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ID1400305200

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/3 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 3. Sitzung Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 I n h a l t : Gedenkworte für die Opfer der Naturka- tastrophe in den vier mittelamerikanischen Staaten El Salvador, Honduras, Guatemala und Nicaragua ................................................ 47 A Begrüßung des Beauftragten der OSZE für Medienfreiheit, Herrn Freimut Duve.............. 67 C Begrüßung des neuen Direktors beim Deut- schen Bundestag, Dr. Peter Eickenboom ..... 67 C Verabschiedung des Direktors beim Deut- schen Bundestag, Dr. Rudolf Kabel ............. 67 C Tagesordnungspunkt 1: Regierungserklärung des Bundeskanz- lers mit anschließender Aussprache........... 47 C in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 2: Antrag der Bundesregierung Deutsche Beteiligung an der NATO- Luftüberwachungsoperation über den Kosovo (Drucksache 14/16)....................... 47 C Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 47 C Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 67 D Dr. Peter Struck SPD ....................................... 80 A Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN............................................. 85 D Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 91 A Dr. Gregor Gysi PDS....................................... 96 D Michael Glos CDU/CSU ................................. 102 B Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD ............ 102 D Hans-Peter Repnik CDU/CSU..................... 103 A Joseph Fischer, Bundesminister AA................ 107 C Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg...... 112 B Dr. Helmut Haussmann F.D.P. ........................ 115 B Volker Rühe CDU/CSU .................................. 116 C Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe- rin BMZ....................................................... 119 A Wolfgang Gehrcke PDS .................................. 121 C Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 122 D Jürgen Koppelin F.D.P.. .............................. 123 B Gernot Erler SPD............................................. 124 D Rudolf Bindig SPD.......................................... 127 A Nächste Sitzung ............................................... 128 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten .......... 129 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 47 (A) (C) (B) (D) 3. Sitzung Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Rudolf Bindig Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 129 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Carstensen (Nordstrand), Peter Harry CDU/CSU 10.11.98 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 10.11.98 Hartnagel, Anke SPD 10.11.98 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 10.11.98 Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 10.11.98 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 10.11.98 Reichard (Dresden), Christa CDU/CSU 10.11.98 Schulte (Hameln), Brigitte SPD 10.11.98 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.11.98 Vaatz, Arnold CDU/CSU 10.11.98 Verheugen, Günter SPD 10.11.98 130 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 (A) (C) (B) (D)
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Angelika Beer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Jetzt
    haben Sie mich echt erwischt.


    (Bundesminister Joseph Fischer: Angelika, Angelika!)


    Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Das gehört zu dem
    Bereich, zu dem ich sage: Kontinuität werden wir in die-
    ser Form nicht weiterführen.

    Die Instrumentalisierung der Bundeswehr, auf dem
    Rücken der Rekruten Wahlkampf zu machen, mit
    Zwang und politischem Druck in diversen Städten in
    den Wahlmonaten öffentliche Gelöbnisse abzuhalten –
    ich rede auch zu Ihnen, Herr Kollege Rühe –, diese Zeit
    der Kontinuität ist beendet. Wir werden keinen Wahl-
    kampf mit der Bundeswehr machen, sondern wir werden
    die Bundeswehr in einen Dialog einbeziehen.

    Wir werden kritische Stimmen aus der Bundeswehr
    unterstützen, daß man sich mißbraucht fühle, nicht nur
    durch jene Art der öffentlichen Gelöbnisse, wie zum
    Beispiel in Kiel oder in Berlin, sondern auch durch die
    Plakatierung von Soldaten im Wahlkampf, mit der alle
    anderen demokratischen Parteien aus der Friedenspolitik
    ausgegrenzt werden. Dieser Art werden wir auch zu-
    künftig Proteste entgegenstellen, wie immer friedlich
    und phantasievoll. Ich kann Sie beruhigen: Unter diesem
    Verteidigungsminister wird das Szenario Ihres Kollegen
    Rühe mit Sicherheit nicht Wirklichkeit werden. Hierzu
    wird es nur kommen, wenn es sicherheitspolitisch und
    als Signal in der Außenpolitik einen Sinn macht, aber
    nicht, um die eigene politische Karriere zu formulieren.
    Das hat der Kollege Scharping nicht nötig.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


