Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 85. Sitzung des Deutschen Bundestages.
Vor Eintritt in die Tagesordnung bitte ich den Herrn Schriftführer Karpf, mitzuteilen, wer abwesend ist.
Es fehlen wegen Erkrankung die Abgeordneten Schütz, Dr. Baur , Morgenthaler, Müller (Worms), Bielig, Lohmuller, Dr. Bergstraesser, Graf, Stopperich, Nuding. Es fehlen entschuldigt die Abgeordneten Dr. Bucerius, Frau Niggemeyer, Frau Dr. Weber (Essen), Dr. Kopf, Dr. Holzapfel, Dr. Semler, Gockeln, Struve, Höfler, Dr. Pünder, Schmitt (Mainz), Dr. Greve, Seuffert, Paul (Württemberg), Nowack (Harburg), Jahn, Revenstorff, Dannemann, Dr. Middelhauve, Dr. Oellers, Juncker, Frau Dr. Ilk, Dr. Seebohm, Gundelach,
Niebergall, Agatz, Paul . Außerdem fehlen die Abgeordneten Renner, Reimann, Rische, Müller (Offenbach), Vesper, Fisch.
Ich habe dem Hause weiter folgende Mitteilung zu machen. Der Ältestenrat hat heute beschlossen, den Ausschuß für Geschäftsordnung zu bitten, die Frage zu prüfen, ob nicht die Geschäftsordnung dahin abgeändert werden könnte, daß die Beschlußfähigkeit des Hauses von mindestens fünf Abgeordneten bezweifelt werden muß,
wenn die Rechtsfolgen der §§ 99 und 100 der Geschäftsordnung ausgelöst werden sollen.
Anlaß zu dieser Anregung des Ältestenrates war der Umstand, daß in der gestrigen Sitzung die Beschlußfähigkeit des Hauses von einem Abgeordneten bezweifelt worden ist, der bisher nach Auffassung des Altestenrates nur in sehr beschränktem Umfange durch eifriges Wahrnehmen der Sitzungen die Arbeiten dieses Hauses gefördert hat
{Lebhafte Zustimmung.)
Der Ältestenrat hat festgestellt, daß der größte Teil der Abgeordneten, die bei der gestrigen Sitzung im Sitzungssaale fehlten, sich in unaufschiebbaren Ausschußsitzungen befanden, was
dieser Abgeordnete wissen mußte. Da es sich bei der in Frage stehenden Abstimmung außerdem lediglich um die Verweisung einer Gesetzesvorlage an den zuständigen Ausschuß handelte und hierüber im ganzen Hause keinerlei Meinungsverschiedenheit bestand, ist es nach Auffassung des Ältestenrates offenkundig, daß die Anzweiflung der Beschlußfähigkeit des Hauses nur in der Absicht schikanöser Obstruktion
oder mit dem Willen, das Haus in der öffentlichen Meinung herabzusetzen, erfolgt sein kann.
Um solche Dinge in Zukunft zu erschweren, hält es der Ältestenrat für geraten, die Geschäftsordnung in der mitgeteilten Weise zu ändern.
Wir treten damit in die Tagesordnung ein. Punkt 1 der Tagesordnung:
Entgegennahme einer Erklärung der Bundesregierung.
ich erteile das Wort dem Herrn Bundeskanzler.
Meine Damen und meine Herren! Die Ereignisse der letzten Jahre haben den aggressiven und dem Frieden feindlichen Charakter des Kommunismus vor aller Welt in immer steigendem Ausmaße enthüllt. In Deutschland hat kürzlich der Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei und der sogenannte Nationalkongreß den Widerstand gegen die verfassungsmäßige Ordnung in der Bundesrepublik proklamiert. Die SED versucht in verstärktem Ausmaß, das staatliche Leben der Bundesrepublik zu unterminieren und für eine gewaltsame Eroberung reif zu machen.
Am 15. Oktober 1950 will der Kommunismus seine Macht in der Sowjetzone durch einen Wahlbetrug legalisieren lassen.
Die Wahlen werden weder frei noch geheim sein. Sie können und werden den w ahr en Willen der Bevölkerung der Sowjetzone nicht zum Ausdruck bringen.
Die Art ihrer Durchführung steht selbst zu der so pathetisch verkündeten Verfassung der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik in schreiendem Widerspruch.
Nach dieser Verfassung müßten die Abgeordneten in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts gewählt werden. Statt dessen hat die Sozialistische Einheitspartei aus Angst vor dem wahren Willen des Volkes die Einheitsliste erzwungen. Sie allein entscheidet auch über die Nominierung der Kandidaten und ihre Kontingentierung auf Parteien und Organisationen. Eine solche Wahl kann niemals von den freien demokratischen Völkern der Welt anerkannt werden.
Aus gesamtdeutscher Verantwortung erklärt die Bundesregierung schon heute: Die Wahlen des 15. Oktober 1950 in der sowjetischen Besatzungszone sind ungesetzlich und nach demokratischem Recht null und nichtig.
Die Bundesregierung unterstützt jederzeit und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den Willen der Bevölkerung in der Sowjetzone nach Befreiung von dem kommunistischen Joch der Sozialistischen Einheitspartei
und nach einer wahrhaft demokratischen Vertretung. Die Wühlarbeit des Kommunismus in der Bundesrepublik wird sie energisch unterbinden.
Die Bundesregierung hat am 22. März dieses Jahres eingehende Vorschläge für die Durchführung gesamtdeutscher Wahlen auf demokratischer Grundlage bekanntgegeben. Sie wiederholt heute feierlich vor aller Welt ihre Vorschläge und fordert ihre Durchführung. Sie wird weiterhin alle nur möglichen Schritte unternehmen, die zur Realisierung dieses für alle Deutschen lebenswichtigen Anliegens führen können.
Die Bundesregierung weiß, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Sowjetzone das ihr von der Sozialistischen Einheitspartei aufgezwungene politische System ablehnt
und nichts sehnlicher wünscht, als ihre Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland in freier Abstimmung zu bekunden.
Das ganze deutsche Volk fühlt sich den freien Völkern der Welt zugehörig. Es verlangt die Anerkennung aller demokratischen Grundrechte in allen Teilen Deutschlands. Die Bundesregierung als die frei gewählte Regierung Deutschlands ruft die demokratischen Völker der Welt auf, das deut-
sehe Volk bei der erstrebten Wiedervereinigung aller Teile Deutschlands zu unterstützen.
Alle Deutschen aber bleiben aufgerufen, entschlossen und unverbrüchlich zusammenzustehen:
für die Einheit und Freiheit Deutschlands gegen
jeden Versuch kommunistischer Gewaltherrschaft.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Kaiser.
Meine Damen und Herren! Ich darf der Erklärung der Bundesregierung noch einige Bemerkungen hinzufügen. Das für den 15. Oktober in der Sowjetzone inszenierte Manöver kann auf die Bezeichnung „Wahl" keinen Anspruch erheben. Es ist eine mit den Mitteln von List und Gewalt erzwungene Akklamation zu einer mit ebensolcher List und Gewalt aufgestellten und proklamierten Einheitsliste. Diese Einheitsliste und die inszenierte Akklamation sind die in allen „Volksdemokratien" üblichen Mittel, um den bolschewistischen Machthabern die Macht zu überantworten und zu bestätigen — eine Bestätigung, meine Damen und Herren, die sie auf demokratischem Wege niemals erreichen würden.
Mit dem Akt von List und Gewalt, der am 15. Oktober über die von Ulbricht errichtete Bühne der bolschewistischen Sowjetzonenrepublik geht, soll ein weiterer Abschnitt der Leidensgeschichte des deutschen Gebiets und seiner 18 Millionen Deutschen abgeschlossen werden, die 1945 der sowjetischen Besatzungsmacht überantwortet wurden.
Mit welcher heimtückischen Verschlagenheit die Kommunisten das Schauspiel des 15. Oktober vorbereitet haben, belegt das von meinem Ministerium herausgegebene Weißbuch über die Wahlfälschungen, Wahlbehinderungen und Wahlbeeinflussungen in der sowjetischen Besatzungszone. Deshalb erübrigt es sich, darüber Einzelheiten zu sagen. Es sei aber noch einmal in letzter Deutlichkeit erklärt: Welches Resultat auch am 15. Oktober aus den mißbrauchten Urnen herausgezaubert wird, — es hat nichts mit einer Legitimation der kommunistischen Pseudoregierung und ihrer Taten zu tun.
Das Weißbuch, von dem ich sprach, registriert auch die Wahlergebnisse des Jahres 1946. Trotz aller Schikanen und trotz aller Behinderungen hat die Bevölkerung der Sowjetzone damals ihren antikommunistischen Willen, ihren Freiheitswillen kundgetan. Zudem, meine Damen und Herren, haben wir echte Bekenntnisse der vergewaltigten Bevölkerung der Sowjetzone in Händen: in Tausenden, in aber Tausenden von Zuschriften und Botschaften und, was mehr noch wiegt, in Tausenden, in aber Tausenden von Sowjetzonenflüchtlingen, die wegen Bedrohung durch KZ, durch Gefängnis, durch Straflager und Zwangsarbeit die Sowjetzone, ihren Heimatboden, verlassen mußten. Diese Zeugnisse sprechen die eindeutige Sprache, die nach unserer Überzeugung auch der 15. Oktober sprechen würde, wenn diese Wahl nur eine echte demokratische Wahl und nicht das Produkt eines gewissenlosen Propagandahirns wäre.
Täglich, meine Damen und Herren, erreichen uns nun bange Fragen aus der Bevölkerung der Sowjetzone, was wohl nach dem 15. Oktober kommen wird. Die noch nicht enteigneten Bauern befürchten die Kolchosiwierung, die selbständigen Handwerker die zwangsweise Eingliederung in die kommunistischen Genossenschaften, die Kaufleute und die Gewerbetreibenden, soweit sie noch selbständig sind, die Enteignung. Die Angestellten, die sich bisher allen Zwangseingliederungen in die SED und ihre Massenorganisationen entziehen konnten, erwartén ihre Entlassung, und die geplagte, die gequälte Arbeiterschaft erwartet eine weitere Heraufsetzung der Arbeitsnorm bei völlig ungenügender Verbesserung der Lebenslage. Die charakterfesten Mitglieder der nichtkommunistischen Parteien sehen ihrer völligen Ausschaltung entgegen, und die Gläubigen beider Konfessionen befürchten den totalen Kirchenkampf, wie er in den übrigen „Volksdemokratien" entfesselt wurde.
Meine Damen und Herren, wir haben erlebt, daß die Bevölkerung der Sowjetzone überall, wo es nur immer möglich war, die kommunistischen Betrugsmanöver entlarvt hat, und wir sind überzeugt, daß sie es auch in Zukunft tun wird. Sie soll gewiß sein, daß sie nicht Leib und Leben den kommunistischen Gewalthabern hinzuwerfen braucht. Dafür sind uns unsere Menschen in der Sowjetzone zu teuer und zu wertvoll. Die ganze freie Welt weiß ja um Gesinnung und Haltung der Bevölkerung. Auch die Kommunisten wissen darum. Sonst wäre ja das ganze Betrugsmanöver überhaupt nicht möglich.
Die Kommunisten werden nun bestimmt versuchen, die Abgabe ungültiger Stimmen unmöglich zu machen. So groß ist nämlich ihr Unsicherheitsgefühl, ein Unsicherheitsgefühl, das nach der neuesten Säuberungswelle im engsten kommunistischen Führungskreis noch beträchtlich gewachsen ist. Keiner traut mehr dem andern von ihnen. Es ist eine der Hauptaufgaben von Gesamtdeutschland, d. h. der Bundesrepublik, in engster Verbindung mit der Bevölkerung der Sowjetzone dieses Unsicherheitsgefühl des Kommunismus noch zu verstärken. Wir müssen darüber hinaus alles tun, um in der Bundesrepublik die sozialen Verhältnisse ständig zu verbessern. Den Rädelsführern der Bolschewisierung auf deutschem Boden muß beigebracht werden, daß sie einen Versuch am untauglichen Objekt unternehmen.
Es besteht kein Zweifel, daß der Kommunismus in der Welt seine Hand nach weiteren Opfern ausstreckt. Das beweist schon Korea. Nun ist Deutschland ganz bestimmt nicht Korea; aber est steht außer Zweifel, daß unser Land, daß Deutschland ein strategisches Ziel für den Kommunismus ist. Das ist auf dem SED-Parteitag und auf dem sogenannten Nationalkongreß deutlich genug geworden. Und deshalb, meine Damen und Herren, muß von uns ein politischer und ein moralischer Feldzug gegen den Kommunismus geführt werden. Die Bundesregierung weiß sich darin mit allen demokratischen Kräften unseres Volkes und damit dieses Hauses in Übereinstimmung. Die tägliche Entlarvung des 15. Oktober vor den Augen der Welt, vor den Augen und vor dem Bewußtsein unseres Volkes ist die erste Aufgabe der kommenden Wochen. Jeder einzelne in unserem Volke muß wissen: hier handelt es sich nicht um eine Wahl, sondern um einen Wahlbetrug. Die Bundesregierung appelliert an alle Kräfte unseres öffentlichen Lebens, vor allem an die politischen und an die publizisti-
sehen Kräfte, vorbehaltlos und uneigennützig daran mitzuwirken. Es ist erfreulich, meine Damen und Herren, und es ist ermutigend, daß sich die Presse dieser Aufgabe in steigendem Maße bewußt ist, und die Bundesregierung erkennt ebenso dankbar und voller Genugtuung an, daß sich sämtliche Rundfunksender mit einer täglichen Sendung „Hier spricht Deutschland" ebenfalls in den Dienst dieser nationalen Aufgabe stellen.
Leider muß ich an dieser Stelle zu Äußerungen Stellung nehmen, die der Chefredakteur einer Rundfunkgesellschaft, Walter von Cube, am 12. September, vorgestern, in einem Interview der „Süddeutschen Zeitung" gemacht hat. Herr von Cube hat mit dem Blick auf die Sowjetzone und Berlin unter anderem erklärt: Wenn das Glied eines Körpers von einem Bazillus befallen ist, dann sollte es amputiert werden, um den Körper im ganzen zu retten.
Das heißt nach Ansicht des Herrn von Cube, man
solle den Eisernen Vorhang endlich dicht machen.
Ich meine, folgendes sagen zu dürfen: Wenn Herr von Cube sich bei jeder Infektion einer Amputation unterworfen hätte, dann wäre bestimmt von Herrn Cube längst nichts mehr übrig.
Ein Ernsteres aber: die Beachtung dieses seines Amputationsvorschlages würde zur förmlichen Untreue, um nicht zu sagen, zum Verrat an 20 Millionen Deutschen der Sowjetzone und Berlins führen.
Cubes Weg würde darüber hinaus der sicherste Weg sein, den Kommunisten ganz Deutschland zu überantworten.
Herr von Cube meint in einer erstaunlichen Formulierung, das, was wir heute machen, sei ein Selbstlustmord. Wir meinen, es wäre ein Selbstlustmord — um im Jargon von Cube zu bleiben —, solche unverantwortlichen Torheiten weiter zu propagieren.
Wir alle können und wollen nur hoffen, daß dieser Cube-Bazillus nicht weiter um sich greift, denn es gibt lebensentscheidende Aufgaben, in denen alle Deutschen einig sein sollten.
Nun hört man immer wieder — und ich besonders höre es jeden Tag —, Offensivgeist wäre in der Bekämpfung des Kommunismus notwendig. Meine Damen und Herren, es wäre schon viel erreicht, wenn die Erkenntnis allgemein wäre, die dem Offensivgeist vorauszugehen hat, d. h. es wäre gut, wenn jeder Deutsche alle Schleichwege erkennen würde, über die der Kommunismus seine Angriffe in den Bereich der Bundesrepublik vorträgt.
Es gibt ja, Gott sei es geklagt, immer noch so er-
schreckend viel Gutgläubige in unserem Volk. Man
bringt den Kommunismus nicht durch Diskutieren
oder Verhandeln von seinen diabolischen Zielen ab;
man kann den Kommunismus nur bekämpfen!
Meine Damen und Herren, ich darf das sagen; denn ich habe es selbst zur Genüge erlebt. Die Friedensschalmeien der Kommunisten, ihre Atombombenbekämpfung, ihre Unterschriftensammlungen für den Frieden, ihre getarnten Arbeitskreise, ihre korrupten Angebote müssen entlarvt werden.
Sie kommen alle aus dem unerschöpflichen Reservoir kommunistischer Tarnungen, Lügen und Betrugsmanöver.
Meine Damen und Herren! Wir werden nationalen Widerstand zu leisten haben, nationalen Widerstand nicht im Sinne von Ulbricht und Grotewohl, sondern in einem ganz anderen Sinn, als es SED-Parteitag und der sogenannte Nationalkongreß verkündeten. Unser nationaler Widerstand wird den Naiven, den Gewinnsüchtigen, den Rückversicherern gelten,
die bewußt und unbewußt den Kommunisten die Schleichwege ebnen und offenhalten. Die Bundesregierung fordert das ganze Volk auf, daß es hier auf diesem Gebiet offensiv wird,
daß es anprangert, was angeprangert werden muß.
Wer als Mitglied oder als Mitläufer einer getarnten kommunistischen Organisation die Geschäfte des Kommunismus besorgt, soll wissen, daß er nach Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes eine verbotene Tätigkeit ausübt,
daß er zu denen gehört, die die demokratische Ordnung unseres Lebens und unserer Bundesrepublik zerstören. Es bleibt Pflicht der zuständigen Stellen, mit den gebotenen Maßnahmen vorzugehen.
Und nun noch ein Wort zur sogenannten Freien Deutschen Jugend. Die Freie Deutsche Jugend ist vom Kommunismus zum aktivsten Stoßtrupp ausersehen. Ihre ganze Organisation, ihre Betätigung, ihre Erklärungen sind ständige Angriffe gegen die Bundesrepublik. Es ist an der Zeit, daß ihr das unmöglich gemacht wird.
Es war das einzig mögliche und das einzig richtige, daß Dortmund das für den 30. September und 1. Oktober geplante FDJ-Treffen untersagte. Und es war ebenso richtig und ebenso notwendig, daß Ministerpräsident Arnold in Verfolg dieses Verbots von Dortmund als Antwort auf die Drohungen der FDJ alle ihre geplanten Veranstaltungen unter freiem Himmel verbot. Noch richtiger wäre es gewesen, wenn jede Tätigkeit der FDJ überhaupt verboten würde.
Denn auf die FDJ ist der Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes voll und ganz anwendbar.
Welchen Wert dabei die Machthaber in der Sowjetzone auf die Aktionen der FDJ legen, beweist der andauernde Schmuggel von Uniformen, von Fahnen und von anderen Ausrüstungsgegenständen für die FDJ im Bundesgebiet. So wurden kürzlich in nur einem Transport beschlagnahmt: 600 000 Plakate, 5,6 Millionen Propaganda-Druckschriften und viele Millionen von Flugblättern, dazu 2000 Stück meterlange FDJ-Fahnen, 21 Ballen blaues
Tuch für FDJ-Hemden sowie Tausende von Wimpeln, von Halstüchern, Transparenten und Musikinstrumenten.
Welchen Wert die kommunistischen Machthaber auf die FDJ legen, zeigt weiter die Tatsache, daß in der Sowjetzone nur aus ihr, aus der FDJ, die Volkspolizei rekrutiert wird. Warum? Weil nur diese Jugendlichen, die niemals etwas von Demokratie und wahrer Freiheit erlebt haben,
in der Sowjetzone als zuverlässig gelten. Nicht zuletzt sind es fanatisierte Jugendliche aus den Reihen der FDJ der Sowjetzone, die ins Bundesgebiet entsandt werden. Sie sind in allen Sparten und Schlichen illegaler Arbeit geschult. Unter ihrer Anleitung soll die FDJ im Bundesgebiet die staatliche Ordnung unterminieren.
Ich sage das alles nicht, um Angst zu erwecken. Angst ist ja nur der Wegbereiter des Kommunismus. Angstverbreitung und Einschüchterung sind sattsam bekannte kommunistische Mittel im Kalten Krieg. Meine Damen und Herren, von Berlin und von den Berlinern kann man lernen, wie man Angstzustände überwindet.
Man überwindet sie durch Furchtlosigkeit und durch entschlossenen Willen zum Widerstand.
Ich darf eines noch hinzufügen: Die Bundesregierung ist entschlossen, den realen Rückhalt zu schaffen, der dem politischen und moralischen Widerstand des Volkes zum Erfolg verhilft. Wir wissen, daß unsere Landsleute in der Sowjetzone diese Haltung und diese Entschlossenheit von uns in der Bundesrepublik erwarten. Diese Haltung und diese Entschlossenheit wird sie, unsere Landsleute in der Sowjetzone, ermutigen, wird ihnen helfen, dem Terror der Kommunisten standzuhalten. Unsere Landsleute werden auch den 15. Oktober überwinden; denn sie wissen genau: es ist ein kommunistisches Betrugsmanöver, auf das niemand in der Welt hereinfällt. Kein Deutscher in Ost und West wird jemals den Glauben verlieren, daß der Tag der Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit kommt.
Wir kommen zum zweiten Punkt der Tagesordnung:
Ausprache über die Erklärung der Bundesregierung.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Verlesung einer interfraktionellen Erklärung hat der Vorsitzende des Ausschusses für gesamtdeutsche Fragen, der Herr Abgeordnete Wehner.
Wehner , Vorsitzender des Ausschusses für gesamtdeutsche Fragen: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Namen der Fraktionen der Christlich-Demokratischen Union, der ChristlichSozialen Union, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der Freien Demokratischen Partei, der Deutschen Partei, der Bayernpartei, der Wirtschaftlichen Aufbauvereinigung und des Zentrums habe ich die Ehre, zu erklären:
Mit den Mitteln des Terrors, der Fälschung und der Lüge wollen sich die kommunistische SED und ihre Satellitengruppen am 15. Oktober die Vollmacht erpressen, ihre Politik der Bolschewisierung der sowjetischen Besatzungszone fortzuführen und
mittels der kommunistisch gelenkten „Nationalen Front" auf das übrige Deutschland auszudehnen. Im Namen der ihrer Freiheit beraubten Menschen in der sowjetischen Besatzungszone und im Namen des ganzen deutschen Volkes erklärt der Deutsche Bundestag:
Die kommunistischen Machthaber in der sowjetischen Besatzungszone haben den Vorschlag der Bundesrepublik Deutschland zur Abhaltung freier, allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahlen für eine gesamtdeutsche Nationalversammlung abgelehnt. Die Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone hat keine freie Presse, keinen freien Rundfunk. Sie hat nicht das Recht, in freier Rede und durch freie politische Parteien ihre wirkliche Meinung über den kommunistischen Diktaturstaat zu äußern. Die Freiheit des Geistes und des Glaubens wird unterdrückt. Jetzt soll die Bevölkerung durch die herrschende Clique unter Bruch sogar der vom kommunistischen „Volkskongreß" aufgezwungene „Verfassung" am 15. Oktober in der Form einer öffentlichen Wahldemonstration gezwungen werden, diesem Regime und seinem Unterfangen, ganz Deutschland an Sowjetrußland auszuliefern, ihre Zustimmung zu geben. Die Vorbereitungen zum 15. Oktober lassen klar erkennen, daß die mit allen Mitteln zu den Wahllokalen 'getriebene Bevölkerung diesmal gezwungen werden soll, die sogenannten Stimmzettel offen abzugeben. Es wird ihr die Möglichkeit genommen, nein zu sagen oder auch nur den Wahlzettel ungültig zu machen. So werden die Menschen gepreßt, ihre Überzeugung zu verleugnen und Kandidaten zu wählen, die sie hassen und verachten.
