergleich mit derSchule zu bleiben: Im Hinblick auf die Oppositionsarbeitbis zum 22. September des letzten Jahres stand im Zeugnisfür die Opposition „nicht versetzt“. Es ist in Ordnung, dassSie da sind, wo Sie jetzt sind: auf den Oppositionsbänken.
Das Sondergutachten des Sozialbeirats zur Rentenreformgibt der Regierung Recht: Was sich über Generationen be-währt hat, das wird sich auch in Zukunft bewähren: die So-lidarität der Jüngeren mit den Älteren und die eigene sozialeAbsicherung der Jüngeren in der gesetzlichen Rentenversi-cherung. Das Sondergutachten zeigt auch ganz deutlich– ich möchte einmal auf einige Inhalte der Rentenreformeingehen –: Die staatliche Förderung ist beachtlich, die Un-terstützung der Bezieher geringer Einkommen ist beträcht-lich – davon profitieren Frauen ganz besonders – und dasVorhandensein vielfältiger Fördermöglichkeiten ist positiv.Herr Kollege Storm, Sie haben sich darüber beschwert– aus diesem Gutachten haben Sie falsch zitiert –
– Sie haben eben von „Fördermöglichkeiten“ gesprochen;ich habe mir das extra aufgeschrieben –, dass die vielenFördermöglichkeiten das Ganze unüberschaubar ma-chen. Wer hat denn darauf gedrungen, dass möglichst vieleFördermöglichkeiten geschaffen werden? Wer hat denndarauf gedrungen, dass die Förderung des Wohnungs-eigentums aufgenommen wird?
Hildegard Müller
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003
Parl. Staatssekretär Franz ThönnesWir sind mit den Fördermöglichkeiten zufrieden. An denVerbraucherschutzkriterien wird nicht gerüttelt werden.
Die rot-grüne Rentenreform mit der Einführung derkapitalgedeckten und der Stärkung der betrieblichen Al-tersversorgung war ein ganz vernünftiger Kompromisszwischen mehreren Zielen: auf der einen Seite die Finan-zierbarkeit, auf der anderen Seite die Beschäftigungs- unddie Wachstumseffizienz, die Versorgungssicherheit, derAusgleich und die Generationengerechtigkeit.Werte Kollegin Müller, es wäre vielleicht ganz gut,wenn Sie zusätzlich zu den Protokollen der Beratungendes Bundestages auch dieses Gutachten etwas genauer le-sen würden. In diesem Gutachten steht auf Seite 18:Die Berechnungen für den „typischen Rentner“kommen zu dem Ergebnis, dass der demographischbedingte Rückgang der Rendite durch die Reformdeutlich gebremst wird. Die bei einem
Übergang von der Umlagefinanzierung zur Kapital-deckung stets unvermeidbaren Übergangskostenwerden also von den älteren renditemäßig vergleichs-weise günstiger gestellten Jahrgängen getragen.Insgesamt führt die Reform daher zu einer gleich-mäßigeren Lastenverteilung zwischen den Genera-tionen.Gleich danach ist zu lesen – ich sage das, weil Sie zu denjungen Abgeordneten des Hauses gehören –:Die Berechnungen zeigen, dass die „Gesamtrendite“für jüngere Generationen mit Reform – im Vergleichzu einer Fortführung des Status quo – höher liegt.Langfristig stellt sich eine Renditeverbesserung umetwa 18 Basispunkte ein. ...Also: Bleiben Sie an dieser Stelle redlich, bleiben Siewahrhaftig!
Wir haben mit der Rentenreform die Weichen in dierichtige Richtung gestellt. Allerdings wurde – das will ichnicht leugnen – zum Zeitpunkt der Verabschiedung derRentenreform für 2003 ein Beitragssatz von 18,7 Prozentgeschätzt.
Später, im Herbst, errechnete man bei gleicher Rechtslageeinen Beitragssatz von 19,9 Prozent.Die Ursachen für diesen Anstieg kennen wir: Die an-dauernde Konjunkturabkühlung seit Mitte 2001
hat auch die gesetzliche Rentenversicherung zu spürenbekommen. Seit dem Frühjahr gibt es 1,1 Millionen we-niger Beitragszahler in der gesetzlichen Rentenversiche-rung. Die Zahl der Arbeitslosen ist nicht zurückgegangen.Gleichzeitig ist die Lohnentwicklung hinter den Erwar-tungen und hinter den Prognosen zurückgeblieben. DieUrsache für die aktuelle schwierige Finanzlage der gesetz-lichen Rentenversicherung ist nicht eine unzureichendeRentenreform, sondern die Verschlechterung der globa-len und der nationalen Wirtschaftsentwicklung.
Deswegen lassen wir uns von Ihnen heute weder die Re-form noch das System zerreden.
Ich will nichts beschönigen. Die derzeitige Entwick-lung gefällt keinem, auch nicht der Bundesregierung.Jetzt aber den Kollaps der gesetzlichen Rentenversiche-rung zu prophezeien sowie Ängste und Zweifel an demSystem zu schüren ist unredlich und wird der Realitätnicht gerecht.
Nur zu Ihrer Erinnerung: Wie sah es denn aus, als Sieregierten und wir in der Opposition waren? Die letzte Le-gislaturperiode Ihrer Regierungszeit war doch durchwegdurch Abschwung geprägt. Schauen wir uns einmal an,wie sich da die Prognosen der Wirtschaftsdaten ent-wickelt haben:
Vom Oktober 1995 bis Frühjahr 1997, also ebenfalls in an-derthalb Jahren, wurden die Prognosen der wirtschaftli-chen Daten weit nach unten korrigiert. Waren Sie, HerrKollege Kolb, damals nicht Staatssekretär im Wirtschafts-ministerium? Trotz heftiger Einschnitte auf der Leistungs-seite – ich denke da insbesondere an das schon erwähnteWirtschaftsförderungsgesetz – musste der Beitragssatzvon 18,6 Prozent im Jahre 1995 auf 20,3 Prozent im Jahre1997 angehoben werden: in 18 Monaten plus 1,7 Prozent.
Als Notanker, um einen Beitragssatz von 21,3 Prozentzu verhindern, haben Sie dann noch die Erhöhung derMehrwertsteuer auf den Weg gebracht. Das heißt, inner-halb von fünf Jahren eine Anhebung des Beitragssatzesum 2,5 Prozent. Ich sage ganz bescheiden: Wir hätten unsin den viereinhalb Jahren unserer Regierungszeit mehrgewünscht als eine Reduzierung um 0,8 Prozent.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Abgeordneten Kolb?
F
Da wir uns trotz der gegenseitigen Kritik aufgrund derunterschiedlichen politischen Auffassungen schätzen,lasse ich sie zu.
1598
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003 1599
Das freut mich, Herr Staatssekretär; ich bedanke mich
auch ausdrücklich dafür. – Wenn Sie hier schon solche
Vergleiche anstellen, müssten Sie redlicherweise doch
auch sagen, dass die Menschen in diesem Lande in diesem
Jahr 17 Milliarden Euro Ökosteuer zahlen. Das entspricht,
wenn ich es richtig in Erinnerung habe, beim Rentenver-
sicherungsbeitrag etwas über 2 Prozentpunkten; diese
werden heute an der Tankstelle bezahlt.
Wenn ich dann zusätzlich noch die Erhöhung des Renten-
versicherungsbeitrags, die Sie vorgenommen haben, die
Absenkung der Mindestreserve und die Anhebung der
Beitragsbemessungsgrenze ins Kalkül ziehe, dann stelle
ich fest, dass Sie wirklich an den Problemen vorbeigear-
beitet haben und nicht in der Lage sind, für eine zu-
kunftsgerechte Ausgestaltung der Rentenversicherung in
diesem Lande zu sorgen. Stimmen Sie mir zu?