    Ich möchte noch einmal auf die Frage der Rüstungs-
    exporte zurückkommen. Herr Gehrcke, Sie haben die
    Türkei genannt und gefragt: Wann wird die Koalition
    gegen die Türkei die Menschenrechte der Kurden durch-
    setzen? Ich glaube, es ist falsch, zu sagen: „gegen die
    Türkei“. Wir müssen mit der türkischen Bevölkerung
    die Anerkennung der Menschenrechte der kurdischen
    Bevölkerung durchsetzen. Dazu gehört es natürlich, dem
    türkischen Militär nicht weiter militärische Güter und
    Waffen zur Verfügung zu stellen, dazu gehört auch eine
    kritische Positionierung nicht nur zur Einhaltung der
    Menschenrechte und zur engeren Kooperation mit der
    Europäischen Union, sondern dazu gehört es auch, die
    zivile Kontrolle über das türkische Militär durchzuset-
    zen. Denn nur dann werden die Rechte des kurdischen
    Volkes Anerkennung finden.

    Angelika Beer






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Ich möchte noch zwei Bereiche ansprechen, die wir
    für unabdingbar halten und die ein Zeichen setzen für
    die zukünftige Sicherheits- und Außenpolitik.

    Erstens möchte ich sagen: Wir stehen vor einer glo-
    balen Herausforderung hinsichtlich der Abrüstung. Wie
    kann zum Beispiel das KSE-Regime weiterentwickelt
    werden? Welche Anstöße braucht der stagnierende ato-
    mare Abrüstungsprozeß gerade angesichts der Ver-
    handlungen vor den Vereinten Nationen? Wie kann er-
    reicht werden, daß wir endlich international zu einem
    Verbot aller Landminen kommen? Wie können wir die-
    sen Prozeß weiterentwickeln und international tragfähig
    machen? Wie reagieren wir auf die Herausforderungen
    der neuen technologischen Entwicklungen in bezug auf
    die Dual-use-Problematik und die Früherkennung von
    möglichen Rüstungswettläufen? Wie also können wir
    präventive Rüstungskontrolle zum Bestandteil aktiver
    Politik machen?

    Dies sind die zentralen Bereiche und Herausforde-
    rungen. Wir werden die Praxis und unsere Verantwor-
    tung daran messen. Wir werden – das haben wir uns
    gemeinsam vorgenommen – dieser Herausforderung mit
    offenem Gesicht entgegengehen.

    Der zweite Bereich sind die zivile Konfliktbearbei-
    tung – Kollege Scharping hat dies bereits genannt – und
    die Frage des Aufbaues der Krisenprävention. Es ist
    das erste Mal, daß sich Deutschland an Peace-keeping
    und an Peace-building beteiligen wird. Wir werden
    „Schüler helfen leben“, zivile Friedensdienste fördern,
    um eben, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist, zu
    zeigen, daß wir aufmerksam sind, daß wir reagieren, daß
    wir agieren, daß wir international intervenieren, unter-
    halb der militärischen Schwelle. Das ist doch das Defizit
    der Politik gewesen, die Sie, Herr Rühe, in den letzten
    Jahren mitzuverantworten hatten.

    Zum Schluß möchte ich auf den Kosovo eingehen.
    Der Kosovo hat uns hier schon mehrmals beschäftigt,
    allerdings viel zu spät. Die Opposition – SPD wie Grü-
    ne – hat vor zehn Jahren die ersten Anträge eingebracht,
    um auf die massivsten Menschenrechtsverletzungen im
    Kosovo hinzuweisen.
    Während der Dayton-Verhandlungen hat die damalige
    Opposition darauf hingewiesen, daß im Kosovo ein ge-
    fährlicher Konfliktherd entsteht. Es gab nichts als Arro-
    ganz und einen Aktenzerreißer auf der Hardthöhe, der
    gesagt hat: Interessiert uns nicht.