Diese Terrorwahlen können in keiner Weise als Ausdruck des wahren Willens des deutschen Volkes in der sowjetischen Besatzungszone betrachtet werden. Alle rechtlichen und politichen Schlußfolgerun gen. die die kommunistischen Machthaber oder die sowjetische Besatzungsmacht aus ihnen ziehen, sind null und nichtig.
Der Deutsche Bundestag unterbreitet der Organisation der Vereinten Nationen diesen ungeheuerlichen Rechtsbruch und den verbrecherischen Mißbrauch, den ein Mitgliedstaat der Vereinten Nationen mit dem deutschen Volke treibt. Der Deutsche Bundestag bittet die Vereinten Nationen, den Rechtsbruch zu verurteilen und dadurch den Glauben -des deutschen Volkes an die Geltung von Recht und Freiheit in der Welt zu stärken.
Von der Bundesregierung erwartet der Bundestag, daß sie im Sinne der vom Herrn Bundeskanzler am 21. Oktober 1949 ausgesprochenen Erklärung handelt: „Die Bundesrepublik Deutschland fühlt sich auch verantwortlich für das Schicksal der 18 Millionen Deutschen, die in der Sowjetzone leben."
Der Bundestag beschließt:
Die Bundesregierung wird aufgefordert,
1. das deutsche Volk, und die Welt über die Zustände der Rechtlosigkeit unter der kommunistischen Diktatur in der sowjetischen Besatzungzone in stetiger Folge nachhaltig zu unterrichten,
2. die Besatzungsmächte in aller Form zu bitten, in allen vier Besatzungszonen freie, allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlen zu einem gesamtdeutschen Parlament unter internationaler Kontrolle vornehmen zu lassen,
3. gegen alle Personen, die an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der sowjetischen Besatzungszone beteiligt sind, im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Strafverfolgung einzuleiten,
4. gegen alle Personen vorzugehen, die im Auftrag und im Sinne der auf Gewalthandlungen abzielenden Beschlüsse des, III. Parteitags der kommunistischen SED und des „Nationalkongresses" wirken,
5. den Widerstand Berlins gegen die kommunistische Diktatur mit allen wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu stärken als Beweis für den Ernst und die Beharrlichkeit des Willens der Bundesrepublik zur Wiedervereinigung Deutschlands in einem freien Rechtsstaat.
Der Deutsche Bundestag erklärt den unerschütterlichen Willen des ganzen deutschen Volkes zu seiner nationalen Einheit. Er stellt fest, daß kein Terror den Freiheitswillen der Menschen in der sowjetischen Besatzungszone hat brechen können.
Die kommunistische Zwangsherrschaft bestünde nicht ohne die sowjetische Besatzungsmacht.
Ihre Handlanger vergehen sich stündlich an Deutschland und der Menschheit.
Das deutsche Volk sieht in der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, in der Verteidigung der unmenschlichen Behandlung deutscher Kriegsgefangener und Verschleppter, in der Mißachtung des Schicksals und des Heimatrechts der Vertriebenen Verbrechen an Deutschland und gegen die Menschlichkeit.
Der Deutsche Bundestag spricht allen, die für diese Verbrechen verantwortlich sind und die die Einverleibung Deutschlands in das Fremdherrschaftssystem betreiben, das Recht ab, im Namen des deutschen Volkes zu handeln.
Das kommunistische System bedeutet Vernichtung der Menschenrechte, Versklavung der arbeitenden Menschen, Verewigung von Hunger, Elend und Ausbeutung. Die kommunistischen Machthaber sind die wahren Kriegshetzer gegen das eigene Volk.
Das deutsche Volk will den Frieden in der Freiheit nach innen und außen, den Frieden in der Gemeinschaft freier Völker.
Der Deutsche Bundestag appelliert an die Demokratien der Welt, dem deutschen Volk in diesem Kampf beizustehen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Thiele.
Meine Herren und Damen! Die Erklärung, die von seiten der Regierung abgegeben worden ist, und die interfraktionelle Erklärung veranlassen mich, einmal die Motive für diese Erklärung zu untersuchen, und zwar aus der Entwicklung seit 1945.
Mit ,der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Staates war die Epoche der Aggression abgeschlossen. Die völkerrechtliche Ausgangsposition .des deutschen Volkes für den Aufbau eines demokratischen Deutschlands ist das Potsdamer Abkommen. So wie die bedingungslose Kapitulation die Aufgabe der Zerschlagung des militärischen Instruments der Aggression abschließt, so eröffnet das Potsdamer Abkommen auch gleichzeitig die Phase des Rechts der deutschen Bevölkerung auf die Erfüllung der feierlichen Erklärungen der alliierten Mächte von Potsdam. Die Schaffung der Grundlagen der Demokratie beruht auf der Erhaltung dem Anspruch dieser Nation auf einen einheitlichen Staat mit allen Konsequenzen auf dem Gebiete der Wirtschaft, der Justiz und ides Erziehungswesens. Dabei müssen, dem Buchstaben und dem Sinn des "Potsdamer Abkommens entsprechend, diese Organe demokratisch sein. Das bedeutet aber: Die Verwaltung und die Justiz müssen von jenen Kräften gesäubert werden, die den letzten Angriffskrieg getragen haben. Die Wirtschaft muß von den Monopolen und Konzernen befreit sein, die Träger dieser Aggression waren. Der Großgrundbesitz mußte zerschlagen werden, um die Überreste des Junkertums als Wurzel des Militarismus zu entmachten und im Erziehungswesen die Ausschaltung aller chauvinistischen und militaristischen Tendenzen zu garantieren.
Diese Forderungen von Potsdam sind identisch mit den Wünschen ,der besten deutschen Patrioten seit Jahrzehnten, sind identisch mit den Interessen des ganzen deutschen Volkes. Diese Forderungen aber bedeuten gleichzeitig auch die Lösung der unmittelbaren täglichen Sorgen von Millionen Deutschen, die Befreiung der Frauen und Mütter von der ewigen Sorge um den Tod ihrer Kinder auf den Schlachtfeldern, die Befreiung der deutschen Arbeiter von dem ständigen Druck der wirtschaftlichen Machtkonzentrationen, der außerhalb jedes Gesetzes der Demokratie steht und der jedes Gesetz der Demokratie mißachtet, die jahrhundertelangen Sorgen der deutschen Kleinbauern wie auch die neuen Sorgen ,der umgesiedelten Deutschen auf Anrecht auf Grund und Boden, auf dem sie mit ihren Familien leben können, die Überwindung der Not der deutschen Jugend, die nicht für einen neuen
Krieg mißbraucht werden will, sondern für friedliche Arbeit lernen will.
Das waren die inneren Voraussetzungen des Potsdamer Abkommens und waren zugleich Verpflichtung für die Alliierten. Gleichzeitig aber schafft das Potsdamer Abkommen auch die äußeren Voraussetzungen, um Deutschland als friedliche Nation in die Völkergemeinschaft zurückzuführen. Es regelt die Frage der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen, ,die von jeher von den Kräften des Krieges in Deutschland dazu benutzt wurden, um ihre Raubzüge zu motivieren. Und jeder, der heute an die 'im Potsdamer Abkommen festgelegten Grenzen tastet, will nichts anderes als einen neuen Krieg.
Für wen hat Hitler den Überfall auf Polen und den Marsch in die Ukraine und an ,die Wolga gemacht? Goebbels hat es gesagt: Weil sie sich gesundstoßen wollten am kaukasischen Öl, am ukrainischen Weizen —, nicht für das 'deutsche Volk! Die Umsiedler, die man mit der Hetze gegen die Oder-Neiße-Grenze für einen neuen Krieg gewinnen will, sollen nicht in die Gebiete zurück, um dort zu siedeln, sondern sie sollen in Massengräbern sterben, weil ihre Forderungen auf ein menschenwürdiges Leben hier in Westdeutschland langsam unbequem werden. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Friedensgrenze bedeutet den ewigen Frieden mit dem polnischen Volk, sie ist ein entscheidender Beitrag für die Erhaltung des Friedens in der Welt.
Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ist aber gleichzeitig ein Anspruch auf alles, was sonst
in dem gleichen Abkommen steht. Es macht alle weiteren Gebietsforderungen völkerrechtswidrig. Es macht die Teilung Deutschlands völkerrechtswidrig. Die Anerkennung macht jede Handelsbeschränkung innerhalb Deutschlands völkerrechtswidrig. Sie macht aber auch völkerrechtswidrig die Anwesenheit jeder Besatzungsmacht für andere Zwecke als den der Erfüllung der im Potsdamer Abkommen festgelegten Verpflichtung: Vorbereitung für einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland und Rückgabe der Souveränität an ein friedliches demokratisches Volk. Die Anerkennung macht es auch völkerrechtswidrig, deutsche Menschen wieder unter Gewehr zu stellen, sie in Söldnerarmeen für fremde Interessen zu pressen, wie es in Westdeutschland jetzt bereits geschieht und weiterhin beabsichtigt ist. Sie macht alles zu einer völkerrechtlichen Handlung, was geeignet ist, die Existenz eines geeinten, friedlichen, demokratischen Deutschlands zu sichern. Alles was sich der Absicht widersetzt, Deutschland zur Aufmarschbasis für einen neuen Krieg zu machen, steht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht.
Auf dieser Plattform ist in den Außenministerkonferenzen die Sowjetunion auch aufgetreten und hat in ihrer Praxis als Besatzungsmacht allein so gehandelt. Die westlichen Besatzungsmächte unter Führung Amerikas sind bereits 1946 mit der Stuttgarter Rede des damaligen Außenministers Byrnes offiziell vom Potsdamer Abkommen abgerückt und haben dann Zug um Zug dieses Abkommen gebrochen. Die Demokratisierung der Wirtschaft und die Bodenreform wurden sabotiert. Statt die Entmilitarisierung durchzuführen, wird aufgerüstet. Es wurde keine Schulreform durchgeführt. Das in der hessischen Verfassung festgelegte Mitbestimmungsrecht und der Landtagsbeschluß von Nordrhein-Westfalen über die Sozialisierung wurden außer Kraft gesetzt. Mit all diesen und anderen Maßnahmen wurden die Voraussetzungen zur Schaffung einer wirklichen Demokratie sabotiert.
In einer weiteren Konsequenz des Bruchs des Potsdamer Abkommens haben die westlichen Besatzungsmächte mit deutscher Hilfe das Surrogat eines Staates für Westdeutschland geschaffen. Unter arglistiger Täuschung, nur ein Provisorium zu schaffen, wurde der westdeutschen Bevölkerung eine Verfassung oktroyiert, von 'der den Massen in Westdeutschland jetzt klar wird, daß sie nicht der Demokratie, sondern der Beseitigung der Demokratie dient. In diesem Hause ist vorgestern eine Strafrechtsnovelle behandelt worden, nach der die Erfüllung des eigenen Grundgesetzes mit hohen Zuchthausstrafen belegt wird. In der Präambel des Grundgesetzes heißt es nämlich:
Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Und im Schlußkapitel heißt es in Art. 146:
Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Das neue Terrorgesetz allein widerlegt schon Ihr ganzes Geschwätz von Ihrer Demokratie.
Sowohl aus dem Potsdamer Abkommen als auch selbst aus diesem Grundgesetz ergibt sich das Recht jedes Deutschen auf Widerstand gegen völkerrechts- und verfassungswidrige Maßnahmen der westlichen Besatzungsmächte und der Bonner Regierung.
— Zum deutschen Volk!
Mit dem Bruch des Potsdamer Abkommens haben die westlichen Besatzungsmächte den Anspruch auf weitere Besetzung Deutschlands verloren, sie haben den Charakter einer Besatzungsarmee verloren, sie sind zu einer Interventionsarmee geworden. Und jeder ehrliche Deutsche hat die Pflicht, ihren Abzug aus Deutschland zu fordern. Heute noch werden deutsche Menschen zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie den Wunsch des ganzen deutschen Volkes zum Ausdruck bringen, nämlich: „Deutschland den Deutschen!" und „Ami, go home!" Herr Dr. Adenauer aber fordert: Ami, schick uns noch weitere Truppen! Ich möchte Herrn Dr. Adenauer fragen: wer hat Sie mit dieser Forderung beauftragt, etwa das deutsche Volk? Ich sage Ihnen, das deutsche Volk wird das Urteil darüber sprechen. Das deutsche Volk will 'endlich Frieden haben, es will keine neuen Kriegstruppen, die wir sogar noch ernähren und bezahlen müssen. Glauben Sie wirklich, Herr Dr. Adenauer, daß die Arbeiterschaft, die Bauern, die Handwerker und die Geschäftsleute, daß die Westdeutsche Jugend sich dazu hergeben werden, Söldner für die Amerikaner zu sein, für ihren Krieg zu sterben? Verwechseln Sie doch nicht die bezahlten Elemente, die wir ja jetzt so oft sehen, jetzt auch bemerkt haben! Verwechseln Sie nicht
diese bezahlten Elemente mit der großen Masse des Volkes, zu der ich jetzt spreche.
Sie, Herr Dr. Adenauer, haben kein Recht, im Namen des deutschen Volkes zu sprechen.
In Millionen-Kundgebungen und in Millionen Unterschriften hat auch die westdeutsche Bevölkerung ihren Friedenswillen bekundet.
Es ist erfreulich, und ich möchte das von dieser Stelle besonders begrüßen, daß der Evangelische Kirchentag in Essen im Namen aller evangelischen Menschen u. a. folgende Erklärung abgibt, die im Widerspruch zu den Forderungen der Bundesregierung Dr. Adenauer steht:
Die Kirche Jesu Christi steht zu dem Frieden, und sie ist gewiß, daß jedes Glied der christlichen Gemeinde dazu helfen kann und helfen soll, daß der Friede gewahrt bleibt. Keine Macht der Welt wird leichthin wagen, den Frieden zu brechen, wenn sie einer entschlossenen inneren Abwehr im eigenen Volk begegnet. Es kommt alles darauf an, daß wir uns nicht durch eine verlogene Propaganda beirren lassen, daß wir allen Versuchen, uns und unsere Kinder in eine Gesinnung des Hasses hineinzutreiben
— wie es jetzt hier versucht worden ist -,
ein entschlossenes Nein entgegensetzen und uns weder an Kriegshetzerei noch an Angstpsychosen mit schuldig machen.
Dies alles gilt insbesondere von einem gewaltsam zerspaltenen Volk. Deutsche Brüder und Schwestern: Redet Gutes voneinander, auch über den Eisernen Vorhang hinweg! Vertraut einander und haltet Gemeinschaft miteinander! Daß Deutsche jemals auf Deutsche schießen, muß undenkbar bleiben!
Ich denke, so ist in den Erklärungen hier nicht gehandelt worden.
Die Kriegshetze und Angstpsychose, von der der Evangelische Kirchentag spricht, wird systematisch und bewußt organisiert, wie wir jetzt gerade merken konnten, und zwar auf der Ihnen allen gemeinsamen Grundlage des Antibolschewismus.
Der große deutsche Dichter Thomas Mann hat bereits gesagt, daß der Antibolschewismus die Grundtorheit unserer Epoche sei. An dieser Grundtorheit sind Hitler und seine Komplizen zugrunde gegangen, an ihr werden auch andere zugrunde gehen.
Diese Hetze, dieser Antikommunismus ist die ideologische Vorbereitung des von den Amerikanern gewünschten Krieges, des Krieges, in dem unsere Heimat zerstört werden wird, Millionen Männer, Frauen und Kinder ihr Leben lassen werden.
Darum brauchen Sie die Hetze gegen die Deutsche Demokratische Republik, weil in der Deutschen Demokratischen Republik nicht für den Krieg gehetzt wird, sondern für den Frieden gearbeitet wird, weil dort die Voraussetzungen für die Erhaltung des Friedens überhaupt erst geschaffen werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf das sogenannte Weißbuch des Ministers für gesamtdeutsche Fragen zu sprechen kommen. Das Weißbuch ist in seinem sachlichen Inhalt absolut wertlos, in diesem Weißbuch ist nichts anderes dargestellt als ein Sammelsurium verlogener Pressemeldungen, die nicht nur wir Kommunisten als verlogenes Sammelsurium feststellen, sondern fasi alle, die sich bis jetzt damit beschäftigt haben. Eigentlich ist es gar nicht wert, daß man sich überhaupt mit diesem sogenannten „Werk" beschäftigt.
Gleichzeitig reden Sie aber hier von der Freiheit der Persönlichkeit, von der Würde des Menschen, von der westlichen Demokratie. Was ist das für eine Demokratie, wo Menschen verhaftet werden, weil sie für den Frieden sind, wo Versammlungen, Kundgebungen und Zeitungen verboten werden, weil sie sich gegen die Kriegsvorbereitungen wenden und das Volk zum Widerstand gegen einen neuen Krieg auffordern! Für solche Vergehen, für die Erhaltung des Friedens, sind in kurzer Zeit in Westdeutschland fast 200 Menschen verhaftet und zum Teil schon verurteilt worden. Mit dieser Demokratie wird in den Kampf der Arbeiter um das Mitbestimmungsrecht, um höhere Löhne eingegriffen, mit dieser Demokratie werden diese Kämpfe abgewürgt.
Noch nicht einmal sogenannte parlamentarische Rechte sind garantiert. Das beweisen die Verhaftungen von Abgeordneten, die Aufhebung der Immunität von Max Reimann. Das beweist sogar, wenn es auch nicht so bedeutungsvoll ist, mein eigener Fall, in dem die Durchsuchung meiner Wohnung und meiner Schränke in meiner Abwesenheit durch deutsche Polizeibeamte auf Befehl der Militärregierung erfolgt ist.
Soweit gehen Ihre demokratischen Rechte, daß Sie noch nicht einmal in der Lage sind, parlamentarische Rechte zu garantieren. So reduziert sich also das Recht des Volkes auf die Abgabe eines Stimmzettels.
Wie selbst aus Ihren eigenen Reihen diese sogenannte Demokratie beurteilt wird, das lesen Sie in vielen Ihrer Zeitungen gerade in der letzten Zeit 'im Zuge Ihrer Terrormaßnahmen. Ich möchte dazu hier nur einen Beitrag aus den „Nürnberger Nachrichten" vom 23. 8. geben. Dort heißt es nämlich:
Man kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, als ob sich westdeutsche Parteistrategen in dem Feldzug gegen vermutete subversive Umtriebe den Kommunisten anhängen möchten, um jede Art von Opposition gegen die Regierung zum Schweigen zu bringen, zumal die Kritik an der in Westdeutschland betriebenen Sozial- und Wirtschaftspolitik in letzter Zeit immer vernehmlicher wurde. Das Vorgehen gegen die Kommunisten bietet eine ausgezeichnete Tarnung für die, die schon länger darauf lauern, eine Art totalitärer Demokratie ins Leben zu rufen.
Das sind Ihre Pressestimmen, die sich natürlich noch beliebig durch andere erweitern ließen.
Die Terrormaßnahmen gegen die Kommunisten richten sich in ihrer Konsequenz also gegen alle Menschen, die mit der Besatzung und der Bonner Regierungspolitik nicht einverstanden sind. Die Auswirkungen dieser Politik sind aber so, daß der Widerstand aus allen Schichten der Bevölkerung wächst. Gewiß leiten Sie durch die antikommunistische Hetze ein neues 1933 ein. Von den Maßnahmen werden in-
folge dieses wachsenden Widerstandes alle Menschen betroffen, die Widerstand gegen diese Politik leisten. Das mögen auch die sozialdemokratischen Arbeiter, Gewerkschaften und ihre Mitglieder, ,das mögen auch alle übrigen fortschrittlichen Menschen bedenken. Hier im Parlament allerdings wird von der SPD-Führung Opposition gegen die Regierung gespielt, während man sich in allen Grundfragen der Politik, nämlich auf der Grundlage des Antikommunismus zum Schaden des deutschen Volkes, mit der Adenauer-Regierung einig ist. Es war sehr bezeichnend, daß diese Hetzerklärung, diese Erklärung, die eine Vorbereitung für eine Kriegsstimmung ist, ausgerechnet von einem Sozialdemokraten abgegeben wurde. Das kennzeichnet die Rolle, die der Sozialdemokratie in der Vorbereitung des Krieges durch die Amerikaner zugedacht ist.
Damit komme ich zu der Wahl in der Deutschen Demokratischen Republik, Idle hier dem Parlament soviel Sorgen macht. Sie alle haben selbstverständlich auch schon erkannt, daß die Zeit der Erfolge in der Deutschen Demokratischen Republik begonnen hat und daß die Bildung der Deutschen Demokratischen Republik einen Wendepunkt in der Geschichte ides deutschen Volkes, ja in der Geschichte Europas bedeutet, so wie es der große Führer des Sowjetvolkes in seinem Telegramm an die Regie- rung der Deutschen Demokratischen Republik zum Ausdruck brachte. Von diesen Erfolgen, von dieser großen gemeinsamen Kraft für den Aufbau und für den Frieden ganz Deutschlands soll die westdeutsche Bevölkerung nichts hören, damit diese Erfolge sie in ihrem gerechten Kampf nicht stärken. Das ist der Grund für diese Erklärungen, das ist 3' der Grund für Terror und Unterdrückung. Darum die Hetze und ,die Verleumdung!
Aber die Stimme der Wahrheit, die Stimme des Friedens läßt sich nicht unterdrücken. Die Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik sind Wahlen für Gesamtdeutschland, darin haben Sie wahrlich recht. Sie zeigen nämlich dem ganzen deutschen Volk den Weg in eine freie und glückliche Zukunft.
Das Programm, das dieser Wahl zugrunde liegt, sind keine verlogenen Wahlversprechungen, die nach der Wahl nie erfüllt werden, wie es hier in Westdeutschland ja doch der Fall ist, was jeder Mensch hier selbst beurteilen kann. Dieses Wahlprogramm beruht auf der Realität des Fünfjahresplans. Die vorfristige Erfüllung des Zweijahresplans gibt der Bevölkerung die Garantie, daß alles eingehalten, ja ich möchte sagen, möglicherweise noch übertroffen wird. Die Sehnsucht ides Volkes geht nach Frieden und Einheit; das sind die Grundfragen, auf die sich alle Kandidaten verpflichtet haben. Sehen Sie, wo ist hier in Westdeutschland über diese Lebensfragen jemals abgestimmt worden? Wo hat das Volk in Westdeutschland seine Zustimmung gegeben zur Aufrüstung, zur Remilitarisierung? Wo ist es befragt worden, ob neue Truppen nach Westdeutschland kommen sollen? Wo ist es befragt worden, ob es die Spaltung Deutschlands will?
Nun sagen Sie: es gibt bei den Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik keinen Gegner. O ja! Es gibt einen Gegner! Der Gegner bei diesen Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik ist der amerikanische Imperialismus. Das
Ich bitte Sie, von der Worterteilung Gebrauch zu machen. Oder wollen Sie verzichten?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß leider das Wort ergreifen, um im Namen der Gruppe der Deutschen Reichspartei die interfraktionelle Erklärung zu ergänzen. Mit Befremden muß ich aussprechen, daß die verlesene interfraktionelle Erklärung leider nicht eine solche des ganzen Bundestages außerhalb der KPD war. Das ist aber nicht unsere Schuld. Wir haben bereits anläßlich des ähnlichen Verfahrens einer interfraktionellen Erklärung bei der Frage der Oder-Neiße-Linie moniert, daß man eine kleinere Gruppe in diesem Hause, die gewiß nicht abseits steht, in diesen großen Dingen geflissentlich ausschließt. Ich appelliere daher heute nochmals in aller Öffentlichkeit an die Loyalität und Toleranz dieses Hauses auch gegenüber den kleineren parlamentarischen Gruppen hier im Hause.
