Protokoll:
14003

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 3

  • date_rangeDatum: 10. November 1998

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 16:58 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/3 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 3. Sitzung Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 I n h a l t : Gedenkworte für die Opfer der Naturka- tastrophe in den vier mittelamerikanischen Staaten El Salvador, Honduras, Guatemala und Nicaragua ................................................ 47 A Begrüßung des Beauftragten der OSZE für Medienfreiheit, Herrn Freimut Duve.............. 67 C Begrüßung des neuen Direktors beim Deut- schen Bundestag, Dr. Peter Eickenboom ..... 67 C Verabschiedung des Direktors beim Deut- schen Bundestag, Dr. Rudolf Kabel ............. 67 C Tagesordnungspunkt 1: Regierungserklärung des Bundeskanz- lers mit anschließender Aussprache........... 47 C in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 2: Antrag der Bundesregierung Deutsche Beteiligung an der NATO- Luftüberwachungsoperation über den Kosovo (Drucksache 14/16)....................... 47 C Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 47 C Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 67 D Dr. Peter Struck SPD ....................................... 80 A Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN............................................. 85 D Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 91 A Dr. Gregor Gysi PDS....................................... 96 D Michael Glos CDU/CSU ................................. 102 B Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD ............ 102 D Hans-Peter Repnik CDU/CSU..................... 103 A Joseph Fischer, Bundesminister AA................ 107 C Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg...... 112 B Dr. Helmut Haussmann F.D.P. ........................ 115 B Volker Rühe CDU/CSU .................................. 116 C Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe- rin BMZ....................................................... 119 A Wolfgang Gehrcke PDS .................................. 121 C Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 122 D Jürgen Koppelin F.D.P.. .............................. 123 B Gernot Erler SPD............................................. 124 D Rudolf Bindig SPD.......................................... 127 A Nächste Sitzung ............................................... 128 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten .......... 129 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 47 (A) (C) (B) (D) 3. Sitzung Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 Beginn: 9.00 Uhr
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    Rudolf Bindig Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 129 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Carstensen (Nordstrand), Peter Harry CDU/CSU 10.11.98 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 10.11.98 Hartnagel, Anke SPD 10.11.98 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 10.11.98 Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 10.11.98 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 10.11.98 Reichard (Dresden), Christa CDU/CSU 10.11.98 Schulte (Hameln), Brigitte SPD 10.11.98 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.11.98 Vaatz, Arnold CDU/CSU 10.11.98 Verheugen, Günter SPD 10.11.98 130 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 (A) (C) (B) (D)
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1400300000
Meine Damen und
Herren, die Sitzung ist eröffnet.


(Die Anwesenden erheben sich)

Eine beispiellose, in ihren Ausmaßen und Wirkungen

unvorstellbare Naturkatastrophe hat in der vergange-
nen Woche die vier mittelamerikanischen Staaten El
Salvador, Honduras, Guatemala und Nicaragua ge-
troffen. Die von einem Tropensturm ausgelösten Über-
schwemmungen, Erdrutsche und Schlammlawinen ha-
ben in diesen Ländern einen großen Teil der Ernten,
Nahrungsmittelvorräte und darüber hinaus fast die ge-
samte Infrastruktur vernichtet. In letzten Meldungen ist
von rund 12 000 Toten und 13 000 vermißten Personen
die Rede. 3 Millionen Menschen sind obdachlos und le-
ben unter freiem Himmel. Hunger und Seuchen bedro-
hen unmittelbar nach der Katastrophe die Überlebenden.

Die Zerstörung der Verkehrswege hat zur Folge, daß
Hilfslieferungen, die die internationale Staatengemein-
schaft und die Hilfsorganisationen leisten, nur mühsam
und verspätet zu den bedrohten Menschen geschafft
werden können. Die am stärksten betroffenen Länder
sind von der Katastrophe um mehrere Jahrzehnte in ihrer
Entwicklung zurückgeworfen worden.

Ich möchte an dieser Stelle an die Hilfs- und Spen-
denbereitschaft der deutschen Bevölkerung appellieren,
die notleidenden, von Hunger und Seuchen bedrohten
Menschen in den mittelamerikanischen Staaten weiter-
hin zu unterstützen. Vergegenwärtigen wir uns die dort
herrschende Not, so werden manche unserer Sorgen und
Probleme – sosehr sie uns auch im Einzelfall drücken –
ziemlich klein. Eine zusammenwachsende Welt macht
uns bewußt, daß Not und Elend, auch wenn sie weit von
unserer Haustür entfernt sind, uns nicht gleichgültig las-
sen dürfen.

Ich möchte die in Mittelamerika leidenden Menschen
unserer Hilfsbereitschaft versichern. Den Parlamenten
der betroffenen Staaten, den Verletzten, Erkrankten und
Hinterbliebenen drücke ich im Namen des Deutschen
Bundestages unser tiefempfundenes Mitgefühl aus. –

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der vorletzten
Woche ist unser ehemaliger Kollege und Vizepräsident

Heinz Westphal verstorben. Wir werden seiner in ei-
nem Staatsakt am 19. November 1998 gedenken. Die
Einladung geht Ihnen gesondert zu.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 1 und 2 auf:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit
anschließender Aussprache
Beratung des Antrags der Bundesregierung Deut-
sche Beteiligung an der NATO-Luftüberwa-
chungsoperation über dem Kosovo
– Drucksache 14/16 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend)

Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Generaldebatte im Anschluß an die Regierungs-
erklärung mit den Themenbereichen Europa, Außen-
und Sicherheitspolitik sowie Entwicklungspolitik und
Menschenrechte bis 16 Uhr dauern. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.


Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1400300100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstmals in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben
die Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbares
Votum einen Regierungswechsel herbeigeführt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grü-
nen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausend
zu führen. Dieser Wechsel ist Ausdruck demokratischer
Normalität und Ausdruck eines gewachsenen demokrati-
schen Selbstbewußtseins. Ich denke, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren, wir können alle stolz darauf
sein, daß die Menschen in Deutschland rechtsradikalen






(B)



(A) (C)



(D)


und fremdenfeindlichen Tendenzen eine deutliche Ab-
fuhr erteilt haben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


An dieser Stelle möchte ich noch einmal meinem
Vorgänger im Amt, Herrn Dr. Helmut Kohl, für seine
Arbeit und für seine noble Haltung bei der Amtsüberga-
be danken.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Die Menschen
erwarten, daß eine bessere Politik für Deutschland ge-
macht wird. Wir wissen: Ökonomische Leistungsfähig-
keit ist der Anfang von allem. Wir müssen Staat und
Wirtschaft modernisieren, soziale Gerechtigkeit wieder-
herstellen und sie sichern, das europäische Haus wirt-
schaftlich, sozial und politisch so ausbauen, daß die ge-
meinsame Währung ein Erfolg werden kann. Wir müs-
sen die innere Einheit Deutschlands vorantreiben; und
vor allem und bei allem: Wir müssen dafür sorgen, daß
die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt wird, daß bestehen-
de Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue Beschäfti-
gung entsteht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Dafür brauchen wir neue Unternehmen, neue Pro-
dukte, neue Märkte und vor allen Dingen schnellere In-
novation. Wir brauchen eine bessere Ausbildung und ei-
ne Steuer- und Abgabenpolitik, die vor allem die Kosten
der Arbeit entlastet.

Diese Bundesregierung wird die Probleme schultern,
und sie wird die schöpferischen Kräfte, die es in unse-
rem Land überreich gibt, mobilisieren.

Die Bedingungen, unter denen wir an den Start ge-
hen, sind alles andere als günstig.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Entgegen dem, was gelegentlich von der Opposition im
Haus verbreitet wird, hat uns die alte Bundesregierung
keineswegs ein bestelltes Haus hinterlassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Heidi Knake-Werner [PDS] – Lachen bei der CDU/CSU)


Das Ergebnis unseres vorläufigen Kassensturzes zeigt
den Ernst der finanzpolitischen Lage.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Verschuldung des Bundes ist auf weit über 1 Billion
DM getrieben worden. Der laufende Bundeshaushalt ist
mit Zinsverpflichtungen von mehr als 80 Milliarden DM
belastet. Das heißt, jede vierte Mark, die der Bund an
Steuern und Abgaben einnimmt, muß für diese gewalti-
gen Zinslasten ausgegeben werden. Hinzu kommt – ich

muß das sagen, auch wenn es Ihnen nicht paßt –: Milli-
ardenschwere Haushaltsrisiken wurden ignoriert;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Einnahmen wurden zu hoch veranschlagt; Ausgaben
wurden zu niedrig veranschlagt: Jahrelang hat man den
Haushalt nur durch Einmaleffekte ausgeglichen. Deren
Wirkung ist gleich wieder verpufft. Die großen Haus-
haltslasten aber, die schwerwiegenden strukturellen Pro-
bleme des Bundeshaushaltes, hat man einfach in die Zu-
kunft verlagert.


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Wie sieht es denn in Niedersachsen aus?)


Nach den jetzt ermittelten Zahlen müßte die jährliche
Neuverschuldung mittelfristig um bis zu 20 Mil-
liarden DM höher ausgewiesen werden, als Sie, Herr
Waigel, das im Finanzplan gemacht haben. Das ist Ihr
Problem, und das belastet jeden, der damit fertig werden
muß.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, das kann und will ich
nicht akzeptieren. Deshalb sage ich gleich am Anfang
dieser Regierungserklärung: Diese finanzielle Erblast,
die uns hinterlassen worden ist, zwingt uns zu einem
entschlossenen Konsolidierungskurs.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir werden angesichts dessen, was wir vorgefunden ha-
ben, um strukturelle Eingriffe nicht herumkommen. Alle
Ausgaben des Bundes müssen auf den Prüfstand.


(Zurufe von der CDU/CSU: Ah ja! – So, so!)

Der Staat muß zielgenauer und vor allen Dingen wirt-
schaftlicher handeln.

Der Mißbrauch staatlicher Leistungen muß einge-
dämmt werden. Subventionen und soziale Leistungen
werden wir stärker als bisher auf die wirklich Bedürfti-
gen konzentrieren.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns nicht,

daß wir alles in kurzer Zeit schaffen. Aber sie haben ei-
nen Anspruch darauf, daß wir nicht nur reden – wie das
bisher getan worden ist –, sondern auch handeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/ CSU und der F.D.P.)


Wir haben gesagt: Wir wollen nicht alles anders, aber
vieles besser machen. Daran werden wir uns halten. Das
sagen wir denen, die heute die Schlachten des Wahl-
kampfes noch einmal schlagen wollen. Das scheint auch
auf der rechten Seite des Hauses so zu sein. Nur, beson-
ders erfolgreich sind Sie nicht gewesen. Das werden Sie
zugeben müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Da gibt es diejenigen, die schon wieder Schwarzma-
lerei betreiben und diesen lähmenden Pessimismus ver-
breiten, der unser Land lange genug gehindert hat, die
nötigen Schritte zur Anpassung an die Wirklichkeit zu
tun. Aber das rufen wir auch denjenigen zu, die meinen,
das jetzt Beschlossene gehe nicht weit genug.

Wir wollen die Gesellschaft zusammenführen, die tie-
fe soziale, geographische, aber auch gedanklich-
kulturelle Spaltung überwinden, in die unser Land gera-
ten ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden Deutschland entschlossen modernisieren
und die innere Einheit vorantreiben. Voraussetzung da-
für ist eine schonungslose Beurteilung der Lage, aber
auch und vor allem das Besinnen auf die Stärken der
Menschen in unserem Land und das Zutrauen darauf,
daß wir es schaffen können.

Dieser Regierungswechsel ist auch ein Generations-
wechsel im Leben unserer Nation. Mehr und mehr wird
unser Land heute gestaltet von einer Generation, die den
zweiten Weltkrieg nicht mehr unmittelbar erlebt hat. Es
wäre nun gefährlich, dies als einen Ausstieg aus unserer
historischen Verantwortung mißzuverstehen. Jede Gene-
ration hinterläßt der ihr nachkommenden Hypotheken,
und niemand kann sich mit der „Gnade“ einer „späten
Geburt“ herausreden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Für manche ist dieser Generationswechsel eine große
Herausforderung. Schon ein Blick auf die Regierungs-
bank oder auch in dieses Parlament zeigt, was die große
Mehrheit unter uns politisch geprägt hat. Es sind die
Biographien gelebter Demokratie.

Wir haben den kulturellen Aufbruch aus der Zeit der
Restauration miterlebt und mitgemacht. Viele von uns
waren in den Bürgerbewegungen der 70er und
80er Jahre engagiert. Die ehemaligen Bürgerrechtsgrup-
pen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen
Sozialdemokraten die friedliche Revolution mitgestaltet
haben,


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


sind an dieser Regierung beteiligt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Generation steht in der Tradition von Bürger-

sinn und Zivilcourage. Sie ist aufgewachsen im Aufbe-
gehren gegen autoritäre Strukturen und im Ausprobieren
neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle. Jetzt ist
sie – und mit ihr die Nation – aufgerufen, einen neuen
Pakt zu schließen, gründlich aufzuräumen mit Stagna-
tion und Sprachlosigkeit, in die die vorherige Regierung
unser Land geführt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


An ihre Stelle setzen wir eine Politik, die die Eigenver-
antwortlichkeit der Menschen fördert und sie stärkt. Das
verstehen wir unter der Politik der Neuen Mitte.

Diesen Weg werden wir partnerschaftlich beschrei-
ten. Jeder im In- und Ausland kann sich darauf verlas-
sen, daß diese Regierung zu ihrer politischen, aber eben
auch zu ihrer sozialen Verantwortung steht. Die Hoff-
nungen, die auf uns ruhen, sind fast übermächtig.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber eine Regierung allein kann das Land nicht verbes-
sern. Daran müssen alle mittun. Je mehr Menschen sich
mit ihrer Initiative und ihrer Leistungsbereitschaft an der
Reform unserer Gesellschaft beteiligen, desto größer
werden die Erfolge sein.

Den Menschen in Deutschland mangelt es nicht an
schöpferischen Kräften. Wir werden helfen, sie zur Ent-
faltung zu bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, es ist kein Zweifel: Unser
drängendstes und auch schmerzhaftestes Problem bleibt
die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen
Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstruktu-
ren. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen
macht sie angst. Sie belastet unser Gemeinwesen derzeit
mit Kosten von jährlich 170 Milliarden DM.

Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren dar-
über, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung ver-
dankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu
können. Genau dieser Herausforderung werden wir uns
stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf den
Prüfstand, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeit si-
chert oder neue Arbeit schafft. Wir wollen uns jederzeit
– nicht erst in vier Jahren – daran messen lassen, in wel-
chem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
beitragen.

Die Steuerreform, mit der wir in diesen Tagen be-
ginnen, ist dazu ein erster Schritt. Wir werden nicht
weitere 16 Jahre über die Notwendigkeit einer Steuerre-
form reden und das Für und Wider der Interessengrup-
pen abwägen. Nein, meine Damen und Herren, wir ma-
chen diese Steuerreform.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Reform basiert auf der Einsicht in die ökonomi-
schen Notwendigkeiten. Sie verbindet modernen Prag-
matismus mit einem starken Sinn für soziale Fairneß. Im
Mittelpunkt steht die Entlastung der aktiv Beschäftigten
und ihrer Familien sowie der kleinen und mittleren Un-
ternehmer.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wann?)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Deren Innovationskraft wollen und werden wir stärken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Beides zusammen wird helfen, Arbeitslosigkeit abzu-
bauen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehende
zu sichern.

Unsere Steuerreform erschließt Entlastungen von ins-
gesamt 57 Milliarden DM.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wann?)

Nach der Gegenfinanzierung bleiben Bürgerinnen und
Bürgern sowie Unternehmen 15 Milliarden DM als
Nettoentlastung. Die Einkommensteuersätze werden
nachhaltig gesenkt, das Kindergeld wird erhöht. Über
die Legislaturperiode betrachtet, wird das einer durch-
schnittlich verdienenden Familie mit zwei Kindern eine
Nettoentlastung von 2 700 DM im Jahr bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Steuerschlupflöcher werden wir stopfen, ungerecht-
fertigte Vergünstigungen werden wir abbauen. Das
macht deutlich, daß wir die Lasten in unserer Gesell-
schaft gerechter verteilen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden auch die Unternehmensbesteuerung
grundlegend reformieren. Unternehmenseinkünfte sollen
mit höchstens 35 Prozent besteuert werden.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Ja, am SanktNimmerleins-Tag!)


Dafür schaffen wir jetzt die gesetzlichen Voraussetzun-
gen. Wir entlasten damit den Mittelstand, dem – ich sage
es noch einmal – eine Schlüsselrolle bei der Schaffung
von Arbeitsplätzen zukommt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, auch sonst haben wir ent-
gegen dem, was gelegentlich verbreitet wird, die Anlie-
gen des Mittelstandes berücksichtigt.


(Lachen bei der F.D.P.)

Der Verlustvortrag bleibt erhalten. Ein einjähriger Ver-
lustrücktrag bleibt ebenfalls noch für Verluste, die 1999
und 2000 entstehen und nicht mehr als 2 Millionen DM
betragen. Die Wiederanlage von Gewinnen aus der Ver-
äußerung von Grund und Boden und Gebäuden wird wie
bisher nach § 6 b Einkommensteuergesetz begünstigt.

Die Sonder- und Ansparabschreibungen für die Exi-
stenzgründer können unverändert in Anspruch genom-
men werden. Für kleine und mittlere Betriebe bleiben sie
bis zum Jahr 2000 erhalten.

Die Tarifermäßigung für Veräußerungsgewinne wird
durch rechnerische Verteilung des Gewinns nur umge-
staltet; sie wird nicht gestrichen. Damit werden zwar
– das gilt es einzuräumen – Verlustzuweisungsmodelle
eingedämmt, aber für die Betriebsnachfolge wird das
keine Verschlechterung bedeuten.

Wir werden – das ist schon an unseren ersten Schrit-
ten sichtbar – das Steuerrecht transparenter


(Lachen bei der CDU/CSU)

und damit effizienter machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Überflüssige Steuersubventionen sollen abgeschafft und
wertvolle Steuergelder nicht länger in unsinnigen Steu-
ersparmodellen verschwendet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einen
Satz zu der im Koalitionsvertrag angekündigten umfas-
senden Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sa-
gen. Interessierte Kreise haben ja so getan, als wollten
wir mit unserer Steuerreform den Unternehmern buch-
stäblich die Butter vom Brot nehmen. Dazu ist zu sagen,
daß in den vergangenen Jahren nur einige wenige von
Steuerentlastungen profitiert haben. Die große Mehrheit
hat unter Steuerbelastungen leiden müssen. Jede ver-
nünftige Steuerreform hat diesen von Ihnen verursachten
Trend erst einmal zu stoppen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Inzwischen melden sich – und das ist gut so – immer
mehr Ökonomen und weitsichtige Unternehmer zu
Wort, die sehen, daß diese Steuerreform für sie eine
große Chance ist. Sie sehen die Perspektive, die wir mit
unseren schrittweisen Entlastungen aufzeigen. Ich habe
überhaupt keine Scheu, den Begriff „schrittweise“ dick
zu unterstreichen. Für die Betroffenen im Land ist es
nämlich besser, sie bekommen schrittweise etwas in die
Hand, als daß sie über Jahrzehnte lediglich mit Rederei-
en vertröstet werden. In der Tat unterscheiden wir uns,
was das Machen von Politik angeht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen im Land sehen die Trendwende, die
wir eingeleitet haben: Entlastung und Vereinfachung
statt wie bisher immer höhere Sätze und immer weniger
Transparenz. Ich denke, alle diejenigen, die sich wirk-
lich mit inhaltlichen Fragen beschäftigen, nehmen be-
reitwillig unsere Einladung an, in einer gemeinsamen
Kommission über die Strukturreform des Steuerrechtes
begleitend zu beraten.

Eines will ich allerdings denen, die uns in den letzten
Wochen mit schrillsten Vorwürfen überzogen haben, sa-
gen: Niedrige und einfache Steuersätze wie zum Bei-
spiel in den USA zu wollen, gleichzeitig aber an einer
hohen Zahl von Ausnahmetatbeständen wie bisher in
Deutschland festzuhalten, das geht nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir werden – das ist Teil des Konzeptes zur Entla-
stung der aktiv wirtschaftlich Tätigen – die Nutzung der

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


wirtschaftlichen Ressourcen endlich marktwirtschaftli-
cher Vernunft unterwerfen. Deshalb steigen wir sofort in
eine ökologische Steuer- und Abgabenreform ein. Wir
vollziehen damit, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, eine längst überfällige Kehrtwende. Natur und
Energie als endliche und mithin knappe Güter werden
über den Preis verteuert mit dem einzigen Ziel, Arbeit,
die reichlich vorhanden ist, billiger zu machen, damit
mehr Menschen Arbeit haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich unterstreiche es auch hier noch einmal: Es geht uns
nicht um die Erschließung einer weiteren Einnahme-
quelle für den Staat.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit der Energiebesteuerung folgen wir dem Beispiel un-
serer Nachbarn in Dänemark, den Niederlanden und
Österreich. Wir lösen damit die Probleme einer moder-
nen Gesellschaft mit den Mitteln einer modernen Gesell-
schaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Einnahmen – das ist der Kernpunkt – aus der
Energiesteuer verwenden wir nur zur Senkung der ge-
setzlichen Lohnnebenkosten. Mit den Anreizeffekten der
Energiesteuer fördern wir die Schaffung neuer Arbeits-
plätze in nachhaltigen Zukunftstechnologien. Gerade bei
den Lohnnebenkosten ist über die Jahre hinweg über die
Notwendigkeit ihrer Senkung geredet worden. Unter der
alten Regierung sind sie Jahr für Jahr gestiegen. Wir
machen damit Schluß, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit führen wir im Rahmen dessen, was europäisch
machbar und – auch das gilt es zu erkennen – sozial
vertretbar ist, Marktwirtschaft in die Ressourcennutzung
ein. Wir setzen dabei auf die Beschäftigungseffekte ei-
ner zukunftsorientierten Produktion.

Das ist für uns moderne Steuer- und Wirtschafts-
politik. Wir streiten eben nicht um die Scheinalterna-
tive: Angebots- oder Nachfrageorientierung. Dieser
Streit führt nämlich zu nichts. Angebots- und Nachfra-
georientierung stehen nicht im Widerspruch zueinander.
Wir brauchen eine Nettoentlastung der Haushalte zur
Belebung der Binnenkonjunktur, damit die Menschen
auch kaufen können, was die Wirtschaft herstellt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Durch Marktöffnung und Entbürokratisierung, durch
die Förderung von Innovation und Zukunftsindustrien
verbessern wir die Angebotsbedingungen für Produkte,
neue Märkte und neue Verfahren. Beides gehört zu-
sammen. Das eine gegen das andere auszuspielen ist
töricht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen alle miteinander lernen, die Dinge zu
verknüpfen und in solchen Zusammenhängen zu den-
ken: Wir stehen nicht für eine rechte oder linke Wirt-
schaftspolitik, sondern für eine moderne Politik der so-
zialen Marktwirtschaft.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Bundesregierung macht endlich wieder Wirtschafts-
politik. Wir eröffnen den Menschen die Perspektive der
Selbständigkeit. Wer eine Existenz gründen, eine gute
Idee vermarkten will, dem werden wir nach Kräften hel-
fen. Wir wissen, daß unsere Banken bei der Bereitstel-
lung von Geld für Unternehmensgründungen immer
noch zu zögerlich sind. Sie nennen das Risikokapital.
Für uns ist das Chancenkapital, das Unternehmensgrün-
dern helfen soll. Darauf legen wir Wert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Neuesten Umfragen zufolge geben heute mehr als die
Hälfte derer, die demnächst die Schule oder die Univer-
sität abschließen werden, als Ziel die berufliche Selb-
ständigkeit an. Das wäre vor gar nicht so langer Zeit
noch undenkbar gewesen. Aber die neue Gründerzeit –
das ist auch gut so – hat längst begonnen. Wir als Regie-
rung haben ihre Zeichen begriffen, und wir werden dafür
Zeichen setzen.

Wir werden dies vor allem für den Mittelstand tun.
Moderne Mittelstandspolitik ist für uns: weniger Büro-
kratie, schnellere Innovation, besserer Zugang zu den
neuen Technologien, effizientere Vermarktung sowie
Hilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten.
Dies wird Kennzeichen einer mittelstandsorientierten
Politik der neuen Bundesregierung sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe darauf hingewiesen, daß das auch für die Entla-
stung von Steuern und Abgaben gilt.

Im übrigen: Wenn wir in der Altersvorsorge mehr
private Vorsorge wollen, dann müssen wir die Nettoein-
kommen auch so entlasten, daß sich die Menschen diese
private Vorsorge buchstäblich leisten können, sonst
funktioniert das nämlich nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir die Leistungsbereitschaft der Menschen

fördern wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sich
Leistung auszahlt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren von der F.D.P., das Pro-
blem besteht darin, daß Sie Leistung immer nur als die
Leistung ganz weniger ganz oben verstehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir verstehen Leistung in erster Linie als Leistung der
Krankenschwestern, der Ingenieure, als Leistung der
Facharbeiterinnen und Facharbeiter.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Die werden wir entlasten, meine Damen und Herren, auf
sie kommt es nämlich in dieser Zeit und in diesem Land
an.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das meinen wir, wenn wir von einer neuen Politik spre-
chen, einer Politik, die eben nicht in Kästchen denkt,
sondern die die Probleme im Zusammenhang begreift.

Deshalb sage ich: Unsere Steuerreform ist ein guter
Anfang.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber damit ist das Ziel eines überschaubaren und lei-
stungsgerechten Steuersystems nicht erreicht. Dieses
Ziel werden wir Schritt für Schritt verwirklichen, und
Sie werden jeden einzelnen Schritt aufmerksam und si-
cher auch kritisch begleiten dürfen – aber aus der Oppo-
sition heraus, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In den zurückliegenden Jahren ist viel über die Vor-
und Nachteile des sogenannten Standorts Deutschland
diskutiert worden. Der Begriff ist ein wenig verräterisch:
„Standort“, das kann auch – und das war es ja auch in
der letzten Zeit – „Stillstand-Ort“ sein. Wir machen die-
ses Land wieder zu einem Bewegungs-Ort.

Meine Damen und Herren, wir werden mit der Ener-
giewirtschaft und den Umweltverbänden neue Wege der
Energieversorgung beschreiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlich
nicht akzeptiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Sie ist mithin auch volkswirtschaftlich nicht vernünftig.
Das ist der Grund, warum wir sie geregelt auslaufen las-
sen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für die Bundesregierung steht dabei nicht ein Ausstieg
im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um den Einstieg in
eine zukunftsfähige Energieversorgung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Anteil der Kernenergie wird schrittweise reduziert
und schließlich ganz ersetzt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wann?)

Dies, meine Damen und Herren, ist ein gewaltiges

Investitionsprogramm, das auch und gerade neue Ar-
beitsplätze in diesen Bereichen schaffen wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei setzen wir vor allem auf die Innovations- und
Entwicklungspotentiale bei den erneuerbaren Ener-
gien. Wir setzen auf eine konsequente Nutzung der Ein-
sparmöglichkeiten: bei der Stromerzeugung, bei elektri-
schen Geräten, bei den Gebäuden, aber auch im Stra-
ßenverkehr. Mit der Energiewirtschaft werden wir aus-
kömmliche Lösungen zu einer Zukunft ohne Atom-
kraftwerke vereinbaren.

Die Koalitionspartner sind sich darin einig, daß die
Beendigung der Kernenergienutzung im Konsens erfol-
gen soll – ohne daß es zu Regreßansprüchen kommt.
Aus den Gesprächen der vergangenen Jahre wissen wir,
daß wir zu einer einvernehmlichen Lösung kommen
können. Sie ist an dem Widerstand – dem unverständli-
chen Widerstand – auf der rechten Seite dieses Hauses
gescheitert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle – das
gilt es zu erkennen – bleibt uns und unseren Nachkom-
men allerdings noch auf Jahrtausende erhalten.

Das bisherige Entsorgungskonzept ist inhaltlich ge-
scheitert. Wir werden statt dessen einen nationalen Ent-
sorgungsplan erarbeiten. Entsorgung wird auf direkte
Endlagerung beschränkt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Atommülltransporte quer durch die Republik, die
nur durch massiven Polizeischutz zu sichern sind, pas-
sen nicht zu einer auf Konsens und Zukunftsfähigkeit
ausgerichteten Demokratie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Allerdings gilt es hier zu bedenken, daß die vorherigen
Regierungen völkerrechtlich bindende Verträge über die
Rücknahme atomarer Abfälle abgeschlossen haben.
Auch das müssen wir mit unseren Partnern in England
und Frankreich einvernehmlich regeln. Wir wollen sol-
che Transporte nur noch dann zulassen, wenn am Kraft-
werk selbst keine genehmigten Zwischenlagerkapazitä-
ten existieren.

In einem neuen Energiemix werden wir auch Stein-
kohle und Braunkohle brauchen. Dabei drängen wir auf
die Verwendung modernster Technik mit hohen Wir-
kungsgraden und auf eine bessere Nutzung von Fern-
wärme und Kraft-Wärme-Kopplung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Den Kohlekompromiß vom März 1997 werden wir

umsetzen und in Brüssel absichern. Bei der sozial ver-
träglichen Neustrukturierung des deutschen Kohleberg-
baus brauchen wir rechtzeitig eine Orientierung auch für
die Zeit nach dem Jahre 2005. Es geht uns auch hier
darum, Planungssicherheit für die Unternehmen und
materielle Sicherheit für die Beschäftigten zu schaffen.

Die Klimaforscher und die vorbildlichen Unterneh-
men, die vor ein paar Tagen mit dem Bundesum-

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


weltpreis ausgezeichnet worden sind, haben der Politik
ins Stammbuch geschrieben – wir werden das beachten –:
Gerade beim Klimaschutz dürfen die Verantwortlichen
nicht auf Erkenntnisse über weitere Schädigungen unse-
rer Umwelt warten; sie müssen aktive Vorsorge treffen.
Wir werden das tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, der Staat und die ver-
schiedenen Wirtschaftszweige müssen ihre Zusammen-
arbeit verbessern, um auf diese Weise Synergieeffekte
besser nutzen zu können. Wo die Bundesregierung das
Ihrige dazu tun kann, da wird sie es tun.

Wir werden die Verwaltung schlanker und effizien-
ter machen, und wir werden hemmende Bürokratie rasch
beseitigen. Beispielsweise werden wir die Vielzahl ver-
schiedener Umweltbestimmungen in einem Umweltge-
setzbuch zusammenfassen. Dabei werden wir überflüs-
sige Vorschriften streichen und auf diese Weise die Re-
gelungsdichte vermindern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine grundlegende Justizreform werden wir zügig in
Angriff nehmen. Unsere Zivil- und Strafjustiz ist heute
noch aufgebaut wie vor hundert Jahren. Sie muß ent-
schlackt und sie muß modernisiert werden. Die Bürge-
rinnen und Bürger wollen und sollen schneller zu ihrem
Recht kommen, und die Gerichte müssen entlastet wer-
den. Auch um die Vereinfachung von Gesetzestexten
werden wir uns zielstrebig kümmern. Die Rechte der
Opfer von Verbrechen werden wir stärken. Dies gilt
ganz besonders für die Schwächsten in unserer Gesell-
schaft: mißbrauchte und mißhandelte Kinder.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wo immer das möglich ist, werden wir den Täter-
Opfer-Ausgleich stärken und die gemeinnützige Arbeit
als moderne Sanktionsform ausbauen. Es ist im Interesse
der Gesellschaft, daß vor allem Straftäter, die bislang zu
kurzen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, nicht zusätzli-
che Kosten für den Staat verursachen, sondern gemein-
nützige Arbeit leisten. Soweit die Gemeinschaft nicht
vor ihnen geschützt werden muß, sollen sie sich für die
Gemeinschaft nützlich machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Große Aufmerksamkeit richten wir auf die Förderung
der Verfahren zur Schlichtung. Es muß Schluß gemacht
werden mit der verhängnisvollen Entwicklung, immer
mehr zivile, soziale, wirtschaftliche oder sogar politi-
sche Streitfälle auf die Gerichte abzuwälzen. Die Mög-
lichkeiten, Streitfälle außergerichtlich zu regeln, werden
wir stärken und bürgernah ausgestalten. Wir verbinden
damit den Appell an Bürgerinnen und Bürger, aber auch
an Interessengruppen, diese Möglichkeiten auszuschöp-
fen, bevor die Justiz bemüht wird.

Ich sage es deutlich: Diese Bundesregierung will kei-
nen Bevormundungsstaat, nein, sie will einen Staat, der
die Menschen ermutigt. Aber den Staat schlanker und
effizienter zu machen, das darf nicht heißen, daß man
ihn dort schwächt, wo vor allem die Schwächeren auf
ihn angewiesen sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen deshalb einen Staat, der die Bürgerrechte
schützt und erweitert. Wir beharren auf dem Schutz der
Schwächeren durch das Recht und durch den Staat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will keine Gesellschaft, in der sich einige wenige
Schutz kaufen können und die Mehrheit Angst vor Ver-
brechen hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Deshalb sage ich: Härte gegen das Verbrechen und seine
Erscheinungsformen, aber eben auch Härte gegen die
Ursachen des Verbrechens, das ist meine, das ist unsere
Vorstellung von einem Staat, der seine Schutzaufgabe
erfüllt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Wir werden deshalb die Kriminalität in all ihren Er-
scheinungsformen entschlossen bekämpfen. Die Polizei
kann sich darauf verlassen, daß wir sie bei dieser Auf-
gabe unterstützen.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Chaostage! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Aber zugleich gilt: Eine gute Politik der inneren Sicher-
heit darf nicht auf Polizei und Strafrecht beschränkt
bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein eigenverantwortliches Leben setzt zuallererst
voraus, für sich selbst sorgen zu können. Wie sollen un-
sere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsere
Zukunft gestalten, wenn wir ihnen nicht einmal die
Möglichkeit geben, für sich selber zu sorgen? Hierin
liegt der Grund dafür, warum die Bundesregierung ein
Sofortprogramm auflegen wird, um 100 000 Jugendliche
so schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäfti-
gung zu bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich sage es noch einmal vor diesem Hohen Hause:
Gerade diejenigen, die die Jugendkriminalität zurück-
drängen wollen und dies mit aller Entschiedenheit mit
Hilfe des Staates durchsetzen wollen, haben auf der

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


anderen Seite die Verantwortung, jungen Menschen eine
Perspektive für Ausbildung und Arbeit zu geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir werden angesichts der Gefährdungen, die sich für
die gesamte Gesellschaft aus einem Mangel an Perspek-
tive ergeben, bei der Realisierung dieses Programmes
einen besonderen Schwerpunkt in Ostdeutschland set-
zen. Dies ist – zugegeben – ein erster Schritt, aber ein
eminent wichtiger, um dort helfen zu können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, Ziel einer aktiven Ar-
beitsmarktpolitik muß es sein, den Menschen eine Brük-
ke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen. Wir alle wissen,
daß eine gute Ausbildung die beste Voraussetzung für
eine gesicherte berufliche Zukunft ist. Unser duales Sy-
stem der Ausbildung ist noch immer vorbildlich in Eu-
ropa. Aber die schleichende Verstaatlichung der Ausbil-
dung muß aufhören.


(Lachen und Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Das ist so. Sie haben es noch immer nicht verstanden.
Das ist tatsächlich so. Sie werden es nie verstehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie interessiert das nicht.

(Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU)


Aber mich macht das besorgt. Daß Sie an den jungen
Leuten nicht interessiert sind, merkt man an Ihrem Ge-
brüll. Man merkt an der Art und Weise, wie Sie mit die-
sem Thema umgehen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


wie wenig Sie das Thema der Ausbildungsperspektiven
für junge Leute interessiert.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich sage Ihnen eines: Die Zahl der Ausbildungsplätze,
die die Wirtschaft zur Verfügung gestellt hat, ist in Ihrer
Regierungszeit kontinuierlich zurückgegangen. Das ist
das Problem, vor dem wir stehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das sollten Sie nicht lächerlich machen. Darüber sollten
Sie nicht lachen. Denn der wirkliche Skandal in unserer
Gesellschaft ist, daß die jungen Leute von Ihnen allein
gelassen worden sind. Das ist das Problem. Deshalb sind
Sie auch abgewählt worden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Daß Sie sich beim Thema Ausbildungschancen der jun-
gen Leute hier hinsetzen und so tun, als wenn Sie das
nichts anginge, das ist eine Schande. Sie sollten sich
schämen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Für uns jedenfalls ist klar – auch wenn das die rechte
Seite dieses Hauses nicht interessiert – –


(Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Da merkt man, welches Interesse Sie an diesen Fragen
haben.


(Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, für uns ist klar – in diesem

Punkt lassen wir uns nicht beirren –: Wirtschaft und öf-
fentliche Verwaltung stehen in der Pflicht, die Lehr-
stellenzahl zu erhöhen und nicht zu senken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen und wir werden erreichen, daß alle Ju-
gendlichen einen qualifizierten Ausbildungsplatz be-
kommen. Das ist ihre Erwartung an Politik, und die
werden wir erfüllen, sosehr Sie auch dagegen schimp-
fen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei der Mobilisierung der Ausbildungsplätze setze
ich auf die Mitarbeit der Wirtschaft. Ich weiß: Hundert-
tausende von Handwerksmeistern sowie kleine und
mittlere Unternehmen tun jedes Jahr ihre Pflicht. Aber
bei den großen Unternehmen muß zugelegt werden; das
gilt es gemeinsam zu erreichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich setze bei der Mobilisierung von Ausbildungsplätzen
darauf, daß wir keine Zwangsmaßnahmen benötigen. –
Jetzt könnt ihr auch klatschen!


(Heiterkeit bei der SPD)

Aber ich sage unseren Jugendlichen, daß ihr morali-

sches Recht auf Arbeit und Ausbildung – auch das muß
ausgesprochen werden – die Pflicht einschließt, Ange-
bote zur Berufsausbildung anzunehmen. Mobilität darf
kein Fremdwort in diesem Sektor sein oder werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch folgendes muß deutlich werden: Nicht jeder

wird seinen Traumberuf erlernen können. Wir werden
kein Volk von Bankkaufleuten und Versicherungskauf-
leuten werden können, bei allem Respekt vor dieser Be-
rufsgruppe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Im europäischen Vergleich brauchen junge Menschen
bei uns zu lange, bevor sie berufliche Verantwortung
übernehmen können. Uns geht es nicht um eine Verkür-
zung der Ausbildungszeit und schon gar nicht um eine
Verschlechterung der Ausbildung; es geht uns vielmehr
um eine bessere Verteilung der Ausbildung auf die Le-
benszeit. Das ist das, was im Vordergrund unserer Be-
mühungen steht. Ausbildung, Ausbildungsordnungen
und Ausbildungsinhalte werden wir flexibler gestalten.
Die Verbesserung und Modernisierung beruflicher Bil-
dung und Qualifikation sollte ständiges Gesprächsthema
im Bündnis für Arbeit sein.

Wir wollen uns fit machen für die europäische Wis-
sensgesellschaft. Darunter soll man sich nicht eine Ge-
sellschaft aus lauter Superhirnen und Weißkitteln vor-
stellen. Wissensgesellschaft, meine Damen und Herren,
das heißt für mich: Qualifikationsgesellschaft. Das be-
trifft die ganze Breite unserer Gesellschaft, das betrifft
alle Menschen und nicht nur die wissenschaftlich-
technischen Eliten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist der Grund, warum die Bundesregierung die
Aufgabe einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensive
rasch anpacken wird. Wir wollen bestmögliche Bildung
für alle, mehr Chancengleichheit, die Förderung unter-
schiedlicher Begabungen, mehr Effizienz, aber auch
mehr Wettbewerb.

Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung
von Eliten. Auch unsere demokratische Gesellschaft
braucht Eliten. Allerdings kommt es mir darauf an, was
man unter Elite und ihrer Herausbildung versteht. Ge-
prägt von eigener Erfahrung sage ich: Zur Elite gehört
man nicht durch die Herkunft der Eltern; zur Elite gehört
man durch Leistung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Eliten in einer Demokratie erwachsen aus gleichen
Chancen im Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Das
ist wichtig, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Sie erwachsen aus dem, was bei gleichen Zugangsvor-
aussetzungen zu den Bildungseinrichtungen der einzelne
in eigener Verantwortung daraus macht. Eines jedenfalls
muß gelten: Der Geldbeutel der Eltern darf nicht über
die Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das ist der Grund, warum wir bereits 1999 mit der Re-
form der Ausbildungsförderung beginnen werden. Wir
werden dabei alle ausbildungsbezogenen staatlichen
Leistungen zusammenfassen.

Die Hochschulen werden wir stärken. Sie müssen
Zentren der Ideenfindung und der Problemlösung sein.
Sie sollen nach unserer Auffassung auch Zukunftswerk-
stätten werden. Wir müssen den Trend zur Abwande-
rung unserer Grundlagenforscher stoppen und gleichzei-
tig die anwendungsorientierte Forschung nachhaltig för-
dern.

Wir brauchen eine bessere Bildungsplanung, und wir
werden sie machen. Denn wir können es uns nicht län-
ger leisten, daß ein bedenklich großer Teil unseres wis-
senschaftlichen Nachwuchses völlig vorbei an den Er-
fordernissen des Arbeitsmarktes qualifiziert wird.

Auch an Universitäten und Fachhochschulen muß es
Wettstreit geben. Konkurrenz belebt auch dort das Ge-
schäft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Die Hochschulen müssen viel stärker als bisher auch
zu Existenzgründungen ermuntern. Forschung und
Lehre sollen durch Budgetierung und mehr Autonomie
entbürokratisiert und so wettbewerbsfähiger gemacht
werden. Das Dienstrecht des Hochschulpersonals wer-
den wir umfassend modernisieren, um auch hier mehr
Anreize für Leistung und Innovation zu schaffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wir sollten uns nichts vormachen: Der Transfer von
Wissenschaft zur Wirtschaft liegt in Deutschland im ar-
gen. Die Transferzeiten, also die Umsetzung wissen-
schaftlicher Erkenntnisse in die Produktionswirklichkeit,
sind bei uns noch immer viel zu lange. Bei der Innovati-
onsgeschwindigkeit hinken wir hinter den USA, aber
auch den europäischen Ländern, die vergleichbar sind,
hinterher. Die USA verdienen jedes Jahr mehr als
30 Milliarden DM mit dem Export von Verfahren, von
Lizenzen und von Patenten ins Ausland. Unsere Wirt-
schaft hingegen muß heute mehr Ingenieurleistungen
importieren, als sie exportiert. Das kann, das darf nicht
so bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Forschung, Lehre und Wirtschaft haben sich viel zu
weit voneinander entfernt. Die Hochschulen stehen vor
Umwälzungen, die denen der 70er Jahre vergleichbar
sind. Dieser Herausforderung wird sich die Bundesregie-
rung stellen – wieder einmal, bin ich versucht zu sagen.
Wir werden die Investitionen in Forschung und Bildung
in den nächsten fünf Jahren verdoppeln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden auch auf europäischer Ebene die Anstren-
gungen bei der Entwicklung neuer Technologien ver-
stärken. Zusammen mit unseren Partnern wollen wir
transeuropäische Netze und eine moderne wissen-
schaftliche Infrastruktur schaffen.

Es ist schon richtig: Kreativität, künstlerische Phanta-
sie, handwerkliches Können, die geniale Idee, der Mut

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


zur bahnbrechenden Neuerung – all das kann vom Staat
nicht herbeiorganisiert werden. Es ist das Ergebnis eines
Prozesses von zahllosen kleinen Verbesserungen, an de-
nen Tausende von kreativen, phantasievollen, kundigen
und auch mutigen Menschen tagtäglich arbeiten. Deren
Bemühungen zu unterstützen ist eine unserer wichtig-
sten Aufgaben.

Auf die jungen Menschen – ich unterstreiche es noch
einmal – kommt es dabei ganz besonders an. Sie haben
die Chance, Erfahrungen zu machen, die die Älteren –
auch in diesem Hohen Haus – nie machen konnten. Wir
wollen, wir müssen und wir werden dafür sorgen, daß
sie nicht die Erfahrung machen, ausgeschlossen zu sein,
noch bevor sie in den Prozeß einsteigen konnten, den sie
eigentlich gestalten sollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber machen wir uns nichts vor: Die Bewältigung
des Jahrhundertproblems Arbeitslosigkeit kann nur ge-
lingen, wenn alle gesellschaftlich Handelnden dabei
mitmachen. Die eine, einzelne Maßnahme zur Lösung
des Problems gibt es nicht. Steuerpolitik, Abgabenredu-
zierung, Zukunftsinvestitionen und Tarifpolitik müssen
einander sinnvoll ergänzen. Erst im Zusammenwirken
aller volkswirtschaftlichen Akteure kann dauerhaft mehr
Beschäftigung entstehen. Ich betone: im Zusammenwir-
ken aller volkswirtschaftlichen Akteure. Das ist die Er-
fahrung, die man in anderen Ländern hat machen kön-
nen.

Das ist auch die positive Erfahrung, die in vergange-
nen Zeiten mit einem funktionierenden Modell
Deutschland gemacht worden ist. Die deutschen Unter-
nehmer stehen dabei ebenso in der Verantwortung wie
die Sozialverbände und die Gewerkschaften. Sie alle la-
de ich zu einem Bündnis für Arbeit und für Ausbil-
dung ein. Ich bin froh, bestätigen zu können: Das erste
Treffen wird bereits Anfang Dezember stattfinden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Bündnis wird als ständiges Instrument zur Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit eingerichtet. Ich weiß in-
zwischen, daß die Beteiligten meiner Einladung folgen
und ihren Teil der Verantwortung übernehmen wollen.
Ich erwarte, daß sich die Gesprächspartner vom Denken
in angestammten Besitzständen und von überkommenen
Vorstellungen lösen. Das, meine Damen und Herren, gilt
für alle Beteiligten.

Ich setze darauf, daß wir zu einer vorurteilsfreien Be-
urteilung der Lage kommen und daß unsere Diskussio-
nen vom fairen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen
geprägt sind. Bündnisse für Arbeit wirken bereits überall
mit Erfolg, in unseren Nachbarstaaten, aber auch in un-
gezählten Betrieben in unserem eigenen Land. Hier in
Deutschland haben sozial verantwortliche Unternehmer
und tüchtige, ökonomisch denkende Betriebsräte unsere
Mitbestimmung zu einem modernen, weltweit vorbildli-
chen Modell entwickelt. Dies werden wir verteidigen
und ausbauen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Bündnis für Arbeit ist der richtige Ort, um sich
den drängenden Fragen zu stellen: Welche Spielräume
kann die Abgabenpolitik des Staates, kann die Tarifpo-
litik schaffen? Was bedeutet es, die Sozialleistungen
stärker auf die Bedürftigen zu konzentrieren? Welche
Spielräume schaffen wir damit für Investitionen, und
welche Möglichkeiten bieten Instrumente wie Investiv-
lohn und ähnliches? Welche Chancen bieten sich für uns
alle, auch für die Beschäftigten, bei der Flexibilisierung
der Arbeitszeiten?

Ich erwarte auch, daß wir in diesem Bündnis für Ar-
beit und Ausbildung die einmaligen Gelegenheiten nut-
zen, die uns die neuen politischen Konstellationen in Eu-
ropa bieten. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit kann mit
dieser Bundesregierung nun endlich auch als europäi-
sche Frage behandelt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In bezug auf diese Frage haben unsere Partner in Europa
– bei allem Respekt vor sonstigem – lange gewartet.

Mit der Steuerreform, der Entlastung bei den Lohn-
nebenkosten und dem Sofortprogramm gegen Ju-
gendarbeitslosigkeit bringt die Bundesregierung gute
Vorleistungen in das Bündnis für Arbeit ein.


(Beifall bei der SPD)

Ich erwarte, daß auch die anderen wirtschaftlich Han-
delnden unserem Beispiel folgen. Die Menschen haben
ein Recht darauf, daß wir uns der Verantwortung stellen
und die Chancen entschlossen ergreifen, die uns ein
Bündnis für Arbeit in Deutschland, mitten in einem so-
zialer gewordenen Europa, eröffnet.

Niemand erwartet von diesem Bündnis Patentlösun-
gen. Aber alle stehen in der Pflicht, das Beste zu geben:
Zusammenarbeit, Zukunftswillen und Zuversicht – das
sind die Koordinaten des Bündnisses für Arbeit und
Ausbildung. Gelingen kann ein solches Bündnis nur,
wenn wir uns vorbehaltlos der Wirklichkeit stellen. Das
mindeste, was die Bürgerinnen und Bürger von uns ver-
langen können, ist der Wille zur Aufrichtigkeit, zur Be-
schreibung der Wirklichkeit. Wir dürfen auch vor unbe-
quemen Wahrheiten nicht haltmachen. Oft genug ist die
gesellschaftliche Wirklichkeit verdrängt worden, zuge-
deckt mit Lebenslügen und voreiligen Versprechungen.

Ich unterstreiche: Diese Bundesregierung sagt den
Menschen weder: „Alles ist schlecht“, noch sagt sie ih-
nen: „Alles wird gut.“ Aber sie sagt zum Beispiel, daß
es in diesem Land Menschen gibt, die unter den Bedin-
gungen nackter Ausbeutung arbeiten müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Daß solche Beschäftigungen illegal sind, daß sich oft
genug auch die Beschäftigten illegal hier aufhalten, das
ändert nichts an den menschenunwürdigen Zuständen,
die damit verbunden sind und die wir beseitigen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Diese Bundesregierung sagt auch, daß es in diesem
Land Arbeit gibt, gutbezahlte Arbeit, die an den Sozial-
systemen vorbei als „Schwarzarbeit“ angeboten – und
nachgefragt – wird. Niemand sollte diese Schwarzar-
beit verharmlosen oder aufhören, sie von Rechts wegen
zu bekämpfen. Sie ist und bleibt Betrug an der Solidar-
gemeinschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Aber es gilt zu erkennen, daß Schwarzarbeit erst dann
ganz verschwinden wird, wenn sich die reguläre, ver-
steuerte und sozialversicherte Arbeit wieder lohnt,


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

wenn die Menschen für ihre Arbeit wieder mehr Geld
ins Portemonnaie bekommen. Das ist der Sinn bei den
Entlastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir werden diese Entlastung vornehmen; Sie haben das
nicht getan.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Deshalb wird auch bei der Bekämpfung der illegalen
Arbeit der Satz gelten: Hart gegen den Rechtsbruch,
aber nicht minder hart gegen die Ursachen.

Wie für die innere Sicherheit so gilt auch für die so-
ziale Sicherheit: Wir wollen alles tun, damit sich alle
Bürger sicher fühlen können. Aber wir haben Grund zu
der Annahme, daß es die Systeme der sozialen Siche-
rung selbst sind, die durch ihre hohen Kosten immer
mehr Menschen in die Flucht aus diesen Sozialsystemen
treiben: in illegale, sozial nicht abgesicherte Arbeit oder
in Scheinselbständigkeit. Wenn das so ist, heißt das, daß
eine abstrakte soziale Sicherheit in immer mehr Einzel-
fällen konkrete soziale Unsicherheit produziert und daß
die Art, wie wir soziale Sicherheit organisieren, tatsäch-
lich Arbeitsplätze vernichten oder gefährden kann. Des-
halb müssen die Systeme und die Kosten der sozialen
Sicherung insgesamt auf den Prüfstand.

Wir werden die Augen vor solchen Wahrheiten nicht
verschließen, und wir werden auch Konsequenzen dar-
aus ziehen.


(Beifall der Abg. Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Erstmals, meine Damen und Herren, geht eine deutsche
Bundesregierung daran, mit staatlichen Mitteln die
Lohnnebenkosten zu senken. Die Entlastung der Ar-
beitskosten durch Senkung der Rentenbeiträge um
0,8 Prozent zum 1. Januar 1999 wird pünktlich in Kraft
treten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind darüber hinaus bereit, gezielt Sozialabgaben
zu bezuschussen, wenn dadurch weniger produktive Ar-
beit bezahlbar gemacht werden kann.

Das soziale Netz muß nach unserer Auffassung zu ei-
nem Trampolin werden. Von diesem Trampolin soll je-
der, der vorübergehend der Unterstützung bedarf, rasch
wieder in ein eigenverantwortliches Leben zurückfedern
können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das, meine Damen und Herren, meinen wir, wenn wir
sagen, daß es uns wichtiger ist, Arbeit zu finanzieren, als
Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


In diesen Zielen wissen wir uns übrigens mit der gro-
ßen Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland einig; wir
wissen sie hinter uns. Doch die Initiativen der Bundes-
regierung werden kaum ausreichen, den Kostendruck
entscheidend zu lindern. Bei einem gerechten Umbau
des Sozialstaates sind alle Beteiligten gefragt: die Ver-
sicherten wie auch die Verbände und die Versiche-
rungsträger, die Unternehmer und die Gewerkschafter.

Dabei werden wir uns von einem Grundsatz leiten
lassen: Die Stärke des Sozialstaates bemißt sich nicht an
den Milliarden, die er ausgibt. Sie muß sich beweisen an
der Qualität der Leistungen, die erbracht werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Un-
sere Gesellschaft erwirtschaftet genug, um sich den So-
zialstaat leisten zu können. Was wir uns nicht leisten
können, sind Ungerechtigkeit und Untätigkeit. Wir
brauchen die Menschen in Deutschland nicht auf „Blut,
Schweiß und Tränen“ einzustimmen. Die Menschen ha-
ben gezeigt, daß sie bereit sind zu teilen und zu geben.
Wie sonst, wenn nicht durch den Elan und die Solidari-
tät der Menschen im Osten und im Westen hätte es die
– bei allen Defiziten – doch beachtlichen Leistungen
beim Aufbau der Wirtschaft in den neuen Ländern
geben können? Ich sage ganz deutlich: Wir werden diese
Solidarität mit den Menschen im Osten des Landes auch
weiterhin brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer die dafür nötigen Leistungen zurückfährt, der ge-
fährdet das Erreichte. Wir sind noch immer weit entfernt
von gleichwertigen Lebensbedingungen in Ost und
West.

Das heißt konkret: Der Solidarpakt von 1993 wird
auch weiterhin das finanzielle Rückgrat des wirtschaftli-
chen Aufbaus bleiben. Wir werden die Maßnahmen der
aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die –
das kennen wir ja schon – vor der Wahl kurzfristig
hochgefahren wurden und jetzt, wenn nichts geschähe,
wieder ausliefen, auf dem bisherigen Niveau verstetigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Über Bildungs- und Qualifizierungsangebote wollen
wir möglichst vielen den Weg zurück in den ersten Ar-
beitsmarkt ebnen. Dennoch wird eine aktive Beschäfti-
gungspolitik auf relativ hohem Niveau im Osten
Deutschlands noch für eine ganze Weile notwendig und
unverzichtbar bleiben. Auch die bislang bis Ende 1998
befristeten Regelungen zum Investitionsvorrang für
Ostdeutschland werden wir fortführen. Diese Bundes-
regierung, meine Damen und Herren, weckt auch dort
keine Illusionen. Sie sagt, daß uns noch eine lange und
schwierige Wegstrecke des wirtschaftlichen Aufbaus in
den neuen Bundesländern bevorsteht. Aber sie zollt Le-
bensleistung und Biographien der Menschen im Osten
Achtung und hohen Respekt.

Die Anstrengungen werden sich lohnen, denn wir ha-
ben die Chance, überall in Ostdeutschland Regionen mit
ökonomischem und ökologischem Vorbildcharakter zu
schaffen, wirklich neue Wege zu gehen, statt Abziehbil-
der der alten Bundesrepublik herzustellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen in den neuen Ländern – auch das gilt
es zu erkennen – haben Deutschland auch und gerade
kulturell stark bereichert. Viele im Westen können und
sollten von ihrer Zivilcourage, ihrer Kreativität und ih-
rem Erfindungsreichtum lernen. Wir wissen, meine Da-
men und Herren, daß wir eine Nation mit einer gemein-
samen Kultur, Sprache und Geschichte sind, allerdings
auch eine Nation, die 40 Jahre Spaltung in getrennte
Staaten hat erdulden müssen.

Wir kennen die Mängel in den Regelungen über die
Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von
DDR-Unrecht, und wir werden die Härten beseitigen.

Gegen die Spaltung setzen wir den Willen zu mehr
Normalität im Umgang miteinander. Besserwisserei und
Larmoyanz, die Geringschätzung des anderen, seiner
Vorlieben, seiner Gewohnheiten, all das hat in einer
modernen Demokratie nichts zu suchen.

Was wir allerdings verbessern wollen und müssen, ist
die Zielgenauigkeit der Aufbau- und Fördermaßnah-
men. Die Bundesregierung wird ein Förderkonzept ent-
wickeln, das sich an drei Zielen ausrichtet: erstens der
Sicherung der Förderpräferenz für die neuen Bundeslän-
der, zweitens dem verstärkten Ausbau der infrastruktu-
rellen Versorgung insbesondere in den wirtschaftlichen
Problemregionen sowie drittens der Stärkung der Inno-
vationsfähigkeit der Unternehmen und dem Ausbau von
Finanzierungsformen, die den besonderen Problemen
ostdeutscher Unternehmen gerecht werden.


(Beifall bei der SPD)

Die Eigenkapitalbasis der Unternehmen im Osten

muß gestärkt werden.
Vor allem die jungen und noch nicht so finanzstarken

Kleinbetriebe in den neuen Ländern leiden existentiell
unter einer zunehmend laxer werdenden Zahlungsmoral.
Wir werden deshalb dafür sorgen, daß zahlungsunwilli-
ge Schuldner begreifen, daß schlechte Zahlungsmoral
sich auch finanziell nicht lohnt.

Wir wollen die Anstrengungen zur Sanierung und
Gestaltung der Städte verstärken und auch darüber
wieder mehr Menschen in Beschäftigung bringen.

Ich habe als Bundeskanzler erklärt, den Aufbau Ost
zur Chefsache zu machen. Die Kompetenzen dafür wer-
den gebündelt. Mir wird ein Staatsminister im Bundes-
kanzleramt zur Seite stehen, der vor allem für eine sehr
enge Koordination mit den Landesregierungen in den
ostdeutschen Ländern sorgen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das Bundeskabinett wird alle zwei Monate in einem

der neuen Länder tagen, um mit den dortigen Landesre-
gierungen die Lage zu erörtern und konkrete Projekte
auf den Weg zu bringen, die der Situation dort gerecht
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN)


Gerade in den neuen Bundesländern haben die Bürge-
rinnen und Bürger ihre ganz speziellen Erfahrungen mit
Dichtung und Wahrheit in der Politik gemacht.


