Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Interfraktionell ist vereinbart worden, den Entwurf ei-nes Gesetzes zur Einführung eines pauschalierendenEntgeltsystems für psychiatrische und psychosomatischeEinrichtungen auf Drucksache 17/8986 dem Ausschussfür Arbeit und Soziales nachträglich zur Mitberatungzu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe als Erstes den Tagesordnungspunkt 31 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Joachim Pfeiffer, Nadine Schön ,Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Hermann OttoSolms, Dr. Martin Lindner , ClaudiaBögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPWachstumspotenziale der Digitalen Wirt-schaft weiter ausschöpfen – Innovationsstand-ort Deutschland stärken– Drucksache 17/9159 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt esWiderspruch dagegen? – Das ist offenkundig nicht derFall. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Bundeswirtschaftsminister Dr. Philipp Röslerdas Wort.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren Abgeordnete! Zunächst einmaldanke ich ausdrücklich für den Antrag zum ThemaChancen der digitalen Wirtschaft. Dieser Antrag machteines deutlich: CDU/CSU und FDP sehen in neuenTechnologien keine Bedrohung, sondern zuallererst eineRiesenchance für die Menschen in unserem Lande.
Nirgendwo kann man das besser erkennen als im Be-reich der modernen Informations- und Kommunikations-technologie. Schon jetzt sehen wir enormes Wachstum:über 840 000 Beschäftigte, 145 Milliarden Euro Umsatz.Aber was noch viel wichtiger ist: Das, was früher einmalWebstuhl, Dampfmaschine oder auch Eisenbahn waren,sind heute eben Computer, Internet und Smartphones.Wesentlich ist, dass die Dinge miteinander verschmel-zen: auf der einen Seite die klassischen Industrien undauf der anderen Seite die neuen Informations- und Kom-munikationstechnologien. Hierin stecken die eigentli-chen Wachstumspotenziale. So wie es mit der Erfindungdes mechanischen Webstuhls die erste industrielle Revo-lution gab, mit der maschinellen Produktion die zweiteindustrielle Revolution gab und mit der Einführung derelektronischen Datenverarbeitung die dritte industrielleRevolution gibt, brauchen wir jetzt die Verknüpfung derProdukte und Maschinen mit dem Internet, das Internetder Dinge, und genau dafür setzt sich diese Regierungs-koalition ein, für eine Industrie 4.0.
Wir wollen eine moderne Wirtschaft, die Informations-und Kommunikationstechnologien umfassend einsetzenkann. Darin stecken große Chancen für die Volkswirt-schaft in unserem Lande.
Wenn wir die Chancen nutzen wollen, müssen dreiwesentliche Voraussetzungen erfüllt werden:Erstens: eine gut ausgebaute Infrastruktur, also einBreitbandnetz in Deutschland.
Zweitens: eine kluge, eine richtige Regulierung dieserneuen digitalen Welt.
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Drittens: eine andere Grundeinstellung, eine andereGeisteshaltung, wie wir mit Technologien, wie wir mitInnovationen in Deutschland umgehen.Was den ersten Bereich angeht, ist schon einiges ge-schafft. Schon heute hat die Hälfte der Menschen einenInternetanschluss mit mehr als 50 MBit/s. Gerade ist imDeutschen Bundestag und im Bundesrat die Telekom-munikationsnovelle verabschiedet worden; dem vorausgingen Beratungen im Vermittlungsausschuss. Mit die-ser Novelle sind die besten Voraussetzungen für einennoch schnelleren Ausbau des Breitbandnetzes inDeutschland geschaffen worden.Es gibt künftig dauerhaft und langfristig angelegteund damit planbare Anreizregulierungen im Bereich desNetzausbaus. Wir erleichtern künftig die Nutzung auchklassischer Infrastrukturen wie Leerrohre. Auch die In-vestitionsbedingungen werden deutlich verbessert, etwawenn sich mehrere Investoren zusammenfinden.Diese Anreize sind für uns das Entscheidende. DieHerausforderungen sind groß. Bis zum Jahr 2018 wollenwir eine flächendeckende Versorgung von Anschlüssenmit mehr als 50 MBit/s erreichen. Wenn wir diese An-schlüsse haben wollen, dann müssen wir ordnungspoli-tisch weiter auf die guten Grundsätze der sozialenMarktwirtschaft setzen. Das heißt, die Politik setzt denrichtigen Rahmen, aber nur die Wirtschaft wird in derLage sein, diesen Rahmen vernünftig auszufüllen.
Gerade angesichts dieser großen Herausforderungendürfen wir die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaftauch in der digitalen Welt nicht aufgeben.
Das Zweite ist die Regulierung. Wir brauchen eineRegulierung, die den Unternehmen und den Menschendie Chance gibt, in der digitalen Welt zu investieren. Esmuss klar sein, dass es eine Verlässlichkeit im Sinne vonPlanungssicherheit und auch Refinanzierungsmöglich-keiten gibt. Gleichzeitig darf die Regulierung nicht dazuführen, dass Kreativität, Schaffenskraft oder Unterneh-mertum im Keim erstickt werden.Das beste Beispiel ist die Diskussion über die Cookie-regeln, die wir im vergangen Jahr auch mit der EU-Kommission geführt haben. Wenn man Cookies so be-handelt wie personenbezogene Daten und sie auch dengleichen Datenschutzvorgaben unterwirft, dann wird dasim Ergebnis dazu führen, dass jegliches Geschäftsmodellin Deutschland und in Europa von vornherein zunichte-gemacht wird, weil man dann womöglich bei jedemKlick auf eine Internetseite sein Einverständnis gebenmuss. Das macht man vielleicht zwei- oder dreimal, unddann hat man die Nase voll.Deswegen war die Entscheidung richtig, zu sagen,dass Cookies nicht automatisch personenbezogene Da-ten enthalten. Deswegen müssen in diesem Zusammen-hang dann andere, weniger hohe Datenschutzvorschrif-ten gelten, als wenn es sich um personenbezogene Datenhandelt. Das heißt, man muss immer die richtige Balancezwischen dem Datenschutzbedürfnis der Menschen aufder einen Seite und unternehmerischen Chancen undWachstumsmöglichkeiten im Internet auf der anderenSeite finden.
Nun ist eine Regelung gefunden worden. Eine Rege-lung muss auch in anderen Bereichen gefunden werden.Sonst wird es nicht gelingen, die Wachstumspotenziale,die uns die digitale Welt bietet, zu heben. Wir werden dieDiskussion über Leistungsschutzrecht, aber auch überMaßnahmen im Kampf gegen Internetpiraterie führenmüssen.Das ist auch, aber nicht nur eine Aufgabe der Politik.Um es hier einmal ganz klar zu sagen: Wir erwarten na-türlich zuallererst von der Wirtschaft, dass sie Geschäfts-modelle entwickelt, die von vornherein Piraterie verhin-dern. Allein nach dem Gesetzgeber, nach dem Staat zurufen, das wäre der falsche Weg. Wenn es darum geht,Internetpiraterie zu verhindern, sehen wir zunächst ein-mal die Wirtschaft in der Verantwortung.
Das Dritte ist die Frage der Grundhaltung: Wie stehenwir den neuen Technologien gegenüber? Schauen Siesich einmal die Branche an: junge, hochmotivierte,hochengagierte und enorm kreative Start-ups. Wenndiese Start-ups unternehmerisches Wachstum generierenwollen, brauchen sie zuallererst neue Fachkräfte.Deswegen war es richtig, dass gerade in dieser Wochedie Regierungskoalition eine gute Lösung für die qualifi-zierte Zuwanderung in den ersten Arbeitsmarkt gefun-den hat. Gerade die IT-Branche braucht eine qualifizierteZuwanderung. Das ist ein guter Beitrag, um Start-upseine echte Hilfe beim unternehmerischen Wachstum mitauf den Weg zu geben.
Diese jungen Unternehmen brauchen auch ausrei-chendes Kapital. Wir haben den High-Tech Gründer-fonds und weitere Gründungsfördermaßnahmen. Wennwir die kreativen Unternehmen weiter fördern wollen,dann brauchen wir mehr Risikokapital und Menschen,die bereit sind, Risikokapital für diese jungen Unterneh-men zur Verfügung zu stellen.Deswegen plant die Bundesregierung, die Möglich-keiten zur Bereitstellung von Risikokapital in Deutsch-land zu verbessern. Bei den Verlustvorträgen brauchenwir bessere Regelungen. Wir brauchen mehr Steuer-transparenz. Außerdem ist die Umsatzsteuerbenachteili-gung von deutschen Venture-Capital-Fonds im Vergleichzu französischen und anderen europäischen Venture-Ca-pital-Fonds immer noch deutlich zu groß. Wer dasWachstum junger Unternehmen in der Internetbranchefördern will, der muss auch für Risikokapital sorgen.
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Das haben wir uns in dieser Regierungskoalition ge-meinsam zur Aufgabe gemacht.
Es geht aber nicht nur um den Aufbau der Infrastruk-tur, die Regulierung oder auch die Finanzierung, sondernes kommt auch auf die Grundhaltung an. Es geht grund-sätzlich um die Frage: Wie gehen wir mit neuen Techno-logien um? Hier wurden in der Vergangenheit in anderenBranchen Fehler gemacht, die wir gerade in der digitalenWelt nicht wiederholen dürfen.Bestes Beispiel ist die Biotechnologie. Hier gibt eseine neue Chance, neue Forschung, neue Ideen, Innova-tionen und auch Kreativität. Es gibt aber auch die Fort-schrittsskeptiker und Fortschrittsverweigerer, die eineganze Industriebranche zunichtegemacht haben, was imErgebnis dazu geführt hat, dass große Unternehmen ihreBiotechnologieforschung längst aus Deutschland herausverlagert haben. Diesen Fehler dürfen wir nicht nocheinmal machen, schon gar nicht in der digitalen Welt.
Bei der Nanotechnologie deutet sich so etwas an.Deswegen muss man hier gleich sagen: Wir müssen fort-schrittsoptimistisch sein. Wir müssen eher die Chancensehen als die Risiken. Darin unterscheiden wir uns indieser Koalition von der Opposition, die im Zweifel im-mer erst die Risiken sieht und vor Gefahren warnt.