F
Werter Herr Kollege Kolb, mich wundert, dass Sie sich
überhaupt trauen, aufzustehen
und diese Frage in solch einem Zusammenhang stellen.
Ihnen geht es doch um die Senkung der Lohnnebenkos-
ten. Ich stelle hier fest: Wir haben von Ihnen einen Bei-
tragssatz von 20,3 Prozent übernommen und sind jetzt bei
19,5 Prozent.
Das heißt, die Lohnnebenkosten sind gesenkt worden.
Wie kann man sich vor dem Hintergrund, dass in Ihrem
Entschließungsantrag, den Sie heute vorlegen, steht,
dass Sie die Finanzmittel für die Schwankungsreserve auf
20 Milliarden erweitern wollen, überhaupt hier hinstellen
und so etwas sagen? Das entspricht zwei Beitragspunkten.
Wenn Sie hier fordern, 50 Prozent der gesamten Rücklage
für die Altersvorsorge auf die ergänzende Altersvorsorge
zu übertragen, dann bedeutet das eine Leistungskürzung
für die Betroffenen und eine Reduzierung von bisherigen
Standards.
Ich stimme Ihnen auch deswegen nicht zu, weil es uns
gelungen ist, die Lohnnebenkosten mit der sinnvollen Be-
steuerung von Energieverbrauch zu reduzieren und einen
Anreiz dazu zu geben, dass in dieser Gesellschaft mit Um-
welt und Natur sorgsamer umgegangen wird.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Storm?
F
Das betrifft ja nicht die Redezeit, Frau Präsidentin?
Nein.
F
Bitte, Herr Kollege Storm.
Herr Staatssekretär Thönnes, Sie haben eben erklärt,
die Lohnnebenkosten seien gesenkt worden. Wie stehen
Sie dazu, dass zum Jahresbeginn der Gesamtsozialversi-
cherungsbeitrag auf 42,1 Prozent gestiegen ist? Das ist ja
offenbar der höchste Wert, den wir in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland jemals hatten.
F
Das kann nicht sein, weil er am Ende Ihrer Regie-rungszeit doch auch bei 42,1 Prozent lag. Jetzt sind wir bei42 Prozent.
Das mag eine erste Antwort auf Ihre Frage sein, werterKollege Storm.Eine weitere Begründung ist in einer ähnlichen Ent-wicklung in den Jahren 2001 und 2002 wie zu IhrerRegierungszeit zu sehen: Die Schätzdaten, von denen dieBundesregierung bei der Festlegung ihrer politischen Ent-scheidungen ausgeht, basieren jeweils auf den Daten derFrühjahrsgutachten der führenden Wirtschaftsforschungs-institute, der Bundesbank und der OECD.
Alle haben bis zum Sommer des letzten Jahres noch einverbessertes Wirtschaftswachstum unterstellt. Noch imJuli hat der Vorsitzende des Sachverständigenrates für dieBegutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklungdie damaligen Annahmen der Bundesregierung zur Wirt-schaftsentwicklung im Wesentlichen unterstützt.Ich wiederhole meine Ausführungen, weil Sie sie vorhinoffensichtlich nicht verstanden haben: Die ökonomische
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Parl. Staatssekretär Franz ThönnesEntwicklung ist anders verlaufen, als dies die Wirtschafts-weisen und Gutachter vorausgesagt haben.
Ich habe betont: Es gab 1,1 Millionen Arbeitslose mehr,eine wesentlich geringere Wachstumsrate und damit auchwesentlich geringere Beitragsseinnahmen.
Die Annahme, dass ein Beitragssatz von 19,3 Prozentausreichen würde, konnte nicht gehalten werden. Ein ent-sprechender Druck zur Erhöhung des Beitragssatzes istausgeübt worden. Eigentlich hätte er um 0,3 Prozent-punkte höher sein müssen. Damit wären aber wieder dieLohnnebenkosten gestiegen. Das wollten wir nicht. Des-wegen haben wir das Beitragssatzsicherungsgesetz am20. Dezember 2002 hier im Deutschen Bundestag verab-schiedet, um auf einen Rentenversicherungsbeitrag von19,5 Prozent zu kommen – was Sie bis zuletzt blockierthaben. Hätten wir Ihre Blockade nicht überwunden, hät-ten wir heute einen Beitragssatz von 19,9 Prozent undauch die Lohnnebenkosten wären stärker gestiegen. Dieswäre unverantwortlich gewesen.Bei der Anhörung des Deutschen Bundestages hat Pro-fessor Ruland vom Verband Deutscher Rentenversiche-rungsträger noch deutlicher gesagt, selbst bei vorsichtigerAnnahme würde bei einem Beitragssatz von 19,5 Prozent
und einer Schwankungsreserve von 0,5 Prozent ein Si-cherheitskorridor bleiben und die Zahlungsfähigkeit derRentenversicherungen wäre auch in diesem Jahr gewähr-leistet. Nehmen Sie dies doch endlich einmal zur Kenntnis!
Nach vorläufigen Ergebnissen der Rentenversiche-rungsträger haben sich die Pflichtbeiträge im Jahre 2002gegenüber dem Jahr 2001 lediglich um 0,1 Prozentpunkteerhöht. Der konjunkturelle Verlauf blieb also auch im letz-ten Quartal flach. Noch im Oktober sind wir von einemAnstieg um 0,5 Prozent ausgegangen.Ich will die Risiken, die Einflussfaktoren, die eineRolle spielen, überhaupt nicht negieren: Sonderzahlungenin den Unternehmen sind zurückgeführt worden; Verrech-nungen von Tariferhöhungen sind erfolgt;
es hat einen Überstundenabbau durch Freizeitausgleichgegeben; es gibt die Flucht in Billigtarifverträge; es gibtdie Entgeltumwandlung. Man kann jetzt auch nicht vor-aussehen, welche Auswirkungen sich bei der Umsetzungdes Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst ergebenwerden und wie die Zahlung der Gehälter erfolgen wird.
Ich weiß, dass die bislang vorgesehene Reserve auf derBasis dessen, was wir Ende letzten Jahres festgelegt unddiskutiert haben, mit dazu beitragen kann, dass die Zah-lungsfähigkeit der Rentenversicherung gewährleistet ist.
Grundlage ist die Möglichkeit, Zahlungen aus den Mona-ten November und Dezember vorzuziehen.Ich möchte aber noch einen Punkt nennen, zu dem Siesich auf der Seite der Opposition auch hinsichtlich Ihrereigenen Argumentation Gedanken machen müssen. Siehaben im Frühjahr und Sommer letzten Jahres vorge-schlagen, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, die Mini-Jobs zu erleichtern und die Sozialversicherungsbeiträgehierfür zu senken. Sie haben angedeutet, dadurch würden500 000 bis 800 000 neue Arbeitsplätze entstehen.Bei der Umsetzung der Hartz-Konzeption haben wirzusammengearbeitet und einen wesentlichen Teil gemein-sam umgesetzt.
Dies tritt jetzt in Kraft. Was ist denn aus Ihrer Vermutunggeworden, dass es durch die Umsetzung der Konzeptionin diesem Bereich zu einer positiven Beschäftigtenent-wicklung kommen würde?
Sehen Sie doch jetzt die darin liegende Chance für eineVerbesserung auf dem Beschäftigtenmarkt.Wie Sie sich aufführen, erinnert es mich an einenAusspruch des italienischen Schriftstellers GiovanniGuareschi, der die schönen Geschichten von Don Camillound Peppone geschrieben hat.
Er hat gesagt: Kaum sieht einmal ein Optimist ein Licht,das vielleicht gar nicht da ist, dann kommt schon wiederein Pessimist daher und bläst es aus. – Dies machen Sieim Moment: Schwarzmalerei von vorn bis hinten, Jam-mern auf hohem Niveau.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Kolb?