(Beifall bei der SPD)

Sie haben deshalb einen Anspruch darauf, daß wir die

Probleme vor Ort beim Namen nennen, vor Ort Lösun-
gen entwickeln und sie dann auch zügig durchsetzen.
Realitätssinn und Reformwillen sind schließlich keine
Optionen, die wir nach Belieben umsetzen und aus-
schlagen könnten.

Kurz vor der Jahrtausendwende ist die Welt in bahn-
brechenden Veränderungen begriffen. Die Digitalisie-
rung des Wissens und der Produktion, die Globalisie-
rung der Waren- und Finanzmärkte zwingt uns zu An-
passungen und zum Umdenken, zum Abschied von lieb-
gewordenen Traditionen und Gewohnheiten. Das macht
vielen Menschen angst. Aber, meine Damen und Herren,
Angst haben müssen wir nicht vor der Veränderung,
Angst haben müssen wir nur davor, im Stau selbstge-
setzter Blockaden stecken zu bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Wirklichkeit unseres Erwerbslebens hat sich
drastisch verändert. Der schöne und viele Jahre Sicher-
heit verheißende Ausdruck, jemand habe nach der be-
ruflichen Qualifikation „ausgelernt“, hat seine Bedeu-
tung verloren. Das Weiter- und das Dazulernen sind
heute unabdingbare Anforderungen für jeden. Diese gilt
es zu realisieren. Aber sie sind auch eine Herausforde-
rung an die Neugier und Leistungsbereitschaft eines je-
den.

Dieser veränderten Realität muß sich auch unser So-
zialsystem anpassen. So werden wir bei der Rentenre-
form selbstverständlich die Zunahme der sogenannten
unsteten Erwerbsverläufe angemessen berücksichtigen.
Insbesondere Frauen dürfen eben nicht dafür bestraft
werden, daß sie ihr Leben flexibel gestalten, daß Phasen

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


der Kindererziehung, der Erwerbsarbeit und des Lernens
einander abwechseln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Meine Damen und Herren, wer das Lernen gering-
schätzt und die Möglichkeiten des Wissens nicht nutzt,
läuft in eine Falle. Wenn wir die ökologische Moderni-
sierung wollen, dann heißt das auch, daß wir die enor-
men Möglichkeiten, die uns die Bio-, die Medizin- und
die Gentechnik bieten, in verantwortbarem Rahmen nut-
zen und entwickeln wollen. Wenn wir den Weg in eine
Gesellschaft gehen wollen, die industriell stark, tech-
nisch innovativ, sozial gerecht und serviceorientiert ist,
dann können wir es uns nicht leisten, gerade die perso-
nenbezogenen oder die im Haushalt erbrachten Dienst-
leistungen als minderwertig zu diskriminieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Wir werden uns von der Vorstellung trennen müssen,
nur die in der unmittelbaren Produktion erbrachte kör-
perliche "Maloche" oder der Dienst im Büroalltag seien
wirkliche Arbeit. Unser Augenmerk gilt allen, die ge-
sellschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliches Wohl-
ergehen schaffen, den produktiv Beschäftigten ebenso
wie den vielen, die das Wagnis der Existenzgründung
auf sich nehmen, und genauso sehr denen, die sich um
die Belange der Menschen kümmern.

Haushaltshilfe und Altenbetreuung, Einpack- oder
Einpark-Service sind Dienstleistungen an der Allge-
meinheit, deren sich niemand schämen muß. Diejenigen,
die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen
und sie angemessen zu bezahlen in der Lage sind, wer-
den in unserer Gesellschaft immer mehr. Auch deshalb
werden wir die sogenannten 620-Mark-Jobs nicht ein-
fach abschaffen. Aber wir werden sie angemessen in die
Sozialversicherungspflicht einbeziehen.


(Beifall bei der SPD)

Die Grenze werden wir auf 300 DM festlegen. Da wir

gleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben, werden
diese Tätigkeiten nicht unzumutbar verteuert.

Man sieht daran: Die Bundesregierung erkennt aus-
drücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcher
Beschäftigungsverhältnisse an: sowohl für die Arbeitge-
ber als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und für die Verbraucher. Aber wir wollen
gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften den
Mißbrauch, der mit dieser Regelung betrieben worden
ist, ernsthaft bekämpfen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mehr Flexibilität im Arbeitsleben darf nicht auf Ko-
sten sozialer Sicherheit gehen. Vor allem darf sie nicht
zu Lasten der Frauen gehen, denen die Gesellschaft
schon immer mit größter Selbstverständlichkeit höchste
Flexibilität abverlangt hat. Wir müssen die Vorausset-

zungen dafür schaffen, daß Frauen, die es wollen, am
Erwerbsleben teilhaben können. Dabei haben wir nicht
nur gegen überkommene Strukturen in der Gesellschaft
zu kämpfen. Wir müssen auch ein Schul- und Betreu-
ungssystem schaffen, das die Lebenswirklichkeit mo-
derner Familien und von Alleinerziehenden ausreichend
berücksichtigt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Bundesregierung wird schon Anfang 1999 ein
Aktionsprogramm „Frau und Beruf“ initiieren. Wir wer-
den ein wirksames Gleichstellungsgesetz vorlegen, auf
Chancengleichheit bei der Ausbildung insbesondere in
zukunftsorientierten Berufen achten, Existenzgründerin-
nen besonders unterstützen und die Bedingungen für
flexiblere Arbeitszeiten verbessern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub werden wir zu
einem Elterngeld und zu einem flexiblen Elternurlaub
weiterentwickeln. Die Schaffung von größeren und bes-
seren Angeboten zur Kinderbetreuung werden wir unter-
stützen.

Aber ein solches Aktionsprogramm bleibt ein Trop-
fen auf den heißen Stein, solange wir nicht die objektive
Benachteiligung von Frauen aufheben, etwa in der Ren-
tenversicherung. Auch darüber ist viele Jahre geredet
worden, aber es ist nichts geschehen. Was geschehen ist,
hat die Lage der Menschen eher verschlechtert. Deshalb
sind wir auch hier gefordert, zu modernisieren und so-
ziale Gerechtigkeit wiederherzustellen.

Die Bundesregierung wird zunächst die von ihrer
Vorgängerin getroffenen Maßnahmen zur Verschlechte-
rung der Rentnerinnen und Rentner aussetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir sagen ausdrücklich „Maßnahmen“ und nicht „Re-
form“, denn die Reform liegt noch vor uns.


(Beifall bei der SPD)

Wir wollen den Begriff der Reform wieder in sein
Recht setzen. Reform – das Wort war einmal klar defi-
niert als Programm oder Projekt, das die Lebensverhält-
nisse der Menschen verbessert. So war das damals bei
der Einführung des Frauenwahlrechts vor – fast auf den
Tag genau – 80 Jahren, eine Reform, die August Bebel
und die Sozialdemokraten erkämpft hatten. So war das
auch in den 70er Jahren, als Sozialdemokraten und ihre
Bündnispartner unter Willy Brandt und Helmut Schmidt
tatsächlich „mehr Demokratie wagten“ und mehr Chan-
cengleichheit herstellten.

Heute stehen wir erneut vor der Notwendigkeit von
Reformen, die das Leben der Menschen verbessern sol-
len. Es geht nicht zuletzt darum, die gewaltig entfalteten
Produktivkräfte, den immensen Reichtum an Waren und
Dienstleistungen, den wir erwirtschaften, wieder in

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


einen sozialen, in einen sinnstiftenden Zusammenhang
zu integrieren; denn das ist verlorengegangen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das muß das große gesellschaftliche Projekt der Neu-
en Mitte sein: die ökologische und solidarische Erneue-
rung unserer Gesellschaft und Ökonomie zu einer mo-
dernen sozialen Marktwirtschaft. Daran werden wir ar-
beiten; das werden wir miteinander leisten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist auch der Grund, warum wir bei der Alterssi-
cherung eine echte Solidarität der Generationen, nicht
nur eine Solidarität der Berufsgruppen erzielen wollen.
Wir wollen einen mit Leben erfüllten Generationenver-
trag, keinen Vertrag zu Lasten der Arbeit. In diesem
Sinne werden wir dem Bundestag Vorschläge zur Re-
form der Alterssicherung vorlegen, die auf Solidarität,
aber auch auf die gesellschaftliche Realität abzielen.

Dabei geben wir eine dreifache Garantie ab: Wir
werden den heute in Rente lebenden Menschen ihre
Rente sichern und ihnen jedenfalls ihre ohnehin oft ge-
ringen Einkünfte nicht kürzen. Denjenigen, die heute in
die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sagen wir
zu, daß sie damit einen wirksamen und leistungsgerech-
ten Rentenanspruch erwerben. Denjenigen, die jetzt ins
Berufsleben eintreten, sichern wir den Umbau der Al-
terssicherung zu einem transparenten, zukunftsfähigen
Versicherungspakt zu.

Dieser Pakt wird auf vier Säulen stehen: Das sind die
gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Alters-
vorsorge, die private Vorsorge, deren Organisation vom
Staat, etwa in steuerlicher Hinsicht, ermutigt wird, und
die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer am Produktivkapital und an der Wertschöpfung in
den Unternehmen. Für den Nutzen der Reform, die wir
im Grundsatz vereinbart haben, gibt es auf der ganzen
Welt gute Beispiele; von denen können, von denen wer-
den wir lernen.

Bei der gesetzlichen Rentenversicherung müssen wir
die finanzielle Grundlage verbreitern und versicherungs-
fremde Leistungen staatlich finanzieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Bei den Lebensversicherungen werden wir für mehr
Wettbewerb und mehr Transparenz sorgen. Die zu-
kunftsfähige Erneuerung der betrieblichen Altersvorsor-
ge muß im Bündnis für Arbeit und Ausbildung fest ver-
einbart werden. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer am Produktivvermögen werden wir
unterstützen. Durch die Nettoentlastung der Lohn- und
Einkommensteuerzahler schaffen wir auch auf diesem
Sektor beachtliche Spielräume für die Tarifpartner.

Eine derartige Reform wird ihren Namen verdienen –
anders als die Rentenkürzungen und die weiteren sozia-
len Einschnitte, die wir noch in diesem Jahr aussetzen,

um Raum für wirklich zukunftsfähige Lösungen zu
schaffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Verschlechterungen beim Kündigungsschutz
und bei der Lohnfortzahlung werden wir – wie wir es
versprochen haben – zum 1. Januar 1999 aufheben.


(Beifall bei der SPD)

Im Gesundheitswesen werden wir die Belastungen

der Kranken, vor allem der chronisch Kranken und der
älteren Patienten, zurückführen. Die Zuzahlungen der
Versicherten bei Medikamenten werden ebenfalls zum
1. Januar 1999 gesenkt. Das sogenannte Krankenhaus-
notopfer wird ab sofort ausgesetzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch im Gesundheitswesen reichen die heute zur
Verfügung stehenden Finanzmittel für eine qualitativ
hochwertige Versorgung im Prinzip aus. Nicht die Ra-
tionierung in der gesetzlichen Krankenversicherung,
sondern die Rationalisierung in der Versorgung ist der
richtige Weg – und den werden wir gehen, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich weiß, die Tradition, die soziale Sicherheit zu wah-
ren, gilt heute manchen schon als revolutionär. Dafür die
traditionellen Mittel aufzuwenden wäre aber womöglich
reaktionär. Weder auf dem Renten- noch auf dem Ge-
sundheitssektor werden wir uns in diesem Widerspruch
verfangen. Wir stehen auch in diesen Bereichen für eine
Reform, die sich an den Realitäten orientiert.

Die Realität lehrt uns zum Beispiel, daß Deutschland
in den vergangenen Jahrzehnten eine unumkehrbare
Zuwanderung erfahren hat. Wir haben die Menschen,
die in den 50er Jahren zu uns kamen, eingeladen. Heute
sagen wir diesen unter uns lebenden Mitbürgerinnen und
Mitbürgern, daß sie keine Fremden sind. Zu Fremden
machen sich vielmehr diejenigen, die in unserem Land
den Fremdenhaß propagieren.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Das wollen wir nicht. Diesen verblendeten Minderheiten
setzen wir eine entschiedene Politik der Integration ent-
gegen.


(Beifall bei der SPD)

Den Zuwanderern, die bei uns arbeiten, sich legal in

Deutschland aufhalten, Steuern zahlen und sich an die
Gesetze halten, ist viel zu lange gesagt worden, sie seien
bloß Gäste. Dabei sind sie real längst Mitbürgerinnen
und Mitbürger geworden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Diese Bundesregierung wird deshalb ein modernes
Staatsangehörigkeitsrecht entwickeln. Es wird die
Voraussetzungen dafür schaffen, daß diejenigen, die auf
Dauer bei uns leben und deren Kinder, die hier bei uns
geboren sind, volles Bürgerrecht erhalten können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür seine
ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen müs-
sen. Deshalb werden wir eine doppelte Staatsbürger-
schaft ermöglichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der PDS)


Integration erfordert auch und gerade die aktive Mitwir-
kung derer, die sich integrieren sollen. Aber wir werden
denen, die dauerhaft hier leben, arbeiten, ihre Steuern
zahlen und die Gesetze achten, die Hand reichen, damit
sie sich in unsere Demokratie als Menschen auch wirk-
lich einbringen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

So nehmen wir die Wirklichkeit in Europa positiv zur
Kenntnis, so wollen wir das miteinander halten, und so
sollte es in Deutschland üblich werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unser Nationalbewußtsein basiert eben nicht auf den
Traditionen eines wilhelminischen „Abstammungs-
rechts“, sondern auf der Selbstgewißheit unserer Demo-
kratie. Wir sind stolz auf dieses Land, auf seine Land-
schaften, auf seine Kultur, auf die Kreativität und den
Leistungswillen seiner Menschen. Wir sind stolz auf die
Älteren, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut und
ihm seinen Platz in einem friedlichen Europa geschaffen
haben. Wir sind stolz auf die Menschen im Osten unse-
res Landes, die das Zwangssystem der SED-Diktatur ab-
geschüttelt und die Mauer zum Einsturz gebracht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewußtsein
einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-,
aber auch niemandem unterlegen fühlen muß,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt,
aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzuset-
zen, doch nach vorne blickt. Es ist das Selbstbewußtsein
einer Nation, die weiß, daß die Demokratie nie für die
Ewigkeit erworben ist, sondern daß Freiheit, wie es schon
in Goethes „Faust“ heißt, „täglich erobert“ werden muß.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns als
Deutschen um so besser trauen können, je mehr wir
Deutschen selbst unserer eigenen Kraft vertrauen.


(Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD])


Es waren in der Vergangenheit immer die gefährli-
chen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein, die zu
Extremismus und Unfrieden geführt haben. In diesen
Tagen ist es 80 Jahre her, daß der erste Weltkrieg zu
Ende gegangen ist. In Frankreich und Deutschland ist
damit das Gedenken an Leid und unsagbaren Schmerz
verbunden. Beide Völker sind deswegen unumkehrbar in
dem Bewußtsein geeint: „Nie wieder!“

Für uns Deutsche ist der gestrige Tag, der
9. November, geschichtsbeladen und ambivalent wie
kein anderer. Kein anderes Datum symbolisiert Stolz
und Schmerz, Freude und Schande in der Geschichte un-
serer Nation so sehr wie dieser 9. November. Es ist der
Tag, da die erste deutsche Republik entstand. Es ist der
Tag, an dem für Millionen von Ostdeutschen die Berli-
ner Mauer passierbar wurde. Aber es ist auch der Tag
der Reichspogromnacht, als 1938 Deutsche in verbre-
cherischem Rassenwahn im ganzen Land Synagogen
anzündeten, die Häuser und Geschäfte jüdischer Mitbür-
ger zerstörten und die jüdischen Mitbürgerinnen und
Mitbürger töteten.

Vieles, was die Väter und Mütter unserer Verfassung
konzipiert haben, geschah vor allem in Erinnerung an
diese nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Die
gemeinsame Geschichte verpflichtet auch uns. Aber in-
zwischen – das ist gut so – ist unsere Demokratie kein
zartes Pflänzchen mehr, sondern ein starker Baum. Die
Deutschen haben mit Hilfe ihrer Freunde und Verbün-
deten die staatliche Einheit in Frieden und Selbstbe-
stimmung vollenden können. Wir bekennen uns unein-
geschränkt zu unserer Verankerung im westlichen
Bündnis und in der Europäischen Union. Wir sind heute
Demokraten und Europäer – nicht, weil wir es müßten,
sondern weil wir es wirklich wollen, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Als Demokraten und Europäer wollen wir die Instru-
mente der Demokratie weiterentwickeln. Wir werden sie
an den Erfordernissen einer modernen Politik ausrichten,
die auf Partnerschaft und Dialog gegründet ist. Die de-
mokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und
Bürger werden wir stärken. Wir werden mit den Um-
weltverbänden über ein Verbandsklagerecht reden, das
nicht noch mehr politische Entscheidungen auf die Justiz
abwälzt, sondern die Beteiligung betroffener und sach-
kundiger Bürger schon im Vorfeld stärkt; darum geht es
uns.

Wir werden da, wo es geht, Gesetze mit einem Über-
prüfungsvorbehalt versehen und sie nach einem ver-
nünftigen Zeitraum der Erprobung erneut dem Parla-
ment vorlegen, um sie zu korrigieren oder auch zu be-
stätigen.

Wir halten es mit der Maxime des großen Philoso-
phen Ernst Bloch:

Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht wor-
den sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in
anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe.

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Nicht nur dein Denken, sondern vor allem das zu
Bedenkende hat sich unterdes geändert.

Daran orientieren wir uns, wenn wir sagen: Wir wollen
uns den Realitäten stellen und wieder einmal mehr De-
mokratie praktizieren.

Meine Damen und Herren, es ist heute eine lebendige
und stabile Demokratie, die wir beim Umzug der Ver-
fassungsorgane nach Berlin mitnehmen. Die Baumaß-
nahmen dafür werden zügig zu Ende geführt, und die
Bundesregierung wird helfen, die Voraussetzungen zu
schaffen, die Berlin braucht, um seiner Aufgabe als
Hauptstadt gerecht zu werden. Insbesondere die städte-
bauliche Neuordnung der Berliner Mitte werden wir
unterstützen.

Aber es geht ja um mehr als um einen Umzug, meine
Damen und Herren. Es geht auch hier um einen Auf-
bruch. Wir gehen übrigens nicht nach Berlin, weil wir in
Bonn gescheitert wären. Ganz im Gegenteil! Das
40jährige Gelingen der Bonner Demokratie, die Politik
der Verständigung und guten Nachbarschaft, die
Leuchtkraft eines Lebens in Freiheit haben dazu beige-
tragen, die deutsche Teilung zu überwinden und das zu
ermöglichen, was wir heute gemeinhin „Berliner Re-
publik“ nennen. Jürgen Habermas und viele andere er-
hoffen sich von dieser Berliner Republik ein, wie er
formuliert hat, „ziviles Land, das sich kosmopolitisch
öffnet und behutsam-kooperativ in den Kreis der ande-
ren Nationen einfügt“. Daran wollen wir arbeiten.

In der öffentlichen Diskussion hat es aber auch Ein-
wände gegen diesen Begriff gegeben. Manchen klingt
Berlin immer noch zu preußisch-autoritär, zu zentrali-
stisch. Dem setzen wir unsere ganz und gar unaggressive
Vision einer Republik der Neuen Mitte entgegen. Die-
se Neue Mitte grenzt niemanden aus. Sie steht für Soli-
darität und Innovation, für Unternehmungslust und Bür-
gersinn, für ökologische Verantwortung und eine politi-
sche Führung, die sich als modernes Chancenmanage-
ment begreift. Symbolisch nimmt diese Neue Mitte Ge-
stalt in Berlin an: mitten in Deutschland und mitten in
Europa.

Allerdings bleibt auch hier die Vergangenheit leben-
dig. In jüngster Zeit, meine Damen und Herren, werden
große deutsche Unternehmen mit dieser Vergangenheit
in besonderem Maße konfrontiert. Deshalb habe ich
noch vor der Aufnahme meiner Amtsgeschäfte betroffe-
ne Industrieunternehmen zusammengerufen, um über
einen gemeinsamen Fonds zur Entschädigung berech-
tigter Ansprüche von Zwangsarbeitern zu sprechen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Gemeinsam heißt hier Gemeinsamkeit der Unterneh-
men. Ich habe den Eindruck, daß die Unternehmen zu
einer fairen Lösung hinsichtlich der berechtigten An-
sprüche bereit sind.

Aber ich sage genauso deutlich: Wo es nicht um den
Ausgleich erlittenen Unrechts geht, werden wir unseren
Unternehmen und damit auch ihren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern im Inland, aber auch im Ausland
Schutz gewähren.

Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin
wird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, sondern
unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Debatte
hier im Deutschen Bundestag. Wir sind sicher, daß wir
dabei eine würdige Lösung finden werden, die in ein
Gesamtkonzept für die Gedenkstätten in Deutschland
eingebettet wird.

Aber in diesem Geschichtsbewußtsein sagen wir
auch, daß Berlin noch für ganz andere Traditionen steht
als nur für die Erinnerung an totalitäre Schreckensherr-
schaft. Berlin steht auch für demokratische Selbstbe-
hauptung und Freiheitswillen; beides wurde vor allem
von den sozialdemokratischen Stadtoberhäuptern Ernst
Reuter und Willy Brandt verkörpert.


(Beifall bei der SPD)

Berlin steht für ein weltoffenes Klima, das die Stadt

zum Anziehungspunkt für die Jugend und für die kultu-
relle Avantgarde aus ganz Europa gemacht hat. Die
kulturellen Brücken nach New York, Warschau, Moskau
und Paris sind längst wieder geschlagen. Für die jünge-
ren Deutschen und Europäer ist Berlin vor allem eine
heitere und aufregende Stadt, die sie von Klassenreisen,
Fußballspielen oder auch von der Love-Parade her ken-
nen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herr Fraktionsvorsitzender, ich weiß nicht, warum

Sie so besonders lächeln.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Wir gehen zusammen zur Love-Parade!)

Auch und gerade an diesen Traditionen werden wir an-
knüpfen, wenn wir Berlin zur Hauptstadt einer Republik
der Neuen Mitte machen wollen.

Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zur
kulturellen Förderung Berlins.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese wird mit Unterstützung kultureller Projekte und
Einrichtungen in den neuen Ländern einhergehen. Zur
Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen des Bun-
des schaffen wir das Amt eines Staatsministers für
kulturelle Angelegenheiten. Er wird Impulsgeber und
Ansprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes sein
und sich auf internationaler, aber vor allem auf europäi-
scher Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kultur
verstehen. Auch dadurch wird die Bundesregierung
Kulturpolitik wieder zu einer großen Aufgabe europäi-
scher Innenpolitik machen.

Meine Damen und Herren, die Republik der Neuen
Mitte ist auch eine Republik des Diskurses. Er findet
nicht hinter den verschlossenen Türen der Gremienvor-
stände statt. Die Neue Mitte sucht den Konsens über das
beste Ergebnis und nicht den Kompromiß über den
kleinsten gemeinsamen Nenner.

Die neuen Medien sind für sie nicht in ein paar mehr
oder ein paar weniger Kanälen im Privatfernsehen, son-
dern bedeuten für sie den technisch unbegrenzten

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Zugang zum Wissen und zum weltweiten Informations-
austausch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden uns dafür einsetzen, gemeinsam mit den
Ländern und den Partnern aus der Industrie an den
Schulen einen kostenlosen oder zumindest kostengünsti-
gen Internetzugang zu ermöglichen.

Im Zeitalter von Internet und Online-Kommunikation
muß aber auch das Wort von der demokratischen Öf-
fentlichkeit einen neuen Klang bekommen. Die neuen
Wege der Informationsvermittlung sind eine hervorra-
gende Chance, die Gesellschaft zum Sprechen zu brin-
gen; aber sie bergen auch Gefahren. Einer verantwortli-
chen Medienpolitik kommt deshalb zentrale Bedeutung
zu. Jeder soll Zugang zu den neuen Medien haben, jeder
soll ihren Nutzen und ihre Grenzen kennen. Deshalb
meinen wir es wörtlich, wenn wir dazu auffordern, unse-
re Kinder den Umgang mit Computern zu lehren: nicht
nur die Technik, sondern mehr noch die Kultur dieser
Form der Kommunikation.

Aus Bonn, meine Damen und Herren, nehmen wir
eine gelebte, eine lebendige demokratische Transparenz
mit nach Berlin. Diese Transparenz wird hier in diesem
Haus des Deutschen Bundestags in großartiger Archi-
tektur sichtbar.

Den Reichstag, der nun bald Deutscher Bundestag
sein wird, überwölbt eine gläserne Kuppel, wir wir wis-
sen. Das ist nach meiner Auffassung mehr als ein hüb-
sches architektonisches Detail. Es sollte ein Symbol für
neue Offenheit und für demokratische Renovierung die-
ses so sehr geschichtsbeladenen Gebäudes sein. Es kann
ein Symbol für die moderne Kommunikation einer
staatsbürgerlichen Öffentlichkeit werden.

Diese Öffentlichkeit beschränkt sich nicht auf die
Politik. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen und Re-
ligionsgemeinschaften als wichtigen Kräften des kultu-
rellen, politischen und sozialen Lebens werden wir för-
dern und fortsetzen. Wir begrüßen den Dialog der Reli-
gionsgemeinschaften untereinander und ihre Bereit-
schaft, zu den brennenden sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Gestaltungsfragen mit Anregungen und Kri-
tik beizutragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU])


Das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in
Vereinen und Verbänden, im Sport, in Bürgerinitiativen
und Selbsthilfegruppen ist eine der Keimzellen unseres
sozialen Zusammenlebens und einer eigenverantwortli-
chen Gestaltung unserer Existenz.

Herr Kollege Schäuble, verzeihen Sie, aber weil Sie
dies alles – ein wenig machtverliebt und machtversessen –
übersehen haben, haben Sie verloren. Das ist der Grund.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: So eine Frechheit!)


Von Koalition ist bei uns meist nur die Rede, wenn es
um Parteien geht. Diese braucht man auch. Wir streben
jedoch eine große gesellschaftliche Koalition an, eine
Koalition aller Kräfte, die den Wandel in Deutschland
gestalten wollen. Wir bieten nicht nur ein Bündnis für
Arbeit an. Nein, meine Damen und Herren, wir wollen
ein Zukunftsbündnis in diesem Land schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Berlin ist aber auch die Stadt, die quälende Jahr-

zehnte lang durch den Ost-West-Konflikt geteilt war. So
glücklich wir Deutschen über dessen Überwindung sind,
so bewußt sind wir uns auch, daß das Ende des kalten
Krieges noch lange nicht den Weltfrieden gebracht hat.

Der weltpolitische Umbruch hat in vielen Regionen
neue Instabilitäten und gewaltsame Konflikte ausgelöst,
auch vor unserer Haustür in Europa. Flüchtlingselend,
Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung in den
Ländern des Südens sind ein gefährlicher Nährboden für
diese und neue Konflikte.

Angesichts solcher Risiken, aber vor allem angesichts
der Chancen internationaler Zusammenarbeit erwartet
die Welt von uns mehr als je zuvor, daß wir unseren
Verpflichtungen im Rahmen unserer Bündnisse gerecht
werden. Wir bleiben in Europa und in der Welt verläßli-
che Partner.

Der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von
Amerika verdanken wir viel: nicht weniger als den
Frieden und unsere Freiheit. Ich will es gar nicht ver-
hehlen, meine Damen und Herren: Etliche, die heute in
diesem Deutschen Bundestag sitzen, und auch manche,
die jetzt Mitglieder der Regierung sind, waren nicht im-
mer mit allem einverstanden, was unsere amerikani-
schen Partner vor allem in der Hochrüstungsphase des
kalten Krieges getan und vorgeschlagen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das hat Helmut Schmidt gespürt!)


Sie standen damit übrigens nicht allein in der westlichen
Welt.

Es ist aber dieselbe Generation, die von kaum einem
Ereignis der Nachkriegsgeschichte so geprägt worden ist
wie von John F. Kennedys Berlin-Besuch und seinem
Bekenntnis zur Freiheit Westberlins.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schriftsteller haben diese Generation als – ich zi-
tiere – „Kinder der amerikanischen Zone“ bezeichnet.
Sie ist mit amerikanischer Kultur und amerikanischen
Produkten aufgewachsen. Aus der kritischen Distanz der
Kinder wurde die Partnerschaft von Erwachsenen. Die
Freundschaft mit Amerika wurde dieser Generation
nicht aufgezwungen, sie wurde ihr von amerikanischer
Demokratie und Kultur angeboten. Es ist eine Freund-
schaft, die auf gegenseitiges Verständnis und immer
bessere gegenseitige Kenntnis gebaut ist.

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Es ist eine Freundschaft, die sich bewährt hat und vor
keiner Bewährungsprobe steht. Wir garantieren sie nicht
nur aus Kontinuität und Bündnistreue heraus, nein, wir
garantieren sie aus jenem Vertrauen, das nur aus part-
nerschaftlichem Miteinanderreden und Miteinanderfüh-
len entstehen konnte. Wir stehen überzeugt zu unse-
ren Verpflichtungen im Rahmen der Atlantischen
Allianz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Instrumente der gemeinsamen europäischen Au-
ßen- und Sicherheitspolitik wollen wir ausbauen und
nutzen, um Europa in der internationalen Politik endlich
handlungsfähig zu machen. Darauf warten auch unsere
Freunde in den Vereinigten Staaten mit Ungeduld.

Deutsche Außenpolitik ist und bleibt Friedenspolitik.
Dabei bekennen wir uns ausdrücklich zu der Bereit-
schaft, an friedenssichernden und friedenserhaltenden
Maßnahmen und Missionen mitzuwirken. Das gilt be-
sonders auch für die Lage in Südosteuropa.

Wir wissen sehr genau, daß es nicht genügt, zur
Durchsetzung der Menschenrechte etwa im Kosovo ein
militärisches Drohpotential zu mobilisieren und, sollte
dies unvermeidlich sein, es auch einzusetzen. Viel
wichtiger als ein eventueller Militärschlag ist die Aufga-
be, die Einhaltung geschlossener Abkommen zu über-
wachen und die Friedenssicherung vor Ort zu gewährlei-
sten. Auch bei der Erfüllung dieser Aufgabe werden sich
unsere Partner auf uns verlassen können.


(Beifall bei der SPD)

In Europa kommt dabei der OSZE als der einzigen

gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation überragen-
de Bedeutung zu. Bei der Befriedung des Kosovo hat sie
sich bereits eine Aufgabe neuer Qualität gesetzt. Die
Bundesregierung unterstützt diese Mission mit allen
Kräften.

Wir liefern damit auch eine hochmoderne Definition
vom Wirken der Bundeswehr als einer Armee, die dem
Frieden dient. Unsere Soldaten setzen heute ihr mili-
tärisches Know-how in immer mehr Bereichen zivil
ein.


(Zuruf von der CDU/CSU: Howgh! – Unruhe bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


– Jetzt haben Sie aber was! Es sei Ihnen gegönnt.

(Heiterkeit bei der SPD)


Eine entscheidende politische Schwäche wurde soeben
ausfindig gemacht.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das wird so weitergehen.
Bei der Befriedung des Kosovo – ich hatte es schon

gesagt – hat die Bundeswehr sich bereits eine Aufgabe
neuer Qualität gesetzt. Die Aufgaben der Bundeswehr
reichen von der Eindämmung von Naturkatastrophen bis
hin zu aktiver Demokratisierungshilfe.

Ausdrücklich danken wir den jungen Deutschen, die
in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärisch und
zivil den Frieden wahren helfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wissen, welche Hypothek sie tragen, wie genau ihr
Auftritt in der Welt, aber auch hier in Deutschland be-
obachtet wird. Und sie lösen ihre Aufgabe mit bewun-
dernswerter Disziplin und Professionalität.

Selbstverständlich wird die Bundeswehr weiterhin
zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigt bleiben.
Eine Wehrstrukturkommission wird bis Mitte der Le-
gislaturperiode Vorschläge unterbreiten über Auftrag,
Umfang, Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte.

Dabei betonen wir allerdings in aller Deutlichkeit,
daß das Vorhalten militärischer Potentiale der Krisen-
prävention dienen soll, wie auch ihr Einsatz die Ultima
ratio der Friedenspolitik bleiben muß.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden unsere Bemühungen zur weltweiten Abrü-
stung und Rüstungskontrolle noch verstärken. Die Bun-
desregierung hält an dem Ziel der vollständigen Ab-
schaffung der Massenvernichtungswaffen fest.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen, daß es der Welt nicht gutgehen kann,
wenn es wenigen immer besser und vielen immer
schlechter geht. Die Überwindung der Kluft zwischen
armen und reichen Weltregionen bleibt die größte inter-
nationale Herausforderung an der Schwelle zum 21.
Jahrhundert.

Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozial-
produkt ist in den vergangenen 16 Jahren um beinahe
die Hälfte gesunken, auf jetzt noch 0,28 Prozent. Diesen
Abwärtstrend werden wir stoppen und dabei auf Effizi-
enz und Kohärenz der Maßnahmen zur Bewältigung
globaler Zukunftsaufgaben achten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dem Wirtschaftsgipfel 1999 in Köln werden wir
eine Initiative zur weiteren Erleichterung der Schulden-
last der ärmsten Entwicklungsländer unterbreiten. Ge-
meinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Uni-
on werden wir die regionale Zusammenarbeit mit den
Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika ausbauen.

Den von verheerenden Naturgewalten heimgesuchten
Staaten Zentralamerikas werden wir helfen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


nicht nur mit unmittelbarer humanitärer Hilfe, sondern
auch mit Mitteln für den Wiederaufbau ihrer fast voll-
ständig zerstörten Infrastrukturen. Deshalb werden wir

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


uns in den zuständigen internationalen Gremien für
einen möglichst umfassenden Schuldenerlaß einsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Den Vereinten Nationen werden wir eigenständige
Einheiten für friedenserhaltende Maßnahmen anbieten.
Dabei setzt sich die Bundesregierung aktiv dafür ein, das
Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren
und die Rolle des Generalsekretärs zu stärken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Möglichkeit, Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen zu werden, werden wir wahr-
nehmen, sofern ein gemeinsamer europäischer Sitz nicht
erreichbar ist.

Wir maßen uns nicht an, international die Rolle einer
Führungsmacht zu spielen oder in Krisensituationen oh-
ne Abstimmung mit unseren Partnern politische Initiati-
ven zu ergreifen. Uns ist weltweit an guter Zusammen-
arbeit gelegen. Auch unsere Außenwirtschaftsbeziehun-
gen sollen dem Frieden und der Demokratisierung die-
nen.

Als dritte Säule unserer Außenpolitik werden wir die
auswärtige Kulturpolitik stärken und ausbauen. Das ist
gerade unter den Bedingungen der Globalisierung un-
verzichtbar.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir wissen aus eigener Erfahrung: Frieden braucht wirt-
schaftliche Entwicklung, und die wirtschaftliche Ent-
wicklung braucht Frieden. Nur dort können Krisen auf
Dauer gelöst werden, wo die Menschen spüren, daß sich
Frieden und Demokratie lohnen und daß friedliche Ent-
wicklung ihre Lage spürbar verbessert.

Eine solche Aufgabe stellt sich uns gemeinsam mit
unseren europäischen Partnern etwa im Nahen Osten.
Im Friedensprozeß zwischen Israel, den Palästinensern
und den arabischen Nachbarstaaten können und wollen
wir nicht die Rolle des Paten im Friedensprozeß spielen.
Dieser Part kommt den Vereinigten Staaten von Ameri-
ka und den internationalen Organisationen zu. Aber wir
Europäer können und sollten durch gezielte Wirtschafts-
hilfe, durch Öffnung der Märkte und durch die Beteili-
gung an Infrastrukturmaßnahmen dazu beitragen, den
Friedensprozeß unumkehrbar zu machen. Damit können
wir unserer historischen Verantwortung gerecht werden
– auch und gerade für Israel und für den Frieden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Einbindung Deutschlands in die Europäische
Union ist von zentraler Bedeutung für die deutsche
Politik. Die Bundesregierung wird deshalb insbesondere
die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr
1999 nutzen, um den europäischen Integrationsprozeß
voranzutreiben. Nur durch die Weiterentwicklung zu
einer Politischen Union sowie zu einer Sozial- und Um-

weltunion wird es gelingen, unser Europa bürgernah zu
gestalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Durch den Regierungswechsel in Deutschland und
durch die neuen politischen Realitäten in Europa ergibt
sich endlich die Chance einer europäischen Sozial- und
Beschäftigungspolitik. Der Kampf gegen die Arbeitslo-
sigkeit kann endlich auch als europäische Frage behan-
delt werden. Er ist eben nicht mehr länger eine Fußnote
zu den Beschlüssen des Ministerrates, sondern er steht
auf der europäischen Tagesordnung ganz oben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unser Ziel ist ein europäischer Beschäftigungspakt.
In ihm sollen ausdrücklich verbindliche Ziele zum Ab-
bau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie zur
Überwindung der Diskriminierung von Frauen auf dem
Arbeitsmarkt aufgenommen werden. Zur Schaffung von
zukunftsfähigen Arbeitsplätzen werden wir uns auch in
der Europäischen Union für eine Politik der ökologi-
schen Modernisierung einsetzen.

Die Europäische Währungsunion ist eine unum-
kehrbare Tatsache. Der Euro wird uns die völlige Ver-
gleichbarkeit der Preise und der Leistungen bringen.
Damit ist die Zeit nationaler Alleingänge endgültig vor-
bei. Das gilt zum Beispiel auch für die Weiterentwick-
lung der ökologischen Steuerreform. Sie muß und sie
kann nur in einem europäischen Rahmen auf Dauer ge-
lingen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die gemeinsame Währung muß ein Erfolg werden.

Das heißt: Sie muß stabil sein und stabil bleiben.
Die Stabilitätsorientierung der künftigen europäi-

schen Geldpolitik stellen wir nicht in Frage. Aber auch
die vom Bundesbankpräsidenten selbst als wünschens-
wert bezeichnete Diskussion um die Zinspolitik – um
auf einen aktuellen Punkt einzugehen – wollen und wer-
den wir führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei hat niemand – ich wiederhole: niemand – die Un-
abhängigkeit der Bundesbank und der Europäischen
Zentralbank in Frage gestellt.


(Zurufe von der CDU/CSU: Ha, ha!)

– Sie interpretieren das immer gerne anders. Aber es ist
so, wie ich es Ihnen hier sage; glauben Sie es mir.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Diese Unabhängigkeit ergibt sich aus dem Bundes-

bankgesetz und aus dem Maastrichter Vertrag. Dort
wurde sie verankert, weil sie sachlich geboten ist und
weil sie der Stabilität dient.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Aber ich füge hinzu: Dabei entspricht es entwickelter
und guter europäischer Tradition demokratisch verfaßter
Gesellschaften – auch deshalb steht dies darin –, daß
zum Beispiel die Europäische Zentralbank ihre in voller
Souveränität gefaßten geldpolitischen Entscheidungen
regelmäßig dem Europäischen Parlament darlegen wird.
Was spricht dagegen?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Der Bundesfinanzminister hat als einer der ersten auf
die Notwendigkeit hingewiesen, zu wirksamen interna-
tionalen Vereinbarungen zu kommen, um die Turbulen-
zen auf den Weltfinanzmärkten zu glätten. Diese Not-
wendigkeit wird heute bei der Bundesbank, bei den
europäischen und nordamerikanischen Partnern – bis hin
zur Weltbank und zur US-Notenbank – genauso gese-
hen. Auch und gerade wegen der internationalen
Finanzkrisen müssen wir darauf hinwirken, daß Europa
mit einer Stimme spricht.

Es wird deshalb ein erster Schwerpunkt der Ratsprä-
sidentschaft sein, die Deutschland am 1. Januar 1999
übernimmt, die Verhandlungen zur Agenda 2000 bereits
bei einem Sondertreffen des Europäischen Rates im
Frühjahr 1999 abzuschließen. Das ist gewiß eine im-
mens schwierige Aufgabe. Aber wir wollen den ernst-
haften Versuch unternehmen, diese Aufgabe zu erfüllen.

Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen wol-
len wir dabei auch zu einer höheren Beitragsgerechtig-
keit kommen und die deutsche Nettobelastung auf ein
faires Maß verringern. Ich muß aber in diesem Zusam-
menhang darauf hinweisen, daß diese Belastungen im
Jahre 1992 mit der Stimme der damaligen Bundesregie-
rung unter anderen Bedingungen – das ist gar keine Fra-
ge – beschlossen worden sind und daß es schwierig sein
wird – das weiß jeder, der sich dieser Aufgabe ange-
nommen hat –, diese Beschlüsse, auf deren Realisierung
viele der Partner setzen, wenigstens in etwa zu korrigie-
ren. Wir werden daran arbeiten. In diesem Punkt sind
wir uns ja alle in diesem Hause einig.

Bei der Agrarpolitik werden wir uns auf europäi-
scher Ebene für grundlegende Veränderungen einsetzen.
Wo die Angleichung der Preise an das Weltmarktniveau
die deutschen Bauern benachteiligt, müssen wir in Eu-
ropa ein System direkter Einkommensbeihilfen durch-
setzen, ein System, das auch national ergänzt werden
können muß.

Auch die EU muß sparsam wirtschaften, ihre Mittel
effizient und zielgerecht einsetzen und den Subventi-
onsmißbrauch bekämpfen. Auch in Europa müssen wir
uns auf die strukturschwächsten und förderungsbedürf-
tigsten Regionen konzentrieren. Dabei dürfen die neuen
deutschen Bundesländer gegenüber vergleichbaren Re-
gionen Europas nicht in einen Nachteil geraten.

Wir werden dafür sorgen, daß Deutschland in der EU
nicht länger als Bremser bei der Sozialpolitik auftritt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden aktiver Schrittmacher bei der Reform der
EU sein. Wir wollen nicht, daß der Euro deutsch spricht.
Wir wollen, daß D-Mark, Franc und Schilling europä-
isch sprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Erwartungen unserer Nachbarn und Partner an
diese Bundesregierung sind enorm. Wir werden versu-
chen, diese Erwartungen nicht zu enttäuschen. Die re-
gelmäßigen Konsultationen mit Frankreich und Groß-
britannien sind für uns keine bloße Formsache. Die
deutsch-französische Freundschaft ist das Fundament
unserer Europapolitik. Diese Freundschaft wollen wir
auf eine noch breitere gesellschaftliche und vor allem
kulturelle Grundlage stellen.

Unseren Nachbarn im Osten versichern wir, daß wir
die Chance der EU-Osterweiterung entschlossen nut-
zen wollen. Europa wird und darf nicht am ehemaligen
Eisernen Vorhang oder an der deutschen Ostgrenze en-
den.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Deutschen werden eben nicht vergessen, welch un-
schätzbaren Beitrag die Völker in Ungarn und in Polen
zumal zur Überwindung der deutschen Teilung geleistet
haben. Wir wollen sie partnerschaftlich in die EU inte-
grieren.


(Beifall bei der SPD)

Dazu gehört auch die Beachtung angemessener Über-

gangsfristen, zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit. Dies bitte ich wirklich alle zu verstehen. Die
Beachtung dessen dient eben nicht der Abwehr und Ver-
zögerung, sondern dem vollständigen Gelingen und der
Integration.

Die Bundesregierung ist sich ihrer besonderen histo-
rischen Verantwortung gegenüber Polen bewußt. Sie
wird ihr mit dem Angebot einer immer engeren Partner-
schaft sowie der Verstärkung der Zusammenarbeit zwi-
schen Deutschland, Frankreich und Polen gerecht wer-
den.

Die Bundesregierung wird zügig daran arbeiten, auf
Grundlage der Deutsch-Tschechischen Erklärung noch
bestehende Probleme im Verhältnis zur Tschechischen
Republik abzubauen.


(V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters)

Meine Damen und Herren, die gemeinsame Währung

ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur europäischen
Integration. Aber sie gibt nur einen Rahmen vor, einen
Rahmen, den wir mit Leben füllen müssen.

Wir brauchen eine zügige und glaubwürdige Demo-
kratisierung der europäischen Institutionen. Dabei steht
für die Bundesregierung fest, daß unser Europa die na-
tionalen Identitäten nicht ersetzen oder aufheben soll.
Dennoch oder gerade deshalb scheint eine föderale Ord-
nung in Europa die beste Gewähr für Solidarität und
Fortschritt zu sein.

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Bei uns in Deutschland hat sich das föderale System
bewährt. Bund und Länder bleiben auf Kooperation an-
gewiesen. Kooperation bedeutet nicht die Aufgabe der
eigenen Interessen. Wer wüßte das besser als ich? Die
Bundesregierung wird sich an der gemeinsamen Formu-
lierung einer zeitgemäßen Aufgabenverteilung im Ver-
hältnis zwischen Bund und Ländern beteiligen. Nur im
sachgerechten Interessenausgleich werden beide Seiten
ihrer gesamtstaatlichen und europäischen Verantwor-
tung gerecht.

Am Ende dieses Jahrtausends wird Deutschland zwei
internationale Großereignisse ausrichten. Im Jahre 1999
wird Weimar europäische Kulturhauptstadt sein; im
Jahr darauf findet die Weltausstellung 2000 in Hanno-
ver statt. Beide Veranstaltungen werden die Bundesre-
publik Deutschland ins internationale Rampenlicht stel-
len. Weimar wird die erste europäische Kulturhauptstadt
in den neuen Bundesländern sein und versuchen, eine
Brücke zwischen dem kulturellen Erbe und dem histori-
schen Auftrag aus unserer Geschichte zu schlagen. Die
Expo 2000 wird für unseren Aufbruch in die Welt des
21. Jahrhunderts stehen.

Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung dieser
beiden Ereignisse bewußt, und sie wird ihnen zu inter-
nationalem Erfolg verhelfen. Sie verläßt sich dabei auch
auf die Leistungsbereitschaft, die Gastfreundschaft und
die Neugier der Menschen in Deutschland.

Gegen die Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte set-
zen wir das Konzept von Europa als Lebensort und Le-
bensart. Wir stehen für das Zukunftsprojekt Deutschland
in Europa. Dabei stehen wir in vorderster Reihe mit den
sozialen Modernisierern unserer Nachbarländer. Diese
Chance, gemeinsam ein modernes Europa der sozialen
Marktwirtschaft und der ökologischen Verantwortung zu
bauen, werden wir ergreifen.

Wir machen keine unhaltbaren Versprechungen. Aber
wir können und wir wollen Mut machen, Mut zu einer
neuen Zivilität und zu mehr Partnerschaft, aber auch
Mut zum Optimismus, zur Neugier auf die Zukunft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich erinnere an Willy Brandt, der vor diesem Parla-
ment 1973 in der Regierungserklärung seines Reform-
bündnisses den „vitalen Bürgergeist“ zitiert hat, der in
dem Bereich zu Hause sei, den auch Willy Brandt da-
mals „die neue Mitte“ genannt hat.

Helmut Schmidt hat vor diesem Haus in seiner Regie-
rungserklärung 1976 in vergleichbar schwieriger Wirt-
schaftslage gesagt: Die Bundesregierung setzt bei ihren
Bemühungen zuallererst – ich zitiere ihn – auf den Fleiß,
die Intelligenz und das Verantwortungsbewußtsein der
Deutschen. Daran knüpfe ich bewußt an, und ich bin si-
cher, meine Damen und Herren, wir werden es schaffen,
weil wir Deutschlands Kraft vertrauen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Langanhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1400300200
Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen, es ist mir eine große Freude, auf der Eh-
rentribüne den Beauftragten der OSZE für Medien-
freiheit, unseren langjährigen Kollegen Freimut Duve,
begrüßen zu dürfen.


(Beifall im ganzen Hause)

Lieber Kollege Duve, hier im Parlament werden Sie
vermißt. Sie haben eine neue, verantwortungsvolle Auf-
gabe übernommen. Ich möchte Ihnen im Namen des
Hauses für Ihre bisherige Arbeit herzlich danken und
wünsche Ihnen für die Zukunft viel Erfolg.


(Beifall im ganzen Hause)

Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich mittei-

len, daß heute zum erstenmal hinter dem Präsidenten-
stuhl der neue Direktor beim Deutschen Bundestag, Herr
Dr. Peter Eickenboom, Platz genommen hat.


(Beifall im ganzen Hause)

Er folgt Dr. Rudolf Kabel nach. Dr. Kabel hat dieses

Amt mehr als sieben Jahre mit großer Sachkunde ausge-
übt und ist nunmehr in den Ruhestand getreten. Von die-
ser Stelle aus nochmals herzlichen Dank für die im
Dienste des Parlaments geleistete Arbeit. Alles Gute
auch ihm für die Zukunft.


(Beifall im ganzen Hause)

Den neuen Direktor haben Sie schon willkommen

geheißen. Ich tue das auch noch offiziell. Ich wünsche
ihm für sein verantwortungsvolles Amt eine glückliche
Hand und Gottes Segen.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich eröffne jetzt die Aussprache. Das Wort hat der

Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Wolfgang
Schäuble.


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1400300300
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Bundeskanzler, es ist wahr: Sie haben am 27. September
mit Rotgrün die Wahl gewonnen. Wir haben Ihnen dazu
gratuliert. Wir wünschen auch unter Ihrer Regierung un-
serem Land eine gute Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Sie werden allerdings in der Zukunft nicht jede sachli-
che Einwendung gegen Ihre Absichten und Ihre Politik
mit dem Hinweis auf das Wahlergebnis abtun können.
Sie müssen sich in der Zukunft schon mit der Sache aus-
einandersetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben – nicht mit
einem Übermaß an Freude, aber in demokratischem Re-
spekt – das Wahlergebnis nicht nur akzeptiert, sondern
den Oppositionsauftrag für diese vier Jahre angenom-
men. Wir werden eine kämpferische, eine kritische Op-
position sein. Wir werden nicht Opposition um der Op-
position willen betreiben. Wo Sie Absichten verfolgen,

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


eine Politik betreiben, der wir zustimmen, werden wir
Sie nicht kritisieren, nur um andere Positionen zu ver-
treten. Aber wo es um der Sache willen geboten ist,
werden wir das Wächteramt der Opposition kämpfe-
risch, aufmerksam wahrnehmen. Darauf können Sie
zählen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

So dienen wir gemeinsam in unterschiedlicher Verant-
wortung und in demokratischer Gemeinsamkeit unserem
Land.

Gleich zu Beginn sagen will ich auch: Ihre Regie-
rungserklärung war eine Enttäuschung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Es ist eine Ansammlung von Überschriften und Ab-
sichtserklärungen. Aber wo es um inhaltliche Substanz
geht, bleibt sie, trotz einer nicht unbeachtlichen Dauer –
aber eine Regierungserklärung am Anfang einer neuen
Legislaturperiode muß alle Themen behandeln; das
braucht seine Zeit –, bemerkenswert blaß.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Noch spannender ist im übrigen, was Sie in Ihrer Re-

gierungserklärung nicht erwähnt haben. Zwar haben Sie
am Schluß, im Zusammenhang mit der Europäischen
Währungsunion und der aktuellen Debatte, die Ihr Fi-
nanzminister nebst Frau Gemahlin ausgelöst haben,


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Macho!)


ein paar Bemerkungen dazu gemacht; aber ausschließ-
lich in diesem Zusammenhang ist in Ihrer Regierungser-
klärung das Wort „Preisstabilität“ vorgekommen. Das ist
mir schon aufgefallen, und durchaus bemerkenswert.


(Bundesminister Oskar Lafontaine: Das ist ja wirklich das größte Problem!)


– Ganz langsam! Wir machen es ganz in Ruhe.
Wir haben in Ihrer Regierungserklärung eine Menge

ertragen müssen, was so nicht akzeptabel ist. Daß man
nach einem demokratischen Wechsel alles ein wenig an-
ders darstellt, ist ja in Ordnung. Aber mit Helmut-
Schmidt-Zitaten zu enden und zum deutsch-
amerikanischen Verhältnis so zu reden, wie Sie es getan
haben, und gleichzeitig zu verschweigen, daß Sie gegen
den NATO-Doppelbeschluß demonstriert und darüber
Helmut Schmidt gestürzt haben – während Helmut Kohl
und wir dafür gesorgt haben, daß er durchgesetzt werden
konnte –, ist schon ein starkes Stück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ernst Schwanhold [SPD]: Vor 15 Jahren!)


Man kann ja über Erblast und andere Dinge reden.
Aber ein paar Dinge müssen am Anfang klargestellt
sein: Davon zu reden, daß für die Frauen, für die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf, nichts getan worden
sei in Deutschland, ist angesichts der Tatsache, daß in
den 16 Jahren, in denen Helmut Kohl Bundeskanzler
war, in denen wir, die CDU/CSU und die F.D.P., ge-
meinsam Regierungsverantwortung getragen haben, die

Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der Ren-
tenversicherung eingeführt worden ist, schon eine Un-
verschämtheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben den Erziehungsurlaub und das Erziehungs-
geld eingeführt. In Ländern, in denen die Union regiert,
gibt es ein drittes Jahr Erziehungsgeld; in Ländern, in
denen die SPD regiert, gibt es das nicht. Das ist der Un-
terschied, und das darf man nicht verfälschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Was Sie zur Solidarität mit den Menschen im Osten,
in den neuen Bundesländern, gesagt haben, das will ich
mit der Hoffnung so stehenlassen, daß das neue Amt Ih-
nen auch eine neue Einsicht gibt. Wer sich noch daran
erinnert, was Sie als Ministerpräsident von Niedersach-
sen zur Solidarität mit den Menschen in den neuen Län-
dern gesagt haben, kann nur hoffen, daß Sie in der neuen
Verantwortung ein neues Verständnis von Solidarität
aller Deutschen in Ost und West haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Als Sie von der Einbindung der Vertreter der Bürger-

rechtsbewegung in der ehemaligen DDR in Ihre Regie-
rung und Koalition sprachen, Herr Bundeskanzler, hät-
ten Sie auch ein Wort zu der Koalition von SPD und
PDS in Mecklenburg-Vorpommern sagen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Ernst Schwanhold [SPD]: Warum?)


– Das will ich Ihnen sagen, Herr Kollege. Ich habe dazu
eine Agenturmeldung der „AFP“ vom 9. November.
Darin steht:

Bundesinnenminister Otto Schily will die Überwa-
chung der PDS durch den Verfassungsschutz neu
überprüfen.
Schily sagte am Montag vor Journalisten in Berlin,
es sei eine „vertrackte Situation“, wenn die PDS
wie in Mecklenburg-Vorpommern an der Regie-
rung beteiligt sei und andererseits vom Verfas-
sungsschutz beobachtet werde.

Der Mann hat recht: Das ist eine vertrackte Situation.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Ernst Schwanhold [SPD]: Es ist doch alles gesagt!)


– Natürlich, deswegen gehört das in eine Regierungser-
klärung, wenn man von der Bürgerrechtsbewegung
spricht. Wenn das eine vertrackte Situation ist, dann ist
die richtige Schlußfolgerung, mit der PDS keine Koali-
tion zu bilden, anstatt aufzuhören, sie durch den Verfas-
sungsschutz überwachen zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ernst Schwanhold [SPD]: Ziehen Sie sich jetzt aus den Rathäusern zurück?)


– Über das Thema könnten wir noch länger reden.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Nur zu!)


Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


– Ja, natürlich! Die Regelanfrage bei der Stasi-
Überwachungsbehörde abschaffen. Lesen Sie doch ein-
mal nach, was Herr Gauck und Richard Schröder, Ihr
Parteifreund, dazu gesagt haben. Die PDS hat sich mit
ihrer totalitären Vergangenheit nicht auseinandergesetzt.
Aber Sie wollen der PDS helfen, die Vergangenheit
wegzuwischen. Wir werden dabei nicht mitmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich rate dazu, daß wir die Verfassungsschutzbehörden
auch in der Zukunft ermuntern, die Frage, ob eine Orga-
nisation beobachtet werden muß oder nicht, nach ihrem
Gefahrenpotential für die freiheitlich-demokratische
Grundordnung zu beurteilen und nicht danach, ob die
SPD mit der Organisation koaliert. Das ist der Punkt,
weshalb ich meine, daß die vertrackte Situation falsch
aufgelöst ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine an-
dere Agenturmeldung zitieren, die ich heute morgen mit
Befriedigung gelesen habe. Sie ist von „dpa“. Da steht –
Herr Bundeskanzler, dazu haben Sie gar nichts gesagt,
obwohl Sie viel von Erblast gesprochen haben –:

Niedrigste Preissteigerung seit Vereinigung:
0,7 Prozent. Die Lebenshaltungskosten sind in
Deutschland im Oktober um 0,7 Prozent gegenüber
dem Vorjahresmonat gestiegen.

Meine Damen und Herren, auch das gehört zur Eröff-
nungsbilanz dieser Regierung: ein Maß an Preisstabili-
tät, wie wir es in Deutschland niemals zuvor gekannt
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wer weiß und sich daran erinnert, daß Inflation im-

mer die brutalste Form der Ausbeutung der sozial
schwächeren Bevölkerungsschichten gewesen ist, der
muß, wenn er für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit
– im Ziel sind wir uns einig – stehen will, dafür sorgen,
daß die Preisstabilität erhalten bleibt. Deswegen gehört
das zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Herr Bundeskanzler, wenn Sie Ihrem Vorgänger im
Amt zu Recht bei vielen Gelegenheiten immer wieder
Ihren Respekt bekunden, ist das in Ordnung. Den teilen
wir, sogar mehr als Sie. Aber dann die Ergebnisse und
die Politik von Helmut Kohl und seiner Regierung so zu
verfälschen, wie Sie es in Ihrer Regierungserklärung
getan haben, ist nicht in Ordnung. Das paßt nicht zu-
sammen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen muß am Anfang der Debatte über Ihre Regie-
rungserklärung, am Beginn dieser Legislaturperiode von
der Opposition um der Wahrheit und der künftigen Be-
wertung der Ergebnisse Ihrer Politik willen festgehalten

werden, was die Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung tat-
sächlich ist.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Miserable Finanzen!)


– Unsere Bundesregierung hinterläßt geordnete Staats-
finanzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Lachen bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Ein Schweizer Käse ist dagegen eine Betonmauer!)