    Der letzte Beschluß zum Kosovo war ein Bruch in
    der Kontinuität der bisherigen Außenpolitik, weil er
    nicht auf eindeutiger Grundlage der Vereinten Nationen
    gefaßt worden ist. Aber ich sage auch – das sage ich
    auch als Vertreterin der Grünen-Fraktion –: Wir werden
    wohlwissend um die Defizite der Vergangenheit heute
    die Verantwortung übernehmen. Es werden weder die
    dort lebenden Menschen noch jene, die im Rahmen der
    OSZE dort eingesetzt werden, für eine unverantwortli-
    che Politik zu büßen haben, die die bisherige Regierung
    zu verantworten hat.


    (Walter Hirche [F.D.P.]: Absolut alberner Quatsch!)


    Wir werden dem Abkommen, das heißt der OSZE-
    Delegation und der Luftüberwachung, zustimmen, mehr
    noch: Wir werden uns dafür einsetzen, daß Mittel freige-
    stellt werden, damit wir im Rahmen des Open-Skies-
    Vertrages wieder eine Tupolew oder ein anderes Flug-
    zeug einsetzen können, um im präventiven Bereich eine
    aktive OSZE-Politik zu betreiben. Sie, Herr Rühe, haben
    das Geld dafür verweigert.

    Wir werden auch einem Mandat für einen militäri-
    schen Einsatz zustimmen, den wir hoffentlich verhin-
    dern können; denn wenn wir mutige Zivilisten haben,
    die sagen, daß sie ohne Waffen in diese Region hinein-
    gehen, wo auch heute noch jeden Tag Auseinanderset-
    zungen stattfinden, dann haben Sie das Recht und wir
    die Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Menschen, wenn
    Milosevic oder andere wieder ihr Wort brechen, gerettet
    werden. Das ist die Verantwortung, vor der wir stehen.
    Deswegen werden wir dem Einsatz auch zustimmen.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Zum Ende noch eine Bemerkung, Herr Kollege Rühe.

    Ich will nicht zuviel Zeit auf Ihre Beiträge, die heute re-
    lativ substanzlos waren, verwenden. Sie werden es nicht
    schaffen, die neue Koalition in der Frage der Kommissi-
    on, die die Zukunft der Bundeswehr, die politischen
    Aufgaben, die Struktur und die Ausrüstung für das
    21. Jahrhundert bestimmen wird, zu spalten. Wir werden
    ein Ergebnis haben, auch wenn das Ergebnis heute offen
    ist. Das Ergebnis wird das sein, was Sie immer verhin-
    dert haben: Es wird darin bestehen, daß der Bundeswehr
    eine Struktur und ein Auftrag gegeben werden, die nicht
    nur vom Verteidigungsminister, sondern auch von der
    Bundeswehr selber, von dem Parlament, also von der
    Politik, und von der Gesellschaft getragen werden; denn
    nur so können wir auf die Herausforderungen des
    21. Jahrhunderts eine verläßliche Antwort geben. Darum
    werden wir uns gemeinsam bemühen. Da können Sie
    querschlagen, wie Sie wollen. Diese Zeiten sind vorbei.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)




Rede von Dr. Hermann Otto Solms
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das
Wort hat der Kollege Gernot Erler von der SPD.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. h.c. Gernot Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr ver-
    ehrten Damen und Herren! In der Debatte war mehrfach
    von dem Grundkonsens in der Außen- und Sicher-
    heitspolitik die Rede. Ich möchte eines hier klarstellen:
    Man kann sich mit der Interpretation von verschiedenen
    Teilen des Hauses nicht einverstanden erklären, daß
    ein solcher Grundkonsens etwa signalisiere, daß es einer
    neuen Regierung an Innovation und an Ideen mangele
    oder daß sie pauschal alles, was bisher gewesen ist, gut-
    heiße.