F
Nein, eine Frage war ausreichend, werter KollegeKolb.
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Es ist auch jetzt nicht an der Zeit, aufgrund von Schwarz-malerei, von schlechten und noch schlechteren Progno-sen, als sie von vielen anderen draußen diskutiert werden,die Ziele, die zu erreichen wir uns vorgenommen haben,zu korrigieren. Die dazu notwendigen Daten liegen nochnicht vor. Die Wachstumsprognosen werden im Jahres-wirtschaftsbericht Ende dieses Monats formuliert wer-den. Ein vorläufiger Jahresabschluss der Rentenversiche-rungsträger wird wahrscheinlich nicht vor Mitte Februarvorliegen.Daten über die Beiträge des ersten Quartals 2003 wer-den wir erst am 10. April bekommen. Auch die Früh-jahrsgutachten der Wirtschaftsinstitute und die wirt-schaftliche Einschätzung der Bundesregierung werdenuns erst im April vorliegen. Es müssen gesicherte Datenvorhanden sein, um auf deren Basis einschätzen zu können,wie die Entwicklung am Ende aussehen wird. Erst dannkann man, wie ich glaube, eine Einschätzung vornehmen
Wir gehen, obwohl unser System häufig zerredet wird,davon aus, dass die umlagefinanzierte gesetzliche Renteauch in Zukunft die wichtigste Säule unserer Alterssiche-rung bleibt. Mit der Rentenreform ist Sicherheit und Ver-lässlichkeit für die Älteren und Bezahlbarkeit für die Jün-geren gegeben. Der Weg, den wir in Deutschland mit derRentenreform eingeschlagen haben, ist unumkehrbar. Dashat auch das Sondergutachten des Sozialbeirates be-wiesen. Die Rentenreform gibt den Menschen die Sicher-heit, dass das elementare Lebensrisiko im Alter auch inZukunft solidarisch abgesichert wird.Jetzt kommt es darauf an, gemeinsam darauf hinzuwir-ken, dass die 25-prozentige Erhöhung der Investitionen inBildung und Forschung und die 21-prozentige Erhöhungder Investitionen in Infrastruktur, also in Straße undSchiene – das alles sind Steigerungsraten seit 1998 –, er-folgen, dass die Mittelstandsoffensive umgesetzt wirdund dass Flexibilisierungen auf dem Arbeitsmarkt vorge-nommen werden. Wir müssen wieder der Überzeugungsein, dass wir es in diesem Jahr packen, dass wir voran-kommen und dass wir Deutschland gemeinsam aus dieserschwierigen Lage herausbringen.
Mit dem Jammern auf hohem Niveau, wozu Sie in diesemHause mit die besten Lehrer sind, muss endlich Schluss sein.
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege GeraldWeiß, CDU/CSU-Fraktion.Gerald Weiß (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das, was insbesondere die Kollegen Thönnes undDreßen vorhin hier geboten haben, kann nur mit Negie-rung der Wirklichkeit umschrieben werden.
Das, was Sie am Pult betrieben haben, ist eine Wirklich-keitsverweigerung.Herr Thönnes, wenn Sie sagen, die Wirtschaftsent-wicklung sei anders, sei schlechter verlaufen, dann kannich nur feststellen, dass sie wegen Ihrer Politik schlechtergelaufen ist.
Kommen Sie mir nicht mit dem Argument Weltwirt-schaft! Wenn uns noch etwas hoch hält, dann ist das derExportboom, den wir aufzuweisen haben.
Binnenwirtschaftlich haben Sie den Karren elend an dieWand gefahren, mit dem Ergebnis, dass wir mehr Ar-beitslose und weniger Wachstum haben.Die charmante Ministerin – heute schweigt sie – hat imAusschuss dargelegt, welche Folgen die Wachstums-schwäche hat. Beispielsweise 0,5 Prozentpunkte wenigerbeim Wachstum des Sozialprodukts bedeuten eine Ver-schlechterung der Rentenfinanzen um 600 MillionenEuro. Sie schaffen sich durch Ihre Politik, insbesonderedurch ständige Abgabenerhöhungen, Steuererhöhungenund die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge, dieProbleme selber, die Sie hier beklagt haben.
Meine Damen und Herren, ich dachte, ich stehe im Wald,als Sie sagten, wir würden – damit meinten Sie uns – dieLohnnebenkosten in die Höhe treiben. Ich frage Sie: IstIhre Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrages von19,1 Prozent auf 19,5 Prozent keine Steigerung der Lohn-nebenkosten?
Ist der Anstieg der Krankenversicherungsbeiträge um0,5 auf durchschnittlich 15 Prozent keine Steigerung derLohnnebenkosten?
Sie unterbrechen diesen Teufelskreis nicht, sondern ver-schärfen zunehmend das Tempo in dieser Spirale. Das istes, was insbesondere dem Mittelstand, aber auch unsererWirtschaft insgesamt das Leben schwer macht.
Sie wagen sogar zu behaupten, die Weichen seien rich-tig gestellt.
Frau Müller hat darauf hingewiesen: Von den Zahlen derJahrhundertreform ist nach einem Jahr keine einzige rich-tige Zahl mehr übrig geblieben. Alle Prognosen, alleProjektionen sind falsch. Frau Ministerin, Sie haben imParl. Staatssekretär Franz Thönnes
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Gerald Weiß
Ausschuss so treuherzig gesagt, es werde eng; aber eswerde reichen, wenn keine weiteren Risiken mehr eintre-ten. Die Risiken sind doch eingetreten!
Sie selber haben das vorhergesagte Wachstum von1,5 Prozent auf 1 Prozent zurückgenommen.
Alle Wirtschaftsforschungsinstitute sagen, es werde nochviel bescheidener und schlechter ausfallen. Das DIWspricht beispielsweise von nur 0,6 Prozent Wachstum. DieRisiken sind eingetreten. Sie werden mit dem Szenario,das Sie sich selbst zimmern, nicht zurecht kommen.
Wirklichkeitsverweigerung zeigt, was Sie über dieRiester-Rente gesagt haben. Ich verstehe nicht, wie HerrDreßen einen Boom bei der Riester-Rente erkennen kann,wenn nicht einmal ein Zehntel der Berechtigten – es istRiester-Rente und keiner geht hin –
dieses Instrument in Anspruch nimmt.Man kann analysieren – Kollege Storm und FrauMüller haben es eben getan –, woran das liegt. DieRiester-Rente ist zu bürokratisch; zwölf steife, kompli-zierte Kriterien, die niemand versteht.
Außerdem werden – das kann ich bei einer sozialdemo-kratisch geführten Bundesregierung nicht verstehen –Einkommensschwächere schwächer als Einkommens-stärkere gefördert.
– Das ist nicht wahr?
– Was nutzen den Leuten Prozente? Es geht um das, wassie cash einsetzen können und was nicht. Es ist so gere-gelt, dass die Verkäuferin 165 Euro Förderung erhält undihr Chef, der Filialleiter, das Vierfache.
Wenn Sie das sozial ausgewogen nennen, dann ist das eineneue sozialdemokratische Philosophie.
Als Herr Dreßen hier die Strukturprobleme – zum Teilrichtig – beschrieben und dann den Schluss gezogen hat,das faktische Renteneintrittsalter müsse erhöht werden,dachte ich, ich verstehe die Welt nicht mehr. Wir musstenIhnen doch eben im Bundesrat mühsam das Brückengeldwieder abhandeln, das ein Fanal für eine neue Frühver-rentung in Deutschland geworden wäre.