Es ist bemerkenswert. Die wirtschaftswissenschaftli-
chen Forschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutach-
ten im Oktober doch mitgeteilt, daß nach ihrer Meinung
ein Entlastungsspielraum für eine Steuerreform im Jahre
1999 in einer Größenordnung von gesamtstaatlich etwa
20 bis 30 Milliarden DM netto zur Verfügung steht. Das
ist das Ergebnis der Finanzpolitik unserer Regierung,
und das ist die Eröffnungsbilanz der Ihren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ludwig Stiegler [SPD]: 100 Milliarden DM Zinsen!)


Die Steuereinnahmen sind im Jahre 1998 deutlich
stärker gestiegen, als im Bundeshaushalt 1998 einge-
stellt, und die Ausgaben sind weniger gestiegen, als im
Bundeshaushalt 1998 vorgesehen.

Die Arbeitslosigkeit ist stärker zurückgegangen, als
wir selber dafür finanzielle Vorsorge getroffen haben.
Im Oktober war die Arbeitslosigkeit in Deutschland –
das ist die Eröffnungsbilanz – um knapp 400 000 niedri-
ger als im Oktober des Vorjahres. Ein Rückgang der Ar-
beitslosigkeit in Deutschland um 400 000 in einem Jahr
ist ein großer Erfolg der letzten Regierung. Dieser Trend
gehört zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben stabile Preise. Wir haben ein niedriges

Zinsniveau, ein Zinsniveau auf historischem Tiefst-
stand. Das ganze Gerede von Herrn Lafontaine ist also
unhaltbar. Es ist eine geplante, langfristig angelegte
Kampagne mit dem Ziel, die Unabhängigkeit von Bun-
desbank und Europäischer Zentralbank durch Ein-
schüchterung und politischen Druck schrittweise einzu-
engen. Die ganze Kampagne entbehrt jeder sachlichen
Grundlage, denn wir haben in Deutschland niedrigere
Zinsen als in Amerika und in den meisten europäischen
Ländern. Unser Zinsniveau ist auf einem historischen
Tiefststand. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ernst Schwanhold [SPD]: Real sind sie relativ hoch!)


– Das kann man endlos weitermachen.
Wir haben eine Steuerquote von 21 Prozent, und die

Staatsquote liegt in diesem Jahr unter 48 Prozent. Sie
liegt deutlich niedriger als am Anfang der Regierungs-
zeit von Helmut Kohl. Da Sie gerade Helmut Schmidt
zitiert haben: Es gehörte zur Eröffnungsbilanz unserer
Regierung, daß die Staatsquote damals über 50 Prozent

Dr. Wolfgang Schäuble






(B)



(A) (C)



(D)


lag, und heute liegt sie trotz der Wiedervereinigung un-
ter 48 Prozent. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen sage ich noch einmal: Stabile Preise, soli-

des Wirtschaftswachstum, 2,7 Prozent reales Wachstum
in diesem Jahr, rückläufige Arbeitslosigkeit – 400 000
weniger in einem Jahr –, niedrige Zinsen, geordnete
Staatsfinanzen – das ist die Eröffnungsbilanz Ihrer Re-
gierung. An diesen Zahlen und Trends werden Sie sich
in der Zukunft messen lassen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie versuchen jetzt, die Prognosen zu verändern, in-

dem Sie sagen, im nächsten Jahr werde es schwieriger
werden, und indem Sie nach unten rechnen. Ich sage Ih-
nen: Wenn sich die Prognosen für die gesamtwirtschaft-
liche Entwicklung und für die Entwicklung am Arbeits-
markt verändern sollten, dann wäre das vor allem und in
erster Linie das Ergebnis der Ankündigungen einer fal-
schen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik von Rot-
Grün.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben angekündigt, daß Sie unsere Maßnahmen

rückgängig machen wollen, so zum Beispiel die Rege-
lung zum Schlechtwettergeld. Ich würde Ihnen raten:
Überlegen Sie es sich noch einmal. Die Tarifpartner in
der Bauwirtschaft haben doch alles gut geregelt. Warum
wollen Sie denn mit einer gesetzlichen Neuregelung
schon wieder in abgeschlossene Tarifverträge eingrei-
fen? Ich finde, wenn wir Dezentralisierung und Tarif-
autonomie ernst nehmen, sollten wir das, was die Tarif-
partner in der Bauwirtschaft im Zusammenwirken mit
dem Gesetzgeber gut geregelt haben, nicht durch einsei-
tige Eingriffe des Gesetzgebers wieder rückgängig ma-
chen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie die Deregulierungen am Arbeitsmarkt –

von denen übrigens Helmut Schmidt in seinem neuen
Buch gerade geschrieben hat, daß sie notwendig sind,
um mehr Arbeitsplätze zu bekommen – rückgängig ma-
chen, zum Beispiel eine gewisse Eigenbeteiligung bei
der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auf die sich die
Tarifpartner zum Teil geeinigt haben, wenn Sie diese
Maßnahmen, die uns in Deutschland mehr Arbeitsplätze
eingebracht haben, zurücknehmen, dann – das ist völlig
klar – wird das Ergebnis mehr Arbeitslosigkeit sein. Aus
diesem Grund verschlechtern sich die Prognosen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Wenn Sie die Steuerbelastung für Unternehmen und
für den Mittelstand erhöhen, dann werden Sie eben we-
niger Investitionen, weniger Arbeitsplätze und weniger
Wirtschaftswachstum haben, und dann werden natürlich
auch die Steuereinnahmen wieder zurückgehen.

Die neuen Haushaltslöcher, die Sie angeblich aus-
findig gemacht haben, haben Sie übrigens nicht be-
schrieben. Sie haben von 20 Milliarden DM gesprochen.
Aber Sie waren doch bei der Haushaltsdebatte Anfang

September anwesend. Herr Bundeskanzler, Herr Mi-
nisterpräsident außer Diensten – damals haben Sie als
Ministerpräsident gesprochen –, welche Zahl hat sich
seit Anfang September verändert? Es ist die Unwahrheit,
wenn Sie behaupten, bei Durchsicht der Bücher hätten
Sie neue Löcher entdeckt. Alle Zahlen lagen auf dem
Tisch. Wir haben Anfang September darüber diskutiert.
Nichts außer den Ankündigungen von Rot-Grün für eine
künftige falsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik
hat sich geändert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun sagen Sie, weil Sie ja die Kritik an den rotgrünen

Koalitionsvereinbarungen gehört haben, der Mittelstand
werde mit Ihrer Steuerpolitik doch entlastet oder nicht
so belastet, wie man in den Zeitungen lese. Meine Da-
men und Herren, ich will an einem kleinen Punkt einmal
aufzeigen, mit welchen Kniffen und Tricks schon in die-
ser Regierungserklärung gearbeitet wird.

Sie haben mir ja das Manuskript Ihrer Rede liebens-
würdigerweise durch das Presse- und Informationsamt
der Bundesregierung um 8.22 Uhr übersenden lassen.
Deswegen hatte ich Zeit, mir dies genau anzuschauen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Bei mir ist es gar nicht angekommen! – Dr. Peter Struck [SPD]: Lächerlich!)


– Nein, ich bedanke mich doch, daß ich den Wortlaut
der Pressemitteilung habe. Ich weiß gar nicht, warum
Sie sich aufregen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sagen Sie es bitte so deutlich, wie Sie es meinen! Peinlich! – Ludwig Stiegler [SPD]: Herzlich!)


– Noch herzlicher?

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Ja!)


– Wenn es Ihnen Freude macht, bedanke ich mich wirk-
lich herzlich, Herr Kollege, daß ich durch das Presse-
und Informationsamt der Bundesregierung um 8.22 Uhr
den Inhalt Ihrer Regierungserklärung zugestellt bekom-
men habe. Deswegen habe ich jetzt die Gelegenheit, Ih-
nen an Hand des Textes – das Stenographische Protokoll
habe ich ja noch nicht – die Tricks aufzuzeigen, mit de-
nen Sie arbeiten.

Die Steuerentlastungen, die Sie vorsehen oder die
angekündigt werden – es wechselt ja; die Gesetzentwür-
fe, die uns zugesandt werden,


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wasserstandsmeldungen!)


werden ja zurückgezogen, bevor sie überhaupt nur die
Geschäftsführung der Fraktionen erreicht haben. Aber
Spaß beiseite.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Es gibt wenigstens welche!)


– Lenken Sie nicht ab. Sie wollen das, was ich Ihnen sa-
ge, offenbar nicht hören. – In Ihrer Regierungserklärung
haben Sie die geplanten Steuerentlastungen für die Jahre
1999, 2000, 2001 und 2002 wunderbar dargestellt, ohne

Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


bei den Entlastungen zeitlich zu differenzieren. Dann
haben Sie gesagt, der Mittelstand werde im übrigen gar
nicht belastet.

Und jetzt zitiere ich einmal:
Die Sonder- und Ansparabschreibungen für Exi-
stenzgründer

– Sie haben das auch so gesagt –
können unverändert in Anspruch genommen wer-
den;

– o toll, und jetzt höre man weiter zu –
für kleinere und mittlere Betriebe bleiben sie bis
zum Jahr 2000 erhalten.

Sie werden also also gestrichen, ehe die Tarifentlastun-
gen überhaupt in Kraft treten können. Das ist die Wahr-
heit. Der Rest ist gelogen.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Da helfen die besten Spindoctors nicht. Die Substanz
Ihrer Steuerpolitik bedeutet eine Mehrbelastung für
Wirtschaft und Mittelstand und damit eine Belastung
und Verhinderung von Investitionen und von Arbeits-
plätzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es kann nach den Grundregeln von Krafts Rechen-

buch und nach Adam Riese ja auch gar nicht anders
sein. Aber Adam Riese?


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Der gehört nicht zur Bundesregierung!)


Dazu hat das „Handelsblatt“ geschrieben: Gerhard
Schröder fordert Adam Riese heraus. Welch eine Her-
ausforderung, Herr Bundeskanzler! Aber das ist gefähr-
lich. Man sollte die Grundrechenarten nicht außer Kraft
setzen. Ich kann nicht mehr Geld ausgeben und gleich-
zeitig weniger einnehmen wollen; das geht nicht zu-
sammen. Wer nicht die Kraft zum Sparen hat, der wird
die Betriebe und auch die Steuerzahler nicht entlasten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das müssen Sie gerade sagen!)


Sie sehen jetzt keine Nettoentlastung vor. Heute ha-
ben Sie gesagt: 15 Milliarden DM ab dem Jahr 2002;
Verzeihung, aber im Moment haben wir, wenn ich das
richtig weiß, den 10. November 1998. Die Arbeitslosig-
keit ist das dringendste Problem in unserer Gesellschaft;
ihre Bekämpfung kann nicht bis zum Jahr 2002 warten.
Wir brauchen jetzt Steuerentlastungen. Für 1999 haben
Sie keine vorgesehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn es keine Entlastung gibt, dann muß der eine

mehr bezahlen, was der andere weniger bezahlen soll.
Es geht nicht anders zusammen.


(Zuruf des Bundesministers Oskar Lafontaine)


– Ja, natürlich. Aber, Herr Finanzminister, von Ihnen
wissen wir, daß Sie niemals entlasten, sondern allenfalls
umverteilen wollen. Am liebsten würden Sie Steuern nur
erhöhen; denn je mehr Sie Steuern erheben, desto mehr
glauben Sie ja, daß Sie Rädchen haben, mit denen Sie
die gesamtwirtschaftliche Entwicklung beeinflussen
können. Das allerdings ist altes Denken: keine Neue
Mitte, sondern alte Linke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Selbst Ihre eigenen Darlegungen, so schön sie formu-

liert sind, sind ja, wenn man sie ein bißchen abklopft,
ziemlich fadenscheinig. Sie selber haben für das Jahr
2002 – das haben Sie zwar nicht gesagt, aber so ist es
vorgesehen – eine Nettoentlastung von 15 Milliarden
DM versprochen. Dann haben Sie uns auch hier gesagt –
das haben wir alle gehört; ob Ihre Fraktion so genau zu-
gehört hat, weiß ich allerdings nicht sicher; aber wir ha-
ben aufmerksam zugehört –, daß die durchschnittliche
Familie um 2 700 DM entlastet werde. Stimmt das, Herr
Bundeskanzler?


(Bundesminister Oskar Lafontaine: Stimmt!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1400300400

Wie viele Familien kann man um 2 700 DM entlasten,
damit die Grenze von 15 Milliarden DM nicht über-
schritten wird?


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist eine seltsame Bezugsgröße!)


Das sind rund 5 Millionen Familien.

(Bundesminister Oskar Lafontaine: Das ist viel!)

– Ja, das ist viel. – Aber alle anderen werden nach Ihren
eigenen Vorhersagen auch im Jahre 2002 nicht entlastet,
und wir haben eine Bevölkerung von 80 Millionen Men-
schen. Die Behauptung, die allermeisten würden entla-
stet, ist auf Grund Ihrer eigenen Zahlen als wahrheits-
widrig widerlegt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Und das gilt erst für das Jahr 2002!

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist Adam Schäuble! – Ernst Schwanhold [SPD]: Das ist noch unter Adam Riese! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Es trifft Sie offenbar! Wenn Sie selber merken, was in
Ihrer Regierungerklärung steht, dann ist die Erregung
bei der SPD groß. Bisher waren Sie ziemlich schläfrig
während der Rede Ihres Bundeskanzlers gewesen; jetzt
sind Sie plötzlich wach geworden. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ludwig Stiegler [SPD]: Im Giftspritzen ist er immer stärker als im Rechnen!)


Sie haben diese zwei Stunden auch kaum ausgehalten.
Deswegen sind Sie am Schluß der Rede auch alle gleich
aus dem Saal gegangen.

Dr. Wolfgang Schäuble






(B)



(A) (C)



(D)


Jetzt bleiben Sie ganz ruhig! Jetzt lassen Sie nach
diesen zwei Stunden auch der Opposition die Chance, an
ein paar Punkten ein bißchen Substanz zu bieten und
nicht nur im Glanz der Überschriften zu bleiben. Mit der
Regierungserklärung sind die Zeiten der Inszenierungen
vorbei! Jetzt ist Substanz gefordert!


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Es ist wirklich wahr: Der Start ist Ihnen gründlich
mißlungen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Der Neid der Besitzlosen!)


Das sage ja nicht nur ich; wenn ich das sagen würde,
dann würde jeder meinen, daß ich als Oppositionsführer
das sagen muß.


(Ernst Schwanhold [SPD]: Stimmt!)

Es sagen aber alle Zeitungen, auch Ihre treuesten Hel-
fershelfer. Sie werden – ich sage es Ihnen voraus – eine
neue Gemeinsamkeit mit Ihrem Amtsvorgänger entwik-
keln, Herr Bundeskanzler Schröder. Von Helmut Kohl
wissen wir, daß er den „Spiegel“ ums Verrecken nicht
gern gelesen hat. Wenn Sie diese Woche die Überschrift
„Wo ist Schröder?“ lesen und sich im Nebel von Lafon-
taine verschwinden sehen, dann sage ich Ihnen: Der
„Spiegel“ wird Ihnen bald so widerwärtig sein, wie er
Helmut Kohl es in den 16 Jahren gewesen ist.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Bundeskanzler Gerhard Schröder: Wenn es dann auch 16 Jahre dauert, soll's mir recht sein!)


– Schauen Sie, das ist wieder typisch, Herr Bundes-
kanzler: In öffentlichen Äußerungen haben Sie gesagt,
eine Amtszeit von mehr als acht Jahren wäre falsch; jetzt
wollen Sie 16 Jahre. Das ist wie mit der Koalitionsver-
einbarung: Die haben Sie morgens unterschrieben, und
abends haben Sie gesagt, sie müsse nachgebessert wer-
den. Die Tinte war noch nicht trocken gewesen!


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ludwig Stiegler [SPD]: Der Appetit kommt beim Essen! 16 Jahre!)


Wenn ich in diesen Tagen erlebe, was in dieser Wo-
che in erster Lesung auf die Tagesordnung des Hohen
Hauses kommen soll und was nicht, so muß ich fest-
stellen: Die Vorlagen werden zugesandt, dann werden
sie wieder zurückgezogen. Dann heißt es, Herr Trittin
und Herr Lafontaine hätten sich über die Ökosteuer ge-
einigt. Wenn man aber nachliest, heißt es, sie hätten sich
darauf geeinigt, daß sie eine Kommission einsetzen. Das
hat ja das Niveau Ihrer Regierungserklärung. Selbst zum
Thema Rente haben Sie gesagt, Sie wollten eine Kom-
mission einsetzen, die alles prüfe – obwohl alle Zahlen
auf dem Tisch liegen. Auch für die Reform des Finanz-
ausgleichs im Bundesstaat wollen Sie bis zum Jahre
2005 eine Kommission einsetzen. Herr Bundeskanzler,
die Probleme unsres Landes sind angesichts der rasanten

Veränderungen in der Welt um uns herum wie auch in
der Arbeitswelt


(Ludwig Stiegler [SPD]: Und angesichts Ihrer Hinterlassenschaft!)


dringlicher. Wir können nicht alles auf die lange Bank
schieben. Sie müssen handeln und entscheiden! Sie sind
schlecht vorbereitet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ernst Schwanhold [SPD]: Ihre Hinterlassenschaft! Ihre Erblast!)


– Nein, nein.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das sagen die Aussitzer, die uns die Sachen hinterlassen haben! Jetzt wird's plötzlich eilig! Jetzt pressiert's! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Nein, nein.

(Anhaltende Zurufe von der SPD)


– Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen, die meisten Menschen, die die Plenardebatte
an den Fernsehapparaten verfolgen – wenn es welche
tun –, bekommen nicht mit, was im Plenarsaal so alles
dazwischengerufen wird. Entweder muß ich deswegen
sagen „Verehrte Zuschauer an den Fernsehgeräten, im
Augenblick kann ich nicht weiterreden, weil die SPD ei-
nen solchen Lärm macht“, oder Sie müssen leise genug
sein, damit ich trotz meiner Erklärung die Chance habe
weiterzureden. Wir haben Ihrem Bundeskanzler doch
auch gut zugehört.


(Weitere Zurufe von der SPD)

– Nein, es geht so nicht. Sie können nicht ein solches
Sperrfeuer von Zwischenrufen machen. Das akzeptiere
ich nicht; und das sage ich dann immer, damit das je-
dermann weiß und damit jedermann versteht, warum ich
im Moment nicht weiterreden kann.

Der Einwand, die Tatsache, daß die Probleme so
dringlich seien, würde sich gegen uns richten, ist in der
Sache durch Ihre eigene Regierungserklärung widerlegt.
Ihre konkreten Ankündigungen bestehen doch nur darin,
das, was wir auf den Weg gebracht haben, damit es mit
der Arbeitslosigkeit in unserem Lande besser wird,
rückgängig zu machen. Lassen Sie die Entwicklung, die
wir auf den Weg gebracht haben, doch weitergehen!
400 000 Arbeitslose weniger – das ist eine gute Ent-
wicklung. Die sollten Sie nicht zurückschrauben. Das ist
der Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben die Schlachten doch oft geführt. Sie kön-

nen uns doch nicht vorwerfen, daß die Steuerreform
nicht zustande gekommen ist. Sie haben Sie doch mit Ih-
rer Mehrheit im Bundesrat blockiert. Jetzt – mit eigener
Mehrheit – zeigen Sie sich unfähig, eine dem Arbeits-
markt gerecht werdende Steuerreform zustande zu brin-
gen. Das ist das Elend für unser Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


Erst das Richtige blockieren und dann selber nicht in der
Lage sein, das Richtige zu tun, das ist gefährlich für die
Chancen unseres Landes. Das ist im Zusammenhang mit
der Steuerreform das eigentliche Drama.

Wenn Sie von den Lohnzusatzkosten reden, dann
werden Sie doch nicht im Ernst glauben, daß Sie die
Lohnzusatzkosten, die Staatsquote, die Abgabenquote in
Deutschland dadurch senken können, daß Sie nur um-
verteilen. Ich erinnere an das Gerede von der Ökosteu-
er. Nach neuestem Stand ist die Vorlage dazu gerade
wieder zurückgezogen worden. Über die Einzelheiten
werden wir noch streiten, aber zunächst einmal geht es
um das Prinzip. Wer die Umfinanzierung von Sozialab-
gaben in Steuern – so ist der Sachverhalt – an Stelle von
Einsparungen bei den Sozialausgaben durchführt, der
wird die Staats- und Abgabenquote nicht senken und
auch nicht mehr Arbeitsplätze bekommen, sondern das
Gegenteil. Einsparungen sind durch nichts zu ersetzen.
Wer klagt, die Staatsquote sei zu hoch – das haben Sie,
Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung getan
–, der muß auf der Ausgabenseite von öffentlichen
Haushalten und Sozialversicherungen zu Einsparungen
kommen. Sie aber wollen all diejenigen Einsparungen,
die wir – zum Teil schmerzlich, aber richtig – zur Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit durchgesetzt haben, wie-
der rückgängig machen. Das ist der falsche Weg, wenn
es darum geht, mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu
bekommen, und Sie sind auf diesem falschen Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Daher ist der entsprechende Vorwurf an uns unzutref-

fend. Es gehört zur Eröffnungsbilanz, daß wir das Land
in eine solide wirtschaftliche Entwicklung – Preisstabi-
lität, niedrige Zinsen, rückläufige Arbeitslosigkeit – ge-
bracht haben. Und Sie drehen jetzt mit Ihren falschen
rotgrünen Maßnahmen diese Entwicklung wieder zu-
rück. Es handelt sich also nicht um einen neuen Auf-
bruch, sondern um eine Rolle rückwärts in eine falsche
Vergangenheit. Das ist das Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

So wird das nichts mit der „Neuen Mitte“. Und dann

auch noch Ihr Gerede von der Berliner Republik! Herr
Bundeskanzler, von Neuer Mitte habe ich weder in Ihrer
Regierungserklärung noch in Ihrer Koalitionsvereinba-
rung irgend etwas gefunden, aber von der alten Linken
sehr viel und von Durcheinander bei Ihren rotgrünen
Koalitionsvereinbarungen noch mehr!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Man fragt sich ja, wer in Deutschland eigentlich regiert.

(Bundesminister Oskar Lafontaine: Das ist die Preisfrage!)

– Ja, das ist wahr, Herr Ministerpräsident Lafontaine. –
Entschuldigung, es steckt noch so ein bißchen drin; Herr
Bundesfinanzminister! Wenn es Ihnen gar nicht mehr
passiert, sich zu versprechen, dann ist es ja gut.

Herr Bundesfinanzminister, Ihre Politik ist eine Poli-
tik des „leichten Geldes“.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


„Leichtes Geld“ klingt ja schön, bedeutet aber für die
Menschen Inflation. Die haben verstanden, daß man
nicht mehr Geld ausgeben und weniger einnehmen kann,
ohne mehr Schulden zu machen. Man kann sich nicht
gegen Adam Riese stellen; deswegen wird Ihre Politik
dazu führen, daß die Staatsverschuldung steigt, die
Preisstabilität abnimmt und die Inflation zunimmt. Das
ist keine sozial gerechte Politik, sondern das Gegenteil!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Weil dies so ist, wollen Sie Druck auf die unabhän-

gigen Notenbanken machen. Genau so ist der Zusam-
menhang. Ich meine die Bundesbank und die künftige
Europäische Zentralbank. Sie wollen, daß die Bundes-
bank und künftig die Europäische Zentralbank an einer
Politik des leichten Geldes, an einer Politik von mehr In-
flation mitwirken.


(Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! – Genau!)


Nicht anders sind Ihr Gerede und Ihre konzentrischen
Angriffe, von Ihren Beratern bis zu Ihnen selbst Tag für
Tag systematisch angelegt, zu erklären. Die Zinsen sol-
len nach unten gehen, obwohl wir schon das niedrigste
Zinsniveau haben und obwohl wir die reale Zinsdiffe-
renz in Europa in einer Weise auseinandertreiben wür-
den, daß es unter dem Gesichtspunkt der beginnenden
Währungsunion gar nicht zu verantworten wäre. Sie
wollen die Zinsen nach unten manipulieren, eine höhere
Neuverschuldung vornehmen und mehr Inflation her-
vorbringen. Das ist der falsche Weg, um die Reformen
unseres Landes weiter voranzubringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das wird nicht mehr Arbeitsplätze, sondern mehr Infla-
tion in Deutschland verursachen. Sichere Arbeitsplätze
entstehen nur bei Stabilität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Sache ist übrigens noch viel bedenklicher; des-

wegen muß das am Anfang dieser Legislaturperiode
ausgetragen werden. Dies sollte nicht freundlich gesche-
hen, denn daran ist nichts freundlich. Die Bundesrepu-
blik Deutschland mußte große Anstrengungen unter-
nehmen, um unsere Partnerländer in Europa von der
Umsetzung der deutschen Stabilitätskultur auch im
Maastricht-Vertrag und im Stabilitätspakt zu überzeu-
gen. Andere – ich sage das mit vollem Respekt vor der
Tradition und dem Verfassungs- und Staatsverständnis
unserer Freunde und Partner in Europa – haben ein ganz
anderes Verhältnis zu der Vorstellung von einer auto-
nomen Notenbank. In Frankreich ist nach dem dortigen
Staatsverständnis seit Jahrhunderten – bis zum Vertrag
von Maastricht – die Politik die oberste Instanz gewe-
sen, die letzten Endes über alle Entscheidungsbereiche
verfügen kann. Herr Lafontaine, so hätten Sie es gern;
aber so ist es in Deutschland nicht. Es ist auch besser,
daß es in Deutschland nicht so ist, und es darf nicht so
werden.

Natürlich hat Geld eine politische Funktion, natürlich
hat die Bundesbank eine politische Verantwortung. Aber

Dr. Wolfgang Schäuble






(B)



(A) (C)



(D)


diese Verantwortung unterliegt nicht der Verfügung der
jeweiligen parteipolitischen Mehrheit. Das ist der
Grund, warum wir in Deutschland in diesen 50 Jahren
mehr Stabilität hatten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nur dann, wenn wir uns diese Autonomie, diese Selb-

ständigkeit, diese Eigenverantwortung, diese Nichtver-
fügbarkeit der Geldpolitik der Zentralbank für Preissta-
bilität, für Geldwertstabilität erhalten, können wir darauf
vertrauen, daß die europäische Währung so stabil wird,
wie es die D-Mark Gott sei Dank – auch dank unserer
Politik – geworden ist.

Das war das eigentlich Schwierige, und das war der
weite Weg, den andere auf dem Weg zur Europäischen
Union zurücklegen mußten. Das fordert von uns Re-
spekt, wie es übrigens auch Respekt vor der politischen
Führungsleistung und Staatskunst der bisherigen Bun-
desregierung, des Bundeskanzlers, des Finanzministers,
des Außenministers, fordert,


(Zustimmung bei der CDU/CSU)

daß es gelungen ist, die Unabhängigkeit der Notenbank,
die Unverfügbarkeit der Geldwertstabilität für die je-
weilige parteipolitische Mehrheit zum Prinzip auch der
Europäischen Währungsunion zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn das jetzt gleich zu Beginn, noch ehe die Wäh-
rungsunion wirklich begonnen hat, ausgerechnet von
Deutschland untergraben wird, dann fängt es in
Deutschland schlecht an und wird in Europa noch
schlechter enden, meine Damen und Herren. Deswegen
werden wir dagegen jeden Widerstand leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Geldwertstabilität darf auch in der Europäischen
Währungsunion nicht aufs Spiel gesetzt werden.


(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Zu einer fairen Behandlung Ihres Vorgängers und der

Vorgängerregierung hätte – bei allen politischen Unter-
schieden – übrigens auch gehört, nicht nur über die
Notwendigkeit zu reden, Herr Bundeskanzler, die Fi-
nanzierung der Europäischen Union entsprechend der
jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein Stück
fairer zu ordnen, als sie im Laufe der Jahre seit 1992
geworden ist. Das ist 1992 so vereinbart worden – hier
haben Sie recht; das stimmt so –, weil seinerzeit eine be-
sondere Situation bestand. Aber im nächsten Jahr muß
eine Neuregelung der Finanzierung der Europäischen
Union erreicht werden. Das wird schwierig zu erreichen
sein. Sie werden dabei auf unsere Unterstützung rechnen
können.

Aber Sie hätten auch vermerken sollen, daß Sie nicht
nur auf unsere Unterstützung bei diesem schwierigen
Unterfangen rechnen können, sondern daß Sie vor allen
Dingen auf die Vorarbeit des bisherigen Bundesfinanz-
ministers Theo Waigel zählen können, der ja in Europa
die Bereitschaft zu einer finanziellen Neuregelung in der
Europäischen Union in den letzten Monaten in mühe-

voller Arbeit erreicht hat. Das hätten Sie hier mit etwas
Respekt vermerken sollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das wird übrigens nicht heißen, daß Deutschland als

ein wirtschaftlich stärkeres Land, als es andere heute
sind, nicht auch in Zukunft mehr an der Finanzierung
der Europäischen Union tragen muß als andere. Das ist
in Ordnung. Aber es muß ein faires Verhältnis zur Lei-
stungsfähigkeit vorhanden sein. Dieses Verhältnis ist ein
Stück weit unfair geworden. Daß inzwischen alle Fi-
nanzminister anerkannt haben, daß die heutige Regelung
jedenfalls nicht mehr den objektiven Gegebenheiten
unter den Mitgliedsländern der Europäischen Union ent-
spricht, ist ein großer Erfolg von Theo Waigel. Darauf
läßt sich aufbauen, verehrte Damen und Herren der
neuen Bundesregierung und der neuen Mehrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber wenn Sie als neue Bundesregierung in

Deutschland die Grundlagen von Stabilität und Solidität
in der Europäischen Union untergraben, dann werden
Sie Europa auch nicht in die Lage versetzen, das drin-
gende Projekt der Osterweiterung zustande zu bringen.
Herr Bundeskanzler, wir haben ja – ich hoffe, es hält –
mit einer gewissen Befriedigung vermerkt, daß Sie
schnell Äußerungen wieder in Ordnung gebracht haben,
die am Anfang nicht in Ordnung waren. Unseren Nach-
barn in Osteuropa zu sagen, mit der neuen Regierung
werde es jetzt ein wenig länger dauern, beschwor eine
gefährliche Entwicklung herauf. Herr Fischer mußte
dann gleich nach Warschau fliegen. Auch Sie waren dort
und haben es in Ordnung gebracht. Ich hoffe, es bleibt
dabei.

Wir sollten uns als wiedervereintes Deutschland in
der Mitte Europas unabhängig von der Frage, wer gera-
de die Regierung und wer die Opposition stellt, darum
bemühen, ganz Europa zu einem Kontinent zu machen,
auf dem Frieden, Stabilität, wirtschaftliche, soziale
und ökologische Prosperität herrschen. Das ist das
wichtigste Projekt der Deutschen am Ende dieses und
am Beginn des kommenden Jahrhunderts. Dafür müs-
sen wir arbeiten; dazu werden wir auch in Zukunft ste-
hen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das setzt aber voraus, daß jeder seinen Beitrag leistet.

Stabilität beginnt immer zu Hause. Das gilt auch für die
Zukunft.

Wenn Sie glauben, die Arbeitslosigkeit könne durch
den Europäischen Rat bekämpft werden, dann fürchte
ich, daß Europa eine gefährliche Entwicklung nimmt.
Wir werden Europa besser voranbringen, wenn wir das
Subsidiaritätsprinzip in Europa stärker durchsetzen,
das heißt, wenn wir uns darüber verständigen, welche
Ebene in Europa – europäische Ebene, Mitgliedstaaten
oder Regionen – für die Lösung welcher Probleme zu-
ständig ist. Wer glaubt, europäische Beschäftigungs-
politik würde in Europa mehr Arbeitsplätze schaffen, ist
auf dem Holzweg. Am Ende werden in Europa nur mehr
Steuern, mehr Abgaben, mehr Bürokratie und weniger

Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


Arbeitsplätze herauskommen. Wir werden Sie auf die-
sem Weg nicht unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir brauchen eine Steuerreform, die die Wachs-
tumskräfte stärkt. Sie werden uns ja bei den steuerpoliti-
schen Diskussionen der kommenden Tage und Wochen
immer sagen – das ahne ich schon voraus –, diese und
jene Maßnahme zur Verbreiterung der Bemessungs-
grundlage habe auch die CDU/CSU-F.D.P.-Koalition
einmal vorgesehen.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aha! – Ernst Schwanhold [SPD]: So ist das!)


– Sie sagen „Aha“, Frau Matthäus-Maier. Wären Sie
doch einmal Fraktionsvorsitzende geworden, dann
könnten Sie gleich im Anschluß reden.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Machen Sie mal so weiter, Herr Schäuble! Dann fangen auch wir gleich so an!)


– Sie fangen ja wirklich gut an, indem Sie hier dauernd
dazwischenrufen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Erst loben Sie, und dann beleidigen Sie!)


– Wenn Sie vorhaben, wie Sie es mit solchen Zwischen-
rufen schon bestätigen, die Unterschiede zweier völlig
verschiedener steuerpolitischer Konzepte, nämlich Ihr
falsches und unser richtiges, in der Öffentlichkeit zu
verwischen


(Lachen bei der SPD)

dann muß ich es Ihnen entsprechend zurückgeben. Das
können Sie doch nicht anders erwarten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nach unserem Konzept sollen die Steuersätze und

zwar jetzt, nicht irgendwann – deutlich gesenkt werden.
Alle Steuersätze –


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sechzehn Jahre habt ihr Zeit gehabt!)


Spitzensteuersatz, Eingangssteuersatz und alle Sätze da-
zwischen, Thesaurierungssatz und Ausschüttungssatz
bei der Körperschaftsteuer – sollen etwa um ein Drittel
gesenkt werden. Dazu ist eine Nettoentlastung erforder-
lich, nicht irgendwann im nächsten Jahrhundert, sondern
jetzt. Danach können Sie auch die Bemessungsgrund-
lage verbreitern und Ausnahmeregelungen bei der Be-
steuerung beseitigen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Aber nur dann!)

Wenn Sie aber die Steuersätze nicht senken und keine

Nettoentlastung ermöglichen, sondern nur die Bemes-
sungsgrundlage verbreitern, dann nehmen Sie Steuerer-
höhungen vor. Diese sind Gift für die Wirtschaft und
den Arbeitsmarkt in Deutschland. Das ist der Unter-
schied.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Jedesmal, wenn Sie in Zukunft versuchen, unter Ver-
drehung der Wahrheit die Menschen darüber zu täu-
schen, werden wir uns in aller Entschiedenheit dagegen
wehren und der Öffentlichkeit die Wahrheit sagen. Es
handelt sich um zwei völlig unterschiedliche Konzepte.

Letztendlich wollen Sie doch die Staatsquote gar
nicht senken, sondern erhöhen. An keiner Stelle sehen
Sie Einsparungen vor. In Ihrem Programm ist bisher le-
diglich vorgesehen, beschlossene Einsparungen rück-
gängig zu machen und mehr Geld auszugeben. Ich sage
es Ihnen vorher: Der Sozialversicherungsbeitrag wird
nicht sinken, wie sehr Sie den Benzinpreis auch erhö-
hen. Dabei berücksichtigen Sie übrigens nicht, was das
sozial bedeutet.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie haben doch 50 Pfennig draufgelegt! – Weiterer Zuruf von der SPD: Waren Sie nicht auch einmal für die Ökosteuer?)


– Frau Matthäus-Maier, Sie wollen immer, daß ich nett
zu Ihnen bin. Das würde ich auch sein, wenn Sie nicht
immer so irreführende Zwischenrufe machten.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das habe ich gar nicht gemacht! Haben Sie ihn erhöht oder nicht?)


– Wir haben jetzt vier Jahre Zeit, uns zu streiten, aber
dabei wollen wir doch freundlich bleiben.

Lassen Sie uns also die Argumente austauschen: Un-
ser Konzept war und bleibt, die Steuersätze zu senken,
die Steuerbelastung insgesamt netto zu reduzieren und
im Zuge dessen auch Ausnahmen zu beseitigen. Ihr
Konzept bringt keine Nettoentlastung, keine Senkung
der Steuersätze. Sie wollen nur Ausnahmen von der Be-
steuerung abschaffen. Das sind Steuererhöhungen. Das
ist das Gegenteil unserer Politik. Das Ergebnis wird
mehr Arbeitslosigkeit und weniger Wachstum sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ihr Konzept ist, die beschlossenen und in Kraft ge-
setzten Maßnahmen zur Reduzierung des Anstiegs der
Ausgaben in der Renten- und der Krankenversiche-
rung rückgängig zu machen. Sie werden nicht Beitrags-
satzstabilität bei der gesetzlichen Krankenversicherung
ernten, sondern Sie haben mit dem, was Sie ankündigen,
drastische Beitragssteigerungen in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu erwarten.

Wenn Sie jetzt die Ausgaben erhöhen, dann können
Sie noch so viel Ökosteuer machen, wie Sie wollen, sie
dient allenfalls dazu, die Beitragssatzsteigerungen zu
vermeiden, die durch erhöhte Ausgaben entstehen; sie
wird aber nicht zu dauerhaften Beitragssenkungen füh-
ren. Deswegen ist Ihre Politik falsch.

Sie können Umschichtungen nicht an Stelle von
Einsparungen machen; denn wir brauchen zuerst
die Einsparungen. Über zusätzliche Umschichtungen
können wir dann reden, sie sind aber nicht ohne Einspa-
rungen möglich. Das ist der grundsätzliche Unterschied.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dr. Wolfgang Schäuble






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Ich möchte zur Ökosteuer noch folgendes sagen: Ich
glaube nicht – ich habe die Berechnungen gesehen –,
daß sie letzten Endes zu der Entlastung führen wird, von
der Sie sprechen. Erstens werden wir keine Beitragssen-
kung bekommen, und zweitens habe ich die „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ von heute gelesen, wo es heißt:

Nach Berechnungen des Finanzministeriums hat
die ökologische Steuer- und Abgabenreform für ei-
nen Vier-Personen-Haushalt mit einem Jahresein-
kommen von 70 000 Mark brutto folgende Auswir-
kungen: Bei der Rentenversicherung ergibt sich

– durch die Beitragssatzsenkung –
eine Ersparnis von 280 Mark. Die Energiebesteue-
rung führt dagegen zu einer Belastung von 301
Mark:

Sie müssen den Menschen erklären, wie Sie die Fa-
milien entlasten, wenn sie für 280 DM Entlastung 301
DM mehr bezahlen müssen. Das sind nach Berechnun-
gen Ihres Hauses 21 DM mehr. Das Wort Entlastung
sollte Ihnen wirklich nicht mehr über die Lippen kom-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Sie machen Steuererhöhungen, um Ihre Unfähigkeit
zu Einsparungen finanzieren zu können. Im übrigen
wollen Sie mehr Schulden machen und die Inflation be-
schleunigen. Das ist der falsche Weg, und auf diesem
Weg werden Sie mit unserer scharfen Kritik rechnen
müssen.

Die Steuerreform ist falsch, die Abgabenpolitik ist
falsch, die Stabilität in Europa wird untergraben, und Sie
machen nationale Alleingänge in der Energie- und Um-
weltschutzpolitik.


(Zuruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Ach, die Grünen. Wie war das mit den Grünen, Herr
Kollege Schlauch? Mit was für großen hehren Vorsätzen
sind Sie einmal angetreten?


(Lachen bei der CDU/CSU)

In dem Maße, in dem aus Turnschuhen Nadelstreifen
wurden, ist aus Grundsätzen hemmungsloser Opportu-
nismus geworden. Posten statt Ideen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS – Ludwig Stiegler [SPD]: Und mit denen wollen Sie koalieren!)


„Global denken, lokal handeln“ hat der Wahlspruch
geheißen. Jetzt machen Sie in der Energie- und Umwelt-
schutzpolitik nationale Alleingänge. Als ob irgendein
Kernkraftwerk in Osteuropa durch einen nationalen Al-
leingang Deutschlands sicherer würde! Das schafft doch
nicht mehr Sicherheit.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch völliger Kappes! Wieso ist die Ökosteuer ein nationaler Alleingang? Die anderen machen es doch vor! – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Was ist das für eine Ökosteuer? – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das verschlafen!)


– Der Zwischenruf des Kollegen Schlauch veranlaßt
mich, auf einen weiteren der kleinen Kniffe in der Re-
gierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers noch ein-
mal zu sprechen zu kommen, den wahrscheinlich, weil
die Rede relativ glatt dahinplätscherte, nicht alle be-
merkt haben. Die ganze rotgrüne Inszenierung vor und
nach der Wahl hat doch suggeriert, Sie fangen jetzt
richtig kräftig an mit dem, was Sie Ökosteuer nennen.
Ich habe den Begriff immer für falsch gehalten, weil er
nämlich verschleiert, daß Sie in Wahrheit nicht sparen
wollen. Aber ohne Sparen kommen Sie nicht hin. Daß
man darüber, wie man sparsamen Energieverbrauch
sicherstellt, trefflich streiten und miteinander ringen
kann, ist völlig in Ordnung. Aber Sie dürfen das nicht
zur Grundlage der Finanzierung von Mehrausgaben in
der Sozialversicherung machen. Das ist der falsche Weg,
der verschüttet die Milch.

Rotgrün kündigt also an – auch in Ihrer Regierungs-
erklärung, Herr Bundeskanzler; Sie sehen, ich habe zu-
gehört –, das wird jetzt kräftig gemacht. Dann kommt
das mit den sechs Pfennig – energieintensive Betriebe
ausgenommen oder nicht; lassen wir den Koalitionsstreit
mal auf sich beruhen –, es wird aber gesagt: Das ist nur
der erste Schritt, und in den nächsten Jahren geht es
kräftig weiter. Denn sonst wäre es ja herzlich beschei-
den. Da waren wir schon mal weiter in unseren Überle-
gungen; allerdings haben Sie dann die notwendigen Ein-
sparungen blockiert. Das war der Punkt, warum es nicht
zustande gekommen ist.


(Widerspruch des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Jetzt sagen Sie, Herr Bundeskanzler, die nächsten
Schritte können nur in Europa kommen. Das heißt, Sie
haben – wer von Ihren rotgrünen Genossen zugehört hat,
weiß das – schon gesagt: Genossinnen und Genossen,
laßt alle Hoffnung fahren; es gibt keine weiteren Schrit-
te! Ich sage Ihnen: Die sechs Pfennige werden vorne und
hinten nicht ausreichen, um die Ausgabensteigerungen
in der Krankenversicherung und der Rentenversicherung
aufzufangen. Deswegen ist Ihr Programm ein Programm
zur Erhöhung des Sozialversicherungsbeitrags in
Deutschland. Das ist die Wirklichkeit!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Man kann in der Erwiderung auf die Regierungser-

klärung, die alle Themen abdecken muß – wir werden
noch die ganze Woche debattieren –, in dem ersten Bei-
trag nicht bereits zu allen Themen Stellung beziehen.
Das ist auch in Ordnung, und das ist parlamentarischer
Brauch.

Ich will aber noch wenige Bemerkungen zum Thema
der inneren Sicherheit machen.


(Zuruf von der SPD)

– Ja, daran müssen Sie sich gewöhnen. Machen Sie nicht
solche Zwischenrufe wie „Gott sei Dank“! Sie müssen
auch in Ihrer Machtbesoffenheit schon ertragen, daß es

Dr. Wolfgang Schäuble






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andere Meinungen in Deutschland gibt und daß diese
vorgetragen werden.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen und Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben die Wahl gewonnen. Sie haben jetzt eine

Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das gibt Ihnen
eine besondere Verantwortung. Aber ich rate Ihnen
dringend: Gehen Sie damit – im Respekt vor der Mei-
nung anderer – mit ein bißchen mehr Bescheidenheit
um!


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Und das sagen Sie! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Belehrung brauchen wir nicht!)


Es fängt schon damit an, wie Sie den ersten Oppositi-
onsbeitrag in dieser Debatte nicht ertragen wollen.

Und jetzt sage ich Ihnen: Die Art, wie Sie in Ihre Ko-
alitionsvereinbarung hineingeschrieben haben: Stimmt
ihr für den Bundespräsidenten, kriegt ihr den Kommis-
sar für Europa, das ist ein nicht angemessener Umgang
mit den höchsten Ämtern in unserem Staat und in Euro-
pa.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das paßt ganz prima zu den Lafontaineschen Bemü-
hungen in bezug auf Bundesbank und europäische No-
tenbank.


(Widerspruch bei der SPD)

Ich sage Ihnen: Hochmut kommt vor dem Fall.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Darum sind Sie auch in der Opposition!)


Die Arroganz der Macht ist die größte Versuchung.
Dann sage ich Ihnen noch einmal das mit Herrn

Schily, weil Sie es immer noch nicht verstanden haben:
Es geht nicht an, daß ein Innenminister der Bundesrepu-
blik Deutschland, wenn er ein Problem darin sieht, daß
eine Partei, die Gegenstand der Beobachtung durch den
Verfassungsschutz ist, nun in einer Landesregierung
beteiligt ist, sagt: Dann dürfen wir sie nicht mehr beob-
achten. Er müßte dafür eintreten, daß sie nicht Mitglied
einer Landesregierung wird. Das wäre die einzig richtige
Antwort!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, ihr hättet die roten Socken weggepackt!)


Herr Kollege Schlauch, jetzt komme ich auf den Be-
richt des Bonner „Generalanzeigers“ vom 26. Oktober
zu sprechen. Er hat mich so empört, daß ich ihn heute
erwähnen muß. Der Bericht handelt über gewalttätige

Krawalle in Bonn, bei denen die Polizei eine Reihe von
Gewalttätern festgenommen hat.


(Zuruf von der Regierungsbank)

– Entschuldigung, die Landesregierung von Nordrhein-
Westfalen, die für den Polizeieinsatz in Bonn zuständig
ist, wird doch von SPD und Grünen getragen. – Was ist
passiert? Ich könnte jetzt den gesamten Bericht vorlesen.


(Zuruf von der SPD: Nein!)

In der Menge sollten nach Angaben eines Polizei-
sprechers 20 Gewalttäter sein, die die Beamten mit
Flaschen, Steinen und anderen Gegenständen be-
worfen hatten. ... Als Politiker von Bündnis 90/Die
Grünen auf ihrem Parteitag in der Beethovenhalle
davon erfuhren, bahnte sich Ärger an. NRW-
Bauminister Michael Vesper, mehrere Bundestags-
abgeordnete und der Bonner Landtagsabgeordnete
Roland Appel schalteten sich ein. Während Vesper
vor Ort mit dem Einsatzleiter über eine Freilassung
der Festgehaltenen verhandelte, fuhr Appel ins Prä-
sidium.

So wollen wir in Deutschland nicht anfangen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Polizei verrichtet in allen Ländern einen schwe-
ren Dienst. Wir schulden den Polizeibeamten der Länder
Dank und Unterstützung. Was wir unter gar keinen Um-
ständen als Politiker – ob wir Regierungsverantwortung
tragen oder als Abgeordnete tätig sind – machen dürfen:
Wenn die Polizei bei gewalttätigen Krawallen – das ist
für die Polizei eine schwierige Situation – Gewalttäter
festnimmt, dürfen Abgeordnete von Bundestag und
Landtag – oder sogar Minister der Regierung, die der
Dienstherr dieser Polizeibeamten ist – nicht mit der
Polizeieinsatzleitung darüber verhandeln, ob man die
Gewalttäter wieder freiläßt, so geht der Rechtsstaat vor
die Hunde. Das sollte man nicht anfangen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich glaube nicht, daß Sie so die innere Sicherheit ver-
bessern werden.

Übrigens: Zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung ge-
hört auch, daß die Kriminalität in Deutschland in den
letzten Jahren deutlich abgenommen hat und die Aufklä-
rungsquote gestiegen ist.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat im Wahlkampf anders geklungen!)


– Nein, überhaupt nicht. Aber die Verbesserung reicht
noch nicht aus. Deshalb müssen Sie Ihren Parteifreund
Vesper an die Leine nehmen, Herr Kollege Schlauch. Es
geht nun wirklich nicht, als Minister einer Landesregie-
rung die Gewalttäter zu Verhandlungsführern zu ma-
chen. – Die Kriminalität hat durch die Anstrengungen
von Bund und Ländern abgenommen. Das ist in erster
Linie das Verdienst der Polizeibeamten. Wir müssen sie
bei ihrer Arbeit unterstützen und dürfen ihnen nicht in
den Rücken fallen. Dafür appelliere ich, darum werbe
ich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Wolfgang Schäuble






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Aber ich sage auch: Neben vielen wichtigen und
schwierigen Aufgaben ist die Bewahrung von innerer
Sicherheit in der modernen Welt eine der großen Her-
ausforderungen, für deren Bewältigung es kein Patentre-
zept gibt.


(Zuruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Herr Kollege Schlauch, wenn Sie in diesem Zusam-
menhang noch einen Zwischenruf machen, muß ich über
einen Vorgang berichten, bei dem Sie sich entschuldigen
mußten. Meine Kenntnisse über Ihren Umgang mit ba-
den-württembergischen Polizeibeamten sind noch gut
genug, um Sie zu warnen: Seien Sie an dieser Stelle
ganz ruhig!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Bewahrung der inneren Sicherheit wird nicht ge-
lingen, wenn wir nicht eine vernünftige Mischung von
verschiedenen Maßnahmen finden. Herr Bundeskanzler,
wir stimmen mit dem überein, was Ihr Innenminister im
Zusammenhang mit Maßnahmen zur Prävention – Ju-
gendarbeit, Musikschulen und dergleichen – gesagt hat.
Diese Art von Prävention muß sich aber vor Ort, in der
Kommunal- und Landespolitik abspielen. Je mehr es
gelingt, mit Hilfe von Ehrenamtlichen – Herr Bundes-
kanzler, da haben Sie mich völlig falsch verstanden, ich
hatte etwas anderes gesagt; ich wollte Sie gar nicht är-
gern, sondern mich nur mit Ihnen politisch auseinander-
setzen – präventive Arbeit zu leisten, um so besser ist es.
Aber alle Prävention und alle Sozialtherapie wird den
Staat am Ende nicht der Verantwortung entheben, das
Gewaltmonopol durchsetzen zu müssen. Dafür brauchen
wir klare Gesetze, eine einsatzfähige Polizei und Ge-
richte, die den Rechtsstaat durchsetzen. Das eine kann
nicht durch das andere ersetzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich glaube übrigens, daß uns die Prävention und die
Gewaltfreiheit um so besser gelingen werden, je mehr
wir uns daran erinnern, daß grundlegende Werte und das
Bekenntnis dazu Grundlage jeder Freiheitsordnung sein
müssen und daß wir Institutionen brauchen, die Werte
vermitteln. Anders wird es nicht gehen.

Rotgrün ist auf dem falschen Weg, wenn es die vor-
rangige Schutzfunktion von Ehe und Familie dadurch
untergräbt, daß es Ehe und Familie jeder anderen Form
menschlichen Zusammenlebens gleichsetzen will. Nach
Artikel 6 des Grundgesetzes genießen Ehe und Familie
vorrangigen Schutz. Diesen Schutz brauchen sie auch.
Wir respektieren jede Lebensform der Menschen. Wir
schreiben niemandem etwas vor. Aber wir brauchen
Leitbilder und eine Wertorientierung, damit unsere Ge-
sellschaft auch im 21. Jahrhundert freiheitlich, tolerant
und menschenwürdig bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir brauchen die richtigen Entscheidungen. Wir sind
uns einig, daß das Zusammenleben mit ausländischen

Mitbürgern, die auf Dauer in Deutschland leben und von
denen viele von uns einmal angeworben wurden – auch
das gehört zur Wahrheit und muß den Menschen immer
wieder gesagt werden –, also mit Menschen, die ganz
unterschiedlich sind, alle modernen Demokratien vor
große Herausforderungen, vor große Bewährungsproben
stellt. Das ist richtig; da sind wir uns einig.

Deswegen muß unser aller Ziel sein – ich hoffe, daß
es hierbei in diesem Hause keine Unterschiede gibt –,
die auf Dauer rechtmäßig in Deutschland lebenden aus-
ländischen Mitbürger – vor allen Dingen die Kinder, die
hier geboren werden – so gut und so schnell wie mög-
lich zu integrieren. Zur Verwirklichung dieses Ziels
müssen wir auf allen Ebenen, also im Bund, in den Län-
dern und in den Gemeinden, sehr viele Anstrengungen
unternehmen. – Ich wiederhole: Kein Bundesland hat in
den Schulen mehr Stellen für die Integration von Kin-
dern ausländischer Eltern eingerichtet als der Freistaat
Bayern. Auch das gehört zur Wahrheit, wenn man fair
miteinander umgeht. –


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen also gemeinsam auf allen Ebenen jede

Anstrengung zur Förderung von Integration unterneh-
men. Die Union wird sich darin von niemandem über-
treffen lassen.

Aber die ausnahmslose Hinnahme einer doppelten
Staatsangehörigkeit ist der falsche Weg. Sie wird die
Integration nicht fördern, sondern behindern. Deswegen
appelliere ich an Sie: Kehren Sie auf diesem falschen
Weg um! Das Ergebnis wird nicht mehr Toleranz und
mehr Ausländerfreundlichkeit, sondern das Gegenteil
sein. Wenn Sie die ausländischen Mitbürger mit dem
Privileg versehen, zwei Staatsangehörigkeiten haben zu
können, während die Deutschen nur eine haben, wenn
Sie die Staatsangehörigkeit nicht mehr als Abschluß
eines Integrationsprozesses verstehen, dann geht das am
Kern des Problems vorbei, Herr Bundeskanzler. Es ist
die freie Entscheidung der Menschen, ob sie die deut-
sche Staatsangehörigkeit erwerben wollen, ob sie Deut-
sche sein wollen oder nicht. Wir zwingen niemanden,
Deutscher zu werden. Aber wer Deutscher werden will,
muß die Entscheidung dazu treffen. Deswegen ist die
ausnahmslose Hinnahme einer doppelten Staatsangehö-
rigkeit im Ergebnis nicht ein Programm zur Förderung
von Integration, sondern zur Förderung von Ausländer-
feindlichkeit. Deswegen werden wir sie bekämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, der grundsätzliche Unter-

schied zwischen dieser Regierung, der rotgrünen Koali-
tion, und der Union – über alle Einzelheiten und Einzel-
fragen hinweg, über die wir uns Tag für Tag und Woche
für Woche kämpferisch auseinandersetzen müssen und
auseinandersetzen werden – besteht letzten Endes in der
Frage – in den Zielen sind wir uns ja häufig einig: Inte-
gration, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Wohlstand
für alle, soziale Sicherheit, Frieden nach außen und in-
nere Sicherheit; über all das gibt es keinen Streit –: Wie
erreichen wir diese Ziele? Bei der Beantwortung dieser
Frage setzen Sie, wenn es ernst wird, trotz aller schönen
Formulierungen in Ihrer Regierungserklärung immer auf

Dr. Wolfgang Schäuble






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staatliche, zentralistische Regulierung und Reglementie-
rung und im Ergebnis auf Steuern, Abgaben und Büro-
kratie.

Das ist nach unserer Überzeugung der falsche Weg.
Wir trauen den Menschen, und wir trauen ihnen etwas
zu. Deswegen wollen wir die Kräfte von Eigenverant-
wortung, Freiheit, freiwilliger Solidarität, von Werten
und wertvermittelnden Institutionen stärken. Das ist der
grundsätzliche Unterschied. Dieser Unterschied wird
sichtbar in der Sozialpolitik, in der Wirtschaftspolitik, in
der Finanzpolitik, in der inneren Sicherheit und bei der
Integration ausländischer Mitbürger.

Dies ist letzten Endes eine Frage des Menschenbil-
des. Nach unserer Überzeugung kann der Staat nicht al-
les, und er darf auch nicht alles können. Staatliche All-
macht war in der Menschheitsgeschichte immer die Vor-
stufe zur Hölle. Deswegen sind Machtbegrenzung, De-
zentralisierung, Föderalismus, Autonomie und Wettbe-
werb der bessere Weg, um Freiheit und eine gute Zu-
kunft zu sichern. Das ist der Weg der Union.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen einen handlungsfähigen Staat, der sein

Gewaltmonopol ernst nimmt und durchsetzt. Wir brau-
chen eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Herr Lafontai-
ne, es hilft alles nichts: Die wirtschaftliche Entwicklung,
die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft richtet sich
nach den Regeln von Markt und Wettbewerb im Zeital-
ter der Globalisierung. Wer die bestehenden Regeln des
weltweiten Wettbewerbs bestreitet, kann Deutschland
nicht in eine gute Zukunft führen. Für die Wettbewerbs-
fähigkeit der Wirtschaft muß man die Regeln von Markt
und Wettbewerb akzeptieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Aber das ist nicht alles. Wirtschaft und Wirtschaften
sind nie Selbstzweck. Ziel ist vielmehr, für die Men-
schen mehr Erfüllung, mehr Glück, mehr Wohlstand,
mehr soziale Sicherheit sowie mehr Frieden und Freiheit
zu bewirken. Deswegen wollen wir eine sozial starke
Gesellschaft. Wir müssen um die Frage „Wirtschaft wo-
zu?“ ringen, um die richtigen Antworten zu geben. Wirt-
schaftliche Leistungsfähigkeit, eine aktive, starke Ge-
sellschaft, Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Wärme
– das ist der Wettstreit, um den es geht. Angesichts des-
sen versagen Sie, indem Sie schon die Regeln von Markt
und Wettbewerb nicht akzeptieren können.

Herr Bundeskanzler, Sie haben in zwei Reden – am
1. September und am 3. Oktober dieses Jahres, noch als
Bundesratspräsident – davon gesprochen, der Födera-
lismus dürfe nicht zu einem Wettbewerb zwischen den
Bundesländern werden.

Ich sage: In dieser Frage ist die CDU/CSU grund-
sätzlich gegenteiliger Auffassung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn dezentrale Systeme, die kommunale Selbstver-
waltung, der Föderalismus, die Gliederung staatlicher
Macht und Zuständigkeit in Bund und Ländern, einen
Sinn machen sollen, muß es einen Wettbewerb um die

bessere Lösung, zum Beispiel zwischen Kommunen und
zwischen Bundesländern, geben. Diese bessere Lösung
muß dann Vorbild für die anderen sein. Die Ausgleichs-
systeme dürfen nicht dazu führen, daß am Schluß dieje-
nigen mit den schlechtesten Ergebnissen an der Spitze
stehen. Deswegen muß unser System des Föderalismus
reformiert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wer den Wettbewerb nicht akzeptiert, hat die Grundre-
geln für Innovations- und Zukunftsfähigkeit einer Wirt-
schafts- und Gesellschaftsordnung nicht verstanden. Mit
dieser grundsätzlichen Alternative werden Sie sich in
den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen. Wir
streiten mit Ihnen um den besseren Weg in eine gute
Zukunft, und wir nehmen unsere Verantwortung ernst.