— Ich spreche nicht für Herrn Dr. Dorls, sondern ich spreche für die Gruppe der Deutschen Reichspartei, die mit Hospitanten insgesamt aus 7 Mann besteht.
Mir ist aber eben gesagt worden, es sei an sich kein Zufall, daß wir ausgeschlossen sind, sondern die Fraktion der SPD weigere sich, eine gemeinsame interfraktionelle Erklärung zu unterschreiben, an der wir teilnehmen. Ich möchte der SPD dazu sagen, daß — wenn man die Dinge im Großen in der Welt betrachtet — der Graben nicht da liegt, sondern dort (zur KPD
weisend) liegt, nämlich zwischen der KPD und dem gesamten übrigen Hause. Das möge man sich doch selber sagen, und ich glaube, östlich des Vorhangs lacht man sich ob solcher intoleranten Methoden hier im Hause ins Fäustchen.
Zu der Erklärung selbst. Wir begrüßen die Proklamation des Herrn Bundeskanzlers in ihrem vollen Inhalt. Wir begrüßen auch die angekündigten Gegenmaßnahmen des Bundesministers Kaiser. Es geht in der Tat nicht an, daß man eine Demokratie und eine demokratische Staatsform dadurch mißbrauchen kann, daß man ungestraft und vor allen Dingen ohne jedes Risiko gegen sie wühlen und sie unterhöhlen kann. Das ist ein ungleicher Kampf zwischen einer Demokratie und einer Diktatur, bei der selbstverständlich die Demokratie auf jeden Fall den kürzeren ziehen muß. Es ist also richtig — und wir unterstützen die angekündigten Maßnahmen —, daß man in Zukunft Leute, die diesen Staat hier bewußt unterhöhlen, auch mit entsprechendem Risiko belegt. Das fordert einfach der Selbsterhaltungstrieb.
Aber es geht natürlich nicht, lediglich in einer gewissen Passivität zu verharren und nur gelegentlich zurückzuschlagen, wenn man angegriffen wird. Ich glaube, den Ausführungen des Herrn Bundesministers Kaiser doch hinzufügen zu müssen, daß wir unter allen Umständen weltanschaulich offensiv werden müssen. Denn es ist leider, leider nicht so, daß alle Jugendlichen, die in Berlin beim FDJ-Treffen waren, da hineingepreßt waren! Das wissen Sie wohl auch. Wie sollte es auch anders sein! Die Jugend hat von Freiheit keine Vorstellung. Da das menschliche Gehirn nur relativ denken kann, d. h. nur in den Begriffen, die es in seiner Jugend aufgenommen hat, ist die Jugend heute — man kann wohl sagen etwa bis zum 30. Lebensjahr — überhaupt nicht in der Lage, die Mängel einer Diktatur, einer solch handfesten Diktatur, wie sie drüben vorgeführt wird, zu erkennen. Es ist daher höchste Zeit, nicht länger an unserer eigenen Jugend vorbeizureden. Mit unserer eigenen Jugend sollten wir möglichst bald ins Gespräch kommen! Man erwartet von uns, die wir als Parteien insgesamt — was ich glaube sagen zu können — diese Dinge ja noch nicht gelöst haben, einen politisch neuen Inhalt, eine politische Weiterentwicklung aus der Gegenwart heraus — und nicht aus der Zeit von vor 20 Jahren, die die Jugend ja aus 'eigener Anschauung gar nicht kennt. Dieses Kernproblem kann ich in diesem Rahmen heute nur andeuten. Ich glaube aber, ich bin von jedem verstanden worden. Nur bei wahrhaft organischer politischer Weiter- und Fortentwicklung aus der letzten Vergangenheit heraus werden wir die Kräfte mobilisieren, die wir benötigen, um in Zukunft gegenüber dem kollektivistischen System nicht nur leben, sondern als freie Menschen weiterleben zu können, wie es der Herr Bundespräsident selbst anläßlich der Feierstunde vor einer Woche hier so schön ausgesprochen hat.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Es ist der Antrag gestellt worden, die Erklärung, die der Herr Vorsitzende des Ausschusses für Gesamtdeutsche Fragen verlesen hat, durch das Haus billigen zu lassen. Ich lasse hierüber abstimmen.
— Ich sehe aber, daß das Haus offensichtlich nicht beschlußfähig ist.
Meine Damen und Herren! Ich lasse über den Antrag, die verlesene Resolution zu billigen, nunmehr abstimmen. Wer für die Billigung dieser Resolution ist, den bitte ich, dies durch Erheben von den Sitzen zu bezeugen. — Ich stelle fest, daß das Haus einmütig — ohne die Fraktion der Kommunistischen Partei — diese Resolution gebilligt hat.
Damit sind die Punkte 1 und 2 der Tagesordnung erledigt.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Fraktion der KPD betreffend Maßnahmen zum Schutze der deutschen Landwirtschaft .
Der Ältestenrat schlägt Ihnen, meine Damen und Herren, als Redezeit vor: 10 Minuten für die Begründung und 40 Minuten für die Gesamtaussprache. — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wer begründet? — Das Wort hat der Herr Abgeordnete Harig.
Meine Damen und Herren! Nachdem sich hoffentlich die über den Punkt 1 in Bewegung geratenen Gemüter wieder beruhigt haben
Herr Abgeordneter Harig, diese Bemerkung war ungezogen!
Aber den Tatsachen entsprechend, glaube ich. Von mir aus wollen wir uns jedenfalls wieder mit beiden Beinen in die Wirklichkeit stellen und wollen uns der Not eines großen Teiles der Bevölkerung zuwenden, der Not unserer Landwirtschaft.
Meine Damen und Herren, der Herr Abgeordnete Harig hat noch 10 Minuten zu sprechen. Erschweren Sie ihm seine Aufgabe nicht!
Hoffentlich unterbrechen Sie mich nicht so sehr mit Zwischenrufen.
Der Bundestag faßte am 27. April 1950 einstimmig einen Beschluß; in diesem Beschluß sagt er, er wolle alle Maßnahmen treffen,
damit der in Gang kommende Wiederaufbau der deutschen Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei keine Unterbrechung erfährt, sondern mit Beschleunigung angesichts des Jahres 1952 durchgeführt werden kann.
Aus diesem Grunde sind die Einfuhren landwirtschaftlicher Erzeugnisse, sowie die Abmachungen in den Handelsverträgen so zu steuern, daß die Steigerung der landwirtschaftlichen Inlandserzeugung und Verarbeitung durch ungeregelte Importe keine Störung er-
fährt. In den Handelsverträgen sind hinsichtlich landwirtschaftlicher Positionen Vereinbarungen nicht nur mengenmäßig, sondern auch jahreszeitlich unter Einführung der notwendigen Schutzbestimmungen herbeizuführen. Angesichts der zu erwartenden Produktionsausweitungen der deutschen Landwirtschaft ist für die nächste Zeit von langfristigen Abmachungen, die die Landwirtschaft berühren, abzusehen.
Das ist der Beschluß vom 27. April 1950, der die Landwirtschaft angeht. Inzwischen ist diese Politik des Abbaues aller Handelsschranken, die als Liberalisierung bezeichnet wird, nicht geändert worden. Die landwirtschaftlichen Fachblätter berichten übereinstimmend darüber, daß die Absatzschwierigkeiten und die dadurch erfolgten Preiseinbrüche die Bauern zwingen, Gemüse und Obst auf den Feldern verfaulen zu lassen, da vielfach die Erzeugerpreise kaum mehr die Pflückkosten decken. Verschärft wurden diese Absatzschwierigkeiten außerdem durch die steigenden Preise auf allen anderen Gebieten, die das Kaufvolumen der breiten Volksschichten einschränken. Die Bundesregierung hat in ihrer praktischen Politik den Beschluß des Bundestages vom 27. April 1950 ignoriert.
Bereits in Nr. 19 der Deutschen Bauernzeitung vom 11. Mai 1950 schrieb Staatssekretär Dr. Sonnemann zu diesem Beschluß des Bundestages:
Die Bundesrepublik kann erst seit einigen Monaten als selbständiger Partner in Handelsvertragsverhandlungen auftreten, wobei ihre Bewegungsfreiheit stark beengt ist.
Widerspruchsvoll erklärt Dr. Sonnemann aber in diesem Artikel weiter, daß
die Bedeutung des Bundestagsbeschlusses darin liege, daß es -nun eine bindende Richtlinie für alle Handelsvertragsdelegationen der Bundesrepublik gäbe, die sich in Widerspruch zum einstimmig erklärten Willen des Bundestages stellen würden, wenn sie Einfuhren von landwirtschaftlichen Produkten vereinbaren würden, die nach Jahreszeit oder Menge über den tatsächlichen Bedarf hinausgingen.
Es kann für niemanden Zweifel geben, daß die Überschwemmung des westdeutschen Marktes, die auch nach dem seinerzeitigen Bundestagsbeschluß weiterhin anhielt, und daß durch neue Vertragsabschlüsse — ich erwähne hier besonders die Verlängerung des Vertrages mit Frankreich und den neuen Handelsvertrag mit Portugal, wovon letzterer dei Ausfuhr von 60 °Io landwirtschaftlicher Erzeugnisse nach Westdeutschland beinhaltet —, sowie die Erweiterung der Liberalisierung, die unter anderem Leinsaaten, Schmalz, schmalzartige Fette, Schweine- und Gänsefette usw. beinhaltet, der Beweis erbracht ist, daß die Bundesregierung nicht daran denkt, sich an den Bundestagsbeschluß zu halten.
Herr Professor Niklas erklärte in all seinen Reden, daß die Liberalisierung unausweichlich sei und daß man dagegen nicht ankommen könne, denn diese werde von den Amerikanern gewünscht. Bereits am 25. Juli 1950 kündigte die Agrarpolitische Pressekorrespondenz die dritte Liberalisierungswelle an und verwies darauf, daß bis Ende dieses Jahres 75% der Einfuhren liberalisiert werden sollen, denn nach dem Beschluß der OEEC sollen bis zum Jahre 1951 alle mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen aufgehoben sein.
Es ist klar, daß, solange sich die Bundesregierung restlos den amerikanischen Wünschen unterwirft, an einen Schutz der deutschen Landwirtschaft vor störenden Einfuhren nicht gedacht werden kann und die Bundesregierung deshalb solange niemals daran denken wird, den Bundestagsbeschluß vom 27. April zu realisieren. Aus dieser Erkenntnis stellte die Fraktion der KPD bereits am 19. Juli 1950 den Antrag, der die Rückführung der den westdeutschen Außenhandel betreffenden Hoheitsrechte in deutsche Hand und Wiederherstellung eines freien Außenhandels für ganz Deutschland mit allen Ländern, die auf der Grundlage der Gleichberechtigung und der Wahrung der gegenseitigen Interessen solche Handelsbeziehungen wünschen.
In Punkt 3 ihres Antrages fordert die KPD den großzügigen Ausbau des innerdeutschen Handels durch Ausnutzung aller Möglichkeiten des Warenaustausches. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik hat erst vor kurzem durch Ministerpräsident Otto Grotewohl erklären lassen, daß sie jederzeit bereit ist, sofort ein Warenaustauschabkommen mit Westdeutschland
in Höhe von über i Milliarde Mark abzuschließen.
Herr Abgeordneter, so indiskrete Fragen gehören nicht zur Übung dieses Hauses!
Wie bekannt, wurden die ersten Versuche eines westdeutschen Landwirtschaftsministers, diesen innerdeutschen Warenaustausch auch für die Landwirtschaft auszunützen, diffamiert, die Realisierung des von Herrn Dr. Gereke abgeschlossenen Vertrages auf die lange Bank geschoben. Die Zustimmung zu den ersten drei Forderungen des Antrages der KPD-Fraktion ist die entscheidende Voraussetzung, um stabile und die Existenz der Landwirtschaft sichernde Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu garantieren.
Zu den Punkten 5 und 8: Die landwirtschaftliche Verschuldung hat durch die steuerliche Belastung und die übrigen bekannten Umstände bereits einen 1 Grad erreicht, der an die zwanziger Jahre erinnert. Einem landwirtschaftlichen Verkaufserlös von 7,5 Milliarden DM aus der überdurchschnittlich guten Ernte von 1949/50 stehen Betriebsausgaben einschließlich persönlicher Steuern und Soforthilfeabgaben von 6,6 Milliarden gegenüber. Der daraus sich ergebende Jahresgewinn von 900 Millionen DM verteilt sich auf rund zwei Millionen Betriebe, so daß auf den einzelnen Betrieb ein Jahresdurchschnittsgewinn von 450 DM entfällt, der den baren Arbeitslohn für die bäuerliche Familie darstellt.
Da bei der heutigen undurchsichtigen Steuerveranlagung fast jeder Bauer einen eigenen Steuerberater benötigt, der für ihn eine weitere finanzielle Belastung bedeutet, fordert die KPD eine Vereinfachung der landwirtschaftlichen Steuergesetzgebung. Sie fordert die Reduzierung der steuerlichen Belastung auf das unter den heutigen Umständen vertretbare Maß sowie die ständige Befreiung der kleinbäuerlichen Betriebe von Soforthilfeabgaben. Ich möchte dabei auf die in der Deutschen Demokratischen Republik eingeführte Einheitssteuer verweisen, die die vier Haupt-
steuern zu einer zusammenfaßt und bei der steuerlichen Veranlagung die klein- und mittelbäuerlichen Betriebe besonders berücksichtigt, wie es auch in dem Kontrollratsgesetz Nr. 12 bereits vorgesehen war.
Von all den Versprechungen der Bundesregierung gegenüber der westdeutschen Landwirtschaft ist nichts übriggeblieben als der einzige Rat, die westdeutsche landwirtschaftliche Produktion vor allem im Obst- und Gemüsebau einzuschränken, wie dies Professor Dr. Niklas unter dem Hohngelächter der Bauern auf dem Deutschen Bauerntag in Mainz und Herr Staatssekretär Dr. Sonnemann auf der Gartenbautagung in Stuttgart rieten. Die landwirtschaftliche Zeitschrift schrieb zu diesen Ratschlägen des Herrn Professor Dr. Niklas sehr richtig:
Bei diesem fleißigen Bauernvolk ist mit schönen Worten und ministeriellen Empfehlungen zur Rationalisierung und Selbsthilfe der Ernst der Situation nicht mehr zu beschönigen und die Lage nicht mehr zu retten.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Zu unterstreichen ist auch die Feststellung — —
Kommen Sie zum 'Schluß!
Ich bitte daher die im Hause anwesenden bauernfreundlichen Abgeordneten,
unserem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kriedemann. Die Redezeit ist auf 40 Minuten beschränkt worden; auf Sie kommen 8 Minuten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin mir sicher, daß ich nicht nur in meinem und im Namen meiner Freunde, sondern auch im Namen aller derjenigen Mitglieder dieses Hauses spreche, die sich ernsthaft darum bemühen, die vielen und schwierigen Probleme der Agrarpolitik zu lösen, wenn ich Ihnen vorschlage, in die Behandlung der Drucksache Nr. 1189 nicht einzutreten.
Ganz abgesehen davon, daß die Herren Antragsteller, deren agrarpolitisches Ideal ja immerhin der Kollektivismus
und die Kolchosenwirtschaft ist, uns gar nicht geeignet erscheinen und nicht legitimiert sind, in diesen schwierigen Dingen wirklich mitzureden, ist in diesem Antrag, soweit er sich überhaupt mit Dingen beschäftigt, die zur Agrarpolitik gehören, nichts genannt, was nicht längst in der Arbeit des Ernährungsausschusses angesprochen oder in Behandlung ist. Alle, die wissen, um was es hier geht, können deswegen einen solchen Antrag, der vielleicht aus Gründen der Propaganda erfunden worden ist, nur als eine Erschwerung der ernsthaften Arbeit betrachten. Es ist schade um die Zeit. Ich schlage Ihnen deshalb vor, über diesen Antrag zur Tagesordnung überzugehen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache und lasse abstimmen.
Der weitestgehende Antrag ist der auf Übergang zur Tagesordnung. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Gegen die Stimmen der Antragsteller ist einstimmig beschlossen, zur Tagesordnung überzugehen.
Ich rufe auf Punkt 4 der Tagesordnung:
Erste Beratung des von der Fraktion der Deutschen Partei eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Aufhebung der Bestimmungen der Zweiten Verordnung über die Vereinfachung des Lohnabzugs .
Das Wort zur Begründung hat Frau Abgeordnete Kalinke. Bevor Sie das Wort ergreifen, gestatten Sie mir noch eine kurze Frage an das Haus. Der Ältestenrat schlägt Ihnen folgende Redezeiten vor: 20 Minuten für die Begründung und 90 Minuten für die Aussprache. — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die Zweite Lohnkürzungsverordnung vom 24. April 1942 ist als eine Kriegswirtschaftsverordnung erlassen — Sie haben das in unserer Begründung gelesen und festgestellt —, eine Kriegswirtschaftsverordnung, für die keinerlei Veranlassung mehr besteht, zumal auch der Ministerrat für die Reichsverteidigung, der sie einmal erlassen hat, längst in die Geschichte eingegangen ist. Diese Kriegswirtschaftsverordnung von 1942, die immer noch besteht, aufzuheben, ist eine der Notwendigkeiten, der zu entsprechen wir Ihnen in diesem Initiativantrag hiermit vorschlagen. Wir haben trotz all der Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit sehr viel Gelegenheit gehabt, die Auswirkungen dieser Verordnung, die sich mit dem Beitragseinzugsverfahren der Sozialversicherung befaßt, zu studieren, und wir haben festgestellt, daß die Vereinfachung, die durch diese Verordnung möglich war und damals Arbeitskräfte für den Kriegseinsatz sparen sollte, soviel Mängel gehabt hat, daß ihre Schatten die Vorzüge weit verdunkeln.
Diese Kriegsverordnung hat ihre Bewährungsprobe also in keiner Weise bestanden, und es hat sich das erfüllt, was der Schöpfer dieser Verordnung, Herr Oberregierungsrat Dr. Kurtz welly, schon damals in der Begründung in den Amtlichen Nachrichten über die Reichsversicherung schrieb: „Damit" — mit dieser Verordnung — »verzichtet die Rentenversicherung auf ein sehr sicheres Beweismittel für die Beitragsentrichtung und unzweifelhaft auf die beste Grundlage für die Bemessung der Leistungen."
Seit dem Zusammenbruch sind nun immer wieder Stimmen laut geworden, die sich gegen die unverantwortliche und überaus unübersichtliche Situation wandten, die sich in der Rentenversicherung durch das Beitragserhebungsverfahren ergeben hat. Viele Verbände und Organisationen, Gewerkschaftsausschüsse haben wiederholt bei den Landesversicherungsanstalten schon sehr früh ihre Bedenken mündlich und schriftlich geltend gemacht. Bei den kleinen Unternehmungen, im Handwerk und in der Landwirtschaft, in den Haushaltungen, besonders also bei den Hausangestellten, hat sich das System der Eintragung des Lohnes in eine Karte in keiner Weise bewährt. Die Mehrzahl aller falschen Angaben, die nachweisbar
sind und die in diesen Jahren festgestellt wurden, sind sicherlich nicht aus bösem Willen, sondern sehr oft aus Unkenntnis gemacht worden. Die Auswirkungen aber werden sich mit ihren verheerenden Folgen erst dann ganz zeigen, wenn die Rentenansprüche der Zukunft beweisen werden, wieviel an unrechten Ansprüchen durch diese falsche Einzeichnung und falsche Ausstellung der Karten sich ergeben wird. Schon 1949 hat die Verwaltung für Arbeit eine Fülle von Material zugesandt bekommen, und es wäre nach unserer Auffassung ihre Pflicht gewesen, schon damals das Beitragsmarkenverfahren wieder einzuführen. Statt dessen hat die Verwaltung für Arbeit damals zwar durch einen namhaften Vertreter, der Referent für dieses Aufgabengebiet war, erklären lassen, „daß das Lohnabzugsverfahren in der Tat an einem Mangel leide, der in seinen Auswirkungen für die Versicherten und für die Versicherungsträger nicht ernst genug beurteilt werden könne"; sie hat aber nichts an diesem Mangel geändert.
Leider hat auch das Bundesarbeitsministerium in dieser Frage bisher die Initiative noch nicht ergriffen, obschon im Wirtschaftsrat die Aufhebung von unseren Freunden wiederholt dringlich gefordert wurde. Von jeher ist in der Sozialversicherung die Versicherungsmarke die zuverlässigste Quittung und das allerbeste Beweismittel für den geleisteten Beitrag gewesen. Das Bekenntnis zum Versicherungsprinzip und damit zum selbstverantwortlichen Einsatz für die Wechselfälle des Lebens schließt in sich auch ein kontrollierbares Beitrags- und Leistungsverfahren und eine einwandfreie Beitragsleistung als Grundlage, die so gestaltet sein muß, daß der Versicherte auch die Möglichkeit der Kontrolle über seine Beitragsleistung erhält.
Wie sah es nun mit dieser Kontrolle in der Vergangenheit aus, und wie wird sie in der Gegenwart durchgeführt? Es ist für Sie interessant — und die Geschichte ist sicherlich immer eine gute Lehrmeisterin —, daß schon in der Reichstagsdebatte in der ersten Wahlperiode 1920, als es darum ging, in der Angestelltenversicherung genau so wie in der Invalidenversicherung das Markenverfahren einzuführen und vom Kontenverfahren abzugehen, gesagt wurde:
Auch klagen die Versicherten lebhaft darüber, daß sie keine ausreichende Sicherheit über die Einzahlung der Beiträge in der Hand haben; denn die vom Arbeitgeber in die Versicherungskarten aufzunehmende Bescheinigung über die Entrichtung des Beitrages beweist für die Versicherten nicht bindend, daß der Beitrag auch bei der Anstalt eingegangen und verbucht ist.
Verschiedene Versuche, das Beitragsverfahren unter Beibehaltung der Versicherungskonten zu verbessern, haben auch damals nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Andere Verbesserungsvorschläge sind eingehend geprüft. Auch sie versprechen keine durchgreifende Abhilfe. Sie läßt sich vielmehr mit Sicherheit nur durch Einführung von Beitragsmarken unter gleichzeitigem Wegfall der Konten erzielen.
Soweit der Chronist aus dem Jahre 1920.
Auch der Verwaltung für Arbeit sind schon eine ganze Reihe von Verbesserungsvorschlägen genannt worden. Aber der zuständige Referent hat sich damals darauf beschränkt, einen Vorschlag zu machen, nämlich die Eintragung der Bescheinigungen nicht mehr dem Arbeitgeber, sondern den Krankenkassen zu überlassen. Wir glauben nicht, daß das der richtige Weg zur Wiederherstellung der Ordnung ist.