Außerdem haben Sie gesagt, die Struktur der Renten-versicherungsträgerschaft sei ineffektiv, wir hätten zuviele Rentenversicherungsträger usw. Sie regieren jetztbeklagenswerterweise im fünften Jahr und aus der not-wendigen Organisationsreform in der Rentenversicherungist bisher nicht einmal ansatzweise, geschweige denn er-kennbar etwas geworden.Sie können sich doch nicht an die Klagemauer stellen,wenn Sie in der praktischen Politik versagen. HerrThönnes, es war sehr billig, die Oppositionsarbeit so zu dis-qualifizieren, wie Sie es getan haben. Schauen Sie sich ein-mal die Bewertung der Arbeit der rot-grünen Regierung inder Demoskopie an. Sehr viel schlechter könnte sie nichtausfallen. Sie bekommen von den Menschen ein misera-bles Zeugnis,
weil sie keine Hoffnung mehr haben, dass Sie sie aus demSchlamassel herausbringen.
Ich war auch erstaunt darüber, dass Sie, Herr Thönnes,wesentliche Ergebnisse der Hartz-Kommission als Aus-weg aus der Krise dargestellt haben. Beispielsweise muss-ten wir das, was wir Ihnen im Rahmen des Laumann-Pa-piers, der Drei-Säulen-Konzeption, mühsam abhandelnmussten, im Bundesrat zunächst gegen Sie durchsetzen,bevor wir uns dann vernünftig geeinigt haben.An eigenen Leistungen und eigener positiver Anstren-gung ist bei Rot-Grün nichts zu erkennen. Damit wird dieUnsicherheit der Rentnerinnen und Rentner genährt. Diejunge Generation hat keine Perspektive. Arbeitnehmer undArbeitgeber müssen ständig mehr Steuern und Sozialab-gaben blechen. Daraus kann keine Perspektive erwachsen.Ich bin Frau Bender dankbar.
Wenn ich den Landtagswahlfilter einmal weglasse, hat siegesagt: Auch die Rentnerinnen und Rentner müssen sichdarauf einstellen, etwas zur Sanierung der Rente beizutra-gen. Das war die Ankündigung der nächsten Beschränkungder Rentenanpassung für die Rentnerinnen und Rentner.Wir rufen den Rentnern zu: Das kommt auf Sie zu! DieRentenanpassung wird verringert oder gar ausgesetzt.
So lautet die Botschaft von Frau Bender an die Bürgerin-nen und Bürger; das ist die Wahrheit vor dem 2. Februar,wenn man die Wahlkampfrhetorik einmal beiseite lässt.
Das haben die Menschen von Ihnen zu erwarten: nichtsaußer abermaligem Vertrauensbruch.Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache.
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Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/5394, 14/7639 und 15/110 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP aufDrucksache 15/318 soll an dieselben Ausschüsse über-wiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. HermannOtto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-LudwigThiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPZinsabgeltungsteuer einführen – Fluchtkapitalzurückholen– Drucksache 15/217 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDPfünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat ProfessorDr. Andreas Pinkwart, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Mit dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion wollenwir einen Weg aus einer, wie wir meinen, für den StandortDeutschland und für das Vertrauen der Bürger in den Recht-staat schwierigen Krise weisen, in die uns die Vorschlägeder Bundesregierung wie auch die öffentlichen Kampagnender Ministerpräsidenten Gabriel und Steinbrück in den letz-ten Wochen und Monaten geführt haben.
Hierzu gehören die Ankündigung der Abschaffung desBankgeheimnisses, die Einführung einer Wertzuwachs-steuer, flächendeckende Kontrollmitteilungsverfahrenund die Diskussion über die Wiedererhebung der Vermö-gensteuer. Das alles sind Anschläge, die das Vertrauen inden deutschen Kapitalmarkt beschädigen.
Wer auf Wahlplakate schreibt „1 Prozent Vermögen für100 Prozent Bildung“ – PISA lässt grüßen; ich möchtewissen, in welchem Rechenunterricht diese Gleichung jeaufgegangen wäre –,
der versucht – viel gefährlicher, wie ich finde –, risikobe-reites Kapital, das wir in Deutschland brauchen, gegen in-novative Köpfe auszuspielen. Wir brauchen aber genaudas Gegenteil. Wir müssen in Deutschland wieder risi-kobereites Kapital und innovative Köpfe zusammen-führen. Dann haben wir auch Geld, um unsere Schulenund Hochschulen wieder vernünftig ausstatten zu können.
In diese Richtung gingen die Beiträge der Experten wieauch der Verbände im Finanzausschuss. Diejenigen, diedabei waren, können das bestätigen. Sie sind ein Schlagins Gesicht rot-grüner Finanzpolitik.
Dabei – das festzuhalten ist mir als Liberaler besonderswichtig – tragen auch die Gesetzesvorhaben, die unsbisher vorliegen, dazu bei, den Datenschutz massiv insHintertreffen zu bringen. Es fehlt bei der Sicherung derSteuergerechtigkeit an einer datenschutzkonformen Ab-wägung zwischen den Verfassungsprinzipien einer geset-zesgerechten Steuererhebung und eines grundrechtlichenPersönlichkeitsschutzes.
Hierzu möchte ich die Erklärung der Datenschutz-beauftragten des Bundes und der Länder kurz auszugs-weise wiedergeben – ich darf zitieren, Frau Präsidentin –:Dass künftig auch verdachtsunabhängige Prüfungenin Banken angeordnet werden können, schafft den„gläsernen Bankkunden“ und erweckt den Anschein,als sei jeder Steuerpflichtige ein potenzieller Steuer-verkürzer. Das datenschutzrechtliche Prinzip, dassDaten grundsätzlich bei Betroffenen zu erhebensind – § 93 a AO –, wird außer Kraft gesetzt.Die Datenschutzbeauftragten weisen weiter darauf hin,dass die hier geplanten Kontrollmitteilungen dazuführen würden, dass die von einzelnen Bürgern abzuge-benden Daten zentral verwaltet würden und dass auf diesezentral verwalteten Daten mit Personenidentitätsnummernauch andere als die Finanzbehörden jederzeit zugreifenkönnten. Das ist der gläserne Bürger – George Orwell lässtgrüßen –, den wir Liberale nicht haben wollen.
Nicht nur die Datenschutzbeauftragten von Bund undLändern weisen auf die Lösung hin, eine Abgeltung-steuer einzuführen, wie sie in Österreich sehr erfolgreich– dort hat sie zu wachsenden Steuereinnahmen in diesemSegment geführt – erhoben wird. Auch die Deutsche Bun-desbank weist in ihrer Stellungnahme an den Finanzaus-schuss darauf hin, dass die bisherigen Vorlagen von Rot-Grün im Parlament nicht zielführend seien, sondern dasseine Abgeltungsteuer, wie wir sie Ihnen in unserem An-trag vorschlagen, den Weg weisen könnte.Deswegen fordern wir die Regierungsseite, die Fraktio-nen von SPD und Grünen, auf: Lassen Sie das, was Sie bis-her vorgelegt haben, sein! Ziehen Sie diese Teile des Geset-zes zurück! Legen Sie dem Parlament einen Gesetzentwurfeiner Abgeltungsteuer für Zinserträge, Kapitalerträge undVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
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Dr. Andreas PinkwartWertzuwachsgewinne vor! Dabei sollte es sich um eineabsolute, nicht um eine relative Abgeltungsteuer handeln;das heißt, es sollte einen klaren Verzicht auf Kontrollmit-teilungen geben. Dann könnten wir den zweiten Teil un-seres Antrags realisieren, nämlich Kapital aus dem Aus-land wieder nach Deutschland zurückholen, und könntenmit einer pauschalen Regelung für die Nachversteuerungund einer modifizierten Selbstanzeige erreichen, dass mehrMenschen bereit sind, diesem Land wieder ihr Vertrauen zuschenken und sich mit ihrem Kapital hier einzubringen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grundsätzlich sind Ein-sicht und Flexibilität positive Eigenschaften. Es ist des-halb prinzipiell sehr lobenswert, dass Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der FDP-Fraktion, die Initiativeunseres Bundeskanzlers vom 16. Dezember zum Anlassnehmen, heute einen eigenen Antrag zum Thema Abgel-tungsteuer im Deutschen Bundestag einzubringen. Ich binmit Gerhard Schröder und in diesem Fall auch mit Ihnender Meinung: Wir müssen über eine Abgeltungsteuernachdenken. Ganz ohne Zweifel wird sie einen erheb-lichen Beitrag zur Entbürokratisierung und zur Verwal-tungsvereinfachung leisten, und zwar sowohl bei denSteuerpflichtigen als auch bei der Finanzverwaltung.Sie bringt sogar eine Art Steuergerechtigkeit; denn alleinländischen Zinseinkünfte werden dann einer regulärenBesteuerung unterworfen. Allerdings führt sie zwangs-läufig auch zu einer Steuerungerechtigkeit, weil die Steu-erpflichtigen mit einem höheren Steuersatz als 25 Prozenteine mehr oder weniger große Entlastung bekommen.
