Gesamtes Protokol
Meine Damen und
Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Eine beispiellose, in ihren Ausmaßen und Wirkungen
unvorstellbare Naturkatastrophe hat in der vergange-
nen Woche die vier mittelamerikanischen Staaten El
Salvador, Honduras, Guatemala und Nicaragua ge-
troffen. Die von einem Tropensturm ausgelösten Über-
schwemmungen, Erdrutsche und Schlammlawinen ha-
ben in diesen Ländern einen großen Teil der Ernten,
Nahrungsmittelvorräte und darüber hinaus fast die ge-
samte Infrastruktur vernichtet. In letzten Meldungen ist
von rund 12 000 Toten und 13 000 vermißten Personen
die Rede. 3 Millionen Menschen sind obdachlos und le-
ben unter freiem Himmel. Hunger und Seuchen bedro-
hen unmittelbar nach der Katastrophe die Überlebenden.
Die Zerstörung der Verkehrswege hat zur Folge, daß
Hilfslieferungen, die die internationale Staatengemein-
schaft und die Hilfsorganisationen leisten, nur mühsam
und verspätet zu den bedrohten Menschen geschafft
werden können. Die am stärksten betroffenen Länder
sind von der Katastrophe um mehrere Jahrzehnte in ihrer
Entwicklung zurückgeworfen worden.
Ich möchte an dieser Stelle an die Hilfs- und Spen-
denbereitschaft der deutschen Bevölkerung appellieren,
die notleidenden, von Hunger und Seuchen bedrohten
Menschen in den mittelamerikanischen Staaten weiter-
hin zu unterstützen. Vergegenwärtigen wir uns die dort
herrschende Not, so werden manche unserer Sorgen und
Probleme – sosehr sie uns auch im Einzelfall drücken –
ziemlich klein. Eine zusammenwachsende Welt macht
uns bewußt, daß Not und Elend, auch wenn sie weit von
unserer Haustür entfernt sind, uns nicht gleichgültig las-
sen dürfen.
Ich möchte die in Mittelamerika leidenden Menschen
unserer Hilfsbereitschaft versichern. Den Parlamenten
der betroffenen Staaten, den Verletzten, Erkrankten und
Hinterbliebenen drücke ich im Namen des Deutschen
Bundestages unser tiefempfundenes Mitgefühl aus. –
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der vorletzten
Woche ist unser ehemaliger Kollege und Vizepräsident
Heinz Westphal verstorben. Wir werden seiner in ei-
nem Staatsakt am 19. November 1998 gedenken. Die
Einladung geht Ihnen gesondert zu.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 1 und 2 auf:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit
anschließender Aussprache
Beratung des Antrags der Bundesregierung Deut-
sche Beteiligung an der NATO-Luftüberwa-
chungsoperation über dem Kosovo
– Drucksache 14/16 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Generaldebatte im Anschluß an die Regierungs-
erklärung mit den Themenbereichen Europa, Außen-
und Sicherheitspolitik sowie Entwicklungspolitik und
Menschenrechte bis 16 Uhr dauern. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstmals inder Geschichte der Bundesrepublik Deutschland habendie Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbaresVotum einen Regierungswechsel herbeigeführt.
Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grü-nen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausendzu führen. Dieser Wechsel ist Ausdruck demokratischerNormalität und Ausdruck eines gewachsenen demokrati-schen Selbstbewußtseins. Ich denke, meine sehr verehr-ten Damen und Herren, wir können alle stolz daraufsein, daß die Menschen in Deutschland rechtsradikalen
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und fremdenfeindlichen Tendenzen eine deutliche Ab-fuhr erteilt haben.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal meinemVorgänger im Amt, Herrn Dr. Helmut Kohl, für seineArbeit und für seine noble Haltung bei der Amtsüberga-be danken.
Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Die Menschenerwarten, daß eine bessere Politik für Deutschland ge-macht wird. Wir wissen: Ökonomische Leistungsfähig-keit ist der Anfang von allem. Wir müssen Staat undWirtschaft modernisieren, soziale Gerechtigkeit wieder-herstellen und sie sichern, das europäische Haus wirt-schaftlich, sozial und politisch so ausbauen, daß die ge-meinsame Währung ein Erfolg werden kann. Wir müs-sen die innere Einheit Deutschlands vorantreiben; undvor allem und bei allem: Wir müssen dafür sorgen, daßdie Arbeitslosigkeit zurückgedrängt wird, daß bestehen-de Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue Beschäfti-gung entsteht.
Dafür brauchen wir neue Unternehmen, neue Pro-dukte, neue Märkte und vor allen Dingen schnellere In-novation. Wir brauchen eine bessere Ausbildung und ei-ne Steuer- und Abgabenpolitik, die vor allem die Kostender Arbeit entlastet.Diese Bundesregierung wird die Probleme schultern,und sie wird die schöpferischen Kräfte, die es in unse-rem Land überreich gibt, mobilisieren.Die Bedingungen, unter denen wir an den Start ge-hen, sind alles andere als günstig.
Entgegen dem, was gelegentlich von der Opposition imHaus verbreitet wird, hat uns die alte Bundesregierungkeineswegs ein bestelltes Haus hinterlassen.
Das Ergebnis unseres vorläufigen Kassensturzes zeigtden Ernst der finanzpolitischen Lage.
Die Verschuldung des Bundes ist auf weit über 1 BillionDM getrieben worden. Der laufende Bundeshaushalt istmit Zinsverpflichtungen von mehr als 80 Milliarden DMbelastet. Das heißt, jede vierte Mark, die der Bund anSteuern und Abgaben einnimmt, muß für diese gewalti-gen Zinslasten ausgegeben werden. Hinzu kommt – ichmuß das sagen, auch wenn es Ihnen nicht paßt –: Milli-ardenschwere Haushaltsrisiken wurden ignoriert;
Einnahmen wurden zu hoch veranschlagt; Ausgabenwurden zu niedrig veranschlagt: Jahrelang hat man denHaushalt nur durch Einmaleffekte ausgeglichen. DerenWirkung ist gleich wieder verpufft. Die großen Haus-haltslasten aber, die schwerwiegenden strukturellen Pro-bleme des Bundeshaushaltes, hat man einfach in die Zu-kunft verlagert.
Nach den jetzt ermittelten Zahlen müßte die jährlicheNeuverschuldung mittelfristig um bis zu 20 Mil-liarden DM höher ausgewiesen werden, als Sie, HerrWaigel, das im Finanzplan gemacht haben. Das ist IhrProblem, und das belastet jeden, der damit fertig werdenmuß.
Meine Damen und Herren, das kann und will ichnicht akzeptieren. Deshalb sage ich gleich am Anfangdieser Regierungserklärung: Diese finanzielle Erblast,die uns hinterlassen worden ist, zwingt uns zu einementschlossenen Konsolidierungskurs.
Wir werden angesichts dessen, was wir vorgefunden ha-ben, um strukturelle Eingriffe nicht herumkommen. AlleAusgaben des Bundes müssen auf den Prüfstand.
Der Staat muß zielgenauer und vor allen Dingen wirt-schaftlicher handeln.Der Mißbrauch staatlicher Leistungen muß einge-dämmt werden. Subventionen und soziale Leistungenwerden wir stärker als bisher auf die wirklich Bedürfti-gen konzentrieren.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns nicht,daß wir alles in kurzer Zeit schaffen. Aber sie haben ei-nen Anspruch darauf, daß wir nicht nur reden – wie dasbisher getan worden ist –, sondern auch handeln.
Wir haben gesagt: Wir wollen nicht alles anders, abervieles besser machen. Daran werden wir uns halten. Dassagen wir denen, die heute die Schlachten des Wahl-kampfes noch einmal schlagen wollen. Das scheint auchauf der rechten Seite des Hauses so zu sein. Nur, beson-ders erfolgreich sind Sie nicht gewesen. Das werden Siezugeben müssen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Da gibt es diejenigen, die schon wieder Schwarzma-lerei betreiben und diesen lähmenden Pessimismus ver-breiten, der unser Land lange genug gehindert hat, dienötigen Schritte zur Anpassung an die Wirklichkeit zutun. Aber das rufen wir auch denjenigen zu, die meinen,das jetzt Beschlossene gehe nicht weit genug.Wir wollen die Gesellschaft zusammenführen, die tie-fe soziale, geographische, aber auch gedanklich-kulturelle Spaltung überwinden, in die unser Land gera-ten ist.
Wir werden Deutschland entschlossen modernisierenund die innere Einheit vorantreiben. Voraussetzung da-für ist eine schonungslose Beurteilung der Lage, aberauch und vor allem das Besinnen auf die Stärken derMenschen in unserem Land und das Zutrauen darauf,daß wir es schaffen können.Dieser Regierungswechsel ist auch ein Generations-wechsel im Leben unserer Nation. Mehr und mehr wirdunser Land heute gestaltet von einer Generation, die denzweiten Weltkrieg nicht mehr unmittelbar erlebt hat. Eswäre nun gefährlich, dies als einen Ausstieg aus unsererhistorischen Verantwortung mißzuverstehen. Jede Gene-ration hinterläßt der ihr nachkommenden Hypotheken,und niemand kann sich mit der „Gnade“ einer „spätenGeburt“ herausreden.
Für manche ist dieser Generationswechsel eine großeHerausforderung. Schon ein Blick auf die Regierungs-bank oder auch in dieses Parlament zeigt, was die großeMehrheit unter uns politisch geprägt hat. Es sind dieBiographien gelebter Demokratie.Wir haben den kulturellen Aufbruch aus der Zeit derRestauration miterlebt und mitgemacht. Viele von unswaren in den Bürgerbewegungen der 70er und80er Jahre engagiert. Die ehemaligen Bürgerrechtsgrup-pen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschenSozialdemokraten die friedliche Revolution mitgestaltethaben,
sind an dieser Regierung beteiligt.
Diese Generation steht in der Tradition von Bürger-sinn und Zivilcourage. Sie ist aufgewachsen im Aufbe-gehren gegen autoritäre Strukturen und im Ausprobierenneuer gesellschaftlicher und politischer Modelle. Jetzt istsie – und mit ihr die Nation – aufgerufen, einen neuenPakt zu schließen, gründlich aufzuräumen mit Stagna-tion und Sprachlosigkeit, in die die vorherige Regierungunser Land geführt hat.
An ihre Stelle setzen wir eine Politik, die die Eigenver-antwortlichkeit der Menschen fördert und sie stärkt. Dasverstehen wir unter der Politik der Neuen Mitte.Diesen Weg werden wir partnerschaftlich beschrei-ten. Jeder im In- und Ausland kann sich darauf verlas-sen, daß diese Regierung zu ihrer politischen, aber ebenauch zu ihrer sozialen Verantwortung steht. Die Hoff-nungen, die auf uns ruhen, sind fast übermächtig.
Aber eine Regierung allein kann das Land nicht verbes-sern. Daran müssen alle mittun. Je mehr Menschen sichmit ihrer Initiative und ihrer Leistungsbereitschaft an derReform unserer Gesellschaft beteiligen, desto größerwerden die Erfolge sein.Den Menschen in Deutschland mangelt es nicht anschöpferischen Kräften. Wir werden helfen, sie zur Ent-faltung zu bringen.
Meine Damen und Herren, es ist kein Zweifel: Unserdrängendstes und auch schmerzhaftestes Problem bleibtdie Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischenZerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstruktu-ren. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderenmacht sie angst. Sie belastet unser Gemeinwesen derzeitmit Kosten von jährlich 170 Milliarden DM.Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren dar-über, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung ver-dankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zukönnen. Genau dieser Herausforderung werden wir unsstellen.
Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf denPrüfstand, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeit si-chert oder neue Arbeit schafft. Wir wollen uns jederzeit– nicht erst in vier Jahren – daran messen lassen, in wel-chem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeitbeitragen.Die Steuerreform, mit der wir in diesen Tagen be-ginnen, ist dazu ein erster Schritt. Wir werden nichtweitere 16 Jahre über die Notwendigkeit einer Steuerre-form reden und das Für und Wider der Interessengrup-pen abwägen. Nein, meine Damen und Herren, wir ma-chen diese Steuerreform.
Die Reform basiert auf der Einsicht in die ökonomi-schen Notwendigkeiten. Sie verbindet modernen Prag-matismus mit einem starken Sinn für soziale Fairneß. ImMittelpunkt steht die Entlastung der aktiv Beschäftigtenund ihrer Familien sowie der kleinen und mittleren Un-ternehmer.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deren Innovationskraft wollen und werden wir stärken.
Beides zusammen wird helfen, Arbeitslosigkeit abzu-bauen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehendezu sichern.Unsere Steuerreform erschließt Entlastungen von ins-gesamt 57 Milliarden DM.
Nach der Gegenfinanzierung bleiben Bürgerinnen undBürgern sowie Unternehmen 15 Milliarden DM alsNettoentlastung. Die Einkommensteuersätze werdennachhaltig gesenkt, das Kindergeld wird erhöht. Überdie Legislaturperiode betrachtet, wird das einer durch-schnittlich verdienenden Familie mit zwei Kindern eineNettoentlastung von 2 700 DM im Jahr bringen.
Steuerschlupflöcher werden wir stopfen, ungerecht-fertigte Vergünstigungen werden wir abbauen. Dasmacht deutlich, daß wir die Lasten in unserer Gesell-schaft gerechter verteilen.
Wir werden auch die Unternehmensbesteuerunggrundlegend reformieren. Unternehmenseinkünfte sollenmit höchstens 35 Prozent besteuert werden.
Dafür schaffen wir jetzt die gesetzlichen Voraussetzun-gen. Wir entlasten damit den Mittelstand, dem – ich sagees noch einmal – eine Schlüsselrolle bei der Schaffungvon Arbeitsplätzen zukommt.
Meine Damen und Herren, auch sonst haben wir ent-gegen dem, was gelegentlich verbreitet wird, die Anlie-gen des Mittelstandes berücksichtigt.
Der Verlustvortrag bleibt erhalten. Ein einjähriger Ver-lustrücktrag bleibt ebenfalls noch für Verluste, die 1999und 2000 entstehen und nicht mehr als 2 Millionen DMbetragen. Die Wiederanlage von Gewinnen aus der Ver-äußerung von Grund und Boden und Gebäuden wird wiebisher nach § 6 b Einkommensteuergesetz begünstigt.Die Sonder- und Ansparabschreibungen für die Exi-stenzgründer können unverändert in Anspruch genom-men werden. Für kleine und mittlere Betriebe bleiben siebis zum Jahr 2000 erhalten.Die Tarifermäßigung für Veräußerungsgewinne wirddurch rechnerische Verteilung des Gewinns nur umge-staltet; sie wird nicht gestrichen. Damit werden zwar– das gilt es einzuräumen – Verlustzuweisungsmodelleeingedämmt, aber für die Betriebsnachfolge wird daskeine Verschlechterung bedeuten.Wir werden – das ist schon an unseren ersten Schrit-ten sichtbar – das Steuerrecht transparenter
und damit effizienter machen.
Überflüssige Steuersubventionen sollen abgeschafft undwertvolle Steuergelder nicht länger in unsinnigen Steu-ersparmodellen verschwendet werden.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einenSatz zu der im Koalitionsvertrag angekündigten umfas-senden Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sa-gen. Interessierte Kreise haben ja so getan, als wolltenwir mit unserer Steuerreform den Unternehmern buch-stäblich die Butter vom Brot nehmen. Dazu ist zu sagen,daß in den vergangenen Jahren nur einige wenige vonSteuerentlastungen profitiert haben. Die große Mehrheithat unter Steuerbelastungen leiden müssen. Jede ver-nünftige Steuerreform hat diesen von Ihnen verursachtenTrend erst einmal zu stoppen.
Inzwischen melden sich – und das ist gut so – immermehr Ökonomen und weitsichtige Unternehmer zuWort, die sehen, daß diese Steuerreform für sie einegroße Chance ist. Sie sehen die Perspektive, die wir mitunseren schrittweisen Entlastungen aufzeigen. Ich habeüberhaupt keine Scheu, den Begriff „schrittweise“ dickzu unterstreichen. Für die Betroffenen im Land ist esnämlich besser, sie bekommen schrittweise etwas in dieHand, als daß sie über Jahrzehnte lediglich mit Rederei-en vertröstet werden. In der Tat unterscheiden wir uns,was das Machen von Politik angeht.
Die Menschen im Land sehen die Trendwende, diewir eingeleitet haben: Entlastung und Vereinfachungstatt wie bisher immer höhere Sätze und immer wenigerTransparenz. Ich denke, alle diejenigen, die sich wirk-lich mit inhaltlichen Fragen beschäftigen, nehmen be-reitwillig unsere Einladung an, in einer gemeinsamenKommission über die Strukturreform des Steuerrechtesbegleitend zu beraten.Eines will ich allerdings denen, die uns in den letztenWochen mit schrillsten Vorwürfen überzogen haben, sa-gen: Niedrige und einfache Steuersätze wie zum Bei-spiel in den USA zu wollen, gleichzeitig aber an einerhohen Zahl von Ausnahmetatbeständen wie bisher inDeutschland festzuhalten, das geht nicht.
Wir werden – das ist Teil des Konzeptes zur Entla-stung der aktiv wirtschaftlich Tätigen – die Nutzung derBundeskanzler Gerhard Schröder
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wirtschaftlichen Ressourcen endlich marktwirtschaftli-cher Vernunft unterwerfen. Deshalb steigen wir sofort ineine ökologische Steuer- und Abgabenreform ein. Wirvollziehen damit, meine sehr verehrten Damen und Her-ren, eine längst überfällige Kehrtwende. Natur undEnergie als endliche und mithin knappe Güter werdenüber den Preis verteuert mit dem einzigen Ziel, Arbeit,die reichlich vorhanden ist, billiger zu machen, damitmehr Menschen Arbeit haben.
Ich unterstreiche es auch hier noch einmal: Es geht unsnicht um die Erschließung einer weiteren Einnahme-quelle für den Staat.
Mit der Energiebesteuerung folgen wir dem Beispiel un-serer Nachbarn in Dänemark, den Niederlanden undÖsterreich. Wir lösen damit die Probleme einer moder-nen Gesellschaft mit den Mitteln einer modernen Gesell-schaft.
Die Einnahmen – das ist der Kernpunkt – aus derEnergiesteuer verwenden wir nur zur Senkung der ge-setzlichen Lohnnebenkosten. Mit den Anreizeffekten derEnergiesteuer fördern wir die Schaffung neuer Arbeits-plätze in nachhaltigen Zukunftstechnologien. Gerade beiden Lohnnebenkosten ist über die Jahre hinweg über dieNotwendigkeit ihrer Senkung geredet worden. Unter deralten Regierung sind sie Jahr für Jahr gestiegen. Wirmachen damit Schluß, meine Damen und Herren.
Damit führen wir im Rahmen dessen, was europäischmachbar und – auch das gilt es zu erkennen – sozialvertretbar ist, Marktwirtschaft in die Ressourcennutzungein. Wir setzen dabei auf die Beschäftigungseffekte ei-ner zukunftsorientierten Produktion.Das ist für uns moderne Steuer- und Wirtschafts-politik. Wir streiten eben nicht um die Scheinalterna-tive: Angebots- oder Nachfrageorientierung. DieserStreit führt nämlich zu nichts. Angebots- und Nachfra-georientierung stehen nicht im Widerspruch zueinander.Wir brauchen eine Nettoentlastung der Haushalte zurBelebung der Binnenkonjunktur, damit die Menschenauch kaufen können, was die Wirtschaft herstellt.
Durch Marktöffnung und Entbürokratisierung, durchdie Förderung von Innovation und Zukunftsindustrienverbessern wir die Angebotsbedingungen für Produkte,neue Märkte und neue Verfahren. Beides gehört zu-sammen. Das eine gegen das andere auszuspielen isttöricht.
Wir müssen alle miteinander lernen, die Dinge zuverknüpfen und in solchen Zusammenhängen zu den-ken: Wir stehen nicht für eine rechte oder linke Wirt-schaftspolitik, sondern für eine moderne Politik der so-zialen Marktwirtschaft.
Die Bundesregierung macht endlich wieder Wirtschafts-politik. Wir eröffnen den Menschen die Perspektive derSelbständigkeit. Wer eine Existenz gründen, eine guteIdee vermarkten will, dem werden wir nach Kräften hel-fen. Wir wissen, daß unsere Banken bei der Bereitstel-lung von Geld für Unternehmensgründungen immernoch zu zögerlich sind. Sie nennen das Risikokapital.Für uns ist das Chancenkapital, das Unternehmensgrün-dern helfen soll. Darauf legen wir Wert.
Neuesten Umfragen zufolge geben heute mehr als dieHälfte derer, die demnächst die Schule oder die Univer-sität abschließen werden, als Ziel die berufliche Selb-ständigkeit an. Das wäre vor gar nicht so langer Zeitnoch undenkbar gewesen. Aber die neue Gründerzeit –das ist auch gut so – hat längst begonnen. Wir als Regie-rung haben ihre Zeichen begriffen, und wir werden dafürZeichen setzen.Wir werden dies vor allem für den Mittelstand tun.Moderne Mittelstandspolitik ist für uns: weniger Büro-kratie, schnellere Innovation, besserer Zugang zu denneuen Technologien, effizientere Vermarktung sowieHilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten.Dies wird Kennzeichen einer mittelstandsorientiertenPolitik der neuen Bundesregierung sein.
Ich habe darauf hingewiesen, daß das auch für die Entla-stung von Steuern und Abgaben gilt.Im übrigen: Wenn wir in der Altersvorsorge mehrprivate Vorsorge wollen, dann müssen wir die Nettoein-kommen auch so entlasten, daß sich die Menschen dieseprivate Vorsorge buchstäblich leisten können, sonstfunktioniert das nämlich nicht.
Wenn wir die Leistungsbereitschaft der Menschenfördern wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sichLeistung auszahlt.
Meine Damen und Herren von der F.D.P., das Pro-blem besteht darin, daß Sie Leistung immer nur als dieLeistung ganz weniger ganz oben verstehen.
Wir verstehen Leistung in erster Linie als Leistung derKrankenschwestern, der Ingenieure, als Leistung derFacharbeiterinnen und Facharbeiter.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Die werden wir entlasten, meine Damen und Herren, aufsie kommt es nämlich in dieser Zeit und in diesem Landan.
Das meinen wir, wenn wir von einer neuen Politik spre-chen, einer Politik, die eben nicht in Kästchen denkt,sondern die die Probleme im Zusammenhang begreift.Deshalb sage ich: Unsere Steuerreform ist ein guterAnfang.
Aber damit ist das Ziel eines überschaubaren und lei-stungsgerechten Steuersystems nicht erreicht. DiesesZiel werden wir Schritt für Schritt verwirklichen, undSie werden jeden einzelnen Schritt aufmerksam und si-cher auch kritisch begleiten dürfen – aber aus der Oppo-sition heraus, meine Damen und Herren.
In den zurückliegenden Jahren ist viel über die Vor-und Nachteile des sogenannten Standorts Deutschlanddiskutiert worden. Der Begriff ist ein wenig verräterisch:„Standort“, das kann auch – und das war es ja auch inder letzten Zeit – „Stillstand-Ort“ sein. Wir machen die-ses Land wieder zu einem Bewegungs-Ort.Meine Damen und Herren, wir werden mit der Ener-giewirtschaft und den Umweltverbänden neue Wege derEnergieversorgung beschreiten.
Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlichnicht akzeptiert.
Sie ist mithin auch volkswirtschaftlich nicht vernünftig.Das ist der Grund, warum wir sie geregelt auslaufen las-sen werden.
Für die Bundesregierung steht dabei nicht ein Ausstiegim Mittelpunkt. Es geht vielmehr um den Einstieg ineine zukunftsfähige Energieversorgung.
Der Anteil der Kernenergie wird schrittweise reduziertund schließlich ganz ersetzt.
Dies, meine Damen und Herren, ist ein gewaltigesInvestitionsprogramm, das auch und gerade neue Ar-beitsplätze in diesen Bereichen schaffen wird.
Dabei setzen wir vor allem auf die Innovations- undEntwicklungspotentiale bei den erneuerbaren Ener-gien. Wir setzen auf eine konsequente Nutzung der Ein-sparmöglichkeiten: bei der Stromerzeugung, bei elektri-schen Geräten, bei den Gebäuden, aber auch im Stra-ßenverkehr. Mit der Energiewirtschaft werden wir aus-kömmliche Lösungen zu einer Zukunft ohne Atom-kraftwerke vereinbaren.Die Koalitionspartner sind sich darin einig, daß dieBeendigung der Kernenergienutzung im Konsens erfol-gen soll – ohne daß es zu Regreßansprüchen kommt.Aus den Gesprächen der vergangenen Jahre wissen wir,daß wir zu einer einvernehmlichen Lösung kommenkönnen. Sie ist an dem Widerstand – dem unverständli-chen Widerstand – auf der rechten Seite dieses Hausesgescheitert.
Das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle – dasgilt es zu erkennen – bleibt uns und unseren Nachkom-men allerdings noch auf Jahrtausende erhalten.Das bisherige Entsorgungskonzept ist inhaltlich ge-scheitert. Wir werden statt dessen einen nationalen Ent-sorgungsplan erarbeiten. Entsorgung wird auf direkteEndlagerung beschränkt werden.
Atommülltransporte quer durch die Republik, dienur durch massiven Polizeischutz zu sichern sind, pas-sen nicht zu einer auf Konsens und Zukunftsfähigkeitausgerichteten Demokratie.
Allerdings gilt es hier zu bedenken, daß die vorherigenRegierungen völkerrechtlich bindende Verträge über dieRücknahme atomarer Abfälle abgeschlossen haben.Auch das müssen wir mit unseren Partnern in Englandund Frankreich einvernehmlich regeln. Wir wollen sol-che Transporte nur noch dann zulassen, wenn am Kraft-werk selbst keine genehmigten Zwischenlagerkapazitä-ten existieren.In einem neuen Energiemix werden wir auch Stein-kohle und Braunkohle brauchen. Dabei drängen wir aufdie Verwendung modernster Technik mit hohen Wir-kungsgraden und auf eine bessere Nutzung von Fern-wärme und Kraft-Wärme-Kopplung.
Den Kohlekompromiß vom März 1997 werden wirumsetzen und in Brüssel absichern. Bei der sozial ver-träglichen Neustrukturierung des deutschen Kohleberg-baus brauchen wir rechtzeitig eine Orientierung auch fürdie Zeit nach dem Jahre 2005. Es geht uns auch hierdarum, Planungssicherheit für die Unternehmen undmaterielle Sicherheit für die Beschäftigten zu schaffen.Die Klimaforscher und die vorbildlichen Unterneh-men, die vor ein paar Tagen mit dem Bundesum-Bundeskanzler Gerhard Schröder
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weltpreis ausgezeichnet worden sind, haben der Politikins Stammbuch geschrieben – wir werden das beachten –:Gerade beim Klimaschutz dürfen die Verantwortlichennicht auf Erkenntnisse über weitere Schädigungen unse-rer Umwelt warten; sie müssen aktive Vorsorge treffen.Wir werden das tun.
Meine Damen und Herren, der Staat und die ver-schiedenen Wirtschaftszweige müssen ihre Zusammen-arbeit verbessern, um auf diese Weise Synergieeffektebesser nutzen zu können. Wo die Bundesregierung dasIhrige dazu tun kann, da wird sie es tun.Wir werden die Verwaltung schlanker und effizien-ter machen, und wir werden hemmende Bürokratie raschbeseitigen. Beispielsweise werden wir die Vielzahl ver-schiedener Umweltbestimmungen in einem Umweltge-setzbuch zusammenfassen. Dabei werden wir überflüs-sige Vorschriften streichen und auf diese Weise die Re-gelungsdichte vermindern.
Eine grundlegende Justizreform werden wir zügig inAngriff nehmen. Unsere Zivil- und Strafjustiz ist heutenoch aufgebaut wie vor hundert Jahren. Sie muß ent-schlackt und sie muß modernisiert werden. Die Bürge-rinnen und Bürger wollen und sollen schneller zu ihremRecht kommen, und die Gerichte müssen entlastet wer-den. Auch um die Vereinfachung von Gesetzestextenwerden wir uns zielstrebig kümmern. Die Rechte derOpfer von Verbrechen werden wir stärken. Dies giltganz besonders für die Schwächsten in unserer Gesell-schaft: mißbrauchte und mißhandelte Kinder.
Wo immer das möglich ist, werden wir den Täter-Opfer-Ausgleich stärken und die gemeinnützige Arbeitals moderne Sanktionsform ausbauen. Es ist im Interesseder Gesellschaft, daß vor allem Straftäter, die bislang zukurzen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, nicht zusätzli-che Kosten für den Staat verursachen, sondern gemein-nützige Arbeit leisten. Soweit die Gemeinschaft nichtvor ihnen geschützt werden muß, sollen sie sich für dieGemeinschaft nützlich machen.
Große Aufmerksamkeit richten wir auf die Förderungder Verfahren zur Schlichtung. Es muß Schluß gemachtwerden mit der verhängnisvollen Entwicklung, immermehr zivile, soziale, wirtschaftliche oder sogar politi-sche Streitfälle auf die Gerichte abzuwälzen. Die Mög-lichkeiten, Streitfälle außergerichtlich zu regeln, werdenwir stärken und bürgernah ausgestalten. Wir verbindendamit den Appell an Bürgerinnen und Bürger, aber auchan Interessengruppen, diese Möglichkeiten auszuschöp-fen, bevor die Justiz bemüht wird.Ich sage es deutlich: Diese Bundesregierung will kei-nen Bevormundungsstaat, nein, sie will einen Staat, derdie Menschen ermutigt. Aber den Staat schlanker undeffizienter zu machen, das darf nicht heißen, daß manihn dort schwächt, wo vor allem die Schwächeren aufihn angewiesen sind.
Wir wollen deshalb einen Staat, der die Bürgerrechteschützt und erweitert. Wir beharren auf dem Schutz derSchwächeren durch das Recht und durch den Staat.
Ich will keine Gesellschaft, in der sich einige wenigeSchutz kaufen können und die Mehrheit Angst vor Ver-brechen hat.
Deshalb sage ich: Härte gegen das Verbrechen und seineErscheinungsformen, aber eben auch Härte gegen dieUrsachen des Verbrechens, das ist meine, das ist unsereVorstellung von einem Staat, der seine Schutzaufgabeerfüllt.
Wir werden deshalb die Kriminalität in all ihren Er-scheinungsformen entschlossen bekämpfen. Die Polizeikann sich darauf verlassen, daß wir sie bei dieser Auf-gabe unterstützen.
Aber zugleich gilt: Eine gute Politik der inneren Sicher-heit darf nicht auf Polizei und Strafrecht beschränktbleiben.
Ein eigenverantwortliches Leben setzt zuallererstvoraus, für sich selbst sorgen zu können. Wie sollen un-sere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsereZukunft gestalten, wenn wir ihnen nicht einmal dieMöglichkeit geben, für sich selber zu sorgen? Hierinliegt der Grund dafür, warum die Bundesregierung einSofortprogramm auflegen wird, um 100 000 Jugendlicheso schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäfti-gung zu bringen.
Ich sage es noch einmal vor diesem Hohen Hause:Gerade diejenigen, die die Jugendkriminalität zurück-drängen wollen und dies mit aller Entschiedenheit mitHilfe des Staates durchsetzen wollen, haben auf derBundeskanzler Gerhard Schröder
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anderen Seite die Verantwortung, jungen Menschen einePerspektive für Ausbildung und Arbeit zu geben.
Wir werden angesichts der Gefährdungen, die sich fürdie gesamte Gesellschaft aus einem Mangel an Perspek-tive ergeben, bei der Realisierung dieses Programmeseinen besonderen Schwerpunkt in Ostdeutschland set-zen. Dies ist – zugegeben – ein erster Schritt, aber eineminent wichtiger, um dort helfen zu können.
Meine Damen und Herren, Ziel einer aktiven Ar-beitsmarktpolitik muß es sein, den Menschen eine Brük-ke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen. Wir alle wissen,daß eine gute Ausbildung die beste Voraussetzung füreine gesicherte berufliche Zukunft ist. Unser duales Sy-stem der Ausbildung ist noch immer vorbildlich in Eu-ropa. Aber die schleichende Verstaatlichung der Ausbil-dung muß aufhören.
– Das ist so. Sie haben es noch immer nicht verstanden.Das ist tatsächlich so. Sie werden es nie verstehen.
Sie interessiert das nicht.
Aber mich macht das besorgt. Daß Sie an den jungenLeuten nicht interessiert sind, merkt man an Ihrem Ge-brüll. Man merkt an der Art und Weise, wie Sie mit die-sem Thema umgehen,
wie wenig Sie das Thema der Ausbildungsperspektivenfür junge Leute interessiert.
Ich sage Ihnen eines: Die Zahl der Ausbildungsplätze,die die Wirtschaft zur Verfügung gestellt hat, ist in IhrerRegierungszeit kontinuierlich zurückgegangen. Das istdas Problem, vor dem wir stehen.
Das sollten Sie nicht lächerlich machen. Darüber solltenSie nicht lachen. Denn der wirkliche Skandal in unsererGesellschaft ist, daß die jungen Leute von Ihnen alleingelassen worden sind. Das ist das Problem. Deshalb sindSie auch abgewählt worden.
Daß Sie sich beim Thema Ausbildungschancen der jun-gen Leute hier hinsetzen und so tun, als wenn Sie dasnichts anginge, das ist eine Schande. Sie sollten sichschämen!
Für uns jedenfalls ist klar – auch wenn das die rechteSeite dieses Hauses nicht interessiert – –
– Da merkt man, welches Interesse Sie an diesen Fragenhaben.
Meine Damen und Herren, für uns ist klar – in diesemPunkt lassen wir uns nicht beirren –: Wirtschaft und öf-fentliche Verwaltung stehen in der Pflicht, die Lehr-stellenzahl zu erhöhen und nicht zu senken.
Wir wollen und wir werden erreichen, daß alle Ju-gendlichen einen qualifizierten Ausbildungsplatz be-kommen. Das ist ihre Erwartung an Politik, und diewerden wir erfüllen, sosehr Sie auch dagegen schimp-fen.
Bei der Mobilisierung der Ausbildungsplätze setzeich auf die Mitarbeit der Wirtschaft. Ich weiß: Hundert-tausende von Handwerksmeistern sowie kleine undmittlere Unternehmen tun jedes Jahr ihre Pflicht. Aberbei den großen Unternehmen muß zugelegt werden; dasgilt es gemeinsam zu erreichen.
Ich setze bei der Mobilisierung von Ausbildungsplätzendarauf, daß wir keine Zwangsmaßnahmen benötigen. –Jetzt könnt ihr auch klatschen!
Aber ich sage unseren Jugendlichen, daß ihr morali-sches Recht auf Arbeit und Ausbildung – auch das mußausgesprochen werden – die Pflicht einschließt, Ange-bote zur Berufsausbildung anzunehmen. Mobilität darfkein Fremdwort in diesem Sektor sein oder werden.
Auch folgendes muß deutlich werden: Nicht jederwird seinen Traumberuf erlernen können. Wir werdenkein Volk von Bankkaufleuten und Versicherungskauf-leuten werden können, bei allem Respekt vor dieser Be-rufsgruppe.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Im europäischen Vergleich brauchen junge Menschenbei uns zu lange, bevor sie berufliche Verantwortungübernehmen können. Uns geht es nicht um eine Verkür-zung der Ausbildungszeit und schon gar nicht um eineVerschlechterung der Ausbildung; es geht uns vielmehrum eine bessere Verteilung der Ausbildung auf die Le-benszeit. Das ist das, was im Vordergrund unserer Be-mühungen steht. Ausbildung, Ausbildungsordnungenund Ausbildungsinhalte werden wir flexibler gestalten.Die Verbesserung und Modernisierung beruflicher Bil-dung und Qualifikation sollte ständiges Gesprächsthemaim Bündnis für Arbeit sein.Wir wollen uns fit machen für die europäische Wis-sensgesellschaft. Darunter soll man sich nicht eine Ge-sellschaft aus lauter Superhirnen und Weißkitteln vor-stellen. Wissensgesellschaft, meine Damen und Herren,das heißt für mich: Qualifikationsgesellschaft. Das be-trifft die ganze Breite unserer Gesellschaft, das betrifftalle Menschen und nicht nur die wissenschaftlich-technischen Eliten.
Das ist der Grund, warum die Bundesregierung dieAufgabe einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensiverasch anpacken wird. Wir wollen bestmögliche Bildungfür alle, mehr Chancengleichheit, die Förderung unter-schiedlicher Begabungen, mehr Effizienz, aber auchmehr Wettbewerb.Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildungvon Eliten. Auch unsere demokratische Gesellschaftbraucht Eliten. Allerdings kommt es mir darauf an, wasman unter Elite und ihrer Herausbildung versteht. Ge-prägt von eigener Erfahrung sage ich: Zur Elite gehörtman nicht durch die Herkunft der Eltern; zur Elite gehörtman durch Leistung.
Eliten in einer Demokratie erwachsen aus gleichenChancen im Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Dasist wichtig, meine Damen und Herren.
Sie erwachsen aus dem, was bei gleichen Zugangsvor-aussetzungen zu den Bildungseinrichtungen der einzelnein eigener Verantwortung daraus macht. Eines jedenfallsmuß gelten: Der Geldbeutel der Eltern darf nicht überdie Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmen.
Das ist der Grund, warum wir bereits 1999 mit der Re-form der Ausbildungsförderung beginnen werden. Wirwerden dabei alle ausbildungsbezogenen staatlichenLeistungen zusammenfassen.Die Hochschulen werden wir stärken. Sie müssenZentren der Ideenfindung und der Problemlösung sein.Sie sollen nach unserer Auffassung auch Zukunftswerk-stätten werden. Wir müssen den Trend zur Abwande-rung unserer Grundlagenforscher stoppen und gleichzei-tig die anwendungsorientierte Forschung nachhaltig för-dern.Wir brauchen eine bessere Bildungsplanung, und wirwerden sie machen. Denn wir können es uns nicht län-ger leisten, daß ein bedenklich großer Teil unseres wis-senschaftlichen Nachwuchses völlig vorbei an den Er-fordernissen des Arbeitsmarktes qualifiziert wird.Auch an Universitäten und Fachhochschulen muß esWettstreit geben. Konkurrenz belebt auch dort das Ge-schäft.
Die Hochschulen müssen viel stärker als bisher auchzu Existenzgründungen ermuntern. Forschung undLehre sollen durch Budgetierung und mehr Autonomieentbürokratisiert und so wettbewerbsfähiger gemachtwerden. Das Dienstrecht des Hochschulpersonals wer-den wir umfassend modernisieren, um auch hier mehrAnreize für Leistung und Innovation zu schaffen.
Wir sollten uns nichts vormachen: Der Transfer vonWissenschaft zur Wirtschaft liegt in Deutschland im ar-gen. Die Transferzeiten, also die Umsetzung wissen-schaftlicher Erkenntnisse in die Produktionswirklichkeit,sind bei uns noch immer viel zu lange. Bei der Innovati-onsgeschwindigkeit hinken wir hinter den USA, aberauch den europäischen Ländern, die vergleichbar sind,hinterher. Die USA verdienen jedes Jahr mehr als30 Milliarden DM mit dem Export von Verfahren, vonLizenzen und von Patenten ins Ausland. Unsere Wirt-schaft hingegen muß heute mehr Ingenieurleistungenimportieren, als sie exportiert. Das kann, das darf nichtso bleiben.
Forschung, Lehre und Wirtschaft haben sich viel zuweit voneinander entfernt. Die Hochschulen stehen vorUmwälzungen, die denen der 70er Jahre vergleichbarsind. Dieser Herausforderung wird sich die Bundesregie-rung stellen – wieder einmal, bin ich versucht zu sagen.Wir werden die Investitionen in Forschung und Bildungin den nächsten fünf Jahren verdoppeln.
Wir werden auch auf europäischer Ebene die Anstren-gungen bei der Entwicklung neuer Technologien ver-stärken. Zusammen mit unseren Partnern wollen wirtranseuropäische Netze und eine moderne wissen-schaftliche Infrastruktur schaffen.Es ist schon richtig: Kreativität, künstlerische Phanta-sie, handwerkliches Können, die geniale Idee, der MutBundeskanzler Gerhard Schröder
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zur bahnbrechenden Neuerung – all das kann vom Staatnicht herbeiorganisiert werden. Es ist das Ergebnis einesProzesses von zahllosen kleinen Verbesserungen, an de-nen Tausende von kreativen, phantasievollen, kundigenund auch mutigen Menschen tagtäglich arbeiten. DerenBemühungen zu unterstützen ist eine unserer wichtig-sten Aufgaben.Auf die jungen Menschen – ich unterstreiche es nocheinmal – kommt es dabei ganz besonders an. Sie habendie Chance, Erfahrungen zu machen, die die Älteren –auch in diesem Hohen Haus – nie machen konnten. Wirwollen, wir müssen und wir werden dafür sorgen, daßsie nicht die Erfahrung machen, ausgeschlossen zu sein,noch bevor sie in den Prozeß einsteigen konnten, den sieeigentlich gestalten sollen.
Aber machen wir uns nichts vor: Die Bewältigungdes Jahrhundertproblems Arbeitslosigkeit kann nur ge-lingen, wenn alle gesellschaftlich Handelnden dabeimitmachen. Die eine, einzelne Maßnahme zur Lösungdes Problems gibt es nicht. Steuerpolitik, Abgabenredu-zierung, Zukunftsinvestitionen und Tarifpolitik müsseneinander sinnvoll ergänzen. Erst im Zusammenwirkenaller volkswirtschaftlichen Akteure kann dauerhaft mehrBeschäftigung entstehen. Ich betone: im Zusammenwir-ken aller volkswirtschaftlichen Akteure. Das ist die Er-fahrung, die man in anderen Ländern hat machen kön-nen.Das ist auch die positive Erfahrung, die in vergange-nen Zeiten mit einem funktionierenden ModellDeutschland gemacht worden ist. Die deutschen Unter-nehmer stehen dabei ebenso in der Verantwortung wiedie Sozialverbände und die Gewerkschaften. Sie alle la-de ich zu einem Bündnis für Arbeit und für Ausbil-dung ein. Ich bin froh, bestätigen zu können: Das ersteTreffen wird bereits Anfang Dezember stattfinden.
Dieses Bündnis wird als ständiges Instrument zur Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit eingerichtet. Ich weiß in-zwischen, daß die Beteiligten meiner Einladung folgenund ihren Teil der Verantwortung übernehmen wollen.Ich erwarte, daß sich die Gesprächspartner vom Denkenin angestammten Besitzständen und von überkommenenVorstellungen lösen. Das, meine Damen und Herren, giltfür alle Beteiligten.Ich setze darauf, daß wir zu einer vorurteilsfreien Be-urteilung der Lage kommen und daß unsere Diskussio-nen vom fairen Ausgleich zwischen Geben und Nehmengeprägt sind. Bündnisse für Arbeit wirken bereits überallmit Erfolg, in unseren Nachbarstaaten, aber auch in un-gezählten Betrieben in unserem eigenen Land. Hier inDeutschland haben sozial verantwortliche Unternehmerund tüchtige, ökonomisch denkende Betriebsräte unsereMitbestimmung zu einem modernen, weltweit vorbildli-chen Modell entwickelt. Dies werden wir verteidigenund ausbauen.
Das Bündnis für Arbeit ist der richtige Ort, um sichden drängenden Fragen zu stellen: Welche Spielräumekann die Abgabenpolitik des Staates, kann die Tarifpo-litik schaffen? Was bedeutet es, die Sozialleistungenstärker auf die Bedürftigen zu konzentrieren? WelcheSpielräume schaffen wir damit für Investitionen, undwelche Möglichkeiten bieten Instrumente wie Investiv-lohn und ähnliches? Welche Chancen bieten sich für unsalle, auch für die Beschäftigten, bei der Flexibilisierungder Arbeitszeiten?Ich erwarte auch, daß wir in diesem Bündnis für Ar-beit und Ausbildung die einmaligen Gelegenheiten nut-zen, die uns die neuen politischen Konstellationen in Eu-ropa bieten. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit kann mitdieser Bundesregierung nun endlich auch als europäi-sche Frage behandelt werden.
In bezug auf diese Frage haben unsere Partner in Europa– bei allem Respekt vor sonstigem – lange gewartet.Mit der Steuerreform, der Entlastung bei den Lohn-nebenkosten und dem Sofortprogramm gegen Ju-gendarbeitslosigkeit bringt die Bundesregierung guteVorleistungen in das Bündnis für Arbeit ein.
Ich erwarte, daß auch die anderen wirtschaftlich Han-delnden unserem Beispiel folgen. Die Menschen habenein Recht darauf, daß wir uns der Verantwortung stellenund die Chancen entschlossen ergreifen, die uns einBündnis für Arbeit in Deutschland, mitten in einem so-zialer gewordenen Europa, eröffnet.Niemand erwartet von diesem Bündnis Patentlösun-gen. Aber alle stehen in der Pflicht, das Beste zu geben:Zusammenarbeit, Zukunftswillen und Zuversicht – dassind die Koordinaten des Bündnisses für Arbeit undAusbildung. Gelingen kann ein solches Bündnis nur,wenn wir uns vorbehaltlos der Wirklichkeit stellen. Dasmindeste, was die Bürgerinnen und Bürger von uns ver-langen können, ist der Wille zur Aufrichtigkeit, zur Be-schreibung der Wirklichkeit. Wir dürfen auch vor unbe-quemen Wahrheiten nicht haltmachen. Oft genug ist diegesellschaftliche Wirklichkeit verdrängt worden, zuge-deckt mit Lebenslügen und voreiligen Versprechungen.Ich unterstreiche: Diese Bundesregierung sagt denMenschen weder: „Alles ist schlecht“, noch sagt sie ih-nen: „Alles wird gut.“ Aber sie sagt zum Beispiel, daßes in diesem Land Menschen gibt, die unter den Bedin-gungen nackter Ausbeutung arbeiten müssen.
Daß solche Beschäftigungen illegal sind, daß sich oftgenug auch die Beschäftigten illegal hier aufhalten, dasändert nichts an den menschenunwürdigen Zuständen,die damit verbunden sind und die wir beseitigen müssen.
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Diese Bundesregierung sagt auch, daß es in diesemLand Arbeit gibt, gutbezahlte Arbeit, die an den Sozial-systemen vorbei als „Schwarzarbeit“ angeboten – undnachgefragt – wird. Niemand sollte diese Schwarzar-beit verharmlosen oder aufhören, sie von Rechts wegenzu bekämpfen. Sie ist und bleibt Betrug an der Solidar-gemeinschaft.
Aber es gilt zu erkennen, daß Schwarzarbeit erst dannganz verschwinden wird, wenn sich die reguläre, ver-steuerte und sozialversicherte Arbeit wieder lohnt,
wenn die Menschen für ihre Arbeit wieder mehr Geldins Portemonnaie bekommen. Das ist der Sinn bei denEntlastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Wir werden diese Entlastung vornehmen; Sie haben dasnicht getan.
Deshalb wird auch bei der Bekämpfung der illegalenArbeit der Satz gelten: Hart gegen den Rechtsbruch,aber nicht minder hart gegen die Ursachen.Wie für die innere Sicherheit so gilt auch für die so-ziale Sicherheit: Wir wollen alles tun, damit sich alleBürger sicher fühlen können. Aber wir haben Grund zuder Annahme, daß es die Systeme der sozialen Siche-rung selbst sind, die durch ihre hohen Kosten immermehr Menschen in die Flucht aus diesen Sozialsystementreiben: in illegale, sozial nicht abgesicherte Arbeit oderin Scheinselbständigkeit. Wenn das so ist, heißt das, daßeine abstrakte soziale Sicherheit in immer mehr Einzel-fällen konkrete soziale Unsicherheit produziert und daßdie Art, wie wir soziale Sicherheit organisieren, tatsäch-lich Arbeitsplätze vernichten oder gefährden kann. Des-halb müssen die Systeme und die Kosten der sozialenSicherung insgesamt auf den Prüfstand.Wir werden die Augen vor solchen Wahrheiten nichtverschließen, und wir werden auch Konsequenzen dar-aus ziehen.
Erstmals, meine Damen und Herren, geht eine deutscheBundesregierung daran, mit staatlichen Mitteln dieLohnnebenkosten zu senken. Die Entlastung der Ar-beitskosten durch Senkung der Rentenbeiträge um0,8 Prozent zum 1. Januar 1999 wird pünktlich in Krafttreten.
Wir sind darüber hinaus bereit, gezielt Sozialabgabenzu bezuschussen, wenn dadurch weniger produktive Ar-beit bezahlbar gemacht werden kann.Das soziale Netz muß nach unserer Auffassung zu ei-nem Trampolin werden. Von diesem Trampolin soll je-der, der vorübergehend der Unterstützung bedarf, raschwieder in ein eigenverantwortliches Leben zurückfedernkönnen.
Das, meine Damen und Herren, meinen wir, wenn wirsagen, daß es uns wichtiger ist, Arbeit zu finanzieren, alsArbeitslosigkeit bezahlen zu müssen.
In diesen Zielen wissen wir uns übrigens mit der gro-ßen Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland einig; wirwissen sie hinter uns. Doch die Initiativen der Bundes-regierung werden kaum ausreichen, den Kostendruckentscheidend zu lindern. Bei einem gerechten Umbaudes Sozialstaates sind alle Beteiligten gefragt: die Ver-sicherten wie auch die Verbände und die Versiche-rungsträger, die Unternehmer und die Gewerkschafter.Dabei werden wir uns von einem Grundsatz leitenlassen: Die Stärke des Sozialstaates bemißt sich nicht anden Milliarden, die er ausgibt. Sie muß sich beweisen ander Qualität der Leistungen, die erbracht werden.
Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Un-sere Gesellschaft erwirtschaftet genug, um sich den So-zialstaat leisten zu können. Was wir uns nicht leistenkönnen, sind Ungerechtigkeit und Untätigkeit. Wirbrauchen die Menschen in Deutschland nicht auf „Blut,Schweiß und Tränen“ einzustimmen. Die Menschen ha-ben gezeigt, daß sie bereit sind zu teilen und zu geben.Wie sonst, wenn nicht durch den Elan und die Solidari-tät der Menschen im Osten und im Westen hätte es die– bei allen Defiziten – doch beachtlichen Leistungenbeim Aufbau der Wirtschaft in den neuen Länderngeben können? Ich sage ganz deutlich: Wir werden dieseSolidarität mit den Menschen im Osten des Landes auchweiterhin brauchen.
Wer die dafür nötigen Leistungen zurückfährt, der ge-fährdet das Erreichte. Wir sind noch immer weit entferntvon gleichwertigen Lebensbedingungen in Ost undWest.Das heißt konkret: Der Solidarpakt von 1993 wirdauch weiterhin das finanzielle Rückgrat des wirtschaftli-chen Aufbaus bleiben. Wir werden die Maßnahmen deraktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die –das kennen wir ja schon – vor der Wahl kurzfristighochgefahren wurden und jetzt, wenn nichts geschähe,wieder ausliefen, auf dem bisherigen Niveau verstetigen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Über Bildungs- und Qualifizierungsangebote wollenwir möglichst vielen den Weg zurück in den ersten Ar-beitsmarkt ebnen. Dennoch wird eine aktive Beschäfti-gungspolitik auf relativ hohem Niveau im OstenDeutschlands noch für eine ganze Weile notwendig undunverzichtbar bleiben. Auch die bislang bis Ende 1998befristeten Regelungen zum Investitionsvorrang fürOstdeutschland werden wir fortführen. Diese Bundes-regierung, meine Damen und Herren, weckt auch dortkeine Illusionen. Sie sagt, daß uns noch eine lange undschwierige Wegstrecke des wirtschaftlichen Aufbaus inden neuen Bundesländern bevorsteht. Aber sie zollt Le-bensleistung und Biographien der Menschen im OstenAchtung und hohen Respekt.Die Anstrengungen werden sich lohnen, denn wir ha-ben die Chance, überall in Ostdeutschland Regionen mitökonomischem und ökologischem Vorbildcharakter zuschaffen, wirklich neue Wege zu gehen, statt Abziehbil-der der alten Bundesrepublik herzustellen.
Die Menschen in den neuen Ländern – auch das giltes zu erkennen – haben Deutschland auch und geradekulturell stark bereichert. Viele im Westen können undsollten von ihrer Zivilcourage, ihrer Kreativität und ih-rem Erfindungsreichtum lernen. Wir wissen, meine Da-men und Herren, daß wir eine Nation mit einer gemein-samen Kultur, Sprache und Geschichte sind, allerdingsauch eine Nation, die 40 Jahre Spaltung in getrennteStaaten hat erdulden müssen.Wir kennen die Mängel in den Regelungen über dieRehabilitierung und Entschädigung der Opfer vonDDR-Unrecht, und wir werden die Härten beseitigen.Gegen die Spaltung setzen wir den Willen zu mehrNormalität im Umgang miteinander. Besserwisserei undLarmoyanz, die Geringschätzung des anderen, seinerVorlieben, seiner Gewohnheiten, all das hat in einermodernen Demokratie nichts zu suchen.Was wir allerdings verbessern wollen und müssen, istdie Zielgenauigkeit der Aufbau- und Fördermaßnah-men. Die Bundesregierung wird ein Förderkonzept ent-wickeln, das sich an drei Zielen ausrichtet: erstens derSicherung der Förderpräferenz für die neuen Bundeslän-der, zweitens dem verstärkten Ausbau der infrastruktu-rellen Versorgung insbesondere in den wirtschaftlichenProblemregionen sowie drittens der Stärkung der Inno-vationsfähigkeit der Unternehmen und dem Ausbau vonFinanzierungsformen, die den besonderen Problemenostdeutscher Unternehmen gerecht werden.
Die Eigenkapitalbasis der Unternehmen im Ostenmuß gestärkt werden.Vor allem die jungen und noch nicht so finanzstarkenKleinbetriebe in den neuen Ländern leiden existentiellunter einer zunehmend laxer werdenden Zahlungsmoral.Wir werden deshalb dafür sorgen, daß zahlungsunwilli-ge Schuldner begreifen, daß schlechte Zahlungsmoralsich auch finanziell nicht lohnt.Wir wollen die Anstrengungen zur Sanierung undGestaltung der Städte verstärken und auch darüberwieder mehr Menschen in Beschäftigung bringen.Ich habe als Bundeskanzler erklärt, den Aufbau Ostzur Chefsache zu machen. Die Kompetenzen dafür wer-den gebündelt. Mir wird ein Staatsminister im Bundes-kanzleramt zur Seite stehen, der vor allem für eine sehrenge Koordination mit den Landesregierungen in denostdeutschen Ländern sorgen wird.
Das Bundeskabinett wird alle zwei Monate in einemder neuen Länder tagen, um mit den dortigen Landesre-gierungen die Lage zu erörtern und konkrete Projekteauf den Weg zu bringen, die der Situation dort gerechtwerden.
Gerade in den neuen Bundesländern haben die Bürge-rinnen und Bürger ihre ganz speziellen Erfahrungen mitDichtung und Wahrheit in der Politik gemacht.