Mit Rücksicht auf die ernsthafe Sorge um den Bestand der deutschen Sozialversicherung, deren Vermögen durch zwei Kriege und die Währungsreform zerstört wurde, erscheint es notwendiger denn je, eine klare und jeden Mißbrauch ausschließende Überprüfung der Beitragsleistungen zu ermöglichen. Das setzt voraus erstens die Möglichkeit für den Versicherungsträger, die tatsächliche Beitragsleistung der Versicherten auch zu überprüfen. Nach der Zweiten Lohnabzugsverordnung überweisen die Krankenkassen sehr hohe Summen an die Landesversicherungsanstalten, ohne daß diese Anstalten erfahren, für wen die Beiträge im einzelnen zu verbuchen sind.
— Die Anstalt hat also keine Kontrollmöglichkeit und muß sich bei einem späteren Antrag, Herr Kollege Richter, und darauf kommt es an, nur auf die Versicherten-Bescheinigung
verlassen, nämlich auf das, was ihr wirklich vorgelegt wird. Sie kann zwar versuchen, den früheren Beitragsschuldner zur Aufklärung aufzufordern. Wir wissen aber alle, wenn wir an die Kriegseinwirkungen, die zerstörten und gar nicht mehr vorhandenen Betriebe denken, was bei einem solchen Versuch an Erfolg herauskommen könnte.
So sind in den vergangenen Jahren sehr hochwertige Dauerleistungen festgesetzt worden ohne jede Möglichkeit einer wirklich zuverlässigen Kontrolle, und ich erinnere nur an das Beispiel der Westwallarbeiter, für die das Reich eine Verpflichtung zur Beitragserstattung übernommen hatte, die aber vom Reich dem Versicherungsträger gegenüber niemals erfüllt wurde. Das ist ein Beispiel von vielen. Hier müssen die Landesversicherungsanstalten Renten und auch Steigerungsbeträge gewähren, obwohl sie den Gegenwert vom Reich nie erhalten haben.
Das Verfahren, das der § 10 der Zweiten Lohnabzugsverordnung vorschreibt, ist nach unserer Auffassung für einen Rechtsstaat untragbar. Der Schuldner bescheinigt nämlich selbst die Erfüllung seiner Verpflichtung, indem er die Eintragung auf der Quittungskarte vornimmt. Damit ist auf seiten der Arbeitgeber jeder Beitragshinterziehung genau so Tür und Tor geöffnet wie die Unehrlichkeit auf seiten der Versicherten möglich ist. Die ehrlichen Versicherten aber und die ehrlichen Arbeitgeber befinden sich in einer für sie ganz unverständlichen und untragbaren Unsicherheit. Der Versicherte selbst hat keinerlei Beweismittel für seine Beitragsleistung in der Hand. Die Rentenversicherungsträger sind lediglich Vermögensverwalter für die Ersparnisse der Versicherten und für die Arbeitgeberanteile. Die Praktiker der Landesversicherungsanstalten könnten uns sicher dicke Bücher darüber schreiben, welch eine Fülle von unvollkommenen, aus Unkenntnis und Unehrlichkeit gleichermaßen falschen Bescheinigungen ihnen täglich vorgelegt werden. Es wäre ein leichtes, der Öffentlichkeit solche Beispiele des Versicherungsbetruges aus den letzten Jahren zu nennen.
Ich freue mich, hier erklären zu können, daß viele Arbeitgeber, denen aus ihrer Verantwortung für die Sozialversicherung der Arbeitnehmer eine
ordnungsmäßige und übersichtliche Kontrolle der Beiträge notwendig erscheint, die Wiedereinführung des Markenverfahrens als den besten Weg für die Gewinnung eines Höchstmaßes an Sicherheit ansehen. Ich betone das, weil in Zeitschriften, Rundschreiben und Gesprächen immer wieder erklärt wird, daß die Arbeitgeber einstimmig die Zweite Lohnabzugsverordnung beibehalten wollen, und daß aus diesen Gründen das Markenklebesystem nicht wieder eingeführt werden könne. Ich freue mich auch über die Stellungnahme verantwortlicher Gewerkschaftler, die mit Recht mehr Sicherheit für den Beitrag der von ihnen vertretenen Arbeiter und Angestellten fordern.
Notwendig erscheint mir und meinen Freunden besonders die Wiedereinführung einer zuverlässigen Kontrolle. Die Landesversicherungsanstalten haben seit 1892 eine verzweigte Kontrollorganisation mit fachlich gut vorgebildeten Beamten und einen Überwachungsdienst gehabt, der vor Einführung des § 18 der Zweiten Lohnabzugsverordnung vorbildlich arbeitete. Es besteht kein sachlicher Grund, diesen Apparat nicht wieder einzusetzen, damit der rechtzeitige und richtige Beitragseinzug, der für die Geschäftsführung der Rentenversicherungsträger von so entscheidender Bedeutung ist, garantiert wird. In der augenblicklichen Situation mehren sich die Tatsachenberichte, aus denen erkennbar ist, daß z. B. bei der Wanderversicherung, also dem Übergang von der invalidenversicherungspflichtigen Beschäftigung zu einer angestelltenversicherungspflichtigen und umgekehrt der notwendige Wechsel der Versicherungskarte nicht vorgenommen wird. Trägt nun ein Arbeitgeber aus Unkenntnis oder Lässigkeit weiterhin das Entgelt in die alte Versicherungskarte ein, ohne einen Wechsel vorzunehmen, so ist später eine zuverlässige Berechnung der Rente überhaupt nicht möglich. Die Rente wird dann entweder zum Schaden der Landesversicherungsanstalt zu hoch oder zum Schaden der Versicherten zu niedrig festgesetzt. Diese Fälle sind nach dem uns vorliegenden Material seit 1945 zu Tausenden vorgekommen. Wie fehlerhaft auch die Ausstellung der Arbeitsdienstbescheinigung ist, beleuchtet ein Kontrollergebnis eines einzigen Überwachungsbeamten einer Landesversicherungsanstalt, das ich Ihnen als ein Beispiel von vielen vortragen möchte. Bei Durchführung von Betriebsprüfungen, bei denen täglich 6 bis 8 Betriebe mit zusammen 5500 Versicherten geprüft wurden, ergaben sich Falscheintragungen von insgesamt 110 000 DM zu viel angegebenen Arbeitsverdienstes, die berichtigt werden mußten.
Man muß sich also vorstellen, wie solche Prüfungen, wie nur ein Ergebnis zeigt, aussehen würden, wenn man systematisch durchprüfen könnte und würde. Welche Millionen würden wohl für die Sozialversicherung zusammenkommen, wenn es möglich wäre, sich ein wirklich zuverlässiges Bild über diese Verhältnisse zu verschaffen.
Nicht außer acht gelassen werden soll — auch das ist eine sehr wichtige Frage -, daß ja die Beitragseinnahmen nach der Zweiten Lohnabzugsverordnung über die Kassen der Krankenkassen fließen. Es wird also mit Rücksicht auf die finanziellen Schwierigkeiten auch der Krankenversicherung sicherlich durchaus möglich und nicht unerheblich sein, festzustellen, wie lange Zeit die Kassen mit dem Geld zu arbeiten in der Lage sind, wenn etwa ihre Liquiditätslage nicht gestattet, die
Beiträge ordnungsgemäß und pünktlich an die Landesversicherungsanstalt abzuführen. Statistiken über Beitragsrückstände von Firmen, die die Krankenkassen angeben werden, werden ebenfalls andererseits wieder für die Landesversicherungsanstalten interessant sein.
Die bekannten Prüfungsergebnisse zeigen also ein erstaunliches Versagen der bisherigen Handhabung der Zweiten Lohnabzugsverordnung. Eine Landesversicherungsanstalt berichtet z. B., daß nach intensiver Prüfung auf dem Lande und in den Haushaltungen 95% der Arbeitnehmer keine Quittungskarten besitzen. Ich erwähne diese Beispiele, denen noch sehr viele hinzuzufügen wären, weil sie zeigen, wie notwendig im Interesse der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch im Interesse des Staates eine saubere Verwaltung und eine zuverlässige Kontrolle des Beitragseinzugs und der Beitragsleistung für den Bestand der Versicherung sind.
Die ernste Lage der Rentenversicherung, auf die uns der Herr Bundesarbeitsminister laufend aufmerksam gemacht hat, zwingt uns im Interesse der großen Schichten der Arbeitnehmerschaft, die in der Rentenversicherung ihre alleinige Altersversorgung haben, die Mittel der Rentenversicherung auf das Sorgfältigste zu verwalten und sie vor Mißbrauch zu schützen. Nach einer Statistik des Bundesarbeitsministeriums betrugen die Rentenleistungen für Juli 1950 in der Invalidenversicherung bereits 81,3 % und in der Angestelltenversicherung 88% des Beitragseinkommens. Hinzu kommen die Ausgaben für die Heilfürsorge, die Ausgaben für die Krankenversicherung der Rentner und die Verwaltungskosten, so daß in der Angestelltenversicherung 90 % und in der Invalidenversicherung 85 % der Beitragseinnahmen in Anspruch genommen werden. Es ist kein Geheimnis mehr, daß wir in der Invaliden- und Angestelltenversicherung nur noch für sehr kurze Zeit in der Lage sein werden, die Renten aus den Beitragseinnahmen zu zahlen, wenn nicht die steigende Beschäftigungszahl ein günstigeres Ergebnis bringt.
Diese sehr ernste Lage der Rentenversicherung hat auch die Gegner auf den Plan gerufen, die mit den Verfechtern des gleichen Gedankens im Zentralamt für Arbeit schon immer verkündeten, daß die Wiedereinführung des Markenverfahrens die Rentenversicherungsträger in noch größere Schwierigkeiten bringen würde. In diesen Tagen ist in der. Zeitung „Die Ortskrankenkasse" ein Aufsatz erschienen, der sich mit der Organisation der Beitragserhebung befaßt. Dieser Aufsatz geht davon aus, daß die Tendenz der neuesten Zeit ganz allgemein dahin gehe, die Organisationsform zu finden, die die Zweige der Sozialversicherung sogleich zusammenzufassen in der Lage sei und empfiehlt als das Mittel dazu einen einheitlichen Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Auch in der Diskussion der Internationalen Vereinigung für soziale Sicherheit ist man sich durchaus klar gewesen, daß die Markensysteme in England, Irland, Italien und den Niederlanden Verwendung finden und daß man auch in Dänemark wieder zu den Beitragsmarken zurückgefunden hat. Das Gegenbeispiel des österreichischen Einheitsbeitrages und des französischen Lohnlistensystems steht dem gegenüber und wird uns empfohlen. Es ist immer bezeichnend für die Organisation der Sozialversicherung dort, wo man, wie in Frankreich, eine straffe Organisation der Ortskasse hat.
Meine Freunde glauben nicht, daß die Rückkehr zum bewährten Markenklebeverfahren die inter--
nationale Entwicklung auf diesem Gebiete übersehen heißt. Meine Freunde und ich glauben auch nicht, daß die notwendigen zwischenstaatlichen Beziehungen und die so selbstverständliche Diskussion über die Koordinierung sozialpolitischer Notwendigkeiten, die sich durch einen gemeinsamen europäischen Markt ergeben wird, die Schaffung etwa eines einheitlichen Sozialversicherungsrechts oder gar eines einheitlichen Weltsystems für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge voraussetzt. Wie sehr auch bei dem System der totalen Staatsfürsorge die Beitragsmarke als Garant einer zuverlässigen Beitragskontrolle gilt, zeigt Ihnen das Beispiel Englands und, wenn Sie wollen, auch Berlins. Der universale Gedanke einer einheitlichen Versorgung ist dem europäischen Denken genau so fremd wie ein einheitliches Beitragserhebungssystem. Deshalb geht es hier auch nicht um die politische Forderung eines theoretisch erdachten Systems, sondern ganz allein um die Ergebnisse der praktischen Erfahrung, die sachlich zu revidieren wir Verantwortung tragen, um den deutschen Arbeitern und Angestellten und ihrer Selbstverwaltung die gesetzlichen Voraussetzungen für die verantwortliche Vermögensverwaltung und Leistungsgestaltung der deutschen Sozialversicherungsträger zu geben.
Wir treten in die Aussprache ein. Die Begrenzung der Redezeit ist bereits bekanntgegeben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sowohl das Lohnabzugsverfahren als auch das Markenkiebeverfahren hat seine Vorteile und seine Nachteile. Frau Kollegin Kalinke hat versucht, uns nachzuweisen, daß das Lohnabzugsverfahren, das seit ungefähr einem Jahrzehnt zur Anwendung kommt, sowohl für den Versicherten als auch für den Versicherungsträger nachteiliger und daß das Markenklebeverfahren vorteilhafter sei. Ich glaube, wir sollten unvoreingenommen das Für und Wider prüfen und uns dementsprechend entscheiden.
Bekanntlich wird von den Trägern der Krankenversicherung der gesamte Beitrag eingezogen, und zwar sowohl der Beitrag für die Krankenversicherung selbst als auch der Beitrag für die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung. Würde man nun das Beitragsmarkenklebesystem wieder einführen, dann hätten die Krankenversicherungsträger trotzdem ihren Beitrag und den Beitrag für die Arbeitslosenversicherung von dem Arbeitgeber einzuziehen bzw. der Arbeitgeber hätte ihn abzuführen. Daneben hätte der Arbeitgeber noch die Marken zu kleben, sei es für die Angestelltenversicherung, sei es für die Arbeiterrentenversicherung.
Da also lediglich der Beitrag für die Rentenversicherung nicht mehr von dem Arbeitgeber gemeinsam mit den anderen Sozialversicherungsbeiträgen an die Krankenkasse gezahlt, sondern Beitragsmarken verwandt und gekauft werden müßten, glauben wir, daß das seitherige System doch gewisse Vorteile hat. Denn der Arbeitgeber wäre verpflichtet, sich Beitragsmarken aller Klassen und Werte hinzulegen; denn in seinem Betrieb beschäftigt er sowohl Arbeiter wie Angestellte, deren Lohn verschieden hoch ist und deren Lohn durch
Akkord usw. ständig wechselt, und dementsprechend wechseln auch die Beitragsleistungen.
Man sagt allerdings — und Frau Kollegin Kalinke hat es wiederholt —, nur die geklebten und entwerteten Beitragsmarken seien ein einwandfreies Beweismittel fur die Beitragsleistung und eine zuverlässige Grundlage für die Feststeilung und Berechnung des Rentenanspruchs, das Beitragsmarkenverfahren würde auch dem Versicherten eine einfachere Kontrolle über die geleisteten Beiträge ermöglichen. Demgegenüber hören wir wieder von den Anhängern des Lohnabzugsverfahrens, daß das komplizierte und zeitraubende Klebeverfahren einen weit größeren Aufwand an Arbeitszeit und Arbeitskraft als das sehr einfache Lohnabzugsverfahren erfordere. Erfahrungsgemäß werden die Marken von den Arbeitgebern nicht rechtzeitig, vielfach auch nicht in der dem Lohn entsprechenden Höhe und sehr oft — wir wissen es doch, Frau Kollegin Kalinke — überhaupt nicht geklebt. Und kein Arbeiter oder Angestellter, besonders nicht die Großzahl der Arbeiter, die leider gezwungen sind, Akkord zu arbeiten, sind, wenn sie zwei Jahre später von dem Arbeitgeber die Quittungskarte ausgehändigt bekommen, in der Lage, nachzuprüfen, welchen Lohn oder welches Gehalt sie zwei Jahre oder ein Jahr vorher hatten, also nachzuprüfen, ob entsprechend dem damaligen Lohn oder Gehalt auch der richtige Beitrag gezahlt wurde.
— Darauf komme ich noch zu sprechen, verehrte Kollegin Kalinke. Wir haben doch leider so oft die Erfahrung gemacht, daß die Arbeitgeber die Marken erst kleben, wenn sie feststellen, daß die Quittungskarte umgetauscht werden muß, d. h. zwei oder drei Jahre später, oder wenn der Arbeitnehmer entlassen wird oder ausscheidet.
— Natürlich, verehrter Herr Kollege Wellhausen, ist das kontrollierbar, und ich möchte Ihnen auch dahingehende Vorschläge machen.
Es ist weiter in Betracht zu ziehen, daß, um einen einigermaßen laufenden Beitrag zu sichern, die Zahl der Betriebsprüfer in der Sozialversicherung und die Zahl der Betriebsprüfungen — da stimme ich mit der Frau Kollegin Kalinke und auch mit Ihnen, Herr Kollege Wellhausen, überein — vervielfältigt werden müßte, daß die Betriebsprüfungen in kürzeren Zeitabständen zu wiederholen wären. Selbst aber bei der besten Betriebskontrolle würden die Versicherungsträger durch die mit den Beitragsmarken unausbleiblich zusammenhängenden langsameren Beitragszahlungen eine erhebliche finanzielle Benachteiligung und Einbuße erleiden.
Bei dem Beitragsklebeverfahren muß man bedenken, daß eine Versicherungs- und Quittungskarte, wie ich bereits sagte, zwei bis drei Jahre Gültigkeit hat. Bei dem Lohnabzugsverfahren trägt der Arbeitgeber zum Nachweis der Beitragszahlung nach Ablauf eines jeden Kalenderjahres in der Versicherungskarte eines jeden Arbeitnehmers das Gesamtentgelt ein, das der Versicherte erhalten hat. Das ist ohne Zweifel ein sehr einfaches Verfahren. Wenn ich mir die Ausführungen der Frau Kollegin Kalinke in Erinnerung rufe, die sie uns soeben gemacht hat, so scheint es allerdings so zu sein — das wußte ich noch nicht und habe ich in den Organen der Sozialversicherungsträger auch noch nicht gehört —, daß relativ viele Ar-
beitgeber nicht die richtige Lohnsumme angeben, zu gering oder gar zu hoch. Das würde praktisch bedeuten, daß sie Urkundenfälschung begehen. Ich glaube, daß die Zahl solcher Arbeitgeber, wenn sie wirklich vorhanden sein sollten, doch nicht so groß sein wird, daß die mit dem Lohnabzugsverfahren zusammenhängende Vereinfachung und damit Zeit-, Kraft- und Ausgabenersparung dies nicht wieder aufheben sollte. Man sollte nach unserer Auffassung Verbesserungen in dem Lohnabzugsverfahren durchführen.
Wir schlagen vor, nicht zum Markenverfahren zurückzukehren, da die damit verbundene betriebswirtschaftliche Belastung nicht zu verantworten wäre und da außerdem die Zerschlagung des einheitlichen Gesamtbeitrages vermieden werden muß. Der Beitragseingang würde zurückbleiben. Die Zahl der Unregelmäßigkeiten — und das ist auch zu beachten — würde zunehmen.
Um dieser Gefahr zu begegnen, müßte der Prüfungsapparat vervielfacht werden. Dadurch würden den Versicherungsträgern weitere beträchtliche Kosten aufgebürdet werden.
— Nein, es lohnt sich, glaube ich, nicht.
Wir glauben, daß das Lohnabzugsverfahren auf Grund der Erfahrungen dahin verbessert werden kann, daß auf den Entgeltsbescheinigungen neben der Höhe der Summe gleichzeitig der abgeführte Beitrag anzuführen ist, so daß also dem Arbeitgeber nicht nur die Lohnsumme bescheinigt wird, die er in dem abgelaufenen Kalenderjahr erhalten hat, sondern daß auch gleichzeitig festgelegt wird, welcher Beitrag an den Versicherungsträger der Rentenversicherung abgeführt wurde. Auch die Aushändigung einer Durchschrift der Entgeltsbescheinigung an den Versicherten ist unserer Meinung nach sehr empfehlenswert. Wenn das Lohnabzugsverfahren gewissenhaft durchgeführt wird, können nennenswerte Schäden für die Versicherten und den Versicherungsträger nicht eintreten. Jedenfalls werden — das ist unsere Oberzeugung — die Nachteile beim Lohnabzugsverfahren nicht höher sein und nicht höher sein können, als beim Markenklebeverfahren.
Da die vorliegenden Beanstandungen sich im allgemeinen nicht gegen die großen Unternehmungen richten, seien es die der privaten Wirtschaft, seien es die der öffentlichen Hand, sondern gegen die Klein- und Mittelbetriebe, schlagen wir weiter vor, daß man vielleicht die Krankenkassen beauftragt, für diese die Bescheinigungen auszufertigen bzw. die Bescheinigungen nachzuprüfen, sei es durch Abstempelung, sei es in einem anderen geeignet erscheinenden Verfahren. Wir sind weiter der Meinung, daß Betriebe, bei deren Prüfungen Beanstandungen zu erheben waren, schärfer und öfter kontrolliert werden müssen und vielleicht auch die Auflage erhalten müssen, daß die von ihnen auszustellenden Entgeltsbescheinigungen nochmals durch eine Prüfung der Krankenkasse für richtig und einwandfrei erklärt werden müssen. Wir würden weiter vorschlagen — und das scheint uns sehr wesentlich, und ich hoffe, daß Sie zustimmen —, daß die Betriebsräte verpflichtet werden, die Beitragsabführung zu überwachen. Sie müßten auch beauftragt werden, die Entgelts-und Beitragsbescheinigungen zu prüfen. Das scheint uns der beste Weg zu sein, um dieses — gegenüber dem komplizierten, Arbeitszeit, Arbeitskraft und somit Unkosten hervorrufenden Verfahren des Markenklebens — einfache Lohnabzugsverfahren, bei dem der Gesamtbeitrag vom Lohn in Höhe von 10% bzw. 20 % abgezogen wird, zu verbessern.
Man sollte also überlegen, was wir verbessern können. Man sollte nach einer Reihe von Jahren einwandfreier Beobachtung nochmals die Dinge überdenken, und ich glaube, dann werden wir zu dem Ergebnis kommen, daß das Lohnabzugsverfahren insgesamt gesehen gegenüber dem Klebeverfahren einen Fortschritt darstellt. Deshalb können wir dem Antrag der Deutschen Partei nicht zustimmen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Arndgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die mit dem Antrag Drucksache Nr. 1249 angeschnittene Organisationsform für den Beitragseinzug in der Rentenversicherung ist eine Zweckmäßigkeitsfrage, die schon seit längerem auch in internationalen Vereinigungen diskutiert wird. In den 27 Staaten, die der internationalen Vereinigung für soziale Sicherheit angehören, erfolgt .die Beitragsleistung teils nach dem Markensystem, wie es rund 60 Jahre hier in Deutschland praktiziert worden ist, teils durch ein Lohnlistensystem, wie es jetzt seit dem Jahre 1942 in Deutschland üblich ist. Auch ist in der internationalen Diskussion erwogen worden, ob nicht den Steuerämtern die Beitragseinziehung übertragen werden soll. Ich gebe zu, daß die Art der Beitragseinziehung in einem gewissen Zusammenhang mit der Struktur der Sozialversicherung eines Landes, die in den einzelnen Ländern recht verschieden ist, steht.