Gerade die Grünen, die den Kopf schütteln, haben dochimmer irgendetwas gegen etwas Neues, ob Autobahnen,Infrastruktur oder gerade die modernen Kommunika-tionsformen.
– Die ollen Kamellen, Frau Kollegin, stecken bei deneinzelnen Kollegen vor allem zwischen den Ohren, näm-lich im Kopf, weil sie so technologiefeindlich sind. Dasbehindert das Wachstum der modernen Telekommunika-tionsunternehmen.
– Im Gegenteil? Es war doch Ihr Herr Kuhn, der im letz-ten Jahr die Diskussion mit Christian Lindner geführtund verloren hat; denn Christian Lindner hat noch ein-mal daran erinnert, dass Herr Kuhn, der heute übrigensnicht anwesend ist, vor den ökologischen und sozialenGefahren moderner Kommunikationsformen gewarnthat, etwa vor Bildschirmtext und ISDN-Telefonen.
Wir sind zum Glück einen Schritt weiter. Wir werdendiese Wachstumspotenziale nur dann heben können,wenn wir in den Bereichen Infrastruktur, Regulierungund auch Finanzierung die richtigen Rahmenbedingun-gen setzen. Das ist aber nur dann möglich, wenn wirtechnologieoffen an die neuen Kommunikationsformenherangehen.
Wir sind dazu bereit. Der vorliegende Antrag zeigtgenau das. Wir wollen die Chancen, die uns die digitaleWirtschaft bietet, gemeinsam nutzen, durch eine Grund-haltung, die fortschrittsoptimistisch ist, und eine Einla-dung an die jungen kreativen Menschen, die sich in die-sem Bereich niederlassen und ein Unternehmen gründenwollen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischender Regierung und der Opposition. Die Menschen ge-rade in der digitalen Welt können sich auf diese Regie-rungskoalition verlassen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Garrelt Duin von der
SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Der Minister hat interessanterweise mehr-fach darauf hingewiesen, dass es um die Grundhaltungund darum gehe, die Potenziale und Chancen, die im Be-reich der digitalen Wirtschaft vor uns liegen, ehrlich zubenennen. In der Tat schreitet die Digitalisierung derVolkswirtschaft massiv voran. Damit sind enorme Chan-cen verbunden.Die Arbeitsbedingungen der Menschen verändernsich aufgrund der Digitalisierung. Wir erleben, dassviele kleine und mittelständische Unternehmen dieChancen nutzen und dass sich junge Menschen selbst-ständig machen, was wir ausdrücklich begrüßen; abergleichzeitig wird deutlich, dass die Menschen Sicherheitim Umgang mit dem Netz wollen. Genauso wie die Un-ternehmen wollen sie aber auch Planungssicherheit. Eswäre gut gewesen, sehr geehrter Herr Minister, liebe Ko-alitionsfraktionen, wenn Sie in Ihrem Antrag „Wachs-tumspotenziale der Digitalen Wirtschaft weiter aus-schöpfen“ auch darauf eingegangen wären.Aber es setzt sich fort, was wir in den letzten zwei biszweieinhalb Jahren in vielen anderen Politikbereichenerlebt haben, ob beim Wachstumsbeschleunigungsge-setz, beim Haushaltsbegleitgesetz, bei der Luftverkehr-
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steuer, bei dem Hü und Hott in der Energiepolitik odervielem anderen mehr. Die Reihe ließe sich noch vielweiter fortsetzen. Sie kündigen an, aber konkreteSchritte lassen Sie vermissen. Das wird hier heute wie-der deutlich.
Gehen wir einmal die einzelnen Themen durch. Wieist denn Ihre Bilanz, zum Beispiel beim Breitbandaus-bau? In der Breitbandstrategie der Bundesregierunghaben Sie das Ziel formuliert, bis Ende 2010 eine flä-chendeckende Breitbandgrundversorgung mit einer Ge-schwindigkeit von 1 MBit/s zu schaffen.
Dieses Ziel, so müssen wir feststellen, haben Sie ver-fehlt.Sie sagen heute hier – Sie betonen es noch einmal –,dass das zweite Ziel der Bundesregierung sei, bis zumJahr 2014 eine Versorgung von 75 Prozent der Haushaltemit mindestens 50 MBit/s zu realisieren. In Ihrem eige-nen Monitoringbericht zur Breitbandstrategie wird fest-gestellt, dass die Ausbauanstrengungen deutlich zuverstärken seien, um dieses Ziel zu erreichen. JederFachverband bestätigt Ihnen und der deutschen Öffent-lichkeit, dass Sie von diesem Ausbauziel meilenweit ent-fernt sind und dieses Ziel erneut verfehlen werden,
weil – das ist der zweite Punkt – Investitionen bei Ihneneine untergeordnete Rolle spielen.Wir haben eine überall spürbare Investitionsschwä-che. Jeder internationale Vergleich belegt das. Ich zitierejetzt einmal den IWF. Die IWF-Experten stellen einenerheblichen Mangel an Investitionen in Deutschlandfest, was die Wachstumsprobleme verschärfe. Der IWFsagt, Deutschlands Industrie stecke zu wenig Geld inneue Fabriken und Maschinen; bei der Infrastrukturfahre die Bundesrepublik seit langem auf Verschleiß; dieRegierung investiere jedes Jahr zu wenig in Straßen,Brücken, Schienen, Kanäle oder eben auch das Breit-band, um auch nur den Bestand zu wahren. Das ist dieFeststellung von außen.Man liest Ihren Antrag ganz genau. Man hofft, dass esirgendwo vorkommt, aber – Sie haben es selber wahr-scheinlich gar nicht gemerkt – das Wort „Investitionen“taucht in Ihrem Forderungsteil kein einziges Mal auf. Sievergessen es schlichtweg. Das ist angesichts der Heraus-forderungen, vor denen wir stehen, skandalös.
Das Dritte ist: Wir brauchen Forschung und Entwick-lung. Darüber reden Sie schnell. Wenn wir gemeinsambei Veranstaltungen sind – diese Woche mit ProfessorRiesenhuber und dem stellvertretenden Vorsitzenden derCDU/CSU-Fraktion –, erfahren wir anderes. Da wurdegesagt: Wir müssen mehr für Forschung und Entwick-lung tun. Da wäre zum Beispiel die steuerliche For-schungsförderung ein wichtiges Instrument. Dann ist zuRecht der Zwischenruf gekommen: Wer regiert dennhier eigentlich seit zweieinhalb Jahren? Es steht doch al-les in der Koalitionsvereinbarung, aber es wird nicht um-gesetzt; es wird immer nur angekündigt.
Der vierte Punkt ist ebenso dramatisch. Es nütztnichts, wenn Sie darüber sprechen, dass wir Fachkräftebrauchen; Sie müssen auch ein konkretes Programm vor-legen, wie wir Potenziale im Bereich der MINT-Berufeheben können und wie eine solche Initiative aus der Poli-tik heraus gemeinsam mit den Unternehmen, mit denUnternehmern, mit gesellschaftlichen Gruppen aussehenkann, eben eine Initiative für mehr Technikfreundlich-keit, für mehr Technikoffenheit.Das würden wir gern gemeinsam auf den Weg brin-gen. Inzwischen ist es so, dass aus dem Umfeld der Un-ternehmer viele auf uns zukommen und sagen: Da isteine richtige Idee. Wir wollen das mit der Opposition be-sprechen;
denn in der Regierung haben wir keinen Ansprechpart-ner, um eine solche Initiative zu starten.
Sie haben über Grundhaltungen gesprochen, HerrMinister, und haben, wie üblich, die Rolle des Staateswie folgt beschrieben: Er soll maximal vielleicht einmalein Gesetz machen, aber muss ansonsten untätig bleiben. –Was sagt der Verband BITKOM zum Beispiel zu IhrenGrundvorstellungen? Er sagt: Im Bereich IKT ist eineklare ressortübergreifend abgestimmte Richtung, einKompass der Politik in der digitalen Welt trotz aller Stra-tegie der Bundesregierung kaum zu erkennen.Der BDI veröffentlicht zu diesem Thema unter derÜberschrift „Der Wettbewerb allein wird es nicht rich-ten“. Dieser Feststellung kann man sich nur anschließen.Wir haben es beim Breitband, bei der Digitalisierung derWirtschaft mit einem Bereich zu tun, in dem es der Wett-bewerb allein eben nicht schaffen kann, sondern derStaat mit seinen unterschiedlichen Initiativen, mit unter-schiedlichen Institutionen tätig werden muss, damit wirim internationalen Vergleich Schritt halten können unddamit der Ausbau der Infrastruktur vorangeht. Was nütztes denn, hier am Pult darüber zu schwadronieren, wasman alles machen könnte, wenn gleichzeitig in vielenTeilen Deutschlands kleine und mittelständische Unter-nehmen, Zulieferbetriebe keinen schnellen Internetzu-gang haben und deswegen aus ihrer wirtschaftlich gutenPosition Schritt für Schritt herausgedrängt werden? Da-
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gegen müsste man doch etwas tun, Herr Minister, mandarf nicht nur immer ankündigen.
Aber ich will ganz deutlich sagen: Wenn der Staatkleinen, neuen Unternehmen, Start-ups, helfen, unter dieArme greifen kann, dann befürworten wir dieses aus-drücklich. Es gibt dafür entsprechende Instrumente, zumBeispiel bei der KfW. Ich nenne Ihnen in diesem Zusam-menhang nur ein Beispiel: Es gab seinerzeit in Nord-rhein-Westfalen eine Firma im Bereich Internet und Di-gitalisierung, die sich Moomax nannte – ich weiß nichtgenau, wie sich der Name ausgesprochen hat – und30 000 Euro Eigenkapital hatte. Sie hat sich damals mitviel Euphorie auf den Weg gemacht und einen Unterstüt-zungskredit der KfW in Höhe von 1,2 Millionen Eurobekommen,
weil sie offensichtlich eine Perspektive hatte. Ein Jahrspäter war dieses Unternehmen pleite. So etwas kommtvor, trotzdem sollten wir diese Instrumente künftig bei-behalten, um jungen Leuten, die den Mut haben, sichselbstständig zu machen, unter die Arme zu greifen.Ich will aber mit dieser Geschichte auf etwas ganz an-deres hinaus: Der Gründer dieser Firma, die dann pleite-gegangen ist, der diesen Förderkredit der KfW in Höhevon 1,2 Millionen Euro in Anspruch genommen hat, warein gewisser Christian Lindner, der mit Ihnen gemein-sam Worte wie „mitfühlender Liberalismus“ geprägt hat.
Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Rösler,diese Verlogenheit kreiden wir Ihnen an:
Auf der einen Seite haben Sie selbst, ganz individuell,überhaupt keine Hemmungen, entsprechende Unter-stützungen in Millionenhöhe durch die KfW in An-spruch zu nehmen, und auf der anderen Seite, wenn esum 11 000 Frauen in diesem Land geht,
zeigen Sie ein ganz kaltes Herz, tun nichts und sagen:Das ist uns egal.
Das ist die Verlogenheit, die Sie hier regelmäßig an denTag legen.
Sie stellen sich hier hin und verteidigen vermeintlicheordnungspolitische Grundsätze.
Herr Kollege Duin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, danke, auch nicht vom Namensvetter.
Sie verteidigen hier Ihre längst der Vergangenheit an-
gehörenden ordnungspolitischen Grundsätze und ma-
chen gleichzeitig ein ganz mieses, doppeltes Spiel; denn
Sie haben uns noch am Mittwoch im Ausschuss einen
Bericht zu diesem Thema gegeben und gesagt, selbstver-
ständlich wäre das Bundesministerium bereit, zu helfen,
indem es bei der KfW entsprechend aktiv wird und bei
der Notifizierung in Brüssel Unterstützung leistet. All
das sind verlogene Aussagen gewesen. Sie, Herr Rösler,
sind nämlich unfähig zur Empathie.
Sie sind nicht in der Lage, sich vor 11 000 Beschäftigte
zu stellen und mit ihnen darüber zu sprechen, was das
für ihr individuelles Schicksal bedeutet. Dass Sie zurzeit
als FDP-Vorsitzender völlig überfordert sind, sieht man
im Saarland, das werden wir auch in NRW und Schles-
wig-Holstein sehen; das wird jeden Tag deutlich.
Aber das Schlimme ist, dass Sie gleichwohl gemein-
sam mit Herrn Lindner noch von einem mitfühlenden Li-
beralismus reden, während jeder sieht: Das ist die kalte
Arroganz der Macht. Die gehört in diesem Land nicht
länger in die Bundesregierung und schon gar nicht in ir-
gendwelche Landesregierungen.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Martin Lindner das Wort.
Kollege Duin,
im letzten Jahr sind in Deutschland etwa 30 000 Insol-venzen zu verzeichnen gewesen. Wenn wir einmal davonausgehen, dass im Durchschnitt etwa fünf Mitarbeiterpro Unternehmen davon betroffen waren, dann sind das150 000. Wo waren denn Herr Beck, Herr Schmid undalle anderen, die sich jetzt hier auf Kosten der Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter von Schlecker profilieren wol-
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len und wichtig machen, als diese 150 000 betroffenenMitarbeiter, diese 30 000 Unternehmen Hilfe brauchten?Kein einziger Ihrer Ministerpräsidenten, kein einzigerIhrer Wirtschaftsminister war da.
Das geht bei Ihnen nur nach Gutsherrenart. Wenn dasUnternehmen groß genug ist und Propaganda für dieSPD verspricht, dann stehen Sie vor den Werkstoren.Die Handwerksbetriebe und die kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen, die wenige Mitarbeiter beschäfti-gen, sind Ihnen nicht groß genug. Deren Mitarbeitermüssen wie jeder andere zur Arbeitsagentur gehen. Soläuft das bei Ihnen – nach Gutsherrenart.Das ist genauso wie damals bei Philipp Holzmann. Dahat sich der große Meister mit „Gerhard! Gerhard!“-Ru-fen feiern lassen. Trotzdem ist das Unternehmen pleite-gegangen. Mit den Steuergeldern der Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter von kleinen und mittleren Betriebenwollen Sie Propaganda machen. Das ist schäbig undnicht das, was wir machen. Wir vertreten das Gesetz.
Wenn Sie glauben, dass das Insolvenzrecht in Deutsch-land nicht ausreicht, wenn Sie glauben, dass man Trans-fergesellschaften braucht, dann werden Sie initiativ,damit allen Mitarbeitern geholfen werden kann, unab-hängig von der Größe des Unternehmens.
Machen Sie es nicht nach Gutsherrenart und nicht davonabhängig, wie groß Ihre Show wird. Das vertreten wir,das ist vernünftig, das ist anständig und fair gegenüberallen Beschäftigten in deutschen Betrieben.Herzlichen Dank.
Zur Erwiderung, Kollege Duin.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Kollege Lindner, Sie
und Ihre Kolleginnen und Kollegen – ein Abgeordneter,
der aus meiner Region kommt, sitzt direkt hinter Ihnen –
sind immer dabei, wenn wir Abgeordnete uns in unseren
Wahlkreisen sehr engagiert dafür einsetzen, dass kleinen
und mittelständischen Unternehmen, die in Schwierig-
keiten geraten, geholfen werden kann. Jeder von Ihnen
weiß – es müssen nicht immer Ministerpräsidenten dabei
sein –, dass wir uns in den Wahlkreisen sehr oft partei-
übergreifend zusammensetzen und überlegen, ob man
mit Landesbürgschaften, mit Landesförderbanken oder
mit den Instituten vor Ort etwas für Unternehmen ma-
chen kann, die eigentlich auf einem guten Weg sind und
vielleicht nur eine Durststrecke durchzumachen haben.
Im Fall der Fälle überlegen wir lokale Abgeordnete
mit der Agentur für Arbeit und auch mit den Arbeitge-
berverbänden und den Gewerkschaften, ob die Einrich-
tung einer Transfergesellschaft ein Thema ist oder nicht.
Das ist es nicht in jedem Fall. Aber in dem konkreten
Fall gestern wäre die Mehrheit der Bundesländer bereit
gewesen, etwas zu tun. Es ist an drei Ländern, in denen
Sie Verantwortung tragen, gescheitert. Das ehrliche poli-
tische Bemühen, eine Perspektive für die Beschäftigten
zu finden, ist an Ihnen gescheitert,
obwohl Bürgschaften und Transfergesellschaften – das
wissen Sie genauso gut wie ich – in der Wirtschaft zum
täglichen Geschäft gehören. Es geht nicht darum, dass
der Staat der bessere Unternehmer sei oder ähnliche Be-
hauptungen, die Sie uns immer unterstellen. Es geht
auch nicht darum, dass wir uns in jedem Fall einbringen
können, um eine Insolvenz zu verhindern. Das, was Sie
hier gemacht haben, macht allen Menschen in Deutsch-
land eines klar: Es geht Ihnen um ordnungspolitische
Prinzipienreiterei. Die Menschen, die davon betroffen
sind, sind Ihnen egal. Das ist die Politik des kalten Her-
zens, die Ihnen zum Verhängnis wird, und zwar zu
Recht.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nadine Schön von derCDU/CSU-Fraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte wieder auf das Thema zurück-kommen, über das wir heute Morgen eigentlich redenwollten.
Es ist ein Thema, das nicht nur unser Leben völlig verän-dert hat, sondern auch einer der Wachstumsmotoren derdeutschen Wirtschaft ist.Lieber Kollege Duin, so wichtig das andere Themaist, so wichtig wäre es gewesen, dass Sie unseremThema Ihre ganze Redezeit geschenkt hätten, anstattsich nach der Hälfte Ihrer Redezeit dem anderen Themazu widmen.
Deshalb will ich das jetzt wieder tun.Es genügen wenige Zahlen, um die Bedeutung der di-gitalen Wirtschaft in Deutschland deutlich zu machen.Schon heute trägt die IT-Branche mit 75 MilliardenEuro, das heißt mit 3 Prozent, zum Bruttoinlandsproduktbei. Sie bietet mehr als 800 000 Menschen Arbeitsplätzeund – das ist besonders bemerkenswert – verzeichnet einjährliches Wachstum von 8 Prozent. Die Wachstums-potenziale liegen allerdings nicht nur in der digitalenWirtschaft selbst, sondern vor allem in den klassischenBranchen: im Maschinenbau, in der Automobilindustrie,
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in der Gesundheitswirtschaft. Überall hier können durchDigitalisierung große Wachstumseffekte erzielt werden.Die Politik muss diese Entwicklung fördernd beglei-ten. Sie muss die richtigen Rahmenbedingungen setzen,um einen fruchtbaren Nährboden zu bilden für Innova-tionen und für den globalen Erfolg der digitalen Wirt-schaft. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört zum einendie Infrastruktur. Ein umfassendes und effizientes Netzvon Breitbandverbindungen ist die Basis dafür, dassüberall in unserem Land Innovationen entstehen könnenund dass die Leistungen von IT überall in unserem Landgenutzt werden können.Beim Breitbandausbau sind wir auf einem guten Weg;Minister Rösler hat das dargestellt. Wir müssen aber da-rauf achten, dass der ländliche Raum von dieser Ent-wicklung nicht abgekoppelt wird.
Außerdem dürfen wir die Bedürfnisse des Marktes nichtaus den Augen verlieren. Schon bald werden nämlich50 MBit/s und mehr notwendig sein, um den Bedürfnis-sen der Firmen und Verbraucher gerecht zu werden, undzwar überall. Daran gilt es zu arbeiten; das kürzlich ver-abschiedete Telekommunikationsgesetz bietet dafür dienötige Voraussetzung.Der zweite wichtige Faktor sind die Fachkräfte.Schon heute fehlen der IT-Branche nach eigenen Anga-ben über 30 000 Fachkräfte. Wir wissen: Das Problembeginnt bereits beim mangelnden Interesse für Technikgerade bei jungen Leuten. Das ist eigentlich eine para-doxe Situation; denn Tablets, Apps und moderne Tech-nik findet jeder hip und spannend. Jeder nutzt diese Pro-dukte täglich; aber die IT, die dahintersteckt, interessiertkaum jemanden.Dabei sind Medien- und Technikkompetenz heutemindestens genauso wichtig wie Fremdsprachen. In al-len Branchen – im Maschinenbau und der Automobilin-dustrie, aber auch auf dem Bildungs- und Gesundheits-sektor – werden wir in Zukunft IT brauchen; deshalbwerden wir auch Fachkräfte brauchen, die etwas von ITverstehen. In meinen Augen gehört daher die IT-Kompe-tenz in jeden Lehrplan, in jeden Ausbildungsplan undauch in jedes Studiencurriculum.