Sie haben deshalb einen Anspruch darauf, daß wir dieProbleme vor Ort beim Namen nennen, vor Ort Lösun-gen entwickeln und sie dann auch zügig durchsetzen.Realitätssinn und Reformwillen sind schließlich keineOptionen, die wir nach Belieben umsetzen und aus-schlagen könnten.Kurz vor der Jahrtausendwende ist die Welt in bahn-brechenden Veränderungen begriffen. Die Digitalisie-rung des Wissens und der Produktion, die Globalisie-rung der Waren- und Finanzmärkte zwingt uns zu An-passungen und zum Umdenken, zum Abschied von lieb-gewordenen Traditionen und Gewohnheiten. Das machtvielen Menschen angst. Aber, meine Damen und Herren,Angst haben müssen wir nicht vor der Veränderung,Angst haben müssen wir nur davor, im Stau selbstge-setzter Blockaden stecken zu bleiben.
Die Wirklichkeit unseres Erwerbslebens hat sichdrastisch verändert. Der schöne und viele Jahre Sicher-heit verheißende Ausdruck, jemand habe nach der be-ruflichen Qualifikation „ausgelernt“, hat seine Bedeu-tung verloren. Das Weiter- und das Dazulernen sindheute unabdingbare Anforderungen für jeden. Diese giltes zu realisieren. Aber sie sind auch eine Herausforde-rung an die Neugier und Leistungsbereitschaft eines je-den.Dieser veränderten Realität muß sich auch unser So-zialsystem anpassen. So werden wir bei der Rentenre-form selbstverständlich die Zunahme der sogenanntenunsteten Erwerbsverläufe angemessen berücksichtigen.Insbesondere Frauen dürfen eben nicht dafür bestraftwerden, daß sie ihr Leben flexibel gestalten, daß PhasenBundeskanzler Gerhard Schröder
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der Kindererziehung, der Erwerbsarbeit und des Lernenseinander abwechseln.
Meine Damen und Herren, wer das Lernen gering-schätzt und die Möglichkeiten des Wissens nicht nutzt,läuft in eine Falle. Wenn wir die ökologische Moderni-sierung wollen, dann heißt das auch, daß wir die enor-men Möglichkeiten, die uns die Bio-, die Medizin- unddie Gentechnik bieten, in verantwortbarem Rahmen nut-zen und entwickeln wollen. Wenn wir den Weg in eineGesellschaft gehen wollen, die industriell stark, tech-nisch innovativ, sozial gerecht und serviceorientiert ist,dann können wir es uns nicht leisten, gerade die perso-nenbezogenen oder die im Haushalt erbrachten Dienst-leistungen als minderwertig zu diskriminieren.
Wir werden uns von der Vorstellung trennen müssen,nur die in der unmittelbaren Produktion erbrachte kör-perliche "Maloche" oder der Dienst im Büroalltag seienwirkliche Arbeit. Unser Augenmerk gilt allen, die ge-sellschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliches Wohl-ergehen schaffen, den produktiv Beschäftigten ebensowie den vielen, die das Wagnis der Existenzgründungauf sich nehmen, und genauso sehr denen, die sich umdie Belange der Menschen kümmern.Haushaltshilfe und Altenbetreuung, Einpack- oderEinpark-Service sind Dienstleistungen an der Allge-meinheit, deren sich niemand schämen muß. Diejenigen,die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollenund sie angemessen zu bezahlen in der Lage sind, wer-den in unserer Gesellschaft immer mehr. Auch deshalbwerden wir die sogenannten 620-Mark-Jobs nicht ein-fach abschaffen. Aber wir werden sie angemessen in dieSozialversicherungspflicht einbeziehen.
Die Grenze werden wir auf 300 DM festlegen. Da wirgleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben, werdendiese Tätigkeiten nicht unzumutbar verteuert.Man sieht daran: Die Bundesregierung erkennt aus-drücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcherBeschäftigungsverhältnisse an: sowohl für die Arbeitge-ber als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer und für die Verbraucher. Aber wir wollengemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften denMißbrauch, der mit dieser Regelung betrieben wordenist, ernsthaft bekämpfen.
Mehr Flexibilität im Arbeitsleben darf nicht auf Ko-sten sozialer Sicherheit gehen. Vor allem darf sie nichtzu Lasten der Frauen gehen, denen die Gesellschaftschon immer mit größter Selbstverständlichkeit höchsteFlexibilität abverlangt hat. Wir müssen die Vorausset-zungen dafür schaffen, daß Frauen, die es wollen, amErwerbsleben teilhaben können. Dabei haben wir nichtnur gegen überkommene Strukturen in der Gesellschaftzu kämpfen. Wir müssen auch ein Schul- und Betreu-ungssystem schaffen, das die Lebenswirklichkeit mo-derner Familien und von Alleinerziehenden ausreichendberücksichtigt.
Die Bundesregierung wird schon Anfang 1999 einAktionsprogramm „Frau und Beruf“ initiieren. Wir wer-den ein wirksames Gleichstellungsgesetz vorlegen, aufChancengleichheit bei der Ausbildung insbesondere inzukunftsorientierten Berufen achten, Existenzgründerin-nen besonders unterstützen und die Bedingungen fürflexiblere Arbeitszeiten verbessern.
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub werden wir zueinem Elterngeld und zu einem flexiblen Elternurlaubweiterentwickeln. Die Schaffung von größeren und bes-seren Angeboten zur Kinderbetreuung werden wir unter-stützen.Aber ein solches Aktionsprogramm bleibt ein Trop-fen auf den heißen Stein, solange wir nicht die objektiveBenachteiligung von Frauen aufheben, etwa in der Ren-tenversicherung. Auch darüber ist viele Jahre geredetworden, aber es ist nichts geschehen. Was geschehen ist,hat die Lage der Menschen eher verschlechtert. Deshalbsind wir auch hier gefordert, zu modernisieren und so-ziale Gerechtigkeit wiederherzustellen.Die Bundesregierung wird zunächst die von ihrerVorgängerin getroffenen Maßnahmen zur Verschlechte-rung der Rentnerinnen und Rentner aussetzen.
Wir sagen ausdrücklich „Maßnahmen“ und nicht „Re-form“, denn die Reform liegt noch vor uns.
Wir wollen den Begriff der Reform wieder in seinRecht setzen. Reform – das Wort war einmal klar defi-niert als Programm oder Projekt, das die Lebensverhält-nisse der Menschen verbessert. So war das damals beider Einführung des Frauenwahlrechts vor – fast auf denTag genau – 80 Jahren, eine Reform, die August Bebelund die Sozialdemokraten erkämpft hatten. So war dasauch in den 70er Jahren, als Sozialdemokraten und ihreBündnispartner unter Willy Brandt und Helmut Schmidttatsächlich „mehr Demokratie wagten“ und mehr Chan-cengleichheit herstellten.Heute stehen wir erneut vor der Notwendigkeit vonReformen, die das Leben der Menschen verbessern sol-len. Es geht nicht zuletzt darum, die gewaltig entfaltetenProduktivkräfte, den immensen Reichtum an Waren undDienstleistungen, den wir erwirtschaften, wieder inBundeskanzler Gerhard Schröder
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einen sozialen, in einen sinnstiftenden Zusammenhangzu integrieren; denn das ist verlorengegangen.
Das muß das große gesellschaftliche Projekt der Neu-en Mitte sein: die ökologische und solidarische Erneue-rung unserer Gesellschaft und Ökonomie zu einer mo-dernen sozialen Marktwirtschaft. Daran werden wir ar-beiten; das werden wir miteinander leisten.
Das ist auch der Grund, warum wir bei der Alterssi-cherung eine echte Solidarität der Generationen, nichtnur eine Solidarität der Berufsgruppen erzielen wollen.Wir wollen einen mit Leben erfüllten Generationenver-trag, keinen Vertrag zu Lasten der Arbeit. In diesemSinne werden wir dem Bundestag Vorschläge zur Re-form der Alterssicherung vorlegen, die auf Solidarität,aber auch auf die gesellschaftliche Realität abzielen.Dabei geben wir eine dreifache Garantie ab: Wirwerden den heute in Rente lebenden Menschen ihreRente sichern und ihnen jedenfalls ihre ohnehin oft ge-ringen Einkünfte nicht kürzen. Denjenigen, die heute indie gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sagen wirzu, daß sie damit einen wirksamen und leistungsgerech-ten Rentenanspruch erwerben. Denjenigen, die jetzt insBerufsleben eintreten, sichern wir den Umbau der Al-terssicherung zu einem transparenten, zukunftsfähigenVersicherungspakt zu.Dieser Pakt wird auf vier Säulen stehen: Das sind diegesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Alters-vorsorge, die private Vorsorge, deren Organisation vomStaat, etwa in steuerlicher Hinsicht, ermutigt wird, unddie Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer am Produktivkapital und an der Wertschöpfung inden Unternehmen. Für den Nutzen der Reform, die wirim Grundsatz vereinbart haben, gibt es auf der ganzenWelt gute Beispiele; von denen können, von denen wer-den wir lernen.Bei der gesetzlichen Rentenversicherung müssen wirdie finanzielle Grundlage verbreitern und versicherungs-fremde Leistungen staatlich finanzieren.
Bei den Lebensversicherungen werden wir für mehrWettbewerb und mehr Transparenz sorgen. Die zu-kunftsfähige Erneuerung der betrieblichen Altersvorsor-ge muß im Bündnis für Arbeit und Ausbildung fest ver-einbart werden. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer am Produktivvermögen werden wirunterstützen. Durch die Nettoentlastung der Lohn- undEinkommensteuerzahler schaffen wir auch auf diesemSektor beachtliche Spielräume für die Tarifpartner.Eine derartige Reform wird ihren Namen verdienen – anders als die Rentenkürzungen und die weiteren sozia-len Einschnitte, die wir noch in diesem Jahr aussetzen,um Raum für wirklich zukunftsfähige Lösungen zuschaffen.
Die Verschlechterungen beim Kündigungsschutzund bei der Lohnfortzahlung werden wir – wie wir esversprochen haben – zum 1. Januar 1999 aufheben.
Im Gesundheitswesen werden wir die Belastungender Kranken, vor allem der chronisch Kranken und derälteren Patienten, zurückführen. Die Zuzahlungen derVersicherten bei Medikamenten werden ebenfalls zum1. Januar 1999 gesenkt. Das sogenannte Krankenhaus-notopfer wird ab sofort ausgesetzt.
Auch im Gesundheitswesen reichen die heute zurVerfügung stehenden Finanzmittel für eine qualitativhochwertige Versorgung im Prinzip aus. Nicht die Ra-tionierung in der gesetzlichen Krankenversicherung,sondern die Rationalisierung in der Versorgung ist derrichtige Weg – und den werden wir gehen, meine Da-men und Herren.
Ich weiß, die Tradition, die soziale Sicherheit zu wah-ren, gilt heute manchen schon als revolutionär. Dafür dietraditionellen Mittel aufzuwenden wäre aber womöglichreaktionär. Weder auf dem Renten- noch auf dem Ge-sundheitssektor werden wir uns in diesem Widerspruchverfangen. Wir stehen auch in diesen Bereichen für eineReform, die sich an den Realitäten orientiert.Die Realität lehrt uns zum Beispiel, daß Deutschlandin den vergangenen Jahrzehnten eine unumkehrbareZuwanderung erfahren hat. Wir haben die Menschen,die in den 50er Jahren zu uns kamen, eingeladen. Heutesagen wir diesen unter uns lebenden Mitbürgerinnen undMitbürgern, daß sie keine Fremden sind. Zu Fremdenmachen sich vielmehr diejenigen, die in unserem Landden Fremdenhaß propagieren.
Das wollen wir nicht. Diesen verblendeten Minderheitensetzen wir eine entschiedene Politik der Integration ent-gegen.
Den Zuwanderern, die bei uns arbeiten, sich legal inDeutschland aufhalten, Steuern zahlen und sich an dieGesetze halten, ist viel zu lange gesagt worden, sie seienbloß Gäste. Dabei sind sie real längst Mitbürgerinnenund Mitbürger geworden.
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Diese Bundesregierung wird deshalb ein modernesStaatsangehörigkeitsrecht entwickeln. Es wird dieVoraussetzungen dafür schaffen, daß diejenigen, die aufDauer bei uns leben und deren Kinder, die hier bei unsgeboren sind, volles Bürgerrecht erhalten können.
Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür seineausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen müs-sen. Deshalb werden wir eine doppelte Staatsbürger-schaft ermöglichen.
Integration erfordert auch und gerade die aktive Mitwir-kung derer, die sich integrieren sollen. Aber wir werdendenen, die dauerhaft hier leben, arbeiten, ihre Steuernzahlen und die Gesetze achten, die Hand reichen, damitsie sich in unsere Demokratie als Menschen auch wirk-lich einbringen können.
So nehmen wir die Wirklichkeit in Europa positiv zurKenntnis, so wollen wir das miteinander halten, und sosollte es in Deutschland üblich werden.
Unser Nationalbewußtsein basiert eben nicht auf denTraditionen eines wilhelminischen „Abstammungs-rechts“, sondern auf der Selbstgewißheit unserer Demo-kratie. Wir sind stolz auf dieses Land, auf seine Land-schaften, auf seine Kultur, auf die Kreativität und denLeistungswillen seiner Menschen. Wir sind stolz auf dieÄlteren, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut undihm seinen Platz in einem friedlichen Europa geschaffenhaben. Wir sind stolz auf die Menschen im Osten unse-res Landes, die das Zwangssystem der SED-Diktatur ab-geschüttelt und die Mauer zum Einsturz gebracht haben.
Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewußtseineiner erwachsenen Nation, die sich niemandem über-,aber auch niemandem unterlegen fühlen muß,
die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt,aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzuset-zen, doch nach vorne blickt. Es ist das Selbstbewußtseineiner Nation, die weiß, daß die Demokratie nie für dieEwigkeit erworben ist, sondern daß Freiheit, wie es schonin Goethes „Faust“ heißt, „täglich erobert“ werden muß.
Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns alsDeutschen um so besser trauen können, je mehr wirDeutschen selbst unserer eigenen Kraft vertrauen.
Es waren in der Vergangenheit immer die gefährli-chen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein, die zuExtremismus und Unfrieden geführt haben. In diesenTagen ist es 80 Jahre her, daß der erste Weltkrieg zuEnde gegangen ist. In Frankreich und Deutschland istdamit das Gedenken an Leid und unsagbaren Schmerzverbunden. Beide Völker sind deswegen unumkehrbar indem Bewußtsein geeint: „Nie wieder!“Für uns Deutsche ist der gestrige Tag, der9. November, geschichtsbeladen und ambivalent wiekein anderer. Kein anderes Datum symbolisiert Stolzund Schmerz, Freude und Schande in der Geschichte un-serer Nation so sehr wie dieser 9. November. Es ist derTag, da die erste deutsche Republik entstand. Es ist derTag, an dem für Millionen von Ostdeutschen die Berli-ner Mauer passierbar wurde. Aber es ist auch der Tagder Reichspogromnacht, als 1938 Deutsche in verbre-cherischem Rassenwahn im ganzen Land Synagogenanzündeten, die Häuser und Geschäfte jüdischer Mitbür-ger zerstörten und die jüdischen Mitbürgerinnen undMitbürger töteten.Vieles, was die Väter und Mütter unserer Verfassungkonzipiert haben, geschah vor allem in Erinnerung andiese nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Diegemeinsame Geschichte verpflichtet auch uns. Aber in-zwischen – das ist gut so – ist unsere Demokratie keinzartes Pflänzchen mehr, sondern ein starker Baum. DieDeutschen haben mit Hilfe ihrer Freunde und Verbün-deten die staatliche Einheit in Frieden und Selbstbe-stimmung vollenden können. Wir bekennen uns unein-geschränkt zu unserer Verankerung im westlichenBündnis und in der Europäischen Union. Wir sind heuteDemokraten und Europäer – nicht, weil wir es müßten,sondern weil wir es wirklich wollen, meine Damen undHerren.
Als Demokraten und Europäer wollen wir die Instru-mente der Demokratie weiterentwickeln. Wir werden siean den Erfordernissen einer modernen Politik ausrichten,die auf Partnerschaft und Dialog gegründet ist. Die de-mokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen undBürger werden wir stärken. Wir werden mit den Um-weltverbänden über ein Verbandsklagerecht reden, dasnicht noch mehr politische Entscheidungen auf die Justizabwälzt, sondern die Beteiligung betroffener und sach-kundiger Bürger schon im Vorfeld stärkt; darum geht esuns.Wir werden da, wo es geht, Gesetze mit einem Über-prüfungsvorbehalt versehen und sie nach einem ver-nünftigen Zeitraum der Erprobung erneut dem Parla-ment vorlegen, um sie zu korrigieren oder auch zu be-stätigen.Wir halten es mit der Maxime des großen Philoso-phen Ernst Bloch:Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht wor-den sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, inanderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Nicht nur dein Denken, sondern vor allem das zuBedenkende hat sich unterdes geändert.Daran orientieren wir uns, wenn wir sagen: Wir wollenuns den Realitäten stellen und wieder einmal mehr De-mokratie praktizieren.Meine Damen und Herren, es ist heute eine lebendigeund stabile Demokratie, die wir beim Umzug der Ver-fassungsorgane nach Berlin mitnehmen. Die Baumaß-nahmen dafür werden zügig zu Ende geführt, und dieBundesregierung wird helfen, die Voraussetzungen zuschaffen, die Berlin braucht, um seiner Aufgabe alsHauptstadt gerecht zu werden. Insbesondere die städte-bauliche Neuordnung der Berliner Mitte werden wirunterstützen.Aber es geht ja um mehr als um einen Umzug, meineDamen und Herren. Es geht auch hier um einen Auf-bruch. Wir gehen übrigens nicht nach Berlin, weil wir inBonn gescheitert wären. Ganz im Gegenteil! Das40jährige Gelingen der Bonner Demokratie, die Politikder Verständigung und guten Nachbarschaft, dieLeuchtkraft eines Lebens in Freiheit haben dazu beige-tragen, die deutsche Teilung zu überwinden und das zuermöglichen, was wir heute gemeinhin „Berliner Re-publik“ nennen. Jürgen Habermas und viele andere er-hoffen sich von dieser Berliner Republik ein, wie erformuliert hat, „ziviles Land, das sich kosmopolitischöffnet und behutsam-kooperativ in den Kreis der ande-ren Nationen einfügt“. Daran wollen wir arbeiten.In der öffentlichen Diskussion hat es aber auch Ein-wände gegen diesen Begriff gegeben. Manchen klingtBerlin immer noch zu preußisch-autoritär, zu zentrali-stisch. Dem setzen wir unsere ganz und gar unaggressiveVision einer Republik der Neuen Mitte entgegen. Die-se Neue Mitte grenzt niemanden aus. Sie steht für Soli-darität und Innovation, für Unternehmungslust und Bür-gersinn, für ökologische Verantwortung und eine politi-sche Führung, die sich als modernes Chancenmanage-ment begreift. Symbolisch nimmt diese Neue Mitte Ge-stalt in Berlin an: mitten in Deutschland und mitten inEuropa.Allerdings bleibt auch hier die Vergangenheit leben-dig. In jüngster Zeit, meine Damen und Herren, werdengroße deutsche Unternehmen mit dieser Vergangenheitin besonderem Maße konfrontiert. Deshalb habe ichnoch vor der Aufnahme meiner Amtsgeschäfte betroffe-ne Industrieunternehmen zusammengerufen, um übereinen gemeinsamen Fonds zur Entschädigung berech-tigter Ansprüche von Zwangsarbeitern zu sprechen.
Gemeinsam heißt hier Gemeinsamkeit der Unterneh-men. Ich habe den Eindruck, daß die Unternehmen zueiner fairen Lösung hinsichtlich der berechtigten An-sprüche bereit sind.Aber ich sage genauso deutlich: Wo es nicht um denAusgleich erlittenen Unrechts geht, werden wir unserenUnternehmen und damit auch ihren Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern im Inland, aber auch im AuslandSchutz gewähren.Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlinwird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, sondernunter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Debattehier im Deutschen Bundestag. Wir sind sicher, daß wirdabei eine würdige Lösung finden werden, die in einGesamtkonzept für die Gedenkstätten in Deutschlandeingebettet wird.Aber in diesem Geschichtsbewußtsein sagen wirauch, daß Berlin noch für ganz andere Traditionen stehtals nur für die Erinnerung an totalitäre Schreckensherr-schaft. Berlin steht auch für demokratische Selbstbe-hauptung und Freiheitswillen; beides wurde vor allemvon den sozialdemokratischen Stadtoberhäuptern ErnstReuter und Willy Brandt verkörpert.
Berlin steht für ein weltoffenes Klima, das die Stadtzum Anziehungspunkt für die Jugend und für die kultu-relle Avantgarde aus ganz Europa gemacht hat. Diekulturellen Brücken nach New York, Warschau, Moskauund Paris sind längst wieder geschlagen. Für die jünge-ren Deutschen und Europäer ist Berlin vor allem eineheitere und aufregende Stadt, die sie von Klassenreisen,Fußballspielen oder auch von der Love-Parade her ken-nen.
Herr Fraktionsvorsitzender, ich weiß nicht, warumSie so besonders lächeln.
Auch und gerade an diesen Traditionen werden wir an-knüpfen, wenn wir Berlin zur Hauptstadt einer Republikder Neuen Mitte machen wollen.Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zurkulturellen Förderung Berlins.
Diese wird mit Unterstützung kultureller Projekte undEinrichtungen in den neuen Ländern einhergehen. ZurBündelung der kulturpolitischen Kompetenzen des Bun-des schaffen wir das Amt eines Staatsministers fürkulturelle Angelegenheiten. Er wird Impulsgeber undAnsprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes seinund sich auf internationaler, aber vor allem auf europäi-scher Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kulturverstehen. Auch dadurch wird die BundesregierungKulturpolitik wieder zu einer großen Aufgabe europäi-scher Innenpolitik machen.Meine Damen und Herren, die Republik der NeuenMitte ist auch eine Republik des Diskurses. Er findetnicht hinter den verschlossenen Türen der Gremienvor-stände statt. Die Neue Mitte sucht den Konsens über dasbeste Ergebnis und nicht den Kompromiß über denkleinsten gemeinsamen Nenner.Die neuen Medien sind für sie nicht in ein paar mehroder ein paar weniger Kanälen im Privatfernsehen, son-dern bedeuten für sie den technisch unbegrenztenBundeskanzler Gerhard Schröder
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Zugang zum Wissen und zum weltweiten Informations-austausch.
Wir werden uns dafür einsetzen, gemeinsam mit denLändern und den Partnern aus der Industrie an denSchulen einen kostenlosen oder zumindest kostengünsti-gen Internetzugang zu ermöglichen.Im Zeitalter von Internet und Online-Kommunikationmuß aber auch das Wort von der demokratischen Öf-fentlichkeit einen neuen Klang bekommen. Die neuenWege der Informationsvermittlung sind eine hervorra-gende Chance, die Gesellschaft zum Sprechen zu brin-gen; aber sie bergen auch Gefahren. Einer verantwortli-chen Medienpolitik kommt deshalb zentrale Bedeutungzu. Jeder soll Zugang zu den neuen Medien haben, jedersoll ihren Nutzen und ihre Grenzen kennen. Deshalbmeinen wir es wörtlich, wenn wir dazu auffordern, unse-re Kinder den Umgang mit Computern zu lehren: nichtnur die Technik, sondern mehr noch die Kultur dieserForm der Kommunikation.Aus Bonn, meine Damen und Herren, nehmen wireine gelebte, eine lebendige demokratische Transparenzmit nach Berlin. Diese Transparenz wird hier in diesemHaus des Deutschen Bundestags in großartiger Archi-tektur sichtbar.Den Reichstag, der nun bald Deutscher Bundestagsein wird, überwölbt eine gläserne Kuppel, wir wir wis-sen. Das ist nach meiner Auffassung mehr als ein hüb-sches architektonisches Detail. Es sollte ein Symbol fürneue Offenheit und für demokratische Renovierung die-ses so sehr geschichtsbeladenen Gebäudes sein. Es kannein Symbol für die moderne Kommunikation einerstaatsbürgerlichen Öffentlichkeit werden.Diese Öffentlichkeit beschränkt sich nicht auf diePolitik. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen und Re-ligionsgemeinschaften als wichtigen Kräften des kultu-rellen, politischen und sozialen Lebens werden wir för-dern und fortsetzen. Wir begrüßen den Dialog der Reli-gionsgemeinschaften untereinander und ihre Bereit-schaft, zu den brennenden sozialen, wirtschaftlichen undkulturellen Gestaltungsfragen mit Anregungen und Kri-tik beizutragen.
Das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger inVereinen und Verbänden, im Sport, in Bürgerinitiativenund Selbsthilfegruppen ist eine der Keimzellen unseressozialen Zusammenlebens und einer eigenverantwortli-chen Gestaltung unserer Existenz.Herr Kollege Schäuble, verzeihen Sie, aber weil Siedies alles – ein wenig machtverliebt und machtversessen –übersehen haben, haben Sie verloren. Das ist der Grund.
Von Koalition ist bei uns meist nur die Rede, wenn esum Parteien geht. Diese braucht man auch. Wir strebenjedoch eine große gesellschaftliche Koalition an, eineKoalition aller Kräfte, die den Wandel in Deutschlandgestalten wollen. Wir bieten nicht nur ein Bündnis fürArbeit an. Nein, meine Damen und Herren, wir wollenein Zukunftsbündnis in diesem Land schaffen.
Berlin ist aber auch die Stadt, die quälende Jahr-zehnte lang durch den Ost-West-Konflikt geteilt war. Soglücklich wir Deutschen über dessen Überwindung sind,so bewußt sind wir uns auch, daß das Ende des kaltenKrieges noch lange nicht den Weltfrieden gebracht hat.Der weltpolitische Umbruch hat in vielen Regionenneue Instabilitäten und gewaltsame Konflikte ausgelöst,auch vor unserer Haustür in Europa. Flüchtlingselend,Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung in denLändern des Südens sind ein gefährlicher Nährboden fürdiese und neue Konflikte.Angesichts solcher Risiken, aber vor allem angesichtsder Chancen internationaler Zusammenarbeit erwartetdie Welt von uns mehr als je zuvor, daß wir unserenVerpflichtungen im Rahmen unserer Bündnisse gerechtwerden. Wir bleiben in Europa und in der Welt verläßli-che Partner.Der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten vonAmerika verdanken wir viel: nicht weniger als denFrieden und unsere Freiheit. Ich will es gar nicht ver-hehlen, meine Damen und Herren: Etliche, die heute indiesem Deutschen Bundestag sitzen, und auch manche,die jetzt Mitglieder der Regierung sind, waren nicht im-mer mit allem einverstanden, was unsere amerikani-schen Partner vor allem in der Hochrüstungsphase deskalten Krieges getan und vorgeschlagen haben.
Sie standen damit übrigens nicht allein in der westlichenWelt.Es ist aber dieselbe Generation, die von kaum einemEreignis der Nachkriegsgeschichte so geprägt worden istwie von John F. Kennedys Berlin-Besuch und seinemBekenntnis zur Freiheit Westberlins.
Schriftsteller haben diese Generation als – ich zi-tiere – „Kinder der amerikanischen Zone“ bezeichnet.Sie ist mit amerikanischer Kultur und amerikanischenProdukten aufgewachsen. Aus der kritischen Distanz derKinder wurde die Partnerschaft von Erwachsenen. DieFreundschaft mit Amerika wurde dieser Generationnicht aufgezwungen, sie wurde ihr von amerikanischerDemokratie und Kultur angeboten. Es ist eine Freund-schaft, die auf gegenseitiges Verständnis und immerbessere gegenseitige Kenntnis gebaut ist.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Es ist eine Freundschaft, die sich bewährt hat und vorkeiner Bewährungsprobe steht. Wir garantieren sie nichtnur aus Kontinuität und Bündnistreue heraus, nein, wirgarantieren sie aus jenem Vertrauen, das nur aus part-nerschaftlichem Miteinanderreden und Miteinanderfüh-len entstehen konnte. Wir stehen überzeugt zu unse-ren Verpflichtungen im Rahmen der AtlantischenAllianz.
Die Instrumente der gemeinsamen europäischen Au-ßen- und Sicherheitspolitik wollen wir ausbauen undnutzen, um Europa in der internationalen Politik endlichhandlungsfähig zu machen. Darauf warten auch unsereFreunde in den Vereinigten Staaten mit Ungeduld.Deutsche Außenpolitik ist und bleibt Friedenspolitik.Dabei bekennen wir uns ausdrücklich zu der Bereit-schaft, an friedenssichernden und friedenserhaltendenMaßnahmen und Missionen mitzuwirken. Das gilt be-sonders auch für die Lage in Südosteuropa.Wir wissen sehr genau, daß es nicht genügt, zurDurchsetzung der Menschenrechte etwa im Kosovo einmilitärisches Drohpotential zu mobilisieren und, solltedies unvermeidlich sein, es auch einzusetzen. Vielwichtiger als ein eventueller Militärschlag ist die Aufga-be, die Einhaltung geschlossener Abkommen zu über-wachen und die Friedenssicherung vor Ort zu gewährlei-sten. Auch bei der Erfüllung dieser Aufgabe werden sichunsere Partner auf uns verlassen können.
In Europa kommt dabei der OSZE als der einzigengesamteuropäischen Sicherheitsorganisation überragen-de Bedeutung zu. Bei der Befriedung des Kosovo hat siesich bereits eine Aufgabe neuer Qualität gesetzt. DieBundesregierung unterstützt diese Mission mit allenKräften.Wir liefern damit auch eine hochmoderne Definitionvom Wirken der Bundeswehr als einer Armee, die demFrieden dient. Unsere Soldaten setzen heute ihr mili-tärisches Know-how in immer mehr Bereichen zivilein.
– Jetzt haben Sie aber was! Es sei Ihnen gegönnt.
Eine entscheidende politische Schwäche wurde soebenausfindig gemacht.
Das wird so weitergehen.Bei der Befriedung des Kosovo – ich hatte es schongesagt – hat die Bundeswehr sich bereits eine Aufgabeneuer Qualität gesetzt. Die Aufgaben der Bundeswehrreichen von der Eindämmung von Naturkatastrophen bishin zu aktiver Demokratisierungshilfe.Ausdrücklich danken wir den jungen Deutschen, diein Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärisch undzivil den Frieden wahren helfen.
Sie wissen, welche Hypothek sie tragen, wie genau ihrAuftritt in der Welt, aber auch hier in Deutschland be-obachtet wird. Und sie lösen ihre Aufgabe mit bewun-dernswerter Disziplin und Professionalität.Selbstverständlich wird die Bundeswehr weiterhinzur Landes- und Bündnisverteidigung befähigt bleiben.Eine Wehrstrukturkommission wird bis Mitte der Le-gislaturperiode Vorschläge unterbreiten über Auftrag,Umfang, Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte.Dabei betonen wir allerdings in aller Deutlichkeit,daß das Vorhalten militärischer Potentiale der Krisen-prävention dienen soll, wie auch ihr Einsatz die Ultimaratio der Friedenspolitik bleiben muß.
Wir werden unsere Bemühungen zur weltweiten Abrü-stung und Rüstungskontrolle noch verstärken. Die Bun-desregierung hält an dem Ziel der vollständigen Ab-schaffung der Massenvernichtungswaffen fest.
Wir wissen, daß es der Welt nicht gutgehen kann,wenn es wenigen immer besser und vielen immerschlechter geht. Die Überwindung der Kluft zwischenarmen und reichen Weltregionen bleibt die größte inter-nationale Herausforderung an der Schwelle zum 21.Jahrhundert.Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozial-produkt ist in den vergangenen 16 Jahren um beinahedie Hälfte gesunken, auf jetzt noch 0,28 Prozent. DiesenAbwärtstrend werden wir stoppen und dabei auf Effizi-enz und Kohärenz der Maßnahmen zur Bewältigungglobaler Zukunftsaufgaben achten.
Dem Wirtschaftsgipfel 1999 in Köln werden wireine Initiative zur weiteren Erleichterung der Schulden-last der ärmsten Entwicklungsländer unterbreiten. Ge-meinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Uni-on werden wir die regionale Zusammenarbeit mit denLändern in Asien, Afrika und Lateinamerika ausbauen.Den von verheerenden Naturgewalten heimgesuchtenStaaten Zentralamerikas werden wir helfen,
nicht nur mit unmittelbarer humanitärer Hilfe, sondernauch mit Mitteln für den Wiederaufbau ihrer fast voll-ständig zerstörten Infrastrukturen. Deshalb werden wirBundeskanzler Gerhard Schröder
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uns in den zuständigen internationalen Gremien füreinen möglichst umfassenden Schuldenerlaß einsetzen.
Den Vereinten Nationen werden wir eigenständigeEinheiten für friedenserhaltende Maßnahmen anbieten.Dabei setzt sich die Bundesregierung aktiv dafür ein, dasGewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahrenund die Rolle des Generalsekretärs zu stärken.
Die Möglichkeit, Ständiges Mitglied im Sicherheitsratder Vereinten Nationen zu werden, werden wir wahr-nehmen, sofern ein gemeinsamer europäischer Sitz nichterreichbar ist.Wir maßen uns nicht an, international die Rolle einerFührungsmacht zu spielen oder in Krisensituationen oh-ne Abstimmung mit unseren Partnern politische Initiati-ven zu ergreifen. Uns ist weltweit an guter Zusammen-arbeit gelegen. Auch unsere Außenwirtschaftsbeziehun-gen sollen dem Frieden und der Demokratisierung die-nen.Als dritte Säule unserer Außenpolitik werden wir dieauswärtige Kulturpolitik stärken und ausbauen. Das istgerade unter den Bedingungen der Globalisierung un-verzichtbar.
Wir wissen aus eigener Erfahrung: Frieden braucht wirt-schaftliche Entwicklung, und die wirtschaftliche Ent-wicklung braucht Frieden. Nur dort können Krisen aufDauer gelöst werden, wo die Menschen spüren, daß sichFrieden und Demokratie lohnen und daß friedliche Ent-wicklung ihre Lage spürbar verbessert.Eine solche Aufgabe stellt sich uns gemeinsam mitunseren europäischen Partnern etwa im Nahen Osten.Im Friedensprozeß zwischen Israel, den Palästinensernund den arabischen Nachbarstaaten können und wollenwir nicht die Rolle des Paten im Friedensprozeß spielen.Dieser Part kommt den Vereinigten Staaten von Ameri-ka und den internationalen Organisationen zu. Aber wirEuropäer können und sollten durch gezielte Wirtschafts-hilfe, durch Öffnung der Märkte und durch die Beteili-gung an Infrastrukturmaßnahmen dazu beitragen, denFriedensprozeß unumkehrbar zu machen. Damit könnenwir unserer historischen Verantwortung gerecht werden– auch und gerade für Israel und für den Frieden.
Die Einbindung Deutschlands in die EuropäischeUnion ist von zentraler Bedeutung für die deutschePolitik. Die Bundesregierung wird deshalb insbesonderedie deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr1999 nutzen, um den europäischen Integrationsprozeßvoranzutreiben. Nur durch die Weiterentwicklung zueiner Politischen Union sowie zu einer Sozial- und Um-weltunion wird es gelingen, unser Europa bürgernah zugestalten.
Durch den Regierungswechsel in Deutschland unddurch die neuen politischen Realitäten in Europa ergibtsich endlich die Chance einer europäischen Sozial- undBeschäftigungspolitik. Der Kampf gegen die Arbeitslo-sigkeit kann endlich auch als europäische Frage behan-delt werden. Er ist eben nicht mehr länger eine Fußnotezu den Beschlüssen des Ministerrates, sondern er stehtauf der europäischen Tagesordnung ganz oben.
Unser Ziel ist ein europäischer Beschäftigungspakt.In ihm sollen ausdrücklich verbindliche Ziele zum Ab-bau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie zurÜberwindung der Diskriminierung von Frauen auf demArbeitsmarkt aufgenommen werden. Zur Schaffung vonzukunftsfähigen Arbeitsplätzen werden wir uns auch inder Europäischen Union für eine Politik der ökologi-schen Modernisierung einsetzen.Die Europäische Währungsunion ist eine unum-kehrbare Tatsache. Der Euro wird uns die völlige Ver-gleichbarkeit der Preise und der Leistungen bringen.Damit ist die Zeit nationaler Alleingänge endgültig vor-bei. Das gilt zum Beispiel auch für die Weiterentwick-lung der ökologischen Steuerreform. Sie muß und siekann nur in einem europäischen Rahmen auf Dauer ge-lingen.
Die gemeinsame Währung muß ein Erfolg werden.Das heißt: Sie muß stabil sein und stabil bleiben.Die Stabilitätsorientierung der künftigen europäi-schen Geldpolitik stellen wir nicht in Frage. Aber auchdie vom Bundesbankpräsidenten selbst als wünschens-wert bezeichnete Diskussion um die Zinspolitik – umauf einen aktuellen Punkt einzugehen – wollen und wer-den wir führen.
Dabei hat niemand – ich wiederhole: niemand – die Un-abhängigkeit der Bundesbank und der EuropäischenZentralbank in Frage gestellt.
– Sie interpretieren das immer gerne anders. Aber es istso, wie ich es Ihnen hier sage; glauben Sie es mir.
Diese Unabhängigkeit ergibt sich aus dem Bundes-bankgesetz und aus dem Maastrichter Vertrag. Dortwurde sie verankert, weil sie sachlich geboten ist undweil sie der Stabilität dient.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Aber ich füge hinzu: Dabei entspricht es entwickelterund guter europäischer Tradition demokratisch verfaßterGesellschaften – auch deshalb steht dies darin –, daßzum Beispiel die Europäische Zentralbank ihre in vollerSouveränität gefaßten geldpolitischen Entscheidungenregelmäßig dem Europäischen Parlament darlegen wird.Was spricht dagegen?
Der Bundesfinanzminister hat als einer der ersten aufdie Notwendigkeit hingewiesen, zu wirksamen interna-tionalen Vereinbarungen zu kommen, um die Turbulen-zen auf den Weltfinanzmärkten zu glätten. Diese Not-wendigkeit wird heute bei der Bundesbank, bei deneuropäischen und nordamerikanischen Partnern – bis hinzur Weltbank und zur US-Notenbank – genauso gese-hen. Auch und gerade wegen der internationalenFinanzkrisen müssen wir darauf hinwirken, daß Europamit einer Stimme spricht.Es wird deshalb ein erster Schwerpunkt der Ratsprä-sidentschaft sein, die Deutschland am 1. Januar 1999übernimmt, die Verhandlungen zur Agenda 2000 bereitsbei einem Sondertreffen des Europäischen Rates imFrühjahr 1999 abzuschließen. Das ist gewiß eine im-mens schwierige Aufgabe. Aber wir wollen den ernst-haften Versuch unternehmen, diese Aufgabe zu erfüllen.Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen wol-len wir dabei auch zu einer höheren Beitragsgerechtig-keit kommen und die deutsche Nettobelastung auf einfaires Maß verringern. Ich muß aber in diesem Zusam-menhang darauf hinweisen, daß diese Belastungen imJahre 1992 mit der Stimme der damaligen Bundesregie-rung unter anderen Bedingungen – das ist gar keine Fra-ge – beschlossen worden sind und daß es schwierig seinwird – das weiß jeder, der sich dieser Aufgabe ange-nommen hat –, diese Beschlüsse, auf deren Realisierungviele der Partner setzen, wenigstens in etwa zu korrigie-ren. Wir werden daran arbeiten. In diesem Punkt sindwir uns ja alle in diesem Hause einig.Bei der Agrarpolitik werden wir uns auf europäi-scher Ebene für grundlegende Veränderungen einsetzen.Wo die Angleichung der Preise an das Weltmarktniveaudie deutschen Bauern benachteiligt, müssen wir in Eu-ropa ein System direkter Einkommensbeihilfen durch-setzen, ein System, das auch national ergänzt werdenkönnen muß.Auch die EU muß sparsam wirtschaften, ihre Mitteleffizient und zielgerecht einsetzen und den Subventi-onsmißbrauch bekämpfen. Auch in Europa müssen wiruns auf die strukturschwächsten und förderungsbedürf-tigsten Regionen konzentrieren. Dabei dürfen die neuendeutschen Bundesländer gegenüber vergleichbaren Re-gionen Europas nicht in einen Nachteil geraten.Wir werden dafür sorgen, daß Deutschland in der EUnicht länger als Bremser bei der Sozialpolitik auftritt.
Wir werden aktiver Schrittmacher bei der Reform derEU sein. Wir wollen nicht, daß der Euro deutsch spricht.Wir wollen, daß D-Mark, Franc und Schilling europä-isch sprechen.
Die Erwartungen unserer Nachbarn und Partner andiese Bundesregierung sind enorm. Wir werden versu-chen, diese Erwartungen nicht zu enttäuschen. Die re-gelmäßigen Konsultationen mit Frankreich und Groß-britannien sind für uns keine bloße Formsache. Diedeutsch-französische Freundschaft ist das Fundamentunserer Europapolitik. Diese Freundschaft wollen wirauf eine noch breitere gesellschaftliche und vor allemkulturelle Grundlage stellen.Unseren Nachbarn im Osten versichern wir, daß wirdie Chance der EU-Osterweiterung entschlossen nut-zen wollen. Europa wird und darf nicht am ehemaligenEisernen Vorhang oder an der deutschen Ostgrenze en-den.
Die Deutschen werden eben nicht vergessen, welch un-schätzbaren Beitrag die Völker in Ungarn und in Polenzumal zur Überwindung der deutschen Teilung geleistethaben. Wir wollen sie partnerschaftlich in die EU inte-grieren.
Dazu gehört auch die Beachtung angemessener Über-gangsfristen, zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizü-gigkeit. Dies bitte ich wirklich alle zu verstehen. DieBeachtung dessen dient eben nicht der Abwehr und Ver-zögerung, sondern dem vollständigen Gelingen und derIntegration.Die Bundesregierung ist sich ihrer besonderen histo-rischen Verantwortung gegenüber Polen bewußt. Siewird ihr mit dem Angebot einer immer engeren Partner-schaft sowie der Verstärkung der Zusammenarbeit zwi-schen Deutschland, Frankreich und Polen gerecht wer-den.Die Bundesregierung wird zügig daran arbeiten, aufGrundlage der Deutsch-Tschechischen Erklärung nochbestehende Probleme im Verhältnis zur TschechischenRepublik abzubauen.
Meine Damen und Herren, die gemeinsame Währungist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur europäischenIntegration. Aber sie gibt nur einen Rahmen vor, einenRahmen, den wir mit Leben füllen müssen.Wir brauchen eine zügige und glaubwürdige Demo-kratisierung der europäischen Institutionen. Dabei stehtfür die Bundesregierung fest, daß unser Europa die na-tionalen Identitäten nicht ersetzen oder aufheben soll.Dennoch oder gerade deshalb scheint eine föderale Ord-nung in Europa die beste Gewähr für Solidarität undFortschritt zu sein.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Bei uns in Deutschland hat sich das föderale Systembewährt. Bund und Länder bleiben auf Kooperation an-gewiesen. Kooperation bedeutet nicht die Aufgabe dereigenen Interessen. Wer wüßte das besser als ich? DieBundesregierung wird sich an der gemeinsamen Formu-lierung einer zeitgemäßen Aufgabenverteilung im Ver-hältnis zwischen Bund und Ländern beteiligen. Nur imsachgerechten Interessenausgleich werden beide Seitenihrer gesamtstaatlichen und europäischen Verantwor-tung gerecht.Am Ende dieses Jahrtausends wird Deutschland zweiinternationale Großereignisse ausrichten. Im Jahre 1999wird Weimar europäische Kulturhauptstadt sein; imJahr darauf findet die Weltausstellung 2000 in Hanno-ver statt. Beide Veranstaltungen werden die Bundesre-publik Deutschland ins internationale Rampenlicht stel-len. Weimar wird die erste europäische Kulturhauptstadtin den neuen Bundesländern sein und versuchen, eineBrücke zwischen dem kulturellen Erbe und dem histori-schen Auftrag aus unserer Geschichte zu schlagen. DieExpo 2000 wird für unseren Aufbruch in die Welt des21. Jahrhunderts stehen.Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung dieserbeiden Ereignisse bewußt, und sie wird ihnen zu inter-nationalem Erfolg verhelfen. Sie verläßt sich dabei auchauf die Leistungsbereitschaft, die Gastfreundschaft unddie Neugier der Menschen in Deutschland.Gegen die Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte set-zen wir das Konzept von Europa als Lebensort und Le-bensart. Wir stehen für das Zukunftsprojekt Deutschlandin Europa. Dabei stehen wir in vorderster Reihe mit densozialen Modernisierern unserer Nachbarländer. DieseChance, gemeinsam ein modernes Europa der sozialenMarktwirtschaft und der ökologischen Verantwortung zubauen, werden wir ergreifen.Wir machen keine unhaltbaren Versprechungen. Aberwir können und wir wollen Mut machen, Mut zu einerneuen Zivilität und zu mehr Partnerschaft, aber auchMut zum Optimismus, zur Neugier auf die Zukunft.
Ich erinnere an Willy Brandt, der vor diesem Parla-ment 1973 in der Regierungserklärung seines Reform-bündnisses den „vitalen Bürgergeist“ zitiert hat, der indem Bereich zu Hause sei, den auch Willy Brandt da-mals „die neue Mitte“ genannt hat.Helmut Schmidt hat vor diesem Haus in seiner Regie-rungserklärung 1976 in vergleichbar schwieriger Wirt-schaftslage gesagt: Die Bundesregierung setzt bei ihrenBemühungen zuallererst – ich zitiere ihn – auf den Fleiß,die Intelligenz und das Verantwortungsbewußtsein derDeutschen. Daran knüpfe ich bewußt an, und ich bin si-cher, meine Damen und Herren, wir werden es schaffen,weil wir Deutschlands Kraft vertrauen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen, es ist mir eine große Freude, auf der Eh-
rentribüne den Beauftragten der OSZE für Medien-
freiheit, unseren langjährigen Kollegen Freimut Duve,
begrüßen zu dürfen.
Lieber Kollege Duve, hier im Parlament werden Sie
vermißt. Sie haben eine neue, verantwortungsvolle Auf-
gabe übernommen. Ich möchte Ihnen im Namen des
Hauses für Ihre bisherige Arbeit herzlich danken und
wünsche Ihnen für die Zukunft viel Erfolg.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich mittei-
len, daß heute zum erstenmal hinter dem Präsidenten-
stuhl der neue Direktor beim Deutschen Bundestag, Herr
Dr. Peter Eickenboom, Platz genommen hat.
Er folgt Dr. Rudolf Kabel nach. Dr. Kabel hat dieses
Amt mehr als sieben Jahre mit großer Sachkunde ausge-
übt und ist nunmehr in den Ruhestand getreten. Von die-
ser Stelle aus nochmals herzlichen Dank für die im
Dienste des Parlaments geleistete Arbeit. Alles Gute
auch ihm für die Zukunft.
Den neuen Direktor haben Sie schon willkommen
geheißen. Ich tue das auch noch offiziell. Ich wünsche
ihm für sein verantwortungsvolles Amt eine glückliche
Hand und Gottes Segen.
Ich eröffne jetzt die Aussprache. Das Wort hat der
Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Wolfgang
Schäuble.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! HerrBundeskanzler, es ist wahr: Sie haben am 27. Septembermit Rotgrün die Wahl gewonnen. Wir haben Ihnen dazugratuliert. Wir wünschen auch unter Ihrer Regierung un-serem Land eine gute Zukunft.
Sie werden allerdings in der Zukunft nicht jede sachli-che Einwendung gegen Ihre Absichten und Ihre Politikmit dem Hinweis auf das Wahlergebnis abtun können.Sie müssen sich in der Zukunft schon mit der Sache aus-einandersetzen.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben – nicht miteinem Übermaß an Freude, aber in demokratischem Re-spekt – das Wahlergebnis nicht nur akzeptiert, sondernden Oppositionsauftrag für diese vier Jahre angenom-men. Wir werden eine kämpferische, eine kritische Op-position sein. Wir werden nicht Opposition um der Op-position willen betreiben. Wo Sie Absichten verfolgen,Bundeskanzler Gerhard Schröder
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eine Politik betreiben, der wir zustimmen, werden wirSie nicht kritisieren, nur um andere Positionen zu ver-treten. Aber wo es um der Sache willen geboten ist,werden wir das Wächteramt der Opposition kämpfe-risch, aufmerksam wahrnehmen. Darauf können Siezählen.
So dienen wir gemeinsam in unterschiedlicher Verant-wortung und in demokratischer Gemeinsamkeit unseremLand.Gleich zu Beginn sagen will ich auch: Ihre Regie-rungserklärung war eine Enttäuschung.
Es ist eine Ansammlung von Überschriften und Ab-sichtserklärungen. Aber wo es um inhaltliche Substanzgeht, bleibt sie, trotz einer nicht unbeachtlichen Dauer –aber eine Regierungserklärung am Anfang einer neuenLegislaturperiode muß alle Themen behandeln; dasbraucht seine Zeit –, bemerkenswert blaß.
Noch spannender ist im übrigen, was Sie in Ihrer Re-gierungserklärung nicht erwähnt haben. Zwar haben Sieam Schluß, im Zusammenhang mit der EuropäischenWährungsunion und der aktuellen Debatte, die Ihr Fi-nanzminister nebst Frau Gemahlin ausgelöst haben,
ein paar Bemerkungen dazu gemacht; aber ausschließ-lich in diesem Zusammenhang ist in Ihrer Regierungser-klärung das Wort „Preisstabilität“ vorgekommen. Das istmir schon aufgefallen, und durchaus bemerkenswert.
– Ganz langsam! Wir machen es ganz in Ruhe.Wir haben in Ihrer Regierungserklärung eine Mengeertragen müssen, was so nicht akzeptabel ist. Daß mannach einem demokratischen Wechsel alles ein wenig an-ders darstellt, ist ja in Ordnung. Aber mit Helmut-Schmidt-Zitaten zu enden und zum deutsch-amerikanischen Verhältnis so zu reden, wie Sie es getanhaben, und gleichzeitig zu verschweigen, daß Sie gegenden NATO-Doppelbeschluß demonstriert und darüberHelmut Schmidt gestürzt haben – während Helmut Kohlund wir dafür gesorgt haben, daß er durchgesetzt werdenkonnte –, ist schon ein starkes Stück.
Man kann ja über Erblast und andere Dinge reden.Aber ein paar Dinge müssen am Anfang klargestelltsein: Davon zu reden, daß für die Frauen, für die Ver-einbarkeit von Familie und Beruf, nichts getan wordensei in Deutschland, ist angesichts der Tatsache, daß inden 16 Jahren, in denen Helmut Kohl Bundeskanzlerwar, in denen wir, die CDU/CSU und die F.D.P., ge-meinsam Regierungsverantwortung getragen haben, dieBerücksichtigung von Erziehungszeiten in der Ren-tenversicherung eingeführt worden ist, schon eine Un-verschämtheit.
Wir haben den Erziehungsurlaub und das Erziehungs-geld eingeführt. In Ländern, in denen die Union regiert,gibt es ein drittes Jahr Erziehungsgeld; in Ländern, indenen die SPD regiert, gibt es das nicht. Das ist der Un-terschied, und das darf man nicht verfälschen.
Was Sie zur Solidarität mit den Menschen im Osten,in den neuen Bundesländern, gesagt haben, das will ichmit der Hoffnung so stehenlassen, daß das neue Amt Ih-nen auch eine neue Einsicht gibt. Wer sich noch daranerinnert, was Sie als Ministerpräsident von Niedersach-sen zur Solidarität mit den Menschen in den neuen Län-dern gesagt haben, kann nur hoffen, daß Sie in der neuenVerantwortung ein neues Verständnis von Solidaritätaller Deutschen in Ost und West haben.
Als Sie von der Einbindung der Vertreter der Bürger-rechtsbewegung in der ehemaligen DDR in Ihre Regie-rung und Koalition sprachen, Herr Bundeskanzler, hät-ten Sie auch ein Wort zu der Koalition von SPD undPDS in Mecklenburg-Vorpommern sagen müssen.
– Das will ich Ihnen sagen, Herr Kollege. Ich habe dazueine Agenturmeldung der „AFP“ vom 9. November.Darin steht:Bundesinnenminister Otto Schily will die Überwa-chung der PDS durch den Verfassungsschutz neuüberprüfen.Schily sagte am Montag vor Journalisten in Berlin,es sei eine „vertrackte Situation“, wenn die PDSwie in Mecklenburg-Vorpommern an der Regie-rung beteiligt sei und andererseits vom Verfas-sungsschutz beobachtet werde.Der Mann hat recht: Das ist eine vertrackte Situation.
– Natürlich, deswegen gehört das in eine Regierungser-klärung, wenn man von der Bürgerrechtsbewegungspricht. Wenn das eine vertrackte Situation ist, dann istdie richtige Schlußfolgerung, mit der PDS keine Koali-tion zu bilden, anstatt aufzuhören, sie durch den Verfas-sungsschutz überwachen zu lassen.
– Über das Thema könnten wir noch länger reden.
Dr. Wolfgang Schäuble
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– Ja, natürlich! Die Regelanfrage bei der Stasi-Überwachungsbehörde abschaffen. Lesen Sie doch ein-mal nach, was Herr Gauck und Richard Schröder, IhrParteifreund, dazu gesagt haben. Die PDS hat sich mitihrer totalitären Vergangenheit nicht auseinandergesetzt.Aber Sie wollen der PDS helfen, die Vergangenheitwegzuwischen. Wir werden dabei nicht mitmachen.
Ich rate dazu, daß wir die Verfassungsschutzbehördenauch in der Zukunft ermuntern, die Frage, ob eine Orga-nisation beobachtet werden muß oder nicht, nach ihremGefahrenpotential für die freiheitlich-demokratischeGrundordnung zu beurteilen und nicht danach, ob dieSPD mit der Organisation koaliert. Das ist der Punkt,weshalb ich meine, daß die vertrackte Situation falschaufgelöst ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine an-dere Agenturmeldung zitieren, die ich heute morgen mitBefriedigung gelesen habe. Sie ist von „dpa“. Da steht –Herr Bundeskanzler, dazu haben Sie gar nichts gesagt,obwohl Sie viel von Erblast gesprochen haben –:Niedrigste Preissteigerung seit Vereinigung:0,7 Prozent. Die Lebenshaltungskosten sind inDeutschland im Oktober um 0,7 Prozent gegenüberdem Vorjahresmonat gestiegen.Meine Damen und Herren, auch das gehört zur Eröff-nungsbilanz dieser Regierung: ein Maß an Preisstabili-tät, wie wir es in Deutschland niemals zuvor gekannthaben.