Ich sage noch einmal, weil ich ja weiß, daß Sie Ihre
Wahlversprechungen schnell vergessen machen wol-
len – deswegen muß es am Anfang und am Ende des er-
sten Diskussionsbeitrags zu dieser Regierungserklärung
gesagt werden –: Das Haus ist wohl bestellt, das Sie
nach 16 Jahren CDU/CSU-FDP-Regierung übernommen
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Niemand hat je bestritten, daß wir eine Menge Probleme
haben. Sie haben uns doch in den letzten Jahren immer
wieder daran gehindert, die Probleme noch besser zu lö-
sen, als wir sie ohnehin schon gelöst haben. Aber es
bleibt festzuhalten: Das Haus ist wohl bestellt. Wir ha-
ben eine rückläufige Arbeitslosigkeit; es gibt 400 000
Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Es sind über
800 000 Arbeitsplätze im Verlauf dieses Jahres hinzuge-
kommen. Wir haben stabile Preise und die niedrigste
Preissteigerungsrate seit vielen Jahren. Wir haben die
niedrigsten Zinsen. Wir haben ein solides Wirtschafts-
wachstum. Wir haben weniger Kriminalität und eine hö-
here Aufklärungsquote. Wir haben in den letzten Jahren
weniger Zuwanderung nach Deutschland gehabt. All
dies stellt die Ausgangslage dar, in der Sie anfangen.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Eine Erfolgsbilanz!)


Wenn sich in den kommenden Jahren die Entwick-
lung zum Schlechteren verändert, dann sind das, Herr
Bundeskanzler, Ihre Zahlen. Wenn die Arbeitslosigkeit
und auch die Inflation steigen und das Wirtschafts-
wachstum zurückgeht, dann ist das in der Verantwor-
tung Ihrer Politik.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Daran werden Sie sich messen lassen müssen. Sie haben
gesagt, Sie wollen sich daran messen lassen; wir werden
Sie daran messen.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1400300500
Das Wort hat der
Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Peter Struck.

Dr. Wolfgang Schäuble






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(A) (C)



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Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1400300600
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Es gibt verschiedene Möglichkeiten,
im Parlament das Verhältnis zwischen den Koalitions-
fraktionen und den Oppositionsfraktionen zu regeln.
Eines will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, Herr
Kollege Schäuble: Wer wie Sie uns „Machtbesoffen-
heit“ vorwirft,


(Zuruf von der CDU/CSU: Hat recht!)

der darf sich dann nicht darüber wundern, daß ich ihm
entgegenhalte: Ihre Tiraden sind nur dadurch zu erklä-
ren, daß Sie die Regierungsmacht verloren haben und
daß Sie selbst nicht Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland werden konnten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen noch eines, Herr Kollege Schäuble:
Sie brauchen hier keine Reden wie vor der Wahl zu
halten, nach dem Motto: Wir übergeben ein wohl be-
stelltes Haus. Wenn das denn so wäre, so müßte man
fragen: Wieso sind Ihnen denn die Bürger, zum Beispiel
die Mieter, weggelaufen? Können Sie mir das einmal
erklären? Das ist ja geradezu absurd.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen auch noch klipp und klar: Wir können
vernünftig miteinander umgehen. Das sollten wir im In-
teresse unserer parlamentarischen Demokratie tun. Aber
dann müssen Sie, verehrter Herr Kollege Schäuble, es
auch ertragen, daß Zwischenrufe gemacht werden. Da-
bei müssen Sie nicht immer den Schutz des Präsidenten
in Anspruch nehmen. Wenn Sie die SPD-Fraktion so
angreifen, wie Sie das getan haben, dann werden wir uns
wehren, und dabei wird es bleiben. Nehmen Sie das zur
Kenntnis!


(Beifall bei der SPD)

Ich war ja sehr gespannt auf die Rede, die Sie halten

würden, weil ich dachte: Was kommt denn nun? Ich ver-
stehe – weil wir das ja selbst 16 Jahre lang als Opposi-
tion ertragen mußten –, daß der Vorsitzende einer Oppo-
sitionsfraktion versuchen muß, die eigenen Leute zu
mobilisieren.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Scharping hat das immer gemacht!)


Ich kann nachvollziehen, wie schwer das für Sie ist und
daß man dann natürlich versuchen muß, auch kräftige
Worte zu finden. Aber, Herr Kollege Schäuble, Ihre
heuchlerischen Ausführungen zu der Frage des Ver-
hältnisses zwischen PDS und SPD


(Michael Glos [CDU/CSU]: „Heuchlerisch“? – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


gehen weit über die Grenze hinaus.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir wissen doch ganz genau, daß in 44 Gemeinden und
Landkreisen in den neuen Ländern die CDU Koalitionen

mit der PDS eingegangen ist. Uns dann hier Zusammen-
arbeit vorzuwerfen ist lächerlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn Sie, Herr Kollege Schäuble, uns auch noch anla-
sten wollen, daß die PDS in den Bundestag eingezogen
ist, dann sage ich Ihnen klipp und klar: Wir wollten
nicht – Verzeihung, Herr Kollege Gysi –, daß diese
Partei in den Deutschen Bundestag einzieht. Sie ist ein-
gezogen, weil Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, in den neuen Ländern eine falsche Politik
gemacht haben. Sie haben das zu verantworten, nicht
wir.


(Beifall bei der SPD)

Es macht mich sehr stolz, hier für die größte SPD-

Bundestagsfraktion sprechen zu dürfen, die je in diesem
Hause gearbeitet hat.


(Zurufe von der CDU/CSU)

– Entschuldigen Sie; ich höre Zurufe von Herrn Waigel
und Herrn Glos. Ich will nur Herrn Kollegen Waigel sa-
gen – Herr Hintze hat sich schon verzogen –: Sie sind
nun absolut ungeeignet, in irgendeiner Weise Zurufe zu
machen, Sie als völlig gescheiterter Finanzminister der
Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die SPD-Kandidatinnen und -Kandidaten haben 212
Wahlkreise direkt gewonnen, 109 mehr als bei der Wahl
zum vergangenen Bundestag. Das hat es noch nie gege-
ben: 20 181 269 Wähler haben der SPD und Gerhard
Schröder ihre Zweitstimme gegeben. Meine Damen und
Herren, Herr Bundeskanzler, wir werden dieses Vertrau-
en rechtfertigen.


(Beifall bei der SPD)

Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik

Deutschland ist – das ist der tiefere Grund für die Ver-
bitterung und für die teilweise unsinnigen Tiraden Ihres
Fraktionsvorsitzenden – eine Regierung komplett ab-
gewählt worden. Zum erstenmal haben Oppositionspar-
teien per Wahl das Kanzleramt errungen. Ihnen mag das
nicht passen, aber es sollte Sie freuen; denn es ist ein
Beleg dafür, wie demokratisch und lebendig unsere
Bürger entscheiden können, wenn es um die Frage geht,
wer politische Verantwortung in unserem Land haben
soll.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir, die SPD-Fraktion, werden uns – trotz dieses sehr
schlechten Anfangs von Ihrer Seite, Herr Kollege
Schäuble –


(Lachen bei der CDU/CSU)

durch die gewonnene Stärke nicht zu Arroganz verleiten
lassen. Allen Fraktionen bieten wir eine faire, konstruk-
tive Zusammenarbeit an, schon deshalb, weil wir aus
16 Oppositionsjahren wissen, wie es ist, wenn alle Ei-
geninitiativen von der Dominanz der Regierungsfraktio-
nen vom Tisch gefegt werden.






(A) (C)



(B) (D)


Wo ich gerade die F.D.P. sehe

(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wir waren die ganze Zeit hier!)

– ja, ich weiß –: Der arme Herr Gerhardt muß jetzt ganz
alleine da vorne in der ersten Reihe sitzen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ich bin in guter Gesellschaft!)


Als wir – das muß ich Ihnen einmal sagen, Herr Ger-
hardt; vielleicht wissen Sie das nicht – in der Situation
waren, in der Sie jetzt sind, ging es um die Frage, wie
viele Stühle in der ersten Reihe die Fraktionen haben
dürfen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen freundlicherweise ei-
nen ihrer Plätze zur Verfügung gestellt. Daran, daß Sie
jetzt dort alleine sitzen müssen, sehen Sie, wie Ihr ehe-
maliger Koalitionspartner mit Ihnen umgeht.


(Beifall bei der SPD)

So ist das, wenn man nicht mehr gebraucht wird.

Ihre Fraktion ist ein bißchen kleiner geworden, und
die Anreden in Ihrer Fraktion müssen sich auch ändern:
Sie können nicht mehr „Herr Minister“ und „Herr
Staatssekretär“ sagen. Sie regieren zum erstenmal seit
29 Jahren nicht mehr mit, aber – das muß ich Ihnen ehr-
lich sagen, Herr Gerhardt – ich habe überhaupt kein
Mitleid mit Ihnen. Es freut mich geradezu.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wir haben auch kein Problem damit!)


Da ich nun gerade meinen Blick schweifen lasse:
Herr Altbundeskanzler Kohl, es ist viel davon gespro-
chen worden, in welch würdiger Art und Weise der
Amtswechsel vollzogen worden ist und wie Sie diese
Wahlniederlage hingenommen haben. Ich will das nicht
wiederholen; ich finde, das ist nun oft genug gesagt
worden. Aber ich möchte sagen – Sie werden es mir per-
sönlich nicht übelnehmen, Herr Altkanzler Kohl –: Mir
wäre es lieber gewesen, wenn Sie diese würdige Art, ei-
ne Wahlniederlage hinzunehmen, schon viel früher als
1998 hätten zeigen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Klaus Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Arroganz der Macht! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Ja, die Wahrheit hört man nicht gerne. Herr Waigel,
setzen Sie sich mal lieber ganz nach hinten; dort stören
Sie am wenigsten. Ihre Zeit ist sowieso schon lange vor-
bei.

Wer hätte erwartet, daß diese Koalition der Erneue-
rung in Rekordzeit einen vertragsfähigen Handlungs-
rahmen abstecken würde? Das sind keine Blütenträume,
sondern das Konzept, wie es der Herr Bundeskanzler für
die nächsten vier Jahre vorgestellt hat, ist sehr reali-
stisch. Manchem Bürger geht das nicht weit genug;
mancher hätte mehr Aufbruch erwartet. Ich glaube aber,
daß Rot und Grün das rechte Augenmaß für Kontinuität
und Erneuerung hatten. Für unseren Start in Jahre har-
ter Arbeit gilt, was die Chinesen mit einem Sprichwort

sagen: Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten
Schritt.

Sie können sicher sein, daß wir es ernst meinen mit
der Erkenntnis, die der Vorsitzende der Unionsfraktion,
Kollege Schäuble – er ist gerade nicht im Saale anwe-
send –,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er kommt gleich wieder!)


1994, bei der letzten Regierungserklärung Helmut Kohls
zum Anfang einer Legislaturperiode, hier zum Besten
gegeben hat: „Wir wissen nicht alles, und wir wissen
nicht alles besser.“ Das ist eine richtige Erkenntnis. Ich
werde ihn noch persönlich darauf ansprechen, wenn er
Gelegenheit hat, wieder hier im Plenum zu sein.

1994 war dies eine kluge Einschätzung. Wie recht er
damit hatte, hat das Wählervotum gezeigt. Das war auch
die Antwort darauf, daß die Unionsfraktion entgegen ih-
rer vorgetragenen Einschätzung glaubte, das Land mit
ihrer Besserwisserei überziehen zu können. Das glauben
Sie heute übrigens – wie die Rede von Herrn Schäuble
gezeigt hat – noch immer. Wie anders ist zu verstehen,
daß Sie auf Ihrem Parteitag und auch eben wieder eine
vermeintliche Erfolgsbilanz vorlegten? Nehmen Sie
doch den Rat an, der Ihnen in den Medien erteilt wird.
Sie machen sich lächerlich, wenn Sie, Herr Waigel, Herr
Glos und andere, sich nach einer so heftig verlorenen
Wahl auf die Schulter klopfen. Was Sie hinterlassen ha-
ben, ist kein Fundament für eine gute Zukunft, wie Sie
es kürzlich und gerade eben wieder behauptet haben.


(Beifall bei der SPD)

Meine Aufgabe ist es nicht, Ursachenforschung für

das Desaster der Union zu betreiben. Das machen Leute
wie Rüttgers, Blüm, Geißler, Biedenkopf oder angeb-
liche „Junge Wilde“ – was daran wild sein soll, ist mir
noch nie aufgegangen – mit weit intimerer Kenntnis.

Die Kirchen haben Sie gewarnt; die Gewerkschaften
haben Sie gewarnt. Dennoch haben Sie eine Politik be-
trieben, die gegen die Interessen der großen Mehrheit
der Bevölkerung gerichtet war. Das ist jetzt sogar Nor-
bert Blüm aufgefallen. Er sagt – ich zitiere –: „Vielleicht
haben wir den Eindruck erweckt, unsere Vorschläge
stammten aus dem sozialen Kühlhaus.“ – Herr Kollege
Blüm, das war nicht nur irgendein Kühlhaus. Manchmal
hat Ihre Regierung den Eindruck erweckt, als sei ihr so-
ziales Gewissen tief im ewigen Eis Grönlands eingefro-
ren.


(Beifall bei der SPD)

Inzwischen aber tauen selbst die sozialen Gefühle des

neuen CDU-Vorsitzenden auf. Fast anrührend gab er
am 29. Oktober zu Protokoll, daß wir wieder eine Ge-
sellschaft brauchen, in der niemand sich selbst überlassen
bleibt, eine Gesellschaft – so Herr Kollege Schäuble –,
in der soziale Gerechtigkeit herrscht. – Ich glaube,
Herr Schäuble, Sie verwechseln da eine Kleinigkeit: Sie
müssen jetzt Opposition gegen Rotgrün machen, oppo-
nieren im Augenblick aber gegen Ihre Thesen von ge-
stern aus dem Kühlhaus. Lesen Sie doch nach, was Sie

Dr. Peter Struck






(B)



(A) (C)



(D)


vor zwei Jahren in der Akademie in Tutzing gesagt ha-
ben:

Das Desaster der Union ist nicht mein Thema.
Mein Thema ist die Frage, wie eine Regierung so
sehr die Notwendigkeit des Zusammenhalts dieser
Gesellschaft aus den Augen verlieren konnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In den CDU-Sozialausschüssen bemängelt man, die

Bundesregierung habe nicht leidenschaftlich genug für
den Konsens gekämpft und sei – Zitat – in die Kon-
fliktfalle geraten. – Das stimmt nur zum Teil. Die ehe-
malige Regierung Kohl hat sich nicht in die Kon-
fliktfalle verirrt. Das Scheitern des „Bündnisses für Ar-
beit“ war die logische, wenn auch absolut falsche Kon-
sequenz einer Politik, die immer nur die alttestamentari-
sche Alternative im Auge hatte: Wer nicht für mich ist,
ist wider mich.

In diesem Land ist von Ihnen zu lange ein Freund-
Feind-Schema gezüchtet worden. In diesem Land ge-
hörte nur der zu den Guten, der Ihrer Meinung war. In
diesem Land wurde nicht zusammengeführt, sondern ge-
spalten.


(Beifall bei der SPD)

Da wurden einzelne Menschen wie der Schriftsteller

Günter Grass an den Pranger gestellt, weil sie unbeque-
me Meinungen zum Beispiel in der Ausländerpolitik
hatten. Da wurden Fernsehjournalisten mit sanftem
Druck aus dem Kanzleramt kaltgestellt, weil sie Kohls
Weg in die Einheit kritisch begleiteten. Da wurden
Gruppen wie Atomkraftgegner mitunter wie Staatsfeinde
behandelt.

Fast ein Viertel der Wähler in den neuen Ländern ha-
ben Sie mit Ihren Polarisierungen in die Hände der PDS
getrieben. Sie finden es jetzt aber absurd, daß diese Par-
tei am politischen Prozeß beteiligt werden muß.

Zur PDS hat der Kollege van Essen in der für die
Union fürchterlich peinlichen Geschäftsordnungsdebatte
zu Beginn der Arbeit dieses Bundestages zwei richtige
Sätze gesagt, die ich nur unterstreichen kann. Ich zitiere:

Die PDS lebt doch gerade davon, sich als verfolgt,
als benachteiligt darzustellen. Wir sollten ihr genau
diesen Gefallen nicht tun.

So ist es. Wir werden die PDS ordentlich in die Parla-
mentsarbeit einbeziehen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: So wie in Mecklenburg!)


– Ich komme auf das Thema noch zu sprechen, Herr
Kollege Glos.

Meine Damen und Herren, Gerhard Schröder und
Oskar Lafontaine haben immer wieder klargemacht,
worauf es auch und vor allem ankommen wird. Oskar
Lafontaine hat das auf einen einfachen Satz aus dem
Volksmund gebracht: „Was du nicht willst, daß man dir
tu', das füg' auch keinem andern zu.“ Das ist banal. Aber
auf dieser Banalität beruht alles vernünftige Miteinander
von Menschen in unserem Lande. Sie haben aber nicht
nur billigend in Kauf genommen, daß dieser Erkenntnis

nicht mehr Rechnung getragen wurde, Sie haben aktiv
dazu beigetragen, indem Sie gesellschaftliche Gruppen
gegeneinander ausgespielt und in weiten Teilen Klien-
telpolitik betrieben haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Meine Damen und Herren, genau das wollen wir
nicht. Wir wollen die Gerechtigkeitslücke schließen.
Wir haben keine großen Versprechungen, wir haben
vor allen Dingen keine falschen Versprechungen ge-
macht, Herr Kollege Kohl. Wir halten Wort und werden
deshalb unverzüglich die von der Regierung Kohl vor-
genommenen Verschlechterungen beim Kündigungs-
schutz, bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall,
beim Schlechtwettergeld der Bauarbeiter und bei den
Renten korrigieren.


(Beifall bei der SPD)

Nur ein Beispiel daraus: Das Schlechtwettergeld,

das 1959 als soziale Errungenschaft am Bau gefeiert
wurde, wird 1999 mit uns wieder eingeführt. Wir korri-
gieren den Wahnsinn einer sogenannten Reform, mit der
im Winter massenhaft Bauarbeiter entlassen wurden und
auch im Frühjahr auf der Straße standen. Winterrisiko
darf kein Arbeitsplatzrisiko sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich warte eigentlich immer noch auf den Kollegen
Schäuble, weil ich einige Worte an ihn richten will.
Vielleicht könnte die Geschäftsführung mir einmal mit-
teilen, ob er noch zu kommen beabsichtigt. Ich möchte
auf ihn eingehen. Er hat ja gerade gesagt: Wir wollen
eine Debatte haben. Aber wie kann ich mit ihm eine De-
batte führen, wenn er nicht da ist?


(Beifall bei der SPD)

Union und F.D.P. kritisieren die Finanzpolitik der

neuen Regierung und unsere Steuerreform – Herr
Schäuble hat das eben auch getan –, offensichtlich ohne
genau hingesehen zu haben. Ein Satz von Herrn
Schäuble ist absolut rekordverdächtig: „Unsere Bundes-
regierung“, so hat er gesagt, „hinterläßt geordnete
Staatsfinanzen.“


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Wo denn?)


Dieser Satz qualifiziert Herrn Schäuble aus meiner Sicht
sofort und unwiderruflich und ohne jeden Gegner als
nächsten Kandidaten für den Orden wider den tierischen
Ernst.


(Beifall bei der SPD)

Es ist bei den Löchern, die uns Herr Waigel hinterlassen
hat, absolut lächerlich, von „geordneten Staatsfinanzen“
zu sprechen. Er hat, wie man sehen kann, inzwischen
den Raum auch fluchtartig verlassen.

Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinsti-
tute sagen in ihrem Herbstgutachten:

Die bisher vorliegenden Ergebnisse der Koalitions-
verhandlungen deuten auf eine leichte Lockerung

Dr. Peter Struck






(A) (C)



(B) (D)


der Konsolidierung hin, trotz veränderter finanzpo-
litischer Akzente, aber nicht auf einen generellen
Kurswechsel.

Und ein anderes Zitat:
Die künftige Bundesregierung scheint nach den
bisherigen Verlautbarungen an der mittelfristigen
Rückführung des Budgetdefizits festhalten zu wol-
len. Dies ist zu begrüßen.

Was ist denn nun? Ist die Finanzpolitik katastrophal
oder eine Fortsetzung der alten? Ich sage: Weder Sie,
die Unionsfraktion, noch die Institute haben recht. Die
Finanzpolitik vollzieht einen längst fälligen Kurswech-
sel zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Investitionen. Sie
entlastet die Arbeitnehmer und die Leistungsträger und
stärkt die Nachfrage.


(Beifall bei der SPD)

Sie bekämpfen unseren Einstieg in die ökologische

Steuerreform, obwohl Herr Schäuble es besser weiß
und das in Sonntagsreden auch sagt oder in Büchern
schreibt. Ich will Ihnen noch einmal vorhalten, was die
wirtschaftswissenschaftlichen Institute dazu sagen:

Ein ökologisch orientierter Umbau des Abgabesy-
stems mit einer höheren Belastung des Faktors
Energie bei gleichzeitiger Entlastung des Faktors
Arbeit kann sowohl positive Umwelteffekte als
auch positive Wirkung auf die Beschäftigung ha-
ben.

Genau das wollen wir.
Wir wollen darüber hinaus eine Steuerreform, die

sozial gerecht und solide finanziert ist. Wir werden
eine Reform vorlegen, mit der Bürgerinnen und Bür-
ger in drei Stufen in einem Gesamtvolumen von
54 Milliarden DM entlastet werden. Wir werden über
die Steuerreform am Freitag noch ausführlich diskutie-
ren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden
uns auch sehr intensiv mit der Frage beschäftigen müs-
sen, wie wir in den nächsten vier Jahren jeweils unsere
Aufgaben erfüllen werden, Sie als Opposition, als deut-
lich kleiner gewordene CDU/CSU-Fraktion, was mich
herzlich freut – Sie haben 47 Abgeordnete verloren –,
wir als Regierungskoalition.


(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Herr Struck, jetzt reicht es!)


Sie tun so, als sei die Opposition eine Episode.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Ach was!)


– So war die Rede von Herrn Schäuble.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Eine ernst zu nehmende Rede!)

Wenn Sie diesen Eindruck erwecken wollen, kann ich

das verstehen. Aber wenn Sie bei sich zu Hause, partei-
intern, kaum ein Wort über die Ursachen Ihrer Niederla-
ge verlieren, irritiert das doch.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wen?)


Denn schließlich sind bekanntlich fehlende und falsche
Analysen von Wahldebakeln das Schlimmste an Ihnen.
Das einzige, was beim neuen CDU-Vorsitzenden außer
der bekannten und auch hier wieder praktizierten Pole-
mik deutlich geworden ist: Herr Schäuble hofft, daß die
Oppositionszeit schnell vorüber ist.


(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Viele andere auch!)


Das kann ich verstehen. Ich weiß aber, auch aus eigener
leidvoller Erfahrung: So schnell vergehen Oppositions-
zeiten nicht.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das muß ja ein schlimmes Trauma sein!)


Jetzt aber zu Ihrer Bewertung unseres Koalitionsver-
trages. Er habe, so sagte Herr Schäuble eben, nur schö-
ne Überschriften gelesen, sonst nichts. Wenn er nur
Überschriften liest, ist das sein Problem. Ich helfe ihm
bei zwei Punkten einmal nach, bei denen es die
CDU/CSU-Fraktion aus unterschiedlichen Gründen be-
sonders schmerzt.

Zum Beispiel die Familienpolitik.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Jetzt hören wir zu!)

Da klagen Sie beredt, daß die Zukunft unserer Kinder
bei Rotgrün in schlechter Hand sei. Ihr Fraktionskollege,
Herr Laumann, Sprecher der Arbeitnehmergruppe Ihrer
Fraktion – ich weiß nicht, ob er da ist; er macht viel-
leicht schon Mittagspause –, sieht das ganz anders.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Ihre Fraktionskollegen wären auch schon gegangen, wenn sie dürften!)


– Ist ja gut! – Herr Laumann glaubt offensichtlich, daß
in den letzten 16 Jahren nicht genug für Familien getan
worden ist. Denn wie anders ist es zu verstehen, daß er
gerade jetzt fordert, die Unterstützung der Familien
müsse wieder – so das Zitat – „ins besondere Licht der
Öffentlichkeit“ gerückt werden? Wir tun das, meine
Damen und Herren. Das hat der Bundeskanzler eben ge-
rade vorgetragen.


(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Aber wir haben das permanent getan!)


Lesen Sie auch bitte einmal das Kleingedruckte im
Koalitionsvertrag. Wenn Herr Schäuble nur Zeit hat,
Überschriften zu lesen, dann empfehle ich Ihnen: Lesen
Sie die Seiten 41 und 42 des Koalitionsvertrages zu die-
sem Thema. Dort heißt es:

Wir sorgen dafür, daß sich die wirtschaftliche und
soziale Lage der Familien spürbar verbessert. . .
Mit der Steuerreform wird mehr Steuergerechtig-
keit für Familien geschaffen. Eine durchschnittlich
verdienende Familie mit zwei Kindern wird um
rund 2 700 DM entlastet.


(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Bei 50 000 DM!)


Dr. Peter Struck






(B)



(A) (C)



(D)


Das Kindergeld für das erste und zweite Kind wird
1999 auf 250 DM und im Jahr 2002 auf 260 DM. . .
angehoben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Mit welchem Jahreseinkommen? 50 000!)


Ist das nichts, meine Damen und Herren? Natürlich ist
dies nicht alles, aber jedenfalls mehr als Sie, Herr Lau-
mann, seinerzeit von Ihrer eigenen Regierung erwarten
durften. Sie, Herr Altkanzler Kohl, sind nie in der Lage
gewesen, das Kindergeld von 220 DM auf 250 DM zu
erhöhen. – Wenn Sie zustimmend nicken, dann sagen
Sie, daß ich recht habe.

Jetzt will ich etwas zu dem Thema der doppelten
Staatsbürgerschaft sagen. Ich finde es schon merkwür-
dig,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr!)

wie Herr Schäuble über unseren Vorstoß zur doppelten
Staatsbürgerschaft gesprochen hat. Er hat nur die Flos-
kel verwandt – so Herr Schäuble am vergangenen
Samstag auf dem Parteitag –, Integration werde nicht
dadurch gefördert, daß die Staatsbürgerschaft zur Belie-
bigkeit werde.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das war eine angemessene Antwort!)


Auch hier empfehle ich: Lesen Sie mehr als nur Über-
schriften!

Im übrigen, meine Damen und Herren, finde ich diese
abschätzige Bemerkung gegenüber all jenen ausländi-
schen Mitbürgern schäbig, die seit Jahren gerade auf
diese Chance gehofft haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Für sie ist die Entscheidung zwischen deutscher und
– sagen wir – türkischer Staatsbürgerschaft keine belie-
bige Frage.

Herr Schäuble, Ihre Bemerkung ist aber auch schäbig
gegenüber all den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer ei-
genen Fraktion, die ähnliche Regelungen beim Staats-
bürgerschaftsrecht für geboten halten. Wir kennen doch
die Diskussion aus der vergangenen Legislaturperiode.
Wie gehen Sie denn mit diesen Kollegen um? Einmal
haben Sie den Eindruck vermittelt, daß Sie ein solches
Projekt unterstützen würden. Dann sind Sie wegen der
ablehnenden Haltung der CSU zurückgeschreckt. Jetzt
haben Sie den Kollegen auf Ihrem Parteitag am Samstag
gesagt, das sei keine Frage von Belang. Sie werden sich
täuschen. Während Sie noch Ihre vermeintlichen Erfolge
von gestern feiern, sind Sie gerade in dieser Frage dabei,
Ihre Fehler von morgen zu machen.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Mühsamer Beifall! – Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU] kehrt zurück in den Saal)


– Herr Kollege Schäuble, ich hatte Sie mehrfach ange-
sprochen; mir wurde gesagt, daß Sie zurückkommen.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Jeder muß einmal raus!)


– Ja, natürlich, selbstverständlich. – Aber ich möchte
jetzt die Gelegenheit nutzen, Herr Kollege Schäuble,
trotz der Schärfe, die wir hatten, Ihnen auch im Namen
der SPD-Bundestagsfraktion herzlich zu Ihrer Wahl zum
CDU-Parteivorsitzenden zu gratulieren. Das tue ich
gerne.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich weiß, Herr Kollege Schäuble, das ist ein schwieriges
Amt. Es würde mich reizen, ein paar Personalentschei-
dungen Ihres Parteitages zu kommentieren. Meinen Sie,
ich sollte es nicht machen? Dann sage ich nur den einen
Satz – den werden Sie mir noch gestatten, Herr Kollege
Schäuble –: Wie jetzt jemand, der wie der Kollege
Wulff zweimal Landtagswahlen verloren hat, plötzlich
der große Hoffnungsträger sein soll, müssen Sie mir erst
einmal erklären. Ich verstehe es nicht so richtig, aber Sie
vielleicht schon.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Ich war bei der doppelten Staatsbürgerschaft stehen-

geblieben. Ich möchte Sie daran erinnern, daß diese vor-
schnell eingenommene Ablehnung beim Ausländerrecht
Sie in das Dilemma bringt, das Sie in den 70er Jahren
mit Ihrer Haltung zu den Ostverträgen hatten. Ihre heu-
tige Haltung zum Thema doppelte Staatsbürgerschaft
könnte Ihnen wie damals über etliche Jahre den Verlust
der politischen Mitte und der Politikfähigkeit der Union
bescheren. Damals ging es um eine Öffnung nach außen.
Heute geht es um eine Öffnung, die dem inneren Frieden
in unserem Lande dient.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Macht es Sie gar nicht stutzig, daß Sie in dieser Frage
im ganzen Haus isoliert dastehen? Wir jedenfalls bieten
Ihrem ehemaligen Koalitionspartner F.D.P. an: Machen
Sie mit! Lassen Sie uns das Staatsbürgerschaftsrecht so
gestalten, Herr Kollege Gerhardt, daß es den Bedingun-
gen des neuen Jahrhunderts gerecht wird! Wir sind zur
Zusammenarbeit bereit. Lassen wir die CDU da stehen,
wo sie hingehört, nämlich in der Ecke der sich verwei-
gernden Opposition.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Daß es in der Politik immer auch um Macht geht und
daß eine Regierung um den Machterhalt kämpft, ist klar.
Aber Machterhalt darf nicht alles sein. Erhard Eppler
hat dazu in seinem Buch „Die Wiederkehr der Politik“
geschrieben:

Wer Politik auf ein steriles Spiel mit der Macht und
um die Macht reduziert, wer sie löst von der Frage,
wie Menschen leben wollen und leben sollen, läßt
in der Tat nur etwas übrig, was für die übrige Ge-
sellschaft ohne Belang ist, einen Kampfplatz oder

Dr. Peter Struck






(A) (C)



(B) (D)


auch nur einen Spielplatz, bei dem es um Ränge
und Medaillen geht, um die Befriedigung von Gel-
tungsbedürfnis und Machthunger . . .

Herr Schäuble, dem Machterhalt haben Sie in der
vergangenen Legislaturperiode alles untergeordnet. Aus
Machterhalt haben Sie noch vor wenigen Wochen Jür-
gen Trittin als Altkommunisten beschimpfen lassen, die
Grünen als Chaostruppe abgetan. Jetzt reden Sie von
Schwarzgrün in den Landesparlamenten. Für wie dumm
halten Sie eigentlich die Wähler, Herr Kollege
Schäuble?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Maritta Böttcher [PDS])


Der 27. September 1998 war für Sie mehr als der
Machtverlust in Bonn. Er hat bloßgelegt, was der Kolle-
ge Helmut Kohl mit seiner mächtigen Figur lange ver-
bergen konnte. In Sachen Macht ist die CDU am Ende
und in Sachen politischer Kompetenz genauso. In den
Ländern und Kommunen ist sie fast überall auf das Maß
zurückgestutzt, das sie jetzt auch im Bund erreicht hat.
Sie haben noch so getan, als spielten Sie überall die erste
Geige, als Sie in den Ländern und Kommunalparlamen-
ten längst im zweiten oder dritten Glied gelandet waren.
Jetzt ist offensichtlich, wie wenig Ihr selbstgerechtes
Auftreten hier im Parlament mit den wahren Verhältnis-
sen im Lande zu tun hat. Ich bin stolz darauf: Die SPD
regiert in 13 von 16 Bundesländern mit. Wir stellen elf
Ministerpräsidenten. Das ist ein klarer Beweis für die
Stärke der sozialdemokratischen Idee in Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Herr Kollege Schäuble hat ein Thema angesprochen,
auf das ich gewartet habe. Was Sie gesagt haben, ist
auch nichts Neues gewesen. Deshalb konnte man sich
darauf vorbereiten. Es geht um die Frage des Bundes-
präsidenten. Herr Kollege Kohl, wir Sozialdemokraten
haben nicht vergessen, welch schäbiges Spiel Sie in der
Präsidentschaftsfrage mit Johannes Rau getrieben haben.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Was?)


Erst haben Sie ihm das Amt angeboten.

(Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Das ist un wahr, was Sie sagen!)

– Nein, das ist nicht unwahr. – Dann wollten Sie nichts
mehr davon wissen, zogen Steffen Heitmann aus dem
Hut und haben schließlich Roman Herzog zum Präsi-
denten gemacht. Wir haben noch den Satz im Ohr, den
Sie, Herr Kollege Kohl, in der letzten Legislaturperiode
über Rau gesagt haben: „Der wird das nie!“ – Er wird
es, Herr Ehrenvorsitzender der CDU,


(Beifall bei der SPD)

denn wir leben nicht in einer Halbmonarchie, wie Sie
zwischenzeitlich vielleicht geglaubt haben. Wir leben in
einer Demokratie, in der nicht der Wille eines einzelnen
den Ton angibt. Meine Damen und Herren, Johannes

Rau wird nach Gustav Heinemann der zweite sozial-
demokratische Bürgerpräsident der Bundesrepublik
Deutschland.


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, den ich

für mitentscheidend für das Scheitern der bürgerlichen
Koalition halte. Wir Sozialdemokraten – und ich denke,
auch die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen – werden
diesen Fehler nicht wiederholen. Ich meine das man-
gelnde konstruktive Zusammenspiel zwischen der Re-
gierung und den Fraktionen von Union und F.D.P.
Kollege Schäuble, bei Ihrem Amtsantritt 1994 haben Sie
zwar den Eindruck erweckt, Ihre Fraktion zu einem
Machtzentrum auszubauen, aber wie die Praxis aussah,
wissen viele Frauen und Männer Ihrer Fraktion aus ei-
genem Erleiden: Gerade bei wichtigen Reformvorhaben
sind Entscheidungen an den Regierungsfraktionen vor-
bei in sogenannten Spitzengesprächen gefällt und die
Fraktionen vor vollendete Tatsachen gestellt worden.
Sie, Herr Schäuble, waren an diesem „Kungelrundenver-
fahren“ maßgeblich beteiligt und haben Ihre Abgeord-
netenkollegen zu bloßen Erfüllungsgehilfen degradiert.
Mit dieser einseitigen Instrumentalisierung der Fraktion
haben Sie dem Parlamentarismus geschadet und Ihrer
Regierung letztlich keinen Gefallen getan.


(Beifall bei der SPD)

Denn nur wenn sich eine Fraktion nicht als bloßer
Mehrheitsbeschaffer der Regierung versteht, kann sie
ein verläßlicher Seismograph sein – ein Seismograph,
der aufnimmt und wiedergibt, was möglich ist und was
noch getan werden muß.

Diese SPD-Fraktion, für die ich spreche, wird die Re-
gierung Gerhard Schröders tragen. Das ist überhaupt
keine Frage. Im Zweifel – und darin unterscheiden wir
uns von den alten Koalitionsfraktionen – werden wir
diese Regierung allerdings auch treiben, wenn wir es für
nötig halten. Wir werden das loyal, konstruktiv und
selbstbewußt tun. Wir werden gemeinsam mit dieser
Regierung erfolgreich sein; wir werden Innovationen
durchsetzen, soziale Gerechtigkeit und eine nachhaltige
Entwicklung fördern.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1400300700
Das Wort hat die
Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Frau Kerstin
Müller.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Schäuble, ich muß sagen, daß ich von Ihrer
Rede wirklich etwas enttäuscht war.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Mein Eindruck ist, daß Sie bis jetzt nicht viel aus der
Wahlniederlage gelernt haben. Um einen Punkt von Ih-
nen aufzugreifen: Einen Vorwurf kann man der Regie-

Dr. Peter Struck






(B)



(A) (C)



(D)


rungserklärung des Herrn Bundeskanzlers sicherlich
nicht machen, nämlich den, sie habe nur aus Absichtser-
klärungen bestanden. Der Herr Bundeskanzler hat unter
Berücksichtigung der vollen Breite der gesellschaft-
lichen Aufgaben sehr deutlich gemacht, was sich diese
Regierung ganz konkret vorgenommen hat. Diese Regie-
rung handelt! Und Sie handelt schon gleich in den ersten
Tagen. Mein Eindruck ist: Es fällt Ihnen wirklich
schwer, sich an die Tatsache dieser neuen Verhältnisse
zu gewöhnen. Das ist das Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Wählerinnen und Wähler haben am
27. September entschieden, und zwar für eine Politik
der Reformen und der grundlegenden Erneuerung. Die-
sen klaren Auftrag werden wir jetzt umsetzen. Diese
Koalition, diese Bundesregierung werden Deutschland
ökologisch und sozial erneuern. Es ist uns sehr bewußt,
daß das kein einfacher Weg werden wird, auch kein be-
quemer. Aber es ist der richtige Weg, und es gibt dazu
keine Alternative. Herr Schäuble, viel zu lange hat doch
Ihre Regierung, die alte Bundesregierung, die Probleme
ausgesessen; deshalb wollen wir jetzt die notwendigen
und tiefgreifenden Reformen anpacken.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Damit beginnen wir schon in dieser Woche. Herr
Kollege Schäuble, es ist richtig, daß wir dabei zunächst
einmal die schlimmsten Altlasten der alten Regierung
aus dem Weg schaffen müssen, nämlich ungerechte und
unsinnige soziale Einschnitte, die Sie den Menschen als
Reformen verkaufen wollten, wie etwa die Kürzung der
Lohnfortzahlung, die Aufweichung des Kündigungs-
schutzes und das abstruse Krankenhausnotopfer.

Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
F.D.P., ich meine, mit einer Politik der organisierten
Ungerechtigtkeit reformiert man keine Gesellschaft;
man spaltet sie damit nur. Genau das haben Sie in den
letzten Jahren gemacht. Sie haben diese Gesellschaft mit
Ihrer Politik mutwillig gespalten, gespalten in Arm und
Reich, in Eingeborene und Fremde, in Jung und Alt und
in Gesunde und Kranke.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Die Schlüsselentscheidung dieser Politik haben Sie
im Frühjahr 1996 getroffen. Da haben Sie nämlich mut-
willig das „Bündnis für Arbeit“ beendet, indem Sie die
Gewerkschaften vor die Tür gesetzt haben. Das war ein
schwerer Fehler mit schlimmen Folgen für die ganze ge-
sellschaftliche Entwicklung. Letztlich war Ihre Abwahl
am 27. September wohl die einzig logische und richtige
Konsequenz aus dieser Fehlentscheidung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir wollen die ökologische und soziale Modernisie-
rung der Gesellschaft angehen. Wir werden die Verän-
derungen, die nicht zuletzt die Menschen in diesem
Land erwarten, anders als durch Spaltung angehen. Wir

werden versuchen, in allen Bereichen, die wir angehen,
einen neuen, einen reformorientierten Konsens zu fin-
den; denn die großen und schwierigen Aufgaben, vor
denen wir stehen, kann man im Grunde genommen nur
miteinander und eben nicht gegeneinander bewältigen.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, eine gerechtere
Verteilung der Lasten, einen neuen Generationenvertrag,
die umfassende Orientierung auf ökologische Nachhal-
tigkeit und die weitere Demokratisierung der Gesell-
schaft, das alles werden wir nur schaffen, wenn wir
wirklich einen neuen, reformorientierten Konsens in die-
ser Gesellschaft anstreben. Genau das werden wir versu-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein neues Bündnis für Arbeit und Ausbildung wird
dabei für uns oberste Priorität haben. Wir wollen ge-
meinsam mit den Gewerkschaften und den Unternehmen
alle Möglichkeiten zum Abbau der Arbeitslosigkeit nut-
zen. Wir müssen endlich Überstunden abbauen und in
neue Jobs verwandeln. Wir müssen durch vernünftige
Regelungen bei der Arbeitszeit, Teilzeitarbeit erleichtern
und fördern. Und wir müssen endlich die Vereinbarkeit
von Erwerbsarbeit und Familienarbeit verbessern. Das
alles ist eben nicht nur eine gemeinsame gesellschaft-
liche Aufgabe, sondern es ist auch eine historische
Aufgabe von Politik, Unternehmen und Gewerkschaf-
ten.

Ich freue mich sehr über die Ankündigung des Herrn
Bundeskanzlers, daß das neue Bündnis für Arbeit bereits
im Dezember mit seiner Arbeit beginnen wird. Wir als
Bündnisgrüne werden – das kann ich Ihnen versichern –
alles tun, was in unseren Kräften steht, damit dieses
Bündnis erfolgreich sein wird.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Vordringlich ist in der Tat die Bekämpfung der Ju-

gendarbeitslosigkeit. Viele meiner Generation sind ar-
beitslos oder haben keinen Ausbildungsplatz. Sie stehen
vor der Perspektivlosigkeit. 10,8 Prozent der Jugend-
lichen unter 25 Jahren sind arbeitslos: Jeder neunte Ju-
gendliche hat keinen Job; im Osten ist es sogar jeder
sechste. Ende Oktober fehlten noch mindestens 36 000
Ausbildungsplätze. Das müssen und werden wir so
schnell wie möglich angehen; denn hier liegt ein sozialer
Sprengsatz in der Gesellschaft, wenn ein großer Teil der
Jugendlichen von der Teilhabe am Arbeitsleben ausge-
grenzt wird. Das müssen wir und werden wir als Regie-
rung ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Darum brauchen wir auch das Sofortprogramm, mit dem
100 000 Jugendliche umgehend und mit besonderem
Schwerpunkt in Ostdeutschland in Ausbildung und Be-
schäftigung gebracht werden.

Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie hofften,
daß die Bereitstellung von hinreichend vielen Ausbil-
dungsplätzen keinerlei Zwangsmaßnahmen erforderlich
mache. Das hoffen auch wir. Aber falls es nicht gelingt,
durch Vereinbarungen die erforderlichen Ausbildungs-

Kerstin Müller (Köln)







(A) (C)



(B) (D)


plätze zu schaffen, dann – das sage ich hier ganz deut-
lich – wird diese Koalition auch gesetzgeberisch handeln
müssen. Dann werden wir eine Ausbildungsplatzumlage
auf den Weg bringen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Diese Koalition wird nicht tatenlos zusehen, wenn Ju-
gendlichen der Weg zu einer qualifizierten Ausbildung
versperrt bleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, allerhöchste Zeit ist es
auch für die Steuerreform. Sie wird ebenfalls ein Beitrag
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Na, na, na!)

– Sie werden das sehen. – Vor allen Dingen wird sie
endlich zu einer gerechteren Lastenverteilung im Steuer-
system führen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Wir werden die Steuertarife in drei Schritten senken.
Zugleich werden wir das Kindergeld deutlich anheben.
Wir werden mit jedem Schritt insbesondere die unteren
und mittleren Einkommen und die Familien mit Kindern
entlasten. Der Herr Bundeskanzler hat schon darauf hin-
gewiesen: In der dritten Stufe unserer Steuerreform wird
eine Familie mit durchschnittlichem Einkommen und
zwei Kindern um 2 700 DM entlastet. Das bedeutet
endlich mehr Steuergerechtigkeit; das ist ein wirklicher
Erfolg. Wir werden dies sofort, und zwar bereits zum
1. Januar 1999, angehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nun ist unser Steuerreformkonzept in den letzten
Wochen heftig diskutiert worden. Den einen ging es
nicht schnell genug, den anderen ging es nicht weit ge-
nug. Den meisten aber gefielen zwar einigermaßen die
niedrigeren Steuertarife; aber bei der Gegenfinanzierung
wollten sie – das war dann besonders originell – alle
Schlupflöcher möglichst so lassen, wie sie sind.

Eine solche Kritik trifft uns nicht sehr überraschend;
denn die alte Bundesregierung hatte ja mal ganz locker
eine Nettoentlastung von 50 Milliarden DM durch die
Steuerreform versprochen, davon – ich erinnere Sie dar-
an, Herr Glos – ein Drittel durch eine Erhöhung der
Mehrwertsteuer gegenfinanziert, während die anderen
zwei Drittel durch den Griff in die Kassen von Bund,
Ländern und Gemeinden finanziert werden sollten. Das
war leicht; Sie wußten nämlich ganz genau, daß die
Länder angesichts ihrer Haushaltslage das nicht realisie-
ren könnten. Das waren alles ungedeckte Schecks, von
denen Sie wußten, daß Sie sie niemals einreichen müß-
ten.

Mein Eindruck ist, daß ein ganzer Teil der Öffent-
lichkeit heute noch geradezu besoffen von diesen unver-

antwortlichen, leeren Versprechungen ist, die Sie im
letzten Jahr gemacht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Angesichts der Haushaltslage von Bund, Ländern und
Gemeinden und angesichts dessen, daß wir bei der Net-
toentlastung im Bund gerade einmal einen verfassungs-
konformen Spielraum von 1,3 Milliarden DM haben, 45
bis 50 Milliarden DM an Nettoentlastung zu verspre-
chen, das war unsolide und völlig unverantwortlich. Wir
dagegen werden eine solide Steuerreform machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Hinzu kommt, daß die Steuerausfälle der Ära Waigel
ohnehin schon gewaltig waren. Im Jahr 1995 hatte der
ehemalige Finanzminister Waigel das Steueraufkommen
für 1998 auf 1 020 Milliarden DM geschätzt. Wohlge-
merkt, das war nicht die raffgierige Phantasie rot-grüner
„Staatsfetischisten“, wie Sie zur Zeit so gerne sagen,
sondern die mittelfristige Finanzplanung des ehemaligen
Finanzministers Waigel höchstselbst. 1 020 Milliarden
DM sollten es also 1998 werden.
Nach den letzten Zahlen werden es aber tatsächlich nur
824 Milliarden DM sein. Das heißt, innerhalb von drei
Jahren gibt es einen Steuerausfall der fast ein Fünftel der
von Herrn Waigel geschätzten Steuereinnahmen aus-
macht. Das alles kommt daher, daß sich infolge der
Steuerpolitik der alten Bundesregierung quasi ganze so-
ziale Gruppen der Steuergerechtigkeit entziehen konn-
ten. Der Einkommensmillionär, der keinen Pfennig
Steuern zahlt, war doch am Ende der Ära Kohl ein be-
liebter Gast der Talkshows.

Solche Entlastungsorgien zugunsten von bestimmten
Teilen der Industrie und zugunsten der Reichsten der
Reichen dieser Gesellschaft haben wir in den letzten 16
Jahren zur Genüge erlebt; sie haben zu der höchsten Ar-
beitslosigkeit geführt, die es in dieser Gesellschaft je
gab. Das muß und wird mit dieser Regierung ein Ende
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir können und wir wollen keine gigantischen Netto-
entlastungen für die Besserverdienenden mehr durchfüh-
ren. Unsere Steuerreform wurde deshalb solide durchge-
rechnet und ist solide gegenfinanziert.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie belastet alle Gruppen dieser Gesellschaft!)


Wir haben in den letzten Tagen noch manchen Fein-
schliff vorgenommen. Wir werden das im Rahmen der
Anhörungen auch noch fortsetzen. Insbesondere auf In-
itiative meiner Fraktion haben wir auch Verbesserungen
für den Mittelstand vorgenommen.

Ich freue mich, heute sagen zu können: Die Steuerre-
form ist nicht nur notwendig und nicht nur seit Jahren
überfällig, sondern sie wird kommen, nicht irgendwann,
sondern mit der ersten Stufe wie geplant am 1. Januar
1999.

Kerstin Müller (Köln)







(B)



(A) (C)



(D)


Ich finde, das ist ein guter Einstieg für eine neue
Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Nach vier Jahren! Das ist ja lächerlich!)


– Wir fangen ja jetzt schon an.
Einen ähnlich guten Einstieg haben wir mit der ersten

Stufe der ökologischen Steuerreform gefunden. Sie wird
eine weitere Entlastung für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer bringen. Sie ist zugleich ein wichtiges In-
strument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vor al-
lem ist sie der entscheidende Schlüssel zur ökologischen
Neuorientierung der Wirtschaft. Durch die ökologische
Steuerreform werden deshalb die Lohnnebenkosten
schon am 1. Januar 1999 um 0,8 Prozentpunkte sinken
und in der gesamten Wahlperiode um mehr als 2,3 Pro-
zentpunkte auf unter 40 Prozent.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie machen eine Steuererhöhung!)


– Wenn man umfinanziert. Das hat Herr Schäuble schon
richtig gesagt.

Eigentlich sollten Sie, Herr Schäuble, uns dafür lo-
ben; denn Sie selbst sind ja in der Union schon lange für
eine ökologische Steuerreform eingetreten. Sie konnten
sie aber nicht durchsetzen. Sie haben zum 1. April dieses
Jahres – die Mitglieder des Vermittlungsausschusses
sind ja alle hier anwesend – eine Umfinanzierung
durchgeführt: Allein zur Stabilisierung des Rentenbei-
trages haben Sie die Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt
erhöht. Wir wollen ökologisch umsteuern und werden
deshalb durch eine ökologische Steuerreform das billi-
ger machen, was in der Gesellschaft zu teuer ist, nämlich
die Arbeitskosten. Das wird dann wirklich zu politischen
Veränderungen führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wollen Sie nicht auch die Mehrwertsteuer erhöhen?)


Wir haben zur Umsetzung dieser Politik in der Koali-
tion mit einer Mischung aus Mineralöl- und Stromsteuer
unter Einbeziehung der Wirtschaft, die von der Senkung
der Lohnnebenkosten ja auch profitiert, ein gutes Modell
gefunden. Dabei gehen wir behutsam mit energieinten-
siven Branchen um. Die ökologische Steuerreform ist
auf ein stetiges Umsteuern angelegt. Das leiten wir mit
dem ersten Schritt ein. Die Kritiker der Ökosteuer wol-
len nicht wahrhaben, daß dieses Konzept kein rotgrünes
Abenteuer ist, sondern inzwischen in vielen europäi-
schen Ländern mit durchweg sehr positiven Auswirkun-
gen Realität geworden ist.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!)


Wir machen da keinen deutschen Alleingang.
Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: In Dänemark beschloß

die Regierung Rasmussen schon 1993 die Einführung
von Ökosteuern auf Elektrizität, Verkehr und Abfall bei

gleichzeitiger Senkung der Einkommensteuer. Zusätz-
lich wurden erneuerbare Energien massiv gefördert und
die Lohnnebenkosten gesenkt. Das Ergebnis ist bemer-
kenswert: Von 1993 bis heute sank die Arbeitslosen-
quote in Dänemark von 13 auf 6 Prozent; das heißt, sie
wurde mehr als halbiert. Auch die Wachstumsrate lag in
den letzten Jahren regelmäßig über der in den meisten
anderen EU-Staaten. Die Niederlande haben die glei-
chen erfolgreichen Erfahrungen gemacht.

Auf europäischer Ebene – das ist der Punkt – gab es
bisher nur ein ernsthaftes Hindernis gegen eine europäi-
sche Vereinbarung über eine ökologische Steuerreform:
Das war die alte Bundesregierung, die aus ideologischer
Verbohrtheit jeden Fortschritt in dieser Sache in Europa
blockiert hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das wird jetzt auch auf europäischer Ebene anders.
Die neue Regierung wird dort nicht mehr Blockierer,
sondern Motor in Sachen Ökosteuer sein. Wir werden
die bevorstehende deutsche EU-Ratspräsidentschaft nut-
zen, um dabei ein großes Stück voranzukommen. Das
heißt, wir wollen unser Ökosteuerkonzept in eine euro-
paweite Regelung einbetten. Das bedeutet aber nicht,
daß wir in Deutschland derweil die Hände in den Schoß
legen und abwarten. Das hat die alte Bundesregierung
schon viel zu lange gemacht.

Deshalb beginnen wir jetzt, und zwar zum 1. Januar
1999, mit dem ersten Schritt – das ist absolut notwen-
dig –, und dann werden wir die Gespräche mit den euro-
päischen Partnern aufnehmen. Wir werden damit erfolg-
reich sein; das kann ich Ihnen versichern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Die glaubt, was sie sagt!)


– Ja, ich glaube das.
Mit der ökologischen Steuerreform geben wir richtige

Anreize für eine neue Energiepolitik, für den sparsamen
Umgang mit den Naturressourcen. Das heißt: Vorrang
der Einsparung vor der Erzeugung, verstärkte Nutzung
regenerativer Energien und einen neuen, zukunftsfähi-
gen Energiemix, und zwar ohne Atomenergie. Auch das
ist ein riesiger Schritt in Richtung Zukunftsfähigkeit die-
ser neuen Bundesregierung. Wir werden den Ausstieg
aus der Atomenergie in dieser Wahlperiode umfassend
und unumkehrbar gesetzlich regeln. Wir machen das so
schnell wie nur irgend möglich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir werden einen neuen Energiekonsens mit der In-
dustrie, mit den Verbrauchern und auch mit den Um-
weltverbänden suchen, der den Ausstieg aus der Atom-
energie, aber gleichzeitig auch den Einstieg in eine an-
dere, in eine neue Energiepolitik umfaßt. An der Ent-
schlossenheit dieser Koalition, und zwar – wie der Bun-
deskanzler immer wieder zu Recht betont – beider Part-
ner, diese Gefahr für unsere Sicherheit und für alle zu-
künftigen Generationen schnellstmöglich zu beenden,

Kerstin Müller (Köln)







(A) (C)



(B) (D)


sollte niemand Zweifel haben. Das haben wir uns vorge-
nommen, und das werden wir auch umsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die neue Bundesregierung orientiert sich ausdrück-
lich nicht nur an der Energiepolitik, sondern umfassend
am Leitbild der Nachhaltigkeit. Dieser Anspruch richtet
sich nicht nur an das Umweltministerium, sondern an
alle Ressorts. Wir werden eine umfassende nationale
Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten, damit das drittgrößte
Industrieland der Welt endlich seiner globalen und öko-
logischen Verantwortung gerecht wird. Ich glaube, auch
das ist längst überfällig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Meine Damen und Herren, nicht nur die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit, sondern auch eine gerechtere La-
stenverteilung und die ökologische Nachhaltigkeit sind
die Ziele dieser neuen Regierung. Der Bundeskanzler
hat es zutreffend gesagt: Die Demokratie in Deutschland
ist kein zartes Pflänzchen mehr, sondern ein kräftiger
Baum. Diesem Baum wollen wir Raum verschaffen,
damit er weiter wachsen und blühen kann. Darum ist ein
weiteres zentrales Vorhaben für uns die stärkere Demo-
kratisierung dieser Gesellschaft. Wir wollen Bürger-
rechte ausbauen, indem wir die Beteiligungsrechte der
Bürgerinnen und Bürger in bezug auf diese Demokratie
durch die Möglichkeit von Volksbegehren und Volks-
entscheid erweitern.

Wir wollen Minderheiten besser schützen. Was für
eine Zeitenwende bedeutet gerade die Koalitionsverein-
barung über die eingetragenen Lebenspartnerschaften
für schwule und lesbische Paare!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Da sind Sie auch noch stolz drauf!)


– Ja.
Noch vor 30 Jahren war die einfache Homosexualität

unter Männern nach § 175 des Strafgesetzbuches mit
Gefängnis bestraft. Homosexualität unter Frauen galt als
absolutes Tabu. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU, selbst Bischof Lehmann plädierte dieser Tage
für eine Öffnung und Gleichstellung. Nach dem, was ich
heute morgen in Ihrem Beitrag gehört habe, habe ich
den Eindruck, Sie fallen selbst hinter diese Position der
katholischen Kirche zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Detlev von Larcher [SPD]: Das wäre nicht das erste Mal!)


Wir werden das ändern. Jetzt werden wir die gleich-
geschlechtlichen Partnerschaften durch das Gesetz
schützen und gleichstellen. Ich sage ganz deutlich: Das
ist ein wirkliches Stück Moderne. Das ist ein Stück mehr
an Zivilisation, und das ist ein Stück Weltoffenheit. Die-
se hat diese Gesellschaft wirklich bitter nötig gehabt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Wir werden noch in einer anderen Hinsicht mehr
Demokratie und mehr Weltoffenheit wagen. Wir werden
uns nämlich endlich der Tatsache stellen – der Sie sich
in den letzten Jahren und Jahrzehnten verweigert ha-
ben –, daß ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeß
stattgefunden hat, daß die Bundesrepublik Deutschland
heute ein Einwanderungsland ist. Wir werden daher den
Menschen, die heute noch sogenannte Ausländer sind
– das sind immerhin 7 Millionen –, die seit langem hier
leben, die hier geboren sind und die dieses Land mit
aufgebaut haben – wir haben sie damals als sogenannte
Gastarbeiter hierher geholt –, durch eine Reform des
Staatsbürgerschaftsrechts endlich das geben, worauf
sie schon so lange gewartet und worauf sie ein Recht
haben: die vollen Bürgerrechte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden ihnen, die bisher Fremde im eigenen
Land waren, mit dieser Reform signalisieren: Ihr gehört
zu dieser Gesellschaft. Wir werden Schluß machen mit
der Spaltung der Gesellschaft in Bürger erster, zweiter
und dritter Klasse. Wer hier dauerhaft lebt und hier sei-
nen Lebensmittelpunkt hat, wird künftig einen klaren
Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft be-
kommen, und die Kinder, die hier geboren werden und
hier aufwachsen, sind künftig mit der Geburt deutsche
Staatsbürger, wenn ein Elternteil seit dem 14. Lebens-
jahr hier lebt.