In den Schulen müssen wir Interesse für Technik we-cken, in den Hochschulen müssen wir für das Unterneh-mertum werben. Das ist zum einen die Aufgabe des Bil-dungssystems, das ist zum anderen auch die Aufgabe derUnternehmen selbst. Deshalb kann ich nur an die Unter-nehmen appellieren: Gehen Sie in die Schulen, tragenSie das, was Sie antreibt – Ihren Unternehmergeist, Ihrtechnisches Verständnis –, an die jungen Leute heran.Stecken Sie sie mit Ihrer Begeisterung an; denn hier fin-den Sie die Fachkräfte, die Sie in Zukunft brauchen wer-den.
Wir müssen aber auch darauf achten, dass wir diejeni-gen nicht verlieren, die bereits Interesse an diesemThema haben. Deshalb müssen wir uns fragen, was esmit den hohen Abbrecherquoten in den IT-bezogenenStudien- und Ausbildungsgängen auf sich hat. Könnenwir es uns wirklich leisten, jeden zweiten bis dritten In-formatikstudenten zu verlieren? Können wir es uns leis-ten, dass sich so wenige junge Frauen für diese Fächerinteressieren?Einiges hat sich schon verbessert – wir arbeiten wei-ter daran –, aber wir dürfen in unseren Anstrengungennicht nachlassen. Das gilt auch für das Bemühen umFachkräfte aus dem Ausland. Das Gesetz zur Gewin-nung ausländischer Fachkräfte wird dabei ein wichtigerBaustein sein. Unser Ziel muss es sein, im In- und Aus-land kluge Köpfe für die IT zu gewinnen; denn Fach-kräfte für die digitale Wirtschaft werden dringend ge-braucht.
Außerdem brauchen wir Investitionen in Forschungund Entwicklung. Herr Kollege Duin, Sie haben kriti-siert, es gebe in Deutschland zu wenige Investitionen.Das Gegenteil ist der Fall.
In den letzten sechs Jahren wurden allein die Ausgabendes Bundes für Forschung und Entwicklung um 42 Pro-zent gesteigert.
Wir reden also nicht nur, sondern wir tun auch etwas.
Wir unterstützen Forschung und Entwicklung durchProjektförderungen, etwa durch die Programme ZIModer Trusted Cloud. Wir unterstützen Gründungen in derIT-Branche, zum Beispiel durch das Programm EXIST.Wir unterstützen Firmen in der Gründungs- und in derersten Wachstumsphase, zum Beispiel durch den High-Tech Gründerfonds.Mit all diesen Programmen helfen wir jungen, inno-vativen Menschen, ihre Ideen umzusetzen, die Selbst-ständigkeit zu wagen und Unternehmen zu gründen.Diese Gründungen brauchen wir; denn nur so entstehenaus den vielen Ideen, die es in unserem Land gibt, Wert-schöpfung und Arbeitsplätze. Auch Unternehmen wieSAP haben einmal klein angefangen. Insofern könnenwir auf die gute Gründerkultur in Deutschland stolz sein,die wir auch politisch unterstützen.
Was in Deutschland noch fehlt, ist Wachstumskapital.Denn in der Wachstumsphase brauchen Unternehmeneben mehr als das, was staatliche oder halbstaatlicheFonds leisten können. Hier hilft nur privates Kapital,klassisches Venture Capital. Davon gibt es in den meis-ten Nationen deutlich mehr als bei uns, in den USA zum
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Beispiel gut 100-mal mehr: das 100-fache Kapital, mitdem Unternehmen wachsen, mit dem sie Innovationenumsetzen und damit Arbeitsplätze schaffen können, 100-mal mehr Investitionen in die Zukunft. Wir müssen An-reize dafür schaffen, dass in Deutschland mehr privatesKapital in unsere Unternehmen investiert wird, unddiese Anreize etwa durch die Möglichkeiten des Erhaltsvon Verlustvorträgen, durch Umsatzsteuerbefreiung vonManagement Fees und durch steuerliche Transparenzvon Beteiligungsfonds verstärken. Die Ideen liegen aufdem Tisch. Noch in diesem Jahr wollen wir sie umset-zen.
Wir wollen Business Angels besser unterstützen, etwamit einem Zuschusssystem; denn wir wissen: BusinessAngels sind wertvolle Helfer für junge Unternehmen,weil sie eben nicht nur Geld investieren, sondern auchmit ihrem Know-how, ihrem Netzwerk und ihrer Erfah-rung helfen und unterstützen. Das sind die Stellschrau-ben; auch die Branche bestätigt uns, dass dies dieKnackpunkte sind.Kollege Duin, Sie haben die steuerliche Forschungs-förderung angesprochen. Das ist ein Projekt, das wir alleunterstützen. Die SPD hat es in ihrer Regierungszeit lei-der nicht umgesetzt. Wir haben uns der Haushaltskonso-lidierung verpflichtet. Wir sagen Ihnen aber auch: So-bald es der Haushalt zulässt, werden wir die steuerlicheForschungsförderung angehen; denn sie ist ein wichtigerBaustein für das Innovationsland Deutschland.
Wir brauchen auch gute rechtliche Rahmenbedingun-gen. Minister Rösler hat bereits das Thema Datenschutzangesprochen; darüber werden wir beim nächsten Tages-ordnungspunkt debattieren. Wir setzen uns für eine EU-Datenschutzrichtlinie ein, die zum einen das hoheSchutzniveau garantiert, das wir in Deutschland habenund das Vertrauen schafft; gleichzeitig wollen wir aberdie deutschen Unternehmen wettbewerbsfähig halten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles ist ein gu-ter Nährboden für Innovationen. Was wir zudem brau-chen, ist ein Klima, in dem Innovationen entstehen kön-nen. Denn haben wir eine Gesellschaft, die auf neueEntwicklungen neugierig ist, die für Innovationen offenist und die bereit ist, sich Neuem zu öffnen, ist das einegute Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Zu die-ser offenen Gesellschaft können wir alle beitragen. Sowerden wir es schaffen, dass die digitale Wirtschaft inDeutschland ihre Potenziale voll entfalten kann. Hierkönnen wir alle mithelfen.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Halina Wawzyniak das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Das Internet istnicht nur Motor für Wachstum und Beschäftigung; dasInternet ist vor allem ein Kulturraum, ein Kulturraum fürdie Freiheit von Wissen und Information, ein Kultur-raum für freie Kommunikation. Das Internet sollte daheraus unserer Sicht in erster Linie ein Kulturraum derMenschen sein und kein Spielplatz für große Unterneh-men und Konzerne.
Diese Erkenntnis ist nicht neu; sie ist nur leider nochnicht bei allen angekommen. Wir betrachten das Internetnicht einseitig als Wirtschaftsraum. Die gesellschaftlicheund politische Bedeutung des Internets steht für uns imVordergrund. Die gesellschaftlichen Innovationspoten-ziale sind also entscheidend.
Wir streiten für einen Zugang zum Netz für alle Men-schen, unabhängig von Alter, Einkommen oder Bil-dungsgrad. Doch dazu enthält Ihr Antrag nicht ein einzi-ges Wort, und das ist beschämend.
Dabei sind Zugang für alle und Förderung digitaler Inno-vationen kein Gegensatz; sie ergänzen sich. Eine Voraus-setzung wäre ein wirklicher Ausbau von schnellen Inter-netzugängen im ganzen Land. Noch heute ist es inunzähligen ländlichen Gemeinden nahezu unmöglich,einen Internetanschluss mit mehr als 2 MBit/s zu be-kommen. Der Breitbandatlas der Bundesregierung zeigtdas Dilemma ganz deutlich. Doch die Bundesregierungschaut tatenlos zu, und die Breitbrandstrategien be-schränken sich darauf, die Ausbauziele immer weiter indie Zukunft zu verschieben.Doch jetzt kommt die Koalition. Sie fordert von derBundesregierung – ich zitiere –, „die … noch bestehendeUnterversorgung von Gebieten im ländlichen Raum imAuge“ zu behalten.
Da sage ich nur: Vielen Dank! Das hilft den Menschenim ländlichen Raum kein Stück weiter. Sie werden inden nächsten Jahren wohl immer noch auf einen schnel-len Internetzugang warten.
Aber dankenswerterweise stellen Sie die Ideologie inIhrem Antrag wieder einmal sehr deutlich heraus. Ich zi-tiere wieder:Wo kurz- bis mittelfristig keine Aktivitäten desMarktes zu erwarten sind, gilt es … die Rahmenbe-dingungen für kommunale Breitbandprojekte zuüberprüfen …
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20479
Halina Wawzyniak
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Toll! Überprüfen! Sinnvoll wäre es, den KommunenGeld in die Hand zu geben, damit sie ihre eigenen Netzeerstellen können.
Sie wollen prüfen, wenn der Markt versagt. Die Aussagekönnte auch heißen: Im Zweifel lassen wir euch imStich.
Die Innovation setzt im Übrigen auch Netzneutralitätvoraus. Wir haben darüber lange Debatten geführt. Eszeigt sich: An der gesetzlichen Festschreibung der Netz-neutralität führt kein Weg vorbei. Alle Datenpakete müs-sen mit gleicher Qualität im Internet fließen können,egal wer sie verschickt, egal ob es sich um eine E-Mailoder ein Video handelt.