    Aus meiner Sicht ist ein möglichst breiter Grundkon-
    ses in der Außen- und Sicherheitspolitik ein Signum ei-
    nes zivilisierten, demokratischen Staatswesens.


    (Beifall bei der SPD)


    Angelika Beer






    (A) (C)



    (B) (D)


    Es lohnt sich, auf jeden Fall große Anstrengungen zu
    unternehmen, um daran festzuhalten. Ich will eines
    gleich anfügen: Das Bemühen um diesen Grundkonsens
    ist wesentlich auch Aufgabe der Opposition. Darum ha-
    ben wir uns in den letzten Jahren in der Opposition be-
    müht. Es gibt jetzt auch eine Bringschuld von Ihnen,
    sich um diesen Grundkonsens zu bemühen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Kontinuität besteht nicht nur in der Arbeit um Ver-

    trauen im Ausland; vielmehr gibt es auch Spielräume
    – auch das steht in der Koalitionsvereinbarung – in der
    Kontinuität für neue Initiativen und für neue Impulse.

    Ich möchte hier drei Felder nennen, die mir sehr
    wichtig erscheinen: Das erste ist das, was ich den ge-
    samteuropäischen Integrationsprozeß nennen möchte,
    bestehend aus dem Erweiterungsprozeß der Europäi-
    schen Union und dem der westlichen Allianz, der
    NATO. Was noch nicht alle genügend gespürt haben, so
    glaube ich, ist, daß 1998 in dem gesamteuropäischen
    Integrationsprozeß eine neue Phase begonnen hat. Defi-
    nitiv geht eine Phase zu Ende, in der es möglich und
    auch üblich war, in die Hauptstädte der Transformati-
    onsstaaten zu fahren und dort wohlwollende Bekennt-
    nisse abzugeben. Dadurch konnte man sehr preiswert
    Zustimmung und populäre Erfolge erringen, aber ohne
    eine dahinterstehende Substanz. Diese Phase geht defi-
    nitiv zu Ende, denn seit mehreren Monaten läuft die
    Vorverhandlungsphase. Jetzt – buchstäblich heute – be-
    ginnt offiziell die Verhandlungsphase gleich zu solch
    wichtigen Themen wie Telekommunikation, Bildung,
    Wissenschaft, Forschung, Industriepolitik und anderem,
    insgesamt zu sieben verschiedenen Kapiteln.

    Ende letzter Woche sind uns die ersten der soge-
    nannten Fortschrittsberichte der Europäischen
    Kommission vorgelegt worden. Das heißt, jetzt wird die
    Frage der Anpassungsleistung der Transformationsstaa-
    ten objektiviert. Das ist eine neue Phase, denn jetzt wird
    das konkret gemessen, was man Strukturreife nennt. Das
    ist eine immense Arbeit dieser Transformationsstaaten,
    die, was ihre marktwirtschaftliche Reife angeht, ord-
    nungspolitische Kriterien vorweisen müssen, die zeigen
    müssen, ob sie es schon geschafft haben, die 200 000
    Seiten Text der Rechtsangleichung mit mehr als 14 000
    Rechtsakten übernommen und an ihre Gesellschaft an-
    gepaßt zu haben, und die zeigen müssen, ob sie gesamt-
    wirtschaftliche und monetäre Stabilität haben – sogar in
    Richtung der Maastricht-Kriterien.

    Diese Fortschrittsberichte zeigen erhebliche Fort-
    schritte der betroffenen Länder, aber eben auch erhebli-
    che Entwicklungsrückstände, die sehr ernst zu nehmen
    sind. Dazu nur eine Zahl: Die fünf in der ersten Reihe
    stehenden mittel- und osteuropäischen Staaten, mit de-
    nen jetzt konkret verhandelt wird, bringen bisher mit
    180 Milliarden Ecu 2,8 Prozent des Bruttoinlandspro-
    dukts der Europäischen Union auf. Sie stellen aber
    gleichzeitig 62,6 Millionen Menschen und damit
    16,8 Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union.
    In diesen Zahlen liegt eine enorme Spannung, denn
    darin spiegelt sich der riesige Abstand des Lebens-
    niveaus, das sich aus Pro-Kopf-Einkommen und Kauf-