Es bedeutet, dass künftig die Art der Einkünfte über denpersönlichen Steuersatz entscheidet: Wer Einkünfte ausVermietung erzielt, unterliegt im Höchstfall dem Spitzen-steuersatz; wer Zinseinkünfte aus Kapitalvermögen be-zieht, unterliegt dem Steuersatz von 25 Prozent. Aber ichgebe Ihnen Recht: Es stimmt ja: Was nützt eine Gerech-tigkeit, die nur theoretisch, nämlich nur auf dem Papier,besteht, weil Zinseinkünfte relativ leicht zu versteckensind und vielfach bei der Besteuerung hinterzogen werdenkönnen?Es besteht also Einigkeit, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der FDP: Das ist ein guter Vorschlag unseresBundeskanzlers.
Ich kann auch gut verstehen, dass Sie dies zum Anlassnehmen, Ihr eigenes Gesetz über die Zinsabschlagsteuervon 1992 mit gut zehn Jahren Verspätung reparieren zuwollen. Immerhin halten Sie selbst es ja für misslungen.Leider endet von hier ab die Übereinstimmung zwi-schen uns. Denn Ihr Antrag ist nicht durchdacht, er istnicht ausgewogen und er ist zum völlig falschen Zeit-punkt eingebracht worden.
Ich werde das an einigen Beispielen deutlich machen.Stichwort „Zeitpunkt“. Ihr Antrag ist einzig und alleinder Versuch, mit uns Hase und Igel zu spielen, wobei Sieuns offenbar die Rolle des „Mömmelmann“ zuweisenwollen. Dazu sage Ich: Ihren Möllemann behalten Sie malbesser selber.
– Ich kenne Ihre Art von Humor nicht, Herr Kollege.Manchmal sehen Sie so aus, als hätten Sie gar keinen.Der Bundeskanzler hat aus gutem Grund auf den21. Januar verwiesen. An diesem Tag werden die Wirt-schafts- und Finanzminister der EU dieses Thema be-handeln. Eines ist doch wohl klar: Gerade bei diesemThema bedarf es einer mit den europäischen Nachbarn ab-gestimmten Lösung. Der heutige Antrag kommt also zurUnzeit und ist schädlich für die deutsche Verhandlungs-position bei einer europäischen Lösung.
– Der Bundeskanzler hat sehr wohl und ganz bewusst
den 21. Januar genannt. Wenn Sie heute Morgen auf IhrenKalender geguckt haben, dann wissen Sie: Wir habenheute den 17. Januar.
Lieber Herr Kollege, wenn Sie keinen Kalender haben,dann tut mir das sehr Leid.
In Ihrem Antrag findet keinerlei Abwägung im Hin-blick auf Steuerpflichtige mit einem Steuersatz zwischen0 und 25 Prozent statt. Was ist mit Freibeträgen? Soll einKleinanleger künftig jeden Euro versteuern, damit alleinsgesamt weniger Steuern zahlen?
Was ist mit Freistellungen? In Ihrem Antrag heißt es – ichzitiere wörtlich –:Lediglich bei Beziehern kleinerer Einkommen miteinem niedrigeren Steuersatz als 25 % hat die abge-zogene Steuer weiterhin den Charakter einer Voraus-zahlung. Zu viel gezahlte Steuer kann bei der Steuer-veranlagung erstattet bzw. verrechnet werden.
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Frau Frechen, würden Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Pinkwart zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Ich möchte Sie fragen, ob nicht auch Sie den Satz: „Zu
viel gezahlte Steuer kann bei der Steuerveranlagung er-
stattet bzw. verrechnet werden“, der in unserem Antrag
steht, –
Den habe ich Ihnen gerade vorgelesen.
– so interpretieren wollen, dass derjenige, der einen nied-
rigeren Durchschnittssteuersatz als 25 Prozent hat, diese
Abgeltungsteuer natürlich zurückerstattet bekommt.
Herr Professor Dr. Pinkwart, genau diesen Satz habeich Ihnen soeben vorgelesen. Ich werde Ihnen diesen nocheinmal vorlesen und dann meine Anmerkungen dazu ma-chen: „Zu viel gezahlte Steuer kann bei der Steuerveran-lagung erstattet bzw. verrechnet werden.“ Danach musskünftig jeder Rentner, der Kapitaleinkünfte hat, eineSteuererklärung abgeben, um die Abgeltungsteuer erstat-tet zu bekommen. Das hat allerdings nichts mit einemFreibetrag zu tun, sondern nur mit einem Steuersatz von0 bis 25 Prozent.
– Moment, wieso eine derartige Hektik? Wir sind dochfast allein hier; wir haben Zeit.
– Ich habe noch eine Redezeit von 6 Minuten und 20 Se-kunden. Die nutze ich aus.
– Ich weiß, dass Ihnen die Wahrheit wehtut. Das warschon immer so.
Das bedeutet eine Menge mehr Bürokratie für die Steu-erpflichtigen. Es wird in Ihrem Antrag keinen Punkt ge-ben, von dem man sagen kann, dass er nicht mehr Büro-kratie bedeutet. Halten Sie ein solches Vorgehen wirklichfür zeitgemäß, Herr Professor Dr. Pinkwart? Das glaubeich nicht. Oder sind Ihre ständigen Forderungen nach ei-ner Vereinfachung wirklich nur Propaganda einer Spaß-partei?Was ist mit der Nichtveranlagung? Kein Wort dazu! Siemüssten eine ganze Menge nachbessern, um nur diesen ei-nen Punkt praktikabel zu machen.Schließlich ist Ihr Antrag nicht durchdacht: Sie wollenKapital aus dem Ausland zurückholen. Das ist nicht ver-werflich; darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Aller-dings hat Ihre Begründung eindeutig zu viel Meisterprosa.Ich erlaube mir, auch hier zu zitieren:Betroffen sind vor allem Bezieher von Einkünftenaus Schwarzarbeit,– allein die Tatsache, dass Sie die Einkünfte ausSchwarzarbeit wie eine achte Einkunftsart im Einkom-mensteuergesetz benennen, zeigt doch, wie sehr Sie dieseEinkünfte bereits verinnerlicht haben –
Inhaber von Fluchtkapital– haben Sie schon einmal Kapital auf der Flucht gesehen,vielleicht mit einer Mathilda über der Schulter oder einemRucksack und Wanderstab? Kapital kann nicht flüchten;das wird nur verschoben –
sowie Bürger, die aus Unwissenheit Zinsen nicht an-gegeben haben. Viele dieser Menschen möchtenGeld investieren, werden aber wegen der drohendensteuerlichen und strafrechtlichen Folgen abgehalten.Andere wollen ihren Nachlass regeln, aber den Erbendie steuerlichen Folgen ersparen.Man kämpft mit den Tränen vor lauter Mitleid mit denbedauernswerten Schwarzarbeitern und Kapitalflüchtlin-gen, die in das Ausland getrieben werden, weil sie hiernicht investieren können. Warum eigentlich nicht? Inves-titionen sind doch steuersparend!Sind die Tränen dann getrocknet, kommt das Kernpro-blem der von Ihnen genannten Zielgruppe: Schwarz er-worbenes Kapital, das schwarz im Ausland Früchte getra-gen hat,
soll jetzt weiß vererbt werden, ohne den Schwarzbestandzu schmälern.Das machen wir nicht mit.