Die Entwicklerinnen und Entwickler der kleinenStart-ups sind darauf angewiesen, dass ihre Anwendun-gen im Internet mit der gleichen Qualität angeboten undgenutzt werden können wie die der großen Anbieter.Wenn die Koalition Innovationen in der digitalen Wirt-schaft wirklich fördern will, dann sollte sie dafür die ge-setzlichen Grundlagen schaffen und die Netzneutralitätim Gesetz festschreiben. Aber Sie können nicht einmalInnovationen. Innovation in der digitalen Wirtschaftheißt eben nicht, die Geschäftsinteressen der großen Un-ternehmen und Konzerne zu schützen. Aber auch das istbei Ihnen noch nicht angekommen.Netzneutralität ist im Übrigen nicht nur für das Inno-vationspotenzial entscheidend. Netzneutralität sichertdie Meinungs- und Kommunikationsfreiheit und schütztvor einem Zweiklasseninternet. Der Geldbeutel eines al-leinerziehenden Vaters darf nicht darüber entscheiden,mit welcher Qualität sein Kind das Internet nutzen kann.Ich habe Ihren Antrag gelesen und mich dann gefragt:Warum stehen keine Namen von Netzpolitikern vonCDU/CSU und FDP auf diesem Antrag? Entweder fin-den sie in ihren Fraktionen kein Gehört, oder sie habenden Antrag aus inhaltlichen Gründen nicht mittragenwollen. Letzteres könnte ich nachvollziehen.
Denn in dem Antrag steht nicht mehr als: Wir fordernnichts Konkretes. Wir finden die Arbeit der Regierunggut. Ansonsten schlagen wir Abwarten vor.Für die Linke ist klar: Wir wollen ein freies und offe-nes Internet als Kulturraum für alle Menschen. Wir wol-len einen schnellen Internetzugang für jede und jeden inallen Teilen der Republik. Wir wollen die gesetzlicheFestschreibung der Netzneutralität. Das ist das Mindeste,um das gesellschaftliche Innovationspotenzial des Inter-nets nutzbar zu machen.
Da sich im Antrag der Koalition davon leider nichtsfindet, bleibt uns nichts anderes übrig, als diesen Antragzu Recht abzulehnen.
Jetzt hat die Kollegin Kerstin Andreae für Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Bevor ich zum eigentlichen Thema der Debattekomme, möchte ich eines zu der Diskussion sagen, diewir gerade geführt haben. Ich meine die Schlecker-Insol-venz und das, was gestern passiert ist. Wissen Sie, HerrRösler, Ihnen wird fehlende Empathie vorgeworfen.Wenn Sie auf der anderen Seite das Attribut „mitfühlen-der Liberalismus“ vor sich hertragen, dann können Siedoch nicht einfach sagen, dass diese Frauen schon alleeine „Anschlussverwendung“ finden werden. Es zeugtwirklich von fehlender Empathie, einfach darüber hin-wegzugehen, wie es diesen Frauen gerade geht. So kön-nen Sie sich doch nicht äußern.
Es ist gut, dass wir in der Kernzeit über digitale Wirt-schaft reden. Die Themen der Kernzeit finden immer hö-here Aufmerksamkeit. Es ist gut und sinnvoll, dass wirhier dieses Thema diskutieren. Wir haben uns gefreut,dass dieser Antrag gekommen ist, und haben ihn mit In-teresse gelesen. Aber dieser Antrag gibt nichts her. Darinsteht nichts Innovatives und nichts Neues. Darin stehtnicht, was Sie machen wollen und was Sie einmal anpa-cken wollen, sondern er besteht aus reinen Absichtser-klärungen.
Dass die Internetwirtschaft eine der innovativstenBranchen ist, dass darin Schwung ist, dass sich hier et-was bewegt, dass sie zur Gesamtwirtschaftsleistung bei-trägt und immer mehr beitragen wird, das wissen wirdoch alles. Sie aber beschränken sich auf Absichtserklä-rungen und wolkige Reden. Sie schreiben, dass wir Rah-menbedingungen brauchen, dass wir etwas fördern unddass wir dieses und jenes überprüfen wollen.Aber das tun wir doch schon seit Jahren. Wir wissenschon seit Jahren, dass wir neue Fördermaßnahmenbrauchen. Wir wissen seit Jahren, wo es hakt. Das heißt,Sie hätten deutlich vorangehen können, Sie hätten kon-krete Vorschläge machen können, wie wir eine flächen-deckende Versorgung im Bereich Breitband tatsächlichhinbekommen.
Sie hätten klären können: Wo liegt das Problem? Wie lö-sen wir das Problem?
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20480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Kerstin Andreae
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Beispiel TKG-Novelle. Sie sind von der EU-Kom-mission gedrängt worden und haben monatelang gezö-gert. Jetzt haben wir ein schwaches Ergebnis: keinerleiklares Bekenntnis zur Netzneutralität, keine klare An-sage zum Ausbau Glasfasernetz und auch keine klareAnsage zu ausreichendem Datenschutz. Das ist reinesGerede, reine Prosa ohne klare Ansage.
Beispiel Breitbandausbau. Es ist schon gesagt wor-den: Das erste Ziel, bis 2010 eine flächendeckende Ver-sorgung zu gewährleisten, haben Sie nicht erreicht. Nunsetzen Sie sich ein neues Ziel. Bis 2014 sollen 75 Pro-zent der Haushalte mit 50 MBit/s versorgt werden. Siemüssen doch irgendwann anerkennen, dass Sie ohne dieUniversaldienstleistungsverordnung nicht weiterkom-men. Diese Verordnung heißt nichts anderes, als dass je-der einen Anspruch auf einen Internetanschluss hat. Siemüssen sich klar dazu bekennen: Ja, jeder soll einen An-schluss an das Internet haben, das machen wir mit derUniversaldienstleistungsverordnung, wir setzen uns mitder Wirtschaft zusammen.Doch was machen Sie jetzt? Sie setzen ein neues wol-kiges Ziel. Sie sagen überhaupt nicht, wie Sie die75 Prozent erreichen wollen und was mit den restlichen25 Prozent ist. Man sieht, es ist nur Prosa – reine Ankün-digungen und keine klaren Regeln.
Beispiel Fachkräftesicherung. Sie haben sich gesterndafür gelobt, dass Sie einen neuen Gesetzentwurf für dieerleichterte Zuwanderung von ausländischen Fachkräf-ten eingebracht haben. Das hätten Sie schon früher ha-ben können. Wir haben Ihnen schon 2010 den Vorschlaggemacht, wenigstens die Einkommensgrenze für auslän-dische Fachkräfte zu senken. Das haben Sie damals ab-gelehnt.Was machen Sie jetzt? Eine umfassende Niederlas-sungserlaubnis war angekündigt, aber jetzt bekommenHochqualifizierte nur ein befristetes Bleiberecht für dreiJahre. Die langfristige Anerkennung von Fachkräftenknüpfen Sie an deren Deutschkenntnisse. Das ist dochkeine Willkommenskultur. Glauben Sie denn, dass unsdie indischen Programmierer die Bude einrennen? Nein!Wir befinden uns im Wettbewerb um die kreativstenKöpfe, und die überlegen sich genau, ob sie zu uns oderwoanders hingehen. Wenn Sie Deutschkenntnisse zurVoraussetzung machen, dann werden die hochqualifi-zierten Programmierer, die Fachkräfte, die die Branchebraucht, nicht zu uns kommen, sondern sie werden wo-anders hingehen. Das ist keine Willkommenskultur. Siehaben im Wettbewerb um die kreativsten Köpfe einenkapitalen Fehler bei der Gewinnung von Fachkräften ge-macht.
In Ihrem Antrag findet sich nichts über Anreize undRahmenbedingungen. Wo bleibt denn die steuerlicheForschungsförderung? Frau Schön, ich weiß, dass Sieimmer wieder sagen: Ja, wir wollen das. Auch in jedemAntrag, in dem es um Innovationen geht, steht: Ja, wirwollen es. Aber wenn Sie es wollen, dann müssen Sie esauch machen. Geben Sie das Geld nicht für unsinnigeandere Projekte aus, sondern entscheiden Sie sich klarfür die steuerliche Forschungsförderung. Das wäre sinn-voll für Innovationsanreize. Das ist das, was die Branchevon Ihnen fordert.
Fazit: völlig belangloser Antrag, nichts Neues, nichtsInnovatives, nichts zur Umsetzung, wie Sie den Mittel-stand unterstützen wollen, kein Wort dazu, wie Sie Inno-vation und Bildung verbinden wollen, kein Angebot anausländische Fachkräfte. Es ist eine einzige Prosa. Wirhätten wirklich mehr erwartet. Die Debatte hätte, ehrlichgesagt, mehr verdient: mehr Vorschläge von Ihnen, überdie wir hier in der Kernzeit hätten diskutieren können,und nicht eine reine Absichtserklärung.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Andreas Lämmel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Es soll der amerikanische Soziologie Bell gewesensein, der 1973 eine Theorie einer nachindustriellen Ge-sellschaft entwickelt hat, in der der Begriff Informa-tionsgesellschaft erstmals auftauchte. Als diese Theoriedamals aufkam, waren Sie noch lange nicht auf demTrip, Herr Duin.
– Sehen Sie, da konnten Sie noch nicht dabei gewesensein. – Dass er damals ein völlig neues Szenario entwi-ckelt hat und dass er damit am Puls der Zeit war, hätte erselbst wohl nicht geahnt.Ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Die digitale Wirt-schaft wird hier auf das Internet verengt. Sie ist aber eingroßer Sektor und umfasst nicht nur Internetfirmen undThemen wie Netzneutralität, die Sie zum größten Teilangesprochen haben. Die digitale Wirtschaft umfasst diegesamten Informations- und Kommunikationstechnolo-gien, und das ist weit mehr, als Sie hier dargestellt ha-ben.
Die Branchenverbände erwarten von der digitalenWirtschaft in Deutschland für das Jahr 2012 einen Um-satz von 150 Milliarden Euro. Das ist erst einmal eineMenge Holz. Dies zeigt aber noch lange nicht die Be-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20481
Andreas G. Lämmel
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deutung, die diese Querschnittsbranche für die Entwick-lung der gesamten deutschen Wirtschaft und für die Ent-wicklung unserer Gesellschaft hat; denn kein Projekt derZukunft, das wir hier im Deutschen Bundestag diskutie-ren oder das wir auch politisch wollen, ist ohne Informa-tions- und Kommunikationstechnologien möglich.In den nächsten Jahren würde kein Elektroauto aufder Straße fahren, wenn es keine Leistungselektronikgäbe. Die Energiewende wäre ohne intelligente Netze,die mit Leistungselektronik funktionieren und nur mitinternetbasierten Softwarelösungen existieren können,völlig undenkbar. Keine Windmühle würde sich drehen,wenn oben in dem Rotorhäuschen keine Leistungselek-tronik installiert wäre. Auch Fragen hinsichtlich der al-ternden Gesellschaft und des lebenslangen Lernens sindmit diesen Technologien verknüpft.