Wer weiß und sich daran erinnert, daß Inflation im-mer die brutalste Form der Ausbeutung der sozialschwächeren Bevölkerungsschichten gewesen ist, dermuß, wenn er für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit– im Ziel sind wir uns einig – stehen will, dafür sorgen,daß die Preisstabilität erhalten bleibt. Deswegen gehörtdas zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie Ihrem Vorgänger imAmt zu Recht bei vielen Gelegenheiten immer wiederIhren Respekt bekunden, ist das in Ordnung. Den teilenwir, sogar mehr als Sie. Aber dann die Ergebnisse unddie Politik von Helmut Kohl und seiner Regierung so zuverfälschen, wie Sie es in Ihrer Regierungserklärunggetan haben, ist nicht in Ordnung. Das paßt nicht zu-sammen.
Deswegen muß am Anfang der Debatte über Ihre Regie-rungserklärung, am Beginn dieser Legislaturperiode vonder Opposition um der Wahrheit und der künftigen Be-wertung der Ergebnisse Ihrer Politik willen festgehaltenwerden, was die Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung tat-sächlich ist.
– Unsere Bundesregierung hinterläßt geordnete Staats-finanzen.
Es ist bemerkenswert. Die wirtschaftswissenschaftli-chen Forschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutach-ten im Oktober doch mitgeteilt, daß nach ihrer Meinungein Entlastungsspielraum für eine Steuerreform im Jahre1999 in einer Größenordnung von gesamtstaatlich etwa20 bis 30 Milliarden DM netto zur Verfügung steht. Dasist das Ergebnis der Finanzpolitik unserer Regierung,und das ist die Eröffnungsbilanz der Ihren.
Die Steuereinnahmen sind im Jahre 1998 deutlichstärker gestiegen, als im Bundeshaushalt 1998 einge-stellt, und die Ausgaben sind weniger gestiegen, als imBundeshaushalt 1998 vorgesehen.Die Arbeitslosigkeit ist stärker zurückgegangen, alswir selber dafür finanzielle Vorsorge getroffen haben.Im Oktober war die Arbeitslosigkeit in Deutschland –das ist die Eröffnungsbilanz – um knapp 400 000 niedri-ger als im Oktober des Vorjahres. Ein Rückgang der Ar-beitslosigkeit in Deutschland um 400 000 in einem Jahrist ein großer Erfolg der letzten Regierung. Dieser Trendgehört zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung.
Wir haben stabile Preise. Wir haben ein niedrigesZinsniveau, ein Zinsniveau auf historischem Tiefst-stand. Das ganze Gerede von Herrn Lafontaine ist alsounhaltbar. Es ist eine geplante, langfristig angelegteKampagne mit dem Ziel, die Unabhängigkeit von Bun-desbank und Europäischer Zentralbank durch Ein-schüchterung und politischen Druck schrittweise einzu-engen. Die ganze Kampagne entbehrt jeder sachlichenGrundlage, denn wir haben in Deutschland niedrigereZinsen als in Amerika und in den meisten europäischenLändern. Unser Zinsniveau ist auf einem historischenTiefststand. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz.
– Das kann man endlos weitermachen.Wir haben eine Steuerquote von 21 Prozent, und dieStaatsquote liegt in diesem Jahr unter 48 Prozent. Sieliegt deutlich niedriger als am Anfang der Regierungs-zeit von Helmut Kohl. Da Sie gerade Helmut Schmidtzitiert haben: Es gehörte zur Eröffnungsbilanz unsererRegierung, daß die Staatsquote damals über 50 ProzentDr. Wolfgang Schäuble
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lag, und heute liegt sie trotz der Wiedervereinigung un-ter 48 Prozent. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz.
Deswegen sage ich noch einmal: Stabile Preise, soli-des Wirtschaftswachstum, 2,7 Prozent reales Wachstumin diesem Jahr, rückläufige Arbeitslosigkeit – 400 000weniger in einem Jahr –, niedrige Zinsen, geordneteStaatsfinanzen – das ist die Eröffnungsbilanz Ihrer Re-gierung. An diesen Zahlen und Trends werden Sie sichin der Zukunft messen lassen müssen.
Sie versuchen jetzt, die Prognosen zu verändern, in-dem Sie sagen, im nächsten Jahr werde es schwierigerwerden, und indem Sie nach unten rechnen. Ich sage Ih-nen: Wenn sich die Prognosen für die gesamtwirtschaft-liche Entwicklung und für die Entwicklung am Arbeits-markt verändern sollten, dann wäre das vor allem und inerster Linie das Ergebnis der Ankündigungen einer fal-schen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik von Rot-Grün.
Sie haben angekündigt, daß Sie unsere Maßnahmenrückgängig machen wollen, so zum Beispiel die Rege-lung zum Schlechtwettergeld. Ich würde Ihnen raten:Überlegen Sie es sich noch einmal. Die Tarifpartner inder Bauwirtschaft haben doch alles gut geregelt. Warumwollen Sie denn mit einer gesetzlichen Neuregelungschon wieder in abgeschlossene Tarifverträge eingrei-fen? Ich finde, wenn wir Dezentralisierung und Tarif-autonomie ernst nehmen, sollten wir das, was die Tarif-partner in der Bauwirtschaft im Zusammenwirken mitdem Gesetzgeber gut geregelt haben, nicht durch einsei-tige Eingriffe des Gesetzgebers wieder rückgängig ma-chen.
Wenn Sie die Deregulierungen am Arbeitsmarkt –von denen übrigens Helmut Schmidt in seinem neuenBuch gerade geschrieben hat, daß sie notwendig sind,um mehr Arbeitsplätze zu bekommen – rückgängig ma-chen, zum Beispiel eine gewisse Eigenbeteiligung beider Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auf die sich dieTarifpartner zum Teil geeinigt haben, wenn Sie dieseMaßnahmen, die uns in Deutschland mehr Arbeitsplätzeeingebracht haben, zurücknehmen, dann – das ist völligklar – wird das Ergebnis mehr Arbeitslosigkeit sein. Ausdiesem Grund verschlechtern sich die Prognosen.
Wenn Sie die Steuerbelastung für Unternehmen undfür den Mittelstand erhöhen, dann werden Sie eben we-niger Investitionen, weniger Arbeitsplätze und wenigerWirtschaftswachstum haben, und dann werden natürlichauch die Steuereinnahmen wieder zurückgehen.Die neuen Haushaltslöcher, die Sie angeblich aus-findig gemacht haben, haben Sie übrigens nicht be-schrieben. Sie haben von 20 Milliarden DM gesprochen.Aber Sie waren doch bei der Haushaltsdebatte AnfangSeptember anwesend. Herr Bundeskanzler, Herr Mi-nisterpräsident außer Diensten – damals haben Sie alsMinisterpräsident gesprochen –, welche Zahl hat sichseit Anfang September verändert? Es ist die Unwahrheit,wenn Sie behaupten, bei Durchsicht der Bücher hättenSie neue Löcher entdeckt. Alle Zahlen lagen auf demTisch. Wir haben Anfang September darüber diskutiert.Nichts außer den Ankündigungen von Rot-Grün für einekünftige falsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitikhat sich geändert.
Nun sagen Sie, weil Sie ja die Kritik an den rotgrünenKoalitionsvereinbarungen gehört haben, der Mittelstandwerde mit Ihrer Steuerpolitik doch entlastet oder nichtso belastet, wie man in den Zeitungen lese. Meine Da-men und Herren, ich will an einem kleinen Punkt einmalaufzeigen, mit welchen Kniffen und Tricks schon in die-ser Regierungserklärung gearbeitet wird.Sie haben mir ja das Manuskript Ihrer Rede liebens-würdigerweise durch das Presse- und Informationsamtder Bundesregierung um 8.22 Uhr übersenden lassen.Deswegen hatte ich Zeit, mir dies genau anzuschauen.
– Nein, ich bedanke mich doch, daß ich den Wortlautder Pressemitteilung habe. Ich weiß gar nicht, warumSie sich aufregen.
– Noch herzlicher?
– Wenn es Ihnen Freude macht, bedanke ich mich wirk-lich herzlich, Herr Kollege, daß ich durch das Presse-und Informationsamt der Bundesregierung um 8.22 Uhrden Inhalt Ihrer Regierungserklärung zugestellt bekom-men habe. Deswegen habe ich jetzt die Gelegenheit, Ih-nen an Hand des Textes – das Stenographische Protokollhabe ich ja noch nicht – die Tricks aufzuzeigen, mit de-nen Sie arbeiten.Die Steuerentlastungen, die Sie vorsehen oder dieangekündigt werden – es wechselt ja; die Gesetzentwür-fe, die uns zugesandt werden,
werden ja zurückgezogen, bevor sie überhaupt nur dieGeschäftsführung der Fraktionen erreicht haben. AberSpaß beiseite.
– Lenken Sie nicht ab. Sie wollen das, was ich Ihnen sa-ge, offenbar nicht hören. – In Ihrer Regierungserklärunghaben Sie die geplanten Steuerentlastungen für die Jahre1999, 2000, 2001 und 2002 wunderbar dargestellt, ohneDr. Wolfgang Schäuble
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bei den Entlastungen zeitlich zu differenzieren. Dannhaben Sie gesagt, der Mittelstand werde im übrigen garnicht belastet.Und jetzt zitiere ich einmal:Die Sonder- und Ansparabschreibungen für Exi-stenzgründer– Sie haben das auch so gesagt –können unverändert in Anspruch genommen wer-den;– o toll, und jetzt höre man weiter zu –für kleinere und mittlere Betriebe bleiben sie biszum Jahr 2000 erhalten.Sie werden also also gestrichen, ehe die Tarifentlastun-gen überhaupt in Kraft treten können. Das ist die Wahr-heit. Der Rest ist gelogen.
Da helfen die besten Spindoctors nicht. Die SubstanzIhrer Steuerpolitik bedeutet eine Mehrbelastung fürWirtschaft und Mittelstand und damit eine Belastungund Verhinderung von Investitionen und von Arbeits-plätzen.
Es kann nach den Grundregeln von Krafts Rechen-buch und nach Adam Riese ja auch gar nicht anderssein. Aber Adam Riese?
Dazu hat das „Handelsblatt“ geschrieben: GerhardSchröder fordert Adam Riese heraus. Welch eine Her-ausforderung, Herr Bundeskanzler! Aber das ist gefähr-lich. Man sollte die Grundrechenarten nicht außer Kraftsetzen. Ich kann nicht mehr Geld ausgeben und gleich-zeitig weniger einnehmen wollen; das geht nicht zu-sammen. Wer nicht die Kraft zum Sparen hat, der wirddie Betriebe und auch die Steuerzahler nicht entlasten.
Sie sehen jetzt keine Nettoentlastung vor. Heute ha-ben Sie gesagt: 15 Milliarden DM ab dem Jahr 2002;Verzeihung, aber im Moment haben wir, wenn ich dasrichtig weiß, den 10. November 1998. Die Arbeitslosig-keit ist das dringendste Problem in unserer Gesellschaft;ihre Bekämpfung kann nicht bis zum Jahr 2002 warten.Wir brauchen jetzt Steuerentlastungen. Für 1999 habenSie keine vorgesehen.
Wenn es keine Entlastung gibt, dann muß der einemehr bezahlen, was der andere weniger bezahlen soll.Es geht nicht anders zusammen.
– Ja, natürlich. Aber, Herr Finanzminister, von Ihnenwissen wir, daß Sie niemals entlasten, sondern allenfallsumverteilen wollen. Am liebsten würden Sie Steuern nurerhöhen; denn je mehr Sie Steuern erheben, desto mehrglauben Sie ja, daß Sie Rädchen haben, mit denen Siedie gesamtwirtschaftliche Entwicklung beeinflussenkönnen. Das allerdings ist altes Denken: keine NeueMitte, sondern alte Linke.
Selbst Ihre eigenen Darlegungen, so schön sie formu-liert sind, sind ja, wenn man sie ein bißchen abklopft,ziemlich fadenscheinig. Sie selber haben für das Jahr2002 – das haben Sie zwar nicht gesagt, aber so ist esvorgesehen – eine Nettoentlastung von 15 MilliardenDM versprochen. Dann haben Sie uns auch hier gesagt –das haben wir alle gehört; ob Ihre Fraktion so genau zu-gehört hat, weiß ich allerdings nicht sicher; aber wir ha-ben aufmerksam zugehört –, daß die durchschnittlicheFamilie um 2 700 DM entlastet werde. Stimmt das, HerrBundeskanzler?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie viele Familien kann man um 2 700 DM entlasten,damit die Grenze von 15 Milliarden DM nicht über-schritten wird?
Das sind rund 5 Millionen Familien.
– Ja, das ist viel. – Aber alle anderen werden nach Ihreneigenen Vorhersagen auch im Jahre 2002 nicht entlastet,und wir haben eine Bevölkerung von 80 Millionen Men-schen. Die Behauptung, die allermeisten würden entla-stet, ist auf Grund Ihrer eigenen Zahlen als wahrheits-widrig widerlegt.
Und das gilt erst für das Jahr 2002!
– Es trifft Sie offenbar! Wenn Sie selber merken, was inIhrer Regierungerklärung steht, dann ist die Erregungbei der SPD groß. Bisher waren Sie ziemlich schläfrigwährend der Rede Ihres Bundeskanzlers gewesen; jetztsind Sie plötzlich wach geworden. Das ist die Wahrheit.
Sie haben diese zwei Stunden auch kaum ausgehalten.Deswegen sind Sie am Schluß der Rede auch alle gleichaus dem Saal gegangen.Dr. Wolfgang Schäuble
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Jetzt bleiben Sie ganz ruhig! Jetzt lassen Sie nachdiesen zwei Stunden auch der Opposition die Chance, anein paar Punkten ein bißchen Substanz zu bieten undnicht nur im Glanz der Überschriften zu bleiben. Mit derRegierungserklärung sind die Zeiten der Inszenierungenvorbei! Jetzt ist Substanz gefordert!
Es ist wirklich wahr: Der Start ist Ihnen gründlichmißlungen.
Das sage ja nicht nur ich; wenn ich das sagen würde,dann würde jeder meinen, daß ich als Oppositionsführerdas sagen muß.
Es sagen aber alle Zeitungen, auch Ihre treuesten Hel-fershelfer. Sie werden – ich sage es Ihnen voraus – eineneue Gemeinsamkeit mit Ihrem Amtsvorgänger entwik-keln, Herr Bundeskanzler Schröder. Von Helmut Kohlwissen wir, daß er den „Spiegel“ ums Verrecken nichtgern gelesen hat. Wenn Sie diese Woche die Überschrift„Wo ist Schröder?“ lesen und sich im Nebel von Lafon-taine verschwinden sehen, dann sage ich Ihnen: Der„Spiegel“ wird Ihnen bald so widerwärtig sein, wie erHelmut Kohl es in den 16 Jahren gewesen ist.
– Schauen Sie, das ist wieder typisch, Herr Bundes-kanzler: In öffentlichen Äußerungen haben Sie gesagt,eine Amtszeit von mehr als acht Jahren wäre falsch; jetztwollen Sie 16 Jahre. Das ist wie mit der Koalitionsver-einbarung: Die haben Sie morgens unterschrieben, undabends haben Sie gesagt, sie müsse nachgebessert wer-den. Die Tinte war noch nicht trocken gewesen!
Wenn ich in diesen Tagen erlebe, was in dieser Wo-che in erster Lesung auf die Tagesordnung des HohenHauses kommen soll und was nicht, so muß ich fest-stellen: Die Vorlagen werden zugesandt, dann werdensie wieder zurückgezogen. Dann heißt es, Herr Trittinund Herr Lafontaine hätten sich über die Ökosteuer ge-einigt. Wenn man aber nachliest, heißt es, sie hätten sichdarauf geeinigt, daß sie eine Kommission einsetzen. Dashat ja das Niveau Ihrer Regierungserklärung. Selbst zumThema Rente haben Sie gesagt, Sie wollten eine Kom-mission einsetzen, die alles prüfe – obwohl alle Zahlenauf dem Tisch liegen. Auch für die Reform des Finanz-ausgleichs im Bundesstaat wollen Sie bis zum Jahre2005 eine Kommission einsetzen. Herr Bundeskanzler,die Probleme unsres Landes sind angesichts der rasantenVeränderungen in der Welt um uns herum wie auch inder Arbeitswelt
dringlicher. Wir können nicht alles auf die lange Bankschieben. Sie müssen handeln und entscheiden! Sie sindschlecht vorbereitet.
– Nein, nein.
– Nein, nein.
– Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen undKollegen, die meisten Menschen, die die Plenardebattean den Fernsehapparaten verfolgen – wenn es welchetun –, bekommen nicht mit, was im Plenarsaal so allesdazwischengerufen wird. Entweder muß ich deswegensagen „Verehrte Zuschauer an den Fernsehgeräten, imAugenblick kann ich nicht weiterreden, weil die SPD ei-nen solchen Lärm macht“, oder Sie müssen leise genugsein, damit ich trotz meiner Erklärung die Chance habeweiterzureden. Wir haben Ihrem Bundeskanzler dochauch gut zugehört.
– Nein, es geht so nicht. Sie können nicht ein solchesSperrfeuer von Zwischenrufen machen. Das akzeptiereich nicht; und das sage ich dann immer, damit das je-dermann weiß und damit jedermann versteht, warum ichim Moment nicht weiterreden kann.Der Einwand, die Tatsache, daß die Probleme sodringlich seien, würde sich gegen uns richten, ist in derSache durch Ihre eigene Regierungserklärung widerlegt.Ihre konkreten Ankündigungen bestehen doch nur darin,das, was wir auf den Weg gebracht haben, damit es mitder Arbeitslosigkeit in unserem Lande besser wird,rückgängig zu machen. Lassen Sie die Entwicklung, diewir auf den Weg gebracht haben, doch weitergehen!400 000 Arbeitslose weniger – das ist eine gute Ent-wicklung. Die sollten Sie nicht zurückschrauben. Das istder Punkt.
Wir haben die Schlachten doch oft geführt. Sie kön-nen uns doch nicht vorwerfen, daß die Steuerreformnicht zustande gekommen ist. Sie haben Sie doch mit Ih-rer Mehrheit im Bundesrat blockiert. Jetzt – mit eigenerMehrheit – zeigen Sie sich unfähig, eine dem Arbeits-markt gerecht werdende Steuerreform zustande zu brin-gen. Das ist das Elend für unser Land.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Erst das Richtige blockieren und dann selber nicht in derLage sein, das Richtige zu tun, das ist gefährlich für dieChancen unseres Landes. Das ist im Zusammenhang mitder Steuerreform das eigentliche Drama.Wenn Sie von den Lohnzusatzkosten reden, dannwerden Sie doch nicht im Ernst glauben, daß Sie dieLohnzusatzkosten, die Staatsquote, die Abgabenquote inDeutschland dadurch senken können, daß Sie nur um-verteilen. Ich erinnere an das Gerede von der Ökosteu-er. Nach neuestem Stand ist die Vorlage dazu geradewieder zurückgezogen worden. Über die Einzelheitenwerden wir noch streiten, aber zunächst einmal geht esum das Prinzip. Wer die Umfinanzierung von Sozialab-gaben in Steuern – so ist der Sachverhalt – an Stelle vonEinsparungen bei den Sozialausgaben durchführt, derwird die Staats- und Abgabenquote nicht senken undauch nicht mehr Arbeitsplätze bekommen, sondern dasGegenteil. Einsparungen sind durch nichts zu ersetzen.Wer klagt, die Staatsquote sei zu hoch – das haben Sie,Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung getan–, der muß auf der Ausgabenseite von öffentlichenHaushalten und Sozialversicherungen zu Einsparungenkommen. Sie aber wollen all diejenigen Einsparungen,die wir – zum Teil schmerzlich, aber richtig – zur Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit durchgesetzt haben, wie-der rückgängig machen. Das ist der falsche Weg, wennes darum geht, mehr Arbeitsplätze in Deutschland zubekommen, und Sie sind auf diesem falschen Weg.
Daher ist der entsprechende Vorwurf an uns unzutref-fend. Es gehört zur Eröffnungsbilanz, daß wir das Landin eine solide wirtschaftliche Entwicklung – Preisstabi-lität, niedrige Zinsen, rückläufige Arbeitslosigkeit – ge-bracht haben. Und Sie drehen jetzt mit Ihren falschenrotgrünen Maßnahmen diese Entwicklung wieder zu-rück. Es handelt sich also nicht um einen neuen Auf-bruch, sondern um eine Rolle rückwärts in eine falscheVergangenheit. Das ist das Problem.
So wird das nichts mit der „Neuen Mitte“. Und dannauch noch Ihr Gerede von der Berliner Republik! HerrBundeskanzler, von Neuer Mitte habe ich weder in IhrerRegierungserklärung noch in Ihrer Koalitionsvereinba-rung irgend etwas gefunden, aber von der alten Linkensehr viel und von Durcheinander bei Ihren rotgrünenKoalitionsvereinbarungen noch mehr!
Man fragt sich ja, wer in Deutschland eigentlich regiert.
– Ja, das ist wahr, Herr Ministerpräsident Lafontaine. –Entschuldigung, es steckt noch so ein bißchen drin; HerrBundesfinanzminister! Wenn es Ihnen gar nicht mehrpassiert, sich zu versprechen, dann ist es ja gut.Herr Bundesfinanzminister, Ihre Politik ist eine Poli-tik des „leichten Geldes“.
„Leichtes Geld“ klingt ja schön, bedeutet aber für dieMenschen Inflation. Die haben verstanden, daß mannicht mehr Geld ausgeben und weniger einnehmen kann,ohne mehr Schulden zu machen. Man kann sich nichtgegen Adam Riese stellen; deswegen wird Ihre Politikdazu führen, daß die Staatsverschuldung steigt, diePreisstabilität abnimmt und die Inflation zunimmt. Dasist keine sozial gerechte Politik, sondern das Gegenteil!
Weil dies so ist, wollen Sie Druck auf die unabhän-gigen Notenbanken machen. Genau so ist der Zusam-menhang. Ich meine die Bundesbank und die künftigeEuropäische Zentralbank. Sie wollen, daß die Bundes-bank und künftig die Europäische Zentralbank an einerPolitik des leichten Geldes, an einer Politik von mehr In-flation mitwirken.
Nicht anders sind Ihr Gerede und Ihre konzentrischenAngriffe, von Ihren Beratern bis zu Ihnen selbst Tag fürTag systematisch angelegt, zu erklären. Die Zinsen sol-len nach unten gehen, obwohl wir schon das niedrigsteZinsniveau haben und obwohl wir die reale Zinsdiffe-renz in Europa in einer Weise auseinandertreiben wür-den, daß es unter dem Gesichtspunkt der beginnendenWährungsunion gar nicht zu verantworten wäre. Siewollen die Zinsen nach unten manipulieren, eine höhereNeuverschuldung vornehmen und mehr Inflation her-vorbringen. Das ist der falsche Weg, um die Reformenunseres Landes weiter voranzubringen.
Das wird nicht mehr Arbeitsplätze, sondern mehr Infla-tion in Deutschland verursachen. Sichere Arbeitsplätzeentstehen nur bei Stabilität.
Die Sache ist übrigens noch viel bedenklicher; des-wegen muß das am Anfang dieser Legislaturperiodeausgetragen werden. Dies sollte nicht freundlich gesche-hen, denn daran ist nichts freundlich. Die Bundesrepu-blik Deutschland mußte große Anstrengungen unter-nehmen, um unsere Partnerländer in Europa von derUmsetzung der deutschen Stabilitätskultur auch imMaastricht-Vertrag und im Stabilitätspakt zu überzeu-gen. Andere – ich sage das mit vollem Respekt vor derTradition und dem Verfassungs- und Staatsverständnisunserer Freunde und Partner in Europa – haben ein ganzanderes Verhältnis zu der Vorstellung von einer auto-nomen Notenbank. In Frankreich ist nach dem dortigenStaatsverständnis seit Jahrhunderten – bis zum Vertragvon Maastricht – die Politik die oberste Instanz gewe-sen, die letzten Endes über alle Entscheidungsbereicheverfügen kann. Herr Lafontaine, so hätten Sie es gern;aber so ist es in Deutschland nicht. Es ist auch besser,daß es in Deutschland nicht so ist, und es darf nicht sowerden.Natürlich hat Geld eine politische Funktion, natürlichhat die Bundesbank eine politische Verantwortung. AberDr. Wolfgang Schäuble
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diese Verantwortung unterliegt nicht der Verfügung derjeweiligen parteipolitischen Mehrheit. Das ist derGrund, warum wir in Deutschland in diesen 50 Jahrenmehr Stabilität hatten.
Nur dann, wenn wir uns diese Autonomie, diese Selb-ständigkeit, diese Eigenverantwortung, diese Nichtver-fügbarkeit der Geldpolitik der Zentralbank für Preissta-bilität, für Geldwertstabilität erhalten, können wir daraufvertrauen, daß die europäische Währung so stabil wird,wie es die D-Mark Gott sei Dank – auch dank unsererPolitik – geworden ist.Das war das eigentlich Schwierige, und das war derweite Weg, den andere auf dem Weg zur EuropäischenUnion zurücklegen mußten. Das fordert von uns Re-spekt, wie es übrigens auch Respekt vor der politischenFührungsleistung und Staatskunst der bisherigen Bun-desregierung, des Bundeskanzlers, des Finanzministers,des Außenministers, fordert,
daß es gelungen ist, die Unabhängigkeit der Notenbank,die Unverfügbarkeit der Geldwertstabilität für die je-weilige parteipolitische Mehrheit zum Prinzip auch derEuropäischen Währungsunion zu machen.
Wenn das jetzt gleich zu Beginn, noch ehe die Wäh-rungsunion wirklich begonnen hat, ausgerechnet vonDeutschland untergraben wird, dann fängt es inDeutschland schlecht an und wird in Europa nochschlechter enden, meine Damen und Herren. Deswegenwerden wir dagegen jeden Widerstand leisten.
Die Geldwertstabilität darf auch in der EuropäischenWährungsunion nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Zu einer fairen Behandlung Ihres Vorgängers und derVorgängerregierung hätte – bei allen politischen Unter-schieden – übrigens auch gehört, nicht nur über dieNotwendigkeit zu reden, Herr Bundeskanzler, die Fi-nanzierung der Europäischen Union entsprechend derjeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein Stückfairer zu ordnen, als sie im Laufe der Jahre seit 1992geworden ist. Das ist 1992 so vereinbart worden – hierhaben Sie recht; das stimmt so –, weil seinerzeit eine be-sondere Situation bestand. Aber im nächsten Jahr mußeine Neuregelung der Finanzierung der EuropäischenUnion erreicht werden. Das wird schwierig zu erreichensein. Sie werden dabei auf unsere Unterstützung rechnenkönnen.Aber Sie hätten auch vermerken sollen, daß Sie nichtnur auf unsere Unterstützung bei diesem schwierigenUnterfangen rechnen können, sondern daß Sie vor allenDingen auf die Vorarbeit des bisherigen Bundesfinanz-ministers Theo Waigel zählen können, der ja in Europadie Bereitschaft zu einer finanziellen Neuregelung in derEuropäischen Union in den letzten Monaten in mühe-voller Arbeit erreicht hat. Das hätten Sie hier mit etwasRespekt vermerken sollen.
Das wird übrigens nicht heißen, daß Deutschland alsein wirtschaftlich stärkeres Land, als es andere heutesind, nicht auch in Zukunft mehr an der Finanzierungder Europäischen Union tragen muß als andere. Das istin Ordnung. Aber es muß ein faires Verhältnis zur Lei-stungsfähigkeit vorhanden sein. Dieses Verhältnis ist einStück weit unfair geworden. Daß inzwischen alle Fi-nanzminister anerkannt haben, daß die heutige Regelungjedenfalls nicht mehr den objektiven Gegebenheitenunter den Mitgliedsländern der Europäischen Union ent-spricht, ist ein großer Erfolg von Theo Waigel. Daraufläßt sich aufbauen, verehrte Damen und Herren derneuen Bundesregierung und der neuen Mehrheit.
Aber wenn Sie als neue Bundesregierung inDeutschland die Grundlagen von Stabilität und Soliditätin der Europäischen Union untergraben, dann werdenSie Europa auch nicht in die Lage versetzen, das drin-gende Projekt der Osterweiterung zustande zu bringen.Herr Bundeskanzler, wir haben ja – ich hoffe, es hält –mit einer gewissen Befriedigung vermerkt, daß Sieschnell Äußerungen wieder in Ordnung gebracht haben,die am Anfang nicht in Ordnung waren. Unseren Nach-barn in Osteuropa zu sagen, mit der neuen Regierungwerde es jetzt ein wenig länger dauern, beschwor einegefährliche Entwicklung herauf. Herr Fischer mußtedann gleich nach Warschau fliegen. Auch Sie waren dortund haben es in Ordnung gebracht. Ich hoffe, es bleibtdabei.Wir sollten uns als wiedervereintes Deutschland inder Mitte Europas unabhängig von der Frage, wer gera-de die Regierung und wer die Opposition stellt, darumbemühen, ganz Europa zu einem Kontinent zu machen,auf dem Frieden, Stabilität, wirtschaftliche, sozialeund ökologische Prosperität herrschen. Das ist daswichtigste Projekt der Deutschen am Ende dieses undam Beginn des kommenden Jahrhunderts. Dafür müs-sen wir arbeiten; dazu werden wir auch in Zukunft ste-hen.
Das setzt aber voraus, daß jeder seinen Beitrag leistet.Stabilität beginnt immer zu Hause. Das gilt auch für dieZukunft.Wenn Sie glauben, die Arbeitslosigkeit könne durchden Europäischen Rat bekämpft werden, dann fürchteich, daß Europa eine gefährliche Entwicklung nimmt.Wir werden Europa besser voranbringen, wenn wir dasSubsidiaritätsprinzip in Europa stärker durchsetzen,das heißt, wenn wir uns darüber verständigen, welcheEbene in Europa – europäische Ebene, Mitgliedstaatenoder Regionen – für die Lösung welcher Probleme zu-ständig ist. Wer glaubt, europäische Beschäftigungs-politik würde in Europa mehr Arbeitsplätze schaffen, istauf dem Holzweg. Am Ende werden in Europa nur mehrSteuern, mehr Abgaben, mehr Bürokratie und wenigerDr. Wolfgang Schäuble
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Arbeitsplätze herauskommen. Wir werden Sie auf die-sem Weg nicht unterstützen.
Wir brauchen eine Steuerreform, die die Wachs-tumskräfte stärkt. Sie werden uns ja bei den steuerpoliti-schen Diskussionen der kommenden Tage und Wochenimmer sagen – das ahne ich schon voraus –, diese undjene Maßnahme zur Verbreiterung der Bemessungs-grundlage habe auch die CDU/CSU-F.D.P.-Koalitioneinmal vorgesehen.
– Sie sagen „Aha“, Frau Matthäus-Maier. Wären Siedoch einmal Fraktionsvorsitzende geworden, dannkönnten Sie gleich im Anschluß reden.
– Sie fangen ja wirklich gut an, indem Sie hier dauernddazwischenrufen.
– Wenn Sie vorhaben, wie Sie es mit solchen Zwischen-rufen schon bestätigen, die Unterschiede zweier völligverschiedener steuerpolitischer Konzepte, nämlich Ihrfalsches und unser richtiges, in der Öffentlichkeit zuverwischen
dann muß ich es Ihnen entsprechend zurückgeben. Daskönnen Sie doch nicht anders erwarten.
Nach unserem Konzept sollen die Steuersätze undzwar jetzt, nicht irgendwann – deutlich gesenkt werden.Alle Steuersätze –
Spitzensteuersatz, Eingangssteuersatz und alle Sätze da-zwischen, Thesaurierungssatz und Ausschüttungssatzbei der Körperschaftsteuer – sollen etwa um ein Drittelgesenkt werden. Dazu ist eine Nettoentlastung erforder-lich, nicht irgendwann im nächsten Jahrhundert, sondernjetzt. Danach können Sie auch die Bemessungsgrund-lage verbreitern und Ausnahmeregelungen bei der Be-steuerung beseitigen.
Wenn Sie aber die Steuersätze nicht senken und keineNettoentlastung ermöglichen, sondern nur die Bemes-sungsgrundlage verbreitern, dann nehmen Sie Steuerer-höhungen vor. Diese sind Gift für die Wirtschaft undden Arbeitsmarkt in Deutschland. Das ist der Unter-schied.
Jedesmal, wenn Sie in Zukunft versuchen, unter Ver-drehung der Wahrheit die Menschen darüber zu täu-schen, werden wir uns in aller Entschiedenheit dagegenwehren und der Öffentlichkeit die Wahrheit sagen. Eshandelt sich um zwei völlig unterschiedliche Konzepte.Letztendlich wollen Sie doch die Staatsquote garnicht senken, sondern erhöhen. An keiner Stelle sehenSie Einsparungen vor. In Ihrem Programm ist bisher le-diglich vorgesehen, beschlossene Einsparungen rück-gängig zu machen und mehr Geld auszugeben. Ich sagees Ihnen vorher: Der Sozialversicherungsbeitrag wirdnicht sinken, wie sehr Sie den Benzinpreis auch erhö-hen. Dabei berücksichtigen Sie übrigens nicht, was dassozial bedeutet.
– Frau Matthäus-Maier, Sie wollen immer, daß ich nettzu Ihnen bin. Das würde ich auch sein, wenn Sie nichtimmer so irreführende Zwischenrufe machten.
– Wir haben jetzt vier Jahre Zeit, uns zu streiten, aberdabei wollen wir doch freundlich bleiben.Lassen Sie uns also die Argumente austauschen: Un-ser Konzept war und bleibt, die Steuersätze zu senken,die Steuerbelastung insgesamt netto zu reduzieren undim Zuge dessen auch Ausnahmen zu beseitigen. IhrKonzept bringt keine Nettoentlastung, keine Senkungder Steuersätze. Sie wollen nur Ausnahmen von der Be-steuerung abschaffen. Das sind Steuererhöhungen. Dasist das Gegenteil unserer Politik. Das Ergebnis wirdmehr Arbeitslosigkeit und weniger Wachstum sein.
Ihr Konzept ist, die beschlossenen und in Kraft ge-setzten Maßnahmen zur Reduzierung des Anstiegs derAusgaben in der Renten- und der Krankenversiche-rung rückgängig zu machen. Sie werden nicht Beitrags-satzstabilität bei der gesetzlichen Krankenversicherungernten, sondern Sie haben mit dem, was Sie ankündigen,drastische Beitragssteigerungen in der gesetzlichenKrankenversicherung zu erwarten.Wenn Sie jetzt die Ausgaben erhöhen, dann könnenSie noch so viel Ökosteuer machen, wie Sie wollen, siedient allenfalls dazu, die Beitragssatzsteigerungen zuvermeiden, die durch erhöhte Ausgaben entstehen; siewird aber nicht zu dauerhaften Beitragssenkungen füh-ren. Deswegen ist Ihre Politik falsch.Sie können Umschichtungen nicht an Stelle vonEinsparungen machen; denn wir brauchen zuerstdie Einsparungen. Über zusätzliche Umschichtungenkönnen wir dann reden, sie sind aber nicht ohne Einspa-rungen möglich. Das ist der grundsätzliche Unterschied.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Ich möchte zur Ökosteuer noch folgendes sagen: Ichglaube nicht – ich habe die Berechnungen gesehen –,daß sie letzten Endes zu der Entlastung führen wird, vonder Sie sprechen. Erstens werden wir keine Beitragssen-kung bekommen, und zweitens habe ich die „FrankfurterAllgemeine Zeitung“ von heute gelesen, wo es heißt:Nach Berechnungen des Finanzministeriums hatdie ökologische Steuer- und Abgabenreform für ei-nen Vier-Personen-Haushalt mit einem Jahresein-kommen von 70 000 Mark brutto folgende Auswir-kungen: Bei der Rentenversicherung ergibt sich– durch die Beitragssatzsenkung –eine Ersparnis von 280 Mark. Die Energiebesteue-rung führt dagegen zu einer Belastung von 301Mark:Sie müssen den Menschen erklären, wie Sie die Fa-milien entlasten, wenn sie für 280 DM Entlastung 301DM mehr bezahlen müssen. Das sind nach Berechnun-gen Ihres Hauses 21 DM mehr. Das Wort Entlastungsollte Ihnen wirklich nicht mehr über die Lippen kom-men.
Sie machen Steuererhöhungen, um Ihre Unfähigkeitzu Einsparungen finanzieren zu können. Im übrigenwollen Sie mehr Schulden machen und die Inflation be-schleunigen. Das ist der falsche Weg, und auf diesemWeg werden Sie mit unserer scharfen Kritik rechnenmüssen.Die Steuerreform ist falsch, die Abgabenpolitik istfalsch, die Stabilität in Europa wird untergraben, und Siemachen nationale Alleingänge in der Energie- und Um-weltschutzpolitik.
– Ach, die Grünen. Wie war das mit den Grünen, HerrKollege Schlauch? Mit was für großen hehren Vorsätzensind Sie einmal angetreten?
In dem Maße, in dem aus Turnschuhen Nadelstreifenwurden, ist aus Grundsätzen hemmungsloser Opportu-nismus geworden. Posten statt Ideen!
„Global denken, lokal handeln“ hat der Wahlspruchgeheißen. Jetzt machen Sie in der Energie- und Umwelt-schutzpolitik nationale Alleingänge. Als ob irgendeinKernkraftwerk in Osteuropa durch einen nationalen Al-leingang Deutschlands sicherer würde! Das schafft dochnicht mehr Sicherheit.
– Der Zwischenruf des Kollegen Schlauch veranlaßtmich, auf einen weiteren der kleinen Kniffe in der Re-gierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers noch ein-mal zu sprechen zu kommen, den wahrscheinlich, weildie Rede relativ glatt dahinplätscherte, nicht alle be-merkt haben. Die ganze rotgrüne Inszenierung vor undnach der Wahl hat doch suggeriert, Sie fangen jetztrichtig kräftig an mit dem, was Sie Ökosteuer nennen.Ich habe den Begriff immer für falsch gehalten, weil ernämlich verschleiert, daß Sie in Wahrheit nicht sparenwollen. Aber ohne Sparen kommen Sie nicht hin. Daßman darüber, wie man sparsamen Energieverbrauchsicherstellt, trefflich streiten und miteinander ringenkann, ist völlig in Ordnung. Aber Sie dürfen das nichtzur Grundlage der Finanzierung von Mehrausgaben inder Sozialversicherung machen. Das ist der falsche Weg,der verschüttet die Milch.Rotgrün kündigt also an – auch in Ihrer Regierungs-erklärung, Herr Bundeskanzler; Sie sehen, ich habe zu-gehört –, das wird jetzt kräftig gemacht. Dann kommtdas mit den sechs Pfennig – energieintensive Betriebeausgenommen oder nicht; lassen wir den Koalitionsstreitmal auf sich beruhen –, es wird aber gesagt: Das ist nurder erste Schritt, und in den nächsten Jahren geht eskräftig weiter. Denn sonst wäre es ja herzlich beschei-den. Da waren wir schon mal weiter in unseren Überle-gungen; allerdings haben Sie dann die notwendigen Ein-sparungen blockiert. Das war der Punkt, warum es nichtzustande gekommen ist.
Jetzt sagen Sie, Herr Bundeskanzler, die nächstenSchritte können nur in Europa kommen. Das heißt, Siehaben – wer von Ihren rotgrünen Genossen zugehört hat,weiß das – schon gesagt: Genossinnen und Genossen,laßt alle Hoffnung fahren; es gibt keine weiteren Schrit-te! Ich sage Ihnen: Die sechs Pfennige werden vorne undhinten nicht ausreichen, um die Ausgabensteigerungenin der Krankenversicherung und der Rentenversicherungaufzufangen. Deswegen ist Ihr Programm ein Programmzur Erhöhung des Sozialversicherungsbeitrags inDeutschland. Das ist die Wirklichkeit!
Man kann in der Erwiderung auf die Regierungser-klärung, die alle Themen abdecken muß – wir werdennoch die ganze Woche debattieren –, in dem ersten Bei-trag nicht bereits zu allen Themen Stellung beziehen.Das ist auch in Ordnung, und das ist parlamentarischerBrauch.Ich will aber noch wenige Bemerkungen zum Themader inneren Sicherheit machen.
– Ja, daran müssen Sie sich gewöhnen. Machen Sie nichtsolche Zwischenrufe wie „Gott sei Dank“! Sie müssenauch in Ihrer Machtbesoffenheit schon ertragen, daß esDr. Wolfgang Schäuble
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andere Meinungen in Deutschland gibt und daß diesevorgetragen werden.
Sie haben die Wahl gewonnen. Sie haben jetzt eineMehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das gibt Ihneneine besondere Verantwortung. Aber ich rate Ihnendringend: Gehen Sie damit – im Respekt vor der Mei-nung anderer – mit ein bißchen mehr Bescheidenheitum!
Es fängt schon damit an, wie Sie den ersten Oppositi-onsbeitrag in dieser Debatte nicht ertragen wollen.Und jetzt sage ich Ihnen: Die Art, wie Sie in Ihre Ko-alitionsvereinbarung hineingeschrieben haben: Stimmtihr für den Bundespräsidenten, kriegt ihr den Kommis-sar für Europa, das ist ein nicht angemessener Umgangmit den höchsten Ämtern in unserem Staat und in Euro-pa.
Das paßt ganz prima zu den Lafontaineschen Bemü-hungen in bezug auf Bundesbank und europäische No-tenbank.
Ich sage Ihnen: Hochmut kommt vor dem Fall.
Die Arroganz der Macht ist die größte Versuchung.Dann sage ich Ihnen noch einmal das mit HerrnSchily, weil Sie es immer noch nicht verstanden haben:Es geht nicht an, daß ein Innenminister der Bundesrepu-blik Deutschland, wenn er ein Problem darin sieht, daßeine Partei, die Gegenstand der Beobachtung durch denVerfassungsschutz ist, nun in einer Landesregierungbeteiligt ist, sagt: Dann dürfen wir sie nicht mehr beob-achten. Er müßte dafür eintreten, daß sie nicht Mitgliedeiner Landesregierung wird. Das wäre die einzig richtigeAntwort!
Herr Kollege Schlauch, jetzt komme ich auf den Be-richt des Bonner „Generalanzeigers“ vom 26. Oktoberzu sprechen. Er hat mich so empört, daß ich ihn heuteerwähnen muß. Der Bericht handelt über gewalttätigeKrawalle in Bonn, bei denen die Polizei eine Reihe vonGewalttätern festgenommen hat.
– Entschuldigung, die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, die für den Polizeieinsatz in Bonn zuständigist, wird doch von SPD und Grünen getragen. – Was istpassiert? Ich könnte jetzt den gesamten Bericht vorlesen.
In der Menge sollten nach Angaben eines Polizei-sprechers 20 Gewalttäter sein, die die Beamten mitFlaschen, Steinen und anderen Gegenständen be-worfen hatten. ... Als Politiker von Bündnis 90/DieGrünen auf ihrem Parteitag in der Beethovenhalledavon erfuhren, bahnte sich Ärger an. NRW-Bauminister Michael Vesper, mehrere Bundestags-abgeordnete und der Bonner LandtagsabgeordneteRoland Appel schalteten sich ein. Während Vespervor Ort mit dem Einsatzleiter über eine Freilassungder Festgehaltenen verhandelte, fuhr Appel ins Prä-sidium.So wollen wir in Deutschland nicht anfangen.
Die Polizei verrichtet in allen Ländern einen schwe-ren Dienst. Wir schulden den Polizeibeamten der LänderDank und Unterstützung. Was wir unter gar keinen Um-ständen als Politiker – ob wir Regierungsverantwortungtragen oder als Abgeordnete tätig sind – machen dürfen:Wenn die Polizei bei gewalttätigen Krawallen – das istfür die Polizei eine schwierige Situation – Gewalttäterfestnimmt, dürfen Abgeordnete von Bundestag undLandtag – oder sogar Minister der Regierung, die derDienstherr dieser Polizeibeamten ist – nicht mit derPolizeieinsatzleitung darüber verhandeln, ob man dieGewalttäter wieder freiläßt, so geht der Rechtsstaat vordie Hunde. Das sollte man nicht anfangen.
Ich glaube nicht, daß Sie so die innere Sicherheit ver-bessern werden.Übrigens: Zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung ge-hört auch, daß die Kriminalität in Deutschland in denletzten Jahren deutlich abgenommen hat und die Aufklä-rungsquote gestiegen ist.
– Nein, überhaupt nicht. Aber die Verbesserung reichtnoch nicht aus. Deshalb müssen Sie Ihren ParteifreundVesper an die Leine nehmen, Herr Kollege Schlauch. Esgeht nun wirklich nicht, als Minister einer Landesregie-rung die Gewalttäter zu Verhandlungsführern zu ma-chen. – Die Kriminalität hat durch die Anstrengungenvon Bund und Ländern abgenommen. Das ist in ersterLinie das Verdienst der Polizeibeamten. Wir müssen siebei ihrer Arbeit unterstützen und dürfen ihnen nicht inden Rücken fallen. Dafür appelliere ich, darum werbeich.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Aber ich sage auch: Neben vielen wichtigen undschwierigen Aufgaben ist die Bewahrung von innererSicherheit in der modernen Welt eine der großen Her-ausforderungen, für deren Bewältigung es kein Patentre-zept gibt.
– Herr Kollege Schlauch, wenn Sie in diesem Zusam-menhang noch einen Zwischenruf machen, muß ich übereinen Vorgang berichten, bei dem Sie sich entschuldigenmußten. Meine Kenntnisse über Ihren Umgang mit ba-den-württembergischen Polizeibeamten sind noch gutgenug, um Sie zu warnen: Seien Sie an dieser Stelleganz ruhig!
Die Bewahrung der inneren Sicherheit wird nicht ge-lingen, wenn wir nicht eine vernünftige Mischung vonverschiedenen Maßnahmen finden. Herr Bundeskanzler,wir stimmen mit dem überein, was Ihr Innenminister imZusammenhang mit Maßnahmen zur Prävention – Ju-gendarbeit, Musikschulen und dergleichen – gesagt hat.Diese Art von Prävention muß sich aber vor Ort, in derKommunal- und Landespolitik abspielen. Je mehr esgelingt, mit Hilfe von Ehrenamtlichen – Herr Bundes-kanzler, da haben Sie mich völlig falsch verstanden, ichhatte etwas anderes gesagt; ich wollte Sie gar nicht är-gern, sondern mich nur mit Ihnen politisch auseinander-setzen – präventive Arbeit zu leisten, um so besser ist es.Aber alle Prävention und alle Sozialtherapie wird denStaat am Ende nicht der Verantwortung entheben, dasGewaltmonopol durchsetzen zu müssen. Dafür brauchenwir klare Gesetze, eine einsatzfähige Polizei und Ge-richte, die den Rechtsstaat durchsetzen. Das eine kannnicht durch das andere ersetzt werden.
Ich glaube übrigens, daß uns die Prävention und dieGewaltfreiheit um so besser gelingen werden, je mehrwir uns daran erinnern, daß grundlegende Werte und dasBekenntnis dazu Grundlage jeder Freiheitsordnung seinmüssen und daß wir Institutionen brauchen, die Wertevermitteln. Anders wird es nicht gehen.Rotgrün ist auf dem falschen Weg, wenn es die vor-rangige Schutzfunktion von Ehe und Familie dadurchuntergräbt, daß es Ehe und Familie jeder anderen Formmenschlichen Zusammenlebens gleichsetzen will. NachArtikel 6 des Grundgesetzes genießen Ehe und Familievorrangigen Schutz. Diesen Schutz brauchen sie auch.Wir respektieren jede Lebensform der Menschen. Wirschreiben niemandem etwas vor. Aber wir brauchenLeitbilder und eine Wertorientierung, damit unsere Ge-sellschaft auch im 21. Jahrhundert freiheitlich, tolerantund menschenwürdig bleibt.
Wir brauchen die richtigen Entscheidungen. Wir sinduns einig, daß das Zusammenleben mit ausländischenMitbürgern, die auf Dauer in Deutschland leben und vondenen viele von uns einmal angeworben wurden – auchdas gehört zur Wahrheit und muß den Menschen immerwieder gesagt werden –, also mit Menschen, die ganzunterschiedlich sind, alle modernen Demokratien vorgroße Herausforderungen, vor große Bewährungsprobenstellt. Das ist richtig; da sind wir uns einig.Deswegen muß unser aller Ziel sein – ich hoffe, daßes hierbei in diesem Hause keine Unterschiede gibt –,die auf Dauer rechtmäßig in Deutschland lebenden aus-ländischen Mitbürger – vor allen Dingen die Kinder, diehier geboren werden – so gut und so schnell wie mög-lich zu integrieren. Zur Verwirklichung dieses Zielsmüssen wir auf allen Ebenen, also im Bund, in den Län-dern und in den Gemeinden, sehr viele Anstrengungenunternehmen. – Ich wiederhole: Kein Bundesland hat inden Schulen mehr Stellen für die Integration von Kin-dern ausländischer Eltern eingerichtet als der FreistaatBayern. Auch das gehört zur Wahrheit, wenn man fairmiteinander umgeht. –
Wir müssen also gemeinsam auf allen Ebenen jedeAnstrengung zur Förderung von Integration unterneh-men. Die Union wird sich darin von niemandem über-treffen lassen.Aber die ausnahmslose Hinnahme einer doppeltenStaatsangehörigkeit ist der falsche Weg. Sie wird dieIntegration nicht fördern, sondern behindern. Deswegenappelliere ich an Sie: Kehren Sie auf diesem falschenWeg um! Das Ergebnis wird nicht mehr Toleranz undmehr Ausländerfreundlichkeit, sondern das Gegenteilsein. Wenn Sie die ausländischen Mitbürger mit demPrivileg versehen, zwei Staatsangehörigkeiten haben zukönnen, während die Deutschen nur eine haben, wennSie die Staatsangehörigkeit nicht mehr als Abschlußeines Integrationsprozesses verstehen, dann geht das amKern des Problems vorbei, Herr Bundeskanzler. Es istdie freie Entscheidung der Menschen, ob sie die deut-sche Staatsangehörigkeit erwerben wollen, ob sie Deut-sche sein wollen oder nicht. Wir zwingen niemanden,Deutscher zu werden. Aber wer Deutscher werden will,muß die Entscheidung dazu treffen. Deswegen ist dieausnahmslose Hinnahme einer doppelten Staatsangehö-rigkeit im Ergebnis nicht ein Programm zur Förderungvon Integration, sondern zur Förderung von Ausländer-feindlichkeit. Deswegen werden wir sie bekämpfen.
Meine Damen und Herren, der grundsätzliche Unter-schied zwischen dieser Regierung, der rotgrünen Koali-tion, und der Union – über alle Einzelheiten und Einzel-fragen hinweg, über die wir uns Tag für Tag und Wochefür Woche kämpferisch auseinandersetzen müssen undauseinandersetzen werden – besteht letzten Endes in derFrage – in den Zielen sind wir uns ja häufig einig: Inte-gration, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Wohlstandfür alle, soziale Sicherheit, Frieden nach außen und in-nere Sicherheit; über all das gibt es keinen Streit –: Wieerreichen wir diese Ziele? Bei der Beantwortung dieserFrage setzen Sie, wenn es ernst wird, trotz aller schönenFormulierungen in Ihrer Regierungserklärung immer aufDr. Wolfgang Schäuble
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staatliche, zentralistische Regulierung und Reglementie-rung und im Ergebnis auf Steuern, Abgaben und Büro-kratie.Das ist nach unserer Überzeugung der falsche Weg.Wir trauen den Menschen, und wir trauen ihnen etwaszu. Deswegen wollen wir die Kräfte von Eigenverant-wortung, Freiheit, freiwilliger Solidarität, von Wertenund wertvermittelnden Institutionen stärken. Das ist dergrundsätzliche Unterschied. Dieser Unterschied wirdsichtbar in der Sozialpolitik, in der Wirtschaftspolitik, inder Finanzpolitik, in der inneren Sicherheit und bei derIntegration ausländischer Mitbürger.Dies ist letzten Endes eine Frage des Menschenbil-des. Nach unserer Überzeugung kann der Staat nicht al-les, und er darf auch nicht alles können. Staatliche All-macht war in der Menschheitsgeschichte immer die Vor-stufe zur Hölle. Deswegen sind Machtbegrenzung, De-zentralisierung, Föderalismus, Autonomie und Wettbe-werb der bessere Weg, um Freiheit und eine gute Zu-kunft zu sichern. Das ist der Weg der Union.
Wir wollen einen handlungsfähigen Staat, der seinGewaltmonopol ernst nimmt und durchsetzt. Wir brau-chen eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Herr Lafontai-ne, es hilft alles nichts: Die wirtschaftliche Entwicklung,die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft richtet sichnach den Regeln von Markt und Wettbewerb im Zeital-ter der Globalisierung. Wer die bestehenden Regeln desweltweiten Wettbewerbs bestreitet, kann Deutschlandnicht in eine gute Zukunft führen. Für die Wettbewerbs-fähigkeit der Wirtschaft muß man die Regeln von Marktund Wettbewerb akzeptieren.
Aber das ist nicht alles. Wirtschaft und Wirtschaftensind nie Selbstzweck. Ziel ist vielmehr, für die Men-schen mehr Erfüllung, mehr Glück, mehr Wohlstand,mehr soziale Sicherheit sowie mehr Frieden und Freiheitzu bewirken. Deswegen wollen wir eine sozial starkeGesellschaft. Wir müssen um die Frage „Wirtschaft wo-zu?“ ringen, um die richtigen Antworten zu geben. Wirt-schaftliche Leistungsfähigkeit, eine aktive, starke Ge-sellschaft, Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Wärme– das ist der Wettstreit, um den es geht. Angesichts des-sen versagen Sie, indem Sie schon die Regeln von Marktund Wettbewerb nicht akzeptieren können.Herr Bundeskanzler, Sie haben in zwei Reden – am1. September und am 3. Oktober dieses Jahres, noch alsBundesratspräsident – davon gesprochen, der Födera-lismus dürfe nicht zu einem Wettbewerb zwischen denBundesländern werden.Ich sage: In dieser Frage ist die CDU/CSU grund-sätzlich gegenteiliger Auffassung.
Wenn dezentrale Systeme, die kommunale Selbstver-waltung, der Föderalismus, die Gliederung staatlicherMacht und Zuständigkeit in Bund und Ländern, einenSinn machen sollen, muß es einen Wettbewerb um diebessere Lösung, zum Beispiel zwischen Kommunen undzwischen Bundesländern, geben. Diese bessere Lösungmuß dann Vorbild für die anderen sein. Die Ausgleichs-systeme dürfen nicht dazu führen, daß am Schluß dieje-nigen mit den schlechtesten Ergebnissen an der Spitzestehen. Deswegen muß unser System des Föderalismusreformiert werden.
Wer den Wettbewerb nicht akzeptiert, hat die Grundre-geln für Innovations- und Zukunftsfähigkeit einer Wirt-schafts- und Gesellschaftsordnung nicht verstanden. Mitdieser grundsätzlichen Alternative werden Sie sich inden kommenden Jahren auseinandersetzen müssen. Wirstreiten mit Ihnen um den besseren Weg in eine guteZukunft, und wir nehmen unsere Verantwortung ernst.Ich sage noch einmal, weil ich ja weiß, daß Sie IhreWahlversprechungen schnell vergessen machen wol-len – deswegen muß es am Anfang und am Ende des er-sten Diskussionsbeitrags zu dieser Regierungserklärunggesagt werden –: Das Haus ist wohl bestellt, das Sienach 16 Jahren CDU/CSU-FDP-Regierung übernommenhaben.