Wir wollen aus gutem Grund die Repatriierung, aber nichtzum Nulltarif. Doch genau das wollen Sie. Der Betroffenesoll künftig nicht nur durch einen niedrigeren Steuersatzbelohnt werden, sondern soll auch noch selbst entschei-den können, wie viel Ehrlichkeit der Staat ihm zumuten
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Gabriele Frechenkann. Warum scheuen Sie denn Jahresbescheinigungenwie der Teufel das Weihwasser?
Selbst auf europäischer Ebene hoffen Sie ausgerechnetauf die Steueroasen Schweiz und Luxemburg, um eine eu-ropaweite gerechte Lösung zu verhindern.Bitte erzählen Sie uns jetzt nicht das Märchen vonBürokratie und Verwaltungsaufwand! Ich weiß aus mei-ner beruflichen Erfahrung allzu gut, dass die meisten Kre-ditinstitute diese Bescheinigungen schon heute ohne An-forderung ausstellen. Sie werden mir nicht erzählen wollen,dass es nicht möglich sein soll, das Ganze auf EDV-Basiszu machen und per Datenübertragung weiterzuleiten.Ohne die so genannten Kontrollmitteilungen auf eu-ropäischer Ebene lassen sich Kapitalströme überhauptnicht nachvollziehen. Auf denselben Wegen, auf denendas Kapital ins Ausland geschmuggelt wurde, käme esdann, wenn es opportun erscheint, wieder zurück.Sie schreiben, dass eine Amnestie aus Gerechtigkeits-gründen nicht infrage kommt. Das hört sich gut an, aberSie wissen so gut wie wir, dass diese Forderung ohneKontrollmitteilungen reine Augenwischerei ist. Zumin-dest die Vermutung liegt nahe, dass Sie genau diese Am-nestie wollen; Sie trauen sich nur nicht, das zuzugeben.Ein weiterer Aspekt bleibt völlig außen vor. Was ist mitdem Kapital, das bisher in Deutschland mit 30 ProzentZinsabschlagsteuer besteuert und in der Steuererklärungnicht angegeben wurde? Wir sprechen hier nicht über Ord-nungswidrigkeiten oder Kavaliersdelikte, wir sprechenhier über Steuerhinterziehung, also über den Abschied ausder Verantwortung für die Gemeinschaft auf Kosten derehrlichen Steuerzahler.
Das bliebe alles unaufgedeckt und würde künftig auchnoch mit niedrigem Steuersatz belohnt. Ein einfaches Bei-spiel macht das deutlich: In diesem Jahr hat ein Steuer-pflichtiger Zinseinkünfte von x. Im nächsten Jahr wird perAbgeltungsteuer die doppelte Menge Zinsen besteuert.Ohne Kontrollmitteilungen bekommt kein Finanzamt dieChance, die wundersame Geldvermehrung aufzudecken.Wie können Sie da erwarten, dass jemand freiwillig Strafebezahlt, wenn das Entdeckungsrisiko gleich null ist?Wir brauchen die Kontrollmitteilung als Möglichkeitdes Vergleichs. Alles andere würde einer Generalamnestiegleichkommen, die Sie doch angeblich gar nicht wollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren nur einigePunkte aus Ihrem Antrag, an denen sich zeigt, wieschlecht vorbereitet und wie wenig durchdacht er ist.
Hier musste mit Gewalt ein Termin gehalten werden, daskann man am Ergebnis ganz deutlich sehen.Wir werden über die Einführung der Abgeltungsteuerberaten, darüber gibt es keinen Zweifel. Der Bundeskanz-ler hat Hans Eichel gebeten, einen Entwurf vorzulegen.Ich bin überzeugt, der Bundesfinanzminister wird einenausgewogenen, durchdachten und diskussionswürdigenEntwurf vorlegen, der Europa einbezieht. Ihr Schnell-schuss war absolut überflüssig. Der richtige Termin istnach dem 21. Januar.So viel zu Ihrem Antrag, meine Kolleginnen und Kol-legen von der FDP-Fraktion.
Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die CDU/CSU-Fraktion ist im Grundsatz dafür, dasswir von der zurzeit geltenden Zinsabschlagsteuer zu einerZinsabgeltungsteuer übergehen. Wenn man das richtigmachte, wäre dieser Übergang ein wichtiger Beitrag zurEntbürokratisierung, der erhebliche Vorteile für dieBürger im Zusammenhang mit ihrer Steuererklärung, fürdie Finanzverwaltungen und die Banken brächte. Wennman es richtig machte, würde sogar Ihr Ziel, Herr Spiller– Sie haben sich dazu im „Handelsblatt“ geäußert –, dassKapital zurückkäme und uns weniger Kapital verließe,erfüllt werden. Dann bekäme man sogar mehr Steuer-einnahmen.Aber das, was Ihr Bundeskanzler vorgeschlagen hatund Sie hier praktizieren wollen, wird genau das Gegen-teil bewirken. Wer die Zinsabgeltungsteuer mit Kontroll-mitteilungen und endgültiger Auflösung des Bankge-heimnisses verbindet, wird keine Mark nach Deutschlandzurückholen und nicht verhindern, dass weiteres GeldDeutschland verlässt.Ich habe wie so oft wieder einmal meine Hoffnungenauf die Kollegin Scheel von den Grünen gesetzt, die im„Handelsblatt“ gesagt hat, sie habe erkannt, dass nach derEinführung von Kontrollmitteilungen kein Geld zurück-kommen wird. Frau Kollegin Scheel, das Problem ist nur,dass Sie in der Öffentlichkeit oft gute Sachen sagen, aberleider immer wieder falsch abstimmen. Ich befürchte,dass das auch diesmal wieder der Fall sein wird.Natürlich sollte man bei dieser Steuer den europä-ischen Gesichtspunkt nicht aus den Augen lassen. Natür-lich ist es wichtig, dass die Bundesregierung im Sinne ei-ner einheitlichen Lösung vorgeht. Aber Österreich undItalien haben gezeigt, dass man es alleine machen kann.Wenn man es richtig macht – diese beiden Länder haben esrichtig gemacht, nämlich nicht sozialistisch, sondern christ-lich-demokratisch –, erhält man sogar höhere Einnahmen.Wir müssen noch einen weiteren Aspekt besondersberücksichtigen: Der Übergang zu dieser Steuer würde er-hebliche Einbußen für die Kirchen bedeuten. Ich habehier noch keine Patentlösung. Ich sage aber sehr deutlich,dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir bei der Um-gestaltung die aus unserer Sicht berechtigten Interessender Kirchen berücksichtigen können. Deshalb ist für unsbeim Steuersatz von 25 Prozent noch nicht das letzte Wort