Dies, meine Damen und Herren von CDU und F.D.P.,
machen wir unter bewußter Hinnahme der doppelten
Staatsbürgerschaft. Zum einen gibt es rechtlich über-
haupt keine Alternative dazu. Vielleicht lassen Sie sich
das einmal von dem ehemaligen langjährigen Vorsitzen-
den des Rechtsausschusses, Herrn Eylmann, CDU-
Mitglied, erklären. Als er nämlich noch Mitglied dieses
Hauses war, wurde er nicht müde, dies zu betonen. Zum
anderen: Es gibt keine wirklichen Argumente gegen die
Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft. Das,
was Sie anführen, ist aus meiner Sicht Ideologie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Schäuble, Sie haben heute morgen noch einmal
behauptet, die doppelte Staatsbürgerschaft sei ein Privi-
leg der sogenannten Ausländer gegenüber den „wirkli-
chen“ Deutschen, weil diese ja schließlich nur eine ein-
zige Staatsbürgerschaft hätten und nicht zwei. Da wird
jetzt sogar mit Klagen vor dem Bundesverfassungsge-
richt oder dem Europäischen Gerichtshof gedroht.

Ich finde es sehr bedauerlich, daß Sie mit diesem
wichtigen Thema so unbesonnen umgehen. Die doppel-
te Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, und sie hat
nichts, aber auch gar nichts mit Rosinenpickerei zu tun.
Wer das behauptet, der erzählt einfach dummes Zeug,
und ich finde es gefährlich, das in der Öffentlichkeit zu
erzählen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will das hier mal erklären. Die Rechte und

Pflichten von Doppelstaatsbürgern richten sich ganz ein-
fach nach dem festen Wohnsitz. Die zweite Staatsange-

Kerstin Müller (Köln)







(B)



(A) (C)



(D)


hörigkeit bedeutet im Kern einen einzigen Vorteil: Es
gibt außer Deutschland ein weiteres Land, in dem man
das Recht hat, sich niederzulassen. Dieses Recht, meine
Damen und Herren, das hat jeder Deutsche, und zwar
nicht nur in einem anderen Land, sondern in allen
14 Ländern der Europäischen Union. Ich finde, wenn
man das weiß – und ich gehe einmal davon aus, daß Sie
das eigentlich wissen, meine Damen und Herren von der
CDU –, dann sollte man nicht von Privilegien reden.
Damit macht man schlechte Stimmung gegen die aus-
ländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen in diesem
Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Daher werden wir als eines der zentralen Anliegen
diese Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zügig und
entschlossen umsetzen.

Diese Reform wird das Gesicht dieser Republik ver-
ändern. Ja, das stimmt.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie wollen ein paar Wähler mehr, sonst gar nichts! – Gegenruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Saudummes Geschwätz!)


Wir wollen das, denn wir stellen uns damit endlich
der durchaus nicht einfachen Aufgabe, diese Einwande-
rungsgesellschaft zu gestalten – mit all den Problemen,
die es nun mal mit sich bringt, wenn verschiedene Kul-
turen das Miteinander organisieren müssen. Aber es gibt
dazu keine Alternative, sage ich. Eine Gesellschaft, die
in der Mitte Europas liegt und die sich nicht erst seit
heute vorgenommen hat, die Integration Europas voran-
zutreiben, kann und darf sich weder nach außen noch
nach innen abschotten, sondern muß sich offensiv der
Herausforderung stellen, das Zusammenleben einer
multikulturellen Gesellschaft zu gestalten, und zwar oh-
ne Wenn und Aber, und das werden wir tun; das werden
die Folgen aus der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts
sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dieser Herausforderung müssen wir uns auch in be-
zug auf die Menschen stellen, die als Kriegsflüchtlinge
oder Asylsuchende zu uns kommen. Auch dazu haben
wir im Koalitionsvertrag einige Vereinbarungen getrof-
fen – etwa eine Altfallregelung oder die Anerkennung
geschlechtsspezifischer Verfolgung. Ich sage aber auch
ganz offen für meine Fraktion, daß dies für uns die
schwierigste Stelle im Koalitionsvertrag ist. Es ist ja be-
kannt, daß wir Bündnisgrüne die Vereinbarungen in die-
sem Punkt nicht für hinreichend halten. Wir meinen:
Dieses Land verdient eine tatkräftige Reformregierung,
wie wir sie in guten und vertrauensvollen Koalitionsver-
handlungen gemeinsam gebildet haben.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Dann sollten Sie zurücktreten!)


Ich meine aber, unser Land verdient auch eine Rück-
kehr zu einer humanen Flüchtlingspolitik. Ich hoffe,

auch diese Politik können wir gemeinsam durchset-
zen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine der größten Sorgen, die viele Menschen aus der
Kohl-Ära mitnehmen, ist die Sorge um die soziale Si-
cherheit im Alter. Das Vertrauen in das Rentenversi-
cherungssystem ist durch Ihre Politik der letzten Jahre
fundamental erschüttert worden – nicht nur bei der jetzi-
gen Rentnergeneration, sondern vor allen Dingen auch
bei den jungen Menschen. Fragen Sie einmal bei Men-
schen meiner Generation oder bei denen, die noch jün-
ger sind, nach.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sind doch nicht mehr jung!)


Wir brauchen mehr Generationengerechtigkeit. Wir
müssen endlich die unsteten Erwerbsverläufe absichern
und Vorkehrungen für den demographischen Wandel
treffen. Wenn auf immer weniger Beitragszahler immer
mehr Rentenempfänger kommen, dann muß das System
darauf vorbereitet sein. Wir werden diesen Wandel be-
rücksichtigen, und zwar nachhaltig und zukunftsfähig.
Wir werden innerhalb der nächsten zwei Jahre die über-
fällige große Rentenreform durchführen; das kann ich
Ihnen versichern. Wir freuen uns, daß sich Herr Riester
zum Ziel gesetzt hat, es schon in einem Jahr zu schaffen.
Ich kann nur sagen: Wir sind dabei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Koalition ist durch beide Koalitionspartner ge-
prägt. Es ist klar, daß sich auch die jeweiligen Kräfte-
verhältnisse in ihr widerspiegeln. Aber diese Koalition
wird getragen von der Bereitschaft zum Kompromiß und
dem Respekt vor den Positionen des Koalitionspartners.
Herr Bundeskanzler, die Bündnisgrünen werden in den
kommenden vier Jahren ein selbstbewußter, aber auch
ein verläßlicher Bündnispartner sein.

Jetzt gilt es, unser Land umfassend zu modernisieren
und es zukunftsfähig zu machen – in Solidarität mitein-
ander in dieser Gesellschaft und in Solidarität mit den
anderen Völkern der Welt. Wir wollen diese Aufgaben
anpacken – entschlossen und lernfähig.

Zum Schluß möchte ich noch einen sehr wichtigen
Punkt ansprechen. Wir werden diese Ziele nur erreichen,
wenn wir die innovativen Kräfte dieser Gesellschaft
wirklich dafür gewinnen. Wir brauchen den demokrati-
schen Dialog mit allen sozialen Gruppen und auch die
offene Debatte. Ich glaube, daß zum Aufbruch nach dem
Ende der Ära Kohl auch und vor allen Dingen eine neue
demokratische Offenheit gehört. Herr Schäuble, wir sa-
gen nicht mehr: „Die demonstrieren – wir regieren.“ Wir
sagen den Menschen etwas anderes: „Mischt euch ein!
Wir brauchen eure Initiative; wir brauchen eure Kritik
und suchen die gesellschaftliche Debatte.“ Denn nur da-
durch und durch die Auseinandersetzung miteinander
wächst der reformorientierte Konsens, der dieses Land
zukunftsfähig machen kann. In diesem Sinne freuen wir

Kerstin Müller (Köln)







(A) (C)



(B) (D)


uns auf die ersten vier spannenden Jahre der rotgrünen
Koalition.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1400300800
Das Wort hat der
Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion, Herr Dr. Wolfgang
Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.) (von Abgeordneten
der F.D.P. und der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundes-
kanzler, zunächst gratulieren wir Ihnen zu Ihrer Wahl.
Wir wünschen Ihnen im Interesse unseres Landes Erfolg
in Ihrer Arbeit. Sie werden uns in Debatten engagiert
sehen. Wir werden Ihre Politik kritisch begleiten, ihr, wo
immer das möglich ist, zustimmen, sie aber auch ableh-
nen, wann immer das notwendig ist. Das gehört zum
guten parlamentarischen Stil. Es ist völlig vernünftig
und klar, daß es an einem fairen Umgang miteinander
nicht mangeln wird.

Man erfährt ja an einem solchen Tag sehr viel, wenn
man genau zuhört. Die Koalitionsvereinbarung wurde,
kaum daß die Tinte trocken war, mit Nachbesserungen
versehen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Bis heute!)

Sie ist in einzelnen Debattenbeiträgen noch einmal
sachlich erläutert worden. Der Gesetzentwurf, der uns
über die Ökosteuer im geheimen und im besonderen in-
formieren soll, wurde zunächst noch zurückgehalten und
jetzt wieder zurückgenommen.

Herr Bundeskanzler, die Öffentlichkeit in der Bun-
desrepublik Deutschland hat nun wirklich nicht den Ein-
druck, daß hier ein Reformbündnis angetreten ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Selbst im Zeitungswald, der Sie geradezu gefördert hat,
macht sich eine gewaltige Enttäuschung breit. Da
braucht man nur die Überschriften zu lesen. Eine heißt:
„Oskar greift zur Axt“. Das war eine Überschrift der
Zeitschrift „Die Woche“. Sie schildert die besonderen
Stilmittel Ihres Finanzministers, wenn es darum geht, an
die Lösung von Problemen heranzugehen. Die gleiche
Wochenzeitung schreibt zur Steuerreform: „völlig ver-
heddert“.

Die gesamte deutsche Öffentlichkeit weiß, was hier
vor sich gegangen ist: Sie haben eine Wahl gewonnen.
Mit dieser Wahl waren bei der Neuen Mitte, die Sie an-
gesprochen und im wahrsten Sinne des Wortes hofiert
haben, Hoffnungen verbunden. Sie wollten nicht alles
anders machen; sie wollten ein Stück Kontinuität und
einiges besser machen. Jetzt macht Oskar Lafontaine
alles anders, aber überhaupt nichts besser.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Sie haben die deutsche Öffentlichkeit – diesen Vorwurf
kann ich Ihnen nicht ersparen – gewaltig getäuscht. Ich
muß der deutschen Öffentlichkeit aber auch sagen: Sie
hat sich leicht täuschen lassen. Sie hat die Modernisie-
rungsbereitschaft von Gerhard Schröder überschätzt und
die konservative sozialdemokratische Haltung von Oskar
Lafontaine unterschätzt.

Frau Kollegin Müller, die Grünen haben angekündigt,
sie wollten auf Augenhöhe verhandeln. Sie müssen auf
Hühneraugenhöhe verhandelt haben. Das stellt man fest,
wenn man das Ergebnis der Koalitionsvereinbarungen
betrachtet.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Das ist nicht nur eine Aussage von mir und von den
Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. Roland Berger hat
sich vor der Wahl oft lobend über Gerhard Schröder ge-
äußert. Er wünschte ihn sich allerdings in der Konstella-
tion einer großen Koalition. Jetzt trage ich Ihnen einmal
vor, was dieser Mann heute sagt.


(Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer)

– Herr Fischer, jetzt wird es zum Nachteil, daß Sie Au-
ßenminister geworden sind. Denn auf der Regierungs-
bank müssen Sie den Mund halten. Von den Abgeord-
netensitzen dürfen Sie Zurufe machen. Das hätten Sie
sich vorher überlegen sollen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sind jetzt Minister. Da müssen Sie Ihr Verhalten än-
dern. Die Jacke haben Sie ja schon gewechselt.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Zeitung darf er lesen!)


Roland Berger sagt:
Mit Ausnahme von Tony Blair sind alle sozialde-
mokratischen oder sozialistischen Regierungen in
Europa erst zwei oder drei Jahre ihren Illusionen
nachgejagt, bis sie von der Realität eingeholt wor-
den sind.

Dann führt er aus, was für diese Politik gilt:
Ihre Länder und die Menschen mußten für diesen
Lernprozeß allerdings teuer bezahlen, weil ver-
spielte Jahre im globalen Wettbewerb für lange Zeit
verloren sind.

Das ist der Fehler der eingeleiteten Politik.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Er fügt hinzu – falls er die Regierungserklärung ge-
hört hat, wird er seine Meinung nicht ändern –:

Auch diese deutsche Regierung ist zur Macht ge-
kommen und hat nichts dazugelernt. Sie ist völlig
unvorbereitet auf Innovation.

So war Ihre Regierungserklärung: völlig unvorberei-
tet auf Innovation. Das erzählen nicht nur meine Freun-
de und ich. Das spüren auch viele in Ihren Reihen. Soll

Kerstin Müller (Köln)







(B)



(A) (C)



(D)


ich sie namentlich vorlesen? Bodo Hombach, Ihr Mi-
nister, erklärt im Hinblick auf die Koalitionsvereinba-
rung: Das ist doch zunächst einmal bedrucktes Papier
– Das ist völlig richtig; das habe auch ich so gesehen. –
Nach genauerem Durchlesen stellt er fest: Viele Themen
seien vertagt oder in Arbeitsgruppen verwiesen worden.
Da sei noch genügend Platz für Schröders Handschrift,
für den „Meister der Moderation“, wie seine Berater
jetzt der deutschen Medienlandschaft mitteilen. Ich halte
ihn nicht für den Meister der Moderation. Herr Bundes-
kanzler, wo waren Sie eigentlich bei den Koalitionsver-
handlungen? Wo ist Ihre Handschrift? Wo kommt es zu
Innovationen?


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Politik, die Sie einleiten, kostet Deutschland viel
Geld. Sie wirft uns im Wettbewerb dramatisch zurück.
Sie gestaltet nicht die sozialen Sicherungssysteme neu
und innovativ. Im übrigen ist die Steuerreform, wie auch
immer Sie sie verpacken, ein reines Abkassieren der
Bürgerinnen und Bürger.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Und auch dazu lese ich Ihnen jetzt einmal etwas vor.

Man muß sich auf der Zunge zergehen lassen, was die
FAZ heute über die gegenwärtigen Wasserstandsmel-
dungen bezüglich der Ökosteuer berichtet. Die Grünen
äußerten sich so zu der Ökosteuer:

Die schnelle Einigung
– das muß die gestrige gewesen sein; ich weiß noch
nicht, wie sie aussieht, das werden wir nächste Woche
erfahren –


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nur vielleicht!)


führten die Grünen darauf zurück, daß mit der Strom-
steuer . . . eine neue Geldquelle erschlossen wird, an
der das Finanzministerium Interesse zeige. Darüber
seien Bedenken in den Hintergrund getreten.

– Soll ich das noch einmal vorlesen?

(Beifall bei der F.D.P.)


Man hat sich in der Koalition geeinigt, weil durch die
Stromsteuer eine neue Geldquelle erschlossen worden
ist. Herr Lafontaine, die Aufgabe des Finanzministers ist
nicht, neue Geldquellen zu erschließen, sondern zu spa-
ren, den Staat schlank zu machen und den Bürgern das
Geld zurückzugeben, anstatt es ihnen aus der Tasche zu
ziehen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das alles wird noch gesteigert: Die Grünen hoffen

jetzt auf Nachbesserungen im Steuerkonzept. Ich erinne-
re mich an Äußerungen – man tauscht sich ja doch gele-
gentlich aus – auch aus den Reihen der Kolleginnen und
Kollegen der Grünen zum Spitzensteuersatz. Der Kol-
lege Oswald Metzger war meinen Gedankengängen
nicht fremd.


(Zuruf des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Ja, aber wer hat denn für ihn als Chefunterhändler ver-
handelt? Für Sie ist doch ein Flunderergebnis herausge-
kommen: die „gewaltige“ Absenkung des Eingangssteu-
ersatzes von 25 Prozent auf 19,9 Prozent in drei Trippel-
schritten bis zum Jahre 2002. Das hilft uns doch nicht
weiter! Bis zum Jahre 2002 ziehen Sie denselben Bürge-
rinnen und Bürgern, denen Sie diese 5 Prozent Steuer-
senkung in die linke Tasche geben, die Ökosteuer aus
der rechten Tasche. Das ist ein Betrug an der Öffent-
lichkeit. Und so darf das auch genannt werden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie als Grüne haben das auch erkannt. Ihr Chefunter-

händler – bei den Koalitionsverhandlungen war ja fast
jeder Chefunterhändler, außer dem Bundeskanzler –, der
Chefunterhändler der Grünen, hat erklärt, man sehe jetzt
doch noch Spielraum für einen Spitzensteuersatz bei
45 Prozent oder darunter.

Meine Damen und Herren, ich formuliere es einmal
so: Die Grünen sollen ruhig sagen, daß sie jetzt endlich
einmal regieren wollen. Das ist völlig in Ordnung. Das
will jeder; darum gibt es einen Wettbewerb. Die Grünen
sollen aber nicht den Versuch machen, zu erklären, daß
sie programmatisch irgend einen Anteil an der Politik
hätten, die die Koalition jetzt vertritt. Dabei geht es
nämlich nicht um eine Ökosteuer und auch nicht um
eine Modernisierung, sondern da handelt es sich um
schlichtes Abkassieren. Es gibt keine neue Abfallwirt-
schaft. Die Grünen haben auch keine neue Verkehrs-
politik eingeleitet. Der Transrapid läuft jetzt durch die
nordrhein-westfälische Landespolitik als eine Art fahr-
bares Garzweiler III.


(Beifall bei der F.D.P.)

Am Ende wird der Verkehrsminister erklären, er wolle
doch die alte Strecke nehmen. – Das alles werden wir
hier erleben.

Ich lese den Grünen einmal ihre „Verhandlungserfol-
ge“ vor: Garzweiler II wird genehmigt. Ich sage vor-
aus: Auch der Frankfurter Flughafen wird ausgebaut.
Dazu gibt es einen interessanten Vorschlag des Grünen
Tom Koenigs. Die Grünen haben immer gesagt, der
Flughafen dürfe nicht über den Zaun hinaus ausgebaut
werden. Jetzt hat Tom Koenigs erklärt, man könne den
Zaun doch ein Stückchen verschieben. – Das ist eine
sehr findige Regierungsbeteiligung in Hessen!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ sollen mit

den Grünen weiterlaufen. Mir gefällt das; das ist ja auch
völlig richtig. Dann aber sollen die Grünen nicht den
Versuch machen, hier ihre Programmtreue vorzutragen.

Frau Kollegin Müller, Sie waren platt wie eine Flun-
der. Sie stellen den Außenminister und haben sich des-
sen Politik und Jogging angeglichen: Fünf Kilometer am
Rhein entlang, Spitzkehre, fünf Kilometer zurück – das
ist Bewegung, aber kein Fortschritt für Deutschland!
Das ist das Verhandlungsergebnis.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Wolfgang Gerhardt






(A) (C)



(B) (D)


Nein, meine Damen und Herren, Deutschland hat mit
dieser Art von Politik, bei der jetzt in Nachbesserungs-
runden nachgesessen wird, einen Zeitverlust zu be-
fürchten. Ich lese in der Zeitung, bei SPD und Grünen
sollten sich jetzt Reformallianzen bilden. – Meine Herr-
schaften! Eine Reformallianz muß man haben, wenn
man regieren will. Wenn man sie erst hinterher bildet, ist
es zu spät.

Ich will deshalb noch einmal auf Roland Berger zu-
rückkommen.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lieber Gott, macht ihn doch zum Ehrenmitglied! Er wird sich bedanken!)


Ihm wurde die Frage gestellt: Wie kann Schröder – so
fragte dieses bekannte Magazin – sich noch befreien und
die versprochene Modernisierung von Staat und Wirt-
schaft angehen? Der interviewte Roland Berger


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der kann sich nicht wehren!)


antwortete darauf aus meiner Sicht verblüffend deutlich.
Er sagte: Will er das überhaupt? Er ist Kanzler und hat
sein Lebensziel erreicht, fügte er hinzu.


(Lachen und Beifall bei der F.D.P. – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Bundeskanzler, Sie müssen in diesem Haus
mehr vortragen als heute bei Ihrer Regierungserklärung,


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie aber auch!)


um dem in der Öffentlichkeit entstandenen Eindruck
entgegenzuwirken, daß zwar Sie es waren, der zum
Kanzler gewählt worden ist, die Führung der Regie-
rungsgeschäfte aber beim Finanzminister liegt.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Kalter Kaffee!)


– Das ist gar kein kalter Kaffee; es ist in der deutschen
Öffentlichkeit umgehend deutlich geworden, wer hier
das Sagen hat. Ich finde, wir Parlamentarier haben ein
Recht, zu erfahren, wer wirklich das Sagen hat.

Wenn Sie modernisieren wollen, finden Sie uns an
Ihrer Seite. Wenn Sie den sich abzeichnenden strategi-
schen Kurs fortsetzen, fahren Sie Deutschland in die
Sackgasse – finanziell, dadurch, daß Sie Zeit verspielen,
und mit einer falschen politischen Konzeption. Der tre-
ten wir entgegen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, es sind ja nicht wir allein, die

Ihnen entgegentreten. Es gibt eine Heerschar solcher
Personen, auch aus Ihren eigenen Reihen. Ich greife
einmal diejenigen heraus, deren Seriosität überhaupt
nicht bestritten werden kann. Sie kennen genausogut wie
ich – deshalb zieht die Erblastlegende überhaupt nicht –
die Stellungnahme der führenden wirtschaftswissen-
schaftlichen Institute. Sie ist ganz eindeutig. Darin sa-

gen die Institute Ihnen, daß die von Ihnen beabsichtigte
Steuerreform kaum zu höherem Wachstum und schon
gar nicht zu mehr Beschäftigung führt.

Diese Stimmen werden ergänzt von Herrn Schmoldt,
dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie, Energie, der
dasselbe erklärt. Die wirtschaftswissenschaftlichen In-
stitute fordern Sie geradezu auf, couragierter heranzuge-
hen. Die öffentlichen Haushalte, so sagen die Institute –
wenn Sie es Herrn Schäuble und mir nicht glauben, dann
zitieren wir die Institute; sie sagen es Ihnen und der
deutschen Öffentlichkeit –, leiden nicht unter einer sol-
chen Not, wie die Chefunterhändler der Koalition be-
kannt geben. Es ist erkennbar, daß Sie zu mehr Steuer-
senkungen in der Lage wären, wenn Sie das nur woll-
ten. Sie wollen es aber nicht, weil Sie nicht Steuersen-
kung im Sinn haben, sondern Umverteilung. Bei diesem
System zahlen dann die Jüngeren für die Rentner, die
Kleinen für die Großen, der Mittelstand für die Groß-
industrie und die nächste Generation für den Verbrauch,
den Sie jetzt bewirken. Das ist das Falsche an Ihrer
Politik.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir werden den Gesetzentwurf zur Ökosteuer in der

nächsten Woche vorgelegt bekommen. Die Institute sa-
gen Ihnen aber schon jetzt, daß eine deutliche Entlastung
der Umwelt bei gleichzeitigem Abbau der Arbeitslosig-
keit von einer ökologischen Steuerreform nicht geleistet
werden kann. Ob die Erhöhung eine Mark oder zwei
Pfennig ausmachen soll, ist völlig egal. Das, was Sie
vorhaben, kann nicht geleistet werden.

Der Staatssekretär Tacke aus dem Wirtschaftsmi-
nisterium wird mit den Worten zitiert – der Mann drückt
sich vorsichtig aus; völlig zu Recht –, die doppelte Di-
vidende sei geringer, als man dachte. – Recht hat der
Mann; das hätte man auch vorher wissen können. Ich
will erläutern, was das bedeutet. Die doppelte Dividende
ist nicht nur geringer, sehr verehrter Herr Tacke; bei
einer doppelten Dividende dieser Art ist klar, daß in dem
Maße, wie das eine Ziel erreicht wird, das andere ver-
fehlt werden muß. Wird die Umwelt geschont, dann be-
kommt Herr Lafontaine keine Einnahmen, mit denen er
die Lohnnebenkosten senken kann.

Diese Erfahrung kann Ihnen auch jemand mitteilen,
der nicht Volkswirtschaft studiert hat. Das sagt uns
schon der gesunde Menschenverstand. Trotzdem machen
Sie es. Wenn Sie es machen, müssen Sie hier gewaltige
Argumente anführen, warum. Sie müssen die deutsche
Öffentlichkeit darüber aufklären, warum Sie das tun.

Ich sage Ihnen: Sie hängen dem uralten, anscheinend
nicht ausrottbaren sozialdemokratischen Glauben an,
daß der Staat die bessere Institution zur Herstellung so-
zialer Gerechtigkeit ist, so daß er den Bürgern etwas
mehr abnehmen soll, um es dann auf anderen Wegen
zuteilen zu können. Wir Freien Demokraten repräsentie-
ren den entgegengesetzten Denkansatz: Wir glauben,
daß eine Gesellschaft vitaler ist, wenn man den Bürgern
mehr Geld beläßt und es ihnen nicht aus der Tasche
zieht. Deshalb sind wir gegen Ihre Politik.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Wolfgang Gerhardt






(B)



(A) (C)



(D)


Mit der Ökosteuer wird kein Impuls für die Schaffung
von Arbeitsplätzen ausgelöst.

Im übrigen bin ich gespannt, ob der Gesetzentwurf
Ungereimtheiten beseitigt. Kohle soll bei der Verstro-
mung stärker steuerlich belastet werden. Wer Brikett
oder Eierkohle in den Ofen schiebt, gilt als Umweltsün-
der. Erdgas und Öl, deren Einsatz umweltfreundlicher ist
als etwa die Brikettverfeuerung, wollen Sie genauso
hoch besteuern. Das müssen Sie einmal vernünftigen
Menschen erklären. Das ist nicht erklärbar. Das ist nur
dann zu erklären, wenn Sie sagen: Das ist für uns eine
Glaubensfrage.

Da uns die Kollegin Müller auf Dänemark verwiesen
hat, möchte ich Sie auffordern: Erzählen Sie einmal dem
staunenden Haus, wie die Umweltentlastung in Däne-
mark zurückgegangen ist, nachdem dort Ökosteuern
eingeführt worden sind! Die Selbstverpflichtung der
deutschen Wirtschaft hat zehnmal soviel an Umwelt-
entlastung gebracht wie die Ökosteuererhöhung in Dä-
nemark.


(Beifall bei der F.D.P.)

Deshalb wollen wir bei dem eingeschlagenen Weg

bleiben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer will da bleiben?)


Im übrigen: Herr Bundeskanzler, Sie haben in der
Regierungserklärung gesagt, am Ende der Legislaturpe-
riode, also 2002, wollen Sie die Menschen um
15 Milliarden DM entlastet haben.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Vier Wochen vor der Wahl!)


Darf ich Sie daran erinnern, wie Sie die Entlastung in
Höhe von 7 Milliarden DM, die wir in der letzten
Legislaturperiode im Zuge der Soli-Senkung vorge-
nommen haben, kommentiert haben? – Das sei nur so-
viel „wie für eine Pizza“. Und jetzt verkaufen Sie die
15 Milliarden DM als eine große Steuerreform!


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist dann eine Pizza für zwei Personen! Immerhin!)


Ich halte das für unvertretbar: sich in der letzten Legis-
laturperiode über die Rückgabe von 7 Milliarden DM so
zu erregen und jetzt 15 Milliarden DM als Konzept für
vier Jahre deutscher innovativer Politik vorzutragen –
und das vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die
letzte Steuerschätzung für das Jahr 2002 etwa
150 Milliarden DM mehr Steuereinnahmen voraussieht.
Angesichts dessen muß ich Ihnen vorwerfen: Ihr Finanz-
minister hat durch sein strammes Verteilungsdenken das
Geld, das die Bürger in Deutschland bis zum Jahre 2002
noch erarbeiten müssen, schon längst verpulvert! Gegen
diese Politik werden wir angehen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es geht auch nicht nur um die Frage: Ist das die fal-

sche Grundrichtung? Reichen die Reformanstrengungen
– die ich gar nicht erkennen kann – aus? Nein, es geht

auch darum, ob Ihre Regierung wirklich willens und in
der Lage ist, auf der Höhe der Zeit die Themen so zu be-
arbeiten, wie es bei nahezu jeder modernen Wettbe-
werbsgesellschaft auf dieser Welt der Fall ist. Alle ande-
ren modernen Wettbewerbsgesellschaften, mit denen wir
stärkste Konkurrenz aushalten müssen, haben eine sol-
che Politik spätestens zwei Jahre nach dem Einstieg kor-
rigieren müssen. Wir werden mit Interesse beobachten,
wie es im weiteren Verlauf um die Modernisierungsbe-
reitschaft Ihrer Regierungskommissionen und Arbeits-
gruppen bestellt ist.

Aber es geht um mehr: Sie mögen bei den sozialen
Sicherungssystemen durch nicht geeignete Reforman-
strengungen Fehler machen. Sie können falsche wirt-
schaftspolitische Akzente setzen. – Das können wir im-
mer mit dem Florett ausfechten. Aber der schwere Säbel
der Opposition wird erst bei dem verantwortungslosen
Gequatsche von Oskar Lafontaine über das Thema
Geldwertstabilität, Bundesbank und Europäische
Zentralbank gezogen. Meine Damen und Herren, das
ist kein beliebiger Spielplatz. Die Einrichtung einer un-
abhängigen Notenbank mit dem Auftrag, die Geld-
wertstabilität zu wahren, gehört – dies ist über alle Par-
teigrenzen hinweg anerkannt – zu den institutionell er-
folgreichsten Nachkriegsergebnissen deutscher Politik.
Wer hier in Interviews leichtfertig redet, wer in der eu-
ropäischen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt –
„Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“ –,
man könne mittels dauerhafter öffentlicher Auseinander-
setzungen die Entscheidungen der Bundesbank konter-
karieren und die Europäische Zentralbank schon einmal
vorsorglich darauf vorbereiten, welcher Wind im näch-
sten Jahr weht, der macht all das an Ergebnissen zu-
nichte, was die Bundesregierung von CDU/CSU und
F.D.P. im europäischen Kontext in Stabilitätsverhand-
lungen erreicht hat. Ein grober Fehler!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie mögen das ganze Kapitel noch so sehr abfeiern:

Ich habe gelesen, neulich haben Sie erklärt – vor einem
besonders kundigen Gewerkschaftspublikum, das an
Geldwertstabilität natürlich, wie immer, interessiert ist –,
man könne das einmal diskutieren. Herr Bundeskanzler,
„Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“
reicht als Auskunft nicht. Im Verhältnis zu den erreich-
ten Zielen gehört für deutsche Politik zum Start am
1. Januar des nächsten Jahres mit EZB und Euro, daß
sich dieses Land stabilitätskonform verhält und in der
alten Kultur der Geldpolitik der Bundesrepublik
Deutschland, die Tradition hat, ja Staatsräson ist, ver-
bleibt.

Es gibt, wie ich sehe, nur ganz wenige, die sich in der
jetzigen Situation an diesem verantwortungslosen Ge-
schwätz beteiligen. Und es genügt nicht der Hinweis,
auch der Herr Bundesbankpräsident habe nun zugestan-
den, man könne ja einmal darüber sprechen. – Nein,
darum geht es dem Herrn Lafontaine nicht. Der will
durch dauerndes Gerede die alte Stabililtätspolitik so
unterminieren,


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist es!)


Dr. Wolfgang Gerhardt






(A) (C)



(B) (D)


daß ihm die Rechenschaftspflichtigkeit der EZB ir-
gendwann wie eine reife Frucht in den Schoß fällt! Das
nutzt vielleicht Herrn Lafontaine; das schädigt aber die
Bezieher kleiner Einkommen, die Rentner, die auf die
Geldwertstabilität angewiesen sind, weil sie keine
Sachwertbesitzer sind. Für die werfen wir uns in dieser
Diskussion in die Bresche.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wo immer Sie einen Zipfel erwischen können, da

packen Sie auch zu. Deshalb muß man den Anfängen
wehren.

Ihren Beutezug ins Wirtschaftsministerium mögen
Sie noch soviel mit dem Hinweis auf das britische Trea-
sury garnieren. Dieses hat eine andere Tradition. Selbst
wenn ich dieses Argument und den Hinweis auf Herrn
Strauss-Kahn akzeptiere: In Deutschland widerspricht
dieser Beutezug von Oskar Lafontaine den berühmten
„checks and balances“, die in unserer deutschen wirt-
schaftlichen Tradition immer beachtet wurden. Das ist
doch keine Verschlankungsmaßnahme.

Darf ich Ihnen einmal vorlesen, Herr Schröder, was
Sie als Ministerpräsident am 24. November 1994 zur
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl gesagt
haben? – Ich zitiere:

Es fällt auf, daß in dieser Regierung das Wirt-
schaftsministerium offenbar als eine Art Steinbruch
für andere Häuser benutzt wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Es kann einem schon leid tun, wie mit dem amtie-
renden Wirtschaftsminister umgegangen wird.

– Haben Sie Herrn Müller oder Herrn Stollmann ge-
meint?

Meine Damen und Herren, dieser Beutezug ins Wirt-
schaftsministerium ist nicht nur das Herausklamüsern
von einigen Aufgaben oder ein Stück Zentralisierung
wegen der besseren europäischen Verhandlungslinie.
Nein, das ist eine Tendenz, die sich in Ihrer Regierung
andeutet. Sie gehen mit Unabhängigkeit und Souveräni-
tät von Ressortministern nicht gut um.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das war auch nicht die Stärke von Kanzler Kohl!)


Ich füge noch ein Beispiel hinzu, weil es notwendig
ist. Sie haben jemanden als Verteidigungsminister auf
Ihre Regierungsbank geholt, der gar nicht dahin wollte
und der in seiner früheren Funktion einem anderen im
Wege war. Das ist der innere Zustand der Mechanismen,
mit denen hier Politik gemacht wird. Das spreche ich
hier an.

Sie sind als Kanzlerkandidat angetreten und haben in
der deutschen Öffentlichkeit von einem Modernisie-
rungseffekt gesprochen. Sie haben Ihren Wahlkampf
durch Events bestimmt. Sie haben Menschen für sich
gewonnen, die daran geglaubt haben, daß Sie als refor-
merischer Kanzler antreten. – Die alle haben Sie ent-
täuscht. Ich treffe heute kaum noch jemanden, der sich

optimistisch, zuversichtlich dazu bekennen will, Sie ge-
wählt zu haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sowohl bei dem Steuerthema wie bei vielem anderen:
Sie haben Ihren Start innerhalb weniger Tage granaten-
haft vergurkt. Sie haben alles in den Orkus geredet, was
an guten Hoffnungen da war. Sie haben die Neue Mitte
zertrampelt. Sie haben in Ihrem Programm geschrieben:
Sie setzen auf die Leistungsbereiten. – Ich wußte, das
war ein Tippfehler: Sie setzen sich auf die Leistungsbe-
reiten! Das wollen wir nicht zulassen.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, in der letzten Legislatur-
periode war für die Grünen vieles an liberaler Außen-
politik falsch. Ich habe mir die Reden von Herrn Fischer
immer angehört. Heute reist Herr Fischer – ich begrüße
das – in alle Länder der Welt und verkündet – bisher je-
denfalls erkennbar – die Kontinuität deutscher Au-
ßenpolitik. Der Außenminister ist nicht hier; man mag
es ihm übermitteln: Herr Fischer ist auf Grund seiner
derzeitigen Amtsführung der beste Beleg dafür, daß li-
berale Außenpolitik in gemeinsamer Verantwortung von
Außenminister Klaus Kinkel und Bundeskanzler Helmut
Kohl so schlecht nicht gewesen sein kann, wenn er sich
jetzt voll in deren Kontinuität bewegt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich finde das in Ordnung. Wir werden aber genaue-
stens beobachten müssen, ob das in seiner Fraktion auch
so bleibt; denn der Koalitionsvertrag, meine verehrten
grünen Kolleginnen und Kollegen, ist das glatte Gegen-
teil von dem, was Sie beschlossen haben. Ich glaube
nicht, daß mich meine Partei weiter an der Spitze getra-
gen hätte, wenn ich unter Vernachlässigung und Miß-
achtung der eigenen Beschlußlage so schnell versucht
hätte, ins Außenministerium zu kommen, wie Joschka
Fischer das gemacht hat.


(Beifall bei der F.D.P. – Dr. Gregor Gysi [PDS]: Doch!)


Aber bei Ihnen ist das an der Tagesordnung. Ich halte
das im Interesse Deutschlands nicht für schlecht. Aber
erzählen Sie als Grüne bitte niemandem mehr, daß Ihr
Programm fünf Minuten nach seinem Druck in der Bun-
desrepublik Deutschland noch irgend etwas gilt. Die
Zeiten des Respekts sind vorbei.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Der Außenminister hat unsere Unterstützung, wo er
in Kontinuität arbeitet. Wir werden aber genau beob-
achten, ob das auch für seine Fraktion gilt.

Herr Kollege Schäuble, über eines sind wir uns, glau-
be ich, klar: Wenn diese rotgrüne Regierung vor schwie-
rigen Entscheidungen steht, muß sie zunächst einmal ih-
re eigenen Mehrheiten bringen. Wir sind nicht Ersatzre-
serve III, 2. Klasse, Abteil 2 a, um Mehrheiten zu be-
schaffen, die sie selbst in der Koalition nicht haben. Wer

Dr. Wolfgang Gerhardt






(B)



(A) (C)



(D)


dieses Land regieren will, muß auch unangenehme Fra-
gen entscheiden.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wir werden diese Bereiche ganz genau beobachten.

Frau Präsidentin, ich habe hier keinen Zeithinweis
mehr.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1400300900
Wir haben eine of-
fene Runde, Herr Kollege. Sie haben nach unserer
Rechnung noch fünf Minuten.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Muß er aber nicht!)


Sie müssen sie nicht ausnutzen.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1400301000
Mir hat es gerade
so gut gefallen. Deshalb nutze ich sie auch noch voll
aus.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich will jetzt noch auf einige Punkte der Regierungs-

erklärung eingehen und die Sachverhalte bewerten. Die
Opposition muß hart in der Sache darstellen, wo es nötig
ist. Wo es parteiübergreifende Entscheidungen gibt,
sollte man das sagen.

Im Bereich der Innenpolitik ist für uns durchgängig
ein pragmatischer Lösungsansatz zu erkennen. Das hat
uns wiederum gefreut. Die Grünen haben mit diesem
Ansatz ihre Schwierigkeiten. Wir werden sehen, wie
sich das in der praktischen Politik niederschlägt. Es zeigt
jedenfalls, daß die entscheidenden Gesetze – beim Asyl-
recht, bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität
– für die wir so beschimpft worden sind, nicht verändert
werden. Die sind unter Dach und Fach. Wahrscheinlich
freuen Sie sich sogar darüber, daß wir die noch unter
Dach und Fach gebracht haben, weil Sie Schwierigkei-
ten hätten, sie unter Dach und Fach zu bringen. Sie re-
spektieren damit aber, daß unsere Entscheidungen rich-
tig waren. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese
nachträgliche Anerkennung.

Auch wir wissen, daß es in der Drogenpolitik keinen
Königsweg gibt. Wir sind bereit, neu nachzudenken.
Aber auch bei neuen Wegen gelten Wertentscheidungen.
Eine Freigabe von Drogen kommt für uns nicht in Frage.
Aber der Weg, einem Arzt zu ermöglichen, an
Schwerstabhängige Drogen auf dem Weg zur Therapie
abzugeben, um sie nicht in die Kriminalität rutschen zu
lassen und um den Menschen, die schwer krank sind,
wirklich zu helfen, ist mit uns ausdrücklich zu gehen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Lassen Sie sich auf einen solchen Weg ein! Suchen Sie
dafür parlamentarische Mehrheiten, dann gehen wir die-
sen Weg mit!

Ich schließe einen zweiten Punkt an. Das Staatsan-
gehörigkeitsrecht ist für die F.D.P. nicht nur ein Stück
Papier. Es geht um die Notwendigkeit, den bei uns
schon lange lebenden Ausländern ein faires Angebot der

Integration zu machen. Es darf aber keine Beliebigkeit
geben. Man muß von ihnen auch den Willen zur Inte-
gration erwarten dürfen. Wir werden bereit sein, ein
modernes Staatsangehörigkeitsrecht zu beschließen. Ich
sage Ihnen aber auch: nicht jedes. Wenn Sie Wert auf
parteiübergreifende Abstimmung legen, dann sollten Sie
in der Koalition beraten, ob Sie die jetzige Breite der
doppelten Staatsbürgerschaft nicht zurückführen. Denn
die doppelte Staatsbürgerschaft als Regel ist nicht unsere
Vorstellung. Ich glaube, daß dieser Ansatz keine Ak-
zeptanz in der deutschen Öffentlichkeit finden wird.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig!)

Auch der alte Ansatz, das nicht zu reformieren, war
falsch. Man muß sich hier um gesellschaftliche Akzep-
tanz bemühen.


(Beifall bei der F.D.P.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1400301100
Wir

wollen, daß beim Staatsangehörigkeitsrecht Mitte und
Maß ausschlaggebend sind, die gesellschaftliche Ak-
zeptanz mitbewertet wird. Wenn Sie der Auffassung
sind, es wäre für das Parlament und für Deutschland gut,
daß ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht eine breitere
parlamentarische Zustimmung findet, dann biete ich sie
Ihnen ausdrücklich mit dem Hinweis an, daß dann aber
auch Ihre Seite, die Mehrheitsseite dieses Hauses, eine
Korrektur anbringen muß. Gehen Sie bei dem Modell
„doppelte Staatsbürgerschaft nahezu als Regel“ ein
Stück zurück, verständigen Sie sich mit uns auf das An-
gebot an die Kinder, die hier geboren werden, und wir
werden nicht zögern, einem solchen Gesetzentwurf zu-
zustimmen!


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich sage dies deshalb, weil Oppositionsarbeit sowohl
Kritik als auch variantenreiches Arbeiten beinhalten
muß.

Herr Bundeskanzler, Sie werden – das ist meine tiefe
Überzeugung – die von Ihnen eingeleitete Politik, die in
dieser ersten Phase maßgeblich von Finanzminister La-
fontaine bestimmt worden ist, in den finanziellen, steu-
erpolitischen und wirtschaftlichen Grunddaten im Laufe
dieser Legislaturperiode korrigieren müssen. Das ist nur
eine Frage der Zeit. Sie werden dem Themendruck und
Adam Riese nicht entkommen. Wir wollen jetzt einmal
sehen, wie lange das dauert. Wir werden Sie dabei kri-
tisch begleiten. Sie werden Ihre Politik verändern müs-
sen. Dann werden wir uns in einer solchen Debatte wie-
der treffen. Das wird dann eine wichtige Debatte für
Deutschland sein. Nur, bedauerlicherweise wird das
Land bis dahin Zeit verloren haben. Es wäre besser, Sie
kehrten jetzt um.


(Anhaltender Beifall bei der F.D.P. – Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1400301200
Das Wort hat der
Vorsitzende der PDS-Fraktion, Dr. Gregor Gysi.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1400301300
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Schäuble, Sie haben den

Dr. Wolfgang Gerhardt






(A) (C)



(B) (D)


Kanzler dafür kritisiert, daß er sich zu sehr auf dem
Wahlergebnis vom 27. September 1998 ausgeruht habe.
Ich finde, in den ersten Monaten ist das noch legitim;
aber ich denke auch, es wird die Zeit kommen, da man
sich an eigenen Taten messen lassen muß.

Herr Bundeskanzler, Sie werden es hier allerdings mit
sehr unterschiedlichen Formen von Opposition zu tun
haben: einmal mit der CDU/CSU-Opposition, dann mit
der F.D.P.-Opposition und auch mit der PDS-
Opposition. Diese haben natürlich unterschiedliche Her-
angehensweisen. Die CDU/CSU-Opposition will Sie in
der Regierung wieder austauschen, das heißt, ihre Politik
wird sich daran ausrichten, die SPD durch die
CDU/CSU zu ersetzen. Also wird sie die Leistungen der
früheren Regierung sehr würdigen und Ihre entspre-
chend herabwürdigen und versuchen, auf diesem Wege
zum Ziel zu kommen.

Dennoch sage ich Ihnen, Herr Schäuble: Ich finde
das, was Sie hier gemacht haben, sehr problematisch.
Dies gilt auch für Herrn Gerhardt von der F.D.P. Wenn
man die Ergebnisse der eigenen Politik nur würdigt, hat
man überhaupt keine Chance, zu erklären, weshalb man
eigentlich am 27. September 1998 abgewählt worden ist.


(Beifall bei der PDS)

Ein ganz kleiner Hang zur Selbstkritik wäre also auch
bei diesen beiden Fraktionen angebracht gewesen.

Es kommt noch etwas hinzu. Wenn Sie nämlich er-
klären, daß Sie in der Sache nichts falsch gemacht hät-
ten, daß Sie ein gut bestelltes Haus hinterlassen hätten,
dann nähren Sie geradezu das Gerücht, das jetzt auch
häufig durch die Zeitungen geht, daß es nämlich alleine
an der falschen Person des Kanzlerkandidaten gelegen
habe. Und dann sind Sie es, die Ihren Altbundeskanzler
Dr. Helmut Kohl die ganze Zeit demontieren, und nicht
andere. Ich glaube, daß es nicht alleine an ihm gelegen
hat. Deshalb wäre mehr Selbstkritik in Ihren Fraktionen
angesagt.


(Beifall bei der PDS)

Herr Schäuble hat insbesondere die Koalition von

SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern kritisiert.
Dazu hat sich auch der Kollege Struck geäußert. Lassen
Sie mich dazu folgendes sagen. Auch heute haben Sie
zwei Dinge nicht benannt: Sie haben nicht hinzugefügt,
daß die CDU am 27. September 1998 bei den Land-
tagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern eine ganz
schwere Schlappe erlitten hat. Sie haben auch nicht er-
klärt, weshalb das so war und daß die SPD mithin vor
der Frage stand, ob sie mit dem eindeutigen Verlierer
der Wahl und damit gegen den Willen der Menschen in
Mecklenburg-Vorpommern eine Koalition mit Ihrer
Partei oder ob sie mit einem anderen Gewinner der
Wahl, nämlich mit der PDS, eine Koalition eingeht.

Im übrigen sage ich Ihnen, Herr Schäuble, ganz deut-
lich: Ich finde, daß Sie in dieser Frage äußerst unauf-
richtig argumentieren. PDS und CDU haben nämlich in
dieser Hinsicht eine Gemeinsamkeit. Sie haben erklärt,
Sie wollten gerne ehemalige Mitglieder der SED in Ih-
ren Reihen aufnehmen. Ich gehe davon aus, daß es,
wenn Sie das wollen, gleichberechtigte CDU-Mitglieder

sein sollen. Wenn sie gleichberechtigt sein sollen, dann
müssen sie, wenn Sie irgendwo die Regierung bilden,
die Chance haben, in eine solche Regierung einzutreten.
Das heißt, PDS und CDU wollen in geeigneten Fällen,
daß ehemalige SED-Mitglieder in die Regierung eintre-
ten: wir nur über die Mitgliedschaft in der PDS, Sie über
die Mitgliedschaft in der CDU, also über sehr viel mehr
Opportunismus als wir. Das ist der eigentliche Unter-
schied, und zu dem stehen wir auch.


(Beifall bei der PDS)

Wenn nun allerdings Herr Struck hier erklärt, das

Wahlergebnis der PDS sei nur dadurch zu erklären, daß
die Bundesregierung in den neuen Bundesländern so
sehr versagt habe, so möchte ich doch ergänzen, Herr
Kollege Struck: Die SPD hat in den neuen Bundeslän-
dern auch ihren Anteil daran. Das muß man schon der
Vollständigkeit halber hinzufügen.


(Beifall bei der PDS)

Sie, Herr Schäuble, haben, wie ich finde, zu Recht

von der Regierung und auch von der stärksten Fraktion
des Hauses gefordert, mehr Respekt vor anderen Mei-
nungen aufzubringen. Ich darf Sie daran erinnern, wie in
den letzten Jahren Ihr Respekt vor anderen Meinungen
aussah, insbesondere auch vor anderen Meinungen aus
den PDS-Reihen. Wenn das zugleich eine Art Selbstkri-
tik gewesen sein soll, dann ist das zu akzeptieren.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Bei der F.D.P.-Opposition habe ich sehr genau beob-

achtet, wie Sie die Rede des Bundeskanzlers verfolgt
haben und an welchen Stellen Sie geklatscht haben.
Wenn ich das richtig beobachtet habe, befindet sich die
F.D.P. auf dem Wege sozusagen von der ehemaligen
Regierungspartei hin zu einer Oppositionspartei, die sich
später anbieten will, die Grünen irgendwann in dieser
Regierung zu ersetzen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Darüber müssen wir beide uns keine Sorgen machen!)


Das wird noch eine spannende Entwicklung in den
nächsten vier Jahren sein. Länger als vier Jahre halten
Sie das auf den Oppositionsbänken nicht aus. Das ist
einfach zu ungewohnt.

Im übrigen halten Sie, Herr Gerhardt, Ihre Partei für
viel zu intolerant. Auch wenn Sie alle Programmpunkte
in einer Regierungsverhandlung aufgegeben hätten,
hätten die Sie nicht abgewählt. Das schlucken die, glau-
ben Sie es mir. Ich sage das nur, weil Sie das bezweifelt
haben. Doch, das halten die durch. Das hat zumindest
die Vergangenheit bewiesen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ich danke Ihnen für den Hinweis!)


Im Namen der PDS-Fraktion und der PDS-
Opposition möchte ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, fol-
gendes sagen: Wir werden Ihre Regierung immer dann
unterstützen, wenn sie Verhältnisse demokratischer ge-
staltet, immer dann, wenn sie Bürgerrechte erweitert,
immer dann, wenn es mehr soziale Gerechtigkeit geben
soll, immer dann, wenn Friedenspolitik gemacht wird

Dr. Gregor Gysi






(B)



(A) (C)



(D)


und wenn Außenpolitik als – das sage ich jetzt einmal
so – nichtmilitärische Politik verstanden wird, das heißt,
die Außenpolitik nicht als Fortsetzung der Militärpolitik
mit anderen Mitteln verstanden wird, und immer dann,
wenn es um reale Abrüstung in diesem Land und in an-
deren Ländern geht.

Wir werden aber – auch das will ich klar sagen –
immer dann deutlich Opposition machen, wenn Sie dem
neoliberalen Zeitgeist nachgeben, wenn Sie letztlich
fortsetzen, was die alte Bundesregierung nach unserer
Auffassung an verfehlter Außen- und Innenpolitik be-
trieben hat.

Insofern werden wir tatsächlich eine konstruktive
Opposition sein.

Ich habe dennoch mit Interesse festgestellt, daß Sie
immerzu von der Neuen Mitte gesprochen haben. Das
war eine Art Überschrift für Ihre Rede. Darf ich Sie dar-
an erinnern, daß im Berliner Parteiprogramm der SPD
als Ziel noch immer der demokratische Sozialismus
formuliert ist? Ich stelle mit Interesse die Ersetzung die-
ses Begriffs durch den der Neuen Mitte fest. Ich emp-
finde das in gewisser Hinsicht als einen Rückschritt. Das
darf ich doch wenigstens noch sagen. Aber es macht
nichts, weil wir dadurch alleine die Rolle übernehmen,
für den demokratischen Sozialismus streiten zu dürfen.
Wir werden das auch tun und uns dieser Aufgabe stel-
len.


(Beifall bei der PDS)

Aber ich bedaure, daß in Ihrer Regierungserklärung

zur Erweiterung der Demokratie kein einziger Vorschlag
unterbreitet wird. Sie wissen, daß SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS hier zum Beispiel im Rahmen der Ver-
abschiedung des Maastricht-Vertrages ganz ernsthaft
kritisiert haben, daß es keine Volksabstimmung zu die-
ser Frage gab. Warum traut sich Ihre Regierung nicht, in
der Regierungserklärung zu sagen, daß sie endlich den
Weg für die Zulässigkeit von Volksentscheiden und von
Volksabstimmungen in der Bundesrepublik Deutschland
freimachen will? Das wäre ein wichtiger Schritt für
mehr Demokratie gewesen.


(Beifall bei der PDS)

Natürlich haben wir zur Kenntnis genommen, daß in

Ihrem Koalitionsvertrag eine ganze Reihe von Vor-
schlägen enthalten sind – auf einige davon sind Sie auch
in Ihrer Regierungserklärung eingegangen –, die zu
mehr sozialer Gerechtigkeit führen sollen. Wir begrüßen
die Aussetzung der Senkung des Rentenniveaus, wobei
ich hinzufüge, daß wir uns mehr gefreut hätten, wenn
Sie statt „Aussetzung“ „endgültige Aufhebung“ gesagt
hätten. Dann würde über den Rentnerinnen und Rent-
nern nicht das Damoklesschwert hängen; vielmehr wäre
klar: Eine Absenkung des Rentenniveaus wird es nicht
geben. Aber immerhin: Wir werden auch eine Ausset-
zung unterstützen.

Natürlich unterstützen wir, daß Sie die Zuzahlung für
Medikamente für Kranke reduzieren und zurückfahren
wollen. Wir hätten uns gewünscht, daß wir uns von die-
sem Instrument ganz und gar verabschiedet hätten. Na-
türlich unterstützen wir auch, daß Sie das Kranken-

hausnotopfer aussetzen wollen, obwohl ich mich auch
hier mehr freuen würde, wenn Sie gesagt hätten: Es
kommt gar nicht mehr in Frage; es wird es nicht mehr
geben. Auch hier ist das Wort „aussetzen“ nach unserer
Vorstellung etwas unglücklich gewählt. Es ist natürlich
besser, als es beizubehalten. Das ist völlig klar. Deshalb
werden wir auch bei der Aussetzung zustimmen. Das ist
doch logisch.


(Beifall bei der PDS)

Ich sage aber auch: Sie haben vieles, was in der Ko-

alitionsvereinbarung steht, hier nicht erwähnt – das
macht doch zumindest nachdenklich –, zum Beispiel die
Frage des Kündigungsschutzes, also die Rücknahme
der Verschlechterungen beim Kündigungsschutz in be-
stimmten Bereichen. Morgen sollte ein Gesetzentwurf
dazu vorliegen. Der ist noch nicht da. Darf ich fragen,
ob auch er nur ausgesetzt ist und ob er noch nächste
Woche kommt? Da Sie es nicht erwähnt haben, werden
wir sehr genau kontrollieren, ob er kommt.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nehmt ihn doch gleich in den Koalitionsausschuß auf!)


Das gilt ebenso für das Schlechtwettergeld. Das gilt
in besonderem Maße auch für die von der alten Regie-
rung zu verantwortende Erhöhung des Renteneintritts-
alters für Frauen und Schwerbehinderte. Abgesehen von
den Vorstellungen, eventuell schon für 60jährige die
Rente zu ermöglichen, wäre das aber der erste erforder-
liche Schritt gewesen, um wieder rückgängig zu ma-
chen, daß Frauen und Schwerbehinderte erst später in
Rente gehen können.


(Beifall bei der PDS)

Sie haben die 620-DM-Jobs angesprochen. – Sie ha-

ben übrigens die 520-DM-Jobs nicht erwähnt; ich muß
das einmal sagen; das sind im Osten nur 520 Mark. Ich

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1400301400

Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie diesen Hunderter
an Demütigung endlich beseitigten.


(Beifall bei der PDS)

Wissen Sie: Bei fast nichts an Verdienst zu einer Ver-
käuferin im Osten zu sagen, sie sei 100 DM weniger
wert als eine Verkäuferin im Westen, ist einfach nicht
mehr hinnehmbar. Das ist nicht einmal mehr eine mate-
rielle Frage, das ist eine kulturelle Frage geworden.
Deshalb hoffe ich, daß das so schnell wie möglich korri-
giert wird.


(Beifall bei der PDS)

Sie haben gesagt, Sie wollen solche Beschäftigungs-

verhältnisse versicherungspflichtig machen. Das findet
unsere Zustimmung. Über die Grenze von 300 DM will
ich jetzt nicht streiten, obwohl man auch dazu einiges
sagen kann, weil diese Grenze nämlich dazu verleiten
könnte, diese Jobs noch kleiner zu machen; dann würden
es noch mehr. Das wäre natürlich der falsche Ansatz.

Sie wollen die Steuerpauschale aufheben. Einverstan-
den, damit könnten wir uns anfreunden – unter der Be-
dingung, daß dann der Arbeitgeber diesen kleinen So-

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


zialversicherungsbeitrag alleine bezahlt und daß die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht auch bei einer
so geringen Entlohnung noch zur Kasse gebeten werden.


(Beifall bei der PDS)

Kritisieren muß ich allerdings eines ganz deutlich:

Ich habe in dieser Regierungserklärung gar nichts mehr
vom Schlechtwettergeld gehört. Ich hoffe, daß wir das
Schlechtwettergeld wieder einführen. Und ich hoffe, Sie
gehen noch einen Schritt weiter; denn was auf den Bau-
stellen in Deutschland passiert, ist die Organisierung
von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wir müssen
endlich nicht nur einen Mindestlohn gewährleisten, son-
dern gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort –
ganz egal, aus welchem Land die Firma kommt, und
ganz egal, aus welchem Land die Beschäftigten kom-
men.


(Beifall bei der PDS)

Das müssen wir einfach durchsetzen. Alles andere hätte
erhebliche negative Folgen.

In der Regierungserklärung und in der Koalitionsver-
einbarung haben Sie eine Gruppe vergessen. Sie können
Sie aber nicht ernsthaft vergessen haben; das heißt, Sie
haben für sie nichts geregelt. Ich meine die Arbeitslosen
und die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeemp-
fänger. Ich sage ganz deutlich: Die sind in den letzten
Jahren durch die Gesetzgebung drangsaliert worden. Ich
hatte gehofft, daß Sie das zurücknehmen. Davon steht
aber kein Wort in der Regierungserklärung. Es ist nicht
an eine Besserstellung dieser Menschen gedacht, und
das muß diese Regierung unbedingt korrigieren, wenn
sie denn sozialdemokratisch und grün sein will.


(Beifall bei der PDS)

Ich füge hinzu, daß mich sehr gewundert hat, was Ihr

Bundesfinanzminister in der letzten Zeit zur Pflegever-
sicherung und Arbeitslosenversicherung gesagt hat. Das
steht zwar nicht in der Koalitionsvereinbarung, und Sie
haben es auch nicht in der Regierungserklärung erwähnt.
Aber er ist – da werden Sie mir zustimmen – kein ganz
unwichtiger Mann in Ihrer Regierung. Man kann die
Pflegeversicherung abschaffen und das steuerfinanziert
machen. Das haben wir damals übrigens auch vorge-
schlagen. Dann muß man sich aber an dem Bedarf aus-
richten. Wenn man sich an der Bedürftigkeit ausrichtet,
ist das ein ziemlicher sozialer Skandal.