Niemand hat je bestritten, daß wir eine Menge Problemehaben. Sie haben uns doch in den letzten Jahren immerwieder daran gehindert, die Probleme noch besser zu lö-sen, als wir sie ohnehin schon gelöst haben. Aber esbleibt festzuhalten: Das Haus ist wohl bestellt. Wir ha-ben eine rückläufige Arbeitslosigkeit; es gibt 400 000Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Es sind über800 000 Arbeitsplätze im Verlauf dieses Jahres hinzuge-kommen. Wir haben stabile Preise und die niedrigstePreissteigerungsrate seit vielen Jahren. Wir haben dieniedrigsten Zinsen. Wir haben ein solides Wirtschafts-wachstum. Wir haben weniger Kriminalität und eine hö-here Aufklärungsquote. Wir haben in den letzten Jahrenweniger Zuwanderung nach Deutschland gehabt. Alldies stellt die Ausgangslage dar, in der Sie anfangen.
Wenn sich in den kommenden Jahren die Entwick-lung zum Schlechteren verändert, dann sind das, HerrBundeskanzler, Ihre Zahlen. Wenn die Arbeitslosigkeitund auch die Inflation steigen und das Wirtschafts-wachstum zurückgeht, dann ist das in der Verantwor-tung Ihrer Politik.
Daran werden Sie sich messen lassen müssen. Sie habengesagt, Sie wollen sich daran messen lassen; wir werdenSie daran messen.
Das Wort hat derVorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Peter Struck.Dr. Wolfgang Schäuble
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Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Es gibt verschiedene Möglichkeiten,im Parlament das Verhältnis zwischen den Koalitions-fraktionen und den Oppositionsfraktionen zu regeln.Eines will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, HerrKollege Schäuble: Wer wie Sie uns „Machtbesoffen-heit“ vorwirft,
der darf sich dann nicht darüber wundern, daß ich ihmentgegenhalte: Ihre Tiraden sind nur dadurch zu erklä-ren, daß Sie die Regierungsmacht verloren haben unddaß Sie selbst nicht Bundeskanzler der BundesrepublikDeutschland werden konnten.
Ich sage Ihnen noch eines, Herr Kollege Schäuble:Sie brauchen hier keine Reden wie vor der Wahl zuhalten, nach dem Motto: Wir übergeben ein wohl be-stelltes Haus. Wenn das denn so wäre, so müßte manfragen: Wieso sind Ihnen denn die Bürger, zum Beispieldie Mieter, weggelaufen? Können Sie mir das einmalerklären? Das ist ja geradezu absurd.
Ich sage Ihnen auch noch klipp und klar: Wir könnenvernünftig miteinander umgehen. Das sollten wir im In-teresse unserer parlamentarischen Demokratie tun. Aberdann müssen Sie, verehrter Herr Kollege Schäuble, esauch ertragen, daß Zwischenrufe gemacht werden. Da-bei müssen Sie nicht immer den Schutz des Präsidentenin Anspruch nehmen. Wenn Sie die SPD-Fraktion soangreifen, wie Sie das getan haben, dann werden wir unswehren, und dabei wird es bleiben. Nehmen Sie das zurKenntnis!
Ich war ja sehr gespannt auf die Rede, die Sie haltenwürden, weil ich dachte: Was kommt denn nun? Ich ver-stehe – weil wir das ja selbst 16 Jahre lang als Opposi-tion ertragen mußten –, daß der Vorsitzende einer Oppo-sitionsfraktion versuchen muß, die eigenen Leute zumobilisieren.
Ich kann nachvollziehen, wie schwer das für Sie ist unddaß man dann natürlich versuchen muß, auch kräftigeWorte zu finden. Aber, Herr Kollege Schäuble, Ihreheuchlerischen Ausführungen zu der Frage des Ver-hältnisses zwischen PDS und SPD
gehen weit über die Grenze hinaus.
Wir wissen doch ganz genau, daß in 44 Gemeinden undLandkreisen in den neuen Ländern die CDU Koalitionenmit der PDS eingegangen ist. Uns dann hier Zusammen-arbeit vorzuwerfen ist lächerlich.
Wenn Sie, Herr Kollege Schäuble, uns auch noch anla-sten wollen, daß die PDS in den Bundestag eingezogenist, dann sage ich Ihnen klipp und klar: Wir wolltennicht – Verzeihung, Herr Kollege Gysi –, daß diesePartei in den Deutschen Bundestag einzieht. Sie ist ein-gezogen, weil Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, in den neuen Ländern eine falsche Politikgemacht haben. Sie haben das zu verantworten, nichtwir.
Es macht mich sehr stolz, hier für die größte SPD-Bundestagsfraktion sprechen zu dürfen, die je in diesemHause gearbeitet hat.
– Entschuldigen Sie; ich höre Zurufe von Herrn Waigelund Herrn Glos. Ich will nur Herrn Kollegen Waigel sa-gen – Herr Hintze hat sich schon verzogen –: Sie sindnun absolut ungeeignet, in irgendeiner Weise Zurufe zumachen, Sie als völlig gescheiterter Finanzminister derBundesrepublik Deutschland.
Die SPD-Kandidatinnen und -Kandidaten haben 212Wahlkreise direkt gewonnen, 109 mehr als bei der Wahlzum vergangenen Bundestag. Das hat es noch nie gege-ben: 20 181 269 Wähler haben der SPD und GerhardSchröder ihre Zweitstimme gegeben. Meine Damen undHerren, Herr Bundeskanzler, wir werden dieses Vertrau-en rechtfertigen.
Zum erstenmal in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland ist – das ist der tiefere Grund für die Ver-bitterung und für die teilweise unsinnigen Tiraden IhresFraktionsvorsitzenden – eine Regierung komplett ab-gewählt worden. Zum erstenmal haben Oppositionspar-teien per Wahl das Kanzleramt errungen. Ihnen mag dasnicht passen, aber es sollte Sie freuen; denn es ist einBeleg dafür, wie demokratisch und lebendig unsereBürger entscheiden können, wenn es um die Frage geht,wer politische Verantwortung in unserem Land habensoll.
Wir, die SPD-Fraktion, werden uns – trotz dieses sehrschlechten Anfangs von Ihrer Seite, Herr KollegeSchäuble –
durch die gewonnene Stärke nicht zu Arroganz verleitenlassen. Allen Fraktionen bieten wir eine faire, konstruk-tive Zusammenarbeit an, schon deshalb, weil wir aus16 Oppositionsjahren wissen, wie es ist, wenn alle Ei-geninitiativen von der Dominanz der Regierungsfraktio-nen vom Tisch gefegt werden.
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Wo ich gerade die F.D.P. sehe
– ja, ich weiß –: Der arme Herr Gerhardt muß jetzt ganzalleine da vorne in der ersten Reihe sitzen.
Als wir – das muß ich Ihnen einmal sagen, Herr Ger-hardt; vielleicht wissen Sie das nicht – in der Situationwaren, in der Sie jetzt sind, ging es um die Frage, wieviele Stühle in der ersten Reihe die Fraktionen habendürfen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals derFraktion Bündnis 90/Die Grünen freundlicherweise ei-nen ihrer Plätze zur Verfügung gestellt. Daran, daß Siejetzt dort alleine sitzen müssen, sehen Sie, wie Ihr ehe-maliger Koalitionspartner mit Ihnen umgeht.
So ist das, wenn man nicht mehr gebraucht wird.Ihre Fraktion ist ein bißchen kleiner geworden, unddie Anreden in Ihrer Fraktion müssen sich auch ändern:Sie können nicht mehr „Herr Minister“ und „HerrStaatssekretär“ sagen. Sie regieren zum erstenmal seit29 Jahren nicht mehr mit, aber – das muß ich Ihnen ehr-lich sagen, Herr Gerhardt – ich habe überhaupt keinMitleid mit Ihnen. Es freut mich geradezu.
Da ich nun gerade meinen Blick schweifen lasse:Herr Altbundeskanzler Kohl, es ist viel davon gespro-chen worden, in welch würdiger Art und Weise derAmtswechsel vollzogen worden ist und wie Sie dieseWahlniederlage hingenommen haben. Ich will das nichtwiederholen; ich finde, das ist nun oft genug gesagtworden. Aber ich möchte sagen – Sie werden es mir per-sönlich nicht übelnehmen, Herr Altkanzler Kohl –: Mirwäre es lieber gewesen, wenn Sie diese würdige Art, ei-ne Wahlniederlage hinzunehmen, schon viel früher als1998 hätten zeigen können.
– Ja, die Wahrheit hört man nicht gerne. Herr Waigel,setzen Sie sich mal lieber ganz nach hinten; dort störenSie am wenigsten. Ihre Zeit ist sowieso schon lange vor-bei.Wer hätte erwartet, daß diese Koalition der Erneue-rung in Rekordzeit einen vertragsfähigen Handlungs-rahmen abstecken würde? Das sind keine Blütenträume,sondern das Konzept, wie es der Herr Bundeskanzler fürdie nächsten vier Jahre vorgestellt hat, ist sehr reali-stisch. Manchem Bürger geht das nicht weit genug;mancher hätte mehr Aufbruch erwartet. Ich glaube aber,daß Rot und Grün das rechte Augenmaß für Kontinuitätund Erneuerung hatten. Für unseren Start in Jahre har-ter Arbeit gilt, was die Chinesen mit einem Sprichwortsagen: Auch die längste Reise beginnt mit dem erstenSchritt.Sie können sicher sein, daß wir es ernst meinen mitder Erkenntnis, die der Vorsitzende der Unionsfraktion,Kollege Schäuble – er ist gerade nicht im Saale anwe-send –,
1994, bei der letzten Regierungserklärung Helmut Kohlszum Anfang einer Legislaturperiode, hier zum Bestengegeben hat: „Wir wissen nicht alles, und wir wissennicht alles besser.“ Das ist eine richtige Erkenntnis. Ichwerde ihn noch persönlich darauf ansprechen, wenn erGelegenheit hat, wieder hier im Plenum zu sein.1994 war dies eine kluge Einschätzung. Wie recht erdamit hatte, hat das Wählervotum gezeigt. Das war auchdie Antwort darauf, daß die Unionsfraktion entgegen ih-rer vorgetragenen Einschätzung glaubte, das Land mitihrer Besserwisserei überziehen zu können. Das glaubenSie heute übrigens – wie die Rede von Herrn Schäublegezeigt hat – noch immer. Wie anders ist zu verstehen,daß Sie auf Ihrem Parteitag und auch eben wieder einevermeintliche Erfolgsbilanz vorlegten? Nehmen Siedoch den Rat an, der Ihnen in den Medien erteilt wird.Sie machen sich lächerlich, wenn Sie, Herr Waigel, HerrGlos und andere, sich nach einer so heftig verlorenenWahl auf die Schulter klopfen. Was Sie hinterlassen ha-ben, ist kein Fundament für eine gute Zukunft, wie Siees kürzlich und gerade eben wieder behauptet haben.
Meine Aufgabe ist es nicht, Ursachenforschung fürdas Desaster der Union zu betreiben. Das machen Leutewie Rüttgers, Blüm, Geißler, Biedenkopf oder angeb-liche „Junge Wilde“ – was daran wild sein soll, ist mirnoch nie aufgegangen – mit weit intimerer Kenntnis.Die Kirchen haben Sie gewarnt; die Gewerkschaftenhaben Sie gewarnt. Dennoch haben Sie eine Politik be-trieben, die gegen die Interessen der großen Mehrheitder Bevölkerung gerichtet war. Das ist jetzt sogar Nor-bert Blüm aufgefallen. Er sagt – ich zitiere –: „Vielleichthaben wir den Eindruck erweckt, unsere Vorschlägestammten aus dem sozialen Kühlhaus.“ – Herr KollegeBlüm, das war nicht nur irgendein Kühlhaus. Manchmalhat Ihre Regierung den Eindruck erweckt, als sei ihr so-ziales Gewissen tief im ewigen Eis Grönlands eingefro-ren.
Inzwischen aber tauen selbst die sozialen Gefühle desneuen CDU-Vorsitzenden auf. Fast anrührend gab eram 29. Oktober zu Protokoll, daß wir wieder eine Ge-sellschaft brauchen, in der niemand sich selbst überlassenbleibt, eine Gesellschaft – so Herr Kollege Schäuble –,in der soziale Gerechtigkeit herrscht. – Ich glaube,Herr Schäuble, Sie verwechseln da eine Kleinigkeit: Siemüssen jetzt Opposition gegen Rotgrün machen, oppo-nieren im Augenblick aber gegen Ihre Thesen von ge-stern aus dem Kühlhaus. Lesen Sie doch nach, was SieDr. Peter Struck
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82 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998
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vor zwei Jahren in der Akademie in Tutzing gesagt ha-ben:Das Desaster der Union ist nicht mein Thema.Mein Thema ist die Frage, wie eine Regierung sosehr die Notwendigkeit des Zusammenhalts dieserGesellschaft aus den Augen verlieren konnte.
In den CDU-Sozialausschüssen bemängelt man, dieBundesregierung habe nicht leidenschaftlich genug fürden Konsens gekämpft und sei – Zitat – in die Kon-fliktfalle geraten. – Das stimmt nur zum Teil. Die ehe-malige Regierung Kohl hat sich nicht in die Kon-fliktfalle verirrt. Das Scheitern des „Bündnisses für Ar-beit“ war die logische, wenn auch absolut falsche Kon-sequenz einer Politik, die immer nur die alttestamentari-sche Alternative im Auge hatte: Wer nicht für mich ist,ist wider mich.In diesem Land ist von Ihnen zu lange ein Freund-Feind-Schema gezüchtet worden. In diesem Land ge-hörte nur der zu den Guten, der Ihrer Meinung war. Indiesem Land wurde nicht zusammengeführt, sondern ge-spalten.
Da wurden einzelne Menschen wie der SchriftstellerGünter Grass an den Pranger gestellt, weil sie unbeque-me Meinungen zum Beispiel in der Ausländerpolitikhatten. Da wurden Fernsehjournalisten mit sanftemDruck aus dem Kanzleramt kaltgestellt, weil sie KohlsWeg in die Einheit kritisch begleiteten. Da wurdenGruppen wie Atomkraftgegner mitunter wie Staatsfeindebehandelt.Fast ein Viertel der Wähler in den neuen Ländern ha-ben Sie mit Ihren Polarisierungen in die Hände der PDSgetrieben. Sie finden es jetzt aber absurd, daß diese Par-tei am politischen Prozeß beteiligt werden muß.Zur PDS hat der Kollege van Essen in der für dieUnion fürchterlich peinlichen Geschäftsordnungsdebattezu Beginn der Arbeit dieses Bundestages zwei richtigeSätze gesagt, die ich nur unterstreichen kann. Ich zitiere:Die PDS lebt doch gerade davon, sich als verfolgt,als benachteiligt darzustellen. Wir sollten ihr genaudiesen Gefallen nicht tun.So ist es. Wir werden die PDS ordentlich in die Parla-mentsarbeit einbeziehen.
– Ich komme auf das Thema noch zu sprechen, HerrKollege Glos.Meine Damen und Herren, Gerhard Schröder undOskar Lafontaine haben immer wieder klargemacht,worauf es auch und vor allem ankommen wird. OskarLafontaine hat das auf einen einfachen Satz aus demVolksmund gebracht: „Was du nicht willst, daß man dirtu', das füg' auch keinem andern zu.“ Das ist banal. Aberauf dieser Banalität beruht alles vernünftige Miteinandervon Menschen in unserem Lande. Sie haben aber nichtnur billigend in Kauf genommen, daß dieser Erkenntnisnicht mehr Rechnung getragen wurde, Sie haben aktivdazu beigetragen, indem Sie gesellschaftliche Gruppengegeneinander ausgespielt und in weiten Teilen Klien-telpolitik betrieben haben.
Meine Damen und Herren, genau das wollen wirnicht. Wir wollen die Gerechtigkeitslücke schließen.Wir haben keine großen Versprechungen, wir habenvor allen Dingen keine falschen Versprechungen ge-macht, Herr Kollege Kohl. Wir halten Wort und werdendeshalb unverzüglich die von der Regierung Kohl vor-genommenen Verschlechterungen beim Kündigungs-schutz, bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall,beim Schlechtwettergeld der Bauarbeiter und bei denRenten korrigieren.
Nur ein Beispiel daraus: Das Schlechtwettergeld,das 1959 als soziale Errungenschaft am Bau gefeiertwurde, wird 1999 mit uns wieder eingeführt. Wir korri-gieren den Wahnsinn einer sogenannten Reform, mit derim Winter massenhaft Bauarbeiter entlassen wurden undauch im Frühjahr auf der Straße standen. Winterrisikodarf kein Arbeitsplatzrisiko sein.
Ich warte eigentlich immer noch auf den KollegenSchäuble, weil ich einige Worte an ihn richten will.Vielleicht könnte die Geschäftsführung mir einmal mit-teilen, ob er noch zu kommen beabsichtigt. Ich möchteauf ihn eingehen. Er hat ja gerade gesagt: Wir wolleneine Debatte haben. Aber wie kann ich mit ihm eine De-batte führen, wenn er nicht da ist?
Union und F.D.P. kritisieren die Finanzpolitik derneuen Regierung und unsere Steuerreform – HerrSchäuble hat das eben auch getan –, offensichtlich ohnegenau hingesehen zu haben. Ein Satz von HerrnSchäuble ist absolut rekordverdächtig: „Unsere Bundes-regierung“, so hat er gesagt, „hinterläßt geordneteStaatsfinanzen.“
Dieser Satz qualifiziert Herrn Schäuble aus meiner Sichtsofort und unwiderruflich und ohne jeden Gegner alsnächsten Kandidaten für den Orden wider den tierischenErnst.
Es ist bei den Löchern, die uns Herr Waigel hinterlassenhat, absolut lächerlich, von „geordneten Staatsfinanzen“zu sprechen. Er hat, wie man sehen kann, inzwischenden Raum auch fluchtartig verlassen.Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinsti-tute sagen in ihrem Herbstgutachten:Die bisher vorliegenden Ergebnisse der Koalitions-verhandlungen deuten auf eine leichte LockerungDr. Peter Struck
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der Konsolidierung hin, trotz veränderter finanzpo-litischer Akzente, aber nicht auf einen generellenKurswechsel.Und ein anderes Zitat:Die künftige Bundesregierung scheint nach denbisherigen Verlautbarungen an der mittelfristigenRückführung des Budgetdefizits festhalten zu wol-len. Dies ist zu begrüßen.Was ist denn nun? Ist die Finanzpolitik katastrophaloder eine Fortsetzung der alten? Ich sage: Weder Sie,die Unionsfraktion, noch die Institute haben recht. DieFinanzpolitik vollzieht einen längst fälligen Kurswech-sel zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Investitionen. Sieentlastet die Arbeitnehmer und die Leistungsträger undstärkt die Nachfrage.
Sie bekämpfen unseren Einstieg in die ökologischeSteuerreform, obwohl Herr Schäuble es besser weißund das in Sonntagsreden auch sagt oder in Büchernschreibt. Ich will Ihnen noch einmal vorhalten, was diewirtschaftswissenschaftlichen Institute dazu sagen:Ein ökologisch orientierter Umbau des Abgabesy-stems mit einer höheren Belastung des FaktorsEnergie bei gleichzeitiger Entlastung des FaktorsArbeit kann sowohl positive Umwelteffekte alsauch positive Wirkung auf die Beschäftigung ha-ben.Genau das wollen wir.Wir wollen darüber hinaus eine Steuerreform, diesozial gerecht und solide finanziert ist. Wir werdeneine Reform vorlegen, mit der Bürgerinnen und Bür-ger in drei Stufen in einem Gesamtvolumen von54 Milliarden DM entlastet werden. Wir werden überdie Steuerreform am Freitag noch ausführlich diskutie-ren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werdenuns auch sehr intensiv mit der Frage beschäftigen müs-sen, wie wir in den nächsten vier Jahren jeweils unsereAufgaben erfüllen werden, Sie als Opposition, als deut-lich kleiner gewordene CDU/CSU-Fraktion, was michherzlich freut – Sie haben 47 Abgeordnete verloren –,wir als Regierungskoalition.
Sie tun so, als sei die Opposition eine Episode.
– So war die Rede von Herrn Schäuble.
Wenn Sie diesen Eindruck erwecken wollen, kann ichdas verstehen. Aber wenn Sie bei sich zu Hause, partei-intern, kaum ein Wort über die Ursachen Ihrer Niederla-ge verlieren, irritiert das doch.
Denn schließlich sind bekanntlich fehlende und falscheAnalysen von Wahldebakeln das Schlimmste an Ihnen.Das einzige, was beim neuen CDU-Vorsitzenden außerder bekannten und auch hier wieder praktizierten Pole-mik deutlich geworden ist: Herr Schäuble hofft, daß dieOppositionszeit schnell vorüber ist.
Das kann ich verstehen. Ich weiß aber, auch aus eigenerleidvoller Erfahrung: So schnell vergehen Oppositions-zeiten nicht.
Jetzt aber zu Ihrer Bewertung unseres Koalitionsver-trages. Er habe, so sagte Herr Schäuble eben, nur schö-ne Überschriften gelesen, sonst nichts. Wenn er nurÜberschriften liest, ist das sein Problem. Ich helfe ihmbei zwei Punkten einmal nach, bei denen es dieCDU/CSU-Fraktion aus unterschiedlichen Gründen be-sonders schmerzt.Zum Beispiel die Familienpolitik.
Da klagen Sie beredt, daß die Zukunft unserer Kinderbei Rotgrün in schlechter Hand sei. Ihr Fraktionskollege,Herr Laumann, Sprecher der Arbeitnehmergruppe IhrerFraktion – ich weiß nicht, ob er da ist; er macht viel-leicht schon Mittagspause –, sieht das ganz anders.
– Ist ja gut! – Herr Laumann glaubt offensichtlich, daßin den letzten 16 Jahren nicht genug für Familien getanworden ist. Denn wie anders ist es zu verstehen, daß ergerade jetzt fordert, die Unterstützung der Familienmüsse wieder – so das Zitat – „ins besondere Licht derÖffentlichkeit“ gerückt werden? Wir tun das, meineDamen und Herren. Das hat der Bundeskanzler eben ge-rade vorgetragen.
Lesen Sie auch bitte einmal das Kleingedruckte imKoalitionsvertrag. Wenn Herr Schäuble nur Zeit hat,Überschriften zu lesen, dann empfehle ich Ihnen: LesenSie die Seiten 41 und 42 des Koalitionsvertrages zu die-sem Thema. Dort heißt es:Wir sorgen dafür, daß sich die wirtschaftliche undsoziale Lage der Familien spürbar verbessert. . .Mit der Steuerreform wird mehr Steuergerechtig-keit für Familien geschaffen. Eine durchschnittlichverdienende Familie mit zwei Kindern wird umrund 2 700 DM entlastet.
Dr. Peter Struck
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84 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998
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Das Kindergeld für das erste und zweite Kind wird1999 auf 250 DM und im Jahr 2002 auf 260 DM. . .angehoben.
Ist das nichts, meine Damen und Herren? Natürlich istdies nicht alles, aber jedenfalls mehr als Sie, Herr Lau-mann, seinerzeit von Ihrer eigenen Regierung erwartendurften. Sie, Herr Altkanzler Kohl, sind nie in der Lagegewesen, das Kindergeld von 220 DM auf 250 DM zuerhöhen. – Wenn Sie zustimmend nicken, dann sagenSie, daß ich recht habe.Jetzt will ich etwas zu dem Thema der doppeltenStaatsbürgerschaft sagen. Ich finde es schon merkwür-dig,
wie Herr Schäuble über unseren Vorstoß zur doppeltenStaatsbürgerschaft gesprochen hat. Er hat nur die Flos-kel verwandt – so Herr Schäuble am vergangenenSamstag auf dem Parteitag –, Integration werde nichtdadurch gefördert, daß die Staatsbürgerschaft zur Belie-bigkeit werde.
Auch hier empfehle ich: Lesen Sie mehr als nur Über-schriften!Im übrigen, meine Damen und Herren, finde ich dieseabschätzige Bemerkung gegenüber all jenen ausländi-schen Mitbürgern schäbig, die seit Jahren gerade aufdiese Chance gehofft haben.
Für sie ist die Entscheidung zwischen deutscher und– sagen wir – türkischer Staatsbürgerschaft keine belie-bige Frage.Herr Schäuble, Ihre Bemerkung ist aber auch schäbiggegenüber all den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer ei-genen Fraktion, die ähnliche Regelungen beim Staats-bürgerschaftsrecht für geboten halten. Wir kennen dochdie Diskussion aus der vergangenen Legislaturperiode.Wie gehen Sie denn mit diesen Kollegen um? Einmalhaben Sie den Eindruck vermittelt, daß Sie ein solchesProjekt unterstützen würden. Dann sind Sie wegen derablehnenden Haltung der CSU zurückgeschreckt. Jetzthaben Sie den Kollegen auf Ihrem Parteitag am Samstaggesagt, das sei keine Frage von Belang. Sie werden sichtäuschen. Während Sie noch Ihre vermeintlichen Erfolgevon gestern feiern, sind Sie gerade in dieser Frage dabei,Ihre Fehler von morgen zu machen.
– Herr Kollege Schäuble, ich hatte Sie mehrfach ange-sprochen; mir wurde gesagt, daß Sie zurückkommen.
– Ja, natürlich, selbstverständlich. – Aber ich möchtejetzt die Gelegenheit nutzen, Herr Kollege Schäuble,trotz der Schärfe, die wir hatten, Ihnen auch im Namender SPD-Bundestagsfraktion herzlich zu Ihrer Wahl zumCDU-Parteivorsitzenden zu gratulieren. Das tue ichgerne.
Ich weiß, Herr Kollege Schäuble, das ist ein schwierigesAmt. Es würde mich reizen, ein paar Personalentschei-dungen Ihres Parteitages zu kommentieren. Meinen Sie,ich sollte es nicht machen? Dann sage ich nur den einenSatz – den werden Sie mir noch gestatten, Herr KollegeSchäuble –: Wie jetzt jemand, der wie der KollegeWulff zweimal Landtagswahlen verloren hat, plötzlichder große Hoffnungsträger sein soll, müssen Sie mir ersteinmal erklären. Ich verstehe es nicht so richtig, aber Sievielleicht schon.
Ich war bei der doppelten Staatsbürgerschaft stehen-geblieben. Ich möchte Sie daran erinnern, daß diese vor-schnell eingenommene Ablehnung beim AusländerrechtSie in das Dilemma bringt, das Sie in den 70er Jahrenmit Ihrer Haltung zu den Ostverträgen hatten. Ihre heu-tige Haltung zum Thema doppelte Staatsbürgerschaftkönnte Ihnen wie damals über etliche Jahre den Verlustder politischen Mitte und der Politikfähigkeit der Unionbescheren. Damals ging es um eine Öffnung nach außen.Heute geht es um eine Öffnung, die dem inneren Friedenin unserem Lande dient.
Macht es Sie gar nicht stutzig, daß Sie in dieser Frageim ganzen Haus isoliert dastehen? Wir jedenfalls bietenIhrem ehemaligen Koalitionspartner F.D.P. an: MachenSie mit! Lassen Sie uns das Staatsbürgerschaftsrecht sogestalten, Herr Kollege Gerhardt, daß es den Bedingun-gen des neuen Jahrhunderts gerecht wird! Wir sind zurZusammenarbeit bereit. Lassen wir die CDU da stehen,wo sie hingehört, nämlich in der Ecke der sich verwei-gernden Opposition.
Daß es in der Politik immer auch um Macht geht unddaß eine Regierung um den Machterhalt kämpft, ist klar.Aber Machterhalt darf nicht alles sein. Erhard Epplerhat dazu in seinem Buch „Die Wiederkehr der Politik“geschrieben:Wer Politik auf ein steriles Spiel mit der Macht undum die Macht reduziert, wer sie löst von der Frage,wie Menschen leben wollen und leben sollen, läßtin der Tat nur etwas übrig, was für die übrige Ge-sellschaft ohne Belang ist, einen Kampfplatz oderDr. Peter Struck
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auch nur einen Spielplatz, bei dem es um Rängeund Medaillen geht, um die Befriedigung von Gel-tungsbedürfnis und Machthunger . . .Herr Schäuble, dem Machterhalt haben Sie in dervergangenen Legislaturperiode alles untergeordnet. AusMachterhalt haben Sie noch vor wenigen Wochen Jür-gen Trittin als Altkommunisten beschimpfen lassen, dieGrünen als Chaostruppe abgetan. Jetzt reden Sie vonSchwarzgrün in den Landesparlamenten. Für wie dummhalten Sie eigentlich die Wähler, Herr KollegeSchäuble?
Der 27. September 1998 war für Sie mehr als derMachtverlust in Bonn. Er hat bloßgelegt, was der Kolle-ge Helmut Kohl mit seiner mächtigen Figur lange ver-bergen konnte. In Sachen Macht ist die CDU am Endeund in Sachen politischer Kompetenz genauso. In denLändern und Kommunen ist sie fast überall auf das Maßzurückgestutzt, das sie jetzt auch im Bund erreicht hat.Sie haben noch so getan, als spielten Sie überall die ersteGeige, als Sie in den Ländern und Kommunalparlamen-ten längst im zweiten oder dritten Glied gelandet waren.Jetzt ist offensichtlich, wie wenig Ihr selbstgerechtesAuftreten hier im Parlament mit den wahren Verhältnis-sen im Lande zu tun hat. Ich bin stolz darauf: Die SPDregiert in 13 von 16 Bundesländern mit. Wir stellen elfMinisterpräsidenten. Das ist ein klarer Beweis für dieStärke der sozialdemokratischen Idee in Deutschland.
Herr Kollege Schäuble hat ein Thema angesprochen,auf das ich gewartet habe. Was Sie gesagt haben, istauch nichts Neues gewesen. Deshalb konnte man sichdarauf vorbereiten. Es geht um die Frage des Bundes-präsidenten. Herr Kollege Kohl, wir Sozialdemokratenhaben nicht vergessen, welch schäbiges Spiel Sie in derPräsidentschaftsfrage mit Johannes Rau getrieben haben.
Erst haben Sie ihm das Amt angeboten.
– Nein, das ist nicht unwahr. – Dann wollten Sie nichtsmehr davon wissen, zogen Steffen Heitmann aus demHut und haben schließlich Roman Herzog zum Präsi-denten gemacht. Wir haben noch den Satz im Ohr, denSie, Herr Kollege Kohl, in der letzten Legislaturperiodeüber Rau gesagt haben: „Der wird das nie!“ – Er wirdes, Herr Ehrenvorsitzender der CDU,
denn wir leben nicht in einer Halbmonarchie, wie Siezwischenzeitlich vielleicht geglaubt haben. Wir leben ineiner Demokratie, in der nicht der Wille eines einzelnenden Ton angibt. Meine Damen und Herren, JohannesRau wird nach Gustav Heinemann der zweite sozial-demokratische Bürgerpräsident der BundesrepublikDeutschland.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, den ichfür mitentscheidend für das Scheitern der bürgerlichenKoalition halte. Wir Sozialdemokraten – und ich denke,auch die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen – werdendiesen Fehler nicht wiederholen. Ich meine das man-gelnde konstruktive Zusammenspiel zwischen der Re-gierung und den Fraktionen von Union und F.D.P.Kollege Schäuble, bei Ihrem Amtsantritt 1994 haben Siezwar den Eindruck erweckt, Ihre Fraktion zu einemMachtzentrum auszubauen, aber wie die Praxis aussah,wissen viele Frauen und Männer Ihrer Fraktion aus ei-genem Erleiden: Gerade bei wichtigen Reformvorhabensind Entscheidungen an den Regierungsfraktionen vor-bei in sogenannten Spitzengesprächen gefällt und dieFraktionen vor vollendete Tatsachen gestellt worden.Sie, Herr Schäuble, waren an diesem „Kungelrundenver-fahren“ maßgeblich beteiligt und haben Ihre Abgeord-netenkollegen zu bloßen Erfüllungsgehilfen degradiert.Mit dieser einseitigen Instrumentalisierung der Fraktionhaben Sie dem Parlamentarismus geschadet und IhrerRegierung letztlich keinen Gefallen getan.
Denn nur wenn sich eine Fraktion nicht als bloßerMehrheitsbeschaffer der Regierung versteht, kann sieein verläßlicher Seismograph sein – ein Seismograph,der aufnimmt und wiedergibt, was möglich ist und wasnoch getan werden muß.Diese SPD-Fraktion, für die ich spreche, wird die Re-gierung Gerhard Schröders tragen. Das ist überhauptkeine Frage. Im Zweifel – und darin unterscheiden wiruns von den alten Koalitionsfraktionen – werden wirdiese Regierung allerdings auch treiben, wenn wir es fürnötig halten. Wir werden das loyal, konstruktiv undselbstbewußt tun. Wir werden gemeinsam mit dieserRegierung erfolgreich sein; wir werden Innovationendurchsetzen, soziale Gerechtigkeit und eine nachhaltigeEntwicklung fördern.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat dieSprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Frau KerstinMüller.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrKollege Schäuble, ich muß sagen, daß ich von IhrerRede wirklich etwas enttäuscht war.
Mein Eindruck ist, daß Sie bis jetzt nicht viel aus derWahlniederlage gelernt haben. Um einen Punkt von Ih-nen aufzugreifen: Einen Vorwurf kann man der Regie-Dr. Peter Struck
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rungserklärung des Herrn Bundeskanzlers sicherlichnicht machen, nämlich den, sie habe nur aus Absichtser-klärungen bestanden. Der Herr Bundeskanzler hat unterBerücksichtigung der vollen Breite der gesellschaft-lichen Aufgaben sehr deutlich gemacht, was sich dieseRegierung ganz konkret vorgenommen hat. Diese Regie-rung handelt! Und Sie handelt schon gleich in den erstenTagen. Mein Eindruck ist: Es fällt Ihnen wirklichschwer, sich an die Tatsache dieser neuen Verhältnissezu gewöhnen. Das ist das Problem.
Die Wählerinnen und Wähler haben am27. September entschieden, und zwar für eine Politikder Reformen und der grundlegenden Erneuerung. Die-sen klaren Auftrag werden wir jetzt umsetzen. DieseKoalition, diese Bundesregierung werden Deutschlandökologisch und sozial erneuern. Es ist uns sehr bewußt,daß das kein einfacher Weg werden wird, auch kein be-quemer. Aber es ist der richtige Weg, und es gibt dazukeine Alternative. Herr Schäuble, viel zu lange hat dochIhre Regierung, die alte Bundesregierung, die Problemeausgesessen; deshalb wollen wir jetzt die notwendigenund tiefgreifenden Reformen anpacken.
Damit beginnen wir schon in dieser Woche. HerrKollege Schäuble, es ist richtig, daß wir dabei zunächsteinmal die schlimmsten Altlasten der alten Regierungaus dem Weg schaffen müssen, nämlich ungerechte undunsinnige soziale Einschnitte, die Sie den Menschen alsReformen verkaufen wollten, wie etwa die Kürzung derLohnfortzahlung, die Aufweichung des Kündigungs-schutzes und das abstruse Krankenhausnotopfer.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und derF.D.P., ich meine, mit einer Politik der organisiertenUngerechtigtkeit reformiert man keine Gesellschaft;man spaltet sie damit nur. Genau das haben Sie in denletzten Jahren gemacht. Sie haben diese Gesellschaft mitIhrer Politik mutwillig gespalten, gespalten in Arm undReich, in Eingeborene und Fremde, in Jung und Alt undin Gesunde und Kranke.
Die Schlüsselentscheidung dieser Politik haben Sieim Frühjahr 1996 getroffen. Da haben Sie nämlich mut-willig das „Bündnis für Arbeit“ beendet, indem Sie dieGewerkschaften vor die Tür gesetzt haben. Das war einschwerer Fehler mit schlimmen Folgen für die ganze ge-sellschaftliche Entwicklung. Letztlich war Ihre Abwahlam 27. September wohl die einzig logische und richtigeKonsequenz aus dieser Fehlentscheidung.
Wir wollen die ökologische und soziale Modernisie-rung der Gesellschaft angehen. Wir werden die Verän-derungen, die nicht zuletzt die Menschen in diesemLand erwarten, anders als durch Spaltung angehen. Wirwerden versuchen, in allen Bereichen, die wir angehen,einen neuen, einen reformorientierten Konsens zu fin-den; denn die großen und schwierigen Aufgaben, vordenen wir stehen, kann man im Grunde genommen nurmiteinander und eben nicht gegeneinander bewältigen.Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, eine gerechtereVerteilung der Lasten, einen neuen Generationenvertrag,die umfassende Orientierung auf ökologische Nachhal-tigkeit und die weitere Demokratisierung der Gesell-schaft, das alles werden wir nur schaffen, wenn wirwirklich einen neuen, reformorientierten Konsens in die-ser Gesellschaft anstreben. Genau das werden wir versu-chen.
Ein neues Bündnis für Arbeit und Ausbildung wirddabei für uns oberste Priorität haben. Wir wollen ge-meinsam mit den Gewerkschaften und den Unternehmenalle Möglichkeiten zum Abbau der Arbeitslosigkeit nut-zen. Wir müssen endlich Überstunden abbauen und inneue Jobs verwandeln. Wir müssen durch vernünftigeRegelungen bei der Arbeitszeit, Teilzeitarbeit erleichternund fördern. Und wir müssen endlich die Vereinbarkeitvon Erwerbsarbeit und Familienarbeit verbessern. Dasalles ist eben nicht nur eine gemeinsame gesellschaft-liche Aufgabe, sondern es ist auch eine historischeAufgabe von Politik, Unternehmen und Gewerkschaf-ten.Ich freue mich sehr über die Ankündigung des HerrnBundeskanzlers, daß das neue Bündnis für Arbeit bereitsim Dezember mit seiner Arbeit beginnen wird. Wir alsBündnisgrüne werden – das kann ich Ihnen versichern –alles tun, was in unseren Kräften steht, damit diesesBündnis erfolgreich sein wird.
Vordringlich ist in der Tat die Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit. Viele meiner Generation sind ar-beitslos oder haben keinen Ausbildungsplatz. Sie stehenvor der Perspektivlosigkeit. 10,8 Prozent der Jugend-lichen unter 25 Jahren sind arbeitslos: Jeder neunte Ju-gendliche hat keinen Job; im Osten ist es sogar jedersechste. Ende Oktober fehlten noch mindestens 36 000Ausbildungsplätze. Das müssen und werden wir soschnell wie möglich angehen; denn hier liegt ein sozialerSprengsatz in der Gesellschaft, wenn ein großer Teil derJugendlichen von der Teilhabe am Arbeitsleben ausge-grenzt wird. Das müssen wir und werden wir als Regie-rung ändern.
Darum brauchen wir auch das Sofortprogramm, mit dem100 000 Jugendliche umgehend und mit besonderemSchwerpunkt in Ostdeutschland in Ausbildung und Be-schäftigung gebracht werden.Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie hofften,daß die Bereitstellung von hinreichend vielen Ausbil-dungsplätzen keinerlei Zwangsmaßnahmen erforderlichmache. Das hoffen auch wir. Aber falls es nicht gelingt,durch Vereinbarungen die erforderlichen Ausbildungs-Kerstin Müller
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plätze zu schaffen, dann – das sage ich hier ganz deut-lich – wird diese Koalition auch gesetzgeberisch handelnmüssen. Dann werden wir eine Ausbildungsplatzumlageauf den Weg bringen.
Diese Koalition wird nicht tatenlos zusehen, wenn Ju-gendlichen der Weg zu einer qualifizierten Ausbildungversperrt bleibt.
Meine Damen und Herren, allerhöchste Zeit ist esauch für die Steuerreform. Sie wird ebenfalls ein Beitragzur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein.
– Sie werden das sehen. – Vor allen Dingen wird sieendlich zu einer gerechteren Lastenverteilung im Steuer-system führen.
Wir werden die Steuertarife in drei Schritten senken.Zugleich werden wir das Kindergeld deutlich anheben.Wir werden mit jedem Schritt insbesondere die unterenund mittleren Einkommen und die Familien mit Kindernentlasten. Der Herr Bundeskanzler hat schon darauf hin-gewiesen: In der dritten Stufe unserer Steuerreform wirdeine Familie mit durchschnittlichem Einkommen undzwei Kindern um 2 700 DM entlastet. Das bedeutetendlich mehr Steuergerechtigkeit; das ist ein wirklicherErfolg. Wir werden dies sofort, und zwar bereits zum1. Januar 1999, angehen.
Nun ist unser Steuerreformkonzept in den letztenWochen heftig diskutiert worden. Den einen ging esnicht schnell genug, den anderen ging es nicht weit ge-nug. Den meisten aber gefielen zwar einigermaßen dieniedrigeren Steuertarife; aber bei der Gegenfinanzierungwollten sie – das war dann besonders originell – alleSchlupflöcher möglichst so lassen, wie sie sind.Eine solche Kritik trifft uns nicht sehr überraschend;denn die alte Bundesregierung hatte ja mal ganz lockereine Nettoentlastung von 50 Milliarden DM durch dieSteuerreform versprochen, davon – ich erinnere Sie dar-an, Herr Glos – ein Drittel durch eine Erhöhung derMehrwertsteuer gegenfinanziert, während die anderenzwei Drittel durch den Griff in die Kassen von Bund,Ländern und Gemeinden finanziert werden sollten. Daswar leicht; Sie wußten nämlich ganz genau, daß dieLänder angesichts ihrer Haushaltslage das nicht realisie-ren könnten. Das waren alles ungedeckte Schecks, vondenen Sie wußten, daß Sie sie niemals einreichen müß-ten.Mein Eindruck ist, daß ein ganzer Teil der Öffent-lichkeit heute noch geradezu besoffen von diesen unver-antwortlichen, leeren Versprechungen ist, die Sie imletzten Jahr gemacht haben.
Angesichts der Haushaltslage von Bund, Ländern undGemeinden und angesichts dessen, daß wir bei der Net-toentlastung im Bund gerade einmal einen verfassungs-konformen Spielraum von 1,3 Milliarden DM haben, 45bis 50 Milliarden DM an Nettoentlastung zu verspre-chen, das war unsolide und völlig unverantwortlich. Wirdagegen werden eine solide Steuerreform machen.
Hinzu kommt, daß die Steuerausfälle der Ära Waigelohnehin schon gewaltig waren. Im Jahr 1995 hatte derehemalige Finanzminister Waigel das Steueraufkommenfür 1998 auf 1 020 Milliarden DM geschätzt. Wohlge-merkt, das war nicht die raffgierige Phantasie rot-grüner„Staatsfetischisten“, wie Sie zur Zeit so gerne sagen,sondern die mittelfristige Finanzplanung des ehemaligenFinanzministers Waigel höchstselbst. 1 020 MilliardenDM sollten es also 1998 werden.Nach den letzten Zahlen werden es aber tatsächlich nur824 Milliarden DM sein. Das heißt, innerhalb von dreiJahren gibt es einen Steuerausfall der fast ein Fünftel dervon Herrn Waigel geschätzten Steuereinnahmen aus-macht. Das alles kommt daher, daß sich infolge derSteuerpolitik der alten Bundesregierung quasi ganze so-ziale Gruppen der Steuergerechtigkeit entziehen konn-ten. Der Einkommensmillionär, der keinen PfennigSteuern zahlt, war doch am Ende der Ära Kohl ein be-liebter Gast der Talkshows.Solche Entlastungsorgien zugunsten von bestimmtenTeilen der Industrie und zugunsten der Reichsten derReichen dieser Gesellschaft haben wir in den letzten 16Jahren zur Genüge erlebt; sie haben zu der höchsten Ar-beitslosigkeit geführt, die es in dieser Gesellschaft jegab. Das muß und wird mit dieser Regierung ein Endehaben.
Wir können und wir wollen keine gigantischen Netto-entlastungen für die Besserverdienenden mehr durchfüh-ren. Unsere Steuerreform wurde deshalb solide durchge-rechnet und ist solide gegenfinanziert.
Wir haben in den letzten Tagen noch manchen Fein-schliff vorgenommen. Wir werden das im Rahmen derAnhörungen auch noch fortsetzen. Insbesondere auf In-itiative meiner Fraktion haben wir auch Verbesserungenfür den Mittelstand vorgenommen.Ich freue mich, heute sagen zu können: Die Steuerre-form ist nicht nur notwendig und nicht nur seit Jahrenüberfällig, sondern sie wird kommen, nicht irgendwann,sondern mit der ersten Stufe wie geplant am 1. Januar1999.Kerstin Müller
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Ich finde, das ist ein guter Einstieg für eine neueBundesregierung.
– Wir fangen ja jetzt schon an.Einen ähnlich guten Einstieg haben wir mit der erstenStufe der ökologischen Steuerreform gefunden. Sie wirdeine weitere Entlastung für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer bringen. Sie ist zugleich ein wichtiges In-strument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vor al-lem ist sie der entscheidende Schlüssel zur ökologischenNeuorientierung der Wirtschaft. Durch die ökologischeSteuerreform werden deshalb die Lohnnebenkostenschon am 1. Januar 1999 um 0,8 Prozentpunkte sinkenund in der gesamten Wahlperiode um mehr als 2,3 Pro-zentpunkte auf unter 40 Prozent.
– Wenn man umfinanziert. Das hat Herr Schäuble schonrichtig gesagt.Eigentlich sollten Sie, Herr Schäuble, uns dafür lo-ben; denn Sie selbst sind ja in der Union schon lange füreine ökologische Steuerreform eingetreten. Sie konntensie aber nicht durchsetzen. Sie haben zum 1. April diesesJahres – die Mitglieder des Vermittlungsausschussessind ja alle hier anwesend – eine Umfinanzierungdurchgeführt: Allein zur Stabilisierung des Rentenbei-trages haben Sie die Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkterhöht. Wir wollen ökologisch umsteuern und werdendeshalb durch eine ökologische Steuerreform das billi-ger machen, was in der Gesellschaft zu teuer ist, nämlichdie Arbeitskosten. Das wird dann wirklich zu politischenVeränderungen führen.
Wir haben zur Umsetzung dieser Politik in der Koali-tion mit einer Mischung aus Mineralöl- und Stromsteuerunter Einbeziehung der Wirtschaft, die von der Senkungder Lohnnebenkosten ja auch profitiert, ein gutes Modellgefunden. Dabei gehen wir behutsam mit energieinten-siven Branchen um. Die ökologische Steuerreform istauf ein stetiges Umsteuern angelegt. Das leiten wir mitdem ersten Schritt ein. Die Kritiker der Ökosteuer wol-len nicht wahrhaben, daß dieses Konzept kein rotgrünesAbenteuer ist, sondern inzwischen in vielen europäi-schen Ländern mit durchweg sehr positiven Auswirkun-gen Realität geworden ist.
Wir machen da keinen deutschen Alleingang.Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: In Dänemark beschloßdie Regierung Rasmussen schon 1993 die Einführungvon Ökosteuern auf Elektrizität, Verkehr und Abfall beigleichzeitiger Senkung der Einkommensteuer. Zusätz-lich wurden erneuerbare Energien massiv gefördert unddie Lohnnebenkosten gesenkt. Das Ergebnis ist bemer-kenswert: Von 1993 bis heute sank die Arbeitslosen-quote in Dänemark von 13 auf 6 Prozent; das heißt, siewurde mehr als halbiert. Auch die Wachstumsrate lag inden letzten Jahren regelmäßig über der in den meistenanderen EU-Staaten. Die Niederlande haben die glei-chen erfolgreichen Erfahrungen gemacht.Auf europäischer Ebene – das ist der Punkt – gab esbisher nur ein ernsthaftes Hindernis gegen eine europäi-sche Vereinbarung über eine ökologische Steuerreform:Das war die alte Bundesregierung, die aus ideologischerVerbohrtheit jeden Fortschritt in dieser Sache in Europablockiert hat.
Das wird jetzt auch auf europäischer Ebene anders.Die neue Regierung wird dort nicht mehr Blockierer,sondern Motor in Sachen Ökosteuer sein. Wir werdendie bevorstehende deutsche EU-Ratspräsidentschaft nut-zen, um dabei ein großes Stück voranzukommen. Dasheißt, wir wollen unser Ökosteuerkonzept in eine euro-paweite Regelung einbetten. Das bedeutet aber nicht,daß wir in Deutschland derweil die Hände in den Schoßlegen und abwarten. Das hat die alte Bundesregierungschon viel zu lange gemacht.Deshalb beginnen wir jetzt, und zwar zum 1. Januar1999, mit dem ersten Schritt – das ist absolut notwen-dig –, und dann werden wir die Gespräche mit den euro-päischen Partnern aufnehmen. Wir werden damit erfolg-reich sein; das kann ich Ihnen versichern.
– Ja, ich glaube das.Mit der ökologischen Steuerreform geben wir richtigeAnreize für eine neue Energiepolitik, für den sparsamenUmgang mit den Naturressourcen. Das heißt: Vorrangder Einsparung vor der Erzeugung, verstärkte Nutzungregenerativer Energien und einen neuen, zukunftsfähi-gen Energiemix, und zwar ohne Atomenergie. Auch dasist ein riesiger Schritt in Richtung Zukunftsfähigkeit die-ser neuen Bundesregierung. Wir werden den Ausstiegaus der Atomenergie in dieser Wahlperiode umfassendund unumkehrbar gesetzlich regeln. Wir machen das soschnell wie nur irgend möglich.
Wir werden einen neuen Energiekonsens mit der In-dustrie, mit den Verbrauchern und auch mit den Um-weltverbänden suchen, der den Ausstieg aus der Atom-energie, aber gleichzeitig auch den Einstieg in eine an-dere, in eine neue Energiepolitik umfaßt. An der Ent-schlossenheit dieser Koalition, und zwar – wie der Bun-deskanzler immer wieder zu Recht betont – beider Part-ner, diese Gefahr für unsere Sicherheit und für alle zu-künftigen Generationen schnellstmöglich zu beenden,Kerstin Müller
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sollte niemand Zweifel haben. Das haben wir uns vorge-nommen, und das werden wir auch umsetzen.
Die neue Bundesregierung orientiert sich ausdrück-lich nicht nur an der Energiepolitik, sondern umfassendam Leitbild der Nachhaltigkeit. Dieser Anspruch richtetsich nicht nur an das Umweltministerium, sondern analle Ressorts. Wir werden eine umfassende nationaleNachhaltigkeitsstrategie erarbeiten, damit das drittgrößteIndustrieland der Welt endlich seiner globalen und öko-logischen Verantwortung gerecht wird. Ich glaube, auchdas ist längst überfällig.
Meine Damen und Herren, nicht nur die Bekämpfungder Arbeitslosigkeit, sondern auch eine gerechtere La-stenverteilung und die ökologische Nachhaltigkeit sinddie Ziele dieser neuen Regierung. Der Bundeskanzlerhat es zutreffend gesagt: Die Demokratie in Deutschlandist kein zartes Pflänzchen mehr, sondern ein kräftigerBaum. Diesem Baum wollen wir Raum verschaffen,damit er weiter wachsen und blühen kann. Darum ist einweiteres zentrales Vorhaben für uns die stärkere Demo-kratisierung dieser Gesellschaft. Wir wollen Bürger-rechte ausbauen, indem wir die Beteiligungsrechte derBürgerinnen und Bürger in bezug auf diese Demokratiedurch die Möglichkeit von Volksbegehren und Volks-entscheid erweitern.Wir wollen Minderheiten besser schützen. Was füreine Zeitenwende bedeutet gerade die Koalitionsverein-barung über die eingetragenen Lebenspartnerschaftenfür schwule und lesbische Paare!
– Ja.Noch vor 30 Jahren war die einfache Homosexualitätunter Männern nach § 175 des Strafgesetzbuches mitGefängnis bestraft. Homosexualität unter Frauen galt alsabsolutes Tabu. Liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU, selbst Bischof Lehmann plädierte dieser Tagefür eine Öffnung und Gleichstellung. Nach dem, was ichheute morgen in Ihrem Beitrag gehört habe, habe ichden Eindruck, Sie fallen selbst hinter diese Position derkatholischen Kirche zurück.
Wir werden das ändern. Jetzt werden wir die gleich-geschlechtlichen Partnerschaften durch das Gesetzschützen und gleichstellen. Ich sage ganz deutlich: Dasist ein wirkliches Stück Moderne. Das ist ein Stück mehran Zivilisation, und das ist ein Stück Weltoffenheit. Die-se hat diese Gesellschaft wirklich bitter nötig gehabt.
Wir werden noch in einer anderen Hinsicht mehrDemokratie und mehr Weltoffenheit wagen. Wir werdenuns nämlich endlich der Tatsache stellen – der Sie sichin den letzten Jahren und Jahrzehnten verweigert ha-ben –, daß ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeßstattgefunden hat, daß die Bundesrepublik Deutschlandheute ein Einwanderungsland ist. Wir werden daher denMenschen, die heute noch sogenannte Ausländer sind– das sind immerhin 7 Millionen –, die seit langem hierleben, die hier geboren sind und die dieses Land mitaufgebaut haben – wir haben sie damals als sogenannteGastarbeiter hierher geholt –, durch eine Reform desStaatsbürgerschaftsrechts endlich das geben, woraufsie schon so lange gewartet und worauf sie ein Rechthaben: die vollen Bürgerrechte.
Wir werden ihnen, die bisher Fremde im eigenenLand waren, mit dieser Reform signalisieren: Ihr gehörtzu dieser Gesellschaft. Wir werden Schluß machen mitder Spaltung der Gesellschaft in Bürger erster, zweiterund dritter Klasse. Wer hier dauerhaft lebt und hier sei-nen Lebensmittelpunkt hat, wird künftig einen klarenRechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft be-kommen, und die Kinder, die hier geboren werden undhier aufwachsen, sind künftig mit der Geburt deutscheStaatsbürger, wenn ein Elternteil seit dem 14. Lebens-jahr hier lebt.Dies, meine Damen und Herren von CDU und F.D.P.,machen wir unter bewußter Hinnahme der doppeltenStaatsbürgerschaft. Zum einen gibt es rechtlich über-haupt keine Alternative dazu. Vielleicht lassen Sie sichdas einmal von dem ehemaligen langjährigen Vorsitzen-den des Rechtsausschusses, Herrn Eylmann, CDU-Mitglied, erklären. Als er nämlich noch Mitglied diesesHauses war, wurde er nicht müde, dies zu betonen. Zumanderen: Es gibt keine wirklichen Argumente gegen dieAnerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft. Das,was Sie anführen, ist aus meiner Sicht Ideologie.