    kraft definiert. Noch immer liegen alle Beitrittsaspiran-
    ten aus Mittel- und Osteuropa weit hinter den schwäch-
    sten Mitgliedern der Europäischen Union. Estland zum
    Beispiel, ein vielgelobtes Reformland, erreicht nicht
    mehr als 22 Prozent des Durchschnittsniveaus der EU,
    Slowenien nicht mehr als 59 Prozent. Das heißt, daß ein
    Aufholen dieser Einkommensrückstände notwendig und
    wichtig ist, weil in der EU bis heute das Prinzip der
    Struktur- und Kohäsionsfonds gilt, das greifen muß,
    wenn die Abstände bei Regionen weniger als 75 Pro-
    zent, bei Ländern sogar weniger als 90 Prozent betragen.

    In den letzten beiden Jahren wurden für diese Fonds
    durchschnittlich 35 Milliarden Ecu aufgewandt. Man hat
    ausgerechnet, daß, wenn heute die erste, die fortge-
    schrittene Gruppe, mit der im Moment verhandelt wird,
    der EU beitreten würde, Ausgleichszahlungen von 20
    bis 45 Milliarden Ecu notwendig wären. Das ist eine
    Verdoppelung dieses Etats – völlig unrealistisch und
    politisch auch gar nicht durchsetzbar.

    Das heißt, wir haben eine neue Phase. Denn jetzt geht
    es darum, zu fragen: Wie greifen die konkreten Anpas-
    sungshilfen, zum Beispiel die aus dem Heranfüh-
    rungstopf von 22 Milliarden Ecu? Was tun wir denn
    konkret, um in der sogenannten Beitrittspartnerschaft
    auch in der zweiten Fünfergruppe die Anpassung mit der
    sogenannten Aufholfazilität zu unterstützen, die schon
    viel bescheidener ist, nämlich 100 Millionen Ecu für
    zwei Jahre? Man hört leider, daß sich diese Programme
    trotz dieser Bemühungen verzögern. Da habe ich eine
    andere Auffassung als Sie, Herr Rühe. Ich glaube nicht,
    daß man Herrn Fischer raten sollte, mit neuen, erfunde-
    nen Beitrittszahlen zu operieren. Diese Zeit geht zu En-
    de. Statt gebetsmühlenhaft abstrakte Unterstützung zu
    versichern und dafür kostenlos Beifall einzuheimsen,
    müssen wir jetzt zeigen, daß wir bereit sind, die Ärmel
    in der Europäischen Union aufzukrempeln, um die Län-
    der auf diesem schwierigen Weg zu Gleichrangigkeit
    und vor allen Dingen Wettbewerbsfähigkeit konkret zu
    unterstützen. Das – nicht die abstrakte Nennung von
    Beitrittsdaten – ist die Herausforderung des Tages.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Dazu gehört übrigens auch, daß endlich – dazu muß

    die Bundesrepublik einen konkreten Beitrag leisten – die
    Hausaufgaben der Europäischen Union gemacht werden.
    Es ist noch gar nicht erreicht, daß wir selber, die 15, tat-
    sächlich integrationsfähig sind. Hier muß noch vieles in
    den Entscheidungsgremien geändert werden. Zum Bei-
    spiel muß der ganze Bereich des Agrarmarkts geändert
    und reformiert werden; sonst besteht dort keinerlei Inte-
    grationsfähigkeit. Das Ziel muß dabei sein, daß neue
    Grenzziehungen durch Europa verhindert werden. Der
    Abstand im Geleitzug bei der europäischen Integration
    darf nicht zu groß werden. Die Warnsignale aus Südost-
    europa teilen uns mit, wie wichtig das ist.