(Beifall bei der PDS)

Stellen Sie sich doch einmal vor: Ein Arbeitnehmer er-
leidet einen schweren Unfall und ist danach wirklich
pflegebedürftig. Jetzt hat er noch ein paar Ersparnisse,
ein Auto und ein paar andere Gegenstände. Bei einer
Bedürftigkeitsprüfung heißt das, daß er das erst alles
verkaufen muß, bis er bettelarm ist, und erst dann hilft
ihm der Staat, denn er hätte ja keinen Versicherungs-
schutz mehr. Dazu kann ich nur sagen: Das ist wirklich
extrem unsozial und ginge zumindest mit der PDS auf
gar keinen Fall.


(Beifall bei der PDS)


Herr Lafontaine geht noch einen Schritt weiter und
sagt, man könnte eigentlich auch die Arbeitslosenversi-
cherung abschaffen, weil ja nicht alle arbeitslos werden.
Er will an dieser Stelle das Solidaritätsprinzip aufheben.
Er sagt, diejenigen, die Geld haben, könnten ihre Ar-
beitslosigkeit selber finanzieren, und erst, wenn sie rich-
tig arm seien und die Bedürftigkeit einsetzte, greife der
Staat unterstützend zu. Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn
Herr Schäuble oder der Altkanzler Kohl vor einem Jahr
den Vorschlag gemacht hätte, die Arbeitslosenversiche-
rung abzuschaffen und nur noch ganz Bedürftigen im
Falle von Arbeitslosigkeit zu helfen, dann wäre wirklich
die ganze Sozialdemokratie in Deutschland aufgestan-
den und hätte ihn der restlosen Demontage des Sozial-
staates bezichtigt.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber Ihr Herr Lafontaine darf das! Das finde ich wirk-
lich nicht in Ordnung; das würde hinter die Zeiten Bis-
marcks zurückfallen. Und das wird dieser Bundestag
– so hoffe ich – nicht genehmigen. Ich hoffe auf genü-
gend Widerstand aus Ihrer eigenen Fraktion und auch
aus der grünen Fraktion.

Den längsten Teil Ihrer Rede haben Sie der Arbeits-
marktpolitik gewidmet. Das ist auch richtig. Sie haben
immer gesagt, Sie wollen sich daran messen lassen, wie
es Ihnen gelingt, Arbeitslosigkeit abzubauen. Sie haben
ein Bündnis für Arbeit vorgeschlagen. Das ist in Ord-
nung – wenn es denn zustande kommt. Die Ergebnisse
werden das Entscheidende sein. Ich finde aber, Sie ha-
ben die Elemente, die dieses Bündnis ausmachen sollen,
in ungenügender Weise genannt, aber das macht nichts.
Ich muß jedoch auf eines hinweisen, Herr Bundeskanz-
ler: Ihre Referenz ist diesbezüglich nicht absolut die
günstigste. Denn in Niedersachsen haben Sie kein
Bündnis für Arbeit zustande gebracht. Das muß man an
dieser Stelle ehrlicherweise einmal hervorheben. Ich
hoffe, dieses Mal gelingt es Ihnen.

Sie haben sehr viel von Bildung gesprochen. Ich muß
aber sagen, daß in Niedersachen am meisten Lehrerstel-
len abgebaut worden sind, daß am meisten Stundenzah-
len abgebaut worden sind und daß Sie mit die höchsten
Klassenfrequenzen in der Bundesrepublik Deutschland
haben. Auch das ist keine Referenz für eine künftige
gute Bildungspolitik. Sie haben jetzt an Hochschulen in
Niedersachsen 100 DM Semestergebühren eingeführt,
was hinsichtlich des Zugangs zu Bildung nicht gerade
für Chancengleichheit spricht. Auch das will ich deut-
lich kritisieren.

Sie haben gesagt, daß Sie Ausbildungsplätze für jun-
ge Leute schaffen wollen. Sie haben das sehr engagiert
vorgetragen. Ich glaube Ihnen, daß das ein wirklich tie-
fer Wunsch von Ihnen ist. Darin unterstützen wir Sie
selbstverständlich.

Aber Sie haben zugleich die Umlagefinanzierung
abgelehnt und als Zwang denunziert. Die Umlagefinan-
zierung ist kein Zwang; sie stellt vielmehr Gerechtigkeit
her. Die Situation heute ist doch so, daß die großen
Konzerne immer weniger ausbilden und der private
Bäckermeister schon drei, vier oder fünf Lehrlinge hat

Dr. Gregor Gysi






(B)



(A) (C)



(D)


und dabei so gut wie überhaupt nicht unterstützt wird.
Die Idee der Umlagefinanzierung besagt doch nur, daß
ein Unternehmen, das ausbilden könnte, aber nicht aus-
bildet, nachher aber die am besten ausgebildeten Leute
einstellt, an den Kosten der Ausbildung, die andere vor-
nehmen, beteiligt werden soll. Das ist eine Frage der Ge-
rechtigkeit und nicht des Zwangs. Das ist das Entschei-
dende an der Idee der Umlagefinanzierung.


(Beifall bei der PDS)

Mit Appellen hat es auch der Altbundeskanzler ver-

sucht. Es war nicht so, daß sich Herr Dr. Kohl über je-
den Jugendlichen gefreut hat, der keine Lehrstelle be-
kam. Auch er hätte sich mehr gefreut, wenn alle eine
bekommen hätten. Aber genau deswegen, weil er in Ka-
pitalverwertungsinteressen nicht eingreifen wollte,
wollte er keine Umlagefinanzierung. Ich finde, eine Re-
gierung aus SPD und Grünen müßte den Mut haben,
diese Umlagefinanzierung nun endlich in die Realität
umzusetzen.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der F.D.P.: Sozialismus!)


– Das hat doch mit Sozialismus nichts zu tun. Wenn für
Sie Sozialismus darin besteht, daß alle Jugendlichen
ausgebildet werden, dann bin ich einverstanden. In die-
sem Sinne wollen wir Sozialismus.


(Beifall bei der PDS)

Auch hier setzen Sie nur auf Rahmenbedingungen.

Wenn wir denn die Arbeitslosigkeit wirklich abbauen
wollen, dann brauchen wir einen öffentlich geförderten
Beschäftigungssektor, weil über 4 Millionen Arbeitslose
weder in der Privatwirtschaft noch im öffentlichen
Dienst unterkommen werden. Um hier wirklich voran-
zukommen und millionenfach Arbeitslosigkeit in unse-
rer Gesellschaft abbauen zu können, brauchen wir etwas,
was die US-Amerikaner Non-profit-Sektor nennen.

Lassen Sie mich auch noch etwas zur ökologischen
Steuerreform sagen, mit der sich Herr Gerhardt aus
seiner Sicht sehr kritisch auseinandergesetzt hat. Ich
möchte mich mit diesem Thema aus meiner Sicht kri-
tisch auseinandersetzen. Sie haben gesagt: Diese Steuer-
reform hat ein Ziel, nämlich die Lohnnebenkosten zu
senken. Das sei das Entscheidende. Es gehe nicht um
Einnahmen; vielmehr gehe es darum, Lohnnebenkosten
zu senken. Herr Bundeskanzler, ich dachte natürlich
immer: Eine ökologische Steuerreform hat zunächst
einmal ein ökologisches Ziel. Deshalb nennt sie sich ja
so.

Nun muß ich Sie auf ein Problem hinweisen. Ich hätte
mir das so vorgestellt: Wenn man eine ökologische
Steuerreform durchführt, dann nimmt man die Einnah-
men, um den ökologischen Umbau dadurch zu finanzie-
ren. Auf diesem Weg kommt man dann weiter. Wenn
dann wirklich der Energieverbrauch zurückgeht, so daß
die Einnahmen aus dieser Steuer geringer werden, dann
ist man aber beim ökologischen Umbau, zum Beispiel
beim Angebot im öffentlichen Nah- und Fernverkehr
– preisgünstig, sicher, bequem etc. –, schon deutlich
weiter und kann deshalb verkraften, daß die Einnahmen
zurückgehen.

Erster Fehler: Wenn Sie aber so vorgehen, daß Sie die
Einnahmen durch Ökosteuern mit einer Senkung der
Lohnnebenkosten koppeln, dann begeben Sie sich in
eine Falle. Sie wollen mit den Einnahmen aus der öko-
logischen Steuerreform den Beitrag zur gesetzlichen
Rentenversicherung um, wenn ich das richtig verstehe,
0,8 Prozent senken. Was machen Sie denn nun, wenn Ih-
re ökologische Steuerreform wirkt, das heißt, wenn die
Menschen plötzlich wesentlich weniger Auto fahren und
wesentlich weniger Energie verbrauchen? Wenn das ge-
schieht, dann fehlen Ihnen die Einnahmen, um im Jahr
danach die Senkung von 0,8 Prozent halten zu können.
Das heißt, entweder müssen Sie dann Ihre Steuern erhö-
hen oder Sie müssen mit den Lohnnebenkosten wieder
heraufgehen. Das bedeutet, Sie begeben sich in eine
ewige Spirale. Deshalb ist der Zusammenhang zwischen
ökologischer Steuerreform und Lohnnebenkosten zwei-
fellos ein falscher. Man hätte die Einnahmen für den
ökologischen Umbau verwenden müssen, um dort
schrittweise voranzukommen.


(Beifall bei der PDS)

Zweiter Fehler: Wenn es um die soziale Abfederung

geht, dann bietet sich nunmehr folgendes Bild: Die
Großindustrie wird von dieser Steuer vollständig befreit,
das Handwerk muß einen Teil dieser Steuer bezahlen.
Aber die Sozialhilfeempfängerinnen und die Sozialhil-
feempfänger – die fahren zwar kein Auto, aber auch die
müssen heizen, auch die brauchen eine warme Stube;
diese Steuer trifft auch sie, denn auch sie brauchen
Strom –, die Arbeitslosen und auch die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, bekommen keine Entlastung.
Das ist aus unserer Sicht unsozial.


(Beifall bei der PDS)

Das Handwerk in den neuen Bundesländern verträgt

nicht einmal eine Teilsteuer. Die Handwerker werden
daran zugrunde gehen. Sie hätten die kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen ausnehmen müssen und nicht
die Großindustrie. Das wäre der richtige Ansatz gewe-
sen, um eine solche Steuer umzusetzen.


(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie mich folgendes noch sagen: Steuern, mit-

tels derer wir das Verhalten der Leute ändern wollen, al-
so erzieherische, pädagogische Steuern, haben ihre Pro-
bleme. Wir haben eine Alkoholsteuer und eine Tabak-
steuer, und jetzt bekommen wir eine Energiesteuer. Ihre
Ziele sind, daß die Leute weniger saufen, weniger rau-
chen und weniger Energie verbrauchen. Das Problem
dabei ist aber, daß der Staat pleite ist, wenn alle so ver-
fahren. Das heißt, damit die Einnahmen stimmen, muß
die Regierung heimlich immer hoffen, daß mehr gesof-
fen, mehr geraucht und mehr Energie verbraucht wird.
Auf dieses Problem möchte ich einfach einmal hinwei-
sen. Deshalb wäre es günstiger, man würde hier andere
Wege gehen.

Wir sagen ja zu einer ökologischen Steuerreform,
wenn die Einnahmen für den ökologischen Umbau, aber
nicht für Lohnnebenkosten verwendet werden und wenn
sie sozial abgefedert ist. Beides stimmt gegenwärtig
nicht, und deshalb können wir dem nicht zustimmen.

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


Sie haben nur sehr allgemein über Ostdeutschland ge-
sprochen. Sie haben Ostdeutschland zur Chefsache er-
klärt. Das ist übrigens nicht neu; das hat Helmut Kohl
auch immer schon gemacht. Sie sehen ja, was dabei her-
ausgekommen ist. Daher hätte ich mir etwas Konkretes
gewünscht. Aber ich habe nichts von einer Investiti-
onspauschale für Kommunen gehört, die ganz entschei-
dend wäre, um regionale Wirtschaftskreisläufe auch
ökologisch in Gang zu setzen.


(Beifall bei der PDS)

Ich habe nichts davon gehört, Herr Bundeskanzler,

daß Sie wenigstens für vier Jahre das Ziel formuliert
hätten, gleicher Lohn und gleiches Gehalt für gleiche
Arbeit in Ost und West. Darauf warten aber die Men-
schen in den neuen Bundesländern;


(Beifall bei der PDS)

denn wir haben dort ja auch Preise von 100 Prozent.
Angesichts dessen kann man nicht auf Dauer mit 70 bis
80 Prozent der Einnahmen leben. Das gilt für Soziallei-
stungen ebenso wie für Löhne und Gehälter.

Sie haben auch nicht gesagt, ob Sie das „Rentenstraf-
recht“ nun endgültig beseitigen wollen, die Lücken in
der Rentenüberleitung nun endlich schließen wollen und
auch das Versorgungsunrecht bei der Rente überwinden
wollen. Ich habe leider auch keinen Satz dazu gehört, ob
wir nun endlich damit Schluß machen, daß die Leute um
ihr Eigentum an Grundstücken, Datschen etc. Angst ha-
ben müssen und immer noch zu Tausenden klagen müs-
sen, damit ihre Berufsabschlüsse anerkannt werden. Das
wären Gesten gewesen, auf die in den neuen Bundeslän-
dern dringend gewartet wird.


(Beifall bei der PDS)

Die Außenpolitik – dazu kann ich mich auf Grund der

fortgeschrittenen Zeit nur noch ganz kurz äußern – soll
ja, wie ich gelesen habe, von Ihrem Außenminister in
Kontinuität fortgesetzt werden. Hier frage ich mich
natürlich schon, warum sich der Spitzenpolitiker der
Grünen gerade das Amt aussucht, bei dem er sagen muß,
er wolle alles so wie die vorherige Regierung machen.
Wie kann man denn so irgendeinen Wechsel dokumen-
tieren – wenn ich das einmal fragen darf? Ein Wechsel
wird nicht sichtbar. Ich habe das ja in der letzten Son-
dersitzung des 13. Bundestages mitbekommen: Auch die
SPD, auch die Grünen haben einem völkerrechtswidri-
gen Militärakt zugestimmt, und das ist nach dem Völ-
kerrecht selbst eine Aggression. Ich hoffe, daß diese
Politik sich nicht fortsetzen wird, sondern daß wir die
Außenpolitik wieder entmilitarisieren.

Bei der Verteidigungspolitik hat Ihr neuer Verteidi-
gungsminister vor Übernahme des Amtes die Bedingung
gestellt, daß der Wehretat nicht gekürzt wird. Geht
meine Phantasie völlig mit mir durch, wenn ich mir vor-
stelle, ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister
sagte vor Amtsantritt, er mache das nur unter der Bedin-
gung, daß er wirklich abrüsten dürfe, nicht aber unter
der Bedingung, daß am Wehretat nichts gekürzt werde?
Das wäre zumindest meine naive Vorstellung von der
Amtsübernahme in einem solchen Falle gewesen.


(Beifall bei der PDS)


Wir begrüßen natürlich die Vorschläge zur Reform
des Staatsbürgerschaftsrechts. Sie gehen uns nicht
weit genug; aber wir werden sie unterstützen. Alle An-
griffe, die diesbezüglich von der bisherigen Regierungs-
koalition gekommen sind, sind untauglich; denn sie hat
zu verantworten, daß wir heute in ungeahntem Maße
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesell-
schaft haben. Deshalb ist es das legitime Recht der neu-
en Regierung, nach anderen Ansätzen zu suchen, um das
endlich substantiell zu überwinden und bei der Integrati-
on der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
weiterzukommen.


(Beifall bei der PDS)

Aber mir fehlt ein Satz zu den Flüchtlingen. Soll sich

denn hier nichts ändern? Wollen Sie wirklich zum Bei-
spiel das demütigende Verfahren auf den Flughäfen bei-
behalten? Wir haben das hier doch zigmal kritisiert.
Hätte so etwas nicht in diese Regierungserklärung hin-
eingehört? Das hätte ich eigentlich erwartet. Es kostete
nicht einmal Geld, dieses, wie ich meine, unwürdige und
rechtsstaatswidrige Verfahren abzuschaffen.


(Beifall bei der PDS)

Zum Asylbewerberleistungsgesetz will ich erst gar

nichts sagen; denn auch da muß man logischerweise
sehr vieles ändern.

Vier Gruppen sind vernachlässigt worden: die Er-
werbslosen, die Flüchtlinge, die kleinen und mittelstän-
dischen Unternehmerinnen und Unternehmer und die
Ostdeutschen. Um diese vier Gruppen – aber nicht nur
um diese – werden wir uns als Opposition kümmern.

Sie haben gesagt, Sie wollen eine Republik der Neu-
en Mitte. Herr Bundeskanzler, eine Gesellschaft, in der
es eine Mitte gibt, noch dazu eine neue, von der ich
nicht genau weiß, wie sie sich von der alten unterschei-
det – aber nehmen wir das einmal an; ich unterstelle es
als wahr –, hat gleichwohl ein Oben und ein Unten. Es
gibt in keiner Gesellschaft nur eine Mitte. Es gibt immer
auch ein Oben und ein Unten. Wer nicht den Mut hat,
oben etwas zu verändern, hat auch nicht die Kraft, unten
etwas zu verändern.

Das wird bei Ihren Vorschlägen zur Einkommensteu-
er ganz deutlich: Natürlich muß das Existenzminimum
erhöht werden, natürlich soll der Eingangssteuersatz
gesenkt werden, aber wenn Sie den Spitzensteuersatz
senken, dann belohnen Sie die Besserverdienenden
zwei- und dreimal; denn auch wir als Besserverdienende
profitieren von der Erhöhung des Existenzminimums
und von der Senkung des Eingangssteuersatzes genauso
wie die Leute, die schlechter verdienen, aber uns noch
einmal mit der Senkung des Spitzensteuersatzes zu be-
günstigen, dafür gibt es eigentlich keinen Grund.

Der Hauptmangel ist, daß Sie nicht den Mut haben,
wirklich an die Reichen in dieser Gesellschaft heranzu-
gehen.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb ist es so schwer, mehr soziale Gerechtigkeit für
schlecht Verdienende und für Arme in dieser Gesell-
schaft zu gestalten. Wo ist der Antrag zur Wiederein-

Dr. Gregor Gysi






(B)



(A) (C)



(D)


führung der Vermögensteuer? Diese Frage haben Sie
an eine Kommission delegiert, als ob wir nicht genau
wüßten, worum es ginge. Wir haben deshalb einen dies-
bezüglichen Antrag schon in dieser Woche eingebracht,
ebenso auch den Antrag zur Einführung einer Luxus-
steuer, weil wir das für dringend erforderlich halten.

Soziale Gerechtigkeit erfordert nämlich Gerechtigkeit
bei den Einnahmen ebenso wie bei den Ausgaben. Des-
halb sage ich Ihnen: Mitte ist ja ganz schön und gut,
aber – wie gesagt – es gibt auch ein Oben und ein Unten.
Wir haben zwei Oppositionsfraktionen, die sich für das
Oben zuständig fühlen, und eine, die sich für das Unten
zuständig fühlt. Insofern könnte man sich ganz gut er-
gänzen. Machen Sie deshalb nicht nur Politik für die
Mitte, denken Sie auch an die anderen in der Gesell-
schaft, die Ihrer Hilfe vielleicht viel dringender bedür-
fen. In uns werden Sie einen streitbaren Partner finden,
der, wenn es angebracht ist, zur Unterstützung, aber
auch zu deutlicher Opposition und Kritik bereit ist.

Wir sind zwar die kleinste Oppositionsfraktion, und
ich gebe zu, daß ich nach mehreren Kriterien auch der
kleinste Oppositionsführer bin, aber halten Sie uns nicht
für die schwächste Opposition. Sie werden uns diesbe-
züglich noch erleben.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1400301500
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir hatten bisher in bezug auf die Rede-
zeit eine offene Debatte. Wir kehren jetzt zurück zu
einer Debatte mit Zeitvorgaben; auch die Redneruhr
wird wieder laufen. Ich bitte die Redner, sich ein wenig
an diese Vorgaben zu halten.

Das Wort hat Herr Michael Glos.


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1400301600
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Rainer Barzel hat
1969 in der Aussprache zur Regierungserklärung von
SPD-Bundeskanzler Willy Brandt gesagt: Herr Bundes-
kanzler,

Sie treten Ihr Amt an bei Vollbeschäftigung, stabi-
lem Geld und wohlgeordneten Finanzen.

1982, nach 13 Jahren SPD-Kanzlerschaft, lag die
deutsche Wirtschaft am Boden, die öffentlichen Finan-
zen waren ruiniert, hohe Arbeitslosigkeit, hohe Inflation,


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wie hoch war denn die Arbeitslosigkeit da?)


hohe Zinsen und ein defizitärer Außenhandel waren eine
schwere Hypothek für die neue unionsgeführte Bundes-
regierung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen mußte Alfred Dregger bei der Aussprache

zur Regierungserklärung 1982 zu Recht feststellen:
Noch nie hat eine Bundesregierung ihre Aufgabe
unter so schwierigen Bedingungen übernommen
wie die Regierung Kohl . . .


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1400301700
Noch nie
hat sich eine Bundesregierung in ein so gut gemachtes
Bett legen können


(Lachen bei der SPD)

wie die rotgrüne Bundesregierung unter Lafontaine und
Trittin und mit Ihnen als Darsteller.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


Der Tatsache, daß weder Lafontaine noch Trittin hier
sind, entnehme ich, daß offensichtlich weitere wichtige
Koalitionsgespräche geführt werden.

CSU, CDU und F.D.P. haben nach Helmut Schmidt
in schwieriger Zeit Wirtschaft und Finanzen wieder auf
Kurs gebracht. Wir haben die Herausforderungen der
deutschen Einheit gemeistert, wir haben die europäische
Einigung kraftvoll vorangebracht, und wir haben
Deutschland für das nächste Jahrhundert fit gemacht.

Heute, Ende 1998, übergeben wir unser Land wohl-
bestellt:


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die deutsche Wirtschaft ist im ersten Halbjahr dieses
Jahres um 3 Prozent gewachsen. Dies ist das stärkste
Wirtschaftswachstum seit dem Vereinigungsboom.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1400301800
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Wieczorek?


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1400301900
Ja.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1400302000
Bitte sehr, Herr
Wieczorek.


Helmut Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1400302100
Herr Kollege
Glos, würden Sie dem Haus mitteilen, wie hoch die Ar-
beitslosigkeit war, die Sie 1983 geerbt haben, und wie
hoch diejenige ist, die Sie heute hinterlassen?


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1400302200
Lieber Herr Kollege
Wieczorek, ich weiß natürlich, daß wir damals eine
niedrigere Arbeitslosigkeit hatten. Es gab damals aber
auch keine deutsche Wiedervereinigung. Vor allen Din-
gen – ich komme noch zu den Zahlen, ich bin dankbar
für die Frage – hatten wir einen rasanten Anstieg der
Arbeitslosigkeit. Herr Wieczorek, Sie waren in der Zeit
von Helmut Schmidt dabei und wissen, daß die Ar-
beitslosigkeit ständig angestiegen ist. Wir haben jetzt
Gott sei Dank den umgekehrten Trend:


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Unter 2 Millionen!)


Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, und wir sind auf dem
richtigen Weg. Dieser Weg wird anerkannt. Die jüngsten
Zahlen beweisen das: Es gibt 400 000 Arbeitslose weni-
ger als im letzten Jahr. Im letzten Regierungsjahr von

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


Helmut Schmidt ist die Zahl der Arbeitslosen um
600 000 angestiegen. Das sind die richtigen Zahlen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist Rabulistik in Vollendung!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1400302300
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Repnik?


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1400302400
Aber bitte.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1400302500
Bitte sehr, Herr
Repnik.


Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1400302600
Herr Kollege
Glos, können Sie mir bestätigen, daß in der Regierungs-
zeit der sozialliberalen Koalition die Arbeitslosigkeit
von ungefähr 160 000 auf 1,6 Millionen angestiegen ist,
sich also verzehnfacht hat, und daß in der Regierungs-
zeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl 3 Millionen neue
Arbeitsplätze geschaffen wurden?


(Lachen bei der SPD)



Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1400302700
Lieber Kollege Repnik,
ich bin sehr dankbar, daß Sie diese Tatsache in Erinne-
rung gerufen haben. Wir haben auch auf anderen Ge-
bieten einen gewaltigen Unterschied zwischen dem En-
de der Regierungszeiten von Helmut Schmidt und Hel-
mut Kohl festzustellen: Wir haben heute Preisstabilität.
In den Zeiten der Regierungen Brandt und Schmidt hat-
ten wir Inflationsraten zwischen 5 und 7 Prozent.

Ich bedanke mich bei Theo Waigel,

(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Aber der ist vorbei!)

der mit seiner Finanzpolitik die gewaltigen Herausforde-
rungen der deutschen Wiedervereinigung erfolgreich
bewältigt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Zuletzt sind die Bundesausgaben drei Jahre in Folge ge-
sunken.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie auf Ihrem Parteitag sagen!)


Heute sind die Zinsen – Herr Kollege Schlauch, trotz
Ihres Geschreis können Sie das nicht leugnen – in
Deutschland auf einem historisch niedrigen Niveau. Für
eine zehnjährige Hypothek sind nur zirka 5 Prozent zu
zahlen. Unter den SPD-geführten Bundesregierungen
hatten wir Rekordzinsen. Baugeld hat 1982 11 Prozent
gekostet. Herr Kollege Wieczorek, auch daran sollten
Sie erinnern.

Unsere sozialen Sicherungssysteme sind heute zu-
kunftsfähig und um die soziale Pflegeversicherung er-
gänzt. Die Politik von CDU/CSU und F.D.P. hat

Deutschland zu einem verläßlichen Partner in einer dau-
erhaften Friedensordnung in Europa gemacht, und das
alles gegen den erbitterten Widerstand von Herrn La-
fontaine, Herrn Fischer und Herrn Trittin.

Ich habe unlängst, Herr Fischer, in einer oft verkauf-
ten und damit oft gekauften deutschen Tageszeitung ge-
lesen, daß Sie in Washington eine Art Wettlauf mit den
Journalisten gemacht haben und daß Sie denen dank Ih-
rer Fitneß meilenweit davongelaufen sind. Es kann
durchaus sein, daß Sie den Journalisten heute davonlau-
fen, aber Ihrer Vergangenheit auf diesem Gebiet können
Sie nicht davonlaufen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist doch legitim, daran zu erinnern, warum wir
heute diese Friedensordnung in Europa und warum wir
die deutsche Wiedervereinigung haben. Wir haben sie,
weil wir allezeit fest zu unseren westlichen Bündnis-
partnern gestanden sind, weil wir zur NATO gestanden
sind, weil wir die Bündnisverpflichtungen erfüllt haben
und weil wir letztendlich dieser Verläßlichkeit die Zu-
stimmung unserer Freunde und Partner zur Wiederver-
einigung verdanken.

Der Frieden ist sicherer geworden. Das Streitkräfte-
und Waffenpotential in Europa ist gottlob drastisch re-
duziert. Heute stehen keine sowjetischen Soldaten mehr
auf deutschem Boden.

Auch deswegen waren 16 Jahre Kanzlerschaft Hel-
mut Kohl ein Geschenk für Deutschland.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte schon, ein Geschenk Gottes!)


Ich bedanke mich bei ihm für die CSU ehrlichen Her-
zens. Das ist nicht der scheinheilige Dank, den wir hier
aus taktischen Gründen oft hören mußten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe das alles nur deswegen noch einmal in Erin-

nerung gerufen, weil sich die neue Regierung in späte-
stens vier Jahren an der Bilanz messen lassen muß, die
sie als Anfangsbilanz vorgefunden hat. Deswegen lassen
Sie doch das törichte Gerede – Wolfgang Schäuble hat
es schon einmal gesagt – von vermeintlichen Milliar-
denlöchern! Damit gestehen Sie nur ein, daß Rotgrün
jetzt nicht bezahlen kann, was man den Bürgerinnen und
Bürgern im Wahlkampf versprochen hat.

Die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen in ihrem
Herbstgutachten mit Mehreinnahmen gegenüber der
Steuerschätzung vom Frühjahr, mit einer günstigeren
Entwicklung am Arbeitsmarkt und vor allen Dingen mit
deutlichen Fortschritten bei der Reduzierung der öffent-
lichen Defizitquote. Die in der letzten Woche veröffent-
lichten Arbeitslosenzahlen – wir hatten dank Herrn
Wieczorek vorhin schon einmal eine Diskussion darüber
– bestätigen dies in eindrucksvoller Weise.

Es ist die einmalige historische Leistung von Theo
Waigel, daß das finanzpolitische Schiff in den 90er Jah-

Michael Glos






(B)



(A) (C)



(D)


ren unseres Jahrhunderts trotz weltweiter Umbrüche
stets Kurs gehalten hat. Theo Waigel hat dafür gesorgt,
daß Deutschland und Europa von den Turbulenzen an
den internationalen Finanzmärkten und den wirtschaftli-
chen Krisen in Rußland und in Asien weitgehend ver-
schont geblieben sind. Heute zahlt sich aus, daß wir mit
unseren Reformen die Rahmenbedingungen für Arbeit
in Deutschland verbessert haben, daß wir unnachgiebig
für eine stabile europäische Währung gekämpft haben,
daß die Europäische Zentralbank unabhängig und vor-
rangig auf das Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtet
ist.

Herr Bundeskanzler, heute müssen Sie zugeben, wie
sehr Sie als Kanzlerkandidat mit Ihrem opportunisti-
schem Geunke vom Euro als sogenannter kränkelnder
Frühgeburt danebengelegen haben.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Alles vergessen, alles nicht mehr wahr!)


Ich hoffe für unser Land, Herr Bundeskanzler, daß Sie
künftig weniger Populismus und dafür mehr Sachver-
stand an den Tag legen werden, wenn es um diese wich-
tigen Fragen geht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ludwig Stiegler [SPD]: Das mußt gerade Du sagen!)


Ich bin auch der Meinung, Herr Bundeskanzler, daß
Ihre Regierung insbesondere auf dem währungspoliti-
schen Gebiet noch sehr großen Lernbedarf hat, wie das
jüngste Trommelfeuer des Lafontaineschen Küchenka-
binetts gegen die Unabhängigkeit der Deutschen Bun-
desbank zeigt. Oskar Lafontaine übt öffentlich Druck
auf die Deutsche Bundesbank aus, die Zinsen zu senken.
Staatssekretär Noé will die Zentralbank einer Kontrolle
durch die Politik unterwerfen, wie er sich ausgedrückt
hat.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Wie war das eigentlich mit der Goldreserve und Herrn Waigel?)


Die rotgrüne Bundesregierung hat damit den verhee-
renden Eindruck erweckt, sie wolle die Deutsche Bun-
desbank bzw. die Europäische Zentralbank zum Spiel-
ball politischer Interessen machen. Damit hat sie nach
nur wenigen Tagen im Amt leichtfertig währungspoliti-
sches Porzellan zerschlagen und Vertrauen verspielt. Ich
zitiere den Fraktionsvorsitzenden der zweitgrößten nie-
derländischen Regierungspartei, Herrn Dijkstal. Er sieht
in Lafontaines Kurs eine Gefahr für die Stabilität des
Euro.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wim Kok sieht das anders!)


Ich möchte noch einmal sagen: Die Verhältnisse
scheinen sich umgedreht zu haben. Früher hat man in
Europa die stringente Stabilitätspolitik der Deutschen als
großes Vorbild gesehen. Heute muß man Europa und
den Euro offensichtlich vor den Deutschen schützen. So
schnell kann sich manches verändern.

Die Zinsen in Deutschland sind auch ohne den öf-
fentlichen Druck der Bundesregierung – oder gerade
weil es keinen öffentlichen Druck der Bundesregierung

gegeben hat, weil es keine Bevormundung gegeben hat –
auf einem historischen Tief. Zu Recht hat deshalb der
Zentralbankrat in der letzten Woche Herrn Lafontaine
ohne Zinssenkung wieder nach Hause geschickt.

Die letzten Wochen haben überdeutlich gemacht, wer
in der neuen Bundesregierung der Koch und wer der
Kellner ist. Kellner ist Herr Schröder, Koch ist Herr La-
fontaine, und Küchenchefin ist offensichtlich Christel
Müller.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Wenn sie gut kocht, haben Sie doch sicher nichts dagegen?)


– Das mag vielleicht sein, wenn es sich um Mittagessen,
Dessert, Frühstück und was weiß ich alles handelt. Aber
wenn es um die Währungspolitik unseres Landes geht,
muß man schon vorsichtiger sein. Frau Kollegin, ich be-
danke mich hiermit für den Zwischenruf.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wirtschaftsforschungsinstitute, Wirtschaftsverbände,

der Mittelstand und sogar Vertreter aus dem Gewerk-
schaftslager werten die Koalitionsvereinbarungen von
SPD und Grünen, soweit sie bekannt sind, als eine Kata-
strophe für den deutschen Arbeitsmarkt. Auch Herr Jost
Stollmann, den ich heute vermisse, hat sich in gleicher
Weise geäußert. Als ich das letzte Mal im Bundestag re-
den konnte – das war vor 4 Wochen im Wasserwerk –,
saß er zumindest noch auf der Zuschauertribüne. Heute
ist er nicht einmal mehr als Zuschauer gekommen. Auch
er spürt natürlich, daß die Neue Mitte ganz schön betro-
gen worden ist und daß er dabei unfreiwillig geholfen
hat.

Ich zitiere das „Handelsblatt“ vom 13. Oktober:
Was Rot-Grün verabredet hat . . . das atmet den alten
Geist der Steuerklempner: kleinere Veränderungen
bei den Steuersätzen, einige Korrekturen bei den
Steuervergünstigungen; Entlastungen mal hier,
Belastungen mal dort. Allein schon die Streckung
des Vorhabens über vier Jahre nimmt der Reform
jede Dynamik.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1400302800

Noch im Wahlkampf haben Sie die Neue Mitte heftig
umworben. Diese Neue Mitte, die wir auch für Investi-
tionen in unserem Land brauchen, wird jetzt abkassiert
und fühlt sich getäuscht.

Die Gegenfinanzierung dieser Flickschusterei kon-
zentriert sich überwiegend auf den Unternehmensbe-
reich. Hieran werden möglicherweise auch die Nachbes-
serungen, die wir noch nicht kennen, nichts ändern. Ich
befürchte: Investitionen unterbleiben, Standorte der
Unternehmen werden ins Ausland verlagert. Ich nenne
ein paar Beispiele: Opel hat bereits angedroht, auf ge-
plante Investitionen in Deutschland zu verzichten. Die
New Yorker Investment-Bank Goldman Sachs warnt
eindringlich vor Anlagen in Deutschland. Die „Wirt-
schaftswoche“ berichtet von konkreten Fluchtgedanken
der mittelständischen Wirtschaft.

Nun ein Wort zur geplanten Ökosteuer. Bereits heute
liegen die Energiekosten der deutschen Wirtschaft um

Michael Glos






(A) (C)



(B) (D)


30 Prozent höher als in den USA. Trotzdem wollen Sie
Bürger und Unternehmen unter dem Deckmantel der
Ökologie mit einer dreistufigen Steuererhöhung bei
Benzin, Heizöl, Erdgas und Strom belasten. Ich zitiere
den Chef der IG Chemie, der unverdächtig ist, ein Mit-
glied der CSU zu sein. Herr Schmoldt sagt über die neue
Bundesregierung, „sie würde durch zusätzliche Steuern
und Steuererhöhungen die Qualität des Standortes
Deutschland nicht verbessern, sondern Arbeitsplätze ge-
fährden . . . und Kaufkraft mindern.“

Deutlich negative Folgen für Arbeitsplätze hat auch
der von Rotgrün forcierte Ausstieg aus der Kernener-
gie.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!)

Weil er die Fakten kennt, bitte ich den neuen Wirt-
schaftsminister Müller, der gegenwärtig im Plenum
durch seinen Staatssekretär vertreten wird, die Tatsache
zu bedenken, daß wir heute in Europa 216 Kernkraft-
werke haben. Ausgerechnet die 19 sichersten sollen ab-
geschaltet werden. Der Strom, der in Deutschland ver-
braucht wird, käme nach wie vor aus Kernkraftwerken –
nur nicht mehr aus sicheren Kernkraftwerken. Er käme
aus der Tschechischen Republik, der Ukraine, der Slo-
wakei oder Rußland. All diese Länder stehen für Strom-
lieferungen nach Deutschland bereit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Was besonders schlimm ist: Deutschland würde auch
seinen weltweiten Spitzenplatz in der Sicherheitstech-
nologie aufgeben. Damit würden allein in der Kernkraft-
industrie 40 000 Arbeitsplätze in Deutschland verloren-
gehen. Sehr qualifizierte und gutbezahlte Arbeitnehmer
würden davon betroffen sein.

Es ist illusorisch zu glauben, daß sich ein Drittel der
Stromerzeugung in Deutschland allein durch Energie-
sparen oder durch regenerative Energien ersetzen ließe.
Wenn wir als Ersatz zusätzliche Kohlekraftwerke bauen,
auch moderne Kohlekraftwerke mit hohem Wirkungs-
grad, dann bedeutet dies trotzdem eine erhebliche Erhö-
hung der CO2-Belastung. Das halte ich umweltpolitischfür fatal.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Bundeskanzler, wo bleibt hier eigentlich Ihr

Vorbehalt für Arbeitsplätze? Ich habe in Ihrer Regie-
rungserklärung nachgelesen – Sie haben das auch schon
einmal anderweitig gesagt; ich zitiere Sie –: Ich weiß,
daß es schwer ist, eine Technologie durchzusetzen, die
wenig Akzeptanz findet bzw. deren Akzeptanz so ge-
fährdet ist wie die der Kernkraftindustrie. Aber man
muß sich natürlich fragen: Warum ist diese Akzeptanz
so gefährdet, und wer hat letztlich dazu beigetragen, die
Menschen auf diesem Gebiet zu verunsichern? Hier muß
man ein Stück weit Ursache und Wirkung mitbedenken.

Ich habe den Eindruck: Wer marktwirtschaftlich
denkt, dem bietet die Regierung Schröder wenig Platz.
Das zeigen die massenhaften Frühpensionierungen, die
jetzt in den Ministerien anstehen.


(Lachen bei der SPD)


Gesichert sind dagegen Arbeitsplätze für Ideologen.
Wenn das die versprochene soziale Gerechtigkeit in
Deutschland ist, dann ist es hierum schlecht bestellt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unglaublich! – Ludwig Stiegler [SPD]: Frau Präsidentin, geben Sie ihm ein Taschentuch! Er weint gleich!)


– Herr Kollege Stiegler, Sie brauchen keine Angst zu
haben, daß ich zu weinen anfange, obwohl mir an die-
sem Tag natürlich nicht sehr wohl zumute ist. Ich will
das gerne zugestehen.

Vorhin hat Herr Struck gesagt, wir hätten unsere Nie-
derlage nicht verkraftet. Angesichts der Reden aber, die
ich heute gehört habe – das betrifft auch die Rede von
Herrn Struck –, kann ich nur sagen: Die SPD hat ihren
Sieg nicht verkraftet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Was sagen Sie eigentlich zum Beispiel den Polizeibe-
amten oder den Studenten,


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie kümmern sich um Studenten?)


die von Ihrer Ökosteuererhöhung betroffen sind, von ge-
ringeren Sozialabgaben aber überhaupt nichts haben?
Was sagen Sie den Rentnern, denen Sie mehr Rente ver-
sprochen haben, die Sie jetzt aber mit höheren Strom-
und Heizungskosten zur Kasse bitten? Was sagen Sie
vor allen Dingen den vielen Pendlern im ländlichen
Raum, die tagtäglich auf das Auto angewiesen sind?


(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig! – So ist es!)


Was sagen Sie den Müttern auf dem Land, die in die
Stadt zum Einkaufen, zum Kindergarten oder zum Arzt
fahren?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Ludwig Stiegler [SPD]: Wer hat denn die Mineralölsteuer erhöht?)


– Da Sie einen Oberpfälzer Wahlkreis vertreten, sollten
Sie ganz besonders gut zuhören. Sie sind ja angeblich
der Interessenvertreter Bayerns mit einem Wächteramt
innerhalb der Koalition. Ich kann dazu nur sagen: Gute
Nacht, Bayern! Bayern hat in der Bundesregierung von
CDU/CSU und F.D.P. vier Minister und fünf Parlamen-
tarische Staatssekretäre gestellt. Wir haben wichtigste
Funktionen wahrgenommen. Sie setzen sich hier als so-
genannter Landesgruppenvertreter der SPD aus Bayern
hin und krakeelen dazwischen, um von Ihrer Niederlage,
die Sie im Rahmen der Regierungsbildung in bezug auf
Bayern erlitten haben, abzulenken.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Herr Bundeskanzler, was sagen Sie den kinderreichen
Familien? Diese haben Sie – wie bei Hänsel und Gretel
– massiv mit dem Zuckerbrot Kindergeld gelockt, und
jetzt – gefangen – kommt die Ökopeitsche. Der Famili-
enbund hat vorgerechnet: Bereits bei einem Dreiperso-
nenhaushalt mit einem Nettoeinkommen von 70 000

Michael Glos






(B)



(A) (C)



(D)


DM im Jahr sind die Belastungen höher als die Entla-
stungen.

Was sagen Sie der bäuerlichen Landwirtschaft? Das
ist ein Kapitel, das ganz besonders auch den süddeut-
schen Raum und Bayern angeht. Haben die Familien auf
den Höfen bei Rotgrün noch eine Zukunft?


(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Haben sie doch bei der CSU auch nicht!)


Sie haben einen raschen Abschluß der Agenda 2000 an-
gekündigt. Damit wird der Eindruck erweckt, die rot-
grün geführte Bundesregierung unterstütze die Vor-
schläge der EU-Kommission. Ich würde das für fatal
halten. Ich kann dem neuen Landwirtschaftsminister
Funk unsere Unterstützung versprechen, falls er gegen
diese ungerechten Vorschläge ankämpft.


(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Funke!)

– Vielen Dank. Ich werde mich daran gewöhnen müs-
sen. Wenn er hiergewesen wäre, wäre es mir vielleicht
eingefallen.

Herr Bundeskanzler, was haben Sie mit den Sparern,
den Häuslebauern und den Inhabern von Lebensversi-
cherungen vor? Die Politik Ihres Finanzministers und
seiner Frau läuft offen auf mehr Inflation hinaus. Ein
Prozent mehr Inflation – dabei wird es nicht bleiben –
bedeutet einen Vermögensverlust der Sparer und derje-
nigen, die Lebensversicherungen haben, in Höhe von 50
Milliarden DM im Jahr.

Diese Politik gegen die Sparer ist unsozial. Sie geht
zu Lasten der Schwächeren, und sie benachteiligt die
kleinen Leute.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen keine südamerikanischen Verhältnisse in
Deutschland und Europa. Die Inflationswellen dort ha-
ben immer nur den Besitzern von großen Sachwerten
und Grundstücksbesitzern geholfen und Arbeitnehmer
und Mittelstand verelenden lassen.

Auch bezüglich des Themas Föderalismus ist in der
rotgrünen Koalitionsvereinbarung von Gerechtigkeit
keine Spur. Das Koordinatensystem zwischen Bund und
Ländern soll mehr in Richtung Zentralismus und weni-
ger in Richtung Föderalismus, in Richtung mehr Staat
und weniger Wettbewerb ausgerichtet werden.


(Zuruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD])


– Stellen Sie Ihre Frage bitte laut! Dann kann ich sie be-
antworten.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Glos, Sie kämpfen das letzte Gefecht! Das merkt man!)


– Wir kämpfen nicht das letzte Gefecht. Wir stehen am
Anfang eines Kampfes, an dessen Ende die Leute erken-
nen werden, daß Ihr Weg falsch ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist so altbacken, was Sie von sich geben! Das ist ja unglaublich!)


Wir wollen größere, nicht kleinere Gestaltungsspiel-
räume für die Bundesländer. Die Früchte größerer An-
strengungen einer Landesregierung müssen den Men-
schen in dem jeweiligen Bundesland zugute kommen.
Dadurch wird der Druck auf Nachahmung erzeugt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Welche gewaltige Erblast der Herr Ministerpräsident

Lafontaine dem Herrn Finanzminister Lafontaine hin-
terläßt, weiß er selbst am besten.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Leider muß er als Finanzminister nicht persönlich die
Zeche zahlen. Das werden die deutschen Steuerzahler
tun müssen.

Wir fordern, daß es in diesem Bereich schneller geht.
Sie wollen eine Enquete-Kommission zur Neuordnung
des Finanzausgleiches einsetzen. Daß dies im Ergebnis,
wie angekündigt, auf das Jahr 2005 verschoben wird,
zeigt deutlich: Sie rechnen damit, daß dann die Union
schon lange wieder regiert und dieses Problem löst.


(Lachen bei der SPD)

Statt die Länderverantwortung zu stärken, will die

Regierung Schröder offensichtlich entgegengesetzte
Wege gehen. Ein konkretes Beispiel: Wo bisher vor-
bildliche Krankenhäuser stehen, sollen die Beitragszah-
ler vernachlässigte Krankenhäuser in den SPD-Ländern
mitfinanzieren. Das fördert nicht Effizienz und Spar-
samkeit, sondern bestraft Länder mit eigenen Anstren-
gungen.

Wir brauchen nicht mehr Gleichmacherei. Wir brau-
chen mehr Wettbewerb. Ich sage es noch einmal: Wett-
bewerb schafft Höchstleistungen. Das gilt auch für den
Wettbewerb zwischen Bundesländern.


(Rudolf Bindig [SPD]: Und auch zwischen Parteien!)


Lassen Sie mich noch ein anderes Kapitel anspre-
chen. Vorhin hat sich die Kollegin Müller damit gebrü-
stet, daß die Grünen in den Koalitionsverhandlungen
eine Privilegierung des Zusammenlebens vertreten ha-
ben, die der Privilegierung der Familie gleichkommt.
Wer das will, stellt die Wertentscheidung des Grundge-
setzes für den Vorrang der Familie offen in Frage.


(Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das mit Demokratie zu tun, Herr Glos? Gleiche Rechte für alle!)


Die vorgesehene drastische Einschränkung des Ehe-
gattensplittings ist nicht nur eine Frage des Geldes. Hier
geht es letztendlich an die Wurzeln von Ehe und Fami-
lie. Die Einführung eines Rechtsinstituts der eingetrage-
nen Partnerschaft mit Rechten und Pflichten läuft auf
eine offene Entwertung der Familie hinaus. Die rotgrüne
Gesellschaftspolitik ist deswegen eine Politik gegen die
Familie, gegen Kinder. Deswegen wird die CSU eine
solche Politik kategorisch ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Michael Glos






(A) (C)



(B) (D)


Die deutsche Staatsbürgerschaft, Herr Fischer, ist
bislang ein Zeichen der Identifikation mit unserem Staat
und damit auch mit unserer Werteordnung. Davon will
man sich offensichtlich verabschieden. Staatsangehö-
rigkeit soll künftig nur noch eine Frage von Wartezeit
oder Geburtsort sein. Das führt nicht zu einer besseren
Integration. Ich befürchte, daß wird eher zu einer Spal-
tung unserer Gesellschaft führen.

Wir sind der Meinung: Staatsangehörigkeit darf man
nicht verschenken. Staatsangehörigkeit muß man sich
auch ein Stück weit innerlich erwerben. Es ist nicht da-
mit getan, jedem Ausländer einen deutschen Paß in die
Tasche zu schieben. Wer Deutscher werden will, muß
sich zuvor integrieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das bedeutet die Beherrschung der deutschen Sprache
sowie den Willen, sich in die Gemeinschaft unseres
deutschen Volkes einzufügen und auch ein Stück weit
unsere Lebensformen zu übernehmen. Die Staatsbürger-
schaft kann immer erst am Ende eines erfolgreichen In-
tegrationsprozesses stehen und nicht an dessen Anfang.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen, daß Deutschland ein ausländerfreundli-

ches Land bleibt. Das erreicht man nicht durch die gene-
relle Gewährung eines Privilegs wie der doppelten
Staatsbürgerschaft. Damit droht man das tolerante Zu-
sammenleben in Gefahr zu bringen. Es entsteht eine ge-
fährliche Sogwirkung auch für verstärkte Zuwanderun-
gen aus anderen Kulturkreisen, und damit sind neue
Probleme nicht nur für den Arbeitsmarkt verbunden.

Geteilte Loyalitäten – das ist ja die Crux bei der dop-
pelten Staatsbürgerschaft – führen nicht zu besserer
Integration. Deshalb warnen wir vor diesem Weg, und
deswegen werden wir alles tun, um diesen falschen Weg
zu verhindern – genau wie wir dagegen ankämpfen, daß
man in Deutschland lebenden nichtdeutschen Staats-
angehörigen uneingeschränkt das kommunale Wahlrecht
verleihen will. Staatsangehörigkeit und Wahlrecht müs-
sen nach unserer Auffassung eine Einheit bleiben – ge-
nauso wie Rechte und Pflichten auch künftig zusam-
mengehören.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Über die Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung

ist heute schon gesprochen worden. Wir sind der Mei-
nung, daß wir hier bei den bewährten Wegen bleiben
sollten. Es darf nicht zu einer sogenannten bürokratie-
armen Bestrafung von Alltagskriminalität kommen, wie
das Ganze verharmlosend genannt wird. Wer Laden-
diebstahl mit Falschparken gleichsetzt, der macht Kri-
minalität kalkulierbar, und dagegen kämpfen wir an.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir kämpfen auch gegen die in der Koalitionsverein-

barung enthaltene Absicht, die Abgabe von Heroin an
Süchtige in Zukunft zu ermöglichen. Man will damit
Rechtssicherheit für Drogenhilfestellen erreichen. Eine
solche Politik verharmlost mehr und löst keine Proble-
me.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die „Süd-
deutsche Zeitung“ belegt das rotgrüne Regierungspro-
gramm mit dem Ausdruck „Ausflug nach Utopia“. Diese
Regierung will gesellschaftliche Veränderungen in
Deutschland – von der Drogenpolitik bis zur Familien-
politik, von der Sicherheitspolitik bis zur Steuerpolitik,
von der Ausländerpolitik bis zu einer Schwächung des
Föderalismus. Das, was Sie angekündigt haben, ist keine
neue Politik. Das ist höchstens der Marsch in eine ande-
re Republik. Diesem Marsch werden CDU und CSU ih-
ren entschiedenen Widerstand entgegensetzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1400302900
Das Wort hat der
Bundesaußenminister Joseph Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1400303000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie mir, mit einer allgemeinpolitischen Bemerkung zu
beginnen. Mich erinnert vieles, was ich von Ihrer Seite
gehört habe, namentlich dieser hervorragende Beitrag
vom Kollegen Glos,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Danke schön!)

aber auch das, was ich heute vom Kollegen Schäuble
gehört habe, sehr stark an das Jahr 1983. Da kann ich
Ihnen nur sagen: Das wird lange dauern, wenn Sie Op-
positionspolitik so weitermachen, wenn Sie meinen, der
Wahlkampf sei noch nicht zu Ende.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das lassen Sie mal unsere Sorge sein!)


Wenn Sie das meinen, erwidere ich: Das können Sie ru-
hig machen. Uns soll es recht sein. Ich kann Ihnen nur
sagen: Das wird lange dauern.

Der Wahlkampf ist zu Ende, und Sie müssen sich
Klarheit darüber verschaffen, warum Sie nach nur
14 Tagen, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder
gewählt wurde und in denen diese Regierung im Amt
ist, meinen, diese Welt müßte schon verändert sein, was
Sie aber gleichzeitig beklagen. Sie sollten vor allen Din-
gen eines nicht tun: die Augen vor den Ursachen des
großen Vertrauensverlustes, den Sie erlitten haben und
der die Ursache Ihrer Niederlage ist, verschließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich kann nur sagen: Machen Sie weiter so!
Ich möchte zur deutschen Außenpolitik, zur Außen-

politik der Bundesregierung sprechen. Dabei ist es ganz
besonders wichtig, festzustellen, daß angesichts der Da-
ten, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben – gestern
haben wir den Jahrestag der Reichspogromnacht began-
gen; es ist zugleich auch der Jahrestag des Falls der
Mauer; das Ende des ersten Weltkriegs jährt sich jetzt
zum 80. Mal; mit diesem Datum verbinden sich das
Furchtbare, das Schreckliche, auch das Schöne, das

Michael Glos






(B)



(A) (C)



(D)


Großartige in unserer Geschichte –, weiterhin gilt: Auch
wenn es jetzt durch den Ablauf Zeit und den Regie-
rungswechsel einen Wechsel hin zu einer jüngeren Ge-
neration gegeben hat, die nicht mehr unmittelbar mit der
Nazi-Barbarei und dem zweiten Weltkrieg zu tun hatte,
wird unser Land, Deutschland, auch in Zukunft immer
mit anderen Augen gesehen als andere Länder. Das liegt
an unserer Geschichte.

Es liegt an der Lage, an der Geschichte, an dem Po-
tential unseres Landes, weshalb es so wichtig ist, daß
man zu Beginn – und dann auch in der praktischen Poli-
tik – einer neuen Regierung die Kontinuität der
Grundlagen und die Berechenbarkeit deutscher Außen-
politik betont.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte dies ganz besonders tun, weil uns die Macht
der kollektiven Erinnerung in Europa in dem Moment,
in dem wir das Flackern eines Zweifels aufkommen lie-
ßen, sofort einholen würde. Wir konnten im Zusammen-
hang mit dem Raubgold gemeinsam erleben, wie diese
Erinnerungen auch in Ländern zurückgekommen sind, in
denen man geglaubt hatte, daß dies nicht möglich sei.

Kontinuität in den Grundlagen schließt ja nicht aus,
daß die konkreten Akzentuierungen anders als bisher
sind. Die Berechenbarkeit der Grundlagen deutscher
Außenpolitik aber ist ein sehr, sehr hohes Gut, das wir
von der Bonner Republik in die Berliner Republik nicht
nur mitnehmen sollten, sondern mitnehmen müssen. Es
ist insofern sehr wichtig, nochmals daran zu erinnern,
daß wir an einer Politik der Selbstbeschränkung festhal-
ten müssen.

Europa ist für uns die entscheidende Frage. Auf die-
sem Feld geht es nicht darum, was wir anders machen;
hier wird es darum gehen, weitere Bauabschnitte dieses
Hauses Europa zu vollenden. Ich behaupte, das ist die
wichtigste Herausforderung, der wir uns im Widerstreit
der Parteien gemeinsam zu stellen haben. Dabei hat es,
Kollege Glos, überhaupt nichts mit einem „vergifteten
Lob“ zu tun, wenn wir, bei allen parteipolitischen Unter-
schieden, bei aller Kritik, die es geben mußte, sagen –
damit vergeben wir uns überhaupt nichts –: Dort, wo
Helmut Kohl in der Europapolitik aufgehört hat, beim
europäischen Integrationsprozeß, wird die neue Bundes-
regierung weitermachen müssen. Sie wird die Aufgaben
lösen müssen, die offengeblieben sind.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das sind große Schuhe!)


– Es sind große Schuhe; deswegen passen sie Ihnen ga-
rantiert nicht, Herr Haussmann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dort, wo die alte Regierung in wesentlichen Punkten
des Integrationswerkes nicht zu Ende gekommen ist,
werden wir, weil es in zentralem Interesse unseres Lan-
des liegt, bei allen Unterschieden in den Akzenten, bei
aller Kritik fortfahren müssen. Ich vergebe mir über-
haupt nichts, wenn ich Ihnen, Herr Altbundeskanzler,

und Ihnen, als ehemaliger Bundesaußenminister, Herr
Kinkel, für das Geleistete im Interesse unseres Landes
danke. Mit einem vergifteten Lob hat das überhaupt
nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Vertrauenskapital zu erwerben ist die Voraussetzung
dafür, daß wir die notwendigen Spielräume für die Neu-
gestaltung bekommen. Für uns ist Selbstbeschränkung
geboten; Europa, das transatlantische Bündnis, die feste
Integration in den Westen und das auf Grund unserer
Geschichte besondere Verhältnis zu Israel sind die Fel-
der, in denen wir Kontinuität beweisen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die praktischen Probleme, vor denen wir heute ste-

hen, ergeben sich aus dem europäischen Einigungspro-
zeß. In der Vergangenheit, als die Rollen noch anders
verteilt waren, gab es in der Frage der Europapolitik ein
hohes Maß an Übereinstimmung. Ich würde mich freu-
en, wenn es dieses hohe Maß an Übereinstimmung auch
in Zukunft, in neuer Konstellation, geben könnte.

Wir waren uns einig, daß Vertiefung und Erweite-
rung gleichermaßen wichtig sind. Vertiefung bedeutete
die Entscheidung für die Wirtschafts- und Währungs-
union, für den Euro, der zum 1. Januar des nächsten Jah-
res praktisch wird. Der nächste Schritt, den wir gehen
müssen, wird die Erweiterung sein. So sehr ich für Rea-
lismus plädiere, weil wir jetzt in eine Phase eintreten, in
der Visionen konkretisiert werden müssen, will ich klar-
stellen: Realismus bedeutet für mich nicht eine Abkehr
von der Vision, sondern eine bauliche Umsetzung dieser
Vision.

Wir haben gestern auf dem Außenministertreffen in
Brüssel mit der konkreten Erweiterung begonnen. Es
geht jetzt nicht mehr um abstrakte Zahlen, es geht jetzt
nicht mehr um eine Vision; es geht jetzt um hartes Brot,
das geschnitten und gekaut werden muß. Es geht um die
wirtschaftliche Integration und die Frage der Übernahme
geltenden Rechtes. Es geht um die Frage der Anpassung
von Strukturen. All diese Dinge müssen jetzt realistisch
gesehen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, genauso bestimmt sage
ich aber – da sind wir uns völlig einig –: Die Vision, die
dahintersteckt, gilt, nämlich daß die Grenze – der Bun-
deskanzler hat es heute morgen in seiner Regierungser-
klärung betont –, daß der Eiserne Vorhang, daß die Ost-
grenze Deutschlands nicht die Grenze der EU bleiben
darf.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Das vereinigte Europa ist ein gesamteuropäisches und
nicht nur ein westeuropäisches Projekt. Deswegen blei-
ben wir diesem Einigungswerk verpflichtet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Bundesminister Joseph Fischer






(A) (C)



(B) (D)


Die deutsch-französische Freundschaft hat in letzter
Zeit, ich will nicht sagen, Schaden genommen; aber an-
gesichts bestimmter Töne und auch angesichts einer be-
stimmten Politik im Zusammenhang mit dem Euro –
Stabilitätspakt I, Stabilitätspakt II, „Der Euro spricht
deutsch“ – wurden selbst die Dinge, die hier gemeinsam
getragen wurden, mit einer gewissen nationalen Arro-
ganz rübergebracht, und zwar so, daß sie in Paris nur
negativ aufgenommen werden konnten.