Herr Schäuble, Sie haben heute morgen noch einmalbehauptet, die doppelte Staatsbürgerschaft sei ein Privi-leg der sogenannten Ausländer gegenüber den „wirkli-chen“ Deutschen, weil diese ja schließlich nur eine ein-zige Staatsbürgerschaft hätten und nicht zwei. Da wirdjetzt sogar mit Klagen vor dem Bundesverfassungsge-richt oder dem Europäischen Gerichtshof gedroht.Ich finde es sehr bedauerlich, daß Sie mit diesemwichtigen Thema so unbesonnen umgehen. Die doppel-te Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, und sie hatnichts, aber auch gar nichts mit Rosinenpickerei zu tun.Wer das behauptet, der erzählt einfach dummes Zeug,und ich finde es gefährlich, das in der Öffentlichkeit zuerzählen.
Ich will das hier mal erklären. Die Rechte undPflichten von Doppelstaatsbürgern richten sich ganz ein-fach nach dem festen Wohnsitz. Die zweite Staatsange-Kerstin Müller
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hörigkeit bedeutet im Kern einen einzigen Vorteil: Esgibt außer Deutschland ein weiteres Land, in dem mandas Recht hat, sich niederzulassen. Dieses Recht, meineDamen und Herren, das hat jeder Deutsche, und zwarnicht nur in einem anderen Land, sondern in allen14 Ländern der Europäischen Union. Ich finde, wennman das weiß – und ich gehe einmal davon aus, daß Siedas eigentlich wissen, meine Damen und Herren von derCDU –, dann sollte man nicht von Privilegien reden.Damit macht man schlechte Stimmung gegen die aus-ländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen in diesemLand.
Daher werden wir als eines der zentralen Anliegendiese Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zügig undentschlossen umsetzen.Diese Reform wird das Gesicht dieser Republik ver-ändern. Ja, das stimmt.
Wir wollen das, denn wir stellen uns damit endlichder durchaus nicht einfachen Aufgabe, diese Einwande-rungsgesellschaft zu gestalten – mit all den Problemen,die es nun mal mit sich bringt, wenn verschiedene Kul-turen das Miteinander organisieren müssen. Aber es gibtdazu keine Alternative, sage ich. Eine Gesellschaft, diein der Mitte Europas liegt und die sich nicht erst seitheute vorgenommen hat, die Integration Europas voran-zutreiben, kann und darf sich weder nach außen nochnach innen abschotten, sondern muß sich offensiv derHerausforderung stellen, das Zusammenleben einermultikulturellen Gesellschaft zu gestalten, und zwar oh-ne Wenn und Aber, und das werden wir tun; das werdendie Folgen aus der Reform des Staatsbürgerschaftsrechtssein.
Dieser Herausforderung müssen wir uns auch in be-zug auf die Menschen stellen, die als Kriegsflüchtlingeoder Asylsuchende zu uns kommen. Auch dazu habenwir im Koalitionsvertrag einige Vereinbarungen getrof-fen – etwa eine Altfallregelung oder die Anerkennunggeschlechtsspezifischer Verfolgung. Ich sage aber auchganz offen für meine Fraktion, daß dies für uns dieschwierigste Stelle im Koalitionsvertrag ist. Es ist ja be-kannt, daß wir Bündnisgrüne die Vereinbarungen in die-sem Punkt nicht für hinreichend halten. Wir meinen:Dieses Land verdient eine tatkräftige Reformregierung,wie wir sie in guten und vertrauensvollen Koalitionsver-handlungen gemeinsam gebildet haben.
Ich meine aber, unser Land verdient auch eine Rück-kehr zu einer humanen Flüchtlingspolitik. Ich hoffe,auch diese Politik können wir gemeinsam durchset-zen.
Eine der größten Sorgen, die viele Menschen aus derKohl-Ära mitnehmen, ist die Sorge um die soziale Si-cherheit im Alter. Das Vertrauen in das Rentenversi-cherungssystem ist durch Ihre Politik der letzten Jahrefundamental erschüttert worden – nicht nur bei der jetzi-gen Rentnergeneration, sondern vor allen Dingen auchbei den jungen Menschen. Fragen Sie einmal bei Men-schen meiner Generation oder bei denen, die noch jün-ger sind, nach.
Wir brauchen mehr Generationengerechtigkeit. Wirmüssen endlich die unsteten Erwerbsverläufe absichernund Vorkehrungen für den demographischen Wandeltreffen. Wenn auf immer weniger Beitragszahler immermehr Rentenempfänger kommen, dann muß das Systemdarauf vorbereitet sein. Wir werden diesen Wandel be-rücksichtigen, und zwar nachhaltig und zukunftsfähig.Wir werden innerhalb der nächsten zwei Jahre die über-fällige große Rentenreform durchführen; das kann ichIhnen versichern. Wir freuen uns, daß sich Herr Riesterzum Ziel gesetzt hat, es schon in einem Jahr zu schaffen.Ich kann nur sagen: Wir sind dabei.
Diese Koalition ist durch beide Koalitionspartner ge-prägt. Es ist klar, daß sich auch die jeweiligen Kräfte-verhältnisse in ihr widerspiegeln. Aber diese Koalitionwird getragen von der Bereitschaft zum Kompromiß unddem Respekt vor den Positionen des Koalitionspartners.Herr Bundeskanzler, die Bündnisgrünen werden in denkommenden vier Jahren ein selbstbewußter, aber auchein verläßlicher Bündnispartner sein.Jetzt gilt es, unser Land umfassend zu modernisierenund es zukunftsfähig zu machen – in Solidarität mitein-ander in dieser Gesellschaft und in Solidarität mit denanderen Völkern der Welt. Wir wollen diese Aufgabenanpacken – entschlossen und lernfähig.Zum Schluß möchte ich noch einen sehr wichtigenPunkt ansprechen. Wir werden diese Ziele nur erreichen,wenn wir die innovativen Kräfte dieser Gesellschaftwirklich dafür gewinnen. Wir brauchen den demokrati-schen Dialog mit allen sozialen Gruppen und auch dieoffene Debatte. Ich glaube, daß zum Aufbruch nach demEnde der Ära Kohl auch und vor allen Dingen eine neuedemokratische Offenheit gehört. Herr Schäuble, wir sa-gen nicht mehr: „Die demonstrieren – wir regieren.“ Wirsagen den Menschen etwas anderes: „Mischt euch ein!Wir brauchen eure Initiative; wir brauchen eure Kritikund suchen die gesellschaftliche Debatte.“ Denn nur da-durch und durch die Auseinandersetzung miteinanderwächst der reformorientierte Konsens, der dieses Landzukunftsfähig machen kann. In diesem Sinne freuen wirKerstin Müller
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uns auf die ersten vier spannenden Jahre der rotgrünenKoalition.Vielen Dank.
Das Wort hat derVorsitzende der F.D.P.-Fraktion, Herr Dr. WolfgangGerhardt.Dr. Wolfgang Gerhardt (von Abgeordnetender F.D.P. und der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundes-kanzler, zunächst gratulieren wir Ihnen zu Ihrer Wahl.Wir wünschen Ihnen im Interesse unseres Landes Erfolgin Ihrer Arbeit. Sie werden uns in Debatten engagiertsehen. Wir werden Ihre Politik kritisch begleiten, ihr, woimmer das möglich ist, zustimmen, sie aber auch ableh-nen, wann immer das notwendig ist. Das gehört zumguten parlamentarischen Stil. Es ist völlig vernünftigund klar, daß es an einem fairen Umgang miteinandernicht mangeln wird.Man erfährt ja an einem solchen Tag sehr viel, wennman genau zuhört. Die Koalitionsvereinbarung wurde,kaum daß die Tinte trocken war, mit Nachbesserungenversehen.
Sie ist in einzelnen Debattenbeiträgen noch einmalsachlich erläutert worden. Der Gesetzentwurf, der unsüber die Ökosteuer im geheimen und im besonderen in-formieren soll, wurde zunächst noch zurückgehalten undjetzt wieder zurückgenommen.Herr Bundeskanzler, die Öffentlichkeit in der Bun-desrepublik Deutschland hat nun wirklich nicht den Ein-druck, daß hier ein Reformbündnis angetreten ist.
Selbst im Zeitungswald, der Sie geradezu gefördert hat,macht sich eine gewaltige Enttäuschung breit. Dabraucht man nur die Überschriften zu lesen. Eine heißt:„Oskar greift zur Axt“. Das war eine Überschrift derZeitschrift „Die Woche“. Sie schildert die besonderenStilmittel Ihres Finanzministers, wenn es darum geht, andie Lösung von Problemen heranzugehen. Die gleicheWochenzeitung schreibt zur Steuerreform: „völlig ver-heddert“.Die gesamte deutsche Öffentlichkeit weiß, was hiervor sich gegangen ist: Sie haben eine Wahl gewonnen.Mit dieser Wahl waren bei der Neuen Mitte, die Sie an-gesprochen und im wahrsten Sinne des Wortes hofierthaben, Hoffnungen verbunden. Sie wollten nicht allesanders machen; sie wollten ein Stück Kontinuität undeiniges besser machen. Jetzt macht Oskar Lafontainealles anders, aber überhaupt nichts besser.
Sie haben die deutsche Öffentlichkeit – diesen Vorwurfkann ich Ihnen nicht ersparen – gewaltig getäuscht. Ichmuß der deutschen Öffentlichkeit aber auch sagen: Siehat sich leicht täuschen lassen. Sie hat die Modernisie-rungsbereitschaft von Gerhard Schröder überschätzt unddie konservative sozialdemokratische Haltung von OskarLafontaine unterschätzt.Frau Kollegin Müller, die Grünen haben angekündigt,sie wollten auf Augenhöhe verhandeln. Sie müssen aufHühneraugenhöhe verhandelt haben. Das stellt man fest,wenn man das Ergebnis der Koalitionsvereinbarungenbetrachtet.
Das ist nicht nur eine Aussage von mir und von denKolleginnen und Kollegen der F.D.P. Roland Berger hatsich vor der Wahl oft lobend über Gerhard Schröder ge-äußert. Er wünschte ihn sich allerdings in der Konstella-tion einer großen Koalition. Jetzt trage ich Ihnen einmalvor, was dieser Mann heute sagt.
– Herr Fischer, jetzt wird es zum Nachteil, daß Sie Au-ßenminister geworden sind. Denn auf der Regierungs-bank müssen Sie den Mund halten. Von den Abgeord-netensitzen dürfen Sie Zurufe machen. Das hätten Siesich vorher überlegen sollen.
Sie sind jetzt Minister. Da müssen Sie Ihr Verhalten än-dern. Die Jacke haben Sie ja schon gewechselt.
Roland Berger sagt:Mit Ausnahme von Tony Blair sind alle sozialde-mokratischen oder sozialistischen Regierungen inEuropa erst zwei oder drei Jahre ihren Illusionennachgejagt, bis sie von der Realität eingeholt wor-den sind.Dann führt er aus, was für diese Politik gilt:Ihre Länder und die Menschen mußten für diesenLernprozeß allerdings teuer bezahlen, weil ver-spielte Jahre im globalen Wettbewerb für lange Zeitverloren sind.Das ist der Fehler der eingeleiteten Politik.
Er fügt hinzu – falls er die Regierungserklärung ge-hört hat, wird er seine Meinung nicht ändern –:Auch diese deutsche Regierung ist zur Macht ge-kommen und hat nichts dazugelernt. Sie ist völligunvorbereitet auf Innovation.So war Ihre Regierungserklärung: völlig unvorberei-tet auf Innovation. Das erzählen nicht nur meine Freun-de und ich. Das spüren auch viele in Ihren Reihen. SollKerstin Müller
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ich sie namentlich vorlesen? Bodo Hombach, Ihr Mi-nister, erklärt im Hinblick auf die Koalitionsvereinba-rung: Das ist doch zunächst einmal bedrucktes Papier– Das ist völlig richtig; das habe auch ich so gesehen. –Nach genauerem Durchlesen stellt er fest: Viele Themenseien vertagt oder in Arbeitsgruppen verwiesen worden.Da sei noch genügend Platz für Schröders Handschrift,für den „Meister der Moderation“, wie seine Beraterjetzt der deutschen Medienlandschaft mitteilen. Ich halteihn nicht für den Meister der Moderation. Herr Bundes-kanzler, wo waren Sie eigentlich bei den Koalitionsver-handlungen? Wo ist Ihre Handschrift? Wo kommt es zuInnovationen?
Die Politik, die Sie einleiten, kostet Deutschland vielGeld. Sie wirft uns im Wettbewerb dramatisch zurück.Sie gestaltet nicht die sozialen Sicherungssysteme neuund innovativ. Im übrigen ist die Steuerreform, wie auchimmer Sie sie verpacken, ein reines Abkassieren derBürgerinnen und Bürger.
Und auch dazu lese ich Ihnen jetzt einmal etwas vor.Man muß sich auf der Zunge zergehen lassen, was dieFAZ heute über die gegenwärtigen Wasserstandsmel-dungen bezüglich der Ökosteuer berichtet. Die Grünenäußerten sich so zu der Ökosteuer:Die schnelle Einigung– das muß die gestrige gewesen sein; ich weiß nochnicht, wie sie aussieht, das werden wir nächste Wocheerfahren –
führten die Grünen darauf zurück, daß mit der Strom-steuer . . . eine neue Geldquelle erschlossen wird, ander das Finanzministerium Interesse zeige. Darüberseien Bedenken in den Hintergrund getreten.– Soll ich das noch einmal vorlesen?
Man hat sich in der Koalition geeinigt, weil durch dieStromsteuer eine neue Geldquelle erschlossen wordenist. Herr Lafontaine, die Aufgabe des Finanzministers istnicht, neue Geldquellen zu erschließen, sondern zu spa-ren, den Staat schlank zu machen und den Bürgern dasGeld zurückzugeben, anstatt es ihnen aus der Tasche zuziehen.
Das alles wird noch gesteigert: Die Grünen hoffenjetzt auf Nachbesserungen im Steuerkonzept. Ich erinne-re mich an Äußerungen – man tauscht sich ja doch gele-gentlich aus – auch aus den Reihen der Kolleginnen undKollegen der Grünen zum Spitzensteuersatz. Der Kol-lege Oswald Metzger war meinen Gedankengängennicht fremd.
– Ja, aber wer hat denn für ihn als Chefunterhändler ver-handelt? Für Sie ist doch ein Flunderergebnis herausge-kommen: die „gewaltige“ Absenkung des Eingangssteu-ersatzes von 25 Prozent auf 19,9 Prozent in drei Trippel-schritten bis zum Jahre 2002. Das hilft uns doch nichtweiter! Bis zum Jahre 2002 ziehen Sie denselben Bürge-rinnen und Bürgern, denen Sie diese 5 Prozent Steuer-senkung in die linke Tasche geben, die Ökosteuer ausder rechten Tasche. Das ist ein Betrug an der Öffent-lichkeit. Und so darf das auch genannt werden.
Sie als Grüne haben das auch erkannt. Ihr Chefunter-händler – bei den Koalitionsverhandlungen war ja fastjeder Chefunterhändler, außer dem Bundeskanzler –, derChefunterhändler der Grünen, hat erklärt, man sehe jetztdoch noch Spielraum für einen Spitzensteuersatz bei45 Prozent oder darunter.Meine Damen und Herren, ich formuliere es einmalso: Die Grünen sollen ruhig sagen, daß sie jetzt endlicheinmal regieren wollen. Das ist völlig in Ordnung. Daswill jeder; darum gibt es einen Wettbewerb. Die Grünensollen aber nicht den Versuch machen, zu erklären, daßsie programmatisch irgend einen Anteil an der Politikhätten, die die Koalition jetzt vertritt. Dabei geht esnämlich nicht um eine Ökosteuer und auch nicht umeine Modernisierung, sondern da handelt es sich umschlichtes Abkassieren. Es gibt keine neue Abfallwirt-schaft. Die Grünen haben auch keine neue Verkehrs-politik eingeleitet. Der Transrapid läuft jetzt durch dienordrhein-westfälische Landespolitik als eine Art fahr-bares Garzweiler III.
Am Ende wird der Verkehrsminister erklären, er wolledoch die alte Strecke nehmen. – Das alles werden wirhier erleben.Ich lese den Grünen einmal ihre „Verhandlungserfol-ge“ vor: Garzweiler II wird genehmigt. Ich sage vor-aus: Auch der Frankfurter Flughafen wird ausgebaut.Dazu gibt es einen interessanten Vorschlag des GrünenTom Koenigs. Die Grünen haben immer gesagt, derFlughafen dürfe nicht über den Zaun hinaus ausgebautwerden. Jetzt hat Tom Koenigs erklärt, man könne denZaun doch ein Stückchen verschieben. – Das ist einesehr findige Regierungsbeteiligung in Hessen!
Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ sollen mitden Grünen weiterlaufen. Mir gefällt das; das ist ja auchvöllig richtig. Dann aber sollen die Grünen nicht denVersuch machen, hier ihre Programmtreue vorzutragen.Frau Kollegin Müller, Sie waren platt wie eine Flun-der. Sie stellen den Außenminister und haben sich des-sen Politik und Jogging angeglichen: Fünf Kilometer amRhein entlang, Spitzkehre, fünf Kilometer zurück – dasist Bewegung, aber kein Fortschritt für Deutschland!Das ist das Verhandlungsergebnis.
Dr. Wolfgang Gerhardt
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Nein, meine Damen und Herren, Deutschland hat mitdieser Art von Politik, bei der jetzt in Nachbesserungs-runden nachgesessen wird, einen Zeitverlust zu be-fürchten. Ich lese in der Zeitung, bei SPD und Grünensollten sich jetzt Reformallianzen bilden. – Meine Herr-schaften! Eine Reformallianz muß man haben, wennman regieren will. Wenn man sie erst hinterher bildet, istes zu spät.Ich will deshalb noch einmal auf Roland Berger zu-rückkommen.
Ihm wurde die Frage gestellt: Wie kann Schröder – sofragte dieses bekannte Magazin – sich noch befreien unddie versprochene Modernisierung von Staat und Wirt-schaft angehen? Der interviewte Roland Berger
antwortete darauf aus meiner Sicht verblüffend deutlich.Er sagte: Will er das überhaupt? Er ist Kanzler und hatsein Lebensziel erreicht, fügte er hinzu.
Herr Bundeskanzler, Sie müssen in diesem Hausmehr vortragen als heute bei Ihrer Regierungserklärung,
um dem in der Öffentlichkeit entstandenen Eindruckentgegenzuwirken, daß zwar Sie es waren, der zumKanzler gewählt worden ist, die Führung der Regie-rungsgeschäfte aber beim Finanzminister liegt.
– Das ist gar kein kalter Kaffee; es ist in der deutschenÖffentlichkeit umgehend deutlich geworden, wer hierdas Sagen hat. Ich finde, wir Parlamentarier haben einRecht, zu erfahren, wer wirklich das Sagen hat.Wenn Sie modernisieren wollen, finden Sie uns anIhrer Seite. Wenn Sie den sich abzeichnenden strategi-schen Kurs fortsetzen, fahren Sie Deutschland in dieSackgasse – finanziell, dadurch, daß Sie Zeit verspielen,und mit einer falschen politischen Konzeption. Der tre-ten wir entgegen.
Herr Bundeskanzler, es sind ja nicht wir allein, dieIhnen entgegentreten. Es gibt eine Heerschar solcherPersonen, auch aus Ihren eigenen Reihen. Ich greifeeinmal diejenigen heraus, deren Seriosität überhauptnicht bestritten werden kann. Sie kennen genausogut wieich – deshalb zieht die Erblastlegende überhaupt nicht –die Stellungnahme der führenden wirtschaftswissen-schaftlichen Institute. Sie ist ganz eindeutig. Darin sa-gen die Institute Ihnen, daß die von Ihnen beabsichtigteSteuerreform kaum zu höherem Wachstum und schongar nicht zu mehr Beschäftigung führt.Diese Stimmen werden ergänzt von Herrn Schmoldt,dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie, Energie, derdasselbe erklärt. Die wirtschaftswissenschaftlichen In-stitute fordern Sie geradezu auf, couragierter heranzuge-hen. Die öffentlichen Haushalte, so sagen die Institute –wenn Sie es Herrn Schäuble und mir nicht glauben, dannzitieren wir die Institute; sie sagen es Ihnen und derdeutschen Öffentlichkeit –, leiden nicht unter einer sol-chen Not, wie die Chefunterhändler der Koalition be-kannt geben. Es ist erkennbar, daß Sie zu mehr Steuer-senkungen in der Lage wären, wenn Sie das nur woll-ten. Sie wollen es aber nicht, weil Sie nicht Steuersen-kung im Sinn haben, sondern Umverteilung. Bei diesemSystem zahlen dann die Jüngeren für die Rentner, dieKleinen für die Großen, der Mittelstand für die Groß-industrie und die nächste Generation für den Verbrauch,den Sie jetzt bewirken. Das ist das Falsche an IhrerPolitik.
Wir werden den Gesetzentwurf zur Ökosteuer in dernächsten Woche vorgelegt bekommen. Die Institute sa-gen Ihnen aber schon jetzt, daß eine deutliche Entlastungder Umwelt bei gleichzeitigem Abbau der Arbeitslosig-keit von einer ökologischen Steuerreform nicht geleistetwerden kann. Ob die Erhöhung eine Mark oder zweiPfennig ausmachen soll, ist völlig egal. Das, was Sievorhaben, kann nicht geleistet werden.Der Staatssekretär Tacke aus dem Wirtschaftsmi-nisterium wird mit den Worten zitiert – der Mann drücktsich vorsichtig aus; völlig zu Recht –, die doppelte Di-vidende sei geringer, als man dachte. – Recht hat derMann; das hätte man auch vorher wissen können. Ichwill erläutern, was das bedeutet. Die doppelte Dividendeist nicht nur geringer, sehr verehrter Herr Tacke; beieiner doppelten Dividende dieser Art ist klar, daß in demMaße, wie das eine Ziel erreicht wird, das andere ver-fehlt werden muß. Wird die Umwelt geschont, dann be-kommt Herr Lafontaine keine Einnahmen, mit denen erdie Lohnnebenkosten senken kann.Diese Erfahrung kann Ihnen auch jemand mitteilen,der nicht Volkswirtschaft studiert hat. Das sagt unsschon der gesunde Menschenverstand. Trotzdem machenSie es. Wenn Sie es machen, müssen Sie hier gewaltigeArgumente anführen, warum. Sie müssen die deutscheÖffentlichkeit darüber aufklären, warum Sie das tun.Ich sage Ihnen: Sie hängen dem uralten, anscheinendnicht ausrottbaren sozialdemokratischen Glauben an,daß der Staat die bessere Institution zur Herstellung so-zialer Gerechtigkeit ist, so daß er den Bürgern etwasmehr abnehmen soll, um es dann auf anderen Wegenzuteilen zu können. Wir Freien Demokraten repräsentie-ren den entgegengesetzten Denkansatz: Wir glauben,daß eine Gesellschaft vitaler ist, wenn man den Bürgernmehr Geld beläßt und es ihnen nicht aus der Taschezieht. Deshalb sind wir gegen Ihre Politik.
Dr. Wolfgang Gerhardt
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Mit der Ökosteuer wird kein Impuls für die Schaffungvon Arbeitsplätzen ausgelöst.Im übrigen bin ich gespannt, ob der GesetzentwurfUngereimtheiten beseitigt. Kohle soll bei der Verstro-mung stärker steuerlich belastet werden. Wer Brikettoder Eierkohle in den Ofen schiebt, gilt als Umweltsün-der. Erdgas und Öl, deren Einsatz umweltfreundlicher istals etwa die Brikettverfeuerung, wollen Sie genausohoch besteuern. Das müssen Sie einmal vernünftigenMenschen erklären. Das ist nicht erklärbar. Das ist nurdann zu erklären, wenn Sie sagen: Das ist für uns eineGlaubensfrage.Da uns die Kollegin Müller auf Dänemark verwiesenhat, möchte ich Sie auffordern: Erzählen Sie einmal demstaunenden Haus, wie die Umweltentlastung in Däne-mark zurückgegangen ist, nachdem dort Ökosteuerneingeführt worden sind! Die Selbstverpflichtung derdeutschen Wirtschaft hat zehnmal soviel an Umwelt-entlastung gebracht wie die Ökosteuererhöhung in Dä-nemark.
Deshalb wollen wir bei dem eingeschlagenen Wegbleiben.
Im übrigen: Herr Bundeskanzler, Sie haben in derRegierungserklärung gesagt, am Ende der Legislaturpe-riode, also 2002, wollen Sie die Menschen um15 Milliarden DM entlastet haben.
Darf ich Sie daran erinnern, wie Sie die Entlastung inHöhe von 7 Milliarden DM, die wir in der letztenLegislaturperiode im Zuge der Soli-Senkung vorge-nommen haben, kommentiert haben? – Das sei nur so-viel „wie für eine Pizza“. Und jetzt verkaufen Sie die15 Milliarden DM als eine große Steuerreform!
Ich halte das für unvertretbar: sich in der letzten Legis-laturperiode über die Rückgabe von 7 Milliarden DM sozu erregen und jetzt 15 Milliarden DM als Konzept fürvier Jahre deutscher innovativer Politik vorzutragen – und das vor dem Hintergrund der Tatsache, daß dieletzte Steuerschätzung für das Jahr 2002 etwa150 Milliarden DM mehr Steuereinnahmen voraussieht.Angesichts dessen muß ich Ihnen vorwerfen: Ihr Finanz-minister hat durch sein strammes Verteilungsdenken dasGeld, das die Bürger in Deutschland bis zum Jahre 2002noch erarbeiten müssen, schon längst verpulvert! Gegendiese Politik werden wir angehen.
Es geht auch nicht nur um die Frage: Ist das die fal-sche Grundrichtung? Reichen die Reformanstrengungen– die ich gar nicht erkennen kann – aus? Nein, es gehtauch darum, ob Ihre Regierung wirklich willens und inder Lage ist, auf der Höhe der Zeit die Themen so zu be-arbeiten, wie es bei nahezu jeder modernen Wettbe-werbsgesellschaft auf dieser Welt der Fall ist. Alle ande-ren modernen Wettbewerbsgesellschaften, mit denen wirstärkste Konkurrenz aushalten müssen, haben eine sol-che Politik spätestens zwei Jahre nach dem Einstieg kor-rigieren müssen. Wir werden mit Interesse beobachten,wie es im weiteren Verlauf um die Modernisierungsbe-reitschaft Ihrer Regierungskommissionen und Arbeits-gruppen bestellt ist.Aber es geht um mehr: Sie mögen bei den sozialenSicherungssystemen durch nicht geeignete Reforman-strengungen Fehler machen. Sie können falsche wirt-schaftspolitische Akzente setzen. – Das können wir im-mer mit dem Florett ausfechten. Aber der schwere Säbelder Opposition wird erst bei dem verantwortungslosenGequatsche von Oskar Lafontaine über das ThemaGeldwertstabilität, Bundesbank und EuropäischeZentralbank gezogen. Meine Damen und Herren, dasist kein beliebiger Spielplatz. Die Einrichtung einer un-abhängigen Notenbank mit dem Auftrag, die Geld-wertstabilität zu wahren, gehört – dies ist über alle Par-teigrenzen hinweg anerkannt – zu den institutionell er-folgreichsten Nachkriegsergebnissen deutscher Politik.Wer hier in Interviews leichtfertig redet, wer in der eu-ropäischen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt –„Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“ –,man könne mittels dauerhafter öffentlicher Auseinander-setzungen die Entscheidungen der Bundesbank konter-karieren und die Europäische Zentralbank schon einmalvorsorglich darauf vorbereiten, welcher Wind im näch-sten Jahr weht, der macht all das an Ergebnissen zu-nichte, was die Bundesregierung von CDU/CSU undF.D.P. im europäischen Kontext in Stabilitätsverhand-lungen erreicht hat. Ein grober Fehler!
Sie mögen das ganze Kapitel noch so sehr abfeiern:Ich habe gelesen, neulich haben Sie erklärt – vor einembesonders kundigen Gewerkschaftspublikum, das anGeldwertstabilität natürlich, wie immer, interessiert ist –,man könne das einmal diskutieren. Herr Bundeskanzler,„Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“reicht als Auskunft nicht. Im Verhältnis zu den erreich-ten Zielen gehört für deutsche Politik zum Start am1. Januar des nächsten Jahres mit EZB und Euro, daßsich dieses Land stabilitätskonform verhält und in deralten Kultur der Geldpolitik der BundesrepublikDeutschland, die Tradition hat, ja Staatsräson ist, ver-bleibt.Es gibt, wie ich sehe, nur ganz wenige, die sich in derjetzigen Situation an diesem verantwortungslosen Ge-schwätz beteiligen. Und es genügt nicht der Hinweis,auch der Herr Bundesbankpräsident habe nun zugestan-den, man könne ja einmal darüber sprechen. – Nein,darum geht es dem Herrn Lafontaine nicht. Der willdurch dauerndes Gerede die alte Stabililtätspolitik sounterminieren,
Dr. Wolfgang Gerhardt
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daß ihm die Rechenschaftspflichtigkeit der EZB ir-gendwann wie eine reife Frucht in den Schoß fällt! Dasnutzt vielleicht Herrn Lafontaine; das schädigt aber dieBezieher kleiner Einkommen, die Rentner, die auf dieGeldwertstabilität angewiesen sind, weil sie keineSachwertbesitzer sind. Für die werfen wir uns in dieserDiskussion in die Bresche.
Wo immer Sie einen Zipfel erwischen können, dapacken Sie auch zu. Deshalb muß man den Anfängenwehren.Ihren Beutezug ins Wirtschaftsministerium mögenSie noch soviel mit dem Hinweis auf das britische Trea-sury garnieren. Dieses hat eine andere Tradition. Selbstwenn ich dieses Argument und den Hinweis auf HerrnStrauss-Kahn akzeptiere: In Deutschland widersprichtdieser Beutezug von Oskar Lafontaine den berühmten„checks and balances“, die in unserer deutschen wirt-schaftlichen Tradition immer beachtet wurden. Das istdoch keine Verschlankungsmaßnahme.Darf ich Ihnen einmal vorlesen, Herr Schröder, wasSie als Ministerpräsident am 24. November 1994 zurRegierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl gesagthaben? – Ich zitiere:Es fällt auf, daß in dieser Regierung das Wirt-schaftsministerium offenbar als eine Art Steinbruchfür andere Häuser benutzt wird.
Es kann einem schon leid tun, wie mit dem amtie-renden Wirtschaftsminister umgegangen wird.– Haben Sie Herrn Müller oder Herrn Stollmann ge-meint?Meine Damen und Herren, dieser Beutezug ins Wirt-schaftsministerium ist nicht nur das Herausklamüsernvon einigen Aufgaben oder ein Stück Zentralisierungwegen der besseren europäischen Verhandlungslinie.Nein, das ist eine Tendenz, die sich in Ihrer Regierungandeutet. Sie gehen mit Unabhängigkeit und Souveräni-tät von Ressortministern nicht gut um.
Ich füge noch ein Beispiel hinzu, weil es notwendigist. Sie haben jemanden als Verteidigungsminister aufIhre Regierungsbank geholt, der gar nicht dahin wollteund der in seiner früheren Funktion einem anderen imWege war. Das ist der innere Zustand der Mechanismen,mit denen hier Politik gemacht wird. Das spreche ichhier an.Sie sind als Kanzlerkandidat angetreten und haben inder deutschen Öffentlichkeit von einem Modernisie-rungseffekt gesprochen. Sie haben Ihren Wahlkampfdurch Events bestimmt. Sie haben Menschen für sichgewonnen, die daran geglaubt haben, daß Sie als refor-merischer Kanzler antreten. – Die alle haben Sie ent-täuscht. Ich treffe heute kaum noch jemanden, der sichoptimistisch, zuversichtlich dazu bekennen will, Sie ge-wählt zu haben.
Sowohl bei dem Steuerthema wie bei vielem anderen:Sie haben Ihren Start innerhalb weniger Tage granaten-haft vergurkt. Sie haben alles in den Orkus geredet, wasan guten Hoffnungen da war. Sie haben die Neue Mittezertrampelt. Sie haben in Ihrem Programm geschrieben:Sie setzen auf die Leistungsbereiten. – Ich wußte, daswar ein Tippfehler: Sie setzen sich auf die Leistungsbe-reiten! Das wollen wir nicht zulassen.
Meine Damen und Herren, in der letzten Legislatur-periode war für die Grünen vieles an liberaler Außen-politik falsch. Ich habe mir die Reden von Herrn Fischerimmer angehört. Heute reist Herr Fischer – ich begrüßedas – in alle Länder der Welt und verkündet – bisher je-denfalls erkennbar – die Kontinuität deutscher Au-ßenpolitik. Der Außenminister ist nicht hier; man mages ihm übermitteln: Herr Fischer ist auf Grund seinerderzeitigen Amtsführung der beste Beleg dafür, daß li-berale Außenpolitik in gemeinsamer Verantwortung vonAußenminister Klaus Kinkel und Bundeskanzler HelmutKohl so schlecht nicht gewesen sein kann, wenn er sichjetzt voll in deren Kontinuität bewegt.
Ich finde das in Ordnung. Wir werden aber genaue-stens beobachten müssen, ob das in seiner Fraktion auchso bleibt; denn der Koalitionsvertrag, meine verehrtengrünen Kolleginnen und Kollegen, ist das glatte Gegen-teil von dem, was Sie beschlossen haben. Ich glaubenicht, daß mich meine Partei weiter an der Spitze getra-gen hätte, wenn ich unter Vernachlässigung und Miß-achtung der eigenen Beschlußlage so schnell versuchthätte, ins Außenministerium zu kommen, wie JoschkaFischer das gemacht hat.
Aber bei Ihnen ist das an der Tagesordnung. Ich haltedas im Interesse Deutschlands nicht für schlecht. Abererzählen Sie als Grüne bitte niemandem mehr, daß IhrProgramm fünf Minuten nach seinem Druck in der Bun-desrepublik Deutschland noch irgend etwas gilt. DieZeiten des Respekts sind vorbei.
Der Außenminister hat unsere Unterstützung, wo erin Kontinuität arbeitet. Wir werden aber genau beob-achten, ob das auch für seine Fraktion gilt.Herr Kollege Schäuble, über eines sind wir uns, glau-be ich, klar: Wenn diese rotgrüne Regierung vor schwie-rigen Entscheidungen steht, muß sie zunächst einmal ih-re eigenen Mehrheiten bringen. Wir sind nicht Ersatzre-serve III, 2. Klasse, Abteil 2 a, um Mehrheiten zu be-schaffen, die sie selbst in der Koalition nicht haben. WerDr. Wolfgang Gerhardt
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dieses Land regieren will, muß auch unangenehme Fra-gen entscheiden.
Wir werden diese Bereiche ganz genau beobachten.Frau Präsidentin, ich habe hier keinen Zeithinweismehr.
Wir haben eine of-
fene Runde, Herr Kollege. Sie haben nach unserer
Rechnung noch fünf Minuten.
Sie müssen sie nicht ausnutzen.
Mir hat es gerade
so gut gefallen. Deshalb nutze ich sie auch noch voll
aus.
Ich will jetzt noch auf einige Punkte der Regierungs-
erklärung eingehen und die Sachverhalte bewerten. Die
Opposition muß hart in der Sache darstellen, wo es nötig
ist. Wo es parteiübergreifende Entscheidungen gibt,
sollte man das sagen.
Im Bereich der Innenpolitik ist für uns durchgängig
ein pragmatischer Lösungsansatz zu erkennen. Das hat
uns wiederum gefreut. Die Grünen haben mit diesem
Ansatz ihre Schwierigkeiten. Wir werden sehen, wie
sich das in der praktischen Politik niederschlägt. Es zeigt
jedenfalls, daß die entscheidenden Gesetze – beim Asyl-
recht, bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität
– für die wir so beschimpft worden sind, nicht verändert
werden. Die sind unter Dach und Fach. Wahrscheinlich
freuen Sie sich sogar darüber, daß wir die noch unter
Dach und Fach gebracht haben, weil Sie Schwierigkei-
ten hätten, sie unter Dach und Fach zu bringen. Sie re-
spektieren damit aber, daß unsere Entscheidungen rich-
tig waren. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese
nachträgliche Anerkennung.
Auch wir wissen, daß es in der Drogenpolitik keinen
Königsweg gibt. Wir sind bereit, neu nachzudenken.
Aber auch bei neuen Wegen gelten Wertentscheidungen.
Eine Freigabe von Drogen kommt für uns nicht in Frage.
Aber der Weg, einem Arzt zu ermöglichen, an
Schwerstabhängige Drogen auf dem Weg zur Therapie
abzugeben, um sie nicht in die Kriminalität rutschen zu
lassen und um den Menschen, die schwer krank sind,
wirklich zu helfen, ist mit uns ausdrücklich zu gehen.
Lassen Sie sich auf einen solchen Weg ein! Suchen Sie
dafür parlamentarische Mehrheiten, dann gehen wir die-
sen Weg mit!
Ich schließe einen zweiten Punkt an. Das Staatsan-
gehörigkeitsrecht ist für die F.D.P. nicht nur ein Stück
Papier. Es geht um die Notwendigkeit, den bei uns
schon lange lebenden Ausländern ein faires Angebot der
Integration zu machen. Es darf aber keine Beliebigkeit
geben. Man muß von ihnen auch den Willen zur Inte-
gration erwarten dürfen. Wir werden bereit sein, ein
modernes Staatsangehörigkeitsrecht zu beschließen. Ich
sage Ihnen aber auch: nicht jedes. Wenn Sie Wert auf
parteiübergreifende Abstimmung legen, dann sollten Sie
in der Koalition beraten, ob Sie die jetzige Breite der
doppelten Staatsbürgerschaft nicht zurückführen. Denn
die doppelte Staatsbürgerschaft als Regel ist nicht unsere
Vorstellung. Ich glaube, daß dieser Ansatz keine Ak-
zeptanz in der deutschen Öffentlichkeit finden wird.
Auch der alte Ansatz, das nicht zu reformieren, war
falsch. Man muß sich hier um gesellschaftliche Akzep-
tanz bemühen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir
wollen, daß beim Staatsangehörigkeitsrecht Mitte und
Maß ausschlaggebend sind, die gesellschaftliche Ak-
zeptanz mitbewertet wird. Wenn Sie der Auffassung
sind, es wäre für das Parlament und für Deutschland gut,
daß ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht eine breitere
parlamentarische Zustimmung findet, dann biete ich sie
Ihnen ausdrücklich mit dem Hinweis an, daß dann aber
auch Ihre Seite, die Mehrheitsseite dieses Hauses, eine
Korrektur anbringen muß. Gehen Sie bei dem Modell
„doppelte Staatsbürgerschaft nahezu als Regel“ ein
Stück zurück, verständigen Sie sich mit uns auf das An-
gebot an die Kinder, die hier geboren werden, und wir
werden nicht zögern, einem solchen Gesetzentwurf zu-
zustimmen!
Ich sage dies deshalb, weil Oppositionsarbeit sowohl
Kritik als auch variantenreiches Arbeiten beinhalten
muß.
Herr Bundeskanzler, Sie werden – das ist meine tiefe
Überzeugung – die von Ihnen eingeleitete Politik, die in
dieser ersten Phase maßgeblich von Finanzminister La-
fontaine bestimmt worden ist, in den finanziellen, steu-
erpolitischen und wirtschaftlichen Grunddaten im Laufe
dieser Legislaturperiode korrigieren müssen. Das ist nur
eine Frage der Zeit. Sie werden dem Themendruck und
Adam Riese nicht entkommen. Wir wollen jetzt einmal
sehen, wie lange das dauert. Wir werden Sie dabei kri-
tisch begleiten. Sie werden Ihre Politik verändern müs-
sen. Dann werden wir uns in einer solchen Debatte wie-
der treffen. Das wird dann eine wichtige Debatte für
Deutschland sein. Nur, bedauerlicherweise wird das
Land bis dahin Zeit verloren haben. Es wäre besser, Sie
kehrten jetzt um.
Das Wort hat der
Vorsitzende der PDS-Fraktion, Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Schäuble, Sie haben denDr. Wolfgang Gerhardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 97
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Kanzler dafür kritisiert, daß er sich zu sehr auf demWahlergebnis vom 27. September 1998 ausgeruht habe.Ich finde, in den ersten Monaten ist das noch legitim;aber ich denke auch, es wird die Zeit kommen, da mansich an eigenen Taten messen lassen muß.Herr Bundeskanzler, Sie werden es hier allerdings mitsehr unterschiedlichen Formen von Opposition zu tunhaben: einmal mit der CDU/CSU-Opposition, dann mitder F.D.P.-Opposition und auch mit der PDS-Opposition. Diese haben natürlich unterschiedliche Her-angehensweisen. Die CDU/CSU-Opposition will Sie inder Regierung wieder austauschen, das heißt, ihre Politikwird sich daran ausrichten, die SPD durch dieCDU/CSU zu ersetzen. Also wird sie die Leistungen derfrüheren Regierung sehr würdigen und Ihre entspre-chend herabwürdigen und versuchen, auf diesem Wegezum Ziel zu kommen.Dennoch sage ich Ihnen, Herr Schäuble: Ich findedas, was Sie hier gemacht haben, sehr problematisch.Dies gilt auch für Herrn Gerhardt von der F.D.P. Wennman die Ergebnisse der eigenen Politik nur würdigt, hatman überhaupt keine Chance, zu erklären, weshalb maneigentlich am 27. September 1998 abgewählt worden ist.
Ein ganz kleiner Hang zur Selbstkritik wäre also auchbei diesen beiden Fraktionen angebracht gewesen.Es kommt noch etwas hinzu. Wenn Sie nämlich er-klären, daß Sie in der Sache nichts falsch gemacht hät-ten, daß Sie ein gut bestelltes Haus hinterlassen hätten,dann nähren Sie geradezu das Gerücht, das jetzt auchhäufig durch die Zeitungen geht, daß es nämlich alleinean der falschen Person des Kanzlerkandidaten gelegenhabe. Und dann sind Sie es, die Ihren AltbundeskanzlerDr. Helmut Kohl die ganze Zeit demontieren, und nichtandere. Ich glaube, daß es nicht alleine an ihm gelegenhat. Deshalb wäre mehr Selbstkritik in Ihren Fraktionenangesagt.
Herr Schäuble hat insbesondere die Koalition vonSPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern kritisiert.Dazu hat sich auch der Kollege Struck geäußert. LassenSie mich dazu folgendes sagen. Auch heute haben Siezwei Dinge nicht benannt: Sie haben nicht hinzugefügt,daß die CDU am 27. September 1998 bei den Land-tagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern eine ganzschwere Schlappe erlitten hat. Sie haben auch nicht er-klärt, weshalb das so war und daß die SPD mithin vorder Frage stand, ob sie mit dem eindeutigen Verliererder Wahl und damit gegen den Willen der Menschen inMecklenburg-Vorpommern eine Koalition mit IhrerPartei oder ob sie mit einem anderen Gewinner derWahl, nämlich mit der PDS, eine Koalition eingeht.Im übrigen sage ich Ihnen, Herr Schäuble, ganz deut-lich: Ich finde, daß Sie in dieser Frage äußerst unauf-richtig argumentieren. PDS und CDU haben nämlich indieser Hinsicht eine Gemeinsamkeit. Sie haben erklärt,Sie wollten gerne ehemalige Mitglieder der SED in Ih-ren Reihen aufnehmen. Ich gehe davon aus, daß es,wenn Sie das wollen, gleichberechtigte CDU-Mitgliedersein sollen. Wenn sie gleichberechtigt sein sollen, dannmüssen sie, wenn Sie irgendwo die Regierung bilden,die Chance haben, in eine solche Regierung einzutreten.Das heißt, PDS und CDU wollen in geeigneten Fällen,daß ehemalige SED-Mitglieder in die Regierung eintre-ten: wir nur über die Mitgliedschaft in der PDS, Sie überdie Mitgliedschaft in der CDU, also über sehr viel mehrOpportunismus als wir. Das ist der eigentliche Unter-schied, und zu dem stehen wir auch.
Wenn nun allerdings Herr Struck hier erklärt, dasWahlergebnis der PDS sei nur dadurch zu erklären, daßdie Bundesregierung in den neuen Bundesländern sosehr versagt habe, so möchte ich doch ergänzen, HerrKollege Struck: Die SPD hat in den neuen Bundeslän-dern auch ihren Anteil daran. Das muß man schon derVollständigkeit halber hinzufügen.
Sie, Herr Schäuble, haben, wie ich finde, zu Rechtvon der Regierung und auch von der stärksten Fraktiondes Hauses gefordert, mehr Respekt vor anderen Mei-nungen aufzubringen. Ich darf Sie daran erinnern, wie inden letzten Jahren Ihr Respekt vor anderen Meinungenaussah, insbesondere auch vor anderen Meinungen ausden PDS-Reihen. Wenn das zugleich eine Art Selbstkri-tik gewesen sein soll, dann ist das zu akzeptieren.
Bei der F.D.P.-Opposition habe ich sehr genau beob-achtet, wie Sie die Rede des Bundeskanzlers verfolgthaben und an welchen Stellen Sie geklatscht haben.Wenn ich das richtig beobachtet habe, befindet sich dieF.D.P. auf dem Wege sozusagen von der ehemaligenRegierungspartei hin zu einer Oppositionspartei, die sichspäter anbieten will, die Grünen irgendwann in dieserRegierung zu ersetzen.
Das wird noch eine spannende Entwicklung in dennächsten vier Jahren sein. Länger als vier Jahre haltenSie das auf den Oppositionsbänken nicht aus. Das isteinfach zu ungewohnt.Im übrigen halten Sie, Herr Gerhardt, Ihre Partei fürviel zu intolerant. Auch wenn Sie alle Programmpunktein einer Regierungsverhandlung aufgegeben hätten,hätten die Sie nicht abgewählt. Das schlucken die, glau-ben Sie es mir. Ich sage das nur, weil Sie das bezweifelthaben. Doch, das halten die durch. Das hat zumindestdie Vergangenheit bewiesen.
Im Namen der PDS-Fraktion und der PDS-Opposition möchte ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, fol-gendes sagen: Wir werden Ihre Regierung immer dannunterstützen, wenn sie Verhältnisse demokratischer ge-staltet, immer dann, wenn sie Bürgerrechte erweitert,immer dann, wenn es mehr soziale Gerechtigkeit gebensoll, immer dann, wenn Friedenspolitik gemacht wirdDr. Gregor Gysi
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und wenn Außenpolitik als – das sage ich jetzt einmalso – nichtmilitärische Politik verstanden wird, das heißt,die Außenpolitik nicht als Fortsetzung der Militärpolitikmit anderen Mitteln verstanden wird, und immer dann,wenn es um reale Abrüstung in diesem Land und in an-deren Ländern geht.Wir werden aber – auch das will ich klar sagen –immer dann deutlich Opposition machen, wenn Sie demneoliberalen Zeitgeist nachgeben, wenn Sie letztlichfortsetzen, was die alte Bundesregierung nach unsererAuffassung an verfehlter Außen- und Innenpolitik be-trieben hat.Insofern werden wir tatsächlich eine konstruktiveOpposition sein.Ich habe dennoch mit Interesse festgestellt, daß Sieimmerzu von der Neuen Mitte gesprochen haben. Daswar eine Art Überschrift für Ihre Rede. Darf ich Sie dar-an erinnern, daß im Berliner Parteiprogramm der SPDals Ziel noch immer der demokratische Sozialismusformuliert ist? Ich stelle mit Interesse die Ersetzung die-ses Begriffs durch den der Neuen Mitte fest. Ich emp-finde das in gewisser Hinsicht als einen Rückschritt. Dasdarf ich doch wenigstens noch sagen. Aber es machtnichts, weil wir dadurch alleine die Rolle übernehmen,für den demokratischen Sozialismus streiten zu dürfen.Wir werden das auch tun und uns dieser Aufgabe stel-len.
Aber ich bedaure, daß in Ihrer Regierungserklärungzur Erweiterung der Demokratie kein einziger Vorschlagunterbreitet wird. Sie wissen, daß SPD, Bündnis 90/DieGrünen und PDS hier zum Beispiel im Rahmen der Ver-abschiedung des Maastricht-Vertrages ganz ernsthaftkritisiert haben, daß es keine Volksabstimmung zu die-ser Frage gab. Warum traut sich Ihre Regierung nicht, inder Regierungserklärung zu sagen, daß sie endlich denWeg für die Zulässigkeit von Volksentscheiden und vonVolksabstimmungen in der Bundesrepublik Deutschlandfreimachen will? Das wäre ein wichtiger Schritt fürmehr Demokratie gewesen.
Natürlich haben wir zur Kenntnis genommen, daß inIhrem Koalitionsvertrag eine ganze Reihe von Vor-schlägen enthalten sind – auf einige davon sind Sie auchin Ihrer Regierungserklärung eingegangen –, die zumehr sozialer Gerechtigkeit führen sollen. Wir begrüßendie Aussetzung der Senkung des Rentenniveaus, wobeiich hinzufüge, daß wir uns mehr gefreut hätten, wennSie statt „Aussetzung“ „endgültige Aufhebung“ gesagthätten. Dann würde über den Rentnerinnen und Rent-nern nicht das Damoklesschwert hängen; vielmehr wäreklar: Eine Absenkung des Rentenniveaus wird es nichtgeben. Aber immerhin: Wir werden auch eine Ausset-zung unterstützen.Natürlich unterstützen wir, daß Sie die Zuzahlung fürMedikamente für Kranke reduzieren und zurückfahrenwollen. Wir hätten uns gewünscht, daß wir uns von die-sem Instrument ganz und gar verabschiedet hätten. Na-türlich unterstützen wir auch, daß Sie das Kranken-hausnotopfer aussetzen wollen, obwohl ich mich auchhier mehr freuen würde, wenn Sie gesagt hätten: Eskommt gar nicht mehr in Frage; es wird es nicht mehrgeben. Auch hier ist das Wort „aussetzen“ nach unsererVorstellung etwas unglücklich gewählt. Es ist natürlichbesser, als es beizubehalten. Das ist völlig klar. Deshalbwerden wir auch bei der Aussetzung zustimmen. Das istdoch logisch.
Ich sage aber auch: Sie haben vieles, was in der Ko-alitionsvereinbarung steht, hier nicht erwähnt – dasmacht doch zumindest nachdenklich –, zum Beispiel dieFrage des Kündigungsschutzes, also die Rücknahmeder Verschlechterungen beim Kündigungsschutz in be-stimmten Bereichen. Morgen sollte ein Gesetzentwurfdazu vorliegen. Der ist noch nicht da. Darf ich fragen,ob auch er nur ausgesetzt ist und ob er noch nächsteWoche kommt? Da Sie es nicht erwähnt haben, werdenwir sehr genau kontrollieren, ob er kommt.
Das gilt ebenso für das Schlechtwettergeld. Das giltin besonderem Maße auch für die von der alten Regie-rung zu verantwortende Erhöhung des Renteneintritts-alters für Frauen und Schwerbehinderte. Abgesehen vonden Vorstellungen, eventuell schon für 60jährige dieRente zu ermöglichen, wäre das aber der erste erforder-liche Schritt gewesen, um wieder rückgängig zu ma-chen, daß Frauen und Schwerbehinderte erst später inRente gehen können.
Sie haben die 620-DM-Jobs angesprochen. – Sie ha-ben übrigens die 520-DM-Jobs nicht erwähnt; ich mußdas einmal sagen; das sind im Osten nur 520 Mark. Ich
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie diesen Hunderteran Demütigung endlich beseitigten.
Wissen Sie: Bei fast nichts an Verdienst zu einer Ver-käuferin im Osten zu sagen, sie sei 100 DM wenigerwert als eine Verkäuferin im Westen, ist einfach nichtmehr hinnehmbar. Das ist nicht einmal mehr eine mate-rielle Frage, das ist eine kulturelle Frage geworden.Deshalb hoffe ich, daß das so schnell wie möglich korri-giert wird.
Sie haben gesagt, Sie wollen solche Beschäftigungs-verhältnisse versicherungspflichtig machen. Das findetunsere Zustimmung. Über die Grenze von 300 DM willich jetzt nicht streiten, obwohl man auch dazu einigessagen kann, weil diese Grenze nämlich dazu verleitenkönnte, diese Jobs noch kleiner zu machen; dann würdenes noch mehr. Das wäre natürlich der falsche Ansatz.Sie wollen die Steuerpauschale aufheben. Einverstan-den, damit könnten wir uns anfreunden – unter der Be-dingung, daß dann der Arbeitgeber diesen kleinen So-Dr. Gregor Gysi
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 99
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zialversicherungsbeitrag alleine bezahlt und daß die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht auch bei einerso geringen Entlohnung noch zur Kasse gebeten werden.
Kritisieren muß ich allerdings eines ganz deutlich:Ich habe in dieser Regierungserklärung gar nichts mehrvom Schlechtwettergeld gehört. Ich hoffe, daß wir dasSchlechtwettergeld wieder einführen. Und ich hoffe, Siegehen noch einen Schritt weiter; denn was auf den Bau-stellen in Deutschland passiert, ist die Organisierungvon Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wir müssenendlich nicht nur einen Mindestlohn gewährleisten, son-dern gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort –ganz egal, aus welchem Land die Firma kommt, undganz egal, aus welchem Land die Beschäftigten kom-men.
Das müssen wir einfach durchsetzen. Alles andere hätteerhebliche negative Folgen.In der Regierungserklärung und in der Koalitionsver-einbarung haben Sie eine Gruppe vergessen. Sie könnenSie aber nicht ernsthaft vergessen haben; das heißt, Siehaben für sie nichts geregelt. Ich meine die Arbeitslosenund die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeemp-fänger. Ich sage ganz deutlich: Die sind in den letztenJahren durch die Gesetzgebung drangsaliert worden. Ichhatte gehofft, daß Sie das zurücknehmen. Davon stehtaber kein Wort in der Regierungserklärung. Es ist nichtan eine Besserstellung dieser Menschen gedacht, unddas muß diese Regierung unbedingt korrigieren, wennsie denn sozialdemokratisch und grün sein will.
Ich füge hinzu, daß mich sehr gewundert hat, was IhrBundesfinanzminister in der letzten Zeit zur Pflegever-sicherung und Arbeitslosenversicherung gesagt hat. Dassteht zwar nicht in der Koalitionsvereinbarung, und Siehaben es auch nicht in der Regierungserklärung erwähnt.Aber er ist – da werden Sie mir zustimmen – kein ganzunwichtiger Mann in Ihrer Regierung. Man kann diePflegeversicherung abschaffen und das steuerfinanziertmachen. Das haben wir damals übrigens auch vorge-schlagen. Dann muß man sich aber an dem Bedarf aus-richten. Wenn man sich an der Bedürftigkeit ausrichtet,ist das ein ziemlicher sozialer Skandal.
Stellen Sie sich doch einmal vor: Ein Arbeitnehmer er-leidet einen schweren Unfall und ist danach wirklichpflegebedürftig. Jetzt hat er noch ein paar Ersparnisse,ein Auto und ein paar andere Gegenstände. Bei einerBedürftigkeitsprüfung heißt das, daß er das erst allesverkaufen muß, bis er bettelarm ist, und erst dann hilftihm der Staat, denn er hätte ja keinen Versicherungs-schutz mehr. Dazu kann ich nur sagen: Das ist wirklichextrem unsozial und ginge zumindest mit der PDS aufgar keinen Fall.