    Ein zweiter Punkt, wo neue Impulse notwendig sind:
    Ich glaube, wir müssen unsere Politik gegenüber der
    Russischen Föderation kritisch überprüfen. Die Bezie-
    hungen müssen eine breitere Grundlage bekommen. Das
    sagen uns auch viele Fachleute. Ich will hier nicht die
    alte Frage aufwerfen, wie wichtig ganz persönliche Be-

    Gernot Erler






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    ziehungen zwischen zwei ganz wichtigen Personen wa-
    ren und sind. Sie hatten sehr positive Seiten. Aber jetzt
    ist es an der Zeit, die Beziehungen zu diesem wichtigen
    Nachbarn auf eine andere, auf eine breitere Grundlage
    zu stellen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Wir müssen die Stimmen derjenigen, die aus der

    Staatsduma und aus dem Föderationsrat kommen, auf-
    greifen, die sagen, daß sie gerne engere Beziehungen
    mit dem Deutschen Bundestag, vor allen Dingen auf der
    fachlichen Ebene, haben wollen. Wir müssen auch zur
    Kenntnis nehmen, daß es heute ganz andere wirtschaftli-
    che und gesellschaftliche Kräfte mit großem Einfluß in
    einem sich ändernden politischen System in Rußland
    gibt, die uns herausfordern. Wir müssen aber auch die
    Politik der internationalen Finanzorganisationen, von
    IWF und Weltbank, auf ihren Sinn und ihre Wirksam-
    keit überprüfen. Da erscheinen gerade in diesem Jahr
    große Fragezeichen.

    Es gibt – auch das ist etwas, was wir als Regierung in
    der neuen Legislaturperiode übernommen haben – eine
    Baustelle, was die Erfüllung der sehr wichtigen NATO-
    Rußland-Grundakte angeht. Es gibt einen positiven
    Aspekt: Die Zusammenarbeit in dem Ständigen Ge-
    meinsamen Rat funktioniert gut. Aber in der Akte stand
    auch etwas über KSE und über eine neue Rolle der OS-
    ZE. Gerade das ist noch nicht erfüllt. Es handelt sich
    um ein dickes Paket von innovativen Aufgaben in
    der Außen- und Sicherheitspolitik für die nächsten
    Jahre.

    Ich komme zu einem dritten Punkt, den man unter
    dem Stichwort „präventive Friedenspolitik“ zusam-
    menfassen kann. Ich sage noch einmal: Das, was in
    Südosteuropa, was in Albanien, was jetzt im Kosovo
    passiert, zeigt eben leider, daß die Instrumente, die wir
    hier geschaffen haben, noch nicht ausreichen. Abrüstung
    ist auch heute noch kein Thema von gestern. Die Atom-
    waffentests in Indien und Pakistan waren für uns eine
    Warnung, daß Nichtverbreitungsziele und die Eigenver-
    pflichtung zu Abrüstung der offiziellen Atommächte
    siamesische Zwillinge sind und daß man dies gar nicht
    unabhängig voneinander behandeln kann.

    Es ist auch klar – das ist wichtig –, daß die Rüstungs-
    kontrolle und die Rüstungsexportpolitik einer strengen
    Kontrolle dieses Parlaments bedürfen. Ich kann die Aus-
    sage in der Koalitionsvereinbarung nur begrüßen, daß
    ein Instrument, mit dem wir bei der Abrüstung gute Er-
    fahrung gemacht haben, nämlich der Jahresabrüstungs-
    bericht, jetzt auch durch einen jährlichen Rüstungsex-
    portbericht ergänzt werden soll.