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gesprochen. Man muss ihn in diese Überlegungen einbe-ziehen.Genauso deutlich sage ich, dass die Freibeträge in die-sem Bereich erhalten bleiben müssen und dass – so, wiees auch im Antrag der FDP steht – die Leute, die wenigerSteuern als die zur Diskussion stehenden 25 Prozent zah-len, die Möglichkeit erhalten – dafür müssen sie einen An-trag stellen –, den überschüssigen Betrag zurückzube-kommen.Abschließend stelle ich für meine Fraktion fest: Wennman die Zinsabgeltungsteuer so wie in Österreich und so,wie wir sie wollen – entsprechend kommt es auch imFDP-Antrag zum Ausdruck –, ausgestaltet, ist sie ein her-vorragendes Instrument zur Entbürokratisierung. Sie führtdann dazu, dass weniger Geld Deutschland verlässt unddass Geld, welches aus Deutschland herausgeflossen ist,zurückkommt. Eine Zinsabschlagsteuer aber, die mit Kon-trollmitteilungen und der Aufhebung des Bankgeheimnis-ses verbunden wird, wird ähnliche Auswirkungen habenwie fast alles, was Sie steuerrechtlich angefasst haben. Siewird letztlich zu mehr Bürokratie und weniger Einnah-men führen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Bernhardt, ich kann mich Ihrer Überlegung, dass wirin diesem Zusammenhang eine Lösung für die Kirchenfinden müssen, nur anschließen. Auch ich bin der Mei-nung, dass wir hier eine vernünftige Lösung brauchen, diemit den Finanzministern der Länder abgestimmt werdenmuss, sodass es hier nicht zu einer Verschlechterung derEinnahmesituation der kirchlichen Einrichtungen kommt.Ich denke, hier können wir an einem Strang ziehen.Ich möchte jedoch sagen, dass die FDP vor der Erstel-lung des Antrages, den sie heute vorgelegt hat, leider nichtabgewartet hat, was am 21. Januar geschehen wird. Ichbedauere es sehr, dass es seit fast zwei Jahrzehnten nichtgelingt, auf diesem Gebiet international zu ähnlichen Steu-ersätzen zu kommen. Darüber hinaus gelingt es nicht, beiden Benachrichtigungen zu einem einheitlichen Verfah-ren zu gelangen.Ich habe heute im „Handelsblatt“ gelesen, dass sichEU-Finanzminister wie Geheimdiplomaten benehmenund dass beispielsweise der griechische KassenwartNikos Christodoulakis verschlossene Briefumschläge beiden Botschaftern der EU-Staaten verteilt, die ungelesen inden Finanzministerrat eingespeist werden sollen. Daransieht man, welche Sensibilität in diesem Thema steckt.Es ist zu hoffen, dass die Minister am kommendenDienstag erfolgreich sein werden. Allerdings hat sich mitt-lerweile herausgestellt, dass die Gefechtslage, wie es soschön heißt, zwischen Luxemburg und Großbritannien imEcofin-Rat äußerst schwierig ist. Man steht sich wiedermit Maximalforderungen gegenüber. Man kann nur hof-fen, dass es zu einvernehmlichen Ergebnissen kommt.Es ist abzusehen – man muss es im Moment sehr vageformulieren, weil wir alle keine Hellseher sind –, dassdem Wunsch der deutschen Seite nach einem grenzüber-schreitenden Informationsaustausch zwischen allen Be-teiligten in den nächsten Jahren nicht nachgekommenwird. Es wird wohl so sein, dass Länder wie Österreich,Belgien oder Luxemburg am Bankgeheimnis festhaltenwerden. Andere fordern für die Einführung neuer Rege-lungen einen Übergangszeitraum bis mindestens 2011.Irgendwo dazwischen werden wir eine Lösung findenmüssen.Nach dem 21. Januar werden wir auf der Basis derBeschlüsse des Ecofin-Rates weiter beraten. Natürlichsehen wir, dass die langjährigen Verhandlungen in deneinzelnen Ländern über die jeweiligen Interessen poli-tisch höher als die Notwendigkeit gewichtet werden, einfunktionsfähiges Informationsaustauschverfahren zwi-schen den Ländern im EU-Binnenmarkt zu errichten. Mitdiesen Schwierigkeiten haben wir zurzeit zu tun.Wir Grünen sind schon seit langem für eine Abgel-tungsteuer. Das ist kein Geheimnis. Ich bin der Auffas-sung, dass wir hier einen sehr einfachen, transparentenund klaren Weg wählen sollten. Bei diesem Angebot mussgut überlegt werden, ob Kontrollmitteilungen in diesemZusammenhang einen Sinn machen. Das muss man ab-wägen. In den nächsten Wochen werden wir uns in derKoalition im Laufe des parlamentarischen Verfahrens– vonseiten der Bundesregierung wird zur Abgeltung-steuer ein Gesetzentwurf eingebracht, über den wir, denkeich, in zwei oder drei Monaten beraten können – ent-scheiden müssen, welches System wir in Deutschland,eingepasst in die internationale Gemeinschaft, gesetz-geberisch umsetzen.Klar ist, dass es zu einer Entbürokratisierung kom-men muss. Die Abgeltungsteuer hat den Vorteil, dass sievon den Banken direkt abgeführt wird. Die Deklarierungin der Einkommensteuererklärung kann dann entfallen.Selbstverständlich – die Kollegin Frechen hat darauf hin-gewiesen – können diejenigen, die bei der heutigen Be-steuerung unter diesem Satz liegen, wieder so vorgehen,wie sie das bislang gemacht haben. Das heißt, diese Rege-lung ist für die Bezieher kleiner Einkünfte kein Nachteil.Das halte ich für ganz wichtig, weil diese Debatte sonstäußerst schwierig würde. Wir wollen einen Steuersatz mitAbgeltung, aber diese Regelung darf nicht zum Nachteilderer gereichen, die unter diesem Satz liegen. Sie müssenweiterhin die Möglichkeit haben, wie bisher abzurechnen.Abschließend noch eine Überlegung. Wir planen eineBrückenregelung für mehr Steuerlichkeit für diejenigen,die ihr Geld im Ausland angelegt haben. Ich will jetztnicht wieder die Schweiz nennen, aber es wird immer wie-der von den Schweizer Konten geredet. Manche behaup-ten sogar, die Schweiz sei fast komplett untertunnelt.
Wir wollen anderthalb Jahre lang mit einem gestaffeltenSteuersatz das Angebot machen, ohne StrafbewehrungOtto Bernhardt
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Christine Scheeldas Geld wieder zurück ins Inland zu bringen und es aufKonten in Deutschland anzulegen, um es dann in Zukunftwie jeder ehrliche Steuerbürger und jede ehrliche Steuer-bürgerin hier zu versteuern.Danke schön.
Ich hatte schon fast den Eindruck, dass in Ihrer Frak-
tion wegen des Überschreitens der Redezeit erste Randa-
lierungsoperationen stattfanden. Aber bevor ich Sie da-
rauf aufmerksam machen konnte oder musste, haben Sie
freundlicherweise Ihre Rede selber zum Abschluss ge-
bracht.
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Jochen-
Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! In dieser Debatte ist überhaupt noch nicht erläutertworden, warum wir über dieses Thema debattieren. DasGrundübel, weswegen wir uns doch über Kapitalbesteue-rung unterhalten müssen, ist doch, dass es in Deutschlandhöhere Steuersätze als anderswo gibt. Warum sollte je-mand sein Geld ins Ausland schaffen, wenn er es inDeutschland mit dem gleichen Satz versteuern könnte?Diese Diskussion hätten wir schon lange haben können,wenn Sie nicht von 1994 bis 1998 eine Regelung blockierthätten.