(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Das deutsch-französische Verhältnis ist aus meiner
Sicht für die Fortentwicklung Europas ohne Alternative.
Das Verhältnis von Deutschland und Frankreich hat ge-
rade in seiner Widersprüchlichkeit Großes für Europa
gebracht. Wenn wir an der Vollendung des europäi-
schen Integrationsprozesses festhalten wollen, müssen
wir auf die Erneuerung des deutsch-französischen Ver-
hältnisses setzen. Ich sage nochmals: Es ist ohne Alter-
native.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Aber genauso freue ich mich natürlich, wenn ich
heute mitbekomme, daß die Regierung Blair in Groß-
britannien entscheidende Schritte hin zur europäischen
Integration macht. Ich kann dies nur nachdrücklich be-
grüßen, warne aber davor, in Kategorien des 19. Jahr-
hunderts zurückzufallen: mit Achsen, mit Dreiecken und
ähnlichem mehr.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die deutsch-französische Freundschaft, dieser zentrale
Motor des europäischen Integrationsprozesses, schließt
niemanden aus und richtet sich gegen niemanden. Wenn
Großbritannien eine verstärkte europäische Rolle sucht,
dann sollten wir es erfreut aufnehmen und daraus nicht
eine Abgrenzung gegen irgend jemanden machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Je mehr sich am europäischen Einigungswerk aktiv be-
teiligen, je stärker dieser Motor der europäischen Eini-
gung wird, desto besser. In diesem Sinne freue ich mich,
freuen wir uns sehr, daß es zu verbesserten deutsch-
britischen Beziehungen, zu einer verstärkten Beteiligung
Großbritanniens am europäischen Einigungsprozeß
kommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU])


– Wissen Sie, Herr Kollege Schäuble, ich verstehe ja die
Not eines Oppositionspolitikers, dem Bundeskanzler
vorzuwerfen, jedesmal, wenn es um den Inhalt gehe,
würde er kneifen, während Sie selbst hier im Grunde
genommen in Ihren Zetteln nur versucht haben, kleine
oppositionelle Münze daraus zu schlagen, und dann zu
fragen, wo der Unterschied sei, als wir zu Beginn dieser
Debatte versucht haben, die Kontinuitäten festzulegen,
weil das im Ausland sehr aufmerksam verfolgt wird.
– In der Europapolitik müssen und wollen wir das voll-
enden, was begonnen wurde. Ich würde mich freuen,

wenn auch bei der Umsetzung der Agenda 2000 – ich
habe sehr sorgfältig zugehört, was Herr Glos hier im
Gegensatz zu Ihnen angeblich im Interesse der bayeri-
schen Bauern verkündet hat – diese oppositionelle Lei-
denschaft in der gemeinsamen inhaltlichen Kontinuität
bei Ihnen erkennbar würde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das werden Sie schon in den nächsten Monaten zeigen
müssen.

Für uns wird es ganz entscheidend sein, daß die Frage
der Finanzstruktur des kommenden größeren Europas
jetzt gelöst wird. Es wird unendlich schwierig. Die er-
sten Gespräche in Brüssel haben gezeigt, daß alle Län-
der ihre jeweiligen nationalen Interessen vertreten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nichts Neues!)


– Das Neue ist, daß Sie in der Opposition sind. Das ist
für mich sehr wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Der entscheidende Punkt ist, daß wir unter deutscher
Präsidentschaft den Agenda-2000-Prozeß werden ab-
schließen müssen. Das werden wir nur hinbekommen,
wenn wir auf der Grundlage dessen, was vorliegt, einen
entsprechenden Einigungsprozeß schaffen, der bedeuten
wird, daß alle Länder bereit sind, sich zu bewegen, und
nicht nur ihre nationalen Egoismen vertreten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ohne einen erfolgreichen Abschluß des Agendaprozes-
ses werden wir, so fürchte ich, bei der Erweiterung sehr
große Probleme bekommen.

Es geht nicht um abstrakte Beitrittsdaten. Es geht
auch nicht darum, daß Herr Haussmann, der hier ver-
zweifelt versucht, einen oppositionellen Unterschied
hinzubekommen, in „dpa“ meldet: Bundeskanzler Ger-
hard Schröder und Außenminister Joschka Fischer fehl-
ten in der Europapolitik Visionen. Zögerer und Zauderer
gebe es in den EU-Partnerstaaten schon genug. – Wie
arrogant, Herr Haussmann, bei den anderen von Zöge-
rern und Zauderern zu sprechen!

Weiter sagt er, es wäre ein Fehler, daß wir – im Ge-
gensatz zu dem Jahre 2000, das Bundeskanzler Helmut
Kohl genannt hatte – kein konkretes Datum bei der EU-
Osterweiterung nennen würden. Nun, Herr Haussmann,
das ist ein schöner Eiertanz;


(Zuruf von der CDU/CSU: Den Sie vollführen!)


denn er sagte hier folgendes: Die Äußerung des früheren
Kanzlers Helmut Kohl, der Beitritt Polens sei im Jahre
2000 möglich, sei vielleicht überstürzt gewesen. Jetzt
kommt Herr Haussmann mit der Zahl 2002. Das ist ge-
nauso unseriös wie die Zahl 2000.

Jetzt beginnt der Verhandlungsprozeß. Wir wollen,
daß er so schnell wie möglich erfolgreich ist. Aber ich

Bundesminister Joseph Fischer






(B)



(A) (C)



(D)


halte es für eine fahrlässige Politik, Zahlen, die nicht zu
halten sind und vor allen Dingen nicht begründet sind,
jetzt in den Raum zu stellen. Lassen Sie uns bei den
Verhandlungen erfolgreich zu einem Abschluß kommen.
Dabei geht es nicht um das Jahr 2000 oder 2002. Wenn
wir das Jahr 2002 erreichen, dann bin ich mehr als froh.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Kein konkreter Satz!)


Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang
ansprechen möchte, ist das Verhältnis zur Türkei. Ich
sehe einen großen Fehler darin, den Türken die Tür vor
der Nase so zugeschlagen zu haben, wie es die Vorgän-
ger-Bundesregierung getan hat.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ahnungslos!)

Ich habe es nie verstanden, warum Bundeskanzler Kohl
das getan hat. Ich konnte diesen Fehler nur von der
innenpolitischen Situation des Vorwahlkampfes her be-
greifen. Es war ein großer Fehler.

Die Europäische Union ist unserer Meinung nach
keine Religionsgemeinschaft. Sie gründet sich auf Werte
und Interessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Türkei muß, wenn sie zu Europa gehören will, die
Möglichkeit haben, zu Europa zu gehören, und muß den
Weg des Beitritts haben. Aber genauso klar muß natür-
lich sein: Wir sind eine Werte- und Interessengemein-
schaft. Das heißt, es bedarf dann auch für alle Beitritts-
kandidaten der Umsetzung dieser Werte, bevor beige-
treten werden kann.

Daher wird es im wesentlichen von der Türkei, von
der inneren Entwicklung, von der Lösung der inneren
Menschenrechts-, Demokratie- und Minderheitenfragen,
der ökonomischen, aber auch der äußeren Grenzfragen
abhängen, daß es zu diesem Beitritt kommt. Aber wir
werden diese Tür nicht verschließen. Im Gegenteil: Wir
halten diese Tür offen. Hier gibt es einen klaren Unter-
schied.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir stehen vor einer schwierigen Situation. Wir wer-
den bei Gelegenheit in eine detaillierte Debatte über die
Agenda 2000 einsteigen, auch im Ausschuß. Ich möchte
das in der Kürze der Zeit nicht vertiefen.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das können Sie doch gar nicht! Davon wissen Sie doch nichts! – Gegenruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein saudummes Geschwätz!)


– Das ist Opposition vom Feinsten, aber bitte, ihr habt
viele, viele Jahre Zeit, das zu lernen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie mich in aller gebotenen Kürze – das wer-
den wir ebenfalls noch zu diskutieren haben – auf die

aktuelle Situation im Kosovo eingehen. Herr Kollege
Gysi, ich bin nun weiß Gott nicht derjenige gewesen, der
eine Bindung an das UN-Sicherheitsratsmandat aufge-
ben will.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das haben Sie aber!)

Aber wir können anderrseits die Fakten nicht ignorieren.
Ich weiß von Ihnen, daß Sie nicht nur Jurist sind, son-
dern die Dinge durchaus auch politisch sehen können.
Ich spreche von der Vereinbarung von Holbrooke und
Milosevic. Man kann das eine nicht gut finden und das
andere kritisieren. Das wird in der Politik so nicht funk-
tionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die zivile Implementierung wird der entscheidende
Punkt. Die nichtmilitärische Luftraumüberwachung ist
dafür die Voraussetzung. Wir – der Kollege Scharping
und ich ganz persönlich, die Bundesregierung und auch
der Kollege Schily – schicken jeweils 80 zivile Monito-
ren dort hinunter. Das sind Menschen, die das auf der
OSZE-Grundlage überwachen. Kollege Schily schickt
40 mit polizeilichen Aufgaben Betraute. Dies sind Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter, die unbewaffnet in einer
Krisenregion eingesetzt werden. Für den Fall, daß es für
zivile, unbewaffnete Mitarbeiter zu einer lebensbedroh-
lichen Situation kommt, muß man dann aber auch die
Möglichkeit schaffen, und wir müssen ihnen die
Letztversicherung geben, alles Menschenmögliche zu
tun, um sie herauszuholen und sie nicht zu Geiseln ma-
chen zu lassen. Hierbei geht es nicht um die militärische
Durchsetzung, nicht um die militärische Begleitung des
Implementierungsprozesses. Dies wäre ein völliger Irr-
tum. Vielmehr geht es um lebensbedrohliche Situationen
für die zivilen, unbewaffneten Mitarbeiter und um die
Sorge für diese Menschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit, sozusagen
eine polizeiliche Letztversicherung. Wenn man sich
einmal die Aufgabenstruktur anschaut, so hat das nur
sehr bedingt etwas mit Militär zu tun.

Ich kann sagen: Ich bin heilfroh, daß der Holbrooke-
Milosevic-Vertrag – die Berichte zeigen es – funktio-
niert hat. Herr Gysi, ich bitte auch Sie, die richtigen Ar-
gumente, die ich ja gar nicht so abwegig finde, was die
Rechtsstandpunkte betrifft, in die Realität einzupassen
und einmal darüber nachzudenken. Eine Alternative zum
Holbrooke-Milosevic-Vertrag gab es nicht, außer Krieg
und Leid und Tod. Er hat Gott sei Dank funktioniert. Ich
weiß nicht, wie wir diskutieren würden, wenn er nicht
funktioniert hätte, und es wäre dort zum Einsatz ge-
kommen. Aber entscheidend ist doch, daß wir uns jetzt
in einer klassischen Peace-keeping-Situation befinden,
mit der OSZE, die dort erstmals in einer historisch
neuen Dimension zum Einsatz kommt. Das finde ich gut
und richtig. Voraussetzung dafür war allerdings dieser
Vertrag, und Voraussetzung ist der begrenzte Einsatz
militärischer Mittel, unter anderem nichtbewaffneter

Bundesminister Joseph Fischer






(A) (C)



(B) (D)


militärischer Luftraumüberwachung. Aber das alles wird
nur funktionieren können, wenn die zivile Implementie-
rung eines Autonomie-Statuts gelingt, wenn es freie
Wahlen gibt, wenn es gelingt, eine entsprechend demo-
kratisch legitimierte Autorität auf kosovo-albanischer
Seite zu schaffen.

Das sind meines Erachtens die Dinge, über die Sie
noch einmal ernsthaft nachdenken sollten. So wichtig
Rechtsstandpunkte sind – Kriegsverhütung und Kriegs-
verhinderung in Europa können nicht alleine unter dem
Gesichtspunkt von Rechtsstandpunkten gesehen werden.
Darüber, finde ich, sollten wir noch einmal ernsthaft
nachdenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, das Verhältnis zu Ruß-
land bleibt von ganz entscheidender Bedeutung. Aller-
dings werden wir es auf eine breitere Grundlage stellen
müssen. Das ist völlig klar. Die Frage, die man sich auch
stellen muß – ich meine das gar nicht kritisch gegenüber
der alten Regierung –, die Frage, die sich der Westen
insgesamt stellen muß, lautet, ob man nicht einen Fehler
dergestalt gemacht hat, daß man meinte, man könne dort
Marktwirtschaft einführen, wo die kulturellen Voraus-
setzungen dafür nur rudimentär oder gar nicht vorhan-
den sind. Die Frage lautet also, ob man nicht zu schnell
zu viel wollte. – Ich meine gar nicht die Vorgänger-
Bundesregierung. Ich beziehe das sozusagen eher auf
einen bedeutenden Bündnispartner. Dort meinte man
auch, marktwirtschaftliche Theorien sehr schnell im-
plementieren zu können, obwohl es kaum einen kultu-
rellen Background gegeben hat, obwohl die gesell-
schaftliche Grundlage nicht vorhanden war.

Ich sehe zur Stabilisierung der Verhältnisse in Ruß-
land, auch zur ökonomischen Stabilisierung gemeinsam
mit unseren Partnern, keine Alternative; denn wir kön-
nen uns eine Versorgungskrise in Rußland nicht erlau-
ben, und wir können uns auch eine entscheidende politi-
sche Destabilisierung Rußlands nicht erlauben. Deshalb
wissen wir uns einem internationalen Stabilisierungs-
prozeß verpflichtet, der auf Wirtschaftsreform und vor
allen Dingen auf Demokratie setzt. Auch das ist ein
wichtiger Punkt, dem wir uns in der Zukunft verpflichtet
wissen, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Fortsetzung der transatlantischen Partnerschaft
werden wir bei Gelegenheit diskutieren können. Meine
Zeit ist sehr begrenzt. Lassen Sie mich deswegen noch
zwei andere wichtige Punkte ansprechen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Schade, es ist ein wichtiger Punkt!)


– Es ist ein wichtiger Punkt, Herr Haussmann. Wir reden
bei Gelegenheit darüber.

Der entscheidende Punkt sind die Menschenrechte.
Da, finde ich, müssen wir einen neuen Schwerpunkt set-
zen. Die Asien-Krise hat gezeigt, daß Menschenrechte
unter den Bedingungen der Globalisierung neu zu dekli-

nieren sind. Das hat auch Bosnien gezeigt. Die Einrich-
tung des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag sehe
ich als einen historischen Schritt nach vorne an, dem wir
uns als Parlament und Regierung verpflichtet zeigen
sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gestatten Sie mir ein offenes Wort. Daß Diktatoren
nicht über dem Recht stehen, sondern daß sie sich, selbst
wenn viele Jahre vergangen sind, in einem Rechtsstaat
vor dem Recht verantworten müssen, finde ich gut und
wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Zu der Tatsache, daß eine unabhängige Justiz in Spanien
einen internationalen Haftbefehl ausgestellt hat und daß
eine unabhängige Justiz in unserem Partnerland Groß-
britannien den Arrest für Pinochet verfügt hat, möchte
ich Ihnen sagen: Das erfüllt mich mit Genugtuung, und
das ist mehr als ein Symbol. Es zeigt nämlich, wohin die
Entwicklung in dieser Welt im 21. Jahrhundert zu gehen
hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.])


Deswegen wollen wir hier einen neuen Schwerpunkt
setzen. Wir wissen uns den Menschenrechten verpflich-
tet. Die Asienkrise hat es gezeigt: Nur dort, wo demo-
kratische Verfassung Realität ist, wo es Gewaltenteilung
gibt, wo es Regierungswechsel gibt, wo es eine unab-
hängige, kritische Opposition gibt, wo es eine unabhän-
gige, kritische Presse gibt, wo Menschenrechts- und wo
Umweltgruppen arbeiten können, ohne von Gefängnis
und Geheimpolizei bedroht zu werden, gibt es auch si-
chere Investitionen. So sehr ich von der Notwendigkeit
privater Investitionen überzeugt bin, um diese Schwel-
lenländer und die dritte Welt zu entwickeln, so sehr
müssen wir dann aber auch in Zukunft auf den Gleich-
klang von nachhaltiger Entwicklung, von Demokratie,
von Menschenrechten, von Umwelterhaltung und von
Investitionssicherheit setzen. Hier werden wir einen
neuen Schwerpunkt auch während unserer G-8-
Präsidentschaft setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400303100
Herr
Minister, bitte beachten Sie die Zeit.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1400303200

Ich komme zum Schluß. – Ein letzter Punkt, der die
Krise in Mittelamerika betrifft: Wir alle sind entschlos-
sen, den von der Naturkatastrophe betroffenen Ländern
zu helfen, nicht nur bei der unmittelbaren Krisenbewäl-
tigung, sondern auch beim Wiederaufbau und darüber
hinaus. Diese Länder sind durch die totale Vernichtung

Bundesminister Joseph Fischer






(B)



(A) (C)



(D)


der Ernten, von denen sie ökonomisch abhängen, fak-
tisch auf die ökonomische Nullinie zurückgeworfen
worden. Das heißt: Faktisch gehören sie mit zu den ärm-
sten Ländern der Erde. Daß wir uns hier nicht nur beim
Wiederaufbau großzügig erweisen, sondern auch bei der
Schuldenstreichung, hat die Bundesregierung klarge-
macht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Ich möchte diesbezüglich aber noch auf einen ande-
ren Zusammenhang zu sprechen kommen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400303300
Herr Fi-
scher, Sie sind fünf Minuten über die Zeit.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1400303400

Wenn wir – ich komme zum letzten Satz – den Klima-
schutz und die nachhaltige Entwicklung nicht ernster
nehmen als bisher – der Kollege Trittin ist bei der inter-
nationalen Klimakonferenz in Buenos Aires, falls Sie
ihn vermissen sollten,


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wir vermissen ihn nicht!)


nicht bei irgendwelchen Konspirationen, Herr Glos –,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist sehr beru higend!)

dann werden wir allerdings mit einer größeren Häufig-
keit solcher katastrophalen Entwicklungen zu tun haben.
Deswegen sehen wir hier, in der Umweltaußenpolitik,
gemeinsam mit den anderen Ressorts – mit Frau
Wieczorek-Zeul und mit Herrn Trittin – in der Bundes-
regierung einen zusätzlichen Schwerpunkt, den wir auch
in der klassischen Außenpolitik umsetzen müssen. Das
ist Außenpolitik, die sich an den Zielen und Herausfor-
derungen des 21. Jahrhunderts in einer globalisierten, in
der einen Welt orientiert. Daran wollen wir mit Ihrer
Hilfe arbeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Die klatschen mehr als beim Struck!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400303500
Das
Wort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Antrag der Bundesregierung dient der Verwirklichung
und der Überwachung eines Abkommens, von dem der
Kollege Fischer schon gesprochen hat. Aber ich will zu-
nächst sagen, daß die Entscheidung des Deutschen Bun-
destages in einer schwierigen Übergangssituation dazu
beigetragen hat – ich bitte das nicht geringzuschätzen –,
daß 50 000 Menschen aus den Wäldern in ihre Dörfer
zurückkehren konnten, daß 50 000 Menschen der un-
mittelbaren Bedrohung durch Hunger, Seuchen, Krank-
heiten und Schlimmeres entkommen konnten, und daß

das entschlossene Handeln der internationalen Staaten-
gemeinschaft dazu geführt hat, daß zunächst einmal ein
Zustand – mit einigen Ausnahmen und Unsicherheiten,
die nach wie vor da sind – erreicht wurde, in dem die di-
rekte Bedrohung durch Mord, Vertreibung und Tod für
viele tausend Menschen verhindert worden ist. Wer das
geringschätzt, hat keine Ahnung von dem, was wir in-
ternational an Verantwortung zu tragen haben.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auf der Grundlage des Abkommens geschehen meh-
rere Dinge. Das eine ist Gegenstand des Antrages der
Bundesregierung, nämlich die Luftüberwachung ent-
sprechend dem Abkommen und der Resolution 1203 der
Vereinten Nationen sicherzustellen. Das dient nicht nur
dazu, das Abkommen zu sichern und seine Überwa-
chung zu gewährleisten, sondern dient auch dem Schutz
derjenigen, die im Auftrag der OSZE und im Interesse
der Stärkung der OSZE eine zivile, nichtmilitärische
Überwachung dieses Abkommens am Boden gewährlei-
sten sollen.

Vermutlich kommt in der nächsten Woche – das
hängt aber von den weiteren Diskussionen innerhalb der
NATO ab – noch eine weitere Entscheidung auf die
Bundesregierung und den Deutschen Bundestag zu,
nämlich eine entsprechende Vorsorge für den nicht ge-
wünschten, aber auch nicht ausschließbaren Notfall zu
treffen. Wer das alles im Zusammenhang mit militäri-
scher Intervention betrachtet, der argumentiert in meinen
Augen unverantwortlich und närrisch.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Richtig!)

Wir wollen eine Stärkung der OSZE erreichen. Das be-
deutet aber, 2 000 Menschen in ein immer noch mit
Scharmützeln, mit Schwierigkeiten und mit Schußwech-
seln belastetes Gebiet zu schicken, also in eine Situation,
die nicht gesichert ist. Es wäre ganz und gar unverant-
wortlich für die Glaubwürdigkeit der OSZE und – was
viel schlimmer ist – ganz und gar unverantwortlich für
die Sicherheit dieser 2 000 Menschen, wenn wir sie in
eine Lage bringen würden wie UNPROFOR 1995 in
Bosnien-Herzegowina. Das darf man nicht tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb dienen alle diese Entscheidungen dazu, eine
friedliche Entwicklung in diesem Teil des Balkans zu
ermöglichen. Der Antrag der Bundesregierung ist Aus-
druck von Verläßlichkeit, von Berechenbarkeit und von
Kontinuität in den Grundlagen deutscher Außenpoli-
tik. Er ist Ausdruck dafür, daß wir uns im Rahmen der
internationalen Staatengemeinschaft in Europa und im
Bündnis der NATO bewegen, unsere Verantwortung
wahrnehmen und unseren Teil zur friedlichen Entwick-
lung beitragen.

Dieses Bündnis hat uns in Deutschland – zunächst im
Westen und dann bei der deutschen Einheit – ungeheuer
viel geholfen. Es hat uns Freiheit, es hat uns Frieden,

Bundesminister Joseph Fischer






(A) (C)



(B) (D)


und es hat uns am Ende die Einbindung in die Gemein-
schaft der westlichen Demokratien ermöglicht.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und da waren Sie dagegen!)


Das macht das Verdienst dieser Integration überdeutlich.
Angesichts veränderter und neuer Herausforderungen

für unsere Sicherheit und für die unseres Kontinents, für
die Sicherheit Deutschlands und für die Sicherheit Euro-
pas müssen wir uns allerdings auch auf neue Entwick-
lungen einstellen. Die Entscheidungen, die wir im Zu-
sammenhang mit Bosnien-Herzegowina getroffen haben
und jetzt – hoffentlich einmütig – im Zusammenhang
mit dem Kosovo treffen werden, sind ein Hinweis dar-
auf, welche veränderten Herausforderungen auf uns zu-
kommen. Die Sicherheit unseres Landes und die Sicher-
heit unseres Kontinents sind nicht voneinander zu tren-
nen – im Gegenteil: Sie bedingen sich gegenseitig. Mit
wachsender Verflechtung, mit wachsender Integration
wächst auch unsere Verantwortung. Deshalb ist
Deutschland engagiert und wird es bleiben.

Ich will Ihnen das mit einigen wenigen Hinweisen
noch erläutern. In Bosnien-Herzegowina sind zur Zeit
Angehörige der Bundeswehr regelmäßig in der Stärke
von etwa 2 000 Mann und vorübergehend sogar – im
Zuge des Übergangs in eine neue Aufteilung und Statio-
nierung der entsprechenden Gruppenteile – in der Stärke
von etwa 2 600 Mann im Einsatz. Mit den 200 nicht-
militärischen, zivilen Beobachtern, die wir als Teil die-
ser 2 000 Mann starken Beobachtermission stellen,
wächst unsere Verantwortung und unser Anteil im Han-
deln der internationalen Staatengemeinschaft. Wenn der
Deutsche Bundestag – wie ich hoffe – am Freitag die
Entscheidung getroffen haben wird, daß wir uns auch an
der Luftüberwachung eines verbindlichen Abkommens
und der darauf fußenden, darauf Bezug nehmenden Re-
solution des Weltsicherheitsrates beteiligen, wird unsere
Beteiligung noch einmal um 350 Personen zunehmen.

Ich will Ihnen heute schon sagen, daß zur Vorsorge
vor einem nicht gewünschten, aber nicht ausschließba-
ren Notfall wahrscheinlich noch einmal eine deutsche
Beteiligung – etwa in Kompaniestärke – erforderlich
wird. Das ist alles andere als eine militärische Interven-
tion. Was die Soldaten – unsere wie die der anderen
Länder – dort tun, ist: Sie sichern Gewaltfreiheit, sie
unterstützen den zivilen Aufbau – zum Beispiel dadurch,
daß sie mit einer Beratertätigkeit helfen, das Ergebnis
der Wahlen zu implementieren und die Konstituierung
von Parlamenten und lokalen Autoritäten voranzubrin-
gen –, sie helfen bei der Rückkehr von Flüchtlingen,
zum Beispiel in einer sehr ausgeprägten zivil-militä-
rischen Kooperation, indem sie Häuser wiederherrich-
ten, Infrastruktur wiederherrichten und den Flüchtlingen
die Rückkehr überhaupt erst ermöglichen, und sie er-
gänzen nicht zuletzt die Arbeit der zivilen Hilfsorgani-
sationen, von denen ich hier nur stellvertretend für alle
anderen die Organisation „Schüler helfen leben“ nenne.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.])


An diesem SFOR-Einsatz, der zugleich auch gewisse
Belastungen hier in Deutschland bedeutet, haben jetzt
schon über 20 000 Soldaten der Bundeswehr teilge-
nommen. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß diese
Soldaten im Interesse unseres Landes, im Interesse ge-
meinsamer Sicherheit, im Interesse der Stabilität unseres
Kontinents, nicht zuletzt vielleicht auch im Interesse der
Verhinderung immer stärkerer Flüchtlingsbewegungen
ein hohes Risiko eingehen und daß sie deshalb auch mit
Blick auf ihre Familien die Unterstützung des Deutschen
Bundestages und übrigens der ganzen Bevölkerung ver-
dient haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Freilich, diese Unterstützung muß auch noch auf an-
dere Weise gewährleistet werden, nämlich indem wir in
Deutschland als Bundesregierung und als Parlament
auch dazu beitragen, daß ein klares politisches Ziel ver-
folgt und erreicht werden kann. Wir haben dafür nur
wenig Zeit. Es gibt leider auch Anzeichen dafür, daß in
dieser Periode der Gewaltfreiheit Vorbereitungen für
neue Ausbrüche von Gewalt getroffen werden könnten.
Der Winter wird das wahrscheinlich eine Zeitlang ver-
hindern.

Ich will damit deutlich machen, daß wir für die politi-
schen Bemühungen um die Lösung dieses Konfliktes
mit dem Ziel einer Autonomie des Kosovo im jugosla-
wischen Staatsverband nur ein sehr enges Zeitfenster
haben werden und daß es ganz und gar nicht vertretbar
ist, wenn man sowohl zivile Beobachter im Auftrage der
OSZE wie auch ihren militärischen Schutz in eine Ge-
fahr bringen würde, die man durch entsprechend klaren
Druck sowohl auf Milosevic als auch auf die kosovo-
albanische Seite, insbesondere auf die UCK, vermeiden
kann.

Die Abwesenheit von Krieg und Gewalt bedeutet
noch lange nicht Frieden. Wir sehen das in Bosnien und
Herzegowina. Ich fürchte, wir werden es eine längere
Zeit auch im Kosovo sehen. Also will ich darauf auf-
merksam machen, daß die Beteiligung Deutschlands an
ziviler Überwachung und ihrem Schutz, an all den Maß-
nahmen, die ich genannt habe, auf Dauer genauso wie
die Sicherheit, die von der internationalen Staatenge-
meinschaft ausgeht, nur dann sinnvoll geleistet werden
kann, wenn die internationale Staatengemeinschaft den
Konfliktparteien die Notwendigkeit klarmacht und am
Ende dabei hilft, zivile Entwicklungen auf eine stabile
Grundlage zu stellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das entspricht der Politik der Bundesregierung, die
das Ziel umfassender Sicherheit verfolgt. Ich will das an
drei Elementen verdeutlichen.

Erstens kommt es darauf an, Ursachen für Krisen in
Zukunft früher zu erkennen und entschlossener zu han-
deln als in der Vergangenheit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bundesminister Rudolf Scharping






(B)



(A) (C)



(D)


Gerade das Thema, mit dem sich der Antrag der Bun-
desregierung beschäftigt, ist ein sehr nachdrücklicher
Hinweis darauf, wohin es führen kann, wenn man über
Jahre hinweg deutliche Hinweise auf eine sich immer
stärker verschärfende krisenhafte Entwicklung ignoriert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: So einfach ist das nicht! – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt wird es unverschämt! Gucken Sie mal in Ihre eigenen Reihen!)


Es hat diese Hinweise gegeben. Allerdings ist es auch
eindeutig so, daß die Europäische Union, die Westeuro-
päische Union und andere Organisationen der interna-
tionalen Staatengemeinschaft Krisenursachen häufig
zwar früh erkennen können – es mag auch vorkommen,
daß sie sie nicht erkennen –, daß uns aber oft genug die
entsprechenden Mittel und Institutionen fehlen, die Kon-
sequenzen aus der frühzeitigen Erkenntnis von Krisen-
ursachen zu ziehen. Also wird es nicht nur darauf an-
kommen, den Mangel in der frühzeitigen Erkennung von
Krisenursachen und ihrer gemeinsamen Bewertung zu
beklagen, sondern auch darauf, die notwendigen Institu-
tionen zu schaffen, die wir im Rahmen der europäischen
Integration dringend brauchen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es kommt darauf an, aus dieser Vorstellung umfas-
sender Sicherheit, die auch Krisenursachen wie Hunger,
Unterentwicklung, Terror und Haß zwischen Bevölke-
rungsgruppen mit einschließen muß, die notwendigen
Schlußfolgerungen zu ziehen. Es liegt auf der Hand, daß
diese Schlußfolgerungen nicht allein in den Kategorien
eines militärischen Bündnisses geleistet werden können.
Ich erinnere mich sehr gut, daß Willy Brandt davon
sprach, er habe zweimal erlebt, wie aus Krieg Hunger
geworden sei, und er hoffe, nie erleben zu müssen, daß
aus Hunger Krieg werde. Das aber ist eine Gefahr, mit
der wir uns heute auch auseinandersetzen müssen.

Das zweite Element beinhaltet, daß wir, die interna-
tionale Staatengemeinschaft, im Bereich der Krisen-
prävention wesentlich besser werden müssen, als wir es
derzeit sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich mache darauf aufmerksam, daß hier für die deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik ein wesentliches Thema
liegt. In der Sondersitzung des Bundestages der
13. Wahlperiode hat eine Rolle gespielt, daß wir ange-
sichts veränderter Krisenursachen, Bedrohungsursachen
und Risiken für die internationale Sicherheit und Stabi-
lität in die Lage kommen müssen, die Instrumente neu
zu justieren; denn die Instrumente stammen aus der Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg, aus der Zeit des kalten
Krieges und der Blockkonfrontation und sind oft genug
nicht tauglich genug, mit dem fertig zu werden, was sich
heute an veränderter weltpolitischer Lage und auch an
veränderten Ursachen für internationale Krisen auf unse-
rem Kontinent und weit darüber hinaus – in anderen Re-
gionen der Welt ist es noch viel schlimmer – darstellt.

Als drittes Element nenne ich, daß diese Politik nur
erfolgreich sein kann, wenn deutsche Außen- und Si-
cherheitspolitik konsequent demokratische und zivile
Entwicklungsprozesse fördert und gleichzeitig zur
Achtung der Menschenrechte beiträgt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wie schwierig dies ist,
sieht man wieder am Beispiel des Kosovo. So hatten wir
zum Beispiel große Schwierigkeiten, im Rahmen des
Auftrags an die OSZE sicherzustellen – bisher konnte es
wegen einer Weigerung Rußlands nicht sichergestellt
werden – , daß der Zugang von Journalisten in das Ge-
biet des Kosovo ermöglicht und wieder unabhängige Be-
richterstattung erlaubt wird. Wenn wir aber demokrati-
sche, auf Menschenrechte orientierte Entwicklung för-
dern und zivile Entwicklungen voranbringen wollen,
dann wird das ohne entsprechende Institutionen ein-
schließlich einer unabhängigen und freien Presse, ein-
schließlich freier und unabhängiger Gewerkschaften, so-
zialer Organisationen, lokaler Selbstverwaltung und
dergleichen nicht gehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die eigentliche Bedeutung des Beitrages der Bun-
deswehr auf dem Balkan liegt darin, daß diese beiden
Seiten der gleichen Medaille zur Zeit in einer guten
Weise gewährleistet sind, wobei ich beklage, daß die
zweite Seite oft genug in der Öffentlichkeit nicht so
wahrgenommen wird, wie ich es mir wünsche: neben
der Sicherung einer gewaltfreien Entwicklung durch
entsprechende militärische Präsenz die sehr vielen zivi-
len Elemente in diesem Engagement, die ich Ihnen zu
nennen versucht habe.

Meine Damen und Herren, all diese Fragen haben
Bedeutung für die Entwicklung auch der internationalen
Organisationen. Die NATO wird sich erweitern, und das
ist gut so. Sie wird nach dieser Erweiterung eine Zeit der
Konsolidierung brauchen und zugleich für weitere neue
Mitglieder die Tür offenhalten. Die NATO wird sich
eine neue Strategie geben. Es wird für die Europäer dar-
auf ankommen, ihre eigenen Schwächen zu überwinden
und nicht immer ein gewisses Gefälle im Bündnis zu
beklagen, sondern selbst etwas dagegen zu tun, daß es
dieses Gefälle hier und da gibt. Das Stichwort dafür
heißt: europäische Identität für Verteidigung und Si-
cherheit.


(Beifall bei der SPD)

Dazu gehört übrigens auch die Integration der WEU-
Aufgaben in die Europäische Union, wie es ja im Ver-
trag von Amsterdam vorgesehen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage Ihnen das, um etwas anderes noch verständ-

licher zu machen: Es ist unser gutes Recht – andernfalls
würden uns alle anderen mit guten Gründen, wie ich
denke, skeptisch betrachten –, unsere Interessen klar zu
definieren und zu vertreten. Uns in Deutschland muß
allerdings klar sein, daß Deutschland seine außen- und

Bundesminister Rudolf Scharping






(A) (C)



(B) (D)


sicherheitspolitischen Interessen nur noch in Europa
und in internationalen Organisationen wirksam verfol-
gen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deutschland kann mit Blick auf seine Streitkräfte in Zu-
kunft nur das sinnvoll vorbereiten und entscheiden, was
mit den europäischen Interessen im Einklang steht und
mit den Interessen des Bündnisses kompatibel ist.


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Der ist ja noch langweiliger als der Fischer!)


Auch in Zukunft ist die wesentliche Aufgabe der
Bundeswehr die Landesverteidigung. So wie wir Lan-
desverteidigung derzeit wahrnehmen, ist sie der beste
Ausdruck dafür, daß wir uns der gemeinsamen Verant-
wortung und Verpflichtung stellen. Über die Landes-
verteidigung hinaus sind wir im Bündnis für die Sicher-
heit seiner Mitglieder mitverantwortlich. Man kann es
an den Entscheidungen der letzten Jahre ablesen, daß
Deutschland stärkere Beiträge zur internationalen Frie-
denssicherung leistet. Vor diesem Hintergrund und mit
Blick auf diese neuen Aufgaben muß die interne Be-
standsaufnahme der Bundeswehr so vorangetrieben
werden, daß sie im März des nächsten Jahres abge-
schlossen sein wird. Dann wird unter Beteiligung des
außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Sachver-
stands, den wir dafür dringend brauchen,


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Jawohl! Sehr gut!)


und auf der Grundlage von Erfahrungen vieler Men-
schen in Deutschland darüber zu reden sein, welche Fä-
higkeiten unser Land in die internationalen Organisatio-
nen einbringen und wie es mit Hilfe dieser Fähigkeiten
zu internationaler Sicherheit und zu friedlicher, ziviler
und, wo immer es geht, demokratischer Entwicklung
beitragen kann.

Meine Damen und Herren, ich sprach davon, daß wir,
insbesondere aber die Soldaten und ihre Familien, dar-
auf angewiesen sind, im Deutschen Bundestag und im
deutschen Volke eine breite Unterstützung zu erhalten.
Verstehen Sie das bitte als eine Einladung an alle Seiten
des Hauses – bei allem Streit auf anderen Feldern –, den
Konsens in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zu
bewahren und diesen auf der Basis dessen, was wir er-
reicht haben, weiterzuentwickeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400303600
Das
Wort hat der Kollege Dr. Helmut Haussmann.


Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1400303700
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zwischenbilanz
der bisherigen Diskussion ist klar: Deutschland hat die
Abwahl eines international anerkannten Staatsmannes
und eines hervorragenden Bundeskanzlers, eines exzel-
lenten Außenministers und eines anerkannten Finanz-
ministers nicht verdient.

Was haben wir heute erlebt? Einen Bundeskanzler,
für den Außen- und Europapolitik eben keine Herzens-
angelegenheit ist. Ich will nur einmal zwei Belege nen-
nen, wie Herr Schröder denkt: Vor seiner Wahl war er
gegen den Euro und vertrat in bezug auf die Osterweite-
rung die Auffassung, daß sie nicht mehr im nächsten
Jahrzehnt stattfinden werde. Das sind Tatsachen.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Genau das ist es!)

Wir haben einen Außenminister, der sich nicht nur äu-
ßerlich, sondern auch innerlich schnell umgestellt hat,
hochflexibel ohne politische Tradition in der grünen
Partei, ohne Basis in Krisenzeiten. Wir haben einen Fi-
nanzminister, der eigentlich der heimliche Vizekanzler
und Außenminister ist und beginnt, den Euro schwach
zu machen. Und wir haben einen Verteidigungsminister
wider Willen, weil er das gar nicht werden wollte; aber
die Rede von Herrn Struck weckte nicht nur bei uns,
sondern auch in der Opposition die Sehnsucht nach ei-
nem Fraktionsvorsitzenden Scharping.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herr Außenminister Fischer, Sie sollten sich – Sie

werden noch darauf zurückkommen müssen – am An-
fang einer solchen Debatte nicht nur förmlich bei Herrn
Kohl oder bei Herrn Kinkel bedanken, sondern Sie soll-
ten sich auch darüber im klaren sein, daß Sie nur deshalb
einen guten Start hatten, über den ich mich im Interesse
Deutschlands freue, weil Sie auf eine exzellente Außen-,
Europa- und Sicherheitspolitik aufbauen konnten,


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


zu der Ihre eigenen Leute bisher überhaupt nichts bei-
getragen haben.

Sie haben es wohl vergessen: Sie waren gegen die
Nachrüstung, gegen den Euro und gegen den Vertrag
von Maastricht. Es gab Stimmenthaltungen zum Vertrag
von Amsterdam und vor kurzem noch gegen friedenser-
haltende Einsätze. Das ist die Ausgangsbasis, und inso-
fern, Herrr Fischer, sollten Sie sich über eines im klaren
sein: Ein guter Start bedeutet noch nicht belastbare Au-
ßenpolitik. Deshalb sollten Sie sich mit der Opposition
sehr gut stellen, Sie werden uns noch brauchen. Das sa-
ge ich Ihnen voraus.


(Beifall bei der F.D.P.)

Aus unserer Sicht gibt es drei große konzeptionelle

Fragen, an denen wir Sie und Herrn Schröder messen
wollen. Die erste betrifft die globale Verantwortung.
Sie sind dem Thema, das Herr Kinkel für uns exzellent
vorbereitet hat – Beteiligung an friedensschaffenden
Maßnahmen und Sitz im UN-Sicherheitsrat –, ausgewi-
chen. Sie haben hier nichts dazu gesagt. Vor Journali-
sten haben Sie gesagt, das sei jetzt nicht so wichtig, der-
zeit kein Thema, um dem Konflikt mit Ihrer Fraktion
auszuweichen. Wenn jetzt nach einer so guten Vorarbeit
vom deutschen Außenminister das Signal gegeben wird,
das ist nicht vorrangig, nicht wichtig, verliert damit ein
wichtiges Symbol der gestiegenen globalen Mitverant-
wortung bei der Lösung von Krisen an Bedeutung.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)


Bundesminister Rudolf Scharping






(B)



(A) (C)



(D)


Die zweite Frage – wir werden noch darüber diskutie-
ren – betrifft das Verhältnis zu den Vereinigten Staa-
ten von Amerika. Es ist interessant, daß Sie dieses
Thema in Ihrer Rede am kürzesten abgehandelt haben.
Das ist zuwenig. Das, was Herr Schröder heute morgen
vorgetragen hat, ist natürlich ein latenter Protektionis-
mus. Ich kann nur sagen: Die wichtigste Frage im Ver-
hältnis zu den Vereinigten Staaten wird sein: Wie wird
Deutschland als führendes Land in Europa so wettbe-
werbsfähig, daß es den Wettbewerb mit den Vereinigten
Staaten von Amerika durchhält?

Herr Außenminister Fischer, alle Konflikte in der
Vergangenheit waren nicht so sehr außenpolitische Kon-
flikte, sondern es waren Konflikte, die in der Handels-
politik begannen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen.
Erstens. Sie haben in die Koalitionsvereinbarung locker
hineingeschrieben, die WTO müsse dringend mit Um-
welt- und Sozialstandards angereichert werden. Sie ste-
hen damit einsam in der Landschaft.


(Zurufe bei der SPD: Nein!)

Das gehört nicht in die WTO. Das gehört in die ILO,
meine Damen und Herren. Sie werden isoliert sein.


(Widerspruch bei der SPD)

– Ich sage Ihnen die Diskussion mit den Vereinigten
Staaten von Amerika voraus. Sie werden sich isolieren.

Zweitens. Mit diesem Reformrückschritt – keine
echte Steuerreform, keine Arbeitsmarktreform, Schwä-
chung des Euro – werden Sie Deutschland und damit
Gesamteuropa im Wettbewerb schwächen.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.])


Sie werden erleben, daß am Ende Ihrer Politik – im
Verein mit Herrn Jospin – ein latenter Protektionismus,
ein Festungsdenken in Europa herrschen wird. Das wird
zu einem der ganz großen Konflikte, wenn Sie nicht
zumindest die Politik von Herrn Blair verfolgen, wozu
Sie nicht bereit sind. Herr Blair hat vor kurzem auf einer
Konferenz der Sozialisten gesagt: Meine sehr verehrten
Parteigenossen, Amerikanismus und Globalisierung dür-
fen keine Fremdworte bei uns werden.

Wie wird darüber bei uns diskutiert? Wie wird über
die Unabhängigkeit der Zentralbank diskutiert? Wie
wird über die Zielzonen debattiert? Reden Sie einmal
mit einem Amerikaner über Wechselkurszielzonen. Sie
laufen völlig ins Leere und begeben sich in die Gefahr,
daß Sie das entscheidend wichtige Verhältnis zu den
Vereinigten Staaten von Amerika von der falschen Seite
her – durch Protektionismus, falsche Währungszusam-
menarbeit und ein fehlendes klares Bekenntnis zur Un-
abhängigkeit von Notenbanken – schwächen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Die dritte Frage betrifft die Europapolitik, Herr Fi-

scher. Sie ist nicht nur Baustein einer Vision, sondern in
der Europapolitik braucht man Visionen, man muß
Emotionen haben. Ich sehe weder bei Herrn Schröder
noch bei Ihnen jemanden, der in der Lage wäre, hier
nicht nur gute Reden zu halten, sondern die eigene Par-

tei, die Bevölkerung in große Projekte mitzunehmen.
Meine Damen und Herren, wer hat denn die Debatte
über die Währungsunion geführt? Wo war denn Rot-
grün?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Jetzt lehnt man sich zurück und profitiert von unserer

Arbeit. Aber in der Europapolitik bedarf es der Visionen
und eines langen Atems sowie der Unterstützung durch
die eigene Partei, die eigene Fraktion. Meine Damen
und Herren, die haben Sie nicht. Insofern ist es zwar
schön, wenn Sie gute Reden halten, wenn Sie gut ange-
zogen sind, wenn Sie im Ausland gut ankommen. Nur,
die Bewährungsprobe – mehr Emotion, mehr Vision,
mehr Überzeugung in der Bevölkerung – müssen Sie
erst noch bestehen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Etwas mehr Emotion bitte, Herr Fischer!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400303800
Das
Wort hat der Kollege Volker Rühe.


Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1400303900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Beide Minister dieser Bun-
desregierung, der Außenminister und der Verteidi-
gungsminister – auch ich muß mich erst daran gewöh-
nen –,


(Heiterkeit)

haben von Kontinuität und Berechenbarkeit gespro-
chen. Das ist gut so, und das ist ja auch ein Kompliment
für die Politik, die vorher gemacht worden ist. Aber,
Herr Fischer und Herr Scharping, die Politik, in deren
Kontinuität Sie sich stellen, mußte irgendwann im
Kampf durchgesetzt werden – hier und auch internatio-
nal. Das ist doch der entscheidende Punkt. Deswegen:
Die eigentliche Bewährung wird erst dann kommen,
wenn neue Fragestellungen auf Sie zukommen, ob auch
Sie dann etwas im Kampf durchsetzen können, was den
deutschen Interessen dient und was eine vernünftige in-
ternationale Politik ist. Das ist die eigentliche Bewäh-
rungsprobe.

Nehmen Sie das Beispiel – Herr Fischer, Sie haben
gesagt, das sei ganz wichtig –, daß Europa jetzt zusam-
menwächst. Aber die Öffnung Westeuropas von der Si-
cherheit her auch für die Polen, die Tschechen, die Un-
garn, die Öffnung der NATO, das ist im Kampf durch-
gesetzt worden, hier in Deutschland gegen Sie und auch
international. Wo sind die Politiker in der neuen Regie-
rung, die in der Lage sind, wichtige Weichenstellungen
auch in der Zukunft durchzusetzen und sich nicht nur in
eine Kontinuität hineinzustellen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Oder nehmen Sie das Beispiel Jugoslawien: Herr

Scharping, ich will nicht die Kontroverse mit Ihnen.
Aber es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie sagen,
man müsse die Krisen früher erkennen. Wer hat denn
darauf gedrängt, dort hinzugehen und zu intervenieren,

Dr. Helmut Haussmann






(A) (C)



(B) (D)


Massaker und Krieg zu stoppen? Ich glaube, dieses
Drängen ist nicht von der früheren Opposition gekom-
men, sondern von der Regierung. Das haben wir durch-
gesetzt. Sonst wären wir auch noch nicht so weit, wie
wir heute sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Fischer, Sie werden eine Bewährungsprobe be-

kommen. Das ist der Irak. Da können Sie nicht sagen,
das sei allein Sache der Amerikaner. Es geht auch uns
an, ob es dort zur Produktion von Massenvernichtungs-
waffen kommt. Dann ist auch die Frage an die deutsche
Solidarität gestellt. Man kann nicht in Feiertagslaune –
wie der Kanzler Schröder – hier über deutsch-
amerikanische Freundschaft sprechen, aber in einer kon-
kreten Situation sich verweigern und abtauchen. Damit
werden Sie nicht durchkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber ich habe bei aller Kontinuität den Eindruck, daß

man schon versucht, ein bißchen umzuinterpretieren.
Herr Fischer, wenn Sie sagen, im Kosovo gehe es nur
um den Einsatz von Zivilisten, die OSZE spiele dort die
Hauptrolle, so – das muß ich Ihnen sagen – unterschla-
gen Sie, daß die politischen Verhandlungen der Ameri-
kaner nur deswegen Erfolg hatten, daß es den Einsatz
der Zivilisten dort nur deswegen gibt, weil wir bereit
waren, notfalls auch militärisch zu handeln – nur deswe-
gen! Das darf nicht unterschlagen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Minister Scharping, an einem Punkt sollten Sie

noch einmal nachdenken. Sie haben gesagt, wenn deut-
sche Soldaten nach Mazedonien geschickt würden – ich
meine jetzt nicht die Luftüberwachungsoperation; dafür
haben Sie unsere Zustimmung, das ist klar; wir bleiben
in der Kontinuität unserer Politik, Sie brauchen Ihre ei-
genen Mehrheiten –, um notfalls im Kosovo einzugrei-
fen, um diese Beobachter zu retten, dann sei das kein
militärischer Einsatz. Ich muß Ihnen sagen: Es ist hoch-
gefährlich, wenn man versucht, die kleinste gemeinsame
Sprachregelung innerhalb der Koalition zu finden, um
im Deutschen Bundestag eine Mehrheit für einen Ein-
satz zu erzielen, der natürlich ein militärischer Einsatz
ist. Was bedeutet dieser Einsatz? Sie schicken deutsche
Soldaten nach Mazedonien. Im Ernstfall müssen sie ge-
gen den Willen der Regierung der Bundesrepublik Jugo-
slawien im Kosovo militärisch eingreifen, um Zivilisten
aus dieser Region zu holen. Auch den Soldaten schulden
wir es, daß die Gefahren einer solchen Mission nicht
heruntergespielt werden, nur damit man in der Koalition
verbal eine Einigung erzielt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn das gesagt?)


Wenn es sich nicht um eine militärische Aktion handeln
würde – das gilt für die Luftüberwachung und natürlich
auch für die Mission einer Extraction Force –, müßte
sich der Deutsche Bundestag nicht mit dieser Angele-
genheit beschäftigen.

Ich habe in der Koalitionsvereinbarung viel über die
Zivilisierung der internationalen Beziehungen und ihre
Verrechtlichung gelesen. Das sind alles schöne Worte.
Es ist richtig: Das Militärische ist die Ultima ratio. Aber:
Wenn politisches Verhandeln scheitert – es kann schei-
tern – und wenn nicht die Bereitschaft besteht, notfalls
auch mit militärischen Mitteln denen in den Arm zu fal-
len, die nicht friedenswillig sind, dann würden Sie sich
auf einen falschen Kurs begeben und sich von der Soli-
darität der westlichen Gemeinschaft verabschieden.

Herr Minister Fischer, Sie haben die Menschenrechte
in den Mittelpunkt gestellt. Das ist richtig. Wir haben
übrigens schon in der Zeit des kalten Krieges immer ge-
sagt: Der Friede ist nichts Absolutes, sondern es gibt ihn
nur in Verbindung mit Freiheit, Gerechtigkeit und Be-
achtung der Menschenrechte. Sie haben gesagt: Es ist
gut, daß die Kriegsverbrecher in Bosnien nach Den
Haag kommen. Einer der übelsten Kriegsverbrecher ist
nur durch das „Kommando Spezialkräfte“ der deutschen
Bundeswehr nach Den Haag gekommen. Dagegen haben
die Grünen massiv protestiert. Meine konkrete Frage ist:
Sind Sie damit einverstanden, wenn auch in Zukunft
Spezialkräfte der Bundeswehr dafür sorgen, daß Kriegs-
verbrecher vor internationale Gerichte gebracht werden?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben ferner gesagt, es erfülle Sie mit Genug-

tuung, wenn ein Diktator wie Pinochet zur Rechenschaft
gezogen wird.


(Bundesminister Joschka Fischer: Vielleicht!)

– „Vielleicht“, aber ich hoffe es trotzdem. – Ihre Hal-
tung kann ich nachvollziehen. Ich – und vor mir Heiner
Geißler und Norbert Blüm – war in Chile in den Ge-
fängnissen, als unsere Freunde, die christlichen Demo-
kraten, dort verfolgt, eingesperrt und gefoltert wurden.
Deswegen kann ich Ihre Haltung nachvollziehen. Aber
haben Sie bitte keine selektive Haltung. Es gibt immer
noch politische Gefangene in Kuba und in anderen Ge-
genden der Welt. Was machen Sie mit Fidel Castro?
Lassen Sie uns also sehr sorgfältig darüber diskutieren,
was es bedeutet, Menschenrechte durchzusetzen und zu
verdeutlichen: Wer immer dagegen verstößt, muß damit
rechnen, daß er auf internationalem Wege zur Verant-
wortung gezogen wird. Es geht aber nicht an, daß es ei-
nen selektiven Einsatz für die Beachtung der Menschen-
rechte gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie gerade sagen!)


Herr Minister Scharping, Sie haben als Verteidi-
gungsminister das Richtige in bezug auf Ihre Amtszeit
gesagt. Sie haben sich für die Wehrpflicht eingesetzt. In
diesem Punkt haben Sie die volle Unterstützung unserer
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben noch einen weiteren sehr richtigen Satz ge-

sagt: Diejenigen, die Sicherheit produzieren, nämlich
unsere Soldaten, haben selbst die Sicherheit ihres Ar-
beitsplatzes verdient. Deswegen haben Sie sich klar ge-

Volker Rühe






(B)



(A) (C)



(D)


gen alle Vorstellungen der Grünen gewandt, im Rahmen
der Koalition in die Strukturen der Bundeswehr einzu-
greifen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie müssen wissen, daß Sie in diesen entscheidenden

Punkten unsere Unterstützung haben, daß wir Sie aber
auch an diesen Punkten messen werden. Es ist deswegen
ganz wichtig, daß die Wehrstrukturkommission – Sie
haben ja auch eine Rentenkommission; überall, wo Sie
mit den Grünen uneins sind, werden Kommissionen ein-
gesetzt – nicht sozusagen jahrelang ein Fragezeichen für
die Bundeswehr bedeutet. Unsere Soldaten haben es
nicht verdient, daß sie bezüglich ihrer Zukunft im unge-
wissen gehalten werden,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

zumal wir gleichzeitig von ihnen schwierige Einsätze
verlangen müssen. Sie sollen wissen, daß eine Chance
für einen Konsens in diesem Hause besteht. Was Wehr-
pflicht und Umfang der Bundeswehr angeht, habe ich es
einmal so gesagt: Sicherheit für die Produzenten der Si-
cherheit, Sicherheit für unsere Soldaten. Wenn Sie sie zu
internationalen Einsätzen schicken, dann können Sie
nicht zu Hause die Kasernen anstecken, so wie die Grü-
nen das immer wieder versucht haben.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na! – Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nicht anstecken!)


– Entschuldigung, „Kasernen anstecken“ heißt natürlich,
die Stationierungsorte der Bundeswehr in Frage zu stel-
len. Das ist doch genau das, was Sie, Frau Kollegin
Beer, tun. Sie wollen doch den Umfang der Bundeswehr
halbieren. Das ist in einer solchen Situation unverant-
wortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn hier der Brandstifter?)


Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zur Eu-
ropapolitik. Es gab ja nach den Besuchen des Kanzlers
und des Außenministers in Polen die Diskussion, ob wir
für die EU-Osterweiterung eine zeitliche Perspektive
brauchen. Ich glaube, daß man noch einmal einen Mo-
ment darüber nachdenken sollte, was die richtige Politik
ist. Herr Schröder, der Bundeskanzler, hat gesagt, er ha-
be nicht soviel Phantasie, ein Datum zu nennen.

Ich muß Ihnen sagen: Wenn Sie ein Datum setzen –
2002 wäre realistisch –, ist es viel einfacher, die schwie-
rigen Entscheidungen im jeweiligen Lande durchzuset-
zen. Ich weiß, daß die EU-Erweiterung nicht vergleich-
bar ist mit der NATO-Erweiterung. Die EU-Erweiterung
ist viel schwieriger umzusetzen. Mitglied der NATO
können Sie auch mit alten Flugzeugen und alten Panzern
werden. Mitglied der Europäischen Union aber können
Sie mit einer veralteten Landwirtschaft und einer veral-
teten Wirtschaft nicht werden. In dem Moment, in dem
ein Zieldatum im Hinblick auf den Beitritt zur NATO
genannt wurde, hat es unglaubliche Anstrengungen der
Ungarn, der Polen und der Tschechen gegeben, weil sie

gewußt haben: Die Anstrengungen lohnen sich; es gibt
ein konkretes Zieldatum.

Deswegen würde ich der Bundesregierung raten, zu
versuchen, gemeinsam mit Polen und den anderen Staa-
ten ein Zieldatum zu entwickeln und zu sagen: Wir je-
denfalls werden, was die Reformen innerhalb der Euro-
päischen Union angeht, alles tun, daß ihr 2002 Mitglie-
der werden könnt. Wenn ihr dann noch auf eurer Seite
die notwendigen Reformen durchsetzt, dann ist der Bei-
tritt zu einem solchen Datum machbar.

Es muß möglich sein, hier eine gemeinsame Strategie
zu entwickeln, damit Deutschland auch weiterhin Motor
im Hinblick auf das Zusammenwachsen in Europa ist.

Die letzte Bemerkung möchte ich auf die baltischen
Staaten beziehen. Ich glaube, jeder spürt, daß sie mehr
als manch andere zur Familie der europäischen Staaten
gehören – sie haben in diesem Jahrhundert ein besonders
schlimmes Schicksal gehabt –, daß aber der Weg in die
Sicherheitsgemeinschaft der NATO sicherlich noch ein
langer Weg ist. Um so offener sollten wir dafür sein –
das war auch bei Klaus Kinkel, dem früheren
Außenminister, der Fall –, sie so schnell wie möglich in
die Europäische Union aufzunehmen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Als Gruppe und nicht getrennt!)


– Natürlich, alle drei als Gruppe. Denn sie alle haben
nicht das Gewicht, daß sie auf Grund irgendwelcher sta-
tistischer Abweichungen und auf Grund der Probleme,
die es in diesen Staaten noch gibt, die Europäische Uni-
on ruinieren könnten.