    Ich persönlich bin ein bißchen besorgt. Es ist gut, daß
    die NATO jetzt in der Kosovo-Krise innerhalb von we-
    nigen Wochen die Fähigkeit demonstriert hat, eine
    glaubwürdige Bedrohung gegenüber Herrn Milosevic
    aufzubauen, bis hin zur Einsatzfähigkeit von 450
    Kampfflugzeugen. Das hat nur wenige Wochen gedau-
    ert. Es ist gut, daß es diese Möglichkeit gibt. Aber der
    zweite Teil, den auch Sie, Herr Rühe, und andere hier
    angeführt haben und den auch Rudolf Scharping, der

    Verteidigungsminister, sehr ausführlich beschrieben hat,
    ist genauso wichtig. Es geht zum Beispiel um die Fähig-
    keit, die Einhaltung dieser Verträge zu beobachten und
    zu kontrollieren. Da stellen wir eben fest, daß die OSZE
    offensichtlich nicht die Möglichkeit hat, in kürzester
    Frist eine bescheidenere Aufgabe wahrzunehmen, näm-
    lich 2 000 Beobachter in Gang zu setzen. Hier wird also
    deutlich, daß wir die Fähigkeit der Organisation für Si-
    cherheit und Zusammenarbeit in Europa, solche Aufga-
    ben tatsächlich wahrzunehmen, bis hin zu den Instru-
    menten ausbauen müssen. Nur die Kombination dieser
    beiden Elemente führt schließlich zum Erfolg.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Hinsichtlich der Entwicklungszusammenarbeit, liebe

    Kolleginnen und Kollegen, kann ich mich kurz fassen,
    weil Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul schon eini-
    ges dazu gesagt hat. Bei der Entwicklungszusammenar-
    beit handelt es sich, sehen wir einmal von der Soforthil-
    fe ab, die in diesen Tagen wieder erforderlich wird,
    letztlich auch um die wirksamste globale präventive
    Friedenspolitik.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Die Koalitionsvereinbarung bekennt sich – das betone
    ich noch einmal ausdrücklich auch in Richtung von
    Herrn Gehrcke, der hier Zweifel geäußert hat – zu dem
    Ziel, den Aufwand für die Entwicklungszusammenarbeit
    auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben,
    und verspricht, die Verpflichtungsermächtigung konti-
    nuierlich zu erhöhen. Wir werden als Bundestag darauf
    achten, daß das auch so durchgesetzt wird.

    Entscheidend ist, daß die Entwicklungszusammenar-
    beit nicht eine Art Wettbewerbsinstrument für bessere
    Außenwirtschaftsdaten der Bundesrepublik ist, sondern
    wirklich in den Kontext der Bildung einer gerechten
    Weltwirtschaftsordnung gesetzt wird. Die Lehre der
    Globalisierung heute heißt, daß es keine Inseln von Pro-
    sperität und Sicherheit mehr geben kann, sondern daß
    wir bei globalisierten Märkten davon abhängig sind, ob
    Gerechtigkeit überall herrscht oder nicht. Anderenfalls
    fällt die Ungerechtigkeit auf uns zurück: Wenn ganze
    Weltregionen marginalisiert werden, dann ist auch bei
    uns Marginalisierung nicht mehr aufzuhalten. Es stellt
    eine sehr große Herausforderung dar, diesen Zusam-
    menhang zu begreifen und in konkrete Politik umzuset-
    zen.

    Das sind nur drei Beispiele von gestalteter Kontinui-
    tät in der Außenpolitik.

    Auf dieser Seite des Hauses sitzen viele erfahrene
    Leute. Vorhin saß hier noch Herr Kinkel. Jetzt sitzt hier
    noch Herr Rühe. Ich sehe auch noch andere kompetente
    Leute, zum Beispiel den Kollegen Dr. Pflüger, mit dem
    wir und ich persönlich sehr gut in Abrüstungsfragen zu-
    sammengearbeitet haben. Ich greife die Bemerkungen
    über den Sinn eines Grundkonsenses in der Außen- und
    Sicherheitspolitik auf: Wir bieten Ihnen an, diese
    schwierigen Aufgaben gemeinsam anzunehmen, und
    wollen dabei auch sehr gerne von Ihren Erfahrungen und

    Gernot Erler






    (A) (C)



    (B) (D)


    Kenntnissen profitieren und in diesem Sinne zusammen-
    arbeiten.

    Vielen Dank.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)