Herr Lafontaine geht noch einen Schritt weiter undsagt, man könnte eigentlich auch die Arbeitslosenversi-cherung abschaffen, weil ja nicht alle arbeitslos werden.Er will an dieser Stelle das Solidaritätsprinzip aufheben.Er sagt, diejenigen, die Geld haben, könnten ihre Ar-beitslosigkeit selber finanzieren, und erst, wenn sie rich-tig arm seien und die Bedürftigkeit einsetzte, greife derStaat unterstützend zu. Ich sage Ihnen ganz offen: WennHerr Schäuble oder der Altkanzler Kohl vor einem Jahrden Vorschlag gemacht hätte, die Arbeitslosenversiche-rung abzuschaffen und nur noch ganz Bedürftigen imFalle von Arbeitslosigkeit zu helfen, dann wäre wirklichdie ganze Sozialdemokratie in Deutschland aufgestan-den und hätte ihn der restlosen Demontage des Sozial-staates bezichtigt.
Aber Ihr Herr Lafontaine darf das! Das finde ich wirk-lich nicht in Ordnung; das würde hinter die Zeiten Bis-marcks zurückfallen. Und das wird dieser Bundestag– so hoffe ich – nicht genehmigen. Ich hoffe auf genü-gend Widerstand aus Ihrer eigenen Fraktion und auchaus der grünen Fraktion.Den längsten Teil Ihrer Rede haben Sie der Arbeits-marktpolitik gewidmet. Das ist auch richtig. Sie habenimmer gesagt, Sie wollen sich daran messen lassen, wiees Ihnen gelingt, Arbeitslosigkeit abzubauen. Sie habenein Bündnis für Arbeit vorgeschlagen. Das ist in Ord-nung – wenn es denn zustande kommt. Die Ergebnissewerden das Entscheidende sein. Ich finde aber, Sie ha-ben die Elemente, die dieses Bündnis ausmachen sollen,in ungenügender Weise genannt, aber das macht nichts.Ich muß jedoch auf eines hinweisen, Herr Bundeskanz-ler: Ihre Referenz ist diesbezüglich nicht absolut diegünstigste. Denn in Niedersachsen haben Sie keinBündnis für Arbeit zustande gebracht. Das muß man andieser Stelle ehrlicherweise einmal hervorheben. Ichhoffe, dieses Mal gelingt es Ihnen.Sie haben sehr viel von Bildung gesprochen. Ich mußaber sagen, daß in Niedersachen am meisten Lehrerstel-len abgebaut worden sind, daß am meisten Stundenzah-len abgebaut worden sind und daß Sie mit die höchstenKlassenfrequenzen in der Bundesrepublik Deutschlandhaben. Auch das ist keine Referenz für eine künftigegute Bildungspolitik. Sie haben jetzt an Hochschulen inNiedersachsen 100 DM Semestergebühren eingeführt,was hinsichtlich des Zugangs zu Bildung nicht geradefür Chancengleichheit spricht. Auch das will ich deut-lich kritisieren.Sie haben gesagt, daß Sie Ausbildungsplätze für jun-ge Leute schaffen wollen. Sie haben das sehr engagiertvorgetragen. Ich glaube Ihnen, daß das ein wirklich tie-fer Wunsch von Ihnen ist. Darin unterstützen wir Sieselbstverständlich.Aber Sie haben zugleich die Umlagefinanzierungabgelehnt und als Zwang denunziert. Die Umlagefinan-zierung ist kein Zwang; sie stellt vielmehr Gerechtigkeither. Die Situation heute ist doch so, daß die großenKonzerne immer weniger ausbilden und der privateBäckermeister schon drei, vier oder fünf Lehrlinge hatDr. Gregor Gysi
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100 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998
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und dabei so gut wie überhaupt nicht unterstützt wird.Die Idee der Umlagefinanzierung besagt doch nur, daßein Unternehmen, das ausbilden könnte, aber nicht aus-bildet, nachher aber die am besten ausgebildeten Leuteeinstellt, an den Kosten der Ausbildung, die andere vor-nehmen, beteiligt werden soll. Das ist eine Frage der Ge-rechtigkeit und nicht des Zwangs. Das ist das Entschei-dende an der Idee der Umlagefinanzierung.
Mit Appellen hat es auch der Altbundeskanzler ver-sucht. Es war nicht so, daß sich Herr Dr. Kohl über je-den Jugendlichen gefreut hat, der keine Lehrstelle be-kam. Auch er hätte sich mehr gefreut, wenn alle einebekommen hätten. Aber genau deswegen, weil er in Ka-pitalverwertungsinteressen nicht eingreifen wollte,wollte er keine Umlagefinanzierung. Ich finde, eine Re-gierung aus SPD und Grünen müßte den Mut haben,diese Umlagefinanzierung nun endlich in die Realitätumzusetzen.
– Das hat doch mit Sozialismus nichts zu tun. Wenn fürSie Sozialismus darin besteht, daß alle Jugendlichenausgebildet werden, dann bin ich einverstanden. In die-sem Sinne wollen wir Sozialismus.
Auch hier setzen Sie nur auf Rahmenbedingungen.Wenn wir denn die Arbeitslosigkeit wirklich abbauenwollen, dann brauchen wir einen öffentlich gefördertenBeschäftigungssektor, weil über 4 Millionen Arbeitsloseweder in der Privatwirtschaft noch im öffentlichenDienst unterkommen werden. Um hier wirklich voran-zukommen und millionenfach Arbeitslosigkeit in unse-rer Gesellschaft abbauen zu können, brauchen wir etwas,was die US-Amerikaner Non-profit-Sektor nennen.Lassen Sie mich auch noch etwas zur ökologischenSteuerreform sagen, mit der sich Herr Gerhardt ausseiner Sicht sehr kritisch auseinandergesetzt hat. Ichmöchte mich mit diesem Thema aus meiner Sicht kri-tisch auseinandersetzen. Sie haben gesagt: Diese Steuer-reform hat ein Ziel, nämlich die Lohnnebenkosten zusenken. Das sei das Entscheidende. Es gehe nicht umEinnahmen; vielmehr gehe es darum, Lohnnebenkostenzu senken. Herr Bundeskanzler, ich dachte natürlichimmer: Eine ökologische Steuerreform hat zunächsteinmal ein ökologisches Ziel. Deshalb nennt sie sich jaso.Nun muß ich Sie auf ein Problem hinweisen. Ich hättemir das so vorgestellt: Wenn man eine ökologischeSteuerreform durchführt, dann nimmt man die Einnah-men, um den ökologischen Umbau dadurch zu finanzie-ren. Auf diesem Weg kommt man dann weiter. Wenndann wirklich der Energieverbrauch zurückgeht, so daßdie Einnahmen aus dieser Steuer geringer werden, dannist man aber beim ökologischen Umbau, zum Beispielbeim Angebot im öffentlichen Nah- und Fernverkehr– preisgünstig, sicher, bequem etc. –, schon deutlichweiter und kann deshalb verkraften, daß die Einnahmenzurückgehen.Erster Fehler: Wenn Sie aber so vorgehen, daß Sie dieEinnahmen durch Ökosteuern mit einer Senkung derLohnnebenkosten koppeln, dann begeben Sie sich ineine Falle. Sie wollen mit den Einnahmen aus der öko-logischen Steuerreform den Beitrag zur gesetzlichenRentenversicherung um, wenn ich das richtig verstehe,0,8 Prozent senken. Was machen Sie denn nun, wenn Ih-re ökologische Steuerreform wirkt, das heißt, wenn dieMenschen plötzlich wesentlich weniger Auto fahren undwesentlich weniger Energie verbrauchen? Wenn das ge-schieht, dann fehlen Ihnen die Einnahmen, um im Jahrdanach die Senkung von 0,8 Prozent halten zu können.Das heißt, entweder müssen Sie dann Ihre Steuern erhö-hen oder Sie müssen mit den Lohnnebenkosten wiederheraufgehen. Das bedeutet, Sie begeben sich in eineewige Spirale. Deshalb ist der Zusammenhang zwischenökologischer Steuerreform und Lohnnebenkosten zwei-fellos ein falscher. Man hätte die Einnahmen für denökologischen Umbau verwenden müssen, um dortschrittweise voranzukommen.
Zweiter Fehler: Wenn es um die soziale Abfederunggeht, dann bietet sich nunmehr folgendes Bild: DieGroßindustrie wird von dieser Steuer vollständig befreit,das Handwerk muß einen Teil dieser Steuer bezahlen.Aber die Sozialhilfeempfängerinnen und die Sozialhil-feempfänger – die fahren zwar kein Auto, aber auch diemüssen heizen, auch die brauchen eine warme Stube;diese Steuer trifft auch sie, denn auch sie brauchenStrom –, die Arbeitslosen und auch die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer, bekommen keine Entlastung.Das ist aus unserer Sicht unsozial.
Das Handwerk in den neuen Bundesländern verträgtnicht einmal eine Teilsteuer. Die Handwerker werdendaran zugrunde gehen. Sie hätten die kleinen und mittel-ständischen Unternehmen ausnehmen müssen und nichtdie Großindustrie. Das wäre der richtige Ansatz gewe-sen, um eine solche Steuer umzusetzen.
Lassen Sie mich folgendes noch sagen: Steuern, mit-tels derer wir das Verhalten der Leute ändern wollen, al-so erzieherische, pädagogische Steuern, haben ihre Pro-bleme. Wir haben eine Alkoholsteuer und eine Tabak-steuer, und jetzt bekommen wir eine Energiesteuer. IhreZiele sind, daß die Leute weniger saufen, weniger rau-chen und weniger Energie verbrauchen. Das Problemdabei ist aber, daß der Staat pleite ist, wenn alle so ver-fahren. Das heißt, damit die Einnahmen stimmen, mußdie Regierung heimlich immer hoffen, daß mehr gesof-fen, mehr geraucht und mehr Energie verbraucht wird.Auf dieses Problem möchte ich einfach einmal hinwei-sen. Deshalb wäre es günstiger, man würde hier andereWege gehen.Wir sagen ja zu einer ökologischen Steuerreform,wenn die Einnahmen für den ökologischen Umbau, abernicht für Lohnnebenkosten verwendet werden und wennsie sozial abgefedert ist. Beides stimmt gegenwärtignicht, und deshalb können wir dem nicht zustimmen.Dr. Gregor Gysi
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 101
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Sie haben nur sehr allgemein über Ostdeutschland ge-sprochen. Sie haben Ostdeutschland zur Chefsache er-klärt. Das ist übrigens nicht neu; das hat Helmut Kohlauch immer schon gemacht. Sie sehen ja, was dabei her-ausgekommen ist. Daher hätte ich mir etwas Konkretesgewünscht. Aber ich habe nichts von einer Investiti-onspauschale für Kommunen gehört, die ganz entschei-dend wäre, um regionale Wirtschaftskreisläufe auchökologisch in Gang zu setzen.
Ich habe nichts davon gehört, Herr Bundeskanzler,daß Sie wenigstens für vier Jahre das Ziel formulierthätten, gleicher Lohn und gleiches Gehalt für gleicheArbeit in Ost und West. Darauf warten aber die Men-schen in den neuen Bundesländern;
denn wir haben dort ja auch Preise von 100 Prozent.Angesichts dessen kann man nicht auf Dauer mit 70 bis80 Prozent der Einnahmen leben. Das gilt für Soziallei-stungen ebenso wie für Löhne und Gehälter.Sie haben auch nicht gesagt, ob Sie das „Rentenstraf-recht“ nun endgültig beseitigen wollen, die Lücken inder Rentenüberleitung nun endlich schließen wollen undauch das Versorgungsunrecht bei der Rente überwindenwollen. Ich habe leider auch keinen Satz dazu gehört, obwir nun endlich damit Schluß machen, daß die Leute umihr Eigentum an Grundstücken, Datschen etc. Angst ha-ben müssen und immer noch zu Tausenden klagen müs-sen, damit ihre Berufsabschlüsse anerkannt werden. Daswären Gesten gewesen, auf die in den neuen Bundeslän-dern dringend gewartet wird.
Die Außenpolitik – dazu kann ich mich auf Grund derfortgeschrittenen Zeit nur noch ganz kurz äußern – sollja, wie ich gelesen habe, von Ihrem Außenminister inKontinuität fortgesetzt werden. Hier frage ich michnatürlich schon, warum sich der Spitzenpolitiker derGrünen gerade das Amt aussucht, bei dem er sagen muß,er wolle alles so wie die vorherige Regierung machen.Wie kann man denn so irgendeinen Wechsel dokumen-tieren – wenn ich das einmal fragen darf? Ein Wechselwird nicht sichtbar. Ich habe das ja in der letzten Son-dersitzung des 13. Bundestages mitbekommen: Auch dieSPD, auch die Grünen haben einem völkerrechtswidri-gen Militärakt zugestimmt, und das ist nach dem Völ-kerrecht selbst eine Aggression. Ich hoffe, daß diesePolitik sich nicht fortsetzen wird, sondern daß wir dieAußenpolitik wieder entmilitarisieren.Bei der Verteidigungspolitik hat Ihr neuer Verteidi-gungsminister vor Übernahme des Amtes die Bedingunggestellt, daß der Wehretat nicht gekürzt wird. Gehtmeine Phantasie völlig mit mir durch, wenn ich mir vor-stelle, ein sozialdemokratischer Verteidigungsministersagte vor Amtsantritt, er mache das nur unter der Bedin-gung, daß er wirklich abrüsten dürfe, nicht aber unterder Bedingung, daß am Wehretat nichts gekürzt werde?Das wäre zumindest meine naive Vorstellung von derAmtsübernahme in einem solchen Falle gewesen.
Wir begrüßen natürlich die Vorschläge zur Reformdes Staatsbürgerschaftsrechts. Sie gehen uns nichtweit genug; aber wir werden sie unterstützen. Alle An-griffe, die diesbezüglich von der bisherigen Regierungs-koalition gekommen sind, sind untauglich; denn sie hatzu verantworten, daß wir heute in ungeahntem MaßeRassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesell-schaft haben. Deshalb ist es das legitime Recht der neu-en Regierung, nach anderen Ansätzen zu suchen, um dasendlich substantiell zu überwinden und bei der Integrati-on der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgerweiterzukommen.
Aber mir fehlt ein Satz zu den Flüchtlingen. Soll sichdenn hier nichts ändern? Wollen Sie wirklich zum Bei-spiel das demütigende Verfahren auf den Flughäfen bei-behalten? Wir haben das hier doch zigmal kritisiert.Hätte so etwas nicht in diese Regierungserklärung hin-eingehört? Das hätte ich eigentlich erwartet. Es kostetenicht einmal Geld, dieses, wie ich meine, unwürdige undrechtsstaatswidrige Verfahren abzuschaffen.
Zum Asylbewerberleistungsgesetz will ich erst garnichts sagen; denn auch da muß man logischerweisesehr vieles ändern.Vier Gruppen sind vernachlässigt worden: die Er-werbslosen, die Flüchtlinge, die kleinen und mittelstän-dischen Unternehmerinnen und Unternehmer und dieOstdeutschen. Um diese vier Gruppen – aber nicht nurum diese – werden wir uns als Opposition kümmern.Sie haben gesagt, Sie wollen eine Republik der Neu-en Mitte. Herr Bundeskanzler, eine Gesellschaft, in deres eine Mitte gibt, noch dazu eine neue, von der ichnicht genau weiß, wie sie sich von der alten unterschei-det – aber nehmen wir das einmal an; ich unterstelle esals wahr –, hat gleichwohl ein Oben und ein Unten. Esgibt in keiner Gesellschaft nur eine Mitte. Es gibt immerauch ein Oben und ein Unten. Wer nicht den Mut hat,oben etwas zu verändern, hat auch nicht die Kraft, untenetwas zu verändern.Das wird bei Ihren Vorschlägen zur Einkommensteu-er ganz deutlich: Natürlich muß das Existenzminimumerhöht werden, natürlich soll der Eingangssteuersatzgesenkt werden, aber wenn Sie den Spitzensteuersatzsenken, dann belohnen Sie die Besserverdienendenzwei- und dreimal; denn auch wir als Besserverdienendeprofitieren von der Erhöhung des Existenzminimumsund von der Senkung des Eingangssteuersatzes genausowie die Leute, die schlechter verdienen, aber uns nocheinmal mit der Senkung des Spitzensteuersatzes zu be-günstigen, dafür gibt es eigentlich keinen Grund.Der Hauptmangel ist, daß Sie nicht den Mut haben,wirklich an die Reichen in dieser Gesellschaft heranzu-gehen.
Deshalb ist es so schwer, mehr soziale Gerechtigkeit fürschlecht Verdienende und für Arme in dieser Gesell-schaft zu gestalten. Wo ist der Antrag zur Wiederein-Dr. Gregor Gysi
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führung der Vermögensteuer? Diese Frage haben Siean eine Kommission delegiert, als ob wir nicht genauwüßten, worum es ginge. Wir haben deshalb einen dies-bezüglichen Antrag schon in dieser Woche eingebracht,ebenso auch den Antrag zur Einführung einer Luxus-steuer, weil wir das für dringend erforderlich halten.Soziale Gerechtigkeit erfordert nämlich Gerechtigkeitbei den Einnahmen ebenso wie bei den Ausgaben. Des-halb sage ich Ihnen: Mitte ist ja ganz schön und gut,aber – wie gesagt – es gibt auch ein Oben und ein Unten.Wir haben zwei Oppositionsfraktionen, die sich für dasOben zuständig fühlen, und eine, die sich für das Untenzuständig fühlt. Insofern könnte man sich ganz gut er-gänzen. Machen Sie deshalb nicht nur Politik für dieMitte, denken Sie auch an die anderen in der Gesell-schaft, die Ihrer Hilfe vielleicht viel dringender bedür-fen. In uns werden Sie einen streitbaren Partner finden,der, wenn es angebracht ist, zur Unterstützung, aberauch zu deutlicher Opposition und Kritik bereit ist.Wir sind zwar die kleinste Oppositionsfraktion, undich gebe zu, daß ich nach mehreren Kriterien auch derkleinste Oppositionsführer bin, aber halten Sie uns nichtfür die schwächste Opposition. Sie werden uns diesbe-züglich noch erleben.Danke schön.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir hatten bisher in bezug auf die Rede-
zeit eine offene Debatte. Wir kehren jetzt zurück zu
einer Debatte mit Zeitvorgaben; auch die Redneruhr
wird wieder laufen. Ich bitte die Redner, sich ein wenig
an diese Vorgaben zu halten.
Das Wort hat Herr Michael Glos.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Rainer Barzel hat
1969 in der Aussprache zur Regierungserklärung von
SPD-Bundeskanzler Willy Brandt gesagt: Herr Bundes-
kanzler,
Sie treten Ihr Amt an bei Vollbeschäftigung, stabi-
lem Geld und wohlgeordneten Finanzen.
1982, nach 13 Jahren SPD-Kanzlerschaft, lag die
deutsche Wirtschaft am Boden, die öffentlichen Finan-
zen waren ruiniert, hohe Arbeitslosigkeit, hohe Inflation,
hohe Zinsen und ein defizitärer Außenhandel waren eine
schwere Hypothek für die neue unionsgeführte Bundes-
regierung.
Deswegen mußte Alfred Dregger bei der Aussprache
zur Regierungserklärung 1982 zu Recht feststellen:
Noch nie hat eine Bundesregierung ihre Aufgabe
unter so schwierigen Bedingungen übernommen
wie die Regierung Kohl . . .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Noch nie
hat sich eine Bundesregierung in ein so gut gemachtes
Bett legen können
wie die rotgrüne Bundesregierung unter Lafontaine und
Trittin und mit Ihnen als Darsteller.
Der Tatsache, daß weder Lafontaine noch Trittin hier
sind, entnehme ich, daß offensichtlich weitere wichtige
Koalitionsgespräche geführt werden.
CSU, CDU und F.D.P. haben nach Helmut Schmidt
in schwieriger Zeit Wirtschaft und Finanzen wieder auf
Kurs gebracht. Wir haben die Herausforderungen der
deutschen Einheit gemeistert, wir haben die europäische
Einigung kraftvoll vorangebracht, und wir haben
Deutschland für das nächste Jahrhundert fit gemacht.
Heute, Ende 1998, übergeben wir unser Land wohl-
bestellt:
Die deutsche Wirtschaft ist im ersten Halbjahr dieses
Jahres um 3 Prozent gewachsen. Dies ist das stärkste
Wirtschaftswachstum seit dem Vereinigungsboom.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Wieczorek?
Ja.
Bitte sehr, Herr
Wieczorek.
Herr Kollege
Glos, würden Sie dem Haus mitteilen, wie hoch die Ar-
beitslosigkeit war, die Sie 1983 geerbt haben, und wie
hoch diejenige ist, die Sie heute hinterlassen?
Lieber Herr KollegeWieczorek, ich weiß natürlich, daß wir damals eineniedrigere Arbeitslosigkeit hatten. Es gab damals aberauch keine deutsche Wiedervereinigung. Vor allen Din-gen – ich komme noch zu den Zahlen, ich bin dankbarfür die Frage – hatten wir einen rasanten Anstieg derArbeitslosigkeit. Herr Wieczorek, Sie waren in der Zeitvon Helmut Schmidt dabei und wissen, daß die Ar-beitslosigkeit ständig angestiegen ist. Wir haben jetztGott sei Dank den umgekehrten Trend:
Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, und wir sind auf demrichtigen Weg. Dieser Weg wird anerkannt. Die jüngstenZahlen beweisen das: Es gibt 400 000 Arbeitslose weni-ger als im letzten Jahr. Im letzten Regierungsjahr vonDr. Gregor Gysi
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Helmut Schmidt ist die Zahl der Arbeitslosen um600 000 angestiegen. Das sind die richtigen Zahlen.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Repnik?
Aber bitte.
Bitte sehr, Herr
Repnik.
Herr Kollege
Glos, können Sie mir bestätigen, daß in der Regierungs-
zeit der sozialliberalen Koalition die Arbeitslosigkeit
von ungefähr 160 000 auf 1,6 Millionen angestiegen ist,
sich also verzehnfacht hat, und daß in der Regierungs-
zeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl 3 Millionen neue
Arbeitsplätze geschaffen wurden?
Lieber Kollege Repnik,ich bin sehr dankbar, daß Sie diese Tatsache in Erinne-rung gerufen haben. Wir haben auch auf anderen Ge-bieten einen gewaltigen Unterschied zwischen dem En-de der Regierungszeiten von Helmut Schmidt und Hel-mut Kohl festzustellen: Wir haben heute Preisstabilität.In den Zeiten der Regierungen Brandt und Schmidt hat-ten wir Inflationsraten zwischen 5 und 7 Prozent.Ich bedanke mich bei Theo Waigel,
der mit seiner Finanzpolitik die gewaltigen Herausforde-rungen der deutschen Wiedervereinigung erfolgreichbewältigt hat.
Zuletzt sind die Bundesausgaben drei Jahre in Folge ge-sunken.
Heute sind die Zinsen – Herr Kollege Schlauch, trotzIhres Geschreis können Sie das nicht leugnen – inDeutschland auf einem historisch niedrigen Niveau. Füreine zehnjährige Hypothek sind nur zirka 5 Prozent zuzahlen. Unter den SPD-geführten Bundesregierungenhatten wir Rekordzinsen. Baugeld hat 1982 11 Prozentgekostet. Herr Kollege Wieczorek, auch daran solltenSie erinnern.Unsere sozialen Sicherungssysteme sind heute zu-kunftsfähig und um die soziale Pflegeversicherung er-gänzt. Die Politik von CDU/CSU und F.D.P. hatDeutschland zu einem verläßlichen Partner in einer dau-erhaften Friedensordnung in Europa gemacht, und dasalles gegen den erbitterten Widerstand von Herrn La-fontaine, Herrn Fischer und Herrn Trittin.Ich habe unlängst, Herr Fischer, in einer oft verkauf-ten und damit oft gekauften deutschen Tageszeitung ge-lesen, daß Sie in Washington eine Art Wettlauf mit denJournalisten gemacht haben und daß Sie denen dank Ih-rer Fitneß meilenweit davongelaufen sind. Es kanndurchaus sein, daß Sie den Journalisten heute davonlau-fen, aber Ihrer Vergangenheit auf diesem Gebiet könnenSie nicht davonlaufen.
Es ist doch legitim, daran zu erinnern, warum wirheute diese Friedensordnung in Europa und warum wirdie deutsche Wiedervereinigung haben. Wir haben sie,weil wir allezeit fest zu unseren westlichen Bündnis-partnern gestanden sind, weil wir zur NATO gestandensind, weil wir die Bündnisverpflichtungen erfüllt habenund weil wir letztendlich dieser Verläßlichkeit die Zu-stimmung unserer Freunde und Partner zur Wiederver-einigung verdanken.Der Frieden ist sicherer geworden. Das Streitkräfte-und Waffenpotential in Europa ist gottlob drastisch re-duziert. Heute stehen keine sowjetischen Soldaten mehrauf deutschem Boden.Auch deswegen waren 16 Jahre Kanzlerschaft Hel-mut Kohl ein Geschenk für Deutschland.
Ich bedanke mich bei ihm für die CSU ehrlichen Her-zens. Das ist nicht der scheinheilige Dank, den wir hieraus taktischen Gründen oft hören mußten.
Ich habe das alles nur deswegen noch einmal in Erin-nerung gerufen, weil sich die neue Regierung in späte-stens vier Jahren an der Bilanz messen lassen muß, diesie als Anfangsbilanz vorgefunden hat. Deswegen lassenSie doch das törichte Gerede – Wolfgang Schäuble hates schon einmal gesagt – von vermeintlichen Milliar-denlöchern! Damit gestehen Sie nur ein, daß Rotgrünjetzt nicht bezahlen kann, was man den Bürgerinnen undBürgern im Wahlkampf versprochen hat.Die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen in ihremHerbstgutachten mit Mehreinnahmen gegenüber derSteuerschätzung vom Frühjahr, mit einer günstigerenEntwicklung am Arbeitsmarkt und vor allen Dingen mitdeutlichen Fortschritten bei der Reduzierung der öffent-lichen Defizitquote. Die in der letzten Woche veröffent-lichten Arbeitslosenzahlen – wir hatten dank HerrnWieczorek vorhin schon einmal eine Diskussion darüber– bestätigen dies in eindrucksvoller Weise.Es ist die einmalige historische Leistung von TheoWaigel, daß das finanzpolitische Schiff in den 90er Jah-Michael Glos
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ren unseres Jahrhunderts trotz weltweiter Umbrüchestets Kurs gehalten hat. Theo Waigel hat dafür gesorgt,daß Deutschland und Europa von den Turbulenzen anden internationalen Finanzmärkten und den wirtschaftli-chen Krisen in Rußland und in Asien weitgehend ver-schont geblieben sind. Heute zahlt sich aus, daß wir mitunseren Reformen die Rahmenbedingungen für Arbeitin Deutschland verbessert haben, daß wir unnachgiebigfür eine stabile europäische Währung gekämpft haben,daß die Europäische Zentralbank unabhängig und vor-rangig auf das Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtetist.Herr Bundeskanzler, heute müssen Sie zugeben, wiesehr Sie als Kanzlerkandidat mit Ihrem opportunisti-schem Geunke vom Euro als sogenannter kränkelnderFrühgeburt danebengelegen haben.
Ich hoffe für unser Land, Herr Bundeskanzler, daß Siekünftig weniger Populismus und dafür mehr Sachver-stand an den Tag legen werden, wenn es um diese wich-tigen Fragen geht.
Ich bin auch der Meinung, Herr Bundeskanzler, daßIhre Regierung insbesondere auf dem währungspoliti-schen Gebiet noch sehr großen Lernbedarf hat, wie dasjüngste Trommelfeuer des Lafontaineschen Küchenka-binetts gegen die Unabhängigkeit der Deutschen Bun-desbank zeigt. Oskar Lafontaine übt öffentlich Druckauf die Deutsche Bundesbank aus, die Zinsen zu senken.Staatssekretär Noé will die Zentralbank einer Kontrolledurch die Politik unterwerfen, wie er sich ausgedrückthat.
Die rotgrüne Bundesregierung hat damit den verhee-renden Eindruck erweckt, sie wolle die Deutsche Bun-desbank bzw. die Europäische Zentralbank zum Spiel-ball politischer Interessen machen. Damit hat sie nachnur wenigen Tagen im Amt leichtfertig währungspoliti-sches Porzellan zerschlagen und Vertrauen verspielt. Ichzitiere den Fraktionsvorsitzenden der zweitgrößten nie-derländischen Regierungspartei, Herrn Dijkstal. Er siehtin Lafontaines Kurs eine Gefahr für die Stabilität desEuro.
Ich möchte noch einmal sagen: Die Verhältnissescheinen sich umgedreht zu haben. Früher hat man inEuropa die stringente Stabilitätspolitik der Deutschen alsgroßes Vorbild gesehen. Heute muß man Europa undden Euro offensichtlich vor den Deutschen schützen. Soschnell kann sich manches verändern.Die Zinsen in Deutschland sind auch ohne den öf-fentlichen Druck der Bundesregierung – oder geradeweil es keinen öffentlichen Druck der Bundesregierunggegeben hat, weil es keine Bevormundung gegeben hat –auf einem historischen Tief. Zu Recht hat deshalb derZentralbankrat in der letzten Woche Herrn Lafontaineohne Zinssenkung wieder nach Hause geschickt.Die letzten Wochen haben überdeutlich gemacht, werin der neuen Bundesregierung der Koch und wer derKellner ist. Kellner ist Herr Schröder, Koch ist Herr La-fontaine, und Küchenchefin ist offensichtlich ChristelMüller.
– Das mag vielleicht sein, wenn es sich um Mittagessen,Dessert, Frühstück und was weiß ich alles handelt. Aberwenn es um die Währungspolitik unseres Landes geht,muß man schon vorsichtiger sein. Frau Kollegin, ich be-danke mich hiermit für den Zwischenruf.
Wirtschaftsforschungsinstitute, Wirtschaftsverbände,der Mittelstand und sogar Vertreter aus dem Gewerk-schaftslager werten die Koalitionsvereinbarungen vonSPD und Grünen, soweit sie bekannt sind, als eine Kata-strophe für den deutschen Arbeitsmarkt. Auch Herr JostStollmann, den ich heute vermisse, hat sich in gleicherWeise geäußert. Als ich das letzte Mal im Bundestag re-den konnte – das war vor 4 Wochen im Wasserwerk –,saß er zumindest noch auf der Zuschauertribüne. Heuteist er nicht einmal mehr als Zuschauer gekommen. Aucher spürt natürlich, daß die Neue Mitte ganz schön betro-gen worden ist und daß er dabei unfreiwillig geholfenhat.Ich zitiere das „Handelsblatt“ vom 13. Oktober:Was Rot-Grün verabredet hat . . . das atmet den altenGeist der Steuerklempner: kleinere Veränderungenbei den Steuersätzen, einige Korrekturen bei denSteuervergünstigungen; Entlastungen mal hier,Belastungen mal dort. Allein schon die Streckungdes Vorhabens über vier Jahre nimmt der Reformjede Dynamik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Noch im Wahlkampf haben Sie die Neue Mitte heftigumworben. Diese Neue Mitte, die wir auch für Investi-tionen in unserem Land brauchen, wird jetzt abkassiertund fühlt sich getäuscht.Die Gegenfinanzierung dieser Flickschusterei kon-zentriert sich überwiegend auf den Unternehmensbe-reich. Hieran werden möglicherweise auch die Nachbes-serungen, die wir noch nicht kennen, nichts ändern. Ichbefürchte: Investitionen unterbleiben, Standorte derUnternehmen werden ins Ausland verlagert. Ich nenneein paar Beispiele: Opel hat bereits angedroht, auf ge-plante Investitionen in Deutschland zu verzichten. DieNew Yorker Investment-Bank Goldman Sachs warnteindringlich vor Anlagen in Deutschland. Die „Wirt-schaftswoche“ berichtet von konkreten Fluchtgedankender mittelständischen Wirtschaft.Nun ein Wort zur geplanten Ökosteuer. Bereits heuteliegen die Energiekosten der deutschen Wirtschaft umMichael Glos
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30 Prozent höher als in den USA. Trotzdem wollen SieBürger und Unternehmen unter dem Deckmantel derÖkologie mit einer dreistufigen Steuererhöhung beiBenzin, Heizöl, Erdgas und Strom belasten. Ich zitiereden Chef der IG Chemie, der unverdächtig ist, ein Mit-glied der CSU zu sein. Herr Schmoldt sagt über die neueBundesregierung, „sie würde durch zusätzliche Steuernund Steuererhöhungen die Qualität des StandortesDeutschland nicht verbessern, sondern Arbeitsplätze ge-fährden . . . und Kaufkraft mindern.“Deutlich negative Folgen für Arbeitsplätze hat auchder von Rotgrün forcierte Ausstieg aus der Kernener-gie.
Weil er die Fakten kennt, bitte ich den neuen Wirt-schaftsminister Müller, der gegenwärtig im Plenumdurch seinen Staatssekretär vertreten wird, die Tatsachezu bedenken, daß wir heute in Europa 216 Kernkraft-werke haben. Ausgerechnet die 19 sichersten sollen ab-geschaltet werden. Der Strom, der in Deutschland ver-braucht wird, käme nach wie vor aus Kernkraftwerken –nur nicht mehr aus sicheren Kernkraftwerken. Er kämeaus der Tschechischen Republik, der Ukraine, der Slo-wakei oder Rußland. All diese Länder stehen für Strom-lieferungen nach Deutschland bereit.
Was besonders schlimm ist: Deutschland würde auchseinen weltweiten Spitzenplatz in der Sicherheitstech-nologie aufgeben. Damit würden allein in der Kernkraft-industrie 40 000 Arbeitsplätze in Deutschland verloren-gehen. Sehr qualifizierte und gutbezahlte Arbeitnehmerwürden davon betroffen sein.Es ist illusorisch zu glauben, daß sich ein Drittel derStromerzeugung in Deutschland allein durch Energie-sparen oder durch regenerative Energien ersetzen ließe.Wenn wir als Ersatz zusätzliche Kohlekraftwerke bauen,auch moderne Kohlekraftwerke mit hohem Wirkungs-grad, dann bedeutet dies trotzdem eine erhebliche Erhö-hung der CO2-Belastung. Das halte ich umweltpolitischfür fatal.
Herr Bundeskanzler, wo bleibt hier eigentlich IhrVorbehalt für Arbeitsplätze? Ich habe in Ihrer Regie-rungserklärung nachgelesen – Sie haben das auch schoneinmal anderweitig gesagt; ich zitiere Sie –: Ich weiß,daß es schwer ist, eine Technologie durchzusetzen, diewenig Akzeptanz findet bzw. deren Akzeptanz so ge-fährdet ist wie die der Kernkraftindustrie. Aber manmuß sich natürlich fragen: Warum ist diese Akzeptanzso gefährdet, und wer hat letztlich dazu beigetragen, dieMenschen auf diesem Gebiet zu verunsichern? Hier mußman ein Stück weit Ursache und Wirkung mitbedenken.Ich habe den Eindruck: Wer marktwirtschaftlichdenkt, dem bietet die Regierung Schröder wenig Platz.Das zeigen die massenhaften Frühpensionierungen, diejetzt in den Ministerien anstehen.
Gesichert sind dagegen Arbeitsplätze für Ideologen.Wenn das die versprochene soziale Gerechtigkeit inDeutschland ist, dann ist es hierum schlecht bestellt.
– Herr Kollege Stiegler, Sie brauchen keine Angst zuhaben, daß ich zu weinen anfange, obwohl mir an die-sem Tag natürlich nicht sehr wohl zumute ist. Ich willdas gerne zugestehen.Vorhin hat Herr Struck gesagt, wir hätten unsere Nie-derlage nicht verkraftet. Angesichts der Reden aber, dieich heute gehört habe – das betrifft auch die Rede vonHerrn Struck –, kann ich nur sagen: Die SPD hat ihrenSieg nicht verkraftet.
Was sagen Sie eigentlich zum Beispiel den Polizeibe-amten oder den Studenten,
die von Ihrer Ökosteuererhöhung betroffen sind, von ge-ringeren Sozialabgaben aber überhaupt nichts haben?Was sagen Sie den Rentnern, denen Sie mehr Rente ver-sprochen haben, die Sie jetzt aber mit höheren Strom-und Heizungskosten zur Kasse bitten? Was sagen Sievor allen Dingen den vielen Pendlern im ländlichenRaum, die tagtäglich auf das Auto angewiesen sind?
Was sagen Sie den Müttern auf dem Land, die in dieStadt zum Einkaufen, zum Kindergarten oder zum Arztfahren?
– Da Sie einen Oberpfälzer Wahlkreis vertreten, solltenSie ganz besonders gut zuhören. Sie sind ja angeblichder Interessenvertreter Bayerns mit einem Wächteramtinnerhalb der Koalition. Ich kann dazu nur sagen: GuteNacht, Bayern! Bayern hat in der Bundesregierung vonCDU/CSU und F.D.P. vier Minister und fünf Parlamen-tarische Staatssekretäre gestellt. Wir haben wichtigsteFunktionen wahrgenommen. Sie setzen sich hier als so-genannter Landesgruppenvertreter der SPD aus Bayernhin und krakeelen dazwischen, um von Ihrer Niederlage,die Sie im Rahmen der Regierungsbildung in bezug aufBayern erlitten haben, abzulenken.
Herr Bundeskanzler, was sagen Sie den kinderreichenFamilien? Diese haben Sie – wie bei Hänsel und Gretel– massiv mit dem Zuckerbrot Kindergeld gelockt, undjetzt – gefangen – kommt die Ökopeitsche. Der Famili-enbund hat vorgerechnet: Bereits bei einem Dreiperso-nenhaushalt mit einem Nettoeinkommen von 70 000Michael Glos
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DM im Jahr sind die Belastungen höher als die Entla-stungen.Was sagen Sie der bäuerlichen Landwirtschaft? Dasist ein Kapitel, das ganz besonders auch den süddeut-schen Raum und Bayern angeht. Haben die Familien aufden Höfen bei Rotgrün noch eine Zukunft?
Sie haben einen raschen Abschluß der Agenda 2000 an-gekündigt. Damit wird der Eindruck erweckt, die rot-grün geführte Bundesregierung unterstütze die Vor-schläge der EU-Kommission. Ich würde das für fatalhalten. Ich kann dem neuen LandwirtschaftsministerFunk unsere Unterstützung versprechen, falls er gegendiese ungerechten Vorschläge ankämpft.
– Vielen Dank. Ich werde mich daran gewöhnen müs-sen. Wenn er hiergewesen wäre, wäre es mir vielleichteingefallen.Herr Bundeskanzler, was haben Sie mit den Sparern,den Häuslebauern und den Inhabern von Lebensversi-cherungen vor? Die Politik Ihres Finanzministers undseiner Frau läuft offen auf mehr Inflation hinaus. EinProzent mehr Inflation – dabei wird es nicht bleiben –bedeutet einen Vermögensverlust der Sparer und derje-nigen, die Lebensversicherungen haben, in Höhe von 50Milliarden DM im Jahr.Diese Politik gegen die Sparer ist unsozial. Sie gehtzu Lasten der Schwächeren, und sie benachteiligt diekleinen Leute.
Wir wollen keine südamerikanischen Verhältnisse inDeutschland und Europa. Die Inflationswellen dort ha-ben immer nur den Besitzern von großen Sachwertenund Grundstücksbesitzern geholfen und Arbeitnehmerund Mittelstand verelenden lassen.Auch bezüglich des Themas Föderalismus ist in derrotgrünen Koalitionsvereinbarung von Gerechtigkeitkeine Spur. Das Koordinatensystem zwischen Bund undLändern soll mehr in Richtung Zentralismus und weni-ger in Richtung Föderalismus, in Richtung mehr Staatund weniger Wettbewerb ausgerichtet werden.
– Stellen Sie Ihre Frage bitte laut! Dann kann ich sie be-antworten.
– Wir kämpfen nicht das letzte Gefecht. Wir stehen amAnfang eines Kampfes, an dessen Ende die Leute erken-nen werden, daß Ihr Weg falsch ist.
Wir wollen größere, nicht kleinere Gestaltungsspiel-räume für die Bundesländer. Die Früchte größerer An-strengungen einer Landesregierung müssen den Men-schen in dem jeweiligen Bundesland zugute kommen.Dadurch wird der Druck auf Nachahmung erzeugt.
Welche gewaltige Erblast der Herr MinisterpräsidentLafontaine dem Herrn Finanzminister Lafontaine hin-terläßt, weiß er selbst am besten.
Leider muß er als Finanzminister nicht persönlich dieZeche zahlen. Das werden die deutschen Steuerzahlertun müssen.Wir fordern, daß es in diesem Bereich schneller geht.Sie wollen eine Enquete-Kommission zur Neuordnungdes Finanzausgleiches einsetzen. Daß dies im Ergebnis,wie angekündigt, auf das Jahr 2005 verschoben wird,zeigt deutlich: Sie rechnen damit, daß dann die Unionschon lange wieder regiert und dieses Problem löst.
Statt die Länderverantwortung zu stärken, will dieRegierung Schröder offensichtlich entgegengesetzteWege gehen. Ein konkretes Beispiel: Wo bisher vor-bildliche Krankenhäuser stehen, sollen die Beitragszah-ler vernachlässigte Krankenhäuser in den SPD-Ländernmitfinanzieren. Das fördert nicht Effizienz und Spar-samkeit, sondern bestraft Länder mit eigenen Anstren-gungen.Wir brauchen nicht mehr Gleichmacherei. Wir brau-chen mehr Wettbewerb. Ich sage es noch einmal: Wett-bewerb schafft Höchstleistungen. Das gilt auch für denWettbewerb zwischen Bundesländern.
Lassen Sie mich noch ein anderes Kapitel anspre-chen. Vorhin hat sich die Kollegin Müller damit gebrü-stet, daß die Grünen in den Koalitionsverhandlungeneine Privilegierung des Zusammenlebens vertreten ha-ben, die der Privilegierung der Familie gleichkommt.Wer das will, stellt die Wertentscheidung des Grundge-setzes für den Vorrang der Familie offen in Frage.
Die vorgesehene drastische Einschränkung des Ehe-gattensplittings ist nicht nur eine Frage des Geldes. Hiergeht es letztendlich an die Wurzeln von Ehe und Fami-lie. Die Einführung eines Rechtsinstituts der eingetrage-nen Partnerschaft mit Rechten und Pflichten läuft aufeine offene Entwertung der Familie hinaus. Die rotgrüneGesellschaftspolitik ist deswegen eine Politik gegen dieFamilie, gegen Kinder. Deswegen wird die CSU einesolche Politik kategorisch ablehnen.
Michael Glos
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Die deutsche Staatsbürgerschaft, Herr Fischer, istbislang ein Zeichen der Identifikation mit unserem Staatund damit auch mit unserer Werteordnung. Davon willman sich offensichtlich verabschieden. Staatsangehö-rigkeit soll künftig nur noch eine Frage von Wartezeitoder Geburtsort sein. Das führt nicht zu einer besserenIntegration. Ich befürchte, daß wird eher zu einer Spal-tung unserer Gesellschaft führen.Wir sind der Meinung: Staatsangehörigkeit darf mannicht verschenken. Staatsangehörigkeit muß man sichauch ein Stück weit innerlich erwerben. Es ist nicht da-mit getan, jedem Ausländer einen deutschen Paß in dieTasche zu schieben. Wer Deutscher werden will, mußsich zuvor integrieren.
Das bedeutet die Beherrschung der deutschen Sprachesowie den Willen, sich in die Gemeinschaft unseresdeutschen Volkes einzufügen und auch ein Stück weitunsere Lebensformen zu übernehmen. Die Staatsbürger-schaft kann immer erst am Ende eines erfolgreichen In-tegrationsprozesses stehen und nicht an dessen Anfang.
Wir wollen, daß Deutschland ein ausländerfreundli-ches Land bleibt. Das erreicht man nicht durch die gene-relle Gewährung eines Privilegs wie der doppeltenStaatsbürgerschaft. Damit droht man das tolerante Zu-sammenleben in Gefahr zu bringen. Es entsteht eine ge-fährliche Sogwirkung auch für verstärkte Zuwanderun-gen aus anderen Kulturkreisen, und damit sind neueProbleme nicht nur für den Arbeitsmarkt verbunden.Geteilte Loyalitäten – das ist ja die Crux bei der dop-pelten Staatsbürgerschaft – führen nicht zu bessererIntegration. Deshalb warnen wir vor diesem Weg, unddeswegen werden wir alles tun, um diesen falschen Wegzu verhindern – genau wie wir dagegen ankämpfen, daßman in Deutschland lebenden nichtdeutschen Staats-angehörigen uneingeschränkt das kommunale Wahlrechtverleihen will. Staatsangehörigkeit und Wahlrecht müs-sen nach unserer Auffassung eine Einheit bleiben – ge-nauso wie Rechte und Pflichten auch künftig zusam-mengehören.
Über die Erfolge bei der Verbrechensbekämpfungist heute schon gesprochen worden. Wir sind der Mei-nung, daß wir hier bei den bewährten Wegen bleibensollten. Es darf nicht zu einer sogenannten bürokratie-armen Bestrafung von Alltagskriminalität kommen, wiedas Ganze verharmlosend genannt wird. Wer Laden-diebstahl mit Falschparken gleichsetzt, der macht Kri-minalität kalkulierbar, und dagegen kämpfen wir an.
Wir kämpfen auch gegen die in der Koalitionsverein-barung enthaltene Absicht, die Abgabe von Heroin anSüchtige in Zukunft zu ermöglichen. Man will damitRechtssicherheit für Drogenhilfestellen erreichen. Einesolche Politik verharmlost mehr und löst keine Proble-me.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die „Süd-deutsche Zeitung“ belegt das rotgrüne Regierungspro-gramm mit dem Ausdruck „Ausflug nach Utopia“. DieseRegierung will gesellschaftliche Veränderungen inDeutschland – von der Drogenpolitik bis zur Familien-politik, von der Sicherheitspolitik bis zur Steuerpolitik,von der Ausländerpolitik bis zu einer Schwächung desFöderalismus. Das, was Sie angekündigt haben, ist keineneue Politik. Das ist höchstens der Marsch in eine ande-re Republik. Diesem Marsch werden CDU und CSU ih-ren entschiedenen Widerstand entgegensetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat der
Bundesaußenminister Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! GestattenSie mir, mit einer allgemeinpolitischen Bemerkung zubeginnen. Mich erinnert vieles, was ich von Ihrer Seitegehört habe, namentlich dieser hervorragende Beitragvom Kollegen Glos,
aber auch das, was ich heute vom Kollegen Schäublegehört habe, sehr stark an das Jahr 1983. Da kann ichIhnen nur sagen: Das wird lange dauern, wenn Sie Op-positionspolitik so weitermachen, wenn Sie meinen, derWahlkampf sei noch nicht zu Ende.
Wenn Sie das meinen, erwidere ich: Das können Sie ru-hig machen. Uns soll es recht sein. Ich kann Ihnen nursagen: Das wird lange dauern.Der Wahlkampf ist zu Ende, und Sie müssen sichKlarheit darüber verschaffen, warum Sie nach nur14 Tagen, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schrödergewählt wurde und in denen diese Regierung im Amtist, meinen, diese Welt müßte schon verändert sein, wasSie aber gleichzeitig beklagen. Sie sollten vor allen Din-gen eines nicht tun: die Augen vor den Ursachen desgroßen Vertrauensverlustes, den Sie erlitten haben undder die Ursache Ihrer Niederlage ist, verschließen.
Ich kann nur sagen: Machen Sie weiter so!Ich möchte zur deutschen Außenpolitik, zur Außen-politik der Bundesregierung sprechen. Dabei ist es ganzbesonders wichtig, festzustellen, daß angesichts der Da-ten, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben – gesternhaben wir den Jahrestag der Reichspogromnacht began-gen; es ist zugleich auch der Jahrestag des Falls derMauer; das Ende des ersten Weltkriegs jährt sich jetztzum 80. Mal; mit diesem Datum verbinden sich dasFurchtbare, das Schreckliche, auch das Schöne, dasMichael Glos
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Großartige in unserer Geschichte –, weiterhin gilt: Auchwenn es jetzt durch den Ablauf Zeit und den Regie-rungswechsel einen Wechsel hin zu einer jüngeren Ge-neration gegeben hat, die nicht mehr unmittelbar mit derNazi-Barbarei und dem zweiten Weltkrieg zu tun hatte,wird unser Land, Deutschland, auch in Zukunft immermit anderen Augen gesehen als andere Länder. Das liegtan unserer Geschichte.Es liegt an der Lage, an der Geschichte, an dem Po-tential unseres Landes, weshalb es so wichtig ist, daßman zu Beginn – und dann auch in der praktischen Poli-tik – einer neuen Regierung die Kontinuität derGrundlagen und die Berechenbarkeit deutscher Außen-politik betont.
Ich möchte dies ganz besonders tun, weil uns die Machtder kollektiven Erinnerung in Europa in dem Moment,in dem wir das Flackern eines Zweifels aufkommen lie-ßen, sofort einholen würde. Wir konnten im Zusammen-hang mit dem Raubgold gemeinsam erleben, wie dieseErinnerungen auch in Ländern zurückgekommen sind, indenen man geglaubt hatte, daß dies nicht möglich sei.Kontinuität in den Grundlagen schließt ja nicht aus,daß die konkreten Akzentuierungen anders als bishersind. Die Berechenbarkeit der Grundlagen deutscherAußenpolitik aber ist ein sehr, sehr hohes Gut, das wirvon der Bonner Republik in die Berliner Republik nichtnur mitnehmen sollten, sondern mitnehmen müssen. Esist insofern sehr wichtig, nochmals daran zu erinnern,daß wir an einer Politik der Selbstbeschränkung festhal-ten müssen.Europa ist für uns die entscheidende Frage. Auf die-sem Feld geht es nicht darum, was wir anders machen;hier wird es darum gehen, weitere Bauabschnitte diesesHauses Europa zu vollenden. Ich behaupte, das ist diewichtigste Herausforderung, der wir uns im Widerstreitder Parteien gemeinsam zu stellen haben. Dabei hat es,Kollege Glos, überhaupt nichts mit einem „vergiftetenLob“ zu tun, wenn wir, bei allen parteipolitischen Unter-schieden, bei aller Kritik, die es geben mußte, sagen –damit vergeben wir uns überhaupt nichts –: Dort, woHelmut Kohl in der Europapolitik aufgehört hat, beimeuropäischen Integrationsprozeß, wird die neue Bundes-regierung weitermachen müssen. Sie wird die Aufgabenlösen müssen, die offengeblieben sind.
– Es sind große Schuhe; deswegen passen sie Ihnen ga-rantiert nicht, Herr Haussmann.
Dort, wo die alte Regierung in wesentlichen Punktendes Integrationswerkes nicht zu Ende gekommen ist,werden wir, weil es in zentralem Interesse unseres Lan-des liegt, bei allen Unterschieden in den Akzenten, beialler Kritik fortfahren müssen. Ich vergebe mir über-haupt nichts, wenn ich Ihnen, Herr Altbundeskanzler,und Ihnen, als ehemaliger Bundesaußenminister, HerrKinkel, für das Geleistete im Interesse unseres Landesdanke. Mit einem vergifteten Lob hat das überhauptnichts zu tun.
Vertrauenskapital zu erwerben ist die Voraussetzungdafür, daß wir die notwendigen Spielräume für die Neu-gestaltung bekommen. Für uns ist Selbstbeschränkunggeboten; Europa, das transatlantische Bündnis, die festeIntegration in den Westen und das auf Grund unsererGeschichte besondere Verhältnis zu Israel sind die Fel-der, in denen wir Kontinuität beweisen wollen.
Die praktischen Probleme, vor denen wir heute ste-hen, ergeben sich aus dem europäischen Einigungspro-zeß. In der Vergangenheit, als die Rollen noch andersverteilt waren, gab es in der Frage der Europapolitik einhohes Maß an Übereinstimmung. Ich würde mich freu-en, wenn es dieses hohe Maß an Übereinstimmung auchin Zukunft, in neuer Konstellation, geben könnte.Wir waren uns einig, daß Vertiefung und Erweite-rung gleichermaßen wichtig sind. Vertiefung bedeutetedie Entscheidung für die Wirtschafts- und Währungs-union, für den Euro, der zum 1. Januar des nächsten Jah-res praktisch wird. Der nächste Schritt, den wir gehenmüssen, wird die Erweiterung sein. So sehr ich für Rea-lismus plädiere, weil wir jetzt in eine Phase eintreten, inder Visionen konkretisiert werden müssen, will ich klar-stellen: Realismus bedeutet für mich nicht eine Abkehrvon der Vision, sondern eine bauliche Umsetzung dieserVision.Wir haben gestern auf dem Außenministertreffen inBrüssel mit der konkreten Erweiterung begonnen. Esgeht jetzt nicht mehr um abstrakte Zahlen, es geht jetztnicht mehr um eine Vision; es geht jetzt um hartes Brot,das geschnitten und gekaut werden muß. Es geht um diewirtschaftliche Integration und die Frage der Übernahmegeltenden Rechtes. Es geht um die Frage der Anpassungvon Strukturen. All diese Dinge müssen jetzt realistischgesehen werden.
Meine Damen und Herren, genauso bestimmt sageich aber – da sind wir uns völlig einig –: Die Vision, diedahintersteckt, gilt, nämlich daß die Grenze – der Bun-deskanzler hat es heute morgen in seiner Regierungser-klärung betont –, daß der Eiserne Vorhang, daß die Ost-grenze Deutschlands nicht die Grenze der EU bleibendarf.
Das vereinigte Europa ist ein gesamteuropäisches undnicht nur ein westeuropäisches Projekt. Deswegen blei-ben wir diesem Einigungswerk verpflichtet.
Bundesminister Joseph Fischer
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Die deutsch-französische Freundschaft hat in letzterZeit, ich will nicht sagen, Schaden genommen; aber an-gesichts bestimmter Töne und auch angesichts einer be-stimmten Politik im Zusammenhang mit dem Euro –Stabilitätspakt I, Stabilitätspakt II, „Der Euro sprichtdeutsch“ – wurden selbst die Dinge, die hier gemeinsamgetragen wurden, mit einer gewissen nationalen Arro-ganz rübergebracht, und zwar so, daß sie in Paris nurnegativ aufgenommen werden konnten.
Das deutsch-französische Verhältnis ist aus meinerSicht für die Fortentwicklung Europas ohne Alternative.Das Verhältnis von Deutschland und Frankreich hat ge-rade in seiner Widersprüchlichkeit Großes für Europagebracht. Wenn wir an der Vollendung des europäi-schen Integrationsprozesses festhalten wollen, müssenwir auf die Erneuerung des deutsch-französischen Ver-hältnisses setzen. Ich sage nochmals: Es ist ohne Alter-native.