Frau Andreae, das, was Sie hier dargestellt haben, istschon interessant gewesen. Sie sagten, es sei zwar gut,dass wir den Antrag eingebracht haben, aber er sei nochnicht ausführlich genug. Es wäre interessant gewesen,hätten Sie selbst einen Antrag auf den Weg gebracht undzumindest eine einzige Idee hier vorgetragen.
Sie haben sich über all das mokiert, was Ihnen an unse-rem Antrag nicht passt. Aber ich habe kein einzigesWort gehört, was Sie machen würden.
Damit komme ich zum Thema Infrastruktur, HerrDuin. Ich kann mich noch daran erinnern, dass die Breit-bandstrategie in der Großen Koalition beschlossen wor-den ist. Damals waren Sie doch dabei. Von daher könnenSie doch jetzt nicht sagen: Das alles ist viel zu wenig,das alles ist viel zu schlecht, das ist nicht zu schaffen.Die flächendeckende Versorgung mit Internetan-schlüssen mit Datenübertragungsraten von 1 MBit/s ha-ben wir fast geschafft.
Sie können doch nicht leugnen, dass es im letzten Jahrbei der Breitbandversorgung in Deutschland große Fort-schritte gegeben hat. Auch international wird anerkannt,dass Deutschland bei der mobilen Internettechnologieweltweit führend ist. In keinem anderen Land der Weltkonnte das mobile Internet flächendeckend so stark aus-gebaut werden wie in Deutschland.
Innerhalb eines Jahres sind fast 7 500 mobile Internetsta-tionen auf der Basis von LTE in Betrieb genommen wor-den. Zeigen Sie mir ein Land auf dieser Welt, wo diesesähnlich funktioniert!Frau Andreae, dass Sie jetzt die Schlachten bezüglichdes Universaldienstes wieder aufnehmen wollen, ver-wundert mich. Da ist sogar der Bundesrat schlauer ge-wesen.
Die Länder haben nämlich darauf verzichtet, diesesstumpfe Beil hervorzuholen. Diesen Punkt haben Siejetzt wieder in die Diskussion gebracht. Sie meinen, wirmüssten über den Universaldienst im Zusammenhangmit dem TKG reden. Einen entsprechenden Vorschlaghätten Sie vor zwei Jahren einbringen können. Darankann man sehen, dass Sie nur zurückblicken und über-haupt nicht nach vorne schauen.
Jetzt komme ich zu den Rahmenbedingungen fürInnovationen, die hier schon vielfach angesprochen wor-den sind. Es ist wohl unbestritten, dass in Deutschlandsehr viel Geld für Forschung, Entwicklung und Techno-logie ausgegeben wird, und zwar sehr viel staatlichesGeld, aber auch sehr viel privates Geld. Trotzdem mussman sich fragen, warum Deutschland zum Beispiel inder Informations- und Kommunikationstechnologiekeine großen Firmen mehr hat und warum aus den vielenNeugründungen keine großen Firmen gewachsen sind.In diesem Zusammenhang muss man sich einmal diegesamte Kette von Innovationen anschauen. Dann stelltman nämlich fest, dass es ohne Zweifel erst einmal eineMenge gute Ideen gibt, aber dass dann viele Ideen offen-sichtlich irgendwo absterben. Schauen wir uns einmaldie verschiedenen Phasen einer Unternehmensgründungan. Aus meiner Sicht kristallisieren sich zwei Felder he-raus, auf denen dringender Handlungsbedarf besteht– wir werden in die entsprechende Richtung weitermar-schieren –:Zum einen geht es – dieses Thema hat meine KolleginSchön schon dargestellt – um die Frage des Wagniskapi-tals, des Risikokapitals. Wenn es uns nicht gelingt, aus-reichend privates Kapital zu mobilisieren, dann wird esuns auch nicht gelingen, kleinen Firmen den Weg zu eb-nen, damit sie einmal große Firmen werden können.
Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Wir haben daserkannt und werden demnächst vor allem im Bereich derBusiness Angels aktiv werden.
Zum anderen geht es – das ist das zweite Feld – umdie Forschungsprämie. Die steuerliche FuE-Förderungsteht bei uns ganz oben auf der Agenda.
Das ist überhaupt gar keine Frage.Bevor vor allen Dingen in der SPD die Backen wiederaufgeblasen werden, wollen wir uns einmal anschauen,
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20482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Andreas G. Lämmel
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was die SPD machen wird: Wenn es einen Gesetzent-wurf zur steuerlichen Forschungsförderung gibt, danngeht er in den Bundesrat.
Dieser Gesetzentwurf zur steuerlichen Forschungsförde-rung liegt dann im Vermittlungsausschuss direkt nebendem Gesetzentwurf zur CO2-Gebäudesanierung. Dortliegen vielleicht noch zwei oder drei andere Projekte.Herr Duin, dann kommt der Tag, an dem Sie beweisenkönnen, dass Sie bei einem solchen Projekt mitmachen.
Herr Kollege Lämmel, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Heil?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Lämmel, damit wir bei diesem Thema
nicht Formulierungen wie „Backen aufblasen“ gebrau-
chen müssen, möchte ich darauf hinweisen, dass wir
beide der Meinung sind, dass es die steuerliche For-
schungsförderung geben sollte.
Erstens. Können Sie uns sagen, wann Sie den entspre-
chenden Gesetzentwurf vorlegen werden? Ich bitte um
eine möglichst exakte Angabe, zumal wir eine Antwort
des Bundesfinanzministers erhalten haben, nach der es
mit der in Ihrem Koalitionsvertrag beschriebenen steuer-
lichen Forschungsförderung aus haushalterischen Grün-
den in dieser Legislaturperiode nichts mehr wird. Sie
kennen möglicherweise diese Aussage. Können Sie die-
sen Widerspruch aufklären?
Zweitens. Sie haben vorhin gesagt, dass Ihr Antrag
toll und revolutionär ist. Können Sie mir einmal sagen,
warum die zentrale Forderung ausweislich Ihres Antra-
ges an die Bundesregierung lautet:
1. den Dialog zwischen Politik, Wirtschaft und
Wissenschaft zur wirtschaftlichen und gesell-
schaftspolitischen Bedeutung des Internets und der
digitalen Wirtschaft im Rahmen des Nationalen IT-
Gipfels der Bundesregierung weiter zu intensivie-
ren.
Waren Sie schon einmal auf einem IT-Gipfel? Läuft das
hier nach dem sozialpädagogischen Motto „Es ist wich-
tig, dass wir noch mehr darüber reden“? Ist das Ihre zen-
trale Forderung? Das sagt doch ein bisschen etwas über
den Gehalt Ihres Antrags aus.
Wann kommt der Gesetzentwurf zur steuerlichen For-
schungsförderung? Sagen Sie uns möglichst den Monat.
Dann können wir ja darüber reden, wie wir das hinbe-
kommen.
Herr Heil, vielen Dank. – Ich kann nur sagen: Ichhabe Sie auf einem IT-Gipfel noch nicht getroffen. Essind viele Leute dort, vielleicht habe ich Sie nur nichtgesehen. Ich will damit sagen, dass ich dort gewesen bin.Punkt eins.
Punkt zwei. Wenn Sie Kontakte in die Wirtschaft hät-ten und mit den Leuten, die beim IT-Gipfel dabei sind,gesprochen hätten, dann hätten Sie gehört, dass wir diesePlattform, diesen IT-Gipfel, dringend brauchen.
– Ja, klar. Wir machen auch einen nächsten Gipfel. Derist schon avisiert. – Wir brauchen diese Plattform, umüber die Themen, die sich um die digitale Wirtschaft unddie Entwicklung der digitalen Gesellschaft ranken, dis-kutieren zu können.
– Ja, klar. Jetzt kommt der nächste. – Es ist so, dass aufdem IT-Gipfel Themen diskutiert werden, die weiter vo-rangebracht werden müssen.
– Ja, klar. Wir wollen ihn fortführen. Die Frage war ja,ob der IT-Gipfel eine temporäre Veranstaltung sein solloder ob man ihn regelmäßig abhalten sollte. Wir sind ge-meinsam der Auffassung, dass der IT-Gipfel bestehenbleiben soll. Wir wollen diese Plattform behalten, aufder über diese Fragen diskutiert werden kann.
Zu Ihrer zweiten Frage, Herr Heil, zur steuerlichenFuE-Förderung. Sie wissen selbst, dass dieses Vorhaben– das gebe ich ja zu – nicht so leicht umzusetzen ist.
– Die Grünen haben dieses Thema, als sie regiert haben,nicht einmal angepackt. Sie haben noch nicht einmal denGedanken im Kopf gehabt, dass man so etwas machenkönnte.
Man muss natürlich über die notwendigen finanziel-len Ressourcen verfügen. In der Koalition befinden wiruns darüber in Gesprächen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20483
Andreas G. Lämmel
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Das steht im Koalitionsvertrag. Die Koalition besteht janoch anderthalb Jahre. Also ist noch Zeit, die steuerlicheFuE-Förderung in Deutschland umzusetzen.