Nachdem sich Estland qualifiziert hat und Lettland
anerkanntermaßen Fortschritte gemacht hat – Außen-
minister Kinkel hat immer deutlich gemacht, daß die
Möglichkeit bestehen muß, auch zwischenzeitlich auf-
genommen zu werden –, liegt es in der Verantwortung
der Bundesregierung, Lettland und Litauen in den euro-
päischen Integrationsprozeß mit aufzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Herr Kollege Fischer, wenn Sie das in Angriff nehmen
würden, dann würden Sie wirklich einen weiteren Schritt
für den Aufbau eines gemeinsamen Europas leisten und
im übrigen selbst eine Politik durchsetzen, angesichts der
Sie mit einem Konsens in Deutschland rechnen können.
Zeigen Sie also einmal, daß Sie nicht nur wie ein Außen-
minister gekleidet sind, sondern daß Sie sich auch in einer
wichtigen Frage durchsetzen können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400304000
Das
Wort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Herr Kollege Rühe, ich möchte nicht, daß sich et-
was Mißverständliches oder Falsches festsetzt: Ich habe

Volker Rühe






(A) (C)



(B) (D)


mich mit dem Abgeordneten Gysi und seiner Behaup-
tung auseinandergesetzt, die Stationierung einer Schutz-
truppe in Mazedonien sei eine militärische Intervention.
Es ist völlig unbestritten: Wenn eine solche Schutztrup-
pe stationiert wird, ist das ein militärischer Einsatz, und
zwar einer mit Risiko.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400304100
Das
Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Mei-
ne Damen und Herren! Wir alle sind in den letzten Ta-
gen mit den Bildern der Verwüstung konfrontiert wor-
den, die der Hurrikan Mitch in Zentralamerika ange-
richtet hat. Und auch wenn die Schreckenszahlen noch
immer nicht zweifelsfrei sind: Es muß mit weit mehr als
10 000 Toten gerechnet werden. Es ist ein Rückfall der
Entwicklung um mindestens zwei Generationen festzu-
stellen. Vor allem aber: Ein Großteil der Bevölkerung ist
obdachlos, in Honduras etwa die Hälfte der Bevölke-
rung.

Nicaragua und Honduras sind zusammen mit Tahiti
ärmste Länder der Region. Gleichzeitig sind sie die
Länder, die im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Lei-
stungsfähigkeit die größte Last an Auslandsschulden
tragen. El Salvador und Guatemala haben zwar weniger
Opfer unter den Menschen zu beklagen. Aber auch hier
ist ein Großteil der Ernte zerstört, ist die Aufbauarbeit
von mindestens einem Jahrzehnt, sind die landwirt-
schaftliche Produktion und die landwirtschaftlichen
Potentiale in wenigen Tagen vernichtet worden.

Ich habe am letzten Freitag in Gesprächen mit den
Botschaftern der sechs mittelamerikanischen Länder, die
von dem Hurrikan betroffen sind, gesprochen und – ich
denke auch in Ihrem Namen – unser aller Anteilnahme
und Solidarität ausgedrückt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Meine Damen und Herren, diese Situation ist auch
deshalb besonders tragisch, weil diese Region, wie Sie
alle wissen, über Jahre, um nicht zu sagen: über Jahr-
zehnte hinweg in schreckliche Konflikte und Bürger-
kriege verstrickt war, jetzt auf dem Wege der Kon-
fliktbeilegung und des friedlichen Zusammenlebens ist
und in dieser Situation so schrecklich getroffen worden
ist.

Wir als Bundesregierung, als Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben
im Umfang von insgesamt 5,7 Millionen DM unmittel-
bar Soforthilfe geleistet und Nothilfe bereitgestellt. Die-
se Mittel sind also schon vor Ort zum Einsatz gekom-
men: Medikamente, Nahrungsmittel, Materialien und
vor allem Geräte für die Trinkwasseraufbereitung sowie
Baumaterialien für dringende Baumaßnahmen, um
überhaupt wieder Obdach zu schaffen.

Die Durchführung erfolgt in erster Linie über die lau-
fenden Projekte der technischen Zusammenarbeit und

wird vom Deutschen Entwicklungsdienst und den
Partnern deutscher Nichtregierungsorganisationen unter-
stützt. Nur so ist sichergestellt – und es ist sicherge-
stellt –, daß die Mittel wirklich den betroffenen Men-
schen zukommen.

Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, die
diese schwere Hilfe vor Ort leisten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Ich möchte vor allen Dingen den Menschen in Deutsch-
land danken, die bereit waren, so schnell und in großem
Umfang zu spenden und damit Finanzmittel zur Verfü-
gung zu stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist auch jetzt noch notwendig zu spenden.
Ich möchte auch ein herzliches Dankeschön an die

Adresse all der Partnerstädte in Deutschland richten, die
zum Beispiel in Nicaragua Partnerstädte haben, meine
Heimatstadt Wiesbaden eingeschlossen, die eine Fi-
nanzhilfe von 100 000 DM unkonventionell und schnell
zur Verfügung gestellt hat.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das ist aktive Solidarität und Hilfe und zeigt, daß Men-
schen bereit sind, sich zu engagieren.

Ich möchte gleichzeitig darauf hinweisen, daß wir ein
Programm erarbeiten, in dem wir als nächste Stufe, also
nach der unmittelbaren Nothilfe, die Finanzierung von
Reparatur- und Wiederaufbaumaßnahmen vor allen
Dingen der zerstörten Infrastruktur, der Brücken und der
Wege, vorsehen. Das alles muß ja gemacht werden. Wir
haben dafür einen Teil der Finanzmittel umgewidmet, so
daß wir auch weiterhin finanzielle und technische Hilfe
zur Verfügung stellen können. Und vor zwei Tagen hat
der Bundesfinanzminister eine Tranche von
10 Millionen DM für die finanzielle Zusammenarbeit
freigegeben, die zusätzlich für solche Wiederaufbau-
maßnahmen eingesetzt werden kann.

Wir prüfen zudem, ob Mittel im Umfang von
18 Millionen DM, die bisher für andere Bereiche und
Regionen vorgesehen waren und nicht abgeflossen sind,
entsprechend umgewidmet werden können, und erwar-
ten auch hier die Zustimmung des Bundesfinanzmini-
sters.

Vor allem aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind
die finanziellen Konsequenzen überhaupt nicht zu er-
messen. Ich bin froh, daß der Bundeskanzler heute mor-
gen hier das Notwendige dazu gesagt hat. Wir müssen
uns mit unseren Partnerländern dafür stark machen, daß
es einen Schuldenerlaß für die betroffenen Länder
gibt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Bundesminister Rudolf Scharping






(B)



(A) (C)



(D)


Sonst kommen sie nie mehr auf die Füße; sonst kommen
sie nie mehr voran; sonst ist der Wiederaufbau nicht zu
finanzieren. Ich freue mich, daß der Vorschlag, der vor
allen Dingen aus kirchlichen Gruppen gekommen ist,
aufgegriffen worden ist. Das ist das Allerwichtigste, was
wir tun können.

Als Zeichen der Unterstützung und Solidarität werden
Staatsminister Ludger Volmer und ich morgen einen
Hilfslieferungsflug, der Medikamente und die entspre-
chenden Geräte zur Wasseraufbereitung transportiert,
nach Honduras und Nicaragua begleiten. Ich denke, wir
tun dies mit Unterstützung des gesamten Bundestages,
weil wir damit unsere Solidarität gegenüber der so
schwer betroffenen Region zum Ausdruck bringen wol-
len.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir standen
schon früher an der Seite Mittelamerikas. Ich weiß, wo-
von ich rede; ich selbst war mit christdemokratischen
Kollegen aus dem Europäischen Parlament vor Jahren
bei Vermittlungsgesprächen in El Salvador. Das heißt,
wir waren verantwortlich dafür, daß dort Frieden mög-
lich wurde. Wir tragen auch jetzt Verantwortung dafür,
daß der Wiederaufbau vorankommt. Das ist unsere Ver-
pflichtung. Ich freue mich, daß wir im ganzen Hause mit
breiter Mehrheit zu dieser Aufgabe stehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu den
Leitlinien unserer Entwicklungspolitik machen. Ich
finde es interessant, daß das an vielen Punkten in unter-
schiedlichen Facetten immer wieder deutlich wird: Aus
unserer Sicht ist der Leitgedanke der Entwicklungspoli-
tik Friedenssicherung. Zusammenarbeit – das war mei-
ne Überzeugung, als ich für die europapolitische Arbeit
zuständig war – sichert Frieden, und Zusammenarbeit
sichert natürlich auch in den internationalen Beziehun-
gen Frieden. Regionale Integration bewirkt Frieden. Das
gilt für die Region Mittelamerika und andere Regionen.
Es kommt darauf an, die internationalen Beziehungen zu
gestalten.

Herr Haussmann, Sie haben mit Ihren Bemerkungen
unrecht. Wenn wir dazu beitragen, daß in die Welthan-
delsabkommen entsprechende soziale und ökologische
Kriterien einbezogen werden, dann leisten wir einen
Beitrag zur besseren internationalen Gestaltung der Be-
ziehungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Ich will darauf hinweisen, wer isoliert war, als es um das
Mandat zum letzten Welthandelsabkommen ging:


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Deutschen! Rexrodt!)


Das war die Bundesrepublik Deutschland. Ich kann
mich nämlich erinnern, daß der zuständige EU-

Kommissar – Frau Matthäus-Maier, Oskar Lafontaine
und ich waren gemeinsam dort – sich beklagt hat – es
war ein Kommissar einer konservativen Partei –, daß die
Bundesregierung die einzige Regierung gewesen sei, die
verhindert habe, daß in das Mandat soziale und ökologi-
sche Kriterien aufgenommen wurden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden das tun. Das ist ein Stück friedlicher Ge-
staltung internationaler Beziehungen.

Es geht darum, Entwicklungspolitik am Leitbild glo-
baler nachhaltiger Entwicklung zu orientieren. Heute
ist Willy Brandt mehrfach erwähnt worden. Sein Kredo,
„das Überleben sichern“, beruht doch auf der Erkennt-
nis, daß es gemeinsame Interessen von Industrie- und
Entwicklungsländern gibt. Daraus müssen wir aber auch
Konsequenzen ziehen; wir müssen gemeinsam Klima-
schutzprogramme in Gang setzen und dürfen den ent-
wicklungspolitischen Haushalt nicht als Steinbruch be-
nutzen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der Abg. Dr. Christa Luft [PDS])


Entwicklungspolitische Finanzmittel, richtig eingesetzt,
sind eben friedenssichernd und stellen eine Prävention
dar. In diesem Sinne, denke ich, müssen wir handeln.
Denn Krisenprävention muß großgeschrieben werden.
90 Prozent der 186 Kriege, die zwischen 1945 und 1996
stattfanden, sind in der sogenannten dritten Welt ausge-
tragen worden. Kriege und Bürgerkriege machen jahr-
zehntelange Entwicklungsbemühungen zunichte. Des-
halb ist es doch wahrhaft menschlicher und zivilisierter
und auch ökonomisch sinnvoll und vernünftig, wenn
Entwicklungszusammenarbeit zusammen mit Außenpo-
litik und Sicherheitspolitik dazu beiträgt, daß Kriege und
Krisen gar nicht erst entstehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Idee einer vorbeugenden Strukturpolitik verbindet
uns alle, die wir in der Bundesregierung sind, und sie ist
auch das Neue im Bereich der Außen-, Entwicklungs-
und Sicherheitspolitik.

Ich habe mir einmal angesehen, wer alles im Bundes-
sicherheitsrat sitzt: sogar – ich will jetzt keinem Kolle-
gen zu nahe treten – das Justizministerium. Ich bin stolz
darauf, daß das Ministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung jetzt endlich einen Sitz in
diesem Gremium hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch das macht das neue Denken in der Sicherheitspo-
litik deutlich und praktisch.

Willy Brandt hat gesagt: „Entwicklungspolitik ist die
Friedenspolitik des 21. Jahrhunderts.“ Ich bin stolz dar-
auf und ich glaube, es ist unsere große gemeinsame
Aufgabe, diese Entwicklungspolitik voranzubringen.
Wir müssen die globalen Rahmenbedingungen aktiv ge-

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul






(A) (C)



(B) (D)


stalten, dürfen sie nicht nur ertragen. Wir müssen dazu
beitragen, mit all unseren Möglichkeiten, wirtschaftliche
und soziale Ungleichheiten abzubauen, die natürlichen
Lebensgrundlagen zu erhalten. Da geht es auch um die
Finanzmittel, zum Beispiel darum, ob man ein Klima-
schutzprogramm in Gang setzt. – Ja, das ist notwendig
und richtig eingesetzt. Da geht es um Förderung von
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. –
Ja, das ist notwendig und richtig eingesetzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen aber
auch, daß die Strukturanpassungspolitik des Internatio-
nalen Währungsfonds und der Weltbank nach Kriterien
der Entwicklungsverträglichkeit und der ökologischen
Nachhaltigkeit gestaltet wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich lerne – man und frau lernt ja jeden Tag dazu –, daß
sich die bisherige Bundesregierung darauf beschränkte,
sich zurückzuziehen und anderen Einfluß zu überlassen.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Richtig!)

Nein, wir müssen die Möglichkeiten, die wir haben –
auch unsere finanziellen –, einsetzen, um mit anderen
Partnern die Rolle von IWF und Weltbank aktiver zu ge-
stalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen auch die Gewährung von Exportbürg-
schaften stärker von sozialen, ökologischen und ent-
wicklungsverträglichen Gesichtspunkten abhängig ma-
chen. Es ist heute hier nicht der Ort, die einzelnen
Punkte und Regionen durchzudiskutieren. Und ich ap-
pelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn
das alles Sinn machen soll – und damit wende ich mich
auch an Sie aus den Reihen der CDU/CSU und der
F.D.P. –, was wir von „vorbeugender Politik“ reden,
dann müssen wir dazu beitragen, daß dieses Feld der
Entwicklungspolitik, der wirtschaftlichen Zusammenar-
beit in das Zentrum unserer Politik und nicht an deren
Rand kommt.


(Beifall der Abg. Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dann ist Entwicklungspolitik nicht nur Aufgabe des
Staates, dann geht sie einher mit dem Engagement der
Gesellschaft und der Wirtschaft insgesamt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb sollten wir, so finde ich, überlegen, wie wir
öffentlich-private Partnerschaften entwickeln. Denn es
ist nicht immer nur Aufgabe des Staates, Entwicklungs-
zusammenarbeit zu leisten. Um das Bewußtsein für in-
ternationalen Zusammenhang und Verflechtung zu stär-
ken, ist es ganz wichtig, daß wir die Öffentlichkeits- und
Bildungsarbeit zu diesen Fragen in unserem Land ver-
ankern und dazu die entsprechenden Finanzmittel bereit-
stellen.

Ich freue mich zum Beispiel, Kollegin Ingrid Mat-
thäus-Maier, daß hier in Bonn die entwicklungspoliti-

schen Institutionen gemeinsam ihren Platz finden und
zusammen mit dem zuständigen Ministerium ein Zen-
trum für Nord-Süd-Zusammenarbeit bilden werden. Das
ist eine tolle Rolle, die die Stadt Bonn und die ganze
Region erhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mein Appell geht vor allem an die Nicht-
Regierungsorganisationen. Mit ihnen gemeinsam
wollen wir unsere Arbeit leisten. Denn die Aufgaben,
die vor uns liegen, müssen rechtzeitig angegangen wer-
den. Wir dürfen nicht erst warten, bis die Situation an-
geblich nur noch militärisches Eingreifen zuläßt. Wir
müssen frühzeitig tätig werden.

Dafür sind wir gemeinsam angetreten.
Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400304200
Der
nächste Redner ist Wolfgang Gehrcke von der PDS.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1400304300
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Deutsche Außenpolitik sollte Frie-
denspolitik sein; sie sollte zivile, nichtmilitärische Kon-
fliktlösungen befördern und darauf verzichten, militäri-
sche und ökonomische Stärke zur eigenen internationa-
len Dominanz einzusetzen. Ich glaube, darin könnte sich
eine Mehrheit des Hauses einig sein. Aber deutsche Au-
ßenpolitik sollte auch dazu beitragen, soziale Ungerech-
tigkeiten weltweit zu mindern, nachhaltige Entwicklung
zu fördern, Grenzen durchlässiger zu machen, anstatt
weiter an einer Festung Europa zu bauen und die Men-
schenrechte wirklich unteilbar zu machen.


(Beifall bei der PDS)

Eine solche Außenpolitik läßt sich aber nicht nur mit
„Kontinuität der letzten 16 Jahre“ beschreiben, sondern
bedarf auch des Zusatzes „Veränderung“.

Der Bundesaußenminister hat – wenn ich es richtig
verfolgt habe – seine Politik mit den Worten „Kontinui-
tät als Voraussetzung für Spielräume“ beschrieben. Von
Kontinuität ist heute sehr viel die Rede gewesen – nach
meinem Geschmack viel zuviel Kontinuität. Deswegen
möchte ich etwas über Spielräume nachdenken und über
Spielräume diskutieren.

Im übrigen, glaube ich, darf man sich kein falsches
Bild von Rotgrün machen. Wenn Rotgrün so wäre, wie
Herr Glos es hier dargestellt hat, wäre mir diese Koali-
tion sehr viel sympathischer. Aber dem ist leider nicht
so.


(Beifall bei der PDS)

Wenn wir über Spielräume, über Gestaltungsräume

nachdenken, können wir als Beispiel Chile nehmen. Im
Unterschied zu seinen Vorgängern sagte der Bundesau-
ßenminister, daß er den chilenischen Diktator Pinochet

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul






(B)



(A) (C)



(D)


gern vor Gericht sähe. Für diese Haltung bedanke ich
mich bei Ihnen ausdrücklich, Herr Bundesaußenmini-
ster.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Sie könnte einen Bruch mit der konjunkturellen Men-
schenrechtspolitik der alten Regierung einleiten. Ich
möchte gern davon ausgehen, daß die neue Regierung
auch bereit ist, die Menschenrechte – zum Beispiel das
Recht des kurdischen Volkes auf Selbstbestimmung ge-
gen den NATO-Verbündeten Türkei – zu verteidigen
und einzuklagen.


(Beifall bei der PDS)

Die Regierungskoalition hat verbal Abrüstung ange-

kündigt. Doch wer Abrüstung will, kann den Wehretat
nicht zum Naturreservat erklären. Sagen Sie doch ein-
fach und deutlich, daß die Rüstungsindustrie unsicheren
Zeiten entgegengeht. Setzen Sie Signale: Stoppen Sie
die Tiefflüge der Bundeswehr, zum Beispiel die
Übungsflüge für Bombenabwürfe in der Wittstocker
Freien Heide. Die Menschen wehren sich gegen den
Mißbrauch ihrer Landschaft, wie sie sich schon zu
DDR-Zeiten dagegen gewehrt haben.

Lassen Sie Ihrer Ankündigung, Bemühungen zur
Schaffung atomwaffenfreier Zonen zu unterstützen,
konkrete Schritte folgen in Richtung einer atomwaffen-
freien Zone in Mitteleuropa.

Ich finde auch, daß der Verzicht auf ABC-Waffen ins
Grundgesetz gehört.


(Beifall bei der PDS)

Neue Gestaltungsräume in der Außenpolitik würden

auch die Kontrolle internationaler Währungs- und
Finanzspekulationen eröffnen. Nachdenken sollten wir
zum Beispiel auch über die Tobin-Steuer als marktge-
rechtes Instrument zur Umsteuerung: weg von kurzfri-
stigen Spekulationen hin zu investiven Kapitalanlagen,
zur Produktion, zur Nachhaltigkeit und zur Entschul-
dung der armen Länder.

Ich fand es enttäuschend, daß der Bundeskanzler in
seiner Regierungserklärung davon gesprochen hat, den
Abwärtstrend der Entwicklungshilfe zu stoppen. Das ist
zuwenig. Diesen Abwärtstrend muß man nicht nur stop-
pen, sondern man muß ihn umdrehen, damit man end-
lich Ergebnisse erhält, die insgesamt akzeptabel sind.


(Beifall bei der PDS)

In der Kosovo-Frage – unabhängig davon, daß wir

prinzipiell gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr sind
und bleiben – erwarten wir im Moment nicht mehr und
nicht weniger von der Regierungskoalition, als daß sie
ihre eigene Koalitionsvereinbarung so ernst nimmt, wie
wir sie ernst nehmen wollen.

Ich darf aus der Koalitionsvereinbarung zitieren,
wenn das auch zu Lasten meiner Redezeit geht:

Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnah-
men zur Wahrung des Weltfriedens und der inter-
nationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völ-
kerrechts und des deutschen Verfassungsrechts ge-

bunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv
dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten
Nationen zu bewahren und die Rolle des General-
sekretärs der Vereinten Nationen zu stärken.

Der Beschluß des 13. Deutschen Bundestages zum
NATO-Kosovo-Einsatz, Ihre Zustimmung zur Selbst-
mandatierung der NATO, verstößt aus unserer Sicht
eindeutig gegen das Völkerrecht, verletzt eindeutig das
Verfassungsrecht unseres Landes und hat das Gewalt-
monopol der UNO ausgehebelt. Es ist zumindest um-
stritten, ob die UN-Resolution zur Stationierung von
Aufklärungskontingenten das völkerrechtlich abdeckt.
Auf alle Fälle sind es Einsätze im Rahmen der NATO.
In der nächsten Woche werden Sie von uns verlangen,
Kampfeinheiten in Mazedonien zu stationieren.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400304400
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1400304500
Danke sehr.
Die Entsendung nichtmilitärischer OSZE-Kontin-

gente haben wir begrüßt. Dieser Einsatz wird aber ent-
wertet, wenn die NATO als militärisch dominante Kraft
die Fäden zieht.


(Bundesminister Joseph Fischer: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Diesem falschen Weg verweigern wir unsere Zu-
stimmung. Ihn werden wir nicht mitgehen, auch wenn
die Einladung vom Kollegen Scharping, mitzumachen,
einfach und freundlich gewesen ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der PDS – Bundesminister Joseph Fischer: Wir machen eine Meck-PommBrigade!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400304600
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis
90/Die Grünen.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1400304700
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vertei-
digungsminister Scharping hat vorhin in einer sehr um-
fassenden Rede vergessen, den letzten Satz zu sagen.
Man könnte ihn bezeichnend zusammenfassen: Deut-
sche Politik ist Friedenspolitik.

Genau dieser Satz steht auch in den Koalitionsverein-
barungen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD. Mit
Verlaub, Herr Rühe: Daß Sie das nicht nachvollziehen
können, Sie, der mit Rambo-Methoden die Bundeswehr
über Jahre für sich selbst instrumentalisiert hat, oder die-
sem Ansatz intellektuell vielleicht nicht folgen können,
erstaunt mich nicht.

Die neue Bundesregierung wird in der Außen- und
Sicherheitspolitik neue Wege beschreiten. Wir haben
festgelegt, daß dies im Rahmen der internationalen Ver-
träge und der transatlantischen und europäischen Inte-

Wolfgang Gehrcke






(A) (C)



(B) (D)


gration geschehen wird, daß wir Kontinuität auch in der
Außenpolitik als die Grundlage für Wandel betrachten.
Kontinuität – ich weiß, dieses Wort ist heute oft gefal-
len, aber ich werde es noch einmal erwähnen.

Was heißt Kontinuität für diese neue Regierung?
Kontinuität heißt für uns: Wir werden keine nationalen
Alleingänge vornehmen, sondern weiter auf Integration
und Kooperation setzen. Kontinuität heißt auch: Wir
sind für feste Verankerung des internationalen Gewalt-
monopols bei den Vereinten Nationen. Wir werden uns
unter Anerkennung der gültigen NATO-Verträge sehr
strittig in die Diskussion um die Veränderung der
NATO-Strategie einmischen und einer generellen Klau-
sel zur Selbstmandatierung der NATO nicht das Wort
reden wie Sie, Herr Rühe, sondern versuchen, diese
Umorientierung der NATO anders zu bewegen.

Wir werden in der Kontinuität eine konsequente Si-
cherheits- und Friedenspolitik für Europa unter der Ma-
xime „OSZE first“ praktizieren, nicht mehr nur als Lip-
penbekenntnis, sondern in der Praxis.

Ich will aber auch sagen, was Kontinuität der Außen-
und Sicherheitspolitik für uns nicht bedeutet. Sie be-
deutet nicht die Fortsetzung des Denk- und Diskussions-
verbotes, das der ehemalige Bundesminister der Vertei-
digung erlassen hat. Sie bedeutet nicht, jahrelange Men-
schenrechtsverletzung von diktatorischen Regimen mit
zugekniffenen Augen geschehen zu lassen, sondern be-
deutet, eine präventive Krisenbewältigungspolitik zu
entwickeln und dort zu implementieren, wo die Würde
der Menschen verletzt wird.

Kontinuität heißt auch nicht, weiterhin Rüstungsex-
porte in Länder zuzulassen, die krisengeplagt sind, die
Menschenrechte mit Füßen treten. Wir werden zukünftig
vielmehr auf der Grundlage des Menschenrechtsstan-
dards unsere Rüstungsexporte bewerten bzw. einschrän-
ken und einstellen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400304800
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1400304900
Ja,
bitte.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1400305000
Frau Kollegin Beer, da
Sie von Kontinuität sprechen, darf ich fragen – vielleicht
kommt es noch in Ihrer Rede –, ob Sie in Ihrer eigenen
Politik ebenfalls Kontinuität haben werden, zum Bei-
spiel in Ihrer Kritik an den öffentlichen Gelöbnisfeiern
wie in Kiel. Ich darf mit meiner Frage das verbinden,
was in den „Kieler Nachrichten“ stand. Ich wäre Ihnen
für eine Auskunft dankbar, ob es erstens stimmt, was die
„Kieler Nachrichten“ zur öffentlichen Gelöbnisfeier in
Kiel und Ihren Aussagen dazu geschrieben haben, und
ob Sie zweitens als Mitglieder einer der die Regie-
rungskoalition tragenden Fraktionen dabei bleiben wer-
den.

Die „Kieler Nachrichten“ schreiben:
. . . Angelika Beer sprach von einer „aggressiven
militärischen Demonstration“, für die „öffentlicher
Raum beschlagnahmt wird.“ Gemeinsam mit dem
Bündnis der Gelöbnisgegner sprach sie sich für
Störungen der Feier aus . . .

Werden Sie das auch zukünftig machen?

(Zurufe von der CDU/CSU: Ungeheuer! Un glaublich!)



Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1400305100
Jetzt
haben Sie mich echt erwischt.


(Bundesminister Joseph Fischer: Angelika, Angelika!)


Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Das gehört zu dem
Bereich, zu dem ich sage: Kontinuität werden wir in die-
ser Form nicht weiterführen.

Die Instrumentalisierung der Bundeswehr, auf dem
Rücken der Rekruten Wahlkampf zu machen, mit
Zwang und politischem Druck in diversen Städten in
den Wahlmonaten öffentliche Gelöbnisse abzuhalten –
ich rede auch zu Ihnen, Herr Kollege Rühe –, diese Zeit
der Kontinuität ist beendet. Wir werden keinen Wahl-
kampf mit der Bundeswehr machen, sondern wir werden
die Bundeswehr in einen Dialog einbeziehen.

Wir werden kritische Stimmen aus der Bundeswehr
unterstützen, daß man sich mißbraucht fühle, nicht nur
durch jene Art der öffentlichen Gelöbnisse, wie zum
Beispiel in Kiel oder in Berlin, sondern auch durch die
Plakatierung von Soldaten im Wahlkampf, mit der alle
anderen demokratischen Parteien aus der Friedenspolitik
ausgegrenzt werden. Dieser Art werden wir auch zu-
künftig Proteste entgegenstellen, wie immer friedlich
und phantasievoll. Ich kann Sie beruhigen: Unter diesem
Verteidigungsminister wird das Szenario Ihres Kollegen
Rühe mit Sicherheit nicht Wirklichkeit werden. Hierzu
wird es nur kommen, wenn es sicherheitspolitisch und
als Signal in der Außenpolitik einen Sinn macht, aber
nicht, um die eigene politische Karriere zu formulieren.
Das hat der Kollege Scharping nicht nötig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte noch einmal auf die Frage der Rüstungs-
exporte zurückkommen. Herr Gehrcke, Sie haben die
Türkei genannt und gefragt: Wann wird die Koalition
gegen die Türkei die Menschenrechte der Kurden durch-
setzen? Ich glaube, es ist falsch, zu sagen: „gegen die
Türkei“. Wir müssen mit der türkischen Bevölkerung
die Anerkennung der Menschenrechte der kurdischen
Bevölkerung durchsetzen. Dazu gehört es natürlich, dem
türkischen Militär nicht weiter militärische Güter und
Waffen zur Verfügung zu stellen, dazu gehört auch eine
kritische Positionierung nicht nur zur Einhaltung der
Menschenrechte und zur engeren Kooperation mit der
Europäischen Union, sondern dazu gehört es auch, die
zivile Kontrolle über das türkische Militär durchzuset-
zen. Denn nur dann werden die Rechte des kurdischen
Volkes Anerkennung finden.

Angelika Beer






(B)



(A) (C)



(D)


Ich möchte noch zwei Bereiche ansprechen, die wir
für unabdingbar halten und die ein Zeichen setzen für
die zukünftige Sicherheits- und Außenpolitik.

Erstens möchte ich sagen: Wir stehen vor einer glo-
balen Herausforderung hinsichtlich der Abrüstung. Wie
kann zum Beispiel das KSE-Regime weiterentwickelt
werden? Welche Anstöße braucht der stagnierende ato-
mare Abrüstungsprozeß gerade angesichts der Ver-
handlungen vor den Vereinten Nationen? Wie kann er-
reicht werden, daß wir endlich international zu einem
Verbot aller Landminen kommen? Wie können wir die-
sen Prozeß weiterentwickeln und international tragfähig
machen? Wie reagieren wir auf die Herausforderungen
der neuen technologischen Entwicklungen in bezug auf
die Dual-use-Problematik und die Früherkennung von
möglichen Rüstungswettläufen? Wie also können wir
präventive Rüstungskontrolle zum Bestandteil aktiver
Politik machen?

Dies sind die zentralen Bereiche und Herausforde-
rungen. Wir werden die Praxis und unsere Verantwor-
tung daran messen. Wir werden – das haben wir uns
gemeinsam vorgenommen – dieser Herausforderung mit
offenem Gesicht entgegengehen.

Der zweite Bereich sind die zivile Konfliktbearbei-
tung – Kollege Scharping hat dies bereits genannt – und
die Frage des Aufbaues der Krisenprävention. Es ist
das erste Mal, daß sich Deutschland an Peace-keeping
und an Peace-building beteiligen wird. Wir werden
„Schüler helfen leben“, zivile Friedensdienste fördern,
um eben, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist, zu
zeigen, daß wir aufmerksam sind, daß wir reagieren, daß
wir agieren, daß wir international intervenieren, unter-
halb der militärischen Schwelle. Das ist doch das Defizit
der Politik gewesen, die Sie, Herr Rühe, in den letzten
Jahren mitzuverantworten hatten.

Zum Schluß möchte ich auf den Kosovo eingehen.
Der Kosovo hat uns hier schon mehrmals beschäftigt,
allerdings viel zu spät. Die Opposition – SPD wie Grü-
ne – hat vor zehn Jahren die ersten Anträge eingebracht,
um auf die massivsten Menschenrechtsverletzungen im
Kosovo hinzuweisen.
Während der Dayton-Verhandlungen hat die damalige
Opposition darauf hingewiesen, daß im Kosovo ein ge-
fährlicher Konfliktherd entsteht. Es gab nichts als Arro-
ganz und einen Aktenzerreißer auf der Hardthöhe, der
gesagt hat: Interessiert uns nicht.

Der letzte Beschluß zum Kosovo war ein Bruch in
der Kontinuität der bisherigen Außenpolitik, weil er
nicht auf eindeutiger Grundlage der Vereinten Nationen
gefaßt worden ist. Aber ich sage auch – das sage ich
auch als Vertreterin der Grünen-Fraktion –: Wir werden
wohlwissend um die Defizite der Vergangenheit heute
die Verantwortung übernehmen. Es werden weder die
dort lebenden Menschen noch jene, die im Rahmen der
OSZE dort eingesetzt werden, für eine unverantwortli-
che Politik zu büßen haben, die die bisherige Regierung
zu verantworten hat.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Absolut alberner Quatsch!)


Wir werden dem Abkommen, das heißt der OSZE-
Delegation und der Luftüberwachung, zustimmen, mehr
noch: Wir werden uns dafür einsetzen, daß Mittel freige-
stellt werden, damit wir im Rahmen des Open-Skies-
Vertrages wieder eine Tupolew oder ein anderes Flug-
zeug einsetzen können, um im präventiven Bereich eine
aktive OSZE-Politik zu betreiben. Sie, Herr Rühe, haben
das Geld dafür verweigert.

Wir werden auch einem Mandat für einen militäri-
schen Einsatz zustimmen, den wir hoffentlich verhin-
dern können; denn wenn wir mutige Zivilisten haben,
die sagen, daß sie ohne Waffen in diese Region hinein-
gehen, wo auch heute noch jeden Tag Auseinanderset-
zungen stattfinden, dann haben Sie das Recht und wir
die Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Menschen, wenn
Milosevic oder andere wieder ihr Wort brechen, gerettet
werden. Das ist die Verantwortung, vor der wir stehen.
Deswegen werden wir dem Einsatz auch zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum Ende noch eine Bemerkung, Herr Kollege Rühe.

Ich will nicht zuviel Zeit auf Ihre Beiträge, die heute re-
lativ substanzlos waren, verwenden. Sie werden es nicht
schaffen, die neue Koalition in der Frage der Kommissi-
on, die die Zukunft der Bundeswehr, die politischen
Aufgaben, die Struktur und die Ausrüstung für das
21. Jahrhundert bestimmen wird, zu spalten. Wir werden
ein Ergebnis haben, auch wenn das Ergebnis heute offen
ist. Das Ergebnis wird das sein, was Sie immer verhin-
dert haben: Es wird darin bestehen, daß der Bundeswehr
eine Struktur und ein Auftrag gegeben werden, die nicht
nur vom Verteidigungsminister, sondern auch von der
Bundeswehr selber, von dem Parlament, also von der
Politik, und von der Gesellschaft getragen werden; denn
nur so können wir auf die Herausforderungen des
21. Jahrhunderts eine verläßliche Antwort geben. Darum
werden wir uns gemeinsam bemühen. Da können Sie
querschlagen, wie Sie wollen. Diese Zeiten sind vorbei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400305200
Das
Wort hat der Kollege Gernot Erler von der SPD.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1400305300
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! In der Debatte war mehrfach
von dem Grundkonsens in der Außen- und Sicher-
heitspolitik die Rede. Ich möchte eines hier klarstellen:
Man kann sich mit der Interpretation von verschiedenen
Teilen des Hauses nicht einverstanden erklären, daß
ein solcher Grundkonsens etwa signalisiere, daß es einer
neuen Regierung an Innovation und an Ideen mangele
oder daß sie pauschal alles, was bisher gewesen ist, gut-
heiße.

Aus meiner Sicht ist ein möglichst breiter Grundkon-
ses in der Außen- und Sicherheitspolitik ein Signum ei-
nes zivilisierten, demokratischen Staatswesens.


(Beifall bei der SPD)


Angelika Beer






(A) (C)



(B) (D)


Es lohnt sich, auf jeden Fall große Anstrengungen zu
unternehmen, um daran festzuhalten. Ich will eines
gleich anfügen: Das Bemühen um diesen Grundkonsens
ist wesentlich auch Aufgabe der Opposition. Darum ha-
ben wir uns in den letzten Jahren in der Opposition be-
müht. Es gibt jetzt auch eine Bringschuld von Ihnen,
sich um diesen Grundkonsens zu bemühen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Kontinuität besteht nicht nur in der Arbeit um Ver-

trauen im Ausland; vielmehr gibt es auch Spielräume
– auch das steht in der Koalitionsvereinbarung – in der
Kontinuität für neue Initiativen und für neue Impulse.

Ich möchte hier drei Felder nennen, die mir sehr
wichtig erscheinen: Das erste ist das, was ich den ge-
samteuropäischen Integrationsprozeß nennen möchte,
bestehend aus dem Erweiterungsprozeß der Europäi-
schen Union und dem der westlichen Allianz, der
NATO. Was noch nicht alle genügend gespürt haben, so
glaube ich, ist, daß 1998 in dem gesamteuropäischen
Integrationsprozeß eine neue Phase begonnen hat. Defi-
nitiv geht eine Phase zu Ende, in der es möglich und
auch üblich war, in die Hauptstädte der Transformati-
onsstaaten zu fahren und dort wohlwollende Bekennt-
nisse abzugeben. Dadurch konnte man sehr preiswert
Zustimmung und populäre Erfolge erringen, aber ohne
eine dahinterstehende Substanz. Diese Phase geht defi-
nitiv zu Ende, denn seit mehreren Monaten läuft die
Vorverhandlungsphase. Jetzt – buchstäblich heute – be-
ginnt offiziell die Verhandlungsphase gleich zu solch
wichtigen Themen wie Telekommunikation, Bildung,
Wissenschaft, Forschung, Industriepolitik und anderem,
insgesamt zu sieben verschiedenen Kapiteln.

Ende letzter Woche sind uns die ersten der soge-
nannten Fortschrittsberichte der Europäischen
Kommission vorgelegt worden. Das heißt, jetzt wird die
Frage der Anpassungsleistung der Transformationsstaa-
ten objektiviert. Das ist eine neue Phase, denn jetzt wird
das konkret gemessen, was man Strukturreife nennt. Das
ist eine immense Arbeit dieser Transformationsstaaten,
die, was ihre marktwirtschaftliche Reife angeht, ord-
nungspolitische Kriterien vorweisen müssen, die zeigen
müssen, ob sie es schon geschafft haben, die 200 000
Seiten Text der Rechtsangleichung mit mehr als 14 000
Rechtsakten übernommen und an ihre Gesellschaft an-
gepaßt zu haben, und die zeigen müssen, ob sie gesamt-
wirtschaftliche und monetäre Stabilität haben – sogar in
Richtung der Maastricht-Kriterien.

Diese Fortschrittsberichte zeigen erhebliche Fort-
schritte der betroffenen Länder, aber eben auch erhebli-
che Entwicklungsrückstände, die sehr ernst zu nehmen
sind. Dazu nur eine Zahl: Die fünf in der ersten Reihe
stehenden mittel- und osteuropäischen Staaten, mit de-
nen jetzt konkret verhandelt wird, bringen bisher mit
180 Milliarden Ecu 2,8 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts der Europäischen Union auf. Sie stellen aber
gleichzeitig 62,6 Millionen Menschen und damit
16,8 Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union.
In diesen Zahlen liegt eine enorme Spannung, denn
darin spiegelt sich der riesige Abstand des Lebens-
niveaus, das sich aus Pro-Kopf-Einkommen und Kauf-

kraft definiert. Noch immer liegen alle Beitrittsaspiran-
ten aus Mittel- und Osteuropa weit hinter den schwäch-
sten Mitgliedern der Europäischen Union. Estland zum
Beispiel, ein vielgelobtes Reformland, erreicht nicht
mehr als 22 Prozent des Durchschnittsniveaus der EU,
Slowenien nicht mehr als 59 Prozent. Das heißt, daß ein
Aufholen dieser Einkommensrückstände notwendig und
wichtig ist, weil in der EU bis heute das Prinzip der
Struktur- und Kohäsionsfonds gilt, das greifen muß,
wenn die Abstände bei Regionen weniger als 75 Pro-
zent, bei Ländern sogar weniger als 90 Prozent betragen.

In den letzten beiden Jahren wurden für diese Fonds
durchschnittlich 35 Milliarden Ecu aufgewandt. Man hat
ausgerechnet, daß, wenn heute die erste, die fortge-
schrittene Gruppe, mit der im Moment verhandelt wird,
der EU beitreten würde, Ausgleichszahlungen von 20
bis 45 Milliarden Ecu notwendig wären. Das ist eine
Verdoppelung dieses Etats – völlig unrealistisch und
politisch auch gar nicht durchsetzbar.

Das heißt, wir haben eine neue Phase. Denn jetzt geht
es darum, zu fragen: Wie greifen die konkreten Anpas-
sungshilfen, zum Beispiel die aus dem Heranfüh-
rungstopf von 22 Milliarden Ecu? Was tun wir denn
konkret, um in der sogenannten Beitrittspartnerschaft
auch in der zweiten Fünfergruppe die Anpassung mit der
sogenannten Aufholfazilität zu unterstützen, die schon
viel bescheidener ist, nämlich 100 Millionen Ecu für
zwei Jahre? Man hört leider, daß sich diese Programme
trotz dieser Bemühungen verzögern. Da habe ich eine
andere Auffassung als Sie, Herr Rühe. Ich glaube nicht,
daß man Herrn Fischer raten sollte, mit neuen, erfunde-
nen Beitrittszahlen zu operieren. Diese Zeit geht zu En-
de. Statt gebetsmühlenhaft abstrakte Unterstützung zu
versichern und dafür kostenlos Beifall einzuheimsen,
müssen wir jetzt zeigen, daß wir bereit sind, die Ärmel
in der Europäischen Union aufzukrempeln, um die Län-
der auf diesem schwierigen Weg zu Gleichrangigkeit
und vor allen Dingen Wettbewerbsfähigkeit konkret zu
unterstützen. Das – nicht die abstrakte Nennung von
Beitrittsdaten – ist die Herausforderung des Tages.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu gehört übrigens auch, daß endlich – dazu muß

die Bundesrepublik einen konkreten Beitrag leisten – die
Hausaufgaben der Europäischen Union gemacht werden.
Es ist noch gar nicht erreicht, daß wir selber, die 15, tat-
sächlich integrationsfähig sind. Hier muß noch vieles in
den Entscheidungsgremien geändert werden. Zum Bei-
spiel muß der ganze Bereich des Agrarmarkts geändert
und reformiert werden; sonst besteht dort keinerlei Inte-
grationsfähigkeit. Das Ziel muß dabei sein, daß neue
Grenzziehungen durch Europa verhindert werden. Der
Abstand im Geleitzug bei der europäischen Integration
darf nicht zu groß werden. Die Warnsignale aus Südost-
europa teilen uns mit, wie wichtig das ist.

Ein zweiter Punkt, wo neue Impulse notwendig sind:
Ich glaube, wir müssen unsere Politik gegenüber der
Russischen Föderation kritisch überprüfen. Die Bezie-
hungen müssen eine breitere Grundlage bekommen. Das
sagen uns auch viele Fachleute. Ich will hier nicht die
alte Frage aufwerfen, wie wichtig ganz persönliche Be-

Gernot Erler






(B)



(A) (C)



(D)


ziehungen zwischen zwei ganz wichtigen Personen wa-
ren und sind. Sie hatten sehr positive Seiten. Aber jetzt
ist es an der Zeit, die Beziehungen zu diesem wichtigen
Nachbarn auf eine andere, auf eine breitere Grundlage
zu stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen die Stimmen derjenigen, die aus der

Staatsduma und aus dem Föderationsrat kommen, auf-
greifen, die sagen, daß sie gerne engere Beziehungen
mit dem Deutschen Bundestag, vor allen Dingen auf der
fachlichen Ebene, haben wollen. Wir müssen auch zur
Kenntnis nehmen, daß es heute ganz andere wirtschaftli-
che und gesellschaftliche Kräfte mit großem Einfluß in
einem sich ändernden politischen System in Rußland
gibt, die uns herausfordern. Wir müssen aber auch die
Politik der internationalen Finanzorganisationen, von
IWF und Weltbank, auf ihren Sinn und ihre Wirksam-
keit überprüfen. Da erscheinen gerade in diesem Jahr
große Fragezeichen.

Es gibt – auch das ist etwas, was wir als Regierung in
der neuen Legislaturperiode übernommen haben – eine
Baustelle, was die Erfüllung der sehr wichtigen NATO-
Rußland-Grundakte angeht. Es gibt einen positiven
Aspekt: Die Zusammenarbeit in dem Ständigen Ge-
meinsamen Rat funktioniert gut. Aber in der Akte stand
auch etwas über KSE und über eine neue Rolle der OS-
ZE. Gerade das ist noch nicht erfüllt. Es handelt sich
um ein dickes Paket von innovativen Aufgaben in
der Außen- und Sicherheitspolitik für die nächsten
Jahre.

Ich komme zu einem dritten Punkt, den man unter
dem Stichwort „präventive Friedenspolitik“ zusam-
menfassen kann. Ich sage noch einmal: Das, was in
Südosteuropa, was in Albanien, was jetzt im Kosovo
passiert, zeigt eben leider, daß die Instrumente, die wir
hier geschaffen haben, noch nicht ausreichen. Abrüstung
ist auch heute noch kein Thema von gestern. Die Atom-
waffentests in Indien und Pakistan waren für uns eine
Warnung, daß Nichtverbreitungsziele und die Eigenver-
pflichtung zu Abrüstung der offiziellen Atommächte
siamesische Zwillinge sind und daß man dies gar nicht
unabhängig voneinander behandeln kann.

Es ist auch klar – das ist wichtig –, daß die Rüstungs-
kontrolle und die Rüstungsexportpolitik einer strengen
Kontrolle dieses Parlaments bedürfen. Ich kann die Aus-
sage in der Koalitionsvereinbarung nur begrüßen, daß
ein Instrument, mit dem wir bei der Abrüstung gute Er-
fahrung gemacht haben, nämlich der Jahresabrüstungs-
bericht, jetzt auch durch einen jährlichen Rüstungsex-
portbericht ergänzt werden soll.

Ich persönlich bin ein bißchen besorgt. Es ist gut, daß
die NATO jetzt in der Kosovo-Krise innerhalb von we-
nigen Wochen die Fähigkeit demonstriert hat, eine
glaubwürdige Bedrohung gegenüber Herrn Milosevic
aufzubauen, bis hin zur Einsatzfähigkeit von 450
Kampfflugzeugen. Das hat nur wenige Wochen gedau-
ert. Es ist gut, daß es diese Möglichkeit gibt. Aber der
zweite Teil, den auch Sie, Herr Rühe, und andere hier
angeführt haben und den auch Rudolf Scharping, der

Verteidigungsminister, sehr ausführlich beschrieben hat,
ist genauso wichtig. Es geht zum Beispiel um die Fähig-
keit, die Einhaltung dieser Verträge zu beobachten und
zu kontrollieren. Da stellen wir eben fest, daß die OSZE
offensichtlich nicht die Möglichkeit hat, in kürzester
Frist eine bescheidenere Aufgabe wahrzunehmen, näm-
lich 2 000 Beobachter in Gang zu setzen. Hier wird also
deutlich, daß wir die Fähigkeit der Organisation für Si-
cherheit und Zusammenarbeit in Europa, solche Aufga-
ben tatsächlich wahrzunehmen, bis hin zu den Instru-
menten ausbauen müssen. Nur die Kombination dieser
beiden Elemente führt schließlich zum Erfolg.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Hinsichtlich der Entwicklungszusammenarbeit, liebe

Kolleginnen und Kollegen, kann ich mich kurz fassen,
weil Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul schon eini-
ges dazu gesagt hat. Bei der Entwicklungszusammenar-
beit handelt es sich, sehen wir einmal von der Soforthil-
fe ab, die in diesen Tagen wieder erforderlich wird,
letztlich auch um die wirksamste globale präventive
Friedenspolitik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Koalitionsvereinbarung bekennt sich – das betone
ich noch einmal ausdrücklich auch in Richtung von
Herrn Gehrcke, der hier Zweifel geäußert hat – zu dem
Ziel, den Aufwand für die Entwicklungszusammenarbeit
auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben,
und verspricht, die Verpflichtungsermächtigung konti-
nuierlich zu erhöhen. Wir werden als Bundestag darauf
achten, daß das auch so durchgesetzt wird.

Entscheidend ist, daß die Entwicklungszusammenar-
beit nicht eine Art Wettbewerbsinstrument für bessere
Außenwirtschaftsdaten der Bundesrepublik ist, sondern
wirklich in den Kontext der Bildung einer gerechten
Weltwirtschaftsordnung gesetzt wird. Die Lehre der
Globalisierung heute heißt, daß es keine Inseln von Pro-
sperität und Sicherheit mehr geben kann, sondern daß
wir bei globalisierten Märkten davon abhängig sind, ob
Gerechtigkeit überall herrscht oder nicht. Anderenfalls
fällt die Ungerechtigkeit auf uns zurück: Wenn ganze
Weltregionen marginalisiert werden, dann ist auch bei
uns Marginalisierung nicht mehr aufzuhalten. Es stellt
eine sehr große Herausforderung dar, diesen Zusam-
menhang zu begreifen und in konkrete Politik umzuset-
zen.

Das sind nur drei Beispiele von gestalteter Kontinui-
tät in der Außenpolitik.

Auf dieser Seite des Hauses sitzen viele erfahrene
Leute. Vorhin saß hier noch Herr Kinkel. Jetzt sitzt hier
noch Herr Rühe. Ich sehe auch noch andere kompetente
Leute, zum Beispiel den Kollegen Dr. Pflüger, mit dem
wir und ich persönlich sehr gut in Abrüstungsfragen zu-
sammengearbeitet haben. Ich greife die Bemerkungen
über den Sinn eines Grundkonsenses in der Außen- und
Sicherheitspolitik auf: Wir bieten Ihnen an, diese
schwierigen Aufgaben gemeinsam anzunehmen, und
wollen dabei auch sehr gerne von Ihren Erfahrungen und

Gernot Erler






(A) (C)



(B) (D)


Kenntnissen profitieren und in diesem Sinne zusammen-
arbeiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400305400
Als
letzter Redner hat der Kollege Rudolf Bindig von der
SPD das Wort.


Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1400305500
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! In der Koalitionsvereinba-
rung heißt es zum Thema Menschenrechtspolitik:

Achtung und Verwirklichung der in der Allgemei-
nen Erklärung der Menschenrechte proklamierten
und in den Menschenrechtsverträgen festgeschrie-
benen Menschenrechte sind Leitlinien für die ge-
samte internationale Politik der Bundesregierung.

Ich freue mich, daß aus den Reden mehrerer Regie-
rungsmitglieder heute bereits hervorgegangen ist, daß
sie ihre Politik wirklich unter diese Leitlinie stellen
wollen. Das gilt für den Außenminister, für den Vertei-
digungsminister und auch für die Entwicklungsministe-
rin.

Menschenrechtsarbeit erfordert sicherlich zunächst
einmal Betroffenheit. Man muß sich darüber empören
können, daß es Verfolgung und Unterdrückung gibt,
aber auch darüber, daß es Armut und Not auf der Welt
gibt. Der Satz, der heute hier schon mehrfach zitiert
worden ist, gilt in besonderem Maße für die Menschen-
rechte: Was du nicht willst, daß man dir tu‘, das füg‘
auch keinem andern zu. Bei den Menschenrechten
müßte es vielleicht besser heißen: Laß‘ nicht zu, daß an-
dere gequält und unterdrückt werden, daß andere in Not
und Elend leben müssen, denn so willst auch du nicht
behandelt werden.

Aber Menschenrechtsarbeit darf nicht bei der Betrof-
fenheit und der Kritik stehenbleiben. Menschenrechtsar-
beit muß sich insbesondere darauf ausrichten, zu überle-
gen, wo wir denn, wenn die Situation so schlecht ist, wie
sie ist, Ansatzpunkte finden können, um etwas zu verän-
dern und zu verbessern. Da müssen immer wieder neue
Initiativen ergriffen werden.

Zwei wichtige Neuerungen hat es im Zusammenhang
mit der Bildung dieser Koalition gegeben, für die wir
lange Jahre gearbeitet haben. Es wurde beschlossen, im
Deutschen Bundestag einen ordentlichen Ausschuß für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe einzusetzen.
Damit wird deutlich, daß wir dem Menschenrechtsbe-
reich wachsende Bedeutung zumessen. Bis 1987 sind
diese Fragen zusammen mit der Außenpolitik, mit der
Innen- und bei Rechtspolitik diskutiert worden. Von
1987 bis 1998 hat es einen Unterausschuß für Men-
schenrechte und humanitäre Hilfe des Auswärtigen Aus-
schusses gegeben. Jetzt richten wir diesen ordentlichen
Ausschuß ein.

Wir haben damit diesen Bereich im Deutschen Bun-
destag als einen eigenständigen Politikbereich etabliert;
dennoch müssen hier Querschnittsaufgaben wahrge-
nommen werden. Das ist wichtig. Das genaue Aufga-
benfeld für diesen Ausschuß wird sich aus der prakti-
schen Arbeit ergeben. Ich kann mir gut vorstellen, daß er
sich mit Fragen der Weiterentwicklung der internatio-
nalen und nationalen Instrumente des Menschenrechts-
schutzes und der deutschen Menschenrechtspolitik im
multilateralen und bilateralen Rahmen, mit den men-
schenrechtsrelevanten Aspekten der Außen- und Sicher-
heitspolitik, der Wirtschafts- und Außenwirtschaftspoli-
tik sowie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aber
auch mit den menschenrechtsrelevanten Aspekten der
Asyl- und Flüchtlingspolitik und schließlich mit Fragen
der humanitären Hilfe beschäftigt.

Eine zweite Maßnahme wurde beschlossen: Die Bun-
desregierung soll die Einrichtung eines politisch unab-
hängigen und organisatorisch eigenständigen Men-
schenrechtsinstituts in Deutschland unterstützen. Die
alte Mehrheit konnte sich dazu noch nicht durchringen.
Sie wollte einen Koordinierungsrat gründen. Wir haben
dagegen gesagt, daß schon im Vorfeld, um eine bessere
Zuarbeit zu erhalten, ein Instrument geschaffen werden
muß, welches mit den Nichtregierungsorganisationen
zusammenarbeiten und Politikberatung vornehmen
kann. Dieses wird jetzt geschaffen werden.


(Beifall bei der SPD)

Eine operativ angelegte Menschenrechtspolitik ist un-

serer Auffassung nach Ausdruck der Bereitschaft zur
globalen zivilen Verantwortung. Wir müssen die Men-
schenrechtsfrage mit der Globalisierungsdebatte verbin-
den. Menschenrechte sind das globale Ethos, nach dem
immer gefragt wird. Was in der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte und in den internationalen Men-
schenrechtspakten festgelegt ist, kann der Maßstab für
eine wertorientierte Zielsetzung der gesamten interna-
tionalen Friedenspolitik werden.

Wichtig ist neben der Entwicklung der politischen In-
strumente aber auch die Förderung der Verrechtlichung
der Menschenrechte. Im System des Europarates ist hier
ein wichtiger Fortschritt erreicht worden. Ab November
arbeitet der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte als ständiger Gerichtshof mit hauptamtlichen
Richtern. Die bisherige Mischung eines politisch admi-
nistrativen Verfahrens mit einem rechtlichen Verfahren
weicht einem hauptsächlich rechtlichen Verfahren. Dies
ist ein Durchbruch im Völkerrecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist wirklich ein historisches Ereignis gewesen, daß
sich 40 Länder direkt und unmittelbar der Rechtspre-
chung eines übernationalen Gerichtes unterwerfen.

Bis es beim Internationalen Strafgerichtshof soweit
ist, wird es noch einige Zeit dauern. Hier geht es jetzt
darum, die Ratifizierung voranzubringen. Wir werden
uns darum intensiv bemühen müssen. Wir wollen auch
UN-Institutionen weiter stärken: den UN-Hochkommis-
sar für Menschenrechte und das Menschenrechtszentrum

Gernot Erler






(B)



(A) (C)



(D)


in Genf. Hier geht es vor allen Dingen darum, Feld-
operationen wie die Einrichtung von Menschenrechts-
büros zu unterstützen. Im Rahmen des Europarates geht
es darum, das Mandat des Kommissars für Menschen-
rechte zu definieren und festzuschreiben und diese
Institution dann auch mit den ausreichenden Mitteln zu
versehen. Es hat keinen Zweck, Einrichtungen im in-
ternationalen Bereich zu schaffen, die dann dahinküm-
mern müssen, weil sie nicht in der Lage sind, ent-
sprechend zu arbeiten. Natürlich ist es wichtig, zuerst
das Instrument zu schaffen; wenn es dann aber da ist,
bedarf es der Unterstützung. Wir hoffen, daß es gelingt,
auch von Deutschland aus diese Unterstützung voran-
zubringen.

Wir hoffen, in den UN aus Anlaß des 50. Jahrestages
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine
Resolution zum Schutz der Menschenrechtsverteidi-
ger und der Menschenrechtsaktivisten zuwege zu
bringen. Es ist leicht, sich in einer Demokratie, in der
man sicher lebt, für die Menschenrechte einzusetzen,
aber ich respektiere immer ganz besonders diejenigen,
die unter Einsatz ihres eigenen Lebens bereit sind, für
Menschenrechte und Demokratie zu kämpfen. Sie zu
unterstützen und einen Schutzschirm aufzubauen ist ein
wichtiges Ziel.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Im operativen Bereich können wir sicherlich noch ei-
niges tun, um dafür zu sorgen, daß wir dann, wenn die
internationalen Organisationen – sei es die OSZE, der
Europarat oder die UN – Experten brauchen, die in die
Länder gehen, um Wahlbeobachtungen zu machen oder
Verifizierungsaufgaben wahrzunehmen, auch Fachleute
zur Verfügung stellen können. In Kanada gibt es eine
bemerkenswerte Einrichtung, die Personal zur Verfü-
gung stellt: Canadem. Das ist ein Kunstwort aus „Cana-
da“ und „democracy“. Vielleicht können wir etwas
Ähnliches bei uns schaffen.

Auch nach innen gerichtet wollen wir uns um die
Menschenrechte kümmern. Da gibt es noch einige
Grenzbereiche im Asyl- und Flüchtlingsbereich. Ich
möchte das Flughafenverfahren nennen. Ebenso sollten
wir uns die Bereiche noch einmal genau ansehen, in de-
nen Menschen, insbesondere Ausländer, in Gewahrsam
sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sollten auch überlegen und prüfen, ob es nicht
Möglichkeiten gibt, im Zivildienst für Menschenrechte
tätig zu werden. Eine weitere Aufgabe ist die Förderung
der Menschenrechtserziehung in Deutschland.

Es gibt also eine Menge zu tun. Einiges haben wir be-
reits eingeleitet, anderes haben wir uns vorgenommen.
Es ist ein anstrengendes und anspruchsvolles Programm.
Wir werden uns gemeinsam bemühen, es umzusetzen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1400305600
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der
Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an der
NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo
auf Drucksache 14/16 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die
Überweisung beschlossen.

Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 11. November
1998, 9 Uhr ein.

Die Sitzung ist geschlossen.