Aber genauso freue ich mich natürlich, wenn ichheute mitbekomme, daß die Regierung Blair in Groß-britannien entscheidende Schritte hin zur europäischenIntegration macht. Ich kann dies nur nachdrücklich be-grüßen, warne aber davor, in Kategorien des 19. Jahr-hunderts zurückzufallen: mit Achsen, mit Dreiecken undähnlichem mehr.
Die deutsch-französische Freundschaft, dieser zentraleMotor des europäischen Integrationsprozesses, schließtniemanden aus und richtet sich gegen niemanden. WennGroßbritannien eine verstärkte europäische Rolle sucht,dann sollten wir es erfreut aufnehmen und daraus nichteine Abgrenzung gegen irgend jemanden machen.
Je mehr sich am europäischen Einigungswerk aktiv be-teiligen, je stärker dieser Motor der europäischen Eini-gung wird, desto besser. In diesem Sinne freue ich mich,freuen wir uns sehr, daß es zu verbesserten deutsch-britischen Beziehungen, zu einer verstärkten BeteiligungGroßbritanniens am europäischen Einigungsprozeßkommt.
– Wissen Sie, Herr Kollege Schäuble, ich verstehe ja dieNot eines Oppositionspolitikers, dem Bundeskanzlervorzuwerfen, jedesmal, wenn es um den Inhalt gehe,würde er kneifen, während Sie selbst hier im Grundegenommen in Ihren Zetteln nur versucht haben, kleineoppositionelle Münze daraus zu schlagen, und dann zufragen, wo der Unterschied sei, als wir zu Beginn dieserDebatte versucht haben, die Kontinuitäten festzulegen,weil das im Ausland sehr aufmerksam verfolgt wird.– In der Europapolitik müssen und wollen wir das voll-enden, was begonnen wurde. Ich würde mich freuen,wenn auch bei der Umsetzung der Agenda 2000 – ichhabe sehr sorgfältig zugehört, was Herr Glos hier imGegensatz zu Ihnen angeblich im Interesse der bayeri-schen Bauern verkündet hat – diese oppositionelle Lei-denschaft in der gemeinsamen inhaltlichen Kontinuitätbei Ihnen erkennbar würde.
Das werden Sie schon in den nächsten Monaten zeigenmüssen.Für uns wird es ganz entscheidend sein, daß die Frageder Finanzstruktur des kommenden größeren Europasjetzt gelöst wird. Es wird unendlich schwierig. Die er-sten Gespräche in Brüssel haben gezeigt, daß alle Län-der ihre jeweiligen nationalen Interessen vertreten.
– Das Neue ist, daß Sie in der Opposition sind. Das istfür mich sehr wichtig.
Der entscheidende Punkt ist, daß wir unter deutscherPräsidentschaft den Agenda-2000-Prozeß werden ab-schließen müssen. Das werden wir nur hinbekommen,wenn wir auf der Grundlage dessen, was vorliegt, einenentsprechenden Einigungsprozeß schaffen, der bedeutenwird, daß alle Länder bereit sind, sich zu bewegen, undnicht nur ihre nationalen Egoismen vertreten.
Ohne einen erfolgreichen Abschluß des Agendaprozes-ses werden wir, so fürchte ich, bei der Erweiterung sehrgroße Probleme bekommen.Es geht nicht um abstrakte Beitrittsdaten. Es gehtauch nicht darum, daß Herr Haussmann, der hier ver-zweifelt versucht, einen oppositionellen Unterschiedhinzubekommen, in „dpa“ meldet: Bundeskanzler Ger-hard Schröder und Außenminister Joschka Fischer fehl-ten in der Europapolitik Visionen. Zögerer und Zauderergebe es in den EU-Partnerstaaten schon genug. – Wiearrogant, Herr Haussmann, bei den anderen von Zöge-rern und Zauderern zu sprechen!Weiter sagt er, es wäre ein Fehler, daß wir – im Ge-gensatz zu dem Jahre 2000, das Bundeskanzler HelmutKohl genannt hatte – kein konkretes Datum bei der EU-Osterweiterung nennen würden. Nun, Herr Haussmann,das ist ein schöner Eiertanz;
denn er sagte hier folgendes: Die Äußerung des früherenKanzlers Helmut Kohl, der Beitritt Polens sei im Jahre2000 möglich, sei vielleicht überstürzt gewesen. Jetztkommt Herr Haussmann mit der Zahl 2002. Das ist ge-nauso unseriös wie die Zahl 2000.Jetzt beginnt der Verhandlungsprozeß. Wir wollen,daß er so schnell wie möglich erfolgreich ist. Aber ichBundesminister Joseph Fischer
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110 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998
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halte es für eine fahrlässige Politik, Zahlen, die nicht zuhalten sind und vor allen Dingen nicht begründet sind,jetzt in den Raum zu stellen. Lassen Sie uns bei denVerhandlungen erfolgreich zu einem Abschluß kommen.Dabei geht es nicht um das Jahr 2000 oder 2002. Wennwir das Jahr 2002 erreichen, dann bin ich mehr als froh.
Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhangansprechen möchte, ist das Verhältnis zur Türkei. Ichsehe einen großen Fehler darin, den Türken die Tür vorder Nase so zugeschlagen zu haben, wie es die Vorgän-ger-Bundesregierung getan hat.
Ich habe es nie verstanden, warum Bundeskanzler Kohldas getan hat. Ich konnte diesen Fehler nur von derinnenpolitischen Situation des Vorwahlkampfes her be-greifen. Es war ein großer Fehler.Die Europäische Union ist unserer Meinung nachkeine Religionsgemeinschaft. Sie gründet sich auf Werteund Interessen.
Die Türkei muß, wenn sie zu Europa gehören will, dieMöglichkeit haben, zu Europa zu gehören, und muß denWeg des Beitritts haben. Aber genauso klar muß natür-lich sein: Wir sind eine Werte- und Interessengemein-schaft. Das heißt, es bedarf dann auch für alle Beitritts-kandidaten der Umsetzung dieser Werte, bevor beige-treten werden kann.Daher wird es im wesentlichen von der Türkei, vonder inneren Entwicklung, von der Lösung der innerenMenschenrechts-, Demokratie- und Minderheitenfragen,der ökonomischen, aber auch der äußeren Grenzfragenabhängen, daß es zu diesem Beitritt kommt. Aber wirwerden diese Tür nicht verschließen. Im Gegenteil: Wirhalten diese Tür offen. Hier gibt es einen klaren Unter-schied.
Wir stehen vor einer schwierigen Situation. Wir wer-den bei Gelegenheit in eine detaillierte Debatte über dieAgenda 2000 einsteigen, auch im Ausschuß. Ich möchtedas in der Kürze der Zeit nicht vertiefen.
– Das ist Opposition vom Feinsten, aber bitte, ihr habtviele, viele Jahre Zeit, das zu lernen.
Lassen Sie mich in aller gebotenen Kürze – das wer-den wir ebenfalls noch zu diskutieren haben – auf dieaktuelle Situation im Kosovo eingehen. Herr KollegeGysi, ich bin nun weiß Gott nicht derjenige gewesen, dereine Bindung an das UN-Sicherheitsratsmandat aufge-ben will.
Aber wir können anderrseits die Fakten nicht ignorieren.Ich weiß von Ihnen, daß Sie nicht nur Jurist sind, son-dern die Dinge durchaus auch politisch sehen können.Ich spreche von der Vereinbarung von Holbrooke undMilosevic. Man kann das eine nicht gut finden und dasandere kritisieren. Das wird in der Politik so nicht funk-tionieren.
Die zivile Implementierung wird der entscheidendePunkt. Die nichtmilitärische Luftraumüberwachung istdafür die Voraussetzung. Wir – der Kollege Scharpingund ich ganz persönlich, die Bundesregierung und auchder Kollege Schily – schicken jeweils 80 zivile Monito-ren dort hinunter. Das sind Menschen, die das auf derOSZE-Grundlage überwachen. Kollege Schily schickt40 mit polizeilichen Aufgaben Betraute. Dies sind Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter, die unbewaffnet in einerKrisenregion eingesetzt werden. Für den Fall, daß es fürzivile, unbewaffnete Mitarbeiter zu einer lebensbedroh-lichen Situation kommt, muß man dann aber auch dieMöglichkeit schaffen, und wir müssen ihnen dieLetztversicherung geben, alles Menschenmögliche zutun, um sie herauszuholen und sie nicht zu Geiseln ma-chen zu lassen. Hierbei geht es nicht um die militärischeDurchsetzung, nicht um die militärische Begleitung desImplementierungsprozesses. Dies wäre ein völliger Irr-tum. Vielmehr geht es um lebensbedrohliche Situationenfür die zivilen, unbewaffneten Mitarbeiter und um dieSorge für diese Menschen.
Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit, sozusageneine polizeiliche Letztversicherung. Wenn man sicheinmal die Aufgabenstruktur anschaut, so hat das nursehr bedingt etwas mit Militär zu tun.Ich kann sagen: Ich bin heilfroh, daß der Holbrooke-Milosevic-Vertrag – die Berichte zeigen es – funktio-niert hat. Herr Gysi, ich bitte auch Sie, die richtigen Ar-gumente, die ich ja gar nicht so abwegig finde, was dieRechtsstandpunkte betrifft, in die Realität einzupassenund einmal darüber nachzudenken. Eine Alternative zumHolbrooke-Milosevic-Vertrag gab es nicht, außer Kriegund Leid und Tod. Er hat Gott sei Dank funktioniert. Ichweiß nicht, wie wir diskutieren würden, wenn er nichtfunktioniert hätte, und es wäre dort zum Einsatz ge-kommen. Aber entscheidend ist doch, daß wir uns jetztin einer klassischen Peace-keeping-Situation befinden,mit der OSZE, die dort erstmals in einer historischneuen Dimension zum Einsatz kommt. Das finde ich gutund richtig. Voraussetzung dafür war allerdings dieserVertrag, und Voraussetzung ist der begrenzte Einsatzmilitärischer Mittel, unter anderem nichtbewaffneterBundesminister Joseph Fischer
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militärischer Luftraumüberwachung. Aber das alles wirdnur funktionieren können, wenn die zivile Implementie-rung eines Autonomie-Statuts gelingt, wenn es freieWahlen gibt, wenn es gelingt, eine entsprechend demo-kratisch legitimierte Autorität auf kosovo-albanischerSeite zu schaffen.Das sind meines Erachtens die Dinge, über die Sienoch einmal ernsthaft nachdenken sollten. So wichtigRechtsstandpunkte sind – Kriegsverhütung und Kriegs-verhinderung in Europa können nicht alleine unter demGesichtspunkt von Rechtsstandpunkten gesehen werden.Darüber, finde ich, sollten wir noch einmal ernsthaftnachdenken.
Meine Damen und Herren, das Verhältnis zu Ruß-land bleibt von ganz entscheidender Bedeutung. Aller-dings werden wir es auf eine breitere Grundlage stellenmüssen. Das ist völlig klar. Die Frage, die man sich auchstellen muß – ich meine das gar nicht kritisch gegenüberder alten Regierung –, die Frage, die sich der Westeninsgesamt stellen muß, lautet, ob man nicht einen Fehlerdergestalt gemacht hat, daß man meinte, man könne dortMarktwirtschaft einführen, wo die kulturellen Voraus-setzungen dafür nur rudimentär oder gar nicht vorhan-den sind. Die Frage lautet also, ob man nicht zu schnellzu viel wollte. – Ich meine gar nicht die Vorgänger-Bundesregierung. Ich beziehe das sozusagen eher aufeinen bedeutenden Bündnispartner. Dort meinte manauch, marktwirtschaftliche Theorien sehr schnell im-plementieren zu können, obwohl es kaum einen kultu-rellen Background gegeben hat, obwohl die gesell-schaftliche Grundlage nicht vorhanden war.Ich sehe zur Stabilisierung der Verhältnisse in Ruß-land, auch zur ökonomischen Stabilisierung gemeinsammit unseren Partnern, keine Alternative; denn wir kön-nen uns eine Versorgungskrise in Rußland nicht erlau-ben, und wir können uns auch eine entscheidende politi-sche Destabilisierung Rußlands nicht erlauben. Deshalbwissen wir uns einem internationalen Stabilisierungs-prozeß verpflichtet, der auf Wirtschaftsreform und vorallen Dingen auf Demokratie setzt. Auch das ist einwichtiger Punkt, dem wir uns in der Zukunft verpflichtetwissen, meine Damen und Herren.
Die Fortsetzung der transatlantischen Partnerschaftwerden wir bei Gelegenheit diskutieren können. MeineZeit ist sehr begrenzt. Lassen Sie mich deswegen nochzwei andere wichtige Punkte ansprechen.
– Es ist ein wichtiger Punkt, Herr Haussmann. Wir redenbei Gelegenheit darüber.Der entscheidende Punkt sind die Menschenrechte.Da, finde ich, müssen wir einen neuen Schwerpunkt set-zen. Die Asien-Krise hat gezeigt, daß Menschenrechteunter den Bedingungen der Globalisierung neu zu dekli-nieren sind. Das hat auch Bosnien gezeigt. Die Einrich-tung des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag seheich als einen historischen Schritt nach vorne an, dem wiruns als Parlament und Regierung verpflichtet zeigensollten.
Gestatten Sie mir ein offenes Wort. Daß Diktatorennicht über dem Recht stehen, sondern daß sie sich, selbstwenn viele Jahre vergangen sind, in einem Rechtsstaatvor dem Recht verantworten müssen, finde ich gut undwichtig.
Zu der Tatsache, daß eine unabhängige Justiz in Spanieneinen internationalen Haftbefehl ausgestellt hat und daßeine unabhängige Justiz in unserem Partnerland Groß-britannien den Arrest für Pinochet verfügt hat, möchteich Ihnen sagen: Das erfüllt mich mit Genugtuung, unddas ist mehr als ein Symbol. Es zeigt nämlich, wohin dieEntwicklung in dieser Welt im 21. Jahrhundert zu gehenhat.
Deswegen wollen wir hier einen neuen Schwerpunktsetzen. Wir wissen uns den Menschenrechten verpflich-tet. Die Asienkrise hat es gezeigt: Nur dort, wo demo-kratische Verfassung Realität ist, wo es Gewaltenteilunggibt, wo es Regierungswechsel gibt, wo es eine unab-hängige, kritische Opposition gibt, wo es eine unabhän-gige, kritische Presse gibt, wo Menschenrechts- und woUmweltgruppen arbeiten können, ohne von Gefängnisund Geheimpolizei bedroht zu werden, gibt es auch si-chere Investitionen. So sehr ich von der Notwendigkeitprivater Investitionen überzeugt bin, um diese Schwel-lenländer und die dritte Welt zu entwickeln, so sehrmüssen wir dann aber auch in Zukunft auf den Gleich-klang von nachhaltiger Entwicklung, von Demokratie,von Menschenrechten, von Umwelterhaltung und vonInvestitionssicherheit setzen. Hier werden wir einenneuen Schwerpunkt auch während unserer G-8-Präsidentschaft setzen.
Herr
Minister, bitte beachten Sie die Zeit.
Ich komme zum Schluß. – Ein letzter Punkt, der dieKrise in Mittelamerika betrifft: Wir alle sind entschlos-sen, den von der Naturkatastrophe betroffenen Ländernzu helfen, nicht nur bei der unmittelbaren Krisenbewäl-tigung, sondern auch beim Wiederaufbau und darüberhinaus. Diese Länder sind durch die totale VernichtungBundesminister Joseph Fischer
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der Ernten, von denen sie ökonomisch abhängen, fak-tisch auf die ökonomische Nullinie zurückgeworfenworden. Das heißt: Faktisch gehören sie mit zu den ärm-sten Ländern der Erde. Daß wir uns hier nicht nur beimWiederaufbau großzügig erweisen, sondern auch bei derSchuldenstreichung, hat die Bundesregierung klarge-macht.
Ich möchte diesbezüglich aber noch auf einen ande-ren Zusammenhang zu sprechen kommen.
Herr Fi-
scher, Sie sind fünf Minuten über die Zeit.
Wenn wir – ich komme zum letzten Satz – den Klima-
schutz und die nachhaltige Entwicklung nicht ernster
nehmen als bisher – der Kollege Trittin ist bei der inter-
nationalen Klimakonferenz in Buenos Aires, falls Sie
ihn vermissen sollten,
nicht bei irgendwelchen Konspirationen, Herr Glos –,
dann werden wir allerdings mit einer größeren Häufig-
keit solcher katastrophalen Entwicklungen zu tun haben.
Deswegen sehen wir hier, in der Umweltaußenpolitik,
gemeinsam mit den anderen Ressorts – mit Frau
Wieczorek-Zeul und mit Herrn Trittin – in der Bundes-
regierung einen zusätzlichen Schwerpunkt, den wir auch
in der klassischen Außenpolitik umsetzen müssen. Das
ist Außenpolitik, die sich an den Zielen und Herausfor-
derungen des 21. Jahrhunderts in einer globalisierten, in
der einen Welt orientiert. Daran wollen wir mit Ihrer
Hilfe arbeiten.
DasWort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! DerAntrag der Bundesregierung dient der Verwirklichungund der Überwachung eines Abkommens, von dem derKollege Fischer schon gesprochen hat. Aber ich will zu-nächst sagen, daß die Entscheidung des Deutschen Bun-destages in einer schwierigen Übergangssituation dazubeigetragen hat – ich bitte das nicht geringzuschätzen –,daß 50 000 Menschen aus den Wäldern in ihre Dörferzurückkehren konnten, daß 50 000 Menschen der un-mittelbaren Bedrohung durch Hunger, Seuchen, Krank-heiten und Schlimmeres entkommen konnten, und daßdas entschlossene Handeln der internationalen Staaten-gemeinschaft dazu geführt hat, daß zunächst einmal einZustand – mit einigen Ausnahmen und Unsicherheiten,die nach wie vor da sind – erreicht wurde, in dem die di-rekte Bedrohung durch Mord, Vertreibung und Tod fürviele tausend Menschen verhindert worden ist. Wer dasgeringschätzt, hat keine Ahnung von dem, was wir in-ternational an Verantwortung zu tragen haben.
Auf der Grundlage des Abkommens geschehen meh-rere Dinge. Das eine ist Gegenstand des Antrages derBundesregierung, nämlich die Luftüberwachung ent-sprechend dem Abkommen und der Resolution 1203 derVereinten Nationen sicherzustellen. Das dient nicht nurdazu, das Abkommen zu sichern und seine Überwa-chung zu gewährleisten, sondern dient auch dem Schutzderjenigen, die im Auftrag der OSZE und im Interesseder Stärkung der OSZE eine zivile, nichtmilitärischeÜberwachung dieses Abkommens am Boden gewährlei-sten sollen.Vermutlich kommt in der nächsten Woche – dashängt aber von den weiteren Diskussionen innerhalb derNATO ab – noch eine weitere Entscheidung auf dieBundesregierung und den Deutschen Bundestag zu,nämlich eine entsprechende Vorsorge für den nicht ge-wünschten, aber auch nicht ausschließbaren Notfall zutreffen. Wer das alles im Zusammenhang mit militäri-scher Intervention betrachtet, der argumentiert in meinenAugen unverantwortlich und närrisch.
Wir wollen eine Stärkung der OSZE erreichen. Das be-deutet aber, 2 000 Menschen in ein immer noch mitScharmützeln, mit Schwierigkeiten und mit Schußwech-seln belastetes Gebiet zu schicken, also in eine Situation,die nicht gesichert ist. Es wäre ganz und gar unverant-wortlich für die Glaubwürdigkeit der OSZE und – wasviel schlimmer ist – ganz und gar unverantwortlich fürdie Sicherheit dieser 2 000 Menschen, wenn wir sie ineine Lage bringen würden wie UNPROFOR 1995 inBosnien-Herzegowina. Das darf man nicht tun.
Deshalb dienen alle diese Entscheidungen dazu, einefriedliche Entwicklung in diesem Teil des Balkans zuermöglichen. Der Antrag der Bundesregierung ist Aus-druck von Verläßlichkeit, von Berechenbarkeit und vonKontinuität in den Grundlagen deutscher Außenpoli-tik. Er ist Ausdruck dafür, daß wir uns im Rahmen derinternationalen Staatengemeinschaft in Europa und imBündnis der NATO bewegen, unsere Verantwortungwahrnehmen und unseren Teil zur friedlichen Entwick-lung beitragen.Dieses Bündnis hat uns in Deutschland – zunächst imWesten und dann bei der deutschen Einheit – ungeheuerviel geholfen. Es hat uns Freiheit, es hat uns Frieden,Bundesminister Joseph Fischer
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und es hat uns am Ende die Einbindung in die Gemein-schaft der westlichen Demokratien ermöglicht.
Das macht das Verdienst dieser Integration überdeutlich.Angesichts veränderter und neuer Herausforderungenfür unsere Sicherheit und für die unseres Kontinents, fürdie Sicherheit Deutschlands und für die Sicherheit Euro-pas müssen wir uns allerdings auch auf neue Entwick-lungen einstellen. Die Entscheidungen, die wir im Zu-sammenhang mit Bosnien-Herzegowina getroffen habenund jetzt – hoffentlich einmütig – im Zusammenhangmit dem Kosovo treffen werden, sind ein Hinweis dar-auf, welche veränderten Herausforderungen auf uns zu-kommen. Die Sicherheit unseres Landes und die Sicher-heit unseres Kontinents sind nicht voneinander zu tren-nen – im Gegenteil: Sie bedingen sich gegenseitig. Mitwachsender Verflechtung, mit wachsender Integrationwächst auch unsere Verantwortung. Deshalb istDeutschland engagiert und wird es bleiben.Ich will Ihnen das mit einigen wenigen Hinweisennoch erläutern. In Bosnien-Herzegowina sind zur ZeitAngehörige der Bundeswehr regelmäßig in der Stärkevon etwa 2 000 Mann und vorübergehend sogar – imZuge des Übergangs in eine neue Aufteilung und Statio-nierung der entsprechenden Gruppenteile – in der Stärkevon etwa 2 600 Mann im Einsatz. Mit den 200 nicht-militärischen, zivilen Beobachtern, die wir als Teil die-ser 2 000 Mann starken Beobachtermission stellen,wächst unsere Verantwortung und unser Anteil im Han-deln der internationalen Staatengemeinschaft. Wenn derDeutsche Bundestag – wie ich hoffe – am Freitag dieEntscheidung getroffen haben wird, daß wir uns auch ander Luftüberwachung eines verbindlichen Abkommensund der darauf fußenden, darauf Bezug nehmenden Re-solution des Weltsicherheitsrates beteiligen, wird unsereBeteiligung noch einmal um 350 Personen zunehmen.Ich will Ihnen heute schon sagen, daß zur Vorsorgevor einem nicht gewünschten, aber nicht ausschließba-ren Notfall wahrscheinlich noch einmal eine deutscheBeteiligung – etwa in Kompaniestärke – erforderlichwird. Das ist alles andere als eine militärische Interven-tion. Was die Soldaten – unsere wie die der anderenLänder – dort tun, ist: Sie sichern Gewaltfreiheit, sieunterstützen den zivilen Aufbau – zum Beispiel dadurch,daß sie mit einer Beratertätigkeit helfen, das Ergebnisder Wahlen zu implementieren und die Konstituierungvon Parlamenten und lokalen Autoritäten voranzubrin-gen –, sie helfen bei der Rückkehr von Flüchtlingen,zum Beispiel in einer sehr ausgeprägten zivil-militä-rischen Kooperation, indem sie Häuser wiederherrich-ten, Infrastruktur wiederherrichten und den Flüchtlingendie Rückkehr überhaupt erst ermöglichen, und sie er-gänzen nicht zuletzt die Arbeit der zivilen Hilfsorgani-sationen, von denen ich hier nur stellvertretend für alleanderen die Organisation „Schüler helfen leben“ nenne.
An diesem SFOR-Einsatz, der zugleich auch gewisseBelastungen hier in Deutschland bedeutet, haben jetztschon über 20 000 Soldaten der Bundeswehr teilge-nommen. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß dieseSoldaten im Interesse unseres Landes, im Interesse ge-meinsamer Sicherheit, im Interesse der Stabilität unseresKontinents, nicht zuletzt vielleicht auch im Interesse derVerhinderung immer stärkerer Flüchtlingsbewegungenein hohes Risiko eingehen und daß sie deshalb auch mitBlick auf ihre Familien die Unterstützung des DeutschenBundestages und übrigens der ganzen Bevölkerung ver-dient haben.
Freilich, diese Unterstützung muß auch noch auf an-dere Weise gewährleistet werden, nämlich indem wir inDeutschland als Bundesregierung und als Parlamentauch dazu beitragen, daß ein klares politisches Ziel ver-folgt und erreicht werden kann. Wir haben dafür nurwenig Zeit. Es gibt leider auch Anzeichen dafür, daß indieser Periode der Gewaltfreiheit Vorbereitungen fürneue Ausbrüche von Gewalt getroffen werden könnten.Der Winter wird das wahrscheinlich eine Zeitlang ver-hindern.Ich will damit deutlich machen, daß wir für die politi-schen Bemühungen um die Lösung dieses Konfliktesmit dem Ziel einer Autonomie des Kosovo im jugosla-wischen Staatsverband nur ein sehr enges Zeitfensterhaben werden und daß es ganz und gar nicht vertretbarist, wenn man sowohl zivile Beobachter im Auftrage derOSZE wie auch ihren militärischen Schutz in eine Ge-fahr bringen würde, die man durch entsprechend klarenDruck sowohl auf Milosevic als auch auf die kosovo-albanische Seite, insbesondere auf die UCK, vermeidenkann.Die Abwesenheit von Krieg und Gewalt bedeutetnoch lange nicht Frieden. Wir sehen das in Bosnien undHerzegowina. Ich fürchte, wir werden es eine längereZeit auch im Kosovo sehen. Also will ich darauf auf-merksam machen, daß die Beteiligung Deutschlands anziviler Überwachung und ihrem Schutz, an all den Maß-nahmen, die ich genannt habe, auf Dauer genauso wiedie Sicherheit, die von der internationalen Staatenge-meinschaft ausgeht, nur dann sinnvoll geleistet werdenkann, wenn die internationale Staatengemeinschaft denKonfliktparteien die Notwendigkeit klarmacht und amEnde dabei hilft, zivile Entwicklungen auf eine stabileGrundlage zu stellen.
Das entspricht der Politik der Bundesregierung, diedas Ziel umfassender Sicherheit verfolgt. Ich will das andrei Elementen verdeutlichen.Erstens kommt es darauf an, Ursachen für Krisen inZukunft früher zu erkennen und entschlossener zu han-deln als in der Vergangenheit.
Bundesminister Rudolf Scharping
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Gerade das Thema, mit dem sich der Antrag der Bun-desregierung beschäftigt, ist ein sehr nachdrücklicherHinweis darauf, wohin es führen kann, wenn man überJahre hinweg deutliche Hinweise auf eine sich immerstärker verschärfende krisenhafte Entwicklung ignoriert.
Es hat diese Hinweise gegeben. Allerdings ist es aucheindeutig so, daß die Europäische Union, die Westeuro-päische Union und andere Organisationen der interna-tionalen Staatengemeinschaft Krisenursachen häufigzwar früh erkennen können – es mag auch vorkommen,daß sie sie nicht erkennen –, daß uns aber oft genug dieentsprechenden Mittel und Institutionen fehlen, die Kon-sequenzen aus der frühzeitigen Erkenntnis von Krisen-ursachen zu ziehen. Also wird es nicht nur darauf an-kommen, den Mangel in der frühzeitigen Erkennung vonKrisenursachen und ihrer gemeinsamen Bewertung zubeklagen, sondern auch darauf, die notwendigen Institu-tionen zu schaffen, die wir im Rahmen der europäischenIntegration dringend brauchen.
Es kommt darauf an, aus dieser Vorstellung umfas-sender Sicherheit, die auch Krisenursachen wie Hunger,Unterentwicklung, Terror und Haß zwischen Bevölke-rungsgruppen mit einschließen muß, die notwendigenSchlußfolgerungen zu ziehen. Es liegt auf der Hand, daßdiese Schlußfolgerungen nicht allein in den Kategorieneines militärischen Bündnisses geleistet werden können.Ich erinnere mich sehr gut, daß Willy Brandt davonsprach, er habe zweimal erlebt, wie aus Krieg Hungergeworden sei, und er hoffe, nie erleben zu müssen, daßaus Hunger Krieg werde. Das aber ist eine Gefahr, mitder wir uns heute auch auseinandersetzen müssen.Das zweite Element beinhaltet, daß wir, die interna-tionale Staatengemeinschaft, im Bereich der Krisen-prävention wesentlich besser werden müssen, als wir esderzeit sind.
Ich mache darauf aufmerksam, daß hier für die deutscheAußen- und Sicherheitspolitik ein wesentliches Themaliegt. In der Sondersitzung des Bundestages der13. Wahlperiode hat eine Rolle gespielt, daß wir ange-sichts veränderter Krisenursachen, Bedrohungsursachenund Risiken für die internationale Sicherheit und Stabi-lität in die Lage kommen müssen, die Instrumente neuzu justieren; denn die Instrumente stammen aus der Zeitnach dem Zweiten Weltkrieg, aus der Zeit des kaltenKrieges und der Blockkonfrontation und sind oft genugnicht tauglich genug, mit dem fertig zu werden, was sichheute an veränderter weltpolitischer Lage und auch anveränderten Ursachen für internationale Krisen auf unse-rem Kontinent und weit darüber hinaus – in anderen Re-gionen der Welt ist es noch viel schlimmer – darstellt.Als drittes Element nenne ich, daß diese Politik nurerfolgreich sein kann, wenn deutsche Außen- und Si-cherheitspolitik konsequent demokratische und zivileEntwicklungsprozesse fördert und gleichzeitig zurAchtung der Menschenrechte beiträgt.
Meine Damen und Herren, wie schwierig dies ist,sieht man wieder am Beispiel des Kosovo. So hatten wirzum Beispiel große Schwierigkeiten, im Rahmen desAuftrags an die OSZE sicherzustellen – bisher konnte eswegen einer Weigerung Rußlands nicht sichergestelltwerden – , daß der Zugang von Journalisten in das Ge-biet des Kosovo ermöglicht und wieder unabhängige Be-richterstattung erlaubt wird. Wenn wir aber demokrati-sche, auf Menschenrechte orientierte Entwicklung för-dern und zivile Entwicklungen voranbringen wollen,dann wird das ohne entsprechende Institutionen ein-schließlich einer unabhängigen und freien Presse, ein-schließlich freier und unabhängiger Gewerkschaften, so-zialer Organisationen, lokaler Selbstverwaltung unddergleichen nicht gehen.
Die eigentliche Bedeutung des Beitrages der Bun-deswehr auf dem Balkan liegt darin, daß diese beidenSeiten der gleichen Medaille zur Zeit in einer gutenWeise gewährleistet sind, wobei ich beklage, daß diezweite Seite oft genug in der Öffentlichkeit nicht sowahrgenommen wird, wie ich es mir wünsche: nebender Sicherung einer gewaltfreien Entwicklung durchentsprechende militärische Präsenz die sehr vielen zivi-len Elemente in diesem Engagement, die ich Ihnen zunennen versucht habe.Meine Damen und Herren, all diese Fragen habenBedeutung für die Entwicklung auch der internationalenOrganisationen. Die NATO wird sich erweitern, und dasist gut so. Sie wird nach dieser Erweiterung eine Zeit derKonsolidierung brauchen und zugleich für weitere neueMitglieder die Tür offenhalten. Die NATO wird sicheine neue Strategie geben. Es wird für die Europäer dar-auf ankommen, ihre eigenen Schwächen zu überwindenund nicht immer ein gewisses Gefälle im Bündnis zubeklagen, sondern selbst etwas dagegen zu tun, daß esdieses Gefälle hier und da gibt. Das Stichwort dafürheißt: europäische Identität für Verteidigung und Si-cherheit.
Dazu gehört übrigens auch die Integration der WEU-Aufgaben in die Europäische Union, wie es ja im Ver-trag von Amsterdam vorgesehen ist.
Ich sage Ihnen das, um etwas anderes noch verständ-licher zu machen: Es ist unser gutes Recht – andernfallswürden uns alle anderen mit guten Gründen, wie ichdenke, skeptisch betrachten –, unsere Interessen klar zudefinieren und zu vertreten. Uns in Deutschland mußallerdings klar sein, daß Deutschland seine außen- undBundesminister Rudolf Scharping
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sicherheitspolitischen Interessen nur noch in Europaund in internationalen Organisationen wirksam verfol-gen kann.
Deutschland kann mit Blick auf seine Streitkräfte in Zu-kunft nur das sinnvoll vorbereiten und entscheiden, wasmit den europäischen Interessen im Einklang steht undmit den Interessen des Bündnisses kompatibel ist.
Auch in Zukunft ist die wesentliche Aufgabe derBundeswehr die Landesverteidigung. So wie wir Lan-desverteidigung derzeit wahrnehmen, ist sie der besteAusdruck dafür, daß wir uns der gemeinsamen Verant-wortung und Verpflichtung stellen. Über die Landes-verteidigung hinaus sind wir im Bündnis für die Sicher-heit seiner Mitglieder mitverantwortlich. Man kann esan den Entscheidungen der letzten Jahre ablesen, daßDeutschland stärkere Beiträge zur internationalen Frie-denssicherung leistet. Vor diesem Hintergrund und mitBlick auf diese neuen Aufgaben muß die interne Be-standsaufnahme der Bundeswehr so vorangetriebenwerden, daß sie im März des nächsten Jahres abge-schlossen sein wird. Dann wird unter Beteiligung desaußen-, sicherheits- und friedenspolitischen Sachver-stands, den wir dafür dringend brauchen,
und auf der Grundlage von Erfahrungen vieler Men-schen in Deutschland darüber zu reden sein, welche Fä-higkeiten unser Land in die internationalen Organisatio-nen einbringen und wie es mit Hilfe dieser Fähigkeitenzu internationaler Sicherheit und zu friedlicher, zivilerund, wo immer es geht, demokratischer Entwicklungbeitragen kann.Meine Damen und Herren, ich sprach davon, daß wir,insbesondere aber die Soldaten und ihre Familien, dar-auf angewiesen sind, im Deutschen Bundestag und imdeutschen Volke eine breite Unterstützung zu erhalten.Verstehen Sie das bitte als eine Einladung an alle Seitendes Hauses – bei allem Streit auf anderen Feldern –, denKonsens in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zubewahren und diesen auf der Basis dessen, was wir er-reicht haben, weiterzuentwickeln.
Das
Wort hat der Kollege Dr. Helmut Haussmann.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zwischenbilanzder bisherigen Diskussion ist klar: Deutschland hat dieAbwahl eines international anerkannten Staatsmannesund eines hervorragenden Bundeskanzlers, eines exzel-lenten Außenministers und eines anerkannten Finanz-ministers nicht verdient.Was haben wir heute erlebt? Einen Bundeskanzler,für den Außen- und Europapolitik eben keine Herzens-angelegenheit ist. Ich will nur einmal zwei Belege nen-nen, wie Herr Schröder denkt: Vor seiner Wahl war ergegen den Euro und vertrat in bezug auf die Osterweite-rung die Auffassung, daß sie nicht mehr im nächstenJahrzehnt stattfinden werde. Das sind Tatsachen.
Wir haben einen Außenminister, der sich nicht nur äu-ßerlich, sondern auch innerlich schnell umgestellt hat,hochflexibel ohne politische Tradition in der grünenPartei, ohne Basis in Krisenzeiten. Wir haben einen Fi-nanzminister, der eigentlich der heimliche Vizekanzlerund Außenminister ist und beginnt, den Euro schwachzu machen. Und wir haben einen Verteidigungsministerwider Willen, weil er das gar nicht werden wollte; aberdie Rede von Herrn Struck weckte nicht nur bei uns,sondern auch in der Opposition die Sehnsucht nach ei-nem Fraktionsvorsitzenden Scharping.
Herr Außenminister Fischer, Sie sollten sich – Siewerden noch darauf zurückkommen müssen – am An-fang einer solchen Debatte nicht nur förmlich bei HerrnKohl oder bei Herrn Kinkel bedanken, sondern Sie soll-ten sich auch darüber im klaren sein, daß Sie nur deshalbeinen guten Start hatten, über den ich mich im InteresseDeutschlands freue, weil Sie auf eine exzellente Außen-,Europa- und Sicherheitspolitik aufbauen konnten,
zu der Ihre eigenen Leute bisher überhaupt nichts bei-getragen haben.Sie haben es wohl vergessen: Sie waren gegen dieNachrüstung, gegen den Euro und gegen den Vertragvon Maastricht. Es gab Stimmenthaltungen zum Vertragvon Amsterdam und vor kurzem noch gegen friedenser-haltende Einsätze. Das ist die Ausgangsbasis, und inso-fern, Herrr Fischer, sollten Sie sich über eines im klarensein: Ein guter Start bedeutet noch nicht belastbare Au-ßenpolitik. Deshalb sollten Sie sich mit der Oppositionsehr gut stellen, Sie werden uns noch brauchen. Das sa-ge ich Ihnen voraus.
Aus unserer Sicht gibt es drei große konzeptionelleFragen, an denen wir Sie und Herrn Schröder messenwollen. Die erste betrifft die globale Verantwortung.Sie sind dem Thema, das Herr Kinkel für uns exzellentvorbereitet hat – Beteiligung an friedensschaffendenMaßnahmen und Sitz im UN-Sicherheitsrat –, ausgewi-chen. Sie haben hier nichts dazu gesagt. Vor Journali-sten haben Sie gesagt, das sei jetzt nicht so wichtig, der-zeit kein Thema, um dem Konflikt mit Ihrer Fraktionauszuweichen. Wenn jetzt nach einer so guten Vorarbeitvom deutschen Außenminister das Signal gegeben wird,das ist nicht vorrangig, nicht wichtig, verliert damit einwichtiges Symbol der gestiegenen globalen Mitverant-wortung bei der Lösung von Krisen an Bedeutung.
Bundesminister Rudolf Scharping
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Die zweite Frage – wir werden noch darüber diskutie-ren – betrifft das Verhältnis zu den Vereinigten Staa-ten von Amerika. Es ist interessant, daß Sie diesesThema in Ihrer Rede am kürzesten abgehandelt haben.Das ist zuwenig. Das, was Herr Schröder heute morgenvorgetragen hat, ist natürlich ein latenter Protektionis-mus. Ich kann nur sagen: Die wichtigste Frage im Ver-hältnis zu den Vereinigten Staaten wird sein: Wie wirdDeutschland als führendes Land in Europa so wettbe-werbsfähig, daß es den Wettbewerb mit den VereinigtenStaaten von Amerika durchhält?Herr Außenminister Fischer, alle Konflikte in derVergangenheit waren nicht so sehr außenpolitische Kon-flikte, sondern es waren Konflikte, die in der Handels-politik begannen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen.Erstens. Sie haben in die Koalitionsvereinbarung lockerhineingeschrieben, die WTO müsse dringend mit Um-welt- und Sozialstandards angereichert werden. Sie ste-hen damit einsam in der Landschaft.
Das gehört nicht in die WTO. Das gehört in die ILO,meine Damen und Herren. Sie werden isoliert sein.
– Ich sage Ihnen die Diskussion mit den VereinigtenStaaten von Amerika voraus. Sie werden sich isolieren.Zweitens. Mit diesem Reformrückschritt – keineechte Steuerreform, keine Arbeitsmarktreform, Schwä-chung des Euro – werden Sie Deutschland und damitGesamteuropa im Wettbewerb schwächen.
Sie werden erleben, daß am Ende Ihrer Politik – imVerein mit Herrn Jospin – ein latenter Protektionismus,ein Festungsdenken in Europa herrschen wird. Das wirdzu einem der ganz großen Konflikte, wenn Sie nichtzumindest die Politik von Herrn Blair verfolgen, wozuSie nicht bereit sind. Herr Blair hat vor kurzem auf einerKonferenz der Sozialisten gesagt: Meine sehr verehrtenParteigenossen, Amerikanismus und Globalisierung dür-fen keine Fremdworte bei uns werden.Wie wird darüber bei uns diskutiert? Wie wird überdie Unabhängigkeit der Zentralbank diskutiert? Wiewird über die Zielzonen debattiert? Reden Sie einmalmit einem Amerikaner über Wechselkurszielzonen. Sielaufen völlig ins Leere und begeben sich in die Gefahr,daß Sie das entscheidend wichtige Verhältnis zu denVereinigten Staaten von Amerika von der falschen Seiteher – durch Protektionismus, falsche Währungszusam-menarbeit und ein fehlendes klares Bekenntnis zur Un-abhängigkeit von Notenbanken – schwächen.
Die dritte Frage betrifft die Europapolitik, Herr Fi-scher. Sie ist nicht nur Baustein einer Vision, sondern inder Europapolitik braucht man Visionen, man mußEmotionen haben. Ich sehe weder bei Herrn Schrödernoch bei Ihnen jemanden, der in der Lage wäre, hiernicht nur gute Reden zu halten, sondern die eigene Par-tei, die Bevölkerung in große Projekte mitzunehmen.Meine Damen und Herren, wer hat denn die Debatteüber die Währungsunion geführt? Wo war denn Rot-grün?
Jetzt lehnt man sich zurück und profitiert von unsererArbeit. Aber in der Europapolitik bedarf es der Visionenund eines langen Atems sowie der Unterstützung durchdie eigene Partei, die eigene Fraktion. Meine Damenund Herren, die haben Sie nicht. Insofern ist es zwarschön, wenn Sie gute Reden halten, wenn Sie gut ange-zogen sind, wenn Sie im Ausland gut ankommen. Nur,die Bewährungsprobe – mehr Emotion, mehr Vision,mehr Überzeugung in der Bevölkerung – müssen Sieerst noch bestehen.
Das
Wort hat der Kollege Volker Rühe.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Beide Minister dieser Bun-desregierung, der Außenminister und der Verteidi-gungsminister – auch ich muß mich erst daran gewöh-nen –,
haben von Kontinuität und Berechenbarkeit gespro-chen. Das ist gut so, und das ist ja auch ein Komplimentfür die Politik, die vorher gemacht worden ist. Aber,Herr Fischer und Herr Scharping, die Politik, in derenKontinuität Sie sich stellen, mußte irgendwann imKampf durchgesetzt werden – hier und auch internatio-nal. Das ist doch der entscheidende Punkt. Deswegen:Die eigentliche Bewährung wird erst dann kommen,wenn neue Fragestellungen auf Sie zukommen, ob auchSie dann etwas im Kampf durchsetzen können, was dendeutschen Interessen dient und was eine vernünftige in-ternationale Politik ist. Das ist die eigentliche Bewäh-rungsprobe.Nehmen Sie das Beispiel – Herr Fischer, Sie habengesagt, das sei ganz wichtig –, daß Europa jetzt zusam-menwächst. Aber die Öffnung Westeuropas von der Si-cherheit her auch für die Polen, die Tschechen, die Un-garn, die Öffnung der NATO, das ist im Kampf durch-gesetzt worden, hier in Deutschland gegen Sie und auchinternational. Wo sind die Politiker in der neuen Regie-rung, die in der Lage sind, wichtige Weichenstellungenauch in der Zukunft durchzusetzen und sich nicht nur ineine Kontinuität hineinzustellen?
Oder nehmen Sie das Beispiel Jugoslawien: HerrScharping, ich will nicht die Kontroverse mit Ihnen.Aber es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie sagen,man müsse die Krisen früher erkennen. Wer hat denndarauf gedrängt, dort hinzugehen und zu intervenieren,Dr. Helmut Haussmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 117
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Massaker und Krieg zu stoppen? Ich glaube, diesesDrängen ist nicht von der früheren Opposition gekom-men, sondern von der Regierung. Das haben wir durch-gesetzt. Sonst wären wir auch noch nicht so weit, wiewir heute sind.
Herr Fischer, Sie werden eine Bewährungsprobe be-kommen. Das ist der Irak. Da können Sie nicht sagen,das sei allein Sache der Amerikaner. Es geht auch unsan, ob es dort zur Produktion von Massenvernichtungs-waffen kommt. Dann ist auch die Frage an die deutscheSolidarität gestellt. Man kann nicht in Feiertagslaune –wie der Kanzler Schröder – hier über deutsch-amerikanische Freundschaft sprechen, aber in einer kon-kreten Situation sich verweigern und abtauchen. Damitwerden Sie nicht durchkommen.
Aber ich habe bei aller Kontinuität den Eindruck, daßman schon versucht, ein bißchen umzuinterpretieren.Herr Fischer, wenn Sie sagen, im Kosovo gehe es nurum den Einsatz von Zivilisten, die OSZE spiele dort dieHauptrolle, so – das muß ich Ihnen sagen – unterschla-gen Sie, daß die politischen Verhandlungen der Ameri-kaner nur deswegen Erfolg hatten, daß es den Einsatzder Zivilisten dort nur deswegen gibt, weil wir bereitwaren, notfalls auch militärisch zu handeln – nur deswe-gen! Das darf nicht unterschlagen werden.
Herr Minister Scharping, an einem Punkt sollten Sienoch einmal nachdenken. Sie haben gesagt, wenn deut-sche Soldaten nach Mazedonien geschickt würden – ichmeine jetzt nicht die Luftüberwachungsoperation; dafürhaben Sie unsere Zustimmung, das ist klar; wir bleibenin der Kontinuität unserer Politik, Sie brauchen Ihre ei-genen Mehrheiten –, um notfalls im Kosovo einzugrei-fen, um diese Beobachter zu retten, dann sei das keinmilitärischer Einsatz. Ich muß Ihnen sagen: Es ist hoch-gefährlich, wenn man versucht, die kleinste gemeinsameSprachregelung innerhalb der Koalition zu finden, umim Deutschen Bundestag eine Mehrheit für einen Ein-satz zu erzielen, der natürlich ein militärischer Einsatzist. Was bedeutet dieser Einsatz? Sie schicken deutscheSoldaten nach Mazedonien. Im Ernstfall müssen sie ge-gen den Willen der Regierung der Bundesrepublik Jugo-slawien im Kosovo militärisch eingreifen, um Zivilistenaus dieser Region zu holen. Auch den Soldaten schuldenwir es, daß die Gefahren einer solchen Mission nichtheruntergespielt werden, nur damit man in der Koalitionverbal eine Einigung erzielt.
Wenn es sich nicht um eine militärische Aktion handelnwürde – das gilt für die Luftüberwachung und natürlichauch für die Mission einer Extraction Force –, müßtesich der Deutsche Bundestag nicht mit dieser Angele-genheit beschäftigen.Ich habe in der Koalitionsvereinbarung viel über dieZivilisierung der internationalen Beziehungen und ihreVerrechtlichung gelesen. Das sind alles schöne Worte.Es ist richtig: Das Militärische ist die Ultima ratio. Aber:Wenn politisches Verhandeln scheitert – es kann schei-tern – und wenn nicht die Bereitschaft besteht, notfallsauch mit militärischen Mitteln denen in den Arm zu fal-len, die nicht friedenswillig sind, dann würden Sie sichauf einen falschen Kurs begeben und sich von der Soli-darität der westlichen Gemeinschaft verabschieden.Herr Minister Fischer, Sie haben die Menschenrechtein den Mittelpunkt gestellt. Das ist richtig. Wir habenübrigens schon in der Zeit des kalten Krieges immer ge-sagt: Der Friede ist nichts Absolutes, sondern es gibt ihnnur in Verbindung mit Freiheit, Gerechtigkeit und Be-achtung der Menschenrechte. Sie haben gesagt: Es istgut, daß die Kriegsverbrecher in Bosnien nach DenHaag kommen. Einer der übelsten Kriegsverbrecher istnur durch das „Kommando Spezialkräfte“ der deutschenBundeswehr nach Den Haag gekommen. Dagegen habendie Grünen massiv protestiert. Meine konkrete Frage ist:Sind Sie damit einverstanden, wenn auch in ZukunftSpezialkräfte der Bundeswehr dafür sorgen, daß Kriegs-verbrecher vor internationale Gerichte gebracht werden?
Sie haben ferner gesagt, es erfülle Sie mit Genug-tuung, wenn ein Diktator wie Pinochet zur Rechenschaftgezogen wird.
– „Vielleicht“, aber ich hoffe es trotzdem. – Ihre Hal-tung kann ich nachvollziehen. Ich – und vor mir HeinerGeißler und Norbert Blüm – war in Chile in den Ge-fängnissen, als unsere Freunde, die christlichen Demo-kraten, dort verfolgt, eingesperrt und gefoltert wurden.Deswegen kann ich Ihre Haltung nachvollziehen. Aberhaben Sie bitte keine selektive Haltung. Es gibt immernoch politische Gefangene in Kuba und in anderen Ge-genden der Welt. Was machen Sie mit Fidel Castro?Lassen Sie uns also sehr sorgfältig darüber diskutieren,was es bedeutet, Menschenrechte durchzusetzen und zuverdeutlichen: Wer immer dagegen verstößt, muß damitrechnen, daß er auf internationalem Wege zur Verant-wortung gezogen wird. Es geht aber nicht an, daß es ei-nen selektiven Einsatz für die Beachtung der Menschen-rechte gibt.
Herr Minister Scharping, Sie haben als Verteidi-gungsminister das Richtige in bezug auf Ihre Amtszeitgesagt. Sie haben sich für die Wehrpflicht eingesetzt. Indiesem Punkt haben Sie die volle Unterstützung unsererFraktion.
Sie haben noch einen weiteren sehr richtigen Satz ge-sagt: Diejenigen, die Sicherheit produzieren, nämlichunsere Soldaten, haben selbst die Sicherheit ihres Ar-beitsplatzes verdient. Deswegen haben Sie sich klar ge-Volker Rühe
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gen alle Vorstellungen der Grünen gewandt, im Rahmender Koalition in die Strukturen der Bundeswehr einzu-greifen.
Sie müssen wissen, daß Sie in diesen entscheidendenPunkten unsere Unterstützung haben, daß wir Sie aberauch an diesen Punkten messen werden. Es ist deswegenganz wichtig, daß die Wehrstrukturkommission – Siehaben ja auch eine Rentenkommission; überall, wo Siemit den Grünen uneins sind, werden Kommissionen ein-gesetzt – nicht sozusagen jahrelang ein Fragezeichen fürdie Bundeswehr bedeutet. Unsere Soldaten haben esnicht verdient, daß sie bezüglich ihrer Zukunft im unge-wissen gehalten werden,
zumal wir gleichzeitig von ihnen schwierige Einsätzeverlangen müssen. Sie sollen wissen, daß eine Chancefür einen Konsens in diesem Hause besteht. Was Wehr-pflicht und Umfang der Bundeswehr angeht, habe ich eseinmal so gesagt: Sicherheit für die Produzenten der Si-cherheit, Sicherheit für unsere Soldaten. Wenn Sie sie zuinternationalen Einsätzen schicken, dann können Sienicht zu Hause die Kasernen anstecken, so wie die Grü-nen das immer wieder versucht haben.
– Entschuldigung, „Kasernen anstecken“ heißt natürlich,die Stationierungsorte der Bundeswehr in Frage zu stel-len. Das ist doch genau das, was Sie, Frau KolleginBeer, tun. Sie wollen doch den Umfang der Bundeswehrhalbieren. Das ist in einer solchen Situation unverant-wortlich.
Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zur Eu-ropapolitik. Es gab ja nach den Besuchen des Kanzlersund des Außenministers in Polen die Diskussion, ob wirfür die EU-Osterweiterung eine zeitliche Perspektivebrauchen. Ich glaube, daß man noch einmal einen Mo-ment darüber nachdenken sollte, was die richtige Politikist. Herr Schröder, der Bundeskanzler, hat gesagt, er ha-be nicht soviel Phantasie, ein Datum zu nennen.Ich muß Ihnen sagen: Wenn Sie ein Datum setzen – 2002 wäre realistisch –, ist es viel einfacher, die schwie-rigen Entscheidungen im jeweiligen Lande durchzuset-zen. Ich weiß, daß die EU-Erweiterung nicht vergleich-bar ist mit der NATO-Erweiterung. Die EU-Erweiterungist viel schwieriger umzusetzen. Mitglied der NATOkönnen Sie auch mit alten Flugzeugen und alten Panzernwerden. Mitglied der Europäischen Union aber könnenSie mit einer veralteten Landwirtschaft und einer veral-teten Wirtschaft nicht werden. In dem Moment, in demein Zieldatum im Hinblick auf den Beitritt zur NATOgenannt wurde, hat es unglaubliche Anstrengungen derUngarn, der Polen und der Tschechen gegeben, weil siegewußt haben: Die Anstrengungen lohnen sich; es gibtein konkretes Zieldatum.Deswegen würde ich der Bundesregierung raten, zuversuchen, gemeinsam mit Polen und den anderen Staa-ten ein Zieldatum zu entwickeln und zu sagen: Wir je-denfalls werden, was die Reformen innerhalb der Euro-päischen Union angeht, alles tun, daß ihr 2002 Mitglie-der werden könnt. Wenn ihr dann noch auf eurer Seitedie notwendigen Reformen durchsetzt, dann ist der Bei-tritt zu einem solchen Datum machbar.Es muß möglich sein, hier eine gemeinsame Strategiezu entwickeln, damit Deutschland auch weiterhin Motorim Hinblick auf das Zusammenwachsen in Europa ist.Die letzte Bemerkung möchte ich auf die baltischenStaaten beziehen. Ich glaube, jeder spürt, daß sie mehrals manch andere zur Familie der europäischen Staatengehören – sie haben in diesem Jahrhundert ein besondersschlimmes Schicksal gehabt –, daß aber der Weg in dieSicherheitsgemeinschaft der NATO sicherlich noch einlanger Weg ist. Um so offener sollten wir dafür sein – das war auch bei Klaus Kinkel, dem früherenAußenminister, der Fall –, sie so schnell wie möglich indie Europäische Union aufzunehmen.
– Natürlich, alle drei als Gruppe. Denn sie alle habennicht das Gewicht, daß sie auf Grund irgendwelcher sta-tistischer Abweichungen und auf Grund der Probleme,die es in diesen Staaten noch gibt, die Europäische Uni-on ruinieren könnten.Nachdem sich Estland qualifiziert hat und Lettlandanerkanntermaßen Fortschritte gemacht hat – Außen-minister Kinkel hat immer deutlich gemacht, daß dieMöglichkeit bestehen muß, auch zwischenzeitlich auf-genommen zu werden –, liegt es in der Verantwortungder Bundesregierung, Lettland und Litauen in den euro-päischen Integrationsprozeß mit aufzunehmen.
Herr Kollege Fischer, wenn Sie das in Angriff nehmenwürden, dann würden Sie wirklich einen weiteren Schrittfür den Aufbau eines gemeinsamen Europas leisten undim übrigen selbst eine Politik durchsetzen, angesichts derSie mit einem Konsens in Deutschland rechnen können.Zeigen Sie also einmal, daß Sie nicht nur wie ein Außen-minister gekleidet sind, sondern daß Sie sich auch in einerwichtigen Frage durchsetzen können.Vielen Dank.
