Rede von
Karl
Bergmann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident!
Meine Damen, meine Herren! Der Bundeswirtschaftsminister Erhard hat unlängt in einer Pressekonferenz in Bonn sehr optimistisch zu der wirtschaftlichen Entwicklung im Bundesgebiet Stellung genommen und zum Ausdruck gebracht, daß der Preisindex monatlich um 4 bis 5 % gestiegen sei; der Konjunkturaufschwung werde sich nicht nur halten, sondern weiterhin verstärken. Er warnte die Arbeitnehmer, durch Lohnforderungen das Preisniveau und damit die deutsche Exportfähigkeit zu gefährden.
Während die Bundesregierung mitteilt, daß die Preise fast stabil geblieben seien, veröffentlicht das Statistische Landesamt von Nordrhein-Westfalen Preiserhebungen für die wichtigsten Nahrungsmittel. Diese Erhebungen stehen im Widerspruch zu der Feststellung der Bundesregierung. So wurde festgestellt, daß der Preis für ortsübliches Roggenbrot und ebenso für Weißbrot um 10 %, die Preise für Teigwaren teilweise um 18% und der Preis für Schweinefleisch um 16% gestiegen sind. Während in Amerika vom Präsidenten die öffentliche Kontrolle der Preise und Löhne gefordert wird, um so den sozialen Wirtschaftskörper eines großen Landes durch die schwere Zeit zu steuern, vollzieht sich die Entwicklung in unserem verarmten Deutschland in entgegengesetzer Richtung.
Der Abgeordnete Wönner hat am 14. Juli 1950 von dieser Stelle aus schon auf die tiefe Kluft zwischen Preisen und Löhnen aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, daß diese Dinge nicht ohne den schärfsten Widerstand der Gewerkschaften hingenommen werden. Der Bundeskanzler hat in seiner Besprechung mit den maßgebenden
Gewerkschaftsführern versprochen, daß sich die Regierung jeder Preissteigerung widersetzen werde. Für die nun 'eingetretene Entwicklung sind die Regierung und der Bundestag voll verantwortlich.
Die Bundesregierung und die Mehrheit dieses Hauses haben sich für die freie Wirtschaft entschieden. Beide Sozialpartner sind frei in ihrem Handeln. Doch müssen ihre Handlungen von dem Verantwortungsbewußtsein der deutschen Wirtschaft und dem Volke gegenüber getragen sein. Die Arbeitnehmer haben unter Führung der Gewerkschaften seit 1945 in besonders hohem Maße durch Taten bewiesen, daß sie vollstes Verständnis für die wirtschaftliche Situation aufgebracht haben. Die Wirtschafts- und Steuerpolitik dieser Regierung hat große Opfer vom kleinen Mann gefordert.
Nun hat ein Teil der deutschen Wirtschaft durch seine Maßnahmen das Preisgefüge erneut in Unordnung gebracht und in die Höhe getrieben. Auch die Arbeitnehmer sind frei in ihrem Handeln und fordern nun von der Regierung, daß alle Maßnahmen getroffen werden, um den Arbeitnehmern, sozial Schwachen und Rentnern zu helfen. Große Lohnbewegungen sind dadurch ausgelöst, und die Regierung trifft die volle Verantwortung. Da ruft der Wirtschaftsminister ausgerechnet die arbeitenden Menschen zur Disziplin auf und verlangt, daß sie keine Lohnforderungen stellen.
Tiefe Unruhe geht durch das Ruhrgebiet und das Bundesgebiet. Auch in meinem Wahlkreis haben in einer von vielen Versammlungen 700 Invaliden, Witwen und Rentner in einer Resolution ihren Unwillen zum Ausdruck gebracht. Damit hat der Wirtschaftsminister den sozial Schwachen den Fehdehandschuh hingeworfen.
Auch der Reichsbund der Kriegsbeschädigten stellt angesichts der in jüngster Zeit außerordentlich gestiegenen Lebenshaltungskosten fest, daß selbst das Existenzminimum unterschritten ist, daß die in dem Entwurf des Bundesversorgungsgesetzes vorgesehenen Rentenleistungen unter dem anerkannten Existenzminimum liegen. Über 5 Millionen Haushaltungen von Rentnern, Erwerbslosen und Unterstützungsempfängern leiden unter der Brotpreiserhöhung. Die Regierung hat die Subventionen für Getreide und Mehl nicht bewilligt, sondern abgelehnt und läßt auch der Preisentwicklung freie Hand. Die Bevölkerung faßt sich an den Kopf und fragt sich: Ist die Regierung bar aller Vernunft, ist sie für das Volk da oder nur für einige wenige Interessenten?
Weltpolitisch gesehen machen die demokratischen Länder große Anstrengungen, um die Menschen aus dem sozialen Elend zu befreien, um ihnen einen höheren Lebensstandard zu sichern und sie gegenüber dem Kommunismus immun zu machen. Selbst die amerikanischen Gewerkschaften fordern von ihrer Regierung, daß den Völkern Europas Mittel zur Verfügung gestellt werden, um deren Wirtschaft zu entwickeln und auszubauen und um damit einen höheren Lebensstandard zu erreichen. Der demokratische Gedanke kann nur gefördert werden, wenn dem ar-
beitenden Menschen und dem sozial Schwachen ein gutes Realeinkommen gesichert wird. Wenn aber z. B. laut Untersuchung des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften die große Anzahl der Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen 55,4 % ihres Lohns für Ernährung benötigen, wird es schwerkalten, diese aktiv für den Gedanken der Demokratie zu gewinnen. Die Regierung und die Wirtschaft befinden sich in derselben Lage wie vor 1933 und müssen sich entscheiden, ob sie endlich eine aktive Sozialpolitik zugunsten der breiten Massen durchführen wollen. Nur so wird die Demokratie untermauert und die Bereitschaft zur Demokratie geweckt und gefördert. So waren die Gewerkschaften gezwungen, Lohnforderungen zu stellen, um das Existenzminimum der arbeitenden Menschen zu sichern. In wichtigen Wirtschaftszweigen sind und drohen soziale Unruhen. Weite Arbeitnehmergruppen sind durch Tarifverträge zeitlich gebunden.
Darum legt Ihnen die sozialdemokratische Fraktion den Antrag auf Drucksache Nr. 1269 vor mit dem Ziel, ein Gesetz über vorzeitige Kündigung von Tarifverträgen zu schaffen. Wir bitten das Hohe Haus, den Antrag anzunehmen.