– Das ist Ihre Interpretation. Das habe ich nicht gesagt.Wir stehen dazu – das möchte ich hier definitiv sagen –,und wir werden weiterhin mit unserem Koalitionspartnerund mit der Bundesregierung darüber diskutieren, inwelchem Umfang und wann die steuerliche Forschungs-förderung umsetzbar ist. Wir sind der Auffassung: Wirbrauchen gleiche Rahmenbedingungen für FuE-Unter-nehmungen weltweit; denn letztendlich schaut sich jederzunächst die Rahmenbedingungen in einem Land an, be-vor er dort neue Aktivitäten startet, bevor er zum Bei-spiel neue Forschungszentren aufbaut. Hier müssen wireinen Nachteil Deutschlands aufholen.Ich möchte noch etwas zu den Schlüsseltechnologiensagen. Diese haben bisher überhaupt keine Rolle ge-spielt. Es ging, wie gesagt, bisher nur um das Internet,um Netzneutralität und anderes. Die Schlüsseltechnolo-gien, zum Beispiel die Mikroelektronik, sind aber dieentscheidenden Technologien, die wir in Deutschlandbrauchen, um all unsere Vorhaben zu realisieren. DieMikroelektronik ist eine strategische Branche inDeutschland. Wir müssen uns darüber klar werden, wiewir in Deutschland und in Europa mit den Wertschöp-fungsketten im Bereich der Mikroelektronik umgehen.Wir müssen darüber diskutieren, wie wir zum Bei-spiel die gleiche Wettbewerbsfähigkeit wie Asien be-wahren können. Das Problem der Abwanderung in Rich-tung Asien besteht ja in mehreren Branchen. Dies istnicht nur ein Problem der Mikroelektronik, sondern zumBeispiel auch der Solartechnik, über die wir gestern dis-kutiert haben. Selbst im hochinnovativen Maschinenbauerwachsen in Asien große Konkurrenten, die deutschenUnternehmungen das Leben schwer machen.Ich möchte zusammenfassen. Die Verengung desBlicks auf das Internet im Bereich der digitalen Wirt-schaft ist falsch. Die digitale Wirtschaft ist breiter aufge-stellt. Wir als christlich-liberale Koalition stehen zudieser Branche. Wir werden alles tun, um die dort beste-henden Potenziale zu heben, damit dieser Bereich derKreativwirtschaft weiterhin ein gutes Wachstumsumfeldin Deutschland hat.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Lars Klingbeil von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir sind uns einig: Die digitale Wirtschaft inDeutschland ist ein bedeutender Wachstumsmotor. Sieist Treiber für Innovationen, und die Digitalisierung un-serer Gesellschaft ist Taktgeber für den Wandel vonWirtschaft und Wissenschaft. Deswegen ist es richtig,dass wir heute Morgen zur Kernzeit die Gelegenheit ha-ben, über ein solch wichtiges Thema zu diskutieren. Esist richtig, dass das Thema heute im Deutschen Bundes-tag auf der Tagesordnung steht.Genauso richtig ist aber auch, dass der Antrag, dervon CDU/CSU und FDP vorgelegt wurde, meilenweithinter den notwendigen Antworten zurückbleibt, die wirbräuchten, um die digitale Wirtschaft in Deutschland zugestalten. Sie sind hier viele Antworten schuldig geblie-ben. Der Antrag beinhaltet in weiten Teilen eine ordent-liche Analyse – das will ich zugestehen –, aber wenn esam Ende um die konkreten Forderungen geht, dann rei-hen Sie Schlagwörter aneinander. An dieser Stelle wirddeutlich: Sie haben keine Richtung, Sie haben keineSubstanz, und Sie geben keine Impulse.
Ich will ein Beispiel aus Ihrem Antrag nennen. Dortgeht es um eine der vielleicht drängendsten Fragen, überdie wir gerade im Bereich der digitalen Wirtschaft disku-tieren: das Urheberrecht. In Ihrem Antrag steht:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, … die Regelungen zum Datenschutz undUrheberrecht an die Bedingungen des Internets undder Digitalisierung fortlaufend anzupassen.Mehr nicht. Man findet keine Stellungnahme, wie es hin-sichtlich ACTA weitergehen soll, keine Stellungnahmezum Leistungsschutzrecht und keine Position zum Drit-ten Korb. Das reicht nicht, um ein Thema voranzubrin-gen. Wenn Sie ein Thema voranbringen wollen, dannmüssen Sie den Mut haben, Stellung zu beziehen. Dannbrauchen Sie Mut für klare Konzepte. Diese fehlen in Ih-rem Antrag.
Wenn es darum gegangen wäre, ein Thema parlamen-tarisch voranzubringen, dann hätte ich mir gewünscht,dass Sie Ausschussberatungen zu diesem Antrag zuge-lassen hätten.
Wir haben den Antrag am Dienstagabend bekommen. Erwird nicht in den Ausschüssen beraten. Ich frage mich,warum CDU/CSU und FDP nicht auf die Expertise derEnquete-Kommission zurückgreifen.
Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-schaft“ tagt gerade, beispielsweise im Rahmen der Pro-jektgruppe „Wirtschaft, Arbeit, Green IT“. Wir haben
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20484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Lars Klingbeil
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teure Gutachten in Auftrag gegeben, beispielsweise zuder Frage: Wie können wir Venture Capital in Deutsch-land stärken? Diese Gutachten liegen noch nicht vor.Stattdessen wird hier ein Antrag vorgelegt, der nach ei-ner Schaufensterdebatte verabschiedet wird.
Hier soll ein Thema besetzt werden. Das ist nichts ande-res als Wahlkampf.
Wenn es allerdings darum geht – das scheint hier ja derFall zu sein –, dass dieser Antrag ein schwarz-gelberHilferuf ist, dass diese Regierung endlich etwas tun soll,dann haben Sie mich und uns an Ihrer Seite.
In der Rede des Ministers heute Morgen ist deutlichgeworden, dass es zwar viele blumige Absichten gibt,dass aber zweieinhalb Jahre nichts passiert ist. HerrRösler, ich will Ihnen klar sagen: Digitale Wirtschafts-politik kann nicht nur darin bestehen, dass man einmalim Jahr den IT-Gipfel oder die CeBIT eröffnet. Sie müs-sen endlich anfangen, zu arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Netzpolitik mussumfassende und moderne Gesellschaftspolitik sein. Da-für müssen wir auch politisch die richtigen Rahmenbe-dingungen schaffen. Ich will an ein paar Punkten skiz-zieren, was das für uns bedeutet.Erster Punkt. Grundlage für den digitalen Wandel, fürWachstum und für Arbeitsplätze muss die Überwindungder digitalen Spaltung sein. Das muss zuallererst bedeu-ten, dass die Menschen Zugang zum Internet haben undan den Prozessen der Digitalisierung teilhaben können.Wir müssen dafür sorgen, dass der Zugang zum Internetheute als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge betrach-tet wird. Wer keinen Zugang zum Netz hat, ist von sozia-ler, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Teilhabe ab-gehängt. Wir brauchen in Deutschland endlich ein Rechtauf Netz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Bundesregierung wird die Ziele ihrer Breitband-strategie verfehlen. In meinem Wahlkreis, der im ländli-chen Raum liegt, müssen die Kommunen und der Land-kreis anfangen, den Breitbandausbau zu finanzieren,weil Land und Bund es nicht hinbekommen. Das belastetdie kommunalen Haushalte. Der Druck der Bürgerinnenund Bürger, aber auch der Unternehmen ist allerdings sogroß, dass dort etwas passieren muss.Ich will Ihnen sagen: Ich bin es leid, dass wir jedeshalbe Jahr hier im Deutschen Bundestag darüber disku-tieren, wie der Breitbandausbau gelingen kann, und dasswir dann immer wieder die ideologische Marktgläubig-keit der Regierung zu hören bekommen. Wenn der Marktes nicht gebacken bekommt, dann brauchen wir staatli-che Lösungen, die garantieren, dass die Forderung, dassalle Menschen ein Recht auf Netz haben sollen, umge-setzt werden kann. Wir wollen an der Gleichwertigkeitder Lebensverhältnisse festhalten. Wir wollen allenMenschen Zugang und Teilhabe ermöglichen. Deswegenbrauchen wir in Deutschland einen Universaldienst.
Wenn wir einen Zugang für alle schaffen, dann hatdas auch Folgen für die Wirtschaft. Dann können sichnämlich Portale, Dienste und Unternehmen breitmachenund neue Geschäftsideen entwickeln. Dann zahlt es sichauch aus wirtschaftlicher Perspektive aus, einen Univer-saldienst zu schaffen.Der zweite Punkt, den ich nennen will. Wir braucheneine gesetzliche Verankerung der Netzneutralität. Netz-neutralität war und ist ein entscheidender Faktor für denErfolg der Internetwirtschaft. Sie sichert die Offenheitund Kreativität des Netzes; das schafft internationaleWettbewerbsfähigkeit. Aber die Netzneutralität sichertauch Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt. Der Sie-geszug des Internets und vieler IT-Dienste wäre ohne einoffenes und neutrales Netz nicht möglich gewesen. Wirhaben, ähnlich wie die anderen Oppositionsparteien,schon im Rahmen der TKG-Novelle gefordert, die Netz-neutralität gesetzlich zu verankern. Wir haben uns schondamals gewundert, dass Sie auch hier auf das freie Spielder Kräfte setzen und die Offenheit des Netzes nichtfestschreiben wollen. Das ist ein großer Fehler. Ich sageIhnen: Wir werden die gesetzliche Verankerung derNetzneutralität in Deutschland weiter fordern.
Dritter Punkt, den ich ansprechen will. Wir brauchendie Förderung digitaler Kompetenz und digitaler Selbst-ständigkeit. Denn nichts ist für die Internetwirtschaft sowichtig wie gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer. Sie sind Garant für Kreativität undWachstum in Deutschland im digitalen Zeitalter. Das be-dingt einen radikalen Wandel von Schule, Ausbildungund Universitäten. Dabei geht es um die Vermittlungneuer Kompetenzen, um die Vermittlung technischerund digitaler Kompetenzen. Der Laptop muss zur Werk-bank des 21. Jahrhunderts werden. Damit müssen sichauch unsere Bildungsstrukturen verändern.Ich will auf die Beschlüsse der Enquete-Kommission„Internet und digitale Gesellschaft“ hinweisen. Sie hatgesagt: Jeder Schüler, jede Schülerin in Deutschlandbraucht ein Tablet oder ein Laptop. Sie hat auch gesagt:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20485
Lars Klingbeil
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Wir müssen die Lehrerausbildung komplett verändern.Die Enquete-Kommission hat außerdem Beschlüsse zurDigitalisierung der Bildungsmaterialien und zur Stär-kung der naturwissenschaftlichen und technischen Stu-diengänge gefasst. All diese Schritte müssen erfolgen.All diese Schritte stehen aber nicht in Ihrem Antrag. Ob-wohl der Fachkräftemangel schon heute evident ist, ha-ben Sie an dieser Stelle nichts getan.