DasWort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Herr Kollege Rühe, ich möchte nicht, daß sich et-was Mißverständliches oder Falsches festsetzt: Ich habeVolker Rühe
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mich mit dem Abgeordneten Gysi und seiner Behaup-tung auseinandergesetzt, die Stationierung einer Schutz-truppe in Mazedonien sei eine militärische Intervention.Es ist völlig unbestritten: Wenn eine solche Schutztrup-pe stationiert wird, ist das ein militärischer Einsatz, undzwar einer mit Risiko.
DasWort hat jetzt die Bundesministerin HeidemarieWieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Mei-ne Damen und Herren! Wir alle sind in den letzten Ta-gen mit den Bildern der Verwüstung konfrontiert wor-den, die der Hurrikan Mitch in Zentralamerika ange-richtet hat. Und auch wenn die Schreckenszahlen nochimmer nicht zweifelsfrei sind: Es muß mit weit mehr als10 000 Toten gerechnet werden. Es ist ein Rückfall derEntwicklung um mindestens zwei Generationen festzu-stellen. Vor allem aber: Ein Großteil der Bevölkerung istobdachlos, in Honduras etwa die Hälfte der Bevölke-rung.Nicaragua und Honduras sind zusammen mit Tahitiärmste Länder der Region. Gleichzeitig sind sie dieLänder, die im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Lei-stungsfähigkeit die größte Last an Auslandsschuldentragen. El Salvador und Guatemala haben zwar wenigerOpfer unter den Menschen zu beklagen. Aber auch hierist ein Großteil der Ernte zerstört, ist die Aufbauarbeitvon mindestens einem Jahrzehnt, sind die landwirt-schaftliche Produktion und die landwirtschaftlichenPotentiale in wenigen Tagen vernichtet worden.Ich habe am letzten Freitag in Gesprächen mit denBotschaftern der sechs mittelamerikanischen Länder, dievon dem Hurrikan betroffen sind, gesprochen und – ichdenke auch in Ihrem Namen – unser aller Anteilnahmeund Solidarität ausgedrückt.
Meine Damen und Herren, diese Situation ist auchdeshalb besonders tragisch, weil diese Region, wie Siealle wissen, über Jahre, um nicht zu sagen: über Jahr-zehnte hinweg in schreckliche Konflikte und Bürger-kriege verstrickt war, jetzt auf dem Wege der Kon-fliktbeilegung und des friedlichen Zusammenlebens istund in dieser Situation so schrecklich getroffen wordenist.Wir als Bundesregierung, als Bundesministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung habenim Umfang von insgesamt 5,7 Millionen DM unmittel-bar Soforthilfe geleistet und Nothilfe bereitgestellt. Die-se Mittel sind also schon vor Ort zum Einsatz gekom-men: Medikamente, Nahrungsmittel, Materialien undvor allem Geräte für die Trinkwasseraufbereitung sowieBaumaterialien für dringende Baumaßnahmen, umüberhaupt wieder Obdach zu schaffen.Die Durchführung erfolgt in erster Linie über die lau-fenden Projekte der technischen Zusammenarbeit undwird vom Deutschen Entwicklungsdienst und denPartnern deutscher Nichtregierungsorganisationen unter-stützt. Nur so ist sichergestellt – und es ist sicherge-stellt –, daß die Mittel wirklich den betroffenen Men-schen zukommen.Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, diediese schwere Hilfe vor Ort leisten.
Ich möchte vor allen Dingen den Menschen in Deutsch-land danken, die bereit waren, so schnell und in großemUmfang zu spenden und damit Finanzmittel zur Verfü-gung zu stellen.
Es ist auch jetzt noch notwendig zu spenden.Ich möchte auch ein herzliches Dankeschön an dieAdresse all der Partnerstädte in Deutschland richten, diezum Beispiel in Nicaragua Partnerstädte haben, meineHeimatstadt Wiesbaden eingeschlossen, die eine Fi-nanzhilfe von 100 000 DM unkonventionell und schnellzur Verfügung gestellt hat.
Das ist aktive Solidarität und Hilfe und zeigt, daß Men-schen bereit sind, sich zu engagieren.Ich möchte gleichzeitig darauf hinweisen, daß wir einProgramm erarbeiten, in dem wir als nächste Stufe, alsonach der unmittelbaren Nothilfe, die Finanzierung vonReparatur- und Wiederaufbaumaßnahmen vor allenDingen der zerstörten Infrastruktur, der Brücken und derWege, vorsehen. Das alles muß ja gemacht werden. Wirhaben dafür einen Teil der Finanzmittel umgewidmet, sodaß wir auch weiterhin finanzielle und technische Hilfezur Verfügung stellen können. Und vor zwei Tagen hatder Bundesfinanzminister eine Tranche von10 Millionen DM für die finanzielle Zusammenarbeitfreigegeben, die zusätzlich für solche Wiederaufbau-maßnahmen eingesetzt werden kann.Wir prüfen zudem, ob Mittel im Umfang von18 Millionen DM, die bisher für andere Bereiche undRegionen vorgesehen waren und nicht abgeflossen sind,entsprechend umgewidmet werden können, und erwar-ten auch hier die Zustimmung des Bundesfinanzmini-sters.Vor allem aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sinddie finanziellen Konsequenzen überhaupt nicht zu er-messen. Ich bin froh, daß der Bundeskanzler heute mor-gen hier das Notwendige dazu gesagt hat. Wir müssenuns mit unseren Partnerländern dafür stark machen, daßes einen Schuldenerlaß für die betroffenen Ländergibt.
Bundesminister Rudolf Scharping
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Sonst kommen sie nie mehr auf die Füße; sonst kommensie nie mehr voran; sonst ist der Wiederaufbau nicht zufinanzieren. Ich freue mich, daß der Vorschlag, der vorallen Dingen aus kirchlichen Gruppen gekommen ist,aufgegriffen worden ist. Das ist das Allerwichtigste, waswir tun können.Als Zeichen der Unterstützung und Solidarität werdenStaatsminister Ludger Volmer und ich morgen einenHilfslieferungsflug, der Medikamente und die entspre-chenden Geräte zur Wasseraufbereitung transportiert,nach Honduras und Nicaragua begleiten. Ich denke, wirtun dies mit Unterstützung des gesamten Bundestages,weil wir damit unsere Solidarität gegenüber der soschwer betroffenen Region zum Ausdruck bringen wol-len.
Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir standenschon früher an der Seite Mittelamerikas. Ich weiß, wo-von ich rede; ich selbst war mit christdemokratischenKollegen aus dem Europäischen Parlament vor Jahrenbei Vermittlungsgesprächen in El Salvador. Das heißt,wir waren verantwortlich dafür, daß dort Frieden mög-lich wurde. Wir tragen auch jetzt Verantwortung dafür,daß der Wiederaufbau vorankommt. Das ist unsere Ver-pflichtung. Ich freue mich, daß wir im ganzen Hause mitbreiter Mehrheit zu dieser Aufgabe stehen.
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu denLeitlinien unserer Entwicklungspolitik machen. Ichfinde es interessant, daß das an vielen Punkten in unter-schiedlichen Facetten immer wieder deutlich wird: Ausunserer Sicht ist der Leitgedanke der Entwicklungspoli-tik Friedenssicherung. Zusammenarbeit – das war mei-ne Überzeugung, als ich für die europapolitische Arbeitzuständig war – sichert Frieden, und Zusammenarbeitsichert natürlich auch in den internationalen Beziehun-gen Frieden. Regionale Integration bewirkt Frieden. Dasgilt für die Region Mittelamerika und andere Regionen.Es kommt darauf an, die internationalen Beziehungen zugestalten.Herr Haussmann, Sie haben mit Ihren Bemerkungenunrecht. Wenn wir dazu beitragen, daß in die Welthan-delsabkommen entsprechende soziale und ökologischeKriterien einbezogen werden, dann leisten wir einenBeitrag zur besseren internationalen Gestaltung der Be-ziehungen.
Ich will darauf hinweisen, wer isoliert war, als es um dasMandat zum letzten Welthandelsabkommen ging:
Das war die Bundesrepublik Deutschland. Ich kannmich nämlich erinnern, daß der zuständige EU-Kommissar – Frau Matthäus-Maier, Oskar Lafontaineund ich waren gemeinsam dort – sich beklagt hat – eswar ein Kommissar einer konservativen Partei –, daß dieBundesregierung die einzige Regierung gewesen sei, dieverhindert habe, daß in das Mandat soziale und ökologi-sche Kriterien aufgenommen wurden.
Wir werden das tun. Das ist ein Stück friedlicher Ge-staltung internationaler Beziehungen.Es geht darum, Entwicklungspolitik am Leitbild glo-baler nachhaltiger Entwicklung zu orientieren. Heuteist Willy Brandt mehrfach erwähnt worden. Sein Kredo,„das Überleben sichern“, beruht doch auf der Erkennt-nis, daß es gemeinsame Interessen von Industrie- undEntwicklungsländern gibt. Daraus müssen wir aber auchKonsequenzen ziehen; wir müssen gemeinsam Klima-schutzprogramme in Gang setzen und dürfen den ent-wicklungspolitischen Haushalt nicht als Steinbruch be-nutzen.
Entwicklungspolitische Finanzmittel, richtig eingesetzt,sind eben friedenssichernd und stellen eine Präventiondar. In diesem Sinne, denke ich, müssen wir handeln.Denn Krisenprävention muß großgeschrieben werden.90 Prozent der 186 Kriege, die zwischen 1945 und 1996stattfanden, sind in der sogenannten dritten Welt ausge-tragen worden. Kriege und Bürgerkriege machen jahr-zehntelange Entwicklungsbemühungen zunichte. Des-halb ist es doch wahrhaft menschlicher und zivilisierterund auch ökonomisch sinnvoll und vernünftig, wennEntwicklungszusammenarbeit zusammen mit Außenpo-litik und Sicherheitspolitik dazu beiträgt, daß Kriege undKrisen gar nicht erst entstehen.
Diese Idee einer vorbeugenden Strukturpolitik verbindetuns alle, die wir in der Bundesregierung sind, und sie istauch das Neue im Bereich der Außen-, Entwicklungs-und Sicherheitspolitik.Ich habe mir einmal angesehen, wer alles im Bundes-sicherheitsrat sitzt: sogar – ich will jetzt keinem Kolle-gen zu nahe treten – das Justizministerium. Ich bin stolzdarauf, daß das Ministerium für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung jetzt endlich einen Sitz indiesem Gremium hat.
Auch das macht das neue Denken in der Sicherheitspo-litik deutlich und praktisch.Willy Brandt hat gesagt: „Entwicklungspolitik ist dieFriedenspolitik des 21. Jahrhunderts.“ Ich bin stolz dar-auf und ich glaube, es ist unsere große gemeinsameAufgabe, diese Entwicklungspolitik voranzubringen.Wir müssen die globalen Rahmenbedingungen aktiv ge-Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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stalten, dürfen sie nicht nur ertragen. Wir müssen dazubeitragen, mit all unseren Möglichkeiten, wirtschaftlicheund soziale Ungleichheiten abzubauen, die natürlichenLebensgrundlagen zu erhalten. Da geht es auch um dieFinanzmittel, zum Beispiel darum, ob man ein Klima-schutzprogramm in Gang setzt. – Ja, das ist notwendigund richtig eingesetzt. Da geht es um Förderung vonDemokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. –Ja, das ist notwendig und richtig eingesetzt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen aberauch, daß die Strukturanpassungspolitik des Internatio-nalen Währungsfonds und der Weltbank nach Kriteriender Entwicklungsverträglichkeit und der ökologischenNachhaltigkeit gestaltet wird.
Ich lerne – man und frau lernt ja jeden Tag dazu –, daßsich die bisherige Bundesregierung darauf beschränkte,sich zurückzuziehen und anderen Einfluß zu überlassen.
Nein, wir müssen die Möglichkeiten, die wir haben –auch unsere finanziellen –, einsetzen, um mit anderenPartnern die Rolle von IWF und Weltbank aktiver zu ge-stalten.
Wir wollen auch die Gewährung von Exportbürg-schaften stärker von sozialen, ökologischen und ent-wicklungsverträglichen Gesichtspunkten abhängig ma-chen. Es ist heute hier nicht der Ort, die einzelnenPunkte und Regionen durchzudiskutieren. Und ich ap-pelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenndas alles Sinn machen soll – und damit wende ich michauch an Sie aus den Reihen der CDU/CSU und derF.D.P. –, was wir von „vorbeugender Politik“ reden,dann müssen wir dazu beitragen, daß dieses Feld derEntwicklungspolitik, der wirtschaftlichen Zusammenar-beit in das Zentrum unserer Politik und nicht an derenRand kommt.
Dann ist Entwicklungspolitik nicht nur Aufgabe desStaates, dann geht sie einher mit dem Engagement derGesellschaft und der Wirtschaft insgesamt.
Deshalb sollten wir, so finde ich, überlegen, wie wiröffentlich-private Partnerschaften entwickeln. Denn esist nicht immer nur Aufgabe des Staates, Entwicklungs-zusammenarbeit zu leisten. Um das Bewußtsein für in-ternationalen Zusammenhang und Verflechtung zu stär-ken, ist es ganz wichtig, daß wir die Öffentlichkeits- undBildungsarbeit zu diesen Fragen in unserem Land ver-ankern und dazu die entsprechenden Finanzmittel bereit-stellen.Ich freue mich zum Beispiel, Kollegin Ingrid Mat-thäus-Maier, daß hier in Bonn die entwicklungspoliti-schen Institutionen gemeinsam ihren Platz finden undzusammen mit dem zuständigen Ministerium ein Zen-trum für Nord-Süd-Zusammenarbeit bilden werden. Dasist eine tolle Rolle, die die Stadt Bonn und die ganzeRegion erhalten.
Mein Appell geht vor allem an die Nicht-Regierungsorganisationen. Mit ihnen gemeinsamwollen wir unsere Arbeit leisten. Denn die Aufgaben,die vor uns liegen, müssen rechtzeitig angegangen wer-den. Wir dürfen nicht erst warten, bis die Situation an-geblich nur noch militärisches Eingreifen zuläßt. Wirmüssen frühzeitig tätig werden.Dafür sind wir gemeinsam angetreten.Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Der
nächste Redner ist Wolfgang Gehrcke von der PDS.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Deutsche Außenpolitik sollte Frie-denspolitik sein; sie sollte zivile, nichtmilitärische Kon-fliktlösungen befördern und darauf verzichten, militäri-sche und ökonomische Stärke zur eigenen internationa-len Dominanz einzusetzen. Ich glaube, darin könnte sicheine Mehrheit des Hauses einig sein. Aber deutsche Au-ßenpolitik sollte auch dazu beitragen, soziale Ungerech-tigkeiten weltweit zu mindern, nachhaltige Entwicklungzu fördern, Grenzen durchlässiger zu machen, anstattweiter an einer Festung Europa zu bauen und die Men-schenrechte wirklich unteilbar zu machen.
Eine solche Außenpolitik läßt sich aber nicht nur mit„Kontinuität der letzten 16 Jahre“ beschreiben, sondernbedarf auch des Zusatzes „Veränderung“.Der Bundesaußenminister hat – wenn ich es richtigverfolgt habe – seine Politik mit den Worten „Kontinui-tät als Voraussetzung für Spielräume“ beschrieben. VonKontinuität ist heute sehr viel die Rede gewesen – nachmeinem Geschmack viel zuviel Kontinuität. Deswegenmöchte ich etwas über Spielräume nachdenken und überSpielräume diskutieren.Im übrigen, glaube ich, darf man sich kein falschesBild von Rotgrün machen. Wenn Rotgrün so wäre, wieHerr Glos es hier dargestellt hat, wäre mir diese Koali-tion sehr viel sympathischer. Aber dem ist leider nichtso.
Wenn wir über Spielräume, über Gestaltungsräumenachdenken, können wir als Beispiel Chile nehmen. ImUnterschied zu seinen Vorgängern sagte der Bundesau-ßenminister, daß er den chilenischen Diktator PinochetBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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gern vor Gericht sähe. Für diese Haltung bedanke ichmich bei Ihnen ausdrücklich, Herr Bundesaußenmini-ster.
Sie könnte einen Bruch mit der konjunkturellen Men-schenrechtspolitik der alten Regierung einleiten. Ichmöchte gern davon ausgehen, daß die neue Regierungauch bereit ist, die Menschenrechte – zum Beispiel dasRecht des kurdischen Volkes auf Selbstbestimmung ge-gen den NATO-Verbündeten Türkei – zu verteidigenund einzuklagen.
Die Regierungskoalition hat verbal Abrüstung ange-kündigt. Doch wer Abrüstung will, kann den Wehretatnicht zum Naturreservat erklären. Sagen Sie doch ein-fach und deutlich, daß die Rüstungsindustrie unsicherenZeiten entgegengeht. Setzen Sie Signale: Stoppen Siedie Tiefflüge der Bundeswehr, zum Beispiel dieÜbungsflüge für Bombenabwürfe in der WittstockerFreien Heide. Die Menschen wehren sich gegen denMißbrauch ihrer Landschaft, wie sie sich schon zuDDR-Zeiten dagegen gewehrt haben.Lassen Sie Ihrer Ankündigung, Bemühungen zurSchaffung atomwaffenfreier Zonen zu unterstützen,konkrete Schritte folgen in Richtung einer atomwaffen-freien Zone in Mitteleuropa.Ich finde auch, daß der Verzicht auf ABC-Waffen insGrundgesetz gehört.
Neue Gestaltungsräume in der Außenpolitik würdenauch die Kontrolle internationaler Währungs- undFinanzspekulationen eröffnen. Nachdenken sollten wirzum Beispiel auch über die Tobin-Steuer als marktge-rechtes Instrument zur Umsteuerung: weg von kurzfri-stigen Spekulationen hin zu investiven Kapitalanlagen,zur Produktion, zur Nachhaltigkeit und zur Entschul-dung der armen Länder.Ich fand es enttäuschend, daß der Bundeskanzler inseiner Regierungserklärung davon gesprochen hat, denAbwärtstrend der Entwicklungshilfe zu stoppen. Das istzuwenig. Diesen Abwärtstrend muß man nicht nur stop-pen, sondern man muß ihn umdrehen, damit man end-lich Ergebnisse erhält, die insgesamt akzeptabel sind.
In der Kosovo-Frage – unabhängig davon, daß wirprinzipiell gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr sindund bleiben – erwarten wir im Moment nicht mehr undnicht weniger von der Regierungskoalition, als daß sieihre eigene Koalitionsvereinbarung so ernst nimmt, wiewir sie ernst nehmen wollen.Ich darf aus der Koalitionsvereinbarung zitieren,wenn das auch zu Lasten meiner Redezeit geht:Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnah-men zur Wahrung des Weltfriedens und der inter-nationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völ-kerrechts und des deutschen Verfassungsrechts ge-bunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktivdafür einsetzen, das Gewaltmonopol der VereintenNationen zu bewahren und die Rolle des General-sekretärs der Vereinten Nationen zu stärken.Der Beschluß des 13. Deutschen Bundestages zumNATO-Kosovo-Einsatz, Ihre Zustimmung zur Selbst-mandatierung der NATO, verstößt aus unserer Sichteindeutig gegen das Völkerrecht, verletzt eindeutig dasVerfassungsrecht unseres Landes und hat das Gewalt-monopol der UNO ausgehebelt. Es ist zumindest um-stritten, ob die UN-Resolution zur Stationierung vonAufklärungskontingenten das völkerrechtlich abdeckt.Auf alle Fälle sind es Einsätze im Rahmen der NATO.In der nächsten Woche werden Sie von uns verlangen,Kampfeinheiten in Mazedonien zu stationieren.
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Danke sehr.
Die Entsendung nichtmilitärischer OSZE-Kontin-
gente haben wir begrüßt. Dieser Einsatz wird aber ent-
wertet, wenn die NATO als militärisch dominante Kraft
die Fäden zieht.
Diesem falschen Weg verweigern wir unsere Zu-
stimmung. Ihn werden wir nicht mitgehen, auch wenn
die Einladung vom Kollegen Scharping, mitzumachen,
einfach und freundlich gewesen ist.
Herzlichen Dank.
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis
90/Die Grünen.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vertei-digungsminister Scharping hat vorhin in einer sehr um-fassenden Rede vergessen, den letzten Satz zu sagen.Man könnte ihn bezeichnend zusammenfassen: Deut-sche Politik ist Friedenspolitik.Genau dieser Satz steht auch in den Koalitionsverein-barungen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD. MitVerlaub, Herr Rühe: Daß Sie das nicht nachvollziehenkönnen, Sie, der mit Rambo-Methoden die Bundeswehrüber Jahre für sich selbst instrumentalisiert hat, oder die-sem Ansatz intellektuell vielleicht nicht folgen können,erstaunt mich nicht.Die neue Bundesregierung wird in der Außen- undSicherheitspolitik neue Wege beschreiten. Wir habenfestgelegt, daß dies im Rahmen der internationalen Ver-träge und der transatlantischen und europäischen Inte-Wolfgang Gehrcke
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gration geschehen wird, daß wir Kontinuität auch in derAußenpolitik als die Grundlage für Wandel betrachten.Kontinuität – ich weiß, dieses Wort ist heute oft gefal-len, aber ich werde es noch einmal erwähnen.Was heißt Kontinuität für diese neue Regierung?Kontinuität heißt für uns: Wir werden keine nationalenAlleingänge vornehmen, sondern weiter auf Integrationund Kooperation setzen. Kontinuität heißt auch: Wirsind für feste Verankerung des internationalen Gewalt-monopols bei den Vereinten Nationen. Wir werden unsunter Anerkennung der gültigen NATO-Verträge sehrstrittig in die Diskussion um die Veränderung derNATO-Strategie einmischen und einer generellen Klau-sel zur Selbstmandatierung der NATO nicht das Wortreden wie Sie, Herr Rühe, sondern versuchen, dieseUmorientierung der NATO anders zu bewegen.Wir werden in der Kontinuität eine konsequente Si-cherheits- und Friedenspolitik für Europa unter der Ma-xime „OSZE first“ praktizieren, nicht mehr nur als Lip-penbekenntnis, sondern in der Praxis.Ich will aber auch sagen, was Kontinuität der Außen-und Sicherheitspolitik für uns nicht bedeutet. Sie be-deutet nicht die Fortsetzung des Denk- und Diskussions-verbotes, das der ehemalige Bundesminister der Vertei-digung erlassen hat. Sie bedeutet nicht, jahrelange Men-schenrechtsverletzung von diktatorischen Regimen mitzugekniffenen Augen geschehen zu lassen, sondern be-deutet, eine präventive Krisenbewältigungspolitik zuentwickeln und dort zu implementieren, wo die Würdeder Menschen verletzt wird.Kontinuität heißt auch nicht, weiterhin Rüstungsex-porte in Länder zuzulassen, die krisengeplagt sind, dieMenschenrechte mit Füßen treten. Wir werden zukünftigvielmehr auf der Grundlage des Menschenrechtsstan-dards unsere Rüstungsexporte bewerten bzw. einschrän-ken und einstellen.
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Ja,
bitte.
Frau Kollegin Beer, da
Sie von Kontinuität sprechen, darf ich fragen – vielleicht
kommt es noch in Ihrer Rede –, ob Sie in Ihrer eigenen
Politik ebenfalls Kontinuität haben werden, zum Bei-
spiel in Ihrer Kritik an den öffentlichen Gelöbnisfeiern
wie in Kiel. Ich darf mit meiner Frage das verbinden,
was in den „Kieler Nachrichten“ stand. Ich wäre Ihnen
für eine Auskunft dankbar, ob es erstens stimmt, was die
„Kieler Nachrichten“ zur öffentlichen Gelöbnisfeier in
Kiel und Ihren Aussagen dazu geschrieben haben, und
ob Sie zweitens als Mitglieder einer der die Regie-
rungskoalition tragenden Fraktionen dabei bleiben wer-
den.
Die „Kieler Nachrichten“ schreiben:
. . . Angelika Beer sprach von einer „aggressiven
militärischen Demonstration“, für die „öffentlicher
Raum beschlagnahmt wird.“ Gemeinsam mit dem
Bündnis der Gelöbnisgegner sprach sie sich für
Störungen der Feier aus . . .
Werden Sie das auch zukünftig machen?
Jetzthaben Sie mich echt erwischt.
Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Das gehört zu demBereich, zu dem ich sage: Kontinuität werden wir in die-ser Form nicht weiterführen.Die Instrumentalisierung der Bundeswehr, auf demRücken der Rekruten Wahlkampf zu machen, mitZwang und politischem Druck in diversen Städten inden Wahlmonaten öffentliche Gelöbnisse abzuhalten –ich rede auch zu Ihnen, Herr Kollege Rühe –, diese Zeitder Kontinuität ist beendet. Wir werden keinen Wahl-kampf mit der Bundeswehr machen, sondern wir werdendie Bundeswehr in einen Dialog einbeziehen.Wir werden kritische Stimmen aus der Bundeswehrunterstützen, daß man sich mißbraucht fühle, nicht nurdurch jene Art der öffentlichen Gelöbnisse, wie zumBeispiel in Kiel oder in Berlin, sondern auch durch diePlakatierung von Soldaten im Wahlkampf, mit der alleanderen demokratischen Parteien aus der Friedenspolitikausgegrenzt werden. Dieser Art werden wir auch zu-künftig Proteste entgegenstellen, wie immer friedlichund phantasievoll. Ich kann Sie beruhigen: Unter diesemVerteidigungsminister wird das Szenario Ihres KollegenRühe mit Sicherheit nicht Wirklichkeit werden. Hierzuwird es nur kommen, wenn es sicherheitspolitisch undals Signal in der Außenpolitik einen Sinn macht, abernicht, um die eigene politische Karriere zu formulieren.Das hat der Kollege Scharping nicht nötig.
Ich möchte noch einmal auf die Frage der Rüstungs-exporte zurückkommen. Herr Gehrcke, Sie haben dieTürkei genannt und gefragt: Wann wird die Koalitiongegen die Türkei die Menschenrechte der Kurden durch-setzen? Ich glaube, es ist falsch, zu sagen: „gegen dieTürkei“. Wir müssen mit der türkischen Bevölkerungdie Anerkennung der Menschenrechte der kurdischenBevölkerung durchsetzen. Dazu gehört es natürlich, demtürkischen Militär nicht weiter militärische Güter undWaffen zur Verfügung zu stellen, dazu gehört auch einekritische Positionierung nicht nur zur Einhaltung derMenschenrechte und zur engeren Kooperation mit derEuropäischen Union, sondern dazu gehört es auch, diezivile Kontrolle über das türkische Militär durchzuset-zen. Denn nur dann werden die Rechte des kurdischenVolkes Anerkennung finden.Angelika Beer
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Ich möchte noch zwei Bereiche ansprechen, die wirfür unabdingbar halten und die ein Zeichen setzen fürdie zukünftige Sicherheits- und Außenpolitik.Erstens möchte ich sagen: Wir stehen vor einer glo-balen Herausforderung hinsichtlich der Abrüstung. Wiekann zum Beispiel das KSE-Regime weiterentwickeltwerden? Welche Anstöße braucht der stagnierende ato-mare Abrüstungsprozeß gerade angesichts der Ver-handlungen vor den Vereinten Nationen? Wie kann er-reicht werden, daß wir endlich international zu einemVerbot aller Landminen kommen? Wie können wir die-sen Prozeß weiterentwickeln und international tragfähigmachen? Wie reagieren wir auf die Herausforderungender neuen technologischen Entwicklungen in bezug aufdie Dual-use-Problematik und die Früherkennung vonmöglichen Rüstungswettläufen? Wie also können wirpräventive Rüstungskontrolle zum Bestandteil aktiverPolitik machen?Dies sind die zentralen Bereiche und Herausforde-rungen. Wir werden die Praxis und unsere Verantwor-tung daran messen. Wir werden – das haben wir unsgemeinsam vorgenommen – dieser Herausforderung mitoffenem Gesicht entgegengehen.Der zweite Bereich sind die zivile Konfliktbearbei-tung – Kollege Scharping hat dies bereits genannt – unddie Frage des Aufbaues der Krisenprävention. Es istdas erste Mal, daß sich Deutschland an Peace-keepingund an Peace-building beteiligen wird. Wir werden„Schüler helfen leben“, zivile Friedensdienste fördern,um eben, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist, zuzeigen, daß wir aufmerksam sind, daß wir reagieren, daßwir agieren, daß wir international intervenieren, unter-halb der militärischen Schwelle. Das ist doch das Defizitder Politik gewesen, die Sie, Herr Rühe, in den letztenJahren mitzuverantworten hatten.Zum Schluß möchte ich auf den Kosovo eingehen.Der Kosovo hat uns hier schon mehrmals beschäftigt,allerdings viel zu spät. Die Opposition – SPD wie Grü-ne – hat vor zehn Jahren die ersten Anträge eingebracht,um auf die massivsten Menschenrechtsverletzungen imKosovo hinzuweisen.Während der Dayton-Verhandlungen hat die damaligeOpposition darauf hingewiesen, daß im Kosovo ein ge-fährlicher Konfliktherd entsteht. Es gab nichts als Arro-ganz und einen Aktenzerreißer auf der Hardthöhe, dergesagt hat: Interessiert uns nicht.Der letzte Beschluß zum Kosovo war ein Bruch inder Kontinuität der bisherigen Außenpolitik, weil ernicht auf eindeutiger Grundlage der Vereinten Nationengefaßt worden ist. Aber ich sage auch – das sage ichauch als Vertreterin der Grünen-Fraktion –: Wir werdenwohlwissend um die Defizite der Vergangenheit heutedie Verantwortung übernehmen. Es werden weder diedort lebenden Menschen noch jene, die im Rahmen derOSZE dort eingesetzt werden, für eine unverantwortli-che Politik zu büßen haben, die die bisherige Regierungzu verantworten hat.
Wir werden dem Abkommen, das heißt der OSZE-Delegation und der Luftüberwachung, zustimmen, mehrnoch: Wir werden uns dafür einsetzen, daß Mittel freige-stellt werden, damit wir im Rahmen des Open-Skies-Vertrages wieder eine Tupolew oder ein anderes Flug-zeug einsetzen können, um im präventiven Bereich eineaktive OSZE-Politik zu betreiben. Sie, Herr Rühe, habendas Geld dafür verweigert.Wir werden auch einem Mandat für einen militäri-schen Einsatz zustimmen, den wir hoffentlich verhin-dern können; denn wenn wir mutige Zivilisten haben,die sagen, daß sie ohne Waffen in diese Region hinein-gehen, wo auch heute noch jeden Tag Auseinanderset-zungen stattfinden, dann haben Sie das Recht und wirdie Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Menschen, wennMilosevic oder andere wieder ihr Wort brechen, gerettetwerden. Das ist die Verantwortung, vor der wir stehen.Deswegen werden wir dem Einsatz auch zustimmen.
Zum Ende noch eine Bemerkung, Herr Kollege Rühe.Ich will nicht zuviel Zeit auf Ihre Beiträge, die heute re-lativ substanzlos waren, verwenden. Sie werden es nichtschaffen, die neue Koalition in der Frage der Kommissi-on, die die Zukunft der Bundeswehr, die politischenAufgaben, die Struktur und die Ausrüstung für das21. Jahrhundert bestimmen wird, zu spalten. Wir werdenein Ergebnis haben, auch wenn das Ergebnis heute offenist. Das Ergebnis wird das sein, was Sie immer verhin-dert haben: Es wird darin bestehen, daß der Bundeswehreine Struktur und ein Auftrag gegeben werden, die nichtnur vom Verteidigungsminister, sondern auch von derBundeswehr selber, von dem Parlament, also von derPolitik, und von der Gesellschaft getragen werden; dennnur so können wir auf die Herausforderungen des21. Jahrhunderts eine verläßliche Antwort geben. Darumwerden wir uns gemeinsam bemühen. Da können Siequerschlagen, wie Sie wollen. Diese Zeiten sind vorbei.
Das
Wort hat der Kollege Gernot Erler von der SPD.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! In der Debatte war mehrfachvon dem Grundkonsens in der Außen- und Sicher-heitspolitik die Rede. Ich möchte eines hier klarstellen:Man kann sich mit der Interpretation von verschiedenenTeilen des Hauses nicht einverstanden erklären, daßein solcher Grundkonsens etwa signalisiere, daß es einerneuen Regierung an Innovation und an Ideen mangeleoder daß sie pauschal alles, was bisher gewesen ist, gut-heiße.Aus meiner Sicht ist ein möglichst breiter Grundkon-ses in der Außen- und Sicherheitspolitik ein Signum ei-nes zivilisierten, demokratischen Staatswesens.
Angelika Beer
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Es lohnt sich, auf jeden Fall große Anstrengungen zuunternehmen, um daran festzuhalten. Ich will einesgleich anfügen: Das Bemühen um diesen Grundkonsensist wesentlich auch Aufgabe der Opposition. Darum ha-ben wir uns in den letzten Jahren in der Opposition be-müht. Es gibt jetzt auch eine Bringschuld von Ihnen,sich um diesen Grundkonsens zu bemühen.
Kontinuität besteht nicht nur in der Arbeit um Ver-trauen im Ausland; vielmehr gibt es auch Spielräume– auch das steht in der Koalitionsvereinbarung – in derKontinuität für neue Initiativen und für neue Impulse.Ich möchte hier drei Felder nennen, die mir sehrwichtig erscheinen: Das erste ist das, was ich den ge-samteuropäischen Integrationsprozeß nennen möchte,bestehend aus dem Erweiterungsprozeß der Europäi-schen Union und dem der westlichen Allianz, derNATO. Was noch nicht alle genügend gespürt haben, soglaube ich, ist, daß 1998 in dem gesamteuropäischenIntegrationsprozeß eine neue Phase begonnen hat. Defi-nitiv geht eine Phase zu Ende, in der es möglich undauch üblich war, in die Hauptstädte der Transformati-onsstaaten zu fahren und dort wohlwollende Bekennt-nisse abzugeben. Dadurch konnte man sehr preiswertZustimmung und populäre Erfolge erringen, aber ohneeine dahinterstehende Substanz. Diese Phase geht defi-nitiv zu Ende, denn seit mehreren Monaten läuft dieVorverhandlungsphase. Jetzt – buchstäblich heute – be-ginnt offiziell die Verhandlungsphase gleich zu solchwichtigen Themen wie Telekommunikation, Bildung,Wissenschaft, Forschung, Industriepolitik und anderem,insgesamt zu sieben verschiedenen Kapiteln.Ende letzter Woche sind uns die ersten der soge-nannten Fortschrittsberichte der EuropäischenKommission vorgelegt worden. Das heißt, jetzt wird dieFrage der Anpassungsleistung der Transformationsstaa-ten objektiviert. Das ist eine neue Phase, denn jetzt wirddas konkret gemessen, was man Strukturreife nennt. Dasist eine immense Arbeit dieser Transformationsstaaten,die, was ihre marktwirtschaftliche Reife angeht, ord-nungspolitische Kriterien vorweisen müssen, die zeigenmüssen, ob sie es schon geschafft haben, die 200 000Seiten Text der Rechtsangleichung mit mehr als 14 000Rechtsakten übernommen und an ihre Gesellschaft an-gepaßt zu haben, und die zeigen müssen, ob sie gesamt-wirtschaftliche und monetäre Stabilität haben – sogar inRichtung der Maastricht-Kriterien.Diese Fortschrittsberichte zeigen erhebliche Fort-schritte der betroffenen Länder, aber eben auch erhebli-che Entwicklungsrückstände, die sehr ernst zu nehmensind. Dazu nur eine Zahl: Die fünf in der ersten Reihestehenden mittel- und osteuropäischen Staaten, mit de-nen jetzt konkret verhandelt wird, bringen bisher mit180 Milliarden Ecu 2,8 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts der Europäischen Union auf. Sie stellen abergleichzeitig 62,6 Millionen Menschen und damit16,8 Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union.In diesen Zahlen liegt eine enorme Spannung, denndarin spiegelt sich der riesige Abstand des Lebens-niveaus, das sich aus Pro-Kopf-Einkommen und Kauf-kraft definiert. Noch immer liegen alle Beitrittsaspiran-ten aus Mittel- und Osteuropa weit hinter den schwäch-sten Mitgliedern der Europäischen Union. Estland zumBeispiel, ein vielgelobtes Reformland, erreicht nichtmehr als 22 Prozent des Durchschnittsniveaus der EU,Slowenien nicht mehr als 59 Prozent. Das heißt, daß einAufholen dieser Einkommensrückstände notwendig undwichtig ist, weil in der EU bis heute das Prinzip derStruktur- und Kohäsionsfonds gilt, das greifen muß,wenn die Abstände bei Regionen weniger als 75 Pro-zent, bei Ländern sogar weniger als 90 Prozent betragen.In den letzten beiden Jahren wurden für diese Fondsdurchschnittlich 35 Milliarden Ecu aufgewandt. Man hatausgerechnet, daß, wenn heute die erste, die fortge-schrittene Gruppe, mit der im Moment verhandelt wird,der EU beitreten würde, Ausgleichszahlungen von 20bis 45 Milliarden Ecu notwendig wären. Das ist eineVerdoppelung dieses Etats – völlig unrealistisch undpolitisch auch gar nicht durchsetzbar.Das heißt, wir haben eine neue Phase. Denn jetzt gehtes darum, zu fragen: Wie greifen die konkreten Anpas-sungshilfen, zum Beispiel die aus dem Heranfüh-rungstopf von 22 Milliarden Ecu? Was tun wir dennkonkret, um in der sogenannten Beitrittspartnerschaftauch in der zweiten Fünfergruppe die Anpassung mit dersogenannten Aufholfazilität zu unterstützen, die schonviel bescheidener ist, nämlich 100 Millionen Ecu fürzwei Jahre? Man hört leider, daß sich diese Programmetrotz dieser Bemühungen verzögern. Da habe ich eineandere Auffassung als Sie, Herr Rühe. Ich glaube nicht,daß man Herrn Fischer raten sollte, mit neuen, erfunde-nen Beitrittszahlen zu operieren. Diese Zeit geht zu En-de. Statt gebetsmühlenhaft abstrakte Unterstützung zuversichern und dafür kostenlos Beifall einzuheimsen,müssen wir jetzt zeigen, daß wir bereit sind, die Ärmelin der Europäischen Union aufzukrempeln, um die Län-der auf diesem schwierigen Weg zu Gleichrangigkeitund vor allen Dingen Wettbewerbsfähigkeit konkret zuunterstützen. Das – nicht die abstrakte Nennung vonBeitrittsdaten – ist die Herausforderung des Tages.
Dazu gehört übrigens auch, daß endlich – dazu mußdie Bundesrepublik einen konkreten Beitrag leisten – dieHausaufgaben der Europäischen Union gemacht werden.Es ist noch gar nicht erreicht, daß wir selber, die 15, tat-sächlich integrationsfähig sind. Hier muß noch vieles inden Entscheidungsgremien geändert werden. Zum Bei-spiel muß der ganze Bereich des Agrarmarkts geändertund reformiert werden; sonst besteht dort keinerlei Inte-grationsfähigkeit. Das Ziel muß dabei sein, daß neueGrenzziehungen durch Europa verhindert werden. DerAbstand im Geleitzug bei der europäischen Integrationdarf nicht zu groß werden. Die Warnsignale aus Südost-europa teilen uns mit, wie wichtig das ist.Ein zweiter Punkt, wo neue Impulse notwendig sind:Ich glaube, wir müssen unsere Politik gegenüber derRussischen Föderation kritisch überprüfen. Die Bezie-hungen müssen eine breitere Grundlage bekommen. Dassagen uns auch viele Fachleute. Ich will hier nicht diealte Frage aufwerfen, wie wichtig ganz persönliche Be-Gernot Erler
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ziehungen zwischen zwei ganz wichtigen Personen wa-ren und sind. Sie hatten sehr positive Seiten. Aber jetztist es an der Zeit, die Beziehungen zu diesem wichtigenNachbarn auf eine andere, auf eine breitere Grundlagezu stellen.
Wir müssen die Stimmen derjenigen, die aus derStaatsduma und aus dem Föderationsrat kommen, auf-greifen, die sagen, daß sie gerne engere Beziehungenmit dem Deutschen Bundestag, vor allen Dingen auf derfachlichen Ebene, haben wollen. Wir müssen auch zurKenntnis nehmen, daß es heute ganz andere wirtschaftli-che und gesellschaftliche Kräfte mit großem Einfluß ineinem sich ändernden politischen System in Rußlandgibt, die uns herausfordern. Wir müssen aber auch diePolitik der internationalen Finanzorganisationen, vonIWF und Weltbank, auf ihren Sinn und ihre Wirksam-keit überprüfen. Da erscheinen gerade in diesem Jahrgroße Fragezeichen.Es gibt – auch das ist etwas, was wir als Regierung inder neuen Legislaturperiode übernommen haben – eineBaustelle, was die Erfüllung der sehr wichtigen NATO-Rußland-Grundakte angeht. Es gibt einen positivenAspekt: Die Zusammenarbeit in dem Ständigen Ge-meinsamen Rat funktioniert gut. Aber in der Akte standauch etwas über KSE und über eine neue Rolle der OS-ZE. Gerade das ist noch nicht erfüllt. Es handelt sichum ein dickes Paket von innovativen Aufgaben inder Außen- und Sicherheitspolitik für die nächstenJahre.Ich komme zu einem dritten Punkt, den man unterdem Stichwort „präventive Friedenspolitik“ zusam-menfassen kann. Ich sage noch einmal: Das, was inSüdosteuropa, was in Albanien, was jetzt im Kosovopassiert, zeigt eben leider, daß die Instrumente, die wirhier geschaffen haben, noch nicht ausreichen. Abrüstungist auch heute noch kein Thema von gestern. Die Atom-waffentests in Indien und Pakistan waren für uns eineWarnung, daß Nichtverbreitungsziele und die Eigenver-pflichtung zu Abrüstung der offiziellen Atommächtesiamesische Zwillinge sind und daß man dies gar nichtunabhängig voneinander behandeln kann.Es ist auch klar – das ist wichtig –, daß die Rüstungs-kontrolle und die Rüstungsexportpolitik einer strengenKontrolle dieses Parlaments bedürfen. Ich kann die Aus-sage in der Koalitionsvereinbarung nur begrüßen, daßein Instrument, mit dem wir bei der Abrüstung gute Er-fahrung gemacht haben, nämlich der Jahresabrüstungs-bericht, jetzt auch durch einen jährlichen Rüstungsex-portbericht ergänzt werden soll.Ich persönlich bin ein bißchen besorgt. Es ist gut, daßdie NATO jetzt in der Kosovo-Krise innerhalb von we-nigen Wochen die Fähigkeit demonstriert hat, eineglaubwürdige Bedrohung gegenüber Herrn Milosevicaufzubauen, bis hin zur Einsatzfähigkeit von 450Kampfflugzeugen. Das hat nur wenige Wochen gedau-ert. Es ist gut, daß es diese Möglichkeit gibt. Aber derzweite Teil, den auch Sie, Herr Rühe, und andere hierangeführt haben und den auch Rudolf Scharping, derVerteidigungsminister, sehr ausführlich beschrieben hat,ist genauso wichtig. Es geht zum Beispiel um die Fähig-keit, die Einhaltung dieser Verträge zu beobachten undzu kontrollieren. Da stellen wir eben fest, daß die OSZEoffensichtlich nicht die Möglichkeit hat, in kürzesterFrist eine bescheidenere Aufgabe wahrzunehmen, näm-lich 2 000 Beobachter in Gang zu setzen. Hier wird alsodeutlich, daß wir die Fähigkeit der Organisation für Si-cherheit und Zusammenarbeit in Europa, solche Aufga-ben tatsächlich wahrzunehmen, bis hin zu den Instru-menten ausbauen müssen. Nur die Kombination dieserbeiden Elemente führt schließlich zum Erfolg.
Hinsichtlich der Entwicklungszusammenarbeit, liebeKolleginnen und Kollegen, kann ich mich kurz fassen,weil Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul schon eini-ges dazu gesagt hat. Bei der Entwicklungszusammenar-beit handelt es sich, sehen wir einmal von der Soforthil-fe ab, die in diesen Tagen wieder erforderlich wird,letztlich auch um die wirksamste globale präventiveFriedenspolitik.
Die Koalitionsvereinbarung bekennt sich – das betoneich noch einmal ausdrücklich auch in Richtung vonHerrn Gehrcke, der hier Zweifel geäußert hat – zu demZiel, den Aufwand für die Entwicklungszusammenarbeitauf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben,und verspricht, die Verpflichtungsermächtigung konti-nuierlich zu erhöhen. Wir werden als Bundestag daraufachten, daß das auch so durchgesetzt wird.Entscheidend ist, daß die Entwicklungszusammenar-beit nicht eine Art Wettbewerbsinstrument für bessereAußenwirtschaftsdaten der Bundesrepublik ist, sondernwirklich in den Kontext der Bildung einer gerechtenWeltwirtschaftsordnung gesetzt wird. Die Lehre derGlobalisierung heute heißt, daß es keine Inseln von Pro-sperität und Sicherheit mehr geben kann, sondern daßwir bei globalisierten Märkten davon abhängig sind, obGerechtigkeit überall herrscht oder nicht. Anderenfallsfällt die Ungerechtigkeit auf uns zurück: Wenn ganzeWeltregionen marginalisiert werden, dann ist auch beiuns Marginalisierung nicht mehr aufzuhalten. Es stellteine sehr große Herausforderung dar, diesen Zusam-menhang zu begreifen und in konkrete Politik umzuset-zen.Das sind nur drei Beispiele von gestalteter Kontinui-tät in der Außenpolitik.Auf dieser Seite des Hauses sitzen viele erfahreneLeute. Vorhin saß hier noch Herr Kinkel. Jetzt sitzt hiernoch Herr Rühe. Ich sehe auch noch andere kompetenteLeute, zum Beispiel den Kollegen Dr. Pflüger, mit demwir und ich persönlich sehr gut in Abrüstungsfragen zu-sammengearbeitet haben. Ich greife die Bemerkungenüber den Sinn eines Grundkonsenses in der Außen- undSicherheitspolitik auf: Wir bieten Ihnen an, dieseschwierigen Aufgaben gemeinsam anzunehmen, undwollen dabei auch sehr gerne von Ihren Erfahrungen undGernot Erler
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Kenntnissen profitieren und in diesem Sinne zusammen-arbeiten.Vielen Dank.
Als
letzter Redner hat der Kollege Rudolf Bindig von der
SPD das Wort.
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! In der Koalitionsvereinba-rung heißt es zum Thema Menschenrechtspolitik:Achtung und Verwirklichung der in der Allgemei-nen Erklärung der Menschenrechte proklamiertenund in den Menschenrechtsverträgen festgeschrie-benen Menschenrechte sind Leitlinien für die ge-samte internationale Politik der Bundesregierung.Ich freue mich, daß aus den Reden mehrerer Regie-rungsmitglieder heute bereits hervorgegangen ist, daßsie ihre Politik wirklich unter diese Leitlinie stellenwollen. Das gilt für den Außenminister, für den Vertei-digungsminister und auch für die Entwicklungsministe-rin.Menschenrechtsarbeit erfordert sicherlich zunächsteinmal Betroffenheit. Man muß sich darüber empörenkönnen, daß es Verfolgung und Unterdrückung gibt,aber auch darüber, daß es Armut und Not auf der Weltgibt. Der Satz, der heute hier schon mehrfach zitiertworden ist, gilt in besonderem Maße für die Menschen-rechte: Was du nicht willst, daß man dir tu‘, das füg‘auch keinem andern zu. Bei den Menschenrechtenmüßte es vielleicht besser heißen: Laß‘ nicht zu, daß an-dere gequält und unterdrückt werden, daß andere in Notund Elend leben müssen, denn so willst auch du nichtbehandelt werden.Aber Menschenrechtsarbeit darf nicht bei der Betrof-fenheit und der Kritik stehenbleiben. Menschenrechtsar-beit muß sich insbesondere darauf ausrichten, zu überle-gen, wo wir denn, wenn die Situation so schlecht ist, wiesie ist, Ansatzpunkte finden können, um etwas zu verän-dern und zu verbessern. Da müssen immer wieder neueInitiativen ergriffen werden.Zwei wichtige Neuerungen hat es im Zusammenhangmit der Bildung dieser Koalition gegeben, für die wirlange Jahre gearbeitet haben. Es wurde beschlossen, imDeutschen Bundestag einen ordentlichen Ausschuß fürMenschenrechte und humanitäre Hilfe einzusetzen.Damit wird deutlich, daß wir dem Menschenrechtsbe-reich wachsende Bedeutung zumessen. Bis 1987 sinddiese Fragen zusammen mit der Außenpolitik, mit derInnen- und bei Rechtspolitik diskutiert worden. Von1987 bis 1998 hat es einen Unterausschuß für Men-schenrechte und humanitäre Hilfe des Auswärtigen Aus-schusses gegeben. Jetzt richten wir diesen ordentlichenAusschuß ein.Wir haben damit diesen Bereich im Deutschen Bun-destag als einen eigenständigen Politikbereich etabliert;dennoch müssen hier Querschnittsaufgaben wahrge-nommen werden. Das ist wichtig. Das genaue Aufga-benfeld für diesen Ausschuß wird sich aus der prakti-schen Arbeit ergeben. Ich kann mir gut vorstellen, daß ersich mit Fragen der Weiterentwicklung der internatio-nalen und nationalen Instrumente des Menschenrechts-schutzes und der deutschen Menschenrechtspolitik immultilateralen und bilateralen Rahmen, mit den men-schenrechtsrelevanten Aspekten der Außen- und Sicher-heitspolitik, der Wirtschafts- und Außenwirtschaftspoli-tik sowie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aberauch mit den menschenrechtsrelevanten Aspekten derAsyl- und Flüchtlingspolitik und schließlich mit Fragender humanitären Hilfe beschäftigt.Eine zweite Maßnahme wurde beschlossen: Die Bun-desregierung soll die Einrichtung eines politisch unab-hängigen und organisatorisch eigenständigen Men-schenrechtsinstituts in Deutschland unterstützen. Diealte Mehrheit konnte sich dazu noch nicht durchringen.Sie wollte einen Koordinierungsrat gründen. Wir habendagegen gesagt, daß schon im Vorfeld, um eine bessereZuarbeit zu erhalten, ein Instrument geschaffen werdenmuß, welches mit den Nichtregierungsorganisationenzusammenarbeiten und Politikberatung vornehmenkann. Dieses wird jetzt geschaffen werden.
Eine operativ angelegte Menschenrechtspolitik ist un-serer Auffassung nach Ausdruck der Bereitschaft zurglobalen zivilen Verantwortung. Wir müssen die Men-schenrechtsfrage mit der Globalisierungsdebatte verbin-den. Menschenrechte sind das globale Ethos, nach demimmer gefragt wird. Was in der Allgemeinen Erklärungder Menschenrechte und in den internationalen Men-schenrechtspakten festgelegt ist, kann der Maßstab füreine wertorientierte Zielsetzung der gesamten interna-tionalen Friedenspolitik werden.Wichtig ist neben der Entwicklung der politischen In-strumente aber auch die Förderung der Verrechtlichungder Menschenrechte. Im System des Europarates ist hierein wichtiger Fortschritt erreicht worden. Ab Novemberarbeitet der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte als ständiger Gerichtshof mit hauptamtlichenRichtern. Die bisherige Mischung eines politisch admi-nistrativen Verfahrens mit einem rechtlichen Verfahrenweicht einem hauptsächlich rechtlichen Verfahren. Diesist ein Durchbruch im Völkerrecht.
Es ist wirklich ein historisches Ereignis gewesen, daßsich 40 Länder direkt und unmittelbar der Rechtspre-chung eines übernationalen Gerichtes unterwerfen.Bis es beim Internationalen Strafgerichtshof soweitist, wird es noch einige Zeit dauern. Hier geht es jetztdarum, die Ratifizierung voranzubringen. Wir werdenuns darum intensiv bemühen müssen. Wir wollen auchUN-Institutionen weiter stärken: den UN-Hochkommis-sar für Menschenrechte und das MenschenrechtszentrumGernot Erler
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in Genf. Hier geht es vor allen Dingen darum, Feld-operationen wie die Einrichtung von Menschenrechts-büros zu unterstützen. Im Rahmen des Europarates gehtes darum, das Mandat des Kommissars für Menschen-rechte zu definieren und festzuschreiben und dieseInstitution dann auch mit den ausreichenden Mitteln zuversehen. Es hat keinen Zweck, Einrichtungen im in-ternationalen Bereich zu schaffen, die dann dahinküm-mern müssen, weil sie nicht in der Lage sind, ent-sprechend zu arbeiten. Natürlich ist es wichtig, zuerstdas Instrument zu schaffen; wenn es dann aber da ist,bedarf es der Unterstützung. Wir hoffen, daß es gelingt,auch von Deutschland aus diese Unterstützung voran-zubringen.Wir hoffen, in den UN aus Anlaß des 50. Jahrestagesder Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eineResolution zum Schutz der Menschenrechtsverteidi-ger und der Menschenrechtsaktivisten zuwege zubringen. Es ist leicht, sich in einer Demokratie, in derman sicher lebt, für die Menschenrechte einzusetzen,aber ich respektiere immer ganz besonders diejenigen,die unter Einsatz ihres eigenen Lebens bereit sind, fürMenschenrechte und Demokratie zu kämpfen. Sie zuunterstützen und einen Schutzschirm aufzubauen ist einwichtiges Ziel.
Im operativen Bereich können wir sicherlich noch ei-niges tun, um dafür zu sorgen, daß wir dann, wenn dieinternationalen Organisationen – sei es die OSZE, derEuroparat oder die UN – Experten brauchen, die in dieLänder gehen, um Wahlbeobachtungen zu machen oderVerifizierungsaufgaben wahrzunehmen, auch Fachleutezur Verfügung stellen können. In Kanada gibt es einebemerkenswerte Einrichtung, die Personal zur Verfü-gung stellt: Canadem. Das ist ein Kunstwort aus „Cana-da“ und „democracy“. Vielleicht können wir etwasÄhnliches bei uns schaffen.Auch nach innen gerichtet wollen wir uns um dieMenschenrechte kümmern. Da gibt es noch einigeGrenzbereiche im Asyl- und Flüchtlingsbereich. Ichmöchte das Flughafenverfahren nennen. Ebenso solltenwir uns die Bereiche noch einmal genau ansehen, in de-nen Menschen, insbesondere Ausländer, in Gewahrsamsind.
Wir sollten auch überlegen und prüfen, ob es nichtMöglichkeiten gibt, im Zivildienst für Menschenrechtetätig zu werden. Eine weitere Aufgabe ist die Förderungder Menschenrechtserziehung in Deutschland.Es gibt also eine Menge zu tun. Einiges haben wir be-reits eingeleitet, anderes haben wir uns vorgenommen.Es ist ein anstrengendes und anspruchsvolles Programm.Wir werden uns gemeinsam bemühen, es umzusetzen.
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der
Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an der
NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo
auf Drucksache 14/16 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die
Überweisung beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 11. November
1998, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.