Zu den Mängeln, die nach Auffassung der Frau Kalinke dem Lohnlistensystem sowohl für die Versicherungsträger wie auch für die Versicherten anhaften sollen, ist neben Erfahrungen., die andere sind als diejenigen, ,die uns Frau Kalinke hier vorgetragen hat, die Stellungnahme der österreichischen Sozialversicherung von Interesse. Frau Kalinke hat schon angeführt, daß in Osterreich das Lohnlistensystem gegenüber dem Markensystem bevorzugt wird. Nun gleicht die Sozialversicherung in Österreich in ihren wesentlichsten Bestimmungen der Sozialversicherung in Deutschland, und in Osterreich ist, abgesehen von der Zeit, in der es an das sogenannte Großdeutschland angeschlossen war, immer das Lohnlistensystem maßgebend gewesen. Also hat Österreich genau so gut wie wir in Deutschland sowohl das Lohnlistensystem wie auch das Markensystem ausprobiert, und in Österreich ist man der Auffassung, daß das Markensystem unzulänglich und für die Versicherten belastend ist. In der österreichischen Stellungnahme ist dann gesagt, das Markensystem lasse der Willkür und dem Schwindel — es ist „Schwindel" gesagt! - Tür und Tor offen. Es wäre keine Seltenheit, daß durch Jahre keine Marken geklebt würden, um dann im erforderlichen Falle Marken einer Stufe einzukleben, die mit den tatsächlichen Lohnverhältnissen nichts zu tun haben.
Schließlich sei nach der Auffassung in Österreich
im Markensystem die ganze Beweislast für den
Bestand und die Dauer der Versicherung dem Versicherten aufgebürdet,
während nach österreichischer Auffassung die Krankenkassen verpflichtet sind, die Beitragszahlung und die Versichertenzeiten in allen Zweigen der Sozialversicherung wahrzunehmen. Die schweren Nachteile, die mit dem Markensystem verbunden sind — bei Verlust von Beitragszeiten, Kleben von Marken, die dem tatsächlichen Lohn nicht entsprechen, und Nichtkleben von Marken -, seien im Lohnlistensystem weitgehend vermieden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Zitierung der österreichischen Auffassung will ich keineswegs im Gegensatz zu Frau Kalinke schon heute dem Lohnlistensystem das Wort reden. Mit dieser Zitierung wollte ich nur andeuten, daß sich bei jedem Beitragseinziehungssystem vieles dafür und manches dagegen sagen läßt. Wie ich eingangs schon erwähnte, ist die Art der Organisation des Beitragseinzuges — ob Marken-, ob Lohnlistensystem — eine reine Zweckmäßigkeitsfrage, die reiflich überlegt werden muß. Ich bin der Meinung, diese Überlegungen müßten mit den Verwaltungen der Rentenversicherungsträger und auch mit den Unternehmern, die ja bei beiden Systemen die Arbeit beim Beitragseinzug im großen und ganzen zu leisten haben, angestellt werden, um nun für dieses Teilgebiet der Verwaltung in der Sozialversicherung den einfachsten, den für die Versicherungsträger, für die Versicherten und auf für die Ausübenden beim Einzug sichersten, den zweckmäßigsten und billigsten Weg zu finden. Ich bin daher seitens meiner Fraktion beauftragt, den Antrag zu stellen, den Gesetzentwurf Drucksache Nr. 1249 dem Ausschuß für Sozialpolitik zu überweisen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Wellhausen.
Meine Damen und Herren! Ich möchte die Angelegenheit nicht verkleinern. Sie ist von der Antragstellerin und auch von den Vorrednern mit sehr großer Sachkunde und durchweg vorurteilsfrei vorgetragen worden. Ich glaube aber doch, daß auch der Harmlose gewisse Hintergründigkeiten hinter dieser Frage vermutet. Ich will den Schleier, der bisher nicht gelüftet ist, auch im Augenblick nicht lüften; man muß ja auch der zweiten und dritten Lesung noch etwas vorbehalten.
Ich meine, wir sollten als das Entscheidende die Stärkung des Sicherheitsgefühls des Versicherten ansehen. Alles, was gut und nötig dazu ist — und wir haben ja gehört, daß die Länder, auch hochmoderne Länder, darüber verschiedener Meinung sind —, sollte in den Vordergrund gerückt werden.
Ich glaube, daß die Zweckmäßigkeit nicht der einzige Maßstab ist; aber ich will mich in Andeutungen nicht weiter ergehen. Die Arbeitgeber werden sicherlich nicht unbedingt die Zweckmäßigkeit oder, besser gesagt, die Einfachheit oder Billigkeit des jetzigen Verfahrens in den Vordergrund rücken, wenn sehr wichtige Argumente im Sinne der Ausführungen der Antragstellerin für das Markenverfahren sprechen. Ich bitte, es mir nicht übelzunehmen, wenn ich nebenbei sage, daß
die letzten 20 Minuten für mich ein Beweis fib die Richtigkeit der Zusammensetzung der Verwaltungsorgane der Sozialversicherung in derjenigen Form waren, wie wir sie uns wünschen. Aber darüber reden wir ja in einigen Wochen.
Das Wort hat dei Herr Minister für Arbeit.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Frage der Zweckmäßigkeit des Beitragseinzugs für die Rentenversicherungen der Angestellten und der Arbeiter ist im Arbeitsministerium schon sehr oft Gegenstand der Beratung gewesen. Auch die Bundesregierung weiß sehr wohl, daß das heutige Beitragseinzugsverfahren sehr starke Mängel aufweist. Ich darf Ihnen sagen, daß schon seit dem Jahre 1946 zwischen den Gewerkschaften. den Arbeitgeberverbänden und den Trägern der Rentenversicherung sehr heftige Auseinandersetzungen über diese Fragen geführt wurden. Und es war absolut nicht so, daß die Arbeitgeber eine einheitliche Stellung einnahmen oder daß die Gewerkschaftsvertreter eine einheitliche Meinung hatten. Selbst die Präsidenten der Landesversicherungsanstalten waren unter sich absolut nicht darüber einig, welches Verfahren das zweckmäßigste ist.
Der Herr Abgeordnete Wellhausen hat hier etwas sehr Richtiges gesagt. Alle diese Dinge müssen in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Sicherung des Arbeitnehmers gesehen werden; denn letzten Endes sind ja für ihn die Versicherungsträger und die Versicherungseinrichtungen geschaffen worden. Und da kommt nun eben immer wieder die Frage, bei welchem System der Arbeitnehmer die größte Sicherung hat. Da triti nun in Erscheinung, was Frau Kalinke hier angeführt hat, daß der eine oder andere Arbeitgebeir die Beiträge nicht ordnungsgemäß abführt und nachher falsche Eintragungen vornimmt. Das ist in den meisten Fällen ein Betrug am Versicherungsträger.
Nun kommt die zweite Möglichkeit, die sich beim Markenklebeverfahren ergeben kann. Von dem Abgeordneten Richter ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es früher, zumindest bei den kleinen Arbeitgebern, gang und gäbe war, daß die Marken erst dann geklebt wurden, wenn de] Mann seine Arbeitsstelle aufgab. Die Versicherungsträger haben manchmal für lange Zeit die ihnen zustehenden Beiträge nicht bekommen. Sie wurden ihnen allerdings dann nachträglich zugeführt. Hier handelt es sich wiederum um eine Schädigung des Versicherungsträgers. Wenn aber am Schluß einer längeren Arbeitsperiode de] Mann Marken in seiner Karte hat und nicht mehr nachprüfen kann, ob die Marke wirklich seinem damals verdienten Lohn entspricht, dann ist das Betrug am Arbeitnehmer.
Wir wollen uns keiner Täuschung hingeben! Die Kontrollen bei den Versicherungsträgern haber wir früher gehabt. Trotzdem war es nie möglich die Dinge so genau zu kontrollieren, wie es notwendig wäre. Stellen Sie sich einmal folgendes vor. Es soll ein Großbetrieb, der vielleicht tausend Leute beschäftigt, kontrolliert werden, und be: den einzelnen soll auch nachgeprüft werden, ob die geklebten Marken dem wirklich verdienter Lohn entsprechen. Das sind sehr schwierige Dinge
Ich darf Ihnen sagen, daß im Arbeitsministerium zur Zeit Verhandlungen mit Ländervertretern und mit den führenden Leuten der Landesversicherungsanstalten stattfinden, um hier die wirklich zweckmäßigste Form zu finden. Wenn Sie den Gesetzentwurf, der von der Fraktion der Deutschen Partei hier eingebracht worden ist, dem Ausschuß überweisen, so würde ich Ihnen raten, einige Leute aus diesem Ausschuß zu bestimmen, die diese Fragen in meinem Ministerium mit den Präsidenten der Versicherungsanstalten und den Vertretern der Länder noch einmal durchsprechen; denn ich glaube, daß alle bisherigen Ausführungen von dem Willen getragen sind, die beste Lösung im Interesse der Arbeitnehmer zu finden.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aussprache ist geschlossen. Es ist Überweisung des Antrages der Deutschen Partei Drucksache Nr. 1249 an den Ausschuß für Sozialpolitik beantragt worden.
Ich bitte diejenigen, die dem Antrag zustimmen, die Hand zu erheben. — Das ist die Mehrheit; es ist so beschlossen.
Ich rufe nun auf Punkt 5 der Tagesordnung: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Kündigung von Tarifverträgen .
Als Redezeit hat der Ältestenrat 15 Minuten zur Begründung und 60 Minuten für die Aussprache vorgeschlagen. — Ich höre keinen Widerspruch. Ich stelle die Zustimmung des Hauses dazu fest.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Bergmann.
Herr Präsident!
Meine Damen, meine Herren! Der Bundeswirtschaftsminister Erhard hat unlängt in einer Pressekonferenz in Bonn sehr optimistisch zu der wirtschaftlichen Entwicklung im Bundesgebiet Stellung genommen und zum Ausdruck gebracht, daß der Preisindex monatlich um 4 bis 5 % gestiegen sei; der Konjunkturaufschwung werde sich nicht nur halten, sondern weiterhin verstärken. Er warnte die Arbeitnehmer, durch Lohnforderungen das Preisniveau und damit die deutsche Exportfähigkeit zu gefährden.
Während die Bundesregierung mitteilt, daß die Preise fast stabil geblieben seien, veröffentlicht das Statistische Landesamt von Nordrhein-Westfalen Preiserhebungen für die wichtigsten Nahrungsmittel. Diese Erhebungen stehen im Widerspruch zu der Feststellung der Bundesregierung. So wurde festgestellt, daß der Preis für ortsübliches Roggenbrot und ebenso für Weißbrot um 10 %, die Preise für Teigwaren teilweise um 18% und der Preis für Schweinefleisch um 16% gestiegen sind. Während in Amerika vom Präsidenten die öffentliche Kontrolle der Preise und Löhne gefordert wird, um so den sozialen Wirtschaftskörper eines großen Landes durch die schwere Zeit zu steuern, vollzieht sich die Entwicklung in unserem verarmten Deutschland in entgegengesetzer Richtung.
Der Abgeordnete Wönner hat am 14. Juli 1950 von dieser Stelle aus schon auf die tiefe Kluft zwischen Preisen und Löhnen aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, daß diese Dinge nicht ohne den schärfsten Widerstand der Gewerkschaften hingenommen werden. Der Bundeskanzler hat in seiner Besprechung mit den maßgebenden
Gewerkschaftsführern versprochen, daß sich die Regierung jeder Preissteigerung widersetzen werde. Für die nun 'eingetretene Entwicklung sind die Regierung und der Bundestag voll verantwortlich.
Die Bundesregierung und die Mehrheit dieses Hauses haben sich für die freie Wirtschaft entschieden. Beide Sozialpartner sind frei in ihrem Handeln. Doch müssen ihre Handlungen von dem Verantwortungsbewußtsein der deutschen Wirtschaft und dem Volke gegenüber getragen sein. Die Arbeitnehmer haben unter Führung der Gewerkschaften seit 1945 in besonders hohem Maße durch Taten bewiesen, daß sie vollstes Verständnis für die wirtschaftliche Situation aufgebracht haben. Die Wirtschafts- und Steuerpolitik dieser Regierung hat große Opfer vom kleinen Mann gefordert.
Nun hat ein Teil der deutschen Wirtschaft durch seine Maßnahmen das Preisgefüge erneut in Unordnung gebracht und in die Höhe getrieben. Auch die Arbeitnehmer sind frei in ihrem Handeln und fordern nun von der Regierung, daß alle Maßnahmen getroffen werden, um den Arbeitnehmern, sozial Schwachen und Rentnern zu helfen. Große Lohnbewegungen sind dadurch ausgelöst, und die Regierung trifft die volle Verantwortung. Da ruft der Wirtschaftsminister ausgerechnet die arbeitenden Menschen zur Disziplin auf und verlangt, daß sie keine Lohnforderungen stellen.
Tiefe Unruhe geht durch das Ruhrgebiet und das Bundesgebiet. Auch in meinem Wahlkreis haben in einer von vielen Versammlungen 700 Invaliden, Witwen und Rentner in einer Resolution ihren Unwillen zum Ausdruck gebracht. Damit hat der Wirtschaftsminister den sozial Schwachen den Fehdehandschuh hingeworfen.
Auch der Reichsbund der Kriegsbeschädigten stellt angesichts der in jüngster Zeit außerordentlich gestiegenen Lebenshaltungskosten fest, daß selbst das Existenzminimum unterschritten ist, daß die in dem Entwurf des Bundesversorgungsgesetzes vorgesehenen Rentenleistungen unter dem anerkannten Existenzminimum liegen. Über 5 Millionen Haushaltungen von Rentnern, Erwerbslosen und Unterstützungsempfängern leiden unter der Brotpreiserhöhung. Die Regierung hat die Subventionen für Getreide und Mehl nicht bewilligt, sondern abgelehnt und läßt auch der Preisentwicklung freie Hand. Die Bevölkerung faßt sich an den Kopf und fragt sich: Ist die Regierung bar aller Vernunft, ist sie für das Volk da oder nur für einige wenige Interessenten?
Weltpolitisch gesehen machen die demokratischen Länder große Anstrengungen, um die Menschen aus dem sozialen Elend zu befreien, um ihnen einen höheren Lebensstandard zu sichern und sie gegenüber dem Kommunismus immun zu machen. Selbst die amerikanischen Gewerkschaften fordern von ihrer Regierung, daß den Völkern Europas Mittel zur Verfügung gestellt werden, um deren Wirtschaft zu entwickeln und auszubauen und um damit einen höheren Lebensstandard zu erreichen. Der demokratische Gedanke kann nur gefördert werden, wenn dem ar-
beitenden Menschen und dem sozial Schwachen ein gutes Realeinkommen gesichert wird. Wenn aber z. B. laut Untersuchung des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften die große Anzahl der Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen 55,4 % ihres Lohns für Ernährung benötigen, wird es schwerkalten, diese aktiv für den Gedanken der Demokratie zu gewinnen. Die Regierung und die Wirtschaft befinden sich in derselben Lage wie vor 1933 und müssen sich entscheiden, ob sie endlich eine aktive Sozialpolitik zugunsten der breiten Massen durchführen wollen. Nur so wird die Demokratie untermauert und die Bereitschaft zur Demokratie geweckt und gefördert. So waren die Gewerkschaften gezwungen, Lohnforderungen zu stellen, um das Existenzminimum der arbeitenden Menschen zu sichern. In wichtigen Wirtschaftszweigen sind und drohen soziale Unruhen. Weite Arbeitnehmergruppen sind durch Tarifverträge zeitlich gebunden.
Darum legt Ihnen die sozialdemokratische Fraktion den Antrag auf Drucksache Nr. 1269 vor mit dem Ziel, ein Gesetz über vorzeitige Kündigung von Tarifverträgen zu schaffen. Wir bitten das Hohe Haus, den Antrag anzunehmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Arndgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Datum, das der Antrag der SPD-Fraktion Drucksache Nr. 1269 trägt, zeigt, daß er zu einer Zeit gestellt wurde, als sich die ersten Auswirkungen des Korea-Konfliktes auf dem Preismarkt zeigten und die Befürchtung aufkam, die Preisentwicklung würde einen derartigen Notstand auslösen, daß der Gesetzgeber gezwungen sei, in bestehendes, von den Vertragspartnern geschaffenes Recht und in die von diesen Vertragspartnern abgeschlossenen Verträge einzugreifen. Es ist nicht zu leugnen, meine Damen und Herren, daß in den letzten Wochen die Preise für Getreideerzeugnisse und Fleisch fühlbar in die Höhe gegangen sind.
Wie aber, meine Damen und Herren, und in welchem Ausmaß sich die Preisentwicklung auf die Lebenshaltungskosten im ganzen ausgewirkt hat, darüber gehen die statistischen Feststellungen sehr weit auseinander.
Die Frage, ob die Preisgestaltung eine derartige Entwicklung genommen hat oder noch nehmen wird, daß von einem außerordentlichen Notstand gesprochen werden kann, der einen einschneidenden Eingriff in die Vertragssphäre der Sozialpartner rechtfertigt, kann wohl kaum bejaht werden.
Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Annahme des Antrages der SPD-Fraktion ohne genaue Prüfung würde einen Einbruch in die Vertragssphäre der Sozialpartner bedeuten, einen Einbruch, der sich zu gegebener Zeit einmal als Bumerang für die Arbeitnehmer auswirken könnte.
Soweit ich mich aus meiner Tätigkeit sowohl als
Gewerkschaftler wie auch als Verantwortlicher .in
einer Regierung erinnern kann, ist nur zweimal
von Gesetzes wegen in die Vertragssphäre der Sozialpartner eingegriffen worden, einmal im Jahre 1923 zur Zeit der Inflation und das andere Mal im Jahre 1948 zur Zeit der Währungsreform.
Meine Damen und Herren! Die damaligen Vorgänge waren so außerordentlicher Natur,
daß sie ein Eingreifen des Gesetzgebers notwendig machten. Die heutige Situation läßt sich mit der damaligen in keiner Weise vergleichen.
Nicht ich allein warne vor dem Eingriff in die Vertragssphäre der Sozialpartner. Ich nenne aus dem Kreise der Sozialdemokratischen Partei den Minister Kubel und den Ministerpräsidenten Kopf, Männer, die derselben Auffassung sind; sie sind auch der Auffassung — das geht aus einem Brief hervor, der in diesen Tagen an die Arbeitgeberorganisationen Niedersachsens gerichtet worden ist.
In diesem Brief wurde hervorgehoben, daß es — im Jahre 1948, glaube ich, ist es gewesen — den Arbeitsministern der Länder gelungen ist, die Bestimmung über die Lohn- und Arbeitsbedingungen wieder in die Hände der Gewerkschaften und in die Hände der Arbeitgeber zu legen; und in diese Freiheit bezüglich der Festlegung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, in den Bereich dieser Organisationen sollte der Staat nicht eingreifen.
Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, zu den praktischen Auswirkungen bei eventueller Annahme des Gesetzes. Ich habe mir einmal über 100 der wichtigsten Tarifverträge des Bundesgebiets, soweit diese die Lohn- und Gehaltsbestimmungen regeln, auf ihre Kündigungsbestimmungen angesehen. Von diesen — 103 Tarif- und Lohnverträge waren es — haben nur 25 eine Kündigungsfrist von zwei Monaten, alle anderen Verträge haben eine Kündigungsfrist von sechs Wochen und darunter. Wenn also bei dem größten Teil der Lohnabkommen eine der Vertragsparteien am 29. Juli - dem Tag Ihres Antrags — den Tarifvertrag gekündigt hätte, wäre er heute schon abgelaufen.
Selbst die 25 Lohnabkommen mit einer Kündigungsfrist von zwei Monten ständen am 10. September, am Tag des für dieses Gesetz beantragten Termins für das Inkrafttreten kurz vor ihrem Ablauf; und von den 103 sehr wichtigen Tarifverträgen mit dem allergrößten Teil der Arbeitnehmer haben nur 7 eine Kündigungsfrist, die erst nach dem 1. Januar 1951 ablaufen würde.
Dabei fällt der so überaus wichtige Tarifvertrag für die Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen nicht einmal unter die Bestimmungen dieses Gesetzes.
Für diese wenigen noch übrigbleibenden Lohnabkommen ist nach meinem Dafürhalten, wenn es not täte, bestimmt die Möglichkeit gegeben, durch Vereinbarungen zwischen den Vertragspartnern einen vorzeitigen Ablauf festzusetzen.
Sie sehen, meine Damen und Herren, daß auch von den praktischen Auswirkungen her gesehen das beantragte Gesetz kaum von Bedeutung werden wird. Ich weiß nicht, ob ich den Antragstellern nicht den Rat geben soll, den Antrag zurückzuziehen,
weil eben das Gesetz kaum irgendwelche Bedeutung für die Arbeiterschaft bekommen wird. Ich nehme an, daß sie den Antrag zurückziehen werden. Ich beantrage daher namens meiner Fraktion, daß der Antrag Drucksache Nr. 1269 dem Ausschuß für Arbeit und dem Ausschuß für Wirtschaftspolitik zugeleitet wird.
Ich will auch nicht ausführlich über den mir vorliegenden Bericht des Statistischen Bundesamtes vom 7. September sprechen, obwohl das ja Tatsachen sind und obwohl diese Tatsachen trotz aller Beanstandungen an der Statistik eine bemerkenswerte Sprache sprechen. Immerhin läßt sich dieser Bericht dahin zusammenfassen, daß sich Preiserhöhungen und Preissenkungen der letzten Wochen ausgeglichen haben, so daß bisher — ich betone: „bisher" — im Durchschnitt die Lebenshaltung eines Arbeitnehmers nicht erkennbar verteuert ist. Ich zitiere wörtlich. Ich weiß, daß eine solche Verteuerung zu erwarten steht, und ich will die Dinge damit abschließen, daß ich sage: niemand kann behaupten, daß die Verteuerung so grundlegend ist, daß man daraus das Recht herleiten könnte, folgenschwere Eingriffe in ein so wichtiges Prinzip, als welches ich vorhin die Tarifhoheit der Sozialpartner gekennzeichnet habe, zu begründen.
Ich meine, man sollte einsehen — und die letzten Ausführungen unseres Kollegen Arndgen haben ein weiteres, ein rein tatsächliches Moment hinzugetragen —, wie gefährlich es ist, derartige Tendenzen in dieser Zeit zu verfolgen. Ich kann mich, wie schon beim Bauarbeiterstreik in Hamburg, nicht ganz des Gedankens erwehren, daß hier politische Dinge stark mitschwingen. Die Regierung hat, wie Sie wissen, beide Sozialpartner — nicht nur die Arbeitnehmer — ermuntert und
aufgefordert, Mäßigung zu halten. Ich bin fest überzeugt, daß das beiden Teilen gegenüber gleich ernst gemeint ist. Keiner soll die Schuld auf den anderen schieben. Auch in keiner Gruppe soll die Schuld von dem einen Teil auf den anderen, sagen wir, von den Angestellten auf die Arbeiter, von der Industrie auf den Handel oder umgekehrt, geschoben werden.
Nun haben die Arbeitnehmer, speziell die an Rhein und Ruhr, in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch eine große Mäßigung gezeigt, die auch immer anerkannt worden ist. Dieser Entwurf aber, so wenig er auch nach den Ausführungen von Herrn Arndgen in tatsächlicher Beziehung bedeuten mag, läßt diese Mäßigung vermissen.