Wir freuen uns, dass der Bundeskanzler dieses Themaentdeckt hat. Es ist schon lange Teil unseres Regierungs-programms. Auch in unserem Programm war es schon im-mer enthalten. Ich hoffe, dass dieses Thema anders be-handelt wird als die Themen Rente und Ökosteuer, dassder Kanzler es nämlich zur Chefsache erklärt und Ver-sprechungen macht, nachher aber alles im Papierkorb lan-det. Auch vor dem Hintergrund des 21. Januar ist dieseDebatte genau richtig. Es ist doch wichtig, internationalein deutliches Signal zu setzen und zu sagen, was richtigist und was passieren muss.Wir wollen Steuerhinterziehung und Kriminalität nichtfördern. Uns geht es vielmehr darum – bei solchen Vor-haben haben Sie uns immer an Ihrer Seite –, dass Geld,das bereits bisher hätte versteuert werden müssen, abernicht versteuert wurde, einer Besteuerung zugeführt wird.Deswegen ist die Abgeltungsteuer ein richtiger Weg bzw.eine Brücke, um einen Schritt zurück aus der Illegalität zumachen. Meine Damen und Herren, es geht hier nicht– Sie haben versucht, diesen Eindruck zu erwecken – umeine neue Steuer. Wir wenden das System der Abschlag-steuer an, die nachher in das Verfahren einbezogen wird.Wenn man es richtig macht – die Beispiele Österreichund Italien sind genannt worden –, dann kann man aufdiese Art und Weise Kapital zurückholen, das erstens alsKapital für Investitionen zur Verfügung steht und daszweitens am Ende die Steuern erhöht.Aber man kann dies nicht machen, wenn die Grund-voraussetzung fehlt, nämlich das Vertrauen, das der Bür-ger, der sein Geld zurückholen soll, braucht. Damit spre-che ich den Punkt der Kontrollmitteilungen an. Wer wieSie den gläsernen Steuerbürger möchte – hier legen Sieüberhaupt keinen Wert auf Datenschutz und Ähnliches,auf das Sie sonst immer Wert legen –, der darf sich nichtwundern, wenn die Menschen nicht zurückkommen.Meine Damen und Herren, es geht um Folgendes: EinAbgeltungsteuersystem bedeutet, dass die Steuer von derBank abgeführt wird und dass die Sache damit sowohl fürden Fiskus als auch für den Steuerbürger ein für allemalerledigt ist. Wer aber wie Sie ständig über Steuererhöhun-gen spricht – der Erbschaftsteuer, der Vermögensteuer,der Ökosteuer, der Stromsteuer oder der Gassteuer –, dererzeugt beim Bürger sofort den Eindruck, dass er, wenn ereine Selbstanzeige und eine Kontrollmitteilung verlangt,nur ins Land gelockt werden soll und dass er, wenn er abererst einmal hier ist, richtig abgezockt wird. Das ist dochdie Diskussion, die Sie nach dem 2. Februar dieses Jahresführen werden.
Sie führen ständig Diskussionen über neue und höhereSteuern. Im Sommer haben Sie dieses Thema wegen derBundestagswahl nicht angesprochen. Danach ging es abersofort wieder los, zum Beispiel durch Frau Simonis undden nordrhein-westfälischen Finanzminister. Der DGBhat erst heute Morgen wieder erklärt, dass man sich nachdem 2. Februar dieses Jahres selbstverständlich wiederüber die Vermögensteuer unterhalten muss. Dann werdenwir uns auch wieder über die Kilometerpauschale, dasEhegattensplitting und all die anderen Themen, die Siejetzt nicht anspechen, unterhalten.Wenn man den Bürgern einen solchen Eindruck ver-mittelt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn nichtszurückkommt. Ich kann Ihnen sagen: Es wird nichtszurückkommen. Ganz im Gegenteil: Die Positionen, dieSie im Augenblick vertreten, werden sogar zu Steuer-mindereinnahmen führen. Denn dann wird das Geld, dasschon jetzt in Deutschland versteuert wird, nicht mehr zu48,5 Prozent versteuert, sondern nur noch zu 25 Prozent.Dies würde zu fast 4 Milliarden Euro Verlust führen. Gleich-zeitig würde es keine Einnahmen und keine positiven Aus-wirkungen geben. Das wäre also ein Minusgeschäft.Selbst dann, wenn die 100 Milliarden Euro – ich weißgar nicht, woher Sie diese Zahl nehmen; das ist wieder ei-nes Ihrer Luftschlösser – zurückgeholt werden könnten,wäre es immer noch ein schlechtes Geschäft. Zwar gäbees eine einmalige Einnahme in Höhe von 25 Milliar-den Euro. Aber die restlichen 75 Milliarden Euro würdenzu 1,5 bis 1,8 Milliarden Euro Steuereinnahmen führen,während Sie – ich habe es Ihnen eben vorgerechnet – durchdie Absenkung des Steuersatzes fast 4,5 Milliarden Euroverlieren.Deswegen kann Ihre Rechnung nicht aufgehen. Des-wegen geht insbesondere die Rechnung Ihres Wahlkämp-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003 1609
fers Gabriel nicht auf, der sich, nachdem er mit demThema Vermögensteuer – die Plakate „1 Prozent für100 Prozent Bildung“ waren schon geklebt – auf denBauch gefallen ist, jetzt aus den 25 Milliarden Euro Straf-steuer 2,5 Milliarden Euro für Niedersachsen ausrechnet.Meine Damen und Herren, auch dies ist ein einziges Luft-schloss und wird nicht zum Tragen kommen. Allerdingswird das Problem für Herrn Gabriel nicht besonders großsein, weil er nach dem 2. Februar dieses Jahres nicht mehrregieren wird. Deswegen wird er die Folgen auch nichtmehr tragen müssen.Aber, meine Damen und Herren, so einfach lassen sichdie Menschen nicht täuschen. Wenn Sie ein wahnsinnigdichtes Kontrollsystem einführen, dann vertreiben Sie dasKapital und ziehen es nicht an. Das Wichtigste, was manin diesem Bereich braucht, haben Sie verschenkt. Jetztkönnen Sie behaupten, was Sie wollen. Selbst die Grünenwerden sich nicht durchsetzen. Frau Scheel – sie ist wieimmer nicht anwesend, wenn man sie anspricht –
– Entschuldigung! – ist eben schon mächtig zurückgeru-dert. Das muss ich feststellen, wenn ich ihre Rede mit denAussagen vergleiche, die in der Presse geschrieben stan-den. Die Rede, die sie eben gehalten hat, klang sehr mo-derat. Sie sprach davon, dass erst alles geprüft werdenmüsse. In der Presse hat sie gesagt: Wir wollen das nicht;denn es ist falsch.Bleiben Sie doch endlich einmal bei Ihrem Standpunktund setzen Sie sich in der Koalition wenigstens an dieserStelle einmal durch! Sie könnten hier etwas Gutes bewirken.
Selbst vonseiten der Bundesbank – das sind Leute, die Sieberufen haben – heißt es, dass Kontrollmitteilungen Giftsind für den Versuch, Kapital zurückzuholen.Ich kann nur sagen: Folgen Sie der Linie unseres Re-gierungsprogramms! Folgen Sie der FDP und den Grü-nen! So werden wir in Deutschland Kapital zurückbe-kommen! Lassen Sie endlich Ihr Geschwätz überKontrollmitteilungen! Noch mehr Bürokratie für Staatund Bürger, noch mehr Steuern führen uns wirtschaftspo-litisch in die falsche Richtung. Dies wird gerade nichtdafür sorgen, dass Arbeitsplätze entstehen, die wir drin-gend brauchen. Deshalb: Schließen Sie sich uns an! Ge-hen Sie den richtigen Weg – Abgeltungsteuer ohne Kon-trollmitteilungen – und das Geld wird nach Deutschlandzurückkommen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir müssen noch die wichtige Entscheidung treffen,
ob wir dem interfraktionellen Vorschlag auf Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 15/217 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse zustimmen wollen. Ei-
nige wichtige Mitglieder des Hauses sehe ich schon hef-
tig mit dem Kopf nicken. Dies allein reicht aber nicht aus.
Ich darf nachfragen, ob Sie damit einverstanden sind. –
Das ist ganz offenkundig der Fall. Dann haben wir das be-
schlossen.
Wir sind zugleich am Ende unserer heutigen Tagesord-
nung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 29. Januar, 13.00 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und bis
zur nächsten Sitzung eine gute Zeit.
Die Sitzung ist geschlossen.