Wie wäre es, meine verehrten Damen und Herren, wenn wir uns an ein Wort unseres Bundespräsidenten erinnerten, das er an dieser Stelle am 7. September 1950 diesem Hause zugerufen hat, daß nämlich das deutsche Volk doch ein wenig mehr Geduld mit sich haben möchte. Verlangen kann man das nur, ein solches Ansinnen an Arbeitnehmer und Arbeitgeber kann man nur stellen, wenn man davon überzeugt ist, daß die Bundesregierung mit bestem Willen alles tut, um die Frage Preise und Löhne, die bei Gott nicht ganz einfach ist, in Ordnung zu halten. Wir glauben, daß sie den besten Willen dazu hat; und ich meine, der Bundestag hat eigentlich keine andere Aufgabe, als ihr dabei zu helfen und ein Ausgewogensein von Löhnen und Preisen, das gewisse Korrekturen auch bei den Löhnen nicht unbedingt grundsätzlich auszuschließen braucht, zu erhalten. Ich glaube, wir tun das Gegenteil von der Aufgabe unseres Hauses, die ich eben kennzeichne, o wenn wir dem Gedanken, von dem der Entwurf des Gesetzes getragen ist, zustimmen, denn es könnte doch wohl allzuleicht als eine Aufforderung angesehen werden, die Spirale Löhne — Preise in eine rasche Bewegung zu setzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Walter.
Meine Damen! Meine Herren! Ich will mich nicht über den Wert oder Unwert der Statistik mit Ihnen unterhalten. Aber die Ausführungen des Herrn Kollegen Arndgen über die Ablaufzeit der meisten Tarife, die schon sehr kurz bemessen ist, lassen doch darauf schließen, daß der Antrag der Opposition nicht gestellt worden ist, um damit der Wirtschaft, dem Volke oder den Arbeitnehmern zu dienen. Man ist vielmehr geneigt, eine andere Auffassung darüber zu haben.
Eine Frage, meine Herren von der Opposition: Würden Sie denselben Antrag gestellt haben, wenn Sie in der Regierung säßen?
— Nein, dann sähe die Politik nicht ganz anders aus! Ich will Sie nur daran erinnern, daß Ihre Kollegen jenseits des Kanals dafür das beste Beispiel gegeben haben.
Die haben ihren Gewerkschaften geraten, mit den Lohnforderungen zurückhalten, da die Wirtschaft das nicht vertragen kann.
Und wenn Sie glauben, daß Sie mit Ihrem Antrag irgendjemandem dienen können — ja, wem
wollen Sie denn damit dienen, oder wer könnte sich darüber freuen? Die Arbeiter, denen Sie helfen wollen? — Gewiß nicht! Die werden noch mehr in Angst vor der Not leben, wenn sie des Glaubens sein müssen, alle 14 Tage könnte ein Tarif gekündigt werden. — Der Wirtschaft ist damit nicht gedient, weil die Schraube der Löhne und Preise ihre Gesundung stören müßte.
Einem Kreise tun Sie damit wohl einen Gefallen,
und da drüben, ganz links, sitzen einige Vertreter
in unserem Hause — die sich gewiß darüber freuen.
Machen wir uns nichts vor: Es sind die Kräfte, die ein Interesse daran haben und immer haben werden, daß man Gesetze einbringt,
die dazu angetan sind, unseren Wirtschaftsfrieden und den Aufbau unserer Wirtschaft ernstlich zu gefährden. Wir wollen doch alle bestrebt und bemüht sein, daß der Wirtschaftsfriede erhalten bleibt.
Ich möchte mit allem Nachdruck betonen, daß die Arbeiter und Angestellten, daß unsere schaffenden Menschen ein Recht darauf haben, daß sie einen Reallohn erhalten, der den Lebensbedingungen angemessen ist.
Sie haben ein Recht auf einen gerechten Lohn.
— Jawohl, aber wenn Sie glauben, daß dies nur mit Ihren Methoden zu erreichen sei, dann sollten Ihnen die vergangenen Zeiten und die Verhältnisse klargemacht haben, daß der andere Weg der bessere und gangbarere ist und immer sein wird.
Der andere Weg ist der, daß sich beide Partner verständigen.
Wir haben heute nachmittag, als wir mit der Sitzung begannen, eine eindrucksvolle Demonstration durchgeführt, in der zum Ausdruck kam, daß sich beide Seiten des Hauses in lebenswichtigen Fragen unseres Volkes sehr wohl verständigen können. Da die Wirtschaft unser Schicksal ist und wir alles Interesse daran haben müssen, den Wirtschaftsfrieden zu wahren, sollten wir mit der gleichen Entschlossenheit und dem gleichen Ernst wie bei Beginn unserer heutigen Sitzung auch an die Lösung dieser Fragen herangehen und zwar sowohl von seiten der Arbeiter wie der Betriebsleitungen, von seiten der Gewerkschaften wie der Unternehmerorganisationen. Wir haben alle Ursache, dafür zu sorgen, daß unsere Wirtschaft in ihrer Aufbauarbeit nicht gestört wird.
Aus diesem Grunde lehnen wir den Gesetzentwurf der Opposition ab, da er unserer Wirtschaft und unserem Volke nicht dient.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Strobel.
Meine Herren und Damen! Wir sind Ihnen außerordentlich dankbar dafür, daß
Sie in diesem Falle den Schleier bereits bei der ersten Lesung gelüftet haben.
Insofern haben wir die Möglichkeit, Ihnen die Gründe, die Sie eigentlich kennen sollten und die uns veranlaßt haben, diesen Antrag einzubringen, gleich hier bei der ersten Lesung vorzutragen.
Darf ich Sie an ein Wort erinnern, das Herr Bundesminister Kaiser vorhin sagte — und er sagte es wohl im Zusammenhang damit, daß wir in besonderen Verhältnissen leben— : Besondere Verhältnisse erfordern besondere Maßnahmen. Herr Minister Kaiser sagte: Es ist unbedingt notwendig, daß wir alles, aber auch alles tun, um die sozialen Verhältnisse im Bundesgebiet zu bessern.
Das war der letzte Eindruck,
den wir aus dieser ernsten Demonstration des Bundestages heute mit hinausgenommen haben.
Meinem Kollegen Herrn Arndgen möchte ich sagen: Es dürfte auch Ihnen bekannt sein, daß der Bundesvorstand und der Bundesausschuß des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der sich bekanntlich aus Gewerkschaftsfunktionären aller politischer. Richtungen zusammensetzt,
einmütig der Auffassung ist, daß die Kündigung der Lohntarife, der langfristigen Tarifverträge, angesichts der Preiserhöhungen notwendig ist. Es ist außerordentlich erstaunlich, daß sich diese Auffassung bei den Gewerkschaftsfunktionären, die Bundestagsabgeordnete sind, nicht immer durchsetzt. Ich bin darüber hinaus auch der Auffassung. daß Herr Kollege Arndgen nicht gerade die Tarifverträge gelesen hat, die wir im Auge hatten. Es gibt nicht nur einige Hunderte.
Wenn man davon spricht, daß diese Kündigungsfrist nun einmal abgeschlossen sei, dann möchte ich sagen: Die Verbraucherschaft befindet sich in diesem Falle eben in der schlechteren Situation, weil die Schraube ja von den Preisen her in Bewegung gesetzt worden ist
und wir keine Möglichkeit haben, durch irgendwelche Kündigungen oder durch den Abschluß von Tarifverträgen mit der Regierung oder auf Grund von Regierungserklärungen über die Preise in dieser Beziehung etwa die einschlägigen Wirtschaftskreise an die Preise zu binden, die damals versprochen wurden. Ich glaube, es dürfte auch Ihnen bekannt sein, daß diese Tarifverträge unter dem Eindruck der Versprechungen der Bundesregierung abgeschlossen worden sind,
und der Herr Bundeskanzler hat ja damals versichert, daß die Preise aller lebenswichtigen Nahrungsmittel von der Regierung gehalten würden.
Sie haben wiederholt darauf hingewiesen, daß statistische Berechnungen, Indexziffern usw. nicht unbedingt ein Maßstab für die tatsächlichen Lebenshaltungskosten seien. Darin stimme ich mit Ihnen überein. Ich möchte aber sagen, daß alle statistischen Berechnungen einschließlich der des bundesstatistischen Amtes es nicht fertiggebracht haben, die tatsächlichen Preiserhöhungen der letzten Wochen hinwegzudividieren.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten,
daß es heute zum soundsovielten Male notwendig ist, Ihnen die Lage der Bevölkerung in den niederen Einkommensklassen zu schildern. Ich meine, auch Ihnen dürfte die steigende Unzufriedenheit mit der gesunkenen Kaufkraft bekannt sein. Sie wissen genau so gut wie wir, daß die Grenze des Erträglichen nicht nur erreicht, sondern sogar überschritten ist. Wie sollte Ihnen das nicht bekannj sein! Sollte Ihnen der Brief der CDU von Barries und Braam-Ostwennar nicht bekannt sein?
Dann darf ich Sie bitten, sich ihn von einigen Fraktionskollegen der CDU leihen zu lassen.
Ich glaube nicht, meine Damen und Herren, daß Sie als Politiker etwa das Vertrauen des Teiles Ihrer Wähler, der sich aus kleineren und mittleren Einkommensträgern rekrutiert, gefährden wollen. Aber das ist ja Ihre Angelegenheit. Wenn aber das Parlament ein ganzes Jahr lang — und das ist geschehen —über die wirtschaftliche Notlage breitester Bevölkerungsschichten debattiert und sich trotzdem in seiner Mehrheit nicht entschließen kann, einmal dann, wenn es unbedingt notwendig ist, durch ein Gesetz besondere Maßnahmen für diese kleinen Einkommensträger zu ermöglichen, dann fürchte ich sehr, ist das Vertrauen der Bevölkerung zum Parlament als einer Institution des demokratischen Staates gefährdet.
Sie werden genau so gut wie wir jede Woche in Versammlungen zu Ihren Wählern sprechen, und wenn Sie ein offenes Ohr für die Not der Bevölkerung haben, dann wissen Sie, wie man darüber denkt, daß geredet, aber nicht gehandelt wird zugunsten des kleinen Mannes.
Täuschen Sie sich bitte nicht über die Tatsache hinweg, daß die Verbitterung der Bevölkerung über die Teuerungswelle
und unter dem Eindruck, daß nichts gegen sie geschieht — nur von „Absichten" hört man — ungeheuer groß ist, und mit Recht.
Ich stütze mich, wie ich schon sagte, nicht auf Indexziffern. Aber ich stütze mich auf reale Tatsachen, die ich selbst, wenn ich zu Hause einkaufe, jeden Tag erleben kann. Ich kann Ihnen an Hand meiner eigenen Einkäufe in Nürnberg nachweisen, daß Schweinefett im Juni pro kg 2,45 DM gekostet hat, daß Schweinefett heute pro kg 3,— DM kostet. Das ist eine Erhöhung von 20%
Bei Speiseöl beträgt die Erhöhung von 2,40 DM auf 3,50 DM 40%. Die Reihe dieser Zahlen ließe sich beliebig erweitern. Man führt so gern von seiten der Ministerien an, daß es ja auf dem Wege über Gemüse, Obst usw. Ausweichmöglichkeiten gibt. Gemüse war im vorigen Jahre wesentlich teurer als heute. Das ist richtig. Aber der kleine Mann ist ja gezwungen, sich sein Gemüse selbst zu ziehen. Das teure Obst konnte er früher nicht kaufen, und deswegen ermäßigen sich seine Lebenshaltungskosten nicht.
Meine Herren und Damen! Es kommt mir gar nicht darauf an - weil ich es nicht für sehr er-
folgversprechend halte —, in diesem Falle einmal mehr an Ihr soziales Gewissen zu appellieren.
Mir kommt es darauf an, Ihnen zu zeigen, daß die Tatsachen wirklich so nüchtern sind. Eine Münchener Hausfrau hat im August einmal alle ihre Ausgaben aufgeschrieben. Sie ist auf 183 DM gekommen, ohne Miete, Beiträge und ähnliche festliegende Ausgaben. Daneben hat sie die Preise vom Juni für dieselben Dinge geschrieben, und es ergab sich eine Steigerung von 37 DM. Das ist keine statistische Berechnung; ich glaube, mein Kollege aus München ist gern bereit, jedem von Ihnen diesen Brief zur Verfügung zu stellen; dann können Sie daheim mit Ihren Frauen die Preise vergleichen; und Sie werden sie von Ihren eigenen Frauen bestätigt bekommen.
Die Meldungen, daß die Regierung Preissteigerungen mit allen Mitteln verhindern oder durch Subventionen vermeiden will, sind in der letzten Zeit sehr zahlreich; aber leider Gottes strafen eben die tatsächlichen Preise diese Meldungen bisher Lügen. Denken Sie bitte, meine Damen und Herren, einmal daran, daß eine ganz große Zahl von Familien im Bundesgebiet in der Woche —nicht an einem Tag — nicht mehr als 30 Mark für die Ernährung der ganzen Familie auszugeben hat. Ich weiß ganz genau; die gütigen Menschen in diesem Hause sind in allen Parteien genau so zahlreich wie in der Bevölkerung. Jeder von uns tut, was er kann, um Not zu lindern. Aber, meine Herren und Damen, ich bin der Auffassung, daß es nicht unsere Aufgabe als Parlamentarier ist, Almosen zu geben oder zu schaffen, sondern daß es unsere Aufgabe ist, Gesetze zu machen, die Almosen unnötig machen.
Wohltätigkeit ist eine sehr schöne und eine sehr lobenswerte Sache; aber, meine Herren und Damen, wenn Sie bestehen wollen, dann ist es notwendig, durch entsprechende Gesetze die Armut zu beseitigen. Sie haben sich bisher, nach meiner Auffassung um einer Doktrin willen, nicht dazu entschließen können, ein System der Fest- und Höchstpreise für alle lebenswichtigen Produkte einzuführen. Sie haben sich dagegen gesträubt, die Festlegung und Kontrolle der Handelsspannen und eine scharfe Überwachung der Produktionskosten durchzuführen.
und nicht diejenigen, die diese Tatsachen feststellen.
Auch das neue Preisgesetz wird in dieser Beziehung lückenhaft sein. Die vorhandenen und die beabsichtigten Bestimmungen reichen nicht aus, um eine unlautere Ausnutzung der Konjunktur zu verhindern; das wissen Sie genau so gut wie wir. Sie haben sich nicht entschließen können — auch darauf muß ich Sie aufmerksam machen —, Ihren ursprünglich mit uns angenommenen Beschluß, die alten Brotpreise durch Subventionen zu sichern, aufrechtzuerhalten.
Damit fingen die Preissteigerungen an.
Wenn Sie den unhaltbaren Zuständen nicht von der Preisseite her begegnen wollen, dann gibt es, um die Kaufkraft zu erhalten, eben nichts anderes als den Weg über die Erhöhung der Einkommen, der Löhne, der Gehälter, der Renten und der Unterstützungen.
Es wäre uns lieber gewesen, Sie wären bereit gewesen, die Teuerung zu verhindern bzw. eine Senkung der Lebenshaltungskosten zu erreichen. Das ist nicht geschehen. Die Konsequenz daraus ist eben für uns in diesem Falle dieses Gesetz.
Wenn Sie meinen, daß diese Belastung für die Wirtschaft nicht tragbar ist, dann darf ich Sie an die Denkschrift des Genossenschaftsverbandes — nicht etwa eines Verbandes der Konsumgenossenschaften, sondern der Genossenschaften in Handel und Gewerbe — an den Herrn Bundeskanzler erinnern, in der es heißt, daß im Kostengefüge der Wirtschaft noch Spannen für Lohnerhöhungen vorhanden sind. Der ewige Appell an die Moral der Unternehmer ist bekanntlich nicht von Erfolg gewesen. Nennen Sie mir doch den Unternehmer in Gewerbe, Industrie und Handel, der seinen persönlichen Verbrauch bzw. seine privaten Entnahmen eingeschränkt hat!
Bekannt sind ja auch die D-Mark-Eröffnungsbilanzen und die Tatsache, daß bei den meisten Gesellschaften eine Umstellung des Aktienkapitals 1:1 möglich war.
Übersehen Sie doch bitte nicht, daß auch dies nur durch die Leistung und die niedrigen Löhne der Arbeiterschaft in der Reichsmarkzeit möglich geworden ist.
Ihre Redezeit ist abgelaufen!
Es ist nicht mehr als recht und billig, daß jetzt durch entsprechende Lohnerhöhungen eine Verewigung dieses Unrechts endlich unmöglich gemacht wird.
Das Wort hat der Herr Bundesarbeitsminister.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, der hier vorliegt, hat sehr üble Seiten. Diejenigen Damen und Herren, die im Frankfurter Wirtschaftsrat im vergangenen Jahre das Tarifvertragsgesetz mit geschaffen haben, wissen, daß sich alle Beteiligten damals darüber klar waren, daß man einen neuen Rechtszustand schaffen müsse, der dem Staat das Eingreifen in die Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen unmöglich macht. Wir haben vor der Schaffung des Tarifvertragsgesetzes erst das Lohnstopgesetz aufgehoben, und mir kommt es manchmal so vor, als wenn man auch im Parlament die damals vorhandenen Tatbestände nicht mehr übersehen könnte. Wenn Sie die Debatte über diesen Gesetzentwurf dazu ausweiten, eine Debatte über die Notwendigkeit von Lohnerhöhungen zu führen, dann ist das meines Erachtens nicht richtig — oder Sie müssen sich auf den Standpunkt stellen, daß wir wieder einen politischen Lohn haben wollen
und damit der Bürokratie und der Gesetzgebung
wieder Funktionen zuweisen, die damals bei der
Schaffung des Tarifvertragsgesetzes bewußt in
die Hände der Sozialpartner übergeführt wurden.
Das sollten Sie bei der. Debatte über diese Frage wirklich viel ernster nehmen als die Seitenerscheinungen, die vielleicht dazu geführt haben, diesen Gesetzentwurf einzureichen.
Wenn hier gesagt wird: „Ein gewisser Teil der Tarifverträge enthält Bindungen, die für die Arbeiter im Augenblick einfach unhaltbar sind!", so darf ich Ihnen aus der Kenntnis aus meinem Ministerium sagen, daß die Tarifverträge, die durch dieses Gesetz früher zum Ablauf gebracht werden könnten, nur einen kleinen Prozentsatz der tatsächlich vorhandenen Tarifverträge und Lohnabkommen ausmachen; und ich kann Ihnen sagen, daß in der Zeit, seitdem dieser Gesetzentwurf eingereicht wurde, Kündigungstermine teilweise gar nicht ausgenutzt worden sind.
Ich meine, die Freiheit, ob man einen Tarif kündigen soll oder nicht, muß letzten Endes bei der organisierten Arbeiterschaft und bei demjenigen Verband liegen, der diesen Vertrag abgeschlossen hat.
Wenn hier einige Preissteigerungen zur Begründung dieses Gesetzes angeführt worden sind, dann
sage ich Ihnen in aller Offenheit: Würden Sie es
für richtig halten, daß Tarifverträge, die in der
heutigen Zeit unter Berücksichtigung dieser Einzelpreise neu abgeschlossen werden, von der Arbeitgeberseite mit abgekürzten Kündigungsfristen
gekündigt werden können, wenn diese Preise sich zurückrevidiert haben?
Das sind doch die Konsequenzen! Ich spreche hier viel weniger als Minister als als früherer Gewerkschaftler. Ich war Gewerkschaftsangestellter, als man es den Arbeitnehmern unmöglich gemacht hat, das Mitbestimmungsrecht in der Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch ihre Gewerkschaften auszuüben. Wir wissen doch, wie damals die Dinge gelaufen sind. Es hat im Anfang manchen Treuhänder gegeben, der an dieser oder jener Stelle, vor allen Dingen in der Metallindustrie, den Leuten entsprechend der Konjunktur etwas mehr gegeben hat. Den Strick um den Hals haben die Arbeiter dann gespürt, als das System sich durchgesetzt hatte. Ich warne das Hohe Haus dringend, von dem Grundgedanken des Tarifvertraggesetzes wieder abzugehen.
Wenn Sie heute einen derartigen Beschluß fassen würden, dann würden Sie damit vor dem Volk nichts anderes sagen, als daß wir uns zur Zeit in einem außerordentlichen Notstand befinden. Sie würden damit in breiteste Kreise eine Unruhe tragen, die durch die Vorteile dieses Gesetzes nie, selbst wenn sie noch so groß wären, ausgeglichen würde.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
— Haben Sie sich zum Wort gemeldet?
— Das Wort hat der Abgeordnete Harig.
Meine Damen und Herren! Gestatten Sie auch mir einige wenige Worte zu diesem Thema.
Ich habe Verständnis dafür, wenn sich die Unternehmer hier gegen diesen Antrag, der von der SPD gestellt wurde, aussprechen. Ich habe aber kein Verständnis dafür, wenn es Gewerkschaftler gibt, die die Interessen der Arbeitnehmer, die sie vertreten sollen, nicht richtig kennen. Sonst könnten sie sich gegen diesen Antrag niemals ausgesprochen haben.
Dieser Antrag ist bezeichnend für eine Reihe von Auffassungen von Auchgewerkschaftlern. Dieser Antrag ist aber auch bezeichnend für die Wirtschafts- und Preispolitik dieser Regierung. Glauben Sie nur ja nicht, meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Antrag ablehnen, daß dann auch alles entschieden sei. An der Entscheidung sind auch Menschen interessiert, die nicht in diesem Hause sitzen. Sie werden es in Zukunft ja erleben, daß die Welle ihres Mitdabeiseinwollens bei der Entscheidung draußen höher gehen wird.
Hier sind eine Reihe von Diskussionsrednern aufgetreten, die die Lage der Arbeitnehmer, die die Lage der Sozialrentenempfänger geschildert haben. Ich will mir deshalb eine Wiederholung ersparen. Aber wir wollen uns doch über eins im klaren sein. Am besten haben doch die Unternehmer seit der Währungsreform abgeschnitten.
Die Löhne lagen bei der Währungsreform doch ungefähr auf dem Stande von 1938. Das wenige, was an Sachlieferungen dem Arbeiter vor der Währungsreform gegeben wurde, war doch schnell wieder genommen. Oder wollen Sie bestreiten, daß die Lohnerhöhungen bei weitem nicht Schritt gehalten haben mit den Preissteigerungen? Wollen Sie bestreiten, daß nicht auf Kosten der Löhne Milliardenbeträge für Investierungen erübrigt wurden? Wollen Sie bestreiten, daß neben diesen Milliardenbeträgen an Investierungen auch noch Milliardengewinne herausgekommen sind?
Ich konnte bislang immer die Parole nicht verstehen, die da herausgegeben worden ist und da heißt: Herunter mit den Preisen!
Diese Parole habe ich nie verstanden, da ich mir einbildete, daß diejenigen, die Einfluß auf die Preise haben, sich nicht an der Parole störten. Ich habe auch nie Verständnis gehabt für den Appell an die Vernunft der Unternehmer. Dieser Appell ist sinnlos.
— Meine Herren, ich will Ihnen etwas sagen. Ich stehe auch schon 30 Jahre im Betrieb, und ich kenne ja auch das Verhalten der Unternehmer. Nun klettern die Preise seit einigen Wochen und Monaten ungemein. Nicht die Preise für die Dinge, die die wenigsten kaufen, aber für die Dinge, für die der arme Mensch draußen, der wenig Einkommen hat, fast den größten Teil seines Einkommens verwendet. Das muß man sehen. Das kann auch
vom Bundesarbeitsminister nicht bagatellisiert werden.
Die englischen Gewerkschaftler sind vor einigen Tagen zusammengewesen. Sie haben ein Ansinnen der Regierung abgelehnt; sie haben abgelehnt, sich für den Lohnstop zu entscheiden, und sie haben recht getan. Sie haben abgelehnt, so wie in der Vergangenheit die Kosten der Rüstung abwälzen zu lassen auf den schaffenden Menschen, und sie haben recht gehandelt. Und hier wird es genau so kommen.
Hier will man die Preise erhöhen, um das Kapital für die Rüstung freizubekommen, um wie in früheren Zeiten die Lasten für die Rüstung auf die Schultern der Werktätigen abwälzen zu können. Das will man hier. Meine Fraktion — darüber herrscht sowieso kein Zweifel —,
wird alles unterstützen, was dazu beiträgt, die Hindernisse aus der Welt zu räumen, die Hindernisse, die dem noch im Wege stehen, daß der Arbeiter sich frei für seine Forderungen einsetzen kann.
Ich sage Ihnen ganz offen: hier wird das Wenigste entschieden, entschieden wird draußen im Kampf in den Betrieben. Und daß er kommt, das wird die Zukunft beweisen.
- Uns interessieren immer noch die Verhältnisse hier. Dafür sind wir hier.
Meine Damen und Herren, Sie überschätzen die pädagogische Wirkung Ihrer Zwischenrufe . . . .
Keine weiteren Wortmeldungen? — Die Aussprache ist geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung. Es ist der Antrag auf Uberweisung der Vorlage an den Ausschuß für Arbeit gestellt. Wenn ich mich nicht täusche, ist n u r der Ausschuß für Arbeit genannt worden.
— Also auch der Ausschuß für Arbeit und Ausschuß für Wirtschaftspolitik; federführend ist der Ausschuß für Arbeit.
Ich lasse abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Das erste war die Mehrheit. Der Antrag ist angenommen.
Ich rufe auf Ziffer 6 der Tagesordnung:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes auf Aufhebung des Erlasses des Reichsarbeitsministers vom 10. November 1933, des sogenannten Führererlasses vom 21. Dezember 1938 und der Verordnung über den Arbeitseinsatz vom 25. März 1939 .
Meine Damen und Herren, ich bitte, die Lautstärke der Gespräche ein wenig zu senken. Es ist für mich sonst zu schwer, mich verständlich zu machen.
Der Ältestenrat schägt Ihnen vor, für die Begründung dieses Antrages 15 Minuten und für die Aussprache darüber insgesamt 40 Minuten Redezeit zu beschließen. — Kein Widerspruch! Es ist so beschlossen. Das Wort zur Begründung des Antrags hat der Abgeordnete Freidhof.
Meine Damen und Herren! Der Antrag der sozialdemokratischen Fraktion — Drucksache Nr. 1270 — verfolgt den Zweck, den Bundestag zu bitten, dem Gesetzentwurf, der in dieser Drucksache enthalten ist, seine Zustimmung zu geben, um die Selbstverwaltung in der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung wiederherzustellen, damit das im Dritten Reich eingeführte Führerprinzip aufgehoben wird. Die Organisation der Reichsanstalt war auf demokratischer Grundlage als Selbstverwaltung aufgebaut. Sie war eine Anstalt des öffentlichen Rechts mit eigenem Haushalt. Die Anstalt hatte Amtsstellen und Organe. Diese Organe setzten sich aus dem Vorstand und dem Verwaltungsrat der Reichsanstalt sowie den Verwaltungsausschüssen der Landesarbeitsämter und der Arbeitsämter zusammen. Die Verwaltungsausschüsse der Arbeitsämter bestanden aus Vertretern der Sozialpartner, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, und der öffentlichen Körperschaften als Beisitzer.
In einem Erlaß vom 10. November 1933, also im Dritten Reich, wurde bestimmt, daß alle Befugnisse, die nach dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom Vorstand und dem Verwaltungsrat der Reichsanstalt sowie den Verwaltungsausschüssen der Landesarbeitsämter und Arbeitsämter auszuüben waren, auf den Präsidenten übertragen werden. Damit war der demokratische Aufbau der Reichsanstalt vernichtet und das autoritäre Führerprinzip eingeführt. Sämtliche Organe waren ausgeschaltet. Aber das genügte noch nicht; man ging weiter. In einem weiteren Erlaß vom 21. Dezember 1938 wurde angeordnet, daß die Aufgaben und Befugnisse des Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung auf den Reichsarbeitsminister übergehen. Damit waren auch dem Präsidenten der Reichsanstalt alle Befugnisse genommen worden. Er wurde praktisch zu einem Abteilungsleiter im Reichsarbeitsministerium. Aber es kam noch besser. In einer Verordnung über den Arbeitseinsatz vom 25. März 1939 bestimmte der Arbeitsminister, daß die Landesarbeitsämter und die Arbeitsämter Reichsbehörden werden und dem Reichsarbeitsminister unterstellt werden. Damit war der letzte Rest einer selbständigen Reichsbehörde, wie es die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung war, genommen. Sämtliche Beamten der Reichsanstalt wurden Reichsbeamte, und Dienstherr für die Angestellten und für die Arbeiter wurde das Reich.
In § 3 der eben genannten Verordnung vom 25. März 1939 wurde bestimmt, daß die Reichsanstalt eine Körperschaft des öffentlichen Rechts bleibt, daß das Beitragsaufkommen zu vereinnahmen und nach Maßgabe ihres Haushaltsplans zu verausgaben ist. Der Reichsarbeitsminister wurde bestimmt; er verwaltete den Reichsstock für den Arbeitseinsatz und setzte mit Zustimmung des Reichsministers der Finanzen einen Haushalt fest. Damit war die Selbstverwaltung restlos beseitigt, und Sie wissen ja aus der Erfahrung, daß die finanziellen Mittel, die die Reichsanstalt während
des Krieges zur Verfügung hatte, fast restlos für die Rüstungsindustrie verwendet wurden.
Da es sich bei der Reichsanstalt um die Beiträge der Versicherten handelt, genau so wie bei der Sozialversicherung, wo die Selbstverwaltung wiederhergestellt werden soll, verlangen auch wir, daß in der Reichstanstalt die Selbstverwaltung wiederhergestellt wird und daß der Reichsstock wieder unter die Selbstverwaltung fällt.
In einem Gutachten, daß das Bundesarbeitsministerium im Frühjahr dieses Jahres herstellen ließ, ist der Standpunkt vertreten worden, daß der Bundesarbeitsminister Rechtsnachfolger des Reichsarbeitsministers sei, daß der Führererlaß und die Verordnung des Reichsarbeitsministers noch zu Recht beständen, daß sie nicht typisch nationalsozialistisch gewesen seien und somit der Bundesarbeitsminister berechtigt und verpfichtet sei, die Dienstaufsicht über die Landesarbeitsämter und Arbeitsämter auszuüben, und daß diese Einrichtungen als Bundesbehörden ihm unterständen. Der Bundesjustizminister und der Bundesinnenminister haben in einem Gutachten vom 3. bzw. vom 5. Mai 1950 sich im wesentlichen dem Gutachten des Bundesarbeitsministeriums angeschlossen und insbesondere den Führererlaß als noch fortbestehend anerkannt. Infolgedessen hat das Kabinett am 6. Juni 1950 den Bundesarbeitsminister beauftragt, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die früheren Rechte des Reichsarbeitsministers auszuüben.
Ein Rechtsgutachten, das der Rechtsausschuß des Bundesrats angefertigt hat, ist im wesentlichen zu einer gegenteiligen Auffassung als das Bundesarbeitsministerium gekommen. Es ist interessant, daß nach mehr als fünf Jahren nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches immer noch Führererlasse in Kraft sind. Deshalb bitte ich den Bundestag, zu beschließen, daß die Führererlasse und die Verordnungen, die während des Dritten Reiches für die Reichsanstalt erlassen worden sind, aufgehoben werden. Ihre Aufhebung ist die einzige Möglichkeit, eine klare Lage zu schaffen und eine Neuordnung der Arbeitsverwaltung herbeizuführen. Ich glaube, es liegt im Interesse der beiden Sozialpartner, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, daß diese Neuordnung erfolgt.
Daher bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Ich möchte gleichzeitig beantragen, diesen Antrag dem sozialpolitischen Ausschuß zu überweisen.
Das Wort hat der Bundesarbeitsminister.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aus den Ausführungen des Berichterstatters ist die wirkliche Situation und das wirklich Gewollte nicht klar geworden. In Wirklichkeit handelt es sich darum, daß schon seit dem Frühjahr dieses Jahres ernstlich versucht wird, die Mittel der Arbeitslosenversicherung nur noch zweckgebunden zu verwalten. Sie wissen, daß die Arbeitsverwaltung zur Zeit keine bundeszentrale Führung hat, und es besteht bei manchen Ländern die Rechtsauffassung, daß die Einnahmen aus der Arbeitslosenversicherung Einnahmen der Länder seien. Wir haben schon im Februar dieses Jahres versucht, mit den Sozialpartnern zu einer Verständigung darüber zu kommen, daß wir nach dem Muster des Treuhänderausschusses für die englische Zone für das ganze Bundesgebiet einen
Treuhänderausschuß bilden wollten, der bis zur Schaffung einer Bundesanstalt die gesamten Mittel der Arbeitslosenversicherung zweckgebunden festhält. Damals haben sich die Länderarbeitsminister, die ja zur Zeit die vorgesetzten Behörden der Landesarbeitsämter sind, auf den Standpunkt gestellt, daß das eine wesentliche Einschränkung ihrer Rechte sei. Sie waren im alleräußersten Fall gewillt, einen Treuhänderausschuß wirksam werden zu lassen, der die Überschüsse in den einzelnen Ländern verwalten soll. Wir konnten damals noch nicht übersehen, wie sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in diesem Jahre gestalten würde; wir konnten noch nicht übersehen, was uns der kommende Winter eventuell an Belastungen für die Arbeitslosenversicherung bringen würde, und haben deshalb immer und immer wieder den Versuch gemacht, auf diesem Gebiete vorwärtszukommen.
Meine Damen und Herren, seien Sie sich völlig klar darüber, wenn Sie dem hier vorliegenden Antrag entsprechen würden, dann müßten Sie entweder sagen, daß durch die Aufhebung der Führererlasse die frühere Reichsanstalt wiederhergestellt sei. Das wollen die Arbeitsminister der Länder absolut nicht; sie wollen Bestimmungen, die es uns unmöglich machen, in einer Übergangszeit eine zentrale Sicherstellung der Arbeitslosenversicherungsmittel herbeizuführen. Wenn Sie den Weg gehen würden, daß Sie den Ländern einseitig die Möglichkeit geben, über diese Gelder zu verfügen, dann müssen Sie sich klar darüber sein, daß im nächsten Monat in Schleswig-Holstein die Arbeitslosenunterstützungen nicht mehr ausgezahlt werden können. Sie werden momentan nur deshalb ausgezahlt, weil der Treuhänderausschuß für die englische Zone noch wirksam ist, der auf einem Erlaß von Lemgo aus dem Jahre 1946 beruht, obwohl er gar keine gesetzliche Grundlage mehr hat. Wir haben im vergangenen Jahre aus dem Beitragsaufkommen aus Nordrhein-Westfalen auf diesem Wege Schleswig-Holstein nicht weniger als 100 Millionen DM zufließen lassen. Wie Sie diese Dinge jetzt lösen wollen, wenn Sie diesem Antrag entsprechen, verstehe ich nicht ganz. Wenn Sie diesen Antrag mit dem Wunsch, die alte Reichsanstalt zumindest für das Bundesgebiet wieder ersehen zu lassen, im Anfang dieses Jahres gestellt hätten, hätte ich Sie gern unterstützt und wäre jeden Weg mit Ihnen gegangen.
Sie wissen,' daß wir in der Zwischenzeit — zumindest wissen das die Herren, die in der Gewerkschaftsleitung stehen — seit Monaten sehr ernste Besprechungen mit den Sozialpartnern über die Gestaltung einer kommenden Bundesanstalt geführt haben. Am 21. dieses Monats wird zwischen den Sozialpartnern und dem Bundesarbeitsministerium in Unkel abschließend über einen fertiggestellten Gesetzentwurf verhandelt, der auf der Basis aufgebaut ist, daß eine von der Selbstverwaltung der Sozialpartner getragene Bundesanstalt erstehen soll. Es kann sich also höchstens darum handeln, daß wir am 21. dieses Monats in Unkel zu einer einheitlichen Auffassung kommen und daß wir spätestens 8 Tage danach diesen Gesetzentwurf im Kabinett verabschieden können. Er wird dann dem Bundesrat zugehen, der seine Einspruchsfrist hat, so daß Sie spätestens in anderthalb Monaten den Gesetzentwurf zur endgültigen Beschlußfassung werden vorliegen haben. Es wäre geradezu widersinnig, und ich würde kein Verständnis dafür haben, wenn Sie, nachdem wir auf Grund der schnelleren Entwicklung in der Vorbe-
reitung dieses Gesetzes keine Maßnahmen getroffen haben und auch nicht zu treffen gedenken, um den heutigen Zustand für die Übergangszeit zu beseitigen, durch die Aufhebung der Erlasse für die Zeit des Übergangs eine Rechtsunsicherheit herbeiführen würden.
Das Wort hat der Abgeordnete Sabel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Ausführungen des Herrn Bundesarbeitsministers kann ich mich sehr kurz fassen. Ich möchte nochmals darauf hinweisen, daß es sich hier darum handelt, Bestimmungen kurz vor der Behandlung eines Gesetzes über die Schaffung der Bundesanstalt aufzuheben, ohne daß man zugleich Vorschläge macht, was für die Zeit des Interregnums Geltung haben soll. Der Herr Bundesarbeitsminister hat mit Recht erklärt, daß wir, wenn dem Antrag ohne Schaffung von Übergangsbestimmungen entsprochen wird, in einigen Ländern zu beachtlichen Schwierigkeiten kommen werden. Namens meiner Fraktion empfehle ich, die Behandlung dieses Antrages dem zuständigen Ausschuß zu übertragen. Es wird dann die Behandlung zugleich mit dem Gesetz über die Schaffung der Bundesanstalt erfolgen. Wir hören gerade vom Herrn Minister, daß wir in etwa 6 Wochen uns mit dieser Materie beschäftigen müssen, und es passiert wirklich nichts, wenn dann zur gleichen Zeit auch der hier vorliegende Antrag beraten wird. Ich möchte sagen, daß die Schaffung dieses Gesetzes über die Bundesanstalt dazu führen wird, daß eine ganze Reihe der bisher in Geltung befindlichen Bestimmungen überflüssig werden wird.
Nun möchte ich allerdings namens meiner Fraktion und, ich glaube, auch namens der Fraktionen der übrigen Regierungsparteien sagen, daß wir die Behandlung im zuständigen Ausschuß wünschen. Ich bin etwas eigenartig überrascht, daß Herr Kollege Freidhof die Behandlung im Ausschuß für Sozialpolitik beantragt hat. Bei der Festsetzung der Aufgabenbereiche der einzelnen Ausschüsse im vorigen Jahre ist festgelegt worden, daß die Fragen des Arbeitsmarktes und der Arbeitslosenversicherung im Ausschuß für Arbeit behandelt werden sollen, und es ist während des ganzen Jahres so verfahren worden. Ich darf darauf hinweisen, daß alle Anträge, die die Arbeitsverwaltung und die Arbeitslosenversicherung betreffen, vom Plenum bisher dem Ausschuß für Arbeit zugewiesen und von diesem bearbeitet worden sind. Ich erinnere an die Drucksache Nr. 121, Antrag des Zentrums betr. Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenhilfe für Heimkehrer. Ich erinnere an die Drucksache Nr. 204, Antrag Renner und Genossen betr. Verwendung der Mittel des Arbeitslosenstocks. Ich erinnere an den Antrag Nr. 537 der Abgeordneten Aumer und Genossen betr. Kontrollmaßnahmen bei den Arbeitsämtern, an den Antrag Nr. 648 des Zentrums betr. Zahlung von Arbeitslosenunterstützungen, an den Antrag Nr. 873 der Fraktion der KPD, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des § 74 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, an den Antrag Nr. 917 der Abgeordneten Neuburger, Freudenberg, Schoettle betr. Sitz der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung und den Antrag Nr. 1062 der Abgeordneten Frommhold und Genossen betr. Errechnung der Arbeitslosen-. bzw. Arbeitslosenfürsorgeunterstützung. Es ist bisher also immer entsprechend der im Vorjahr getroffenen Vereinbarung verfahren worden, und ich muß schon offen gestehen, daß wir kein Verständnis dafür haben, warum nun mit einer solchen Regelung gebrochen werden soll. Ich weiß, daß in Gesprächen darauf hingewiesen wurde, die Arbeiten seien etwas ungleich verteilt. Dazu möchte ich nur sagen, daß der Ausschuß für Sozialpolitik heute seine 48. Sitzung abgehalten hat und der Ausschuß für Arbeit am vergangenen Dienstag seine 27. Sitzung. Ich bin mit meinen Freunden der Meinung, daß mit diesen Fragen der zuständige Ausschuß, also der Ausschuß für Arbeit, beschäftigt werden sollte.
Das Wort hat der Abgeordnete Dresbach.
Meine Damen und Herren! Ich möchte den Antrag stellen, auch den Ausschuß für innere Verwaltung demnächst mit der Beratung dieses Gesetzentwurfs zu befassen. Früher waren die kommunalen Gebietskörperschaften in den Verwaltungsorganen der Reichsanstalt beteiligt. Wir hatten eine Dreigleisigkeit: Arbeitgeber, Arbeitnehmer und kommunale Gebietskörperschaften. Ich darf hier einmal im Interesse der Gemeinden sprechen. Sie befürchten, daß von Arbeitgeber- wie von Arbeitnehmerseite daran gedacht ist, die kommunalen Gebietskörperschaften auszuschiffen. Wenn der Ausschuß für innere Verwaltung auch noch nicht gerade ein kommunaler Ausschuß geworden ist, so ist er es ungefähr doch. Ich bitte also darum, daß der Ausschuß für innere Verwaltung mit diesen Dingen befaßt wird; denn es handelt sich immerhin um lebenswichtige Dinge für die Gemeinden aller Größenordnungen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Es ist Überweisung der Vorlage an eine Reihe von Ausschüssen beantragt. Ist sich das Haus darüber einig, daß es sich um folgende drei Ausschüsse handeln soll: Ausschuß für Sozialpolitik, Ausschuß für Arbeit, Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung?
Das Wort hat der Abgeordnete Sabel.
Meine Damen und Herren! Es besteht meines Erachtens keine Veranlassung, der Antrag auch an den Ausschuß für Sozialpolitik zu überweisen. Das würde nur zu einer Doppelarbeit führen. Eine gewisse Verbindung oder Sicherung ist ja dadurch geschaffen, daß der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit zugleich der Vorsitzende des Ausschusses für Sozialpolitik ist. Ich würde daher empfehlen, den Antrag dem Ausschuß für Arbeit und aus den von Herrn Dr. Dresbach dargelegten Gründen auch noch an den Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung zu überweisen.
Ich muß über die einzelnen Anträge in der zeitlichen Reihenfolge der Antragstellung abstimmen lassen. Zuerst war der Antrag auf Überweisung an den Ausschuß für Sozialpolitik gestellt worden. Wer dafür ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Das letztere ist die Mehrheit.
Nun lasse ich abstimmen über den Antrag auf Überweisung an den Ausschuß für Arbeit. Wer da-
J für ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Angenommen.
Jetzt kommt der Antrag auf Überweisung an den Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung. Wer dafür ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Angenommen. Ich nehme an, daß der Ausschuß für Arbeit federführend sein soll.
Damit ist die Vorlage an den Ausschuß für Arbeit als den federführenden und an den Ausschuß für innere Verwaltung verwiesen.
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur vorläufigen Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für verdrängte Angehörige des öffentlichen Dienstes .
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen hierfür vor, eine Redezeit von 60 Minuten zu beschließen. Kein Widerspruch? — Es ist so beschlossen.
Der Herr Bundesminister des Innern befindet sich auf einer notwendigen Reise im Ausland. Der Entwurf wird von Herrn Staatssekretär Ritter von Lex vertreten. Ich erteile ihm das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu dem Ihnen in Drucksache Nr. 1287 vorliegenden Gesetzentwurf darf ich folgendes ausführen.
Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts ist bisher nur in Gesetzen und Verwaltungsanordnungen der Länder geregelt. Als Wiedergutmachungsfälle sind in diesen Länderregelungen außer den Schäden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit sowie an Eigentum und Vermögen auch die Schäden im wirtschaftlichen Fortkommen anerkannt. Hierzu gehören auch die Schäden, die ein Beamter, Angestellter oder Arbeiter unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wegen seiner politischen Überzeugung aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung dadurch erlitten hat, daß er entlassen, in den Ruhestand oder in ein Amt mit niedrigerem Diensteinkommen versetzt oder sonst benachteiligt worden ist.
Die Länderregelungen sind verschieden. Sie befassen sich im allgemeinen nur mit den Angehörigen des öffentlichen Dienstes, deren Maßregelung im Landesgebiet selbst erfolgt ist. Dazu treten dann noch die Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die im Herkunftsgebiet der Flüchtlinge, die dem Lande zugewiesen sind, entlassen worden sind. Wiedergutmachungspflichtig ist auch diesen gegenüber das Aufnahmeland.
Außerhalb der Länderregelungen steht also die Mehrzahl der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in den Ostgebieten oder in Berlin durch nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen benachteiligt worden sind. Dies gilt auch dann, wenn sie nach ihrer Entlassung oder nach ihrer vorzeitigen Zurruhesetzung bereits lange Zeit vor dem Zusammenbruch ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegt haben. Ein Teil dieser Geschädigten hat, soweit sie noch dienstfähig sind, wieder Verwendung im öffentlichen Dienst gefunden. Die übrigen sind bisher leider ohne Betreuung geblieben.
Meine Damen und Herren, der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf bezweckt nun, die Lücken zwischen den Länderregelungen zu schließen, und zwar ehe
noch das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen — der Entwurf ist gestern hier erörtert worden — verabschiedet wird. Diese bevorzugte Behandlung entspricht einem Gebot der Gerechtigkeit. Auf die endgültige Regelung der allgemeinen Wiedergutmachung kann im Interesse der Geschädigten nicht länger gewartet werden.
Da es nun aus psychologischen Gründen nicht angängig erscheint, die Geschädigten, die zum Personenkreis der Verdrängten gehören, besser zu behandeln als die einheimischen Geschädigten, ist in dem Gesetzentwurf vorgesehen, daß die Wiedergutmachungsleistungen zunächst nach Landesrecht zu bemessen sind. Auch das Verfahren soll sich zunächst nach den geltenden Landesvorschriften regeln. Die sich nach der Wiedergutmachung des erlittenen Schadens nach dem Landesrecht ergebenden Versorgungsbezüge sollen jedoch in voller Höhe gezahlt werden. Die verdrängten Geschädigten — darauf darf ich besonders hinweisen — nehmen also an etwaigen Kürzungen der Versorgungsbezüge der übrigen Verdrängten — dieser Punkt ist gestern erörtert worden - nicht teil; sie werden den einheimischen Geschädigten im vollen Umfang gleichgestellt.
Zur Erleichterung der Unterbringung der Geschädigten durch andere öffentlich-rechtliche Dienstherren ist vorgesehen, daß der Bund die Versorgungsbezüge, die vor der Zeit der Wiederanstellung in dem Land liegen, anteilig übernimmt. Damit soll ein Anreiz geschaffen werden, die noch nicht untergebrachten dienstfähigen Geschädigten in volle dienstliche Verwendung zu nehmen.
Meine Damen und Herren! Zusammenfassend glaubt die Bundesregierung sagen zu dürfen, daß der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf in der Frage der Wiedergutmachung gegenüber verdrängten Angehörigen des öffentlichen Dienstes einen wichtigen Schritt nach vorwärts bedeutet.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Weber.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Die Wiedergutmachung des durch den Nationalsozialismus angerichteten Unrechts gehört zu den dringenden Anliegen unseres Volkes." So beginnt ein bekannter Kommentator sein Vorwort zur Erläuterung der Rückerstattungsverordnung und gibt dabei seinem Bedauern darüber Ausdruck, daß durch das Eingreifen der Besatzungsbehörden und ihre Gesetzgebung die Verwirklichung dieser Bestrebungen seitens verantwortlicher deutscher Stellen und die Gesetzeswerdung der weitgehenden und umfassenden Ländergesetzentwürfe auf dem Gebiete der Wiedergutmachung zunächst verhindert worden seien. Es ist auch nicht zu leugnen, daß sich bei der Anwendung der von den Besatzungsmächten erlassenen Gesetze große Härten, Unbilligkeiten, ja sogar krasse Ungerechtigkeiten ergeben haben, die in manchen Fällen die Wiedergutmachung von Unrecht zu einem neuen Unrecht werden zu lassen drohen.
Diese Entwicklung hat ja auch bereits in Anträgen, die das Hohe Haus beschäftigt haben, ihren Niederschlag gefunden. Sie darf aber keineswegs dazu führen, daß die tatsächliche und rechtlich begründete Wiedergutmachung hinausgeschoben oder verhindert wird, sondern sie muß das positive Er-
gebnis haben, daß der Bund selbst eine umfassende Regelung der Wiedergutmachung vornimmt, die eine tragbare und gerechte Lösung dieses im Hinblick auf seine wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen äußerst bedeutsamen Problems bringt.
Soweit die Gesetzgebung der Besatzung eine eigene Regelung noch ermöglichte, nämlich auf dem Gebiet der innerdeutschen Wiedergutmachung, haben sich erfreulicherweise die Länder der Sache angenommen und in Gesetzen und Verwaltungsanordnungen die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus geregelt. Diese Regelung weist aber, wie Ihnen eben dargelegt wurde, eine fühlbare Lücke auf, da sie die Gewährung des Anspruches durchweg davon abhängig macht, daß die Geschädigten früher im Gebiete des betreffenden Landes ihren Wohnsitz hatten, so daß der große Kreis der Verdrängten, die an sich schon durch die . Verdrängung aus der Heimat ihr Hab und Gut, ihre Existenzgrundlage verloren haben, auch hier leer ausgeht. Das gilt insbesondere für die verdrängten Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die durch den Nationalsozialismus geschädigt worden sind, da in den Ländergesetzen in aller Regel nur dann ein Anspruch gewährt wird, wenn die letzte Anstellungsbehörde ihren Sitz innerhalb des Gebietes des betreffenden Landes hatte.
Wir begrüßen es deshalb, daß die Bundesregierung nunmehr den Entwurf eines Gesetzes vorlegt, das wie in der Begründung ausgeführt wird, den Zweck hat, die verdrängten Angehörigen vorerst einmal bis zu dem Zeitpunkt, in dem die ebenfalls in Aussicht gestellte allgemeine Regelung der Wiedergutmachung auf Bundesebene erfolgt, den einheimischen Geschädigten gleichzustellen. Wir geben dabei der Erwartung Ausdruck, daß die allgemeine und dringend notwendige Regelung der Wiedergutmachung nicht allzulange auf sich warten läßt und daß die dazu notwendigen und, wie eben dargelegt worden ist, auch umfangreichen Vorarbeiten beschleunigt vorangetrieben werden.
Zum Gesetzentwurf selbst habe ich namens meiner politischen Freunde in der heutigen ersten Lesung folgende grundsätzliche Bemerkungen zu machen. Der Entwurf beschränkt die Wiedergutmachung auf die verdrängten Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß die Angehörigen des öffentlichen Dienstes zuerst und im weitgehenden Umfang von dem nationalsozialistischen Unrecht betroffen worden sind. Man braucht nur an eine der ersten Maßnahmen des Nationalsozialismus, an das berüchtigte Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, zu erinnern, das Tausende verdienter Beamter ohne Versorgung oder unter erheblicher Kürzung ihrer Bezüge auf die Straße gesetzt hat. Es ist aber nicht einzusehen, weshalb nicht, wie das in den Ländergesetzen zum Teil schon geschehen ist, auch die übrigen Geschädigten, die durch den Nationalsozialismus in ihrem beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen und in ihrer Versorgung geschädigt worden sind, wie z. B. die Angestellten der durch den Nationalsozialismus aufgelösten Verbände und gewerkschaftlichen Organisationen, in diese gesetzliche Regelung einbezogen werden sollen.
Es ist uns mitgeteilt worden, daß viele dieser Geschädigten bis heute noch nicht wieder in eine
Stellung gelangen konnten, ja, soweit sie alt und
arbeitsunfähig geworden sind, bis heute noch ohne Versorgung dastehen.
Es geht grundsätzlich auch nicht an, daß die Angehörigen des öffentlichen Dienstes vorweg und bevorzugt entschädigt werden, wenn auch andererseits zuzugestehen ist, daß in diesen Fällen das begangene Unrecht durchweg besonders in die Augen springt und der Kreis der Geschädigten leichter abzugrenzen und damit die finanzielle Auswirkung besser zu überblicken ist. Wir haben allerdings auch Verständnis dafür, daß es nicht angängig ist, nunmehr, nachdem im Rahmen des Art. 131 die Ansprüche der entnazifizierten Beamten geregelt werden, diejenigen, die durch den Nationalsozialismus geschädigt worden sind, noch schlechter zu stellen, sie noch länger warten zu lassen.
Deshalb begrüßen wir es, daß dieses Gesetz vorgelegt worden ist, das ja eigentlich vor dem gestern hier behandelten Gesetz über die Regelung der Ansprüche aus Art. 131 erörtert werden sollte.
Es scheint uns aber auch deshalb höchste Zeit, daß auf diesem Gebiet etwas geschieht, weil uns einigermaßen erstaunliche Vorgänge zu Ohren gekommen sind. Man gewinnt den Eindruck, daß selbst in einigen Ressorts der Bundesregierung es für diejenigen, die dem Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben, nicht leicht ist, heute schon wieder die einzig mögliche und durchgreifende Wiedergutmachung zu erlangen,
indem sie entsprechend ihren Fähigkeiten und Erfahrungen wieder im aktiven Dienst verwendet werden
und nicht frühere Parteigenossen ihnen gegenüber bevorzugt werden.
Wir empfehlen der Bundesregierung, hier nach dem Rechten zu sehen, so zum Beispiel bei der Dienststelle für auswärtige Angelegenheiten.
Von früheren Angehörigen des Auswärtigen Amtes wird bittere Klage darüber geführt, daß Männer, die wegen ihrer antifaschistischen Einstellung aus Amt und Beruf entfernt wurden, trotz gegebener Gelegenheit heute noch nicht wieder in den Dienst zurückberufen wurden und hinter solchen, die sich mindestens durch formelle Parteizugehörigkeit das Verbleiben im Amt ermöglichten, zurückstehen müssen.
Wir begrüßen auch den Änderungsantrag des Bundesrats, der die Einbeziehung von Groß-Berlin in die gesetzliche Regelung fordert. Es scheint uns auch, im Gegensatz zur Stellungnahme der Bundesregierung, durchaus möglich, verdrängten Angehörigen einen Anspruch gegen den Bund zu geben. In der Kürze der Zeit konnte ich keine genaue Feststellung darüber treffen, welche Gesetze oder Verwaltungsanordnungen in Berlin über die Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts erlassen worden sind. Wenn sie aber erlassen worden sind, genau so wie in anderen Ländern, so ist nicht einzusehen, daß der Bund nicht auch den dort wohnenden verdrängten Beamten eine gleiche Entschädigung gewähren soll wie denen, die im Gebiet der Bundesrepublik selbst wohnen. Der Ausschuß wird deshalb der Prüfung
I dieser Frage seine besondere Aufmerksamkeit zuwenden müssen.
Er wird auch prüfen müssen, ob Beamte, die wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus dadurch gemaßregelt wurden, daß sie vom Westen in den Osten strafversetzt wurden, von dort wieder verdrängt wurden und nun hier auf die Regelung ihrer Ansprüche im Rahmen des Art. 131 des Grundgesetzes warten müssen, nicht bereits in die Regelung dieses Gesetzes einbezogen werden können. So sind mir gerade in den letzten Tagen verschiedene Fälle bekanntgeworden, die meines Erachtens im Rahmen dieses Gesetzes gelöst werden können und müssen. Ein Beamter, der zum Beispiel in Düsseldorf angestellt war, wurde wegen seiner Weigerung, der Partei beizutreten, nach Kottbus versetzt, ein anderer aus dem Rheinland aus dem gleichen Grund nach Ostpreußen. Beide haben bis heute keine Verwendung und auch keine Versorgung gefunden. Es scheint mir zweifelhaft, ob in diesen Fällen nach § 2 des Gesetzentwurfes eine Wiedergutmachung gewährt werden kann, obschon die Fälle von den Ländern, in die sie jetzt aufgenommen worden sind, als Wiedergutmachungsfälle anerkannt worden sind. Eine Entschädigung wird aber abgelehnt, weil die letzte Anstellungsbehörde nicht im Gebiet dieses westdeutschen Aufnahmelandes gelegen ist. In diesen Fällen muß meines Erachtens der Bund subsidiär eintreten. Hier muß eine klare und eindeutige Bestimmung getroffen werden. Beweisen wir durch unsere praktische Arbeit, daß die Wiedergutmachung des durch den Nationalsozialismus angerichteten Unrechts uns wirklich Herzenssache und dringendes Anliegen ist!
Namens meiner Fraktion beantrage ich, den Entwurf an den Ausschuß für Beamtenrecht — federführend — und an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht zu überweisen.
Meine Damen und Herren, Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich § 86 der Geschäftsordnung verlese:
Die Redner sprechen in freiem Vortrag von der Rednertribüne.
— Meine Damen und Herren, Ihr Zuruf ist nicht sehr fair. Ich habe niemandem einen Vorwurf gemacht; ich habe es nur - in Ihrem Interesse — fir geraten gehalten, darauf hinzuweisen, daß in Zukunft der § 86 der Geschäftsordnung wenigstens einigermaßen eingehalten werden sollte.
Das Wort hat der Abgeordnete Kohl .
Meine Damen und Herren! Gestatten Sie, daß ich in kurzen Sätzen die Auffassung der kommunistischen Fraktion zu dem vorliegenden Gesetz darlege. Der Gesetzentwurf zur vorläufigen Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für verdrängte Angehörige des öffentlichen Dienstes entspricht keineswegs den Anforderungen, die der in Frage kommende Personenkreis an .ein solches Gesetz zu stellen hat. Die aus dem öffentlichen Dienst wegen ihres politischen Verhaltens in den Hitlerjahren entfernten Beamten, Angestellten und Arbeiter haben ein Anrecht auf eine sofortige und endgültige Wiedergutmachung. Sie können sich nicht mit einer vorläufigen Wiedergutmachung, wie sie das Gesetz vorsieht, abfinden. Soweit aus der Gesetzesvorlage ersichtlich ist, besteht die vorläufige Wiedergutmachung darin, daß die betreffenden Personen, sofern sie noch arbeitsfähig sind, Anrecht auf Wiederverwendung im öffentlichen Dienst oder vollen Anspruch auf Versorgungsbezüge haben. Das hat mit einer Wiedergutmachung wenig zu tun. Es sollte doch eine Selbstverständlichkeit sein, daß die betroffenen Personen ein Anrecht auf Anstellung im öffentlichen Dienst oder auf Versorgung haben.
Die Wiedergutmachung muß sich aber auch auf die materiellen Schäden beziehen, die den Beamten, Angestellten und Arbeitern des öffentlichen Dienstes durch die Maßnahmen des Hitlerregimes zugefügt worden sind. Aber gerade das wird durch das vorliegende Gesetz verhindert. § 5 Abs. 5 besagt ausdrücklich:
Nachzahlungen für die Zeit vor Inkrafttreten dieses Gesetzes sind nicht zu leisten.
Ich glaube, daß das eine Außerachtlassung der selbstverständlichen Rechtsansprüche der davon betroffenen Personen darstellt und das vorliegende Gesetz bestenfalls ein Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtsverhältnisse für den betreffenden Personenkreis darstellt. Unserer Auffassung nach muß sich eine Wiedergutmachung auf finanzielle Leistungen für materielle Schäden erstrecken. Da die Gesetzesvorlage eine solche Leistung für diesen Personenkreis nicht vorsieht bzw. ausschaltet, lehnen wir die Vorlage in ihrer jetzigen Form ab.
Wir werden auch gezwungen sein, sie abzulehnen, wenn durch die Ausschußberatungen nicht ein anderes Ergebnis erreicht werden sollte.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Brill.
Meine Damen und Herren! Ich bewundere den wirklich erstaunlichen Mut, mit dem der Herr Abgeordnete Kohl es unternommen hat, Kritik an dieser Vorlage zu üben. Da, wo seine politischen Freunde an der Macht sind, ist bisher für die Wiedergutmachung zugunsten der Widerstandskämpfer nicht das geringste geschehen. Es gibt im ganzen sowjetischen Besatzungsgebiet keinen Pfennig Haftentschädigung;
und da, wo Renten gewährt werden, sind es die
kärglichen Pfennige, die die Sozialversicherungsanstalten auszahlen, wobei im übrigen die Gemeinden den Sozialversicherungsanstalten die verauslagten Beträge meistens noch erstatten müssen.
In sehr vielen tragischen persönlichen Fällen aber besteht die Wiedergutmachung des sowjetischen Besatzungsgebietes darin, daß die überzeugten Widerstandskämpfer, kaum aus dem Konzentrationslager entlassen, in das Konzentrationslager zurückgebracht worden sind.
Ich will nur einen einzigen Namen nennen, den Namen des sehr bewährten Berliner Polizeimajors Heinrich, des Kommandeurs der Polizeigruppe Mitte, der den Kommunisten in den Jahren vor 1933 sehr auf die Nerven gefallen ist und der, im April 1945 aus dem Zuchthaus Brandenburg entlassen, bereits Anfang Juni 1945, wahrscheinlich für immer, verschwunden ist.
) Deshalb kann die vom Herrn Abgeordneten Kohl geübte Kritik politisch nicht sehr ernst genommen werden.
Auch wir begrüßen diese Vorlage. Sie bringt eine erfreuliche Veränderung des Tons in diesem Hause mit sich; denn wenn dieses Haus sich bisher vor die Aufgabe gestellt gesehen hat, die Folgen der nazistischen Diktatur zu liquidieren, so ist das meistenteils in der Forderung nach der „Beendigung der Entnazifizierung" geschehen. Und diese Beendigung der Entnazifizierung bedeutete doch wohl — wir werden das in den nächsten Wochen noch mehr beurteilen können — nichts weiter als die Forderung nach einer Amnestie für den großen Teil derjenigen, die am Unglück unseres deutschen Vaterlandes die Verantwortung tragen.
Wenn man sich jetzt der Opfer der nazistischen Diktatur erinnert, so beklagen wir, daß diese Erinnerung nur eine sehr unvollständige ist. Die Vorlage macht den peinlichen Eindruck, daß einige der neuen Beamten der Bundesministerien festgestellt haben: es gibt keinen anderen Weg als die Vorlage eines neuen Gesetzes, um zu ihren Rechten zu kommen. Ich schließe mich in dieser Hinsicht ganz und gar der Kritik an, die der Herr Kollege Dr. Weber hier an der Vorlage geübt hat. Nicht nach bestimmten Dienstkategorien sollte die Wiedergutmachung verfahren, sondern nach einer Rangordnung derjenigen, die der Wiedergutmachung sozial am allerbedürftigsten sind. Dazu gehören in erster Linie die vom Herrn Abgeordneten Dr. Weber erwähnten Angestellten der früheren politischen Parteien, der Gewerkschaftsverbände, anderer sozialer Vereinigungen usw. Vielleicht könnte der Ausschuß prüfen, ob die in § 2 Abs. 2 des Gesetzentwurfs gegebene Ermächtigung — so bedenklich an und für sich solche Ermächtigungen sind —, den Personenkreis durch Rechtsverordnung der Bundesregierung, die der Zustimmung des Bundesrats bedarf, zu erweitern, nicht dazu benützt werden könnte, den Personenkreis dieser Vorlage entsprechend auszudehnen. Man kann sich meiner Überzeugung nach nicht, wenn man die öffentlichen Bediensteten herausnimmt, auf das Entschädigungsgesetz berufen, das im amerikanischen Besatzungsgebiet gilt. Denn wenn da die Wiedergutmachung von vermögensrechtlichen Schäden der Beamten und Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst besonders behandelt worden ist, so ist das nur ein Modell für die Wiedergutmachung aller vermögensrechtlichen Schäden.
Soviel zur Frage des Personenkreises. Besondere Bedenken aber haben wir gegen den Rechtssatz, der in § 5 des Gesetzentwurfs aufgestellt werden soll. Wie der Herr Staatssekretär hervorgehoben hat, soll sich die Entschädigung materiell und verfahrensrechtlich nach dem jetzt geltenden Landesrecht richten. Das wird eine große Zersplitterung des Rechts mit sich bringen, und es müßte abgelehnt werden, daß für Personen, die bisher in ein und demselben Rechtsverhältnis zum Staate gestanden haben, materiell und prozessual ganz verschiedenes Recht angewendet wird. Denn wenn man die Wiedergutmachungsgesetzgebung der Länder überschaut, so ergibt sich etwa folgendes Bild. In den Ländern der britischen Zone ist der Hauptteil der bisher geleisteten Wiedergutmachung die Haftentschädigung. Einzelne Länder haben durch Sonderanordnungen Wiedergutmachungsansprüche für Verluste an Leib und Leben vorgesehen. Das kleine Land Schleswig-Holstein ist insofern noch einen bedeutenden Schritt weitergegangen, als es im Sinne der Anregung, die der Herr Kollege Dr. Weber gegeben hat, auch die Aufwertung von Ansprüchen aus Versorgungskassen vorgenommen hat. Wir haben in der Sozialdemokratischen Partei, um Ihnen das an einem Beispiel darzulegen, früher eine Versorgungskasse, die nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit organisiert war, im Verein „Arbeiterpresse" gehabt. Dieser Verein besaß viele Tausend Mitglieder. Er hat in den 20er Jahren umfangreiche Jahrbücher veröffentlicht. Sie können in diesen Jahrbüchern nachlesen, welcher Personenkreis in ihm zusammengefaßt war. Heute bekommt noch niemand, der diesem Verein „Arbeiterpresse" angehört hat — es sind dabei Personen vereinigt gewesen, die 40 und 50 Jahre Mitglied waren — auch nur einen Pfennig der Rente, auf die er einen Anspruch besäße. Wenn wir das wiedergutmachen wollen, wenn wir hier das Prinzip der Einheitlichkeit gewahrt haben wollen, so sollte auch in diesem Gesetzentwurf für öffentlich Bedienstete die Einheitlichkeit möglich sein. Wir schlagen deshalb vor, daß dasjenige Wiedergutmachungsgesetz, das der Ausschuß als das fortschrittlichste ansieht, allgemein in allen Ländern so lange angewendet werden soll, bis ein Bundesgesetz für die Wiedergutmachung geschaffen worden ist. Das ist, wie mir der Herr Staatssekretär zugeben wird, im Beamtenrecht durchaus keine Neuigkeit. Wir haben ja im Beamten-Übergangsrecht sehr oft eine dementsprechende Regelung gehabt.
Meine Damen und Herren, Wiedergutmachung ist eine materielle Stärkung des Rechtsstaates und der Demokratie. Deshalb sollte auch die erste Lesung dieses Gesetzes an der Frage der Restitution entgangener Vermögenswerte nicht vorbeigehen. Wir beklagen uns darüber, daß Hunderte von Druckereien, die die Arbeiter mit Pfennigen und Groschen gegründet haben, bis heute nicht an die Sozialdemokratische Partei zurückerstattet worden sind.
Die Sozialdemokratische Partei hat auch keinen Gegenwert dafür erhalten. Sie würden uns die Zustimmung zu diesem Gesetz wesentlich erleichtern, wenn die Regierung, mindestens im Ausschuß, das Programm einer umfassenden Restitution vorlegen könnte. Sollen die Beamten ihr Recht haben, so sollten auch wir unser Eigentum zurückerhalten, denn wir fordern nur, was uns gehört.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Falkner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion begrüßt es, daß die Bundesregierung heute einen Gesetzentwurf zur vorläufigen Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für verdrängte Angehörige des öffentlichen Dienstes vorgelegt hat. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diesen Menschen Unrecht geschehen ist und eine Wiedergutmachung erfolgen muß. Recht ist aber unteilbar. Deshalb sollten diese Personen ebenso wie jene, die Art. 131 warten, erkennen, daß beiden Gruppen Recht geschehen muß.
Ich schließe mich dem Antrag, diese Gesetzesvorlage dem Ausschuß für Beamtenrecht zu überweisen, an. Wir haben die Verpflichtung, beide Gesetzentwürfe so rasch wie möglich zu erledigen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Nowack.
Dr. Nowack (FDP): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Vorlage dieses Gesetzentwurfs begrüßen wir. Wir sind bereits im vorigen Jahr, als der Ausschuß einen Antrag von uns betreffend die Regelung der Rechtsverhältnisse der Berufssoldaten behandelte, dafür eingetreten, diesen Antrag zu erweitern. Das ist im Ausschuß geschehen. Wir haben uns damals schon mit Entschiedenheit dafür eingesetzt, daß man nicht nur die Rechtsverhältnisse der ehemaligen Nationalsozialisten, sondern daß man vorerst die Rechtsverhältnisse derjenigen regelt, die durch die Nationalsozialisten geschädigt worden sind.
Wir haben diesen Standpunkt immer wieder in den Ausschußverhandlungen vertreten. Wir begrüßen daher die Vorlage dieses Gesetzes, und wir werden dafür sorgen, daß dieser Gesetzentwurf gleichzeitig mit der gesetzlichen Regelung zu Art. 131 erscheint.
Ich glaube, wir sollten es uns ersparen, auf Einzelheiten dieser zweifellos sehr komplizierten Gesetzgebungsmaterie einzugehen. Ich möchte daher nur dem Vorschlag zustimmen, daß dieser Gesetzentwurf dem Beamtenrechtsausschuß überwiesen wird.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Es ist der Antrag gestellt, die Vorlage dem Ausschuß für Beamtenrecht zu überweisen. Wer dafür ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Angenommen.
Damit ist die Tagesordnung erschöpft. — Ich habe Ihnen noch einiges bekanntzugeben und bitte dazu um Ihr geneigtes Gehör.
Die Konstanz-Delegation der Europäischen Parlamentarischen Union tritt nicht heute, sondern erst nach der morgigen Plenarsitzung zusammen.
Herr von Brentano bittet mich, mitzuteilen, daß unmittelbar im Anschluß an diese Plenarsitzung eine Fraktionssitzung der CDU/CSU-Fraktion im Fraktionszimmer stattfindet.
Ich habe die nächste Sitzung, die 86. Sitzung des Deutschen Bundestages, auf Freitag, den 15. September, vormittags 9 Uhr einzuberufen.
Ich schließe diese, die 85. Sitzung des Deutschen Bundestages.