Das bringt mich zu meinem vierten Punkt. Die digi-tale Gründerkultur ist heute schon oft angesprochen wor-den. Ja, wir brauchen in Deutschland ein positives Um-feld für Gründungen. Wir müssen dafür sorgen, dass diedigitale Kompetenz gestärkt wird; dazu habe ich geradeetwas gesagt. Wir müssen Cluster an Universitäten auchstaatlich fördern und dafür sorgen, dass kreative Juristenund Betriebswirtschaftler an Universitäten frühzeitig zu-sammenkommen und ermutigt werden, ihre kreativenIdeen und Konzepte umzusetzen. Das ist die Erfolgsge-schichte von Gründungsmythen, die wir in anderen Staa-ten erlebt haben.Wir brauchen eine ordentliche Finanzierung vonGründungen. Hier reichen die bisherigen Strukturen fürWagniskapital in Deutschland nicht aus, hier muss mehrpassieren. Es müssen passgenaue und vor allem unbüro-kratische Finanzierungen zur Verfügung stehen.Es geht auch um die steuerliche Forschungsförde-rung. Ich wundere mich schon, dass hier zwar Einigkeitdarüber besteht, dass wir sie eigentlich bräuchten, dassdann aber gesagt wird: Dafür haben wir kein Geld. LiebeKolleginnen und Kollegen von der Regierungsseite, ichmache Ihnen einen Vorschlag: Verzichten Sie auf dasschwachsinnige Betreuungsgeld. Dann haben wir auchGeld für die steuerliche Forschungsförderung. Das wäreein großartiger Schritt für die Internetwirtschaft inDeutschland.
Zur anderen Kultur gehört auch, dass wir das Schei-tern anerkennen. Wir waren neulich mit dem Unteraus-schuss „Neue Medien“ in den USA. Dort wurde unsgesagt: Wenn du zwei-, dreimal mit einer Unterneh-mensgründung gescheitert bist, dann wissen wir, du bistvernünftig ausgebildet. Beim vierten oder fünften Malklappt es dann. – Wenn man hier in Deutschland einmalmit einer Unternehmensgründung gescheitert ist, dannkommt man kaum noch auf die Beine. Auch hier könnenwir in Bezug auf das gesellschaftliche Klima für Grün-dungen noch viel nachholen.Der letzte Punkt, den ich ansprechen will, ist dieRolle des Staates. Der Staat muss Treiber von Innovatio-nen sein. Bei der Energiewende und bei Veränderungenin den Bereichen Bildung, Gesundheit, Verkehr und Ver-waltung ist der Staat in der Pflicht, Treiber von Innova-tionen und Veränderungen zu sein. Herr Rösler, hierzuhaben Sie leider nichts gesagt. Ich hätte mir gewünscht,dass Sie heute Morgen einige Sätze dazu gesagt hätten,dass der Staat seiner Verantwortung als Nachfrager ge-recht wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller Wichtig-keit dieses Themas kann ich nur feststellen: Mit den For-derungen in Ihrem Antrag bleiben Sie weit hinter den Er-wartungen und auch hinter den Debatten zurück, die wirim Deutschen Bundestag, beispielsweise in der Enquete-Kommission, führen. Ich hätte mir gewünscht, dass hierheute Morgen mehr als eine Schaufensterdebatte stattfin-det und dass ein wirklicher Impuls für digitale Wirt-schaftspolitik aus der Mitte des Parlaments kommt. Lei-der hat es nicht geklappt. Vielleicht wird es mit dernächsten Regierung besser.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Manuel Höferlin.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Nachdem gerade ein so schlauerSpruch aus der SPD gekommen ist, will ich ein Wort zuSchlecker verlieren: Der Ministerpräsident von Rhein-land-Pfalz hat vor einiger Zeit zu einem Arbeitslosen ge-sagt: Rasieren und waschen Sie sich erst einmal, dannbekommen Sie Ihren Job.
Jetzt blasen Sie hier die Backen auf. Sie sollten auf demBoden der Tatsachen bleiben und daran denken, was Siezu welchen Zeitpunkten gesagt haben. Ich glaube, dieseAussage spricht Bände. Was Sie machen, ist Schaufens-terpolitik.
Lassen Sie mich bitte auf den vorliegenden Antrag zusprechen kommen. Die SPD ist bekannt dafür, dass siegerne viel regulieren will und den Staat gerne auffordert,die Dinge vorzugeben. Ich glaube, wir verlieren dadurchChancen für Innovationen und die Chance, dass dieseInnovationen, die in der Wirtschaft entstehen, die Ge-sellschaft und die Wirtschaft voranbringen.Gerade in den Ländern zeigen Sie, wie Sie zu Innova-tionen stehen. Ich komme aus Rheinland-Pfalz. Dortschließt ein Unternehmen wie BASF jetzt die For-schungssparte. Sie vertreiben sie aus dem Land, und mitIhrem Koalitionspartner, den Grünen, freuen Sie sichauch noch darüber, dass Arbeitsplätze vernichtet wer-
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20486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Manuel Höferlin
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den. Das ist die Realität; eine solche Politik machen Siein den Ländern. Hier glauben Sie, uns weismachen zukönnen, dass Sie eine ganz andere Meinung haben. Dasist scheinheilig.
Die Grünen spielen sich als Innovationstreiber derNation auf. Ich habe einmal nachgeguckt: 1987 warenSie gegen Videotext, gegen ISDN, gegen Breitbandver-kabelung und gegen Kabel- und Satellitenfernsehen.Wenn man auf Sie hören würde, wäre man 30 Jahre spä-ter unheimlich weit zurück. Deswegen ist es gut, wennwir heute nicht auf das hören, was Sie beim Thema Inno-vationen wollen. Sie haben einfach keine Ahnung davon.
Auch heute sind Sie gegen Innovationen und gegenForschung. Sie sind zum Beispiel gegen Infrastruktur-projekte. Immer dann, wenn irgendeine Straße oder Brü-cke gebaut werden soll, schreien Sie als Erste auf. WennKabel übers Land verlegt werden sollen, schreien Sieauf.In anderen Bereichen sagen Sie aber, Sie wollengerne wahnsinnig neue Techniken haben. Auch das istscheinheilig.
Wenn Sie es gut finden, wenn es in Ihr Lebensbild passt,dann wollen Sie, dass der Staat das am Ende finanziert.Wir brauchen aber Grips und Gründergeist.
– Ich weiß, dass Ihnen Grips abgeht. Aber das ist nuneinmal so.
Wir brauchen Menschen, die intelligent sind und et-was voranbringen wollen. Grips und Gründergeist ent-wickeln sich, wenn man ihnen Luft lässt. Man muss einefreie Entwicklung zulassen. Eine solche Entwicklung hates in den letzten 20 Jahren im Internet glücklicherweisegegeben, weil nicht so viel reguliert wurde.Sehr geehrter Herr Duin, Sie haben vorhin zugerufen:Knapp vorbei ist auch daneben! – Das zeigt, wie Sie mitGründergeist umgehen. Lars Klingbeil hat gesagt: DieKultur des Scheiterns ist wichtig. – Mit einem solchenSatz können Sie jeden gescheiterten Gründer unheimlichmotivieren, wieder aufzustehen und weiterzumachen.Ich glaube, das ist der falsche Ansatz.
Denken Sie an die Zeit, Herr Kollege.
Ich komme gleich zum Ende.
Das Internet ist ein Wirtschaftsnetz. Deswegen be-
fasst sich der Wirtschaftsausschuss damit. Die Wirt-
schaftspolitiker meiner Fraktion haben daher den vorlie-
genden Antrag eingebracht, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Linken. Unsere drei Netzpolitiker, die
Sie aus der Internet-Enquete kennen, haben daran mitge-
wirkt. Ihre Namen stehen nicht auf dem Antrag, weil sie
nicht Mitglieder des Wirtschaftsausschusses sind. Aber
selbstverständlich waren wir Netzpolitiker involviert.
Sie können ganz beruhigt sein. In der Fraktion arbeiten
wir bestens zusammen. Das ist vielleicht nicht überall
so.
Wenn man ein Wirtschaftsnetz wie das Internet sich
entwickeln lässt, dann kommt es nachher den Menschen
zugute. Das sehen wir auch. Die Menschen haben etwas
davon. Es ist ein Netz der Menschen geworden. Die
Menschen treiben es voran.
Kommen Sie jetzt zum Schluss, bitte.
Ich glaube, dass unser Antrag vor diesem Hintergrund
in die richtige Richtung geht.
Herr Höferlin, bitte!
Wir werden weiterhin daran arbeiten, dass die Chan-
cen der digitalen Welt in Deutschland genutzt werden.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt für die Fraktion Die Linke die Kol-
legin Dr. Petra Sitte.
Danke schön. – Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Halina Wawzyniak hat vorhin zu Recht daraufhingewiesen, dass eine zu einseitige Fixierung auf diedigitale Wirtschaft zu einem verkürzten Begriff vonInnovation führt. Herr Rösler hat uns das heute Morgendeutlich gezeigt. Weder begreifen die Kollegen vonUnion und FDP das Internet als gesamtgesellschaftli-chen Raum, noch fassen sie Innovation als Prozess auf,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20487
Dr. Petra Sitte
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der dem Fortschritt der Gesellschaft dienen soll. Die ge-samtgesellschaftliche Bedeutung der Internets streifensie lediglich als Thema im Dialog zwischen Politik,Wirtschaft und Wissenschaft. Die Zivilgesellschaft ist indiesen Prozess nicht eingebunden.Das gleiche Spiel spielen Sie beim Urheberrecht. Ih-nen ist erstaunlicherweise endlich aufgefallen, dass dasUrheberrecht Anpassungen an die Digitalisierungbraucht. Allein Repressionen gegen die als Raubkopiererkriminalisierten Bürgerinnen und Bürger sind nicht ein-mal mehr für Sie des Rätsels Lösung. Was machen Sieaber konkret? Konkret schießen Sie sich doch wieder nurauf den Kampf gegen Urheberrechtsverletzungen ein.Alles andere, was schiefläuft, sollen nach Ihrem Willen– das haben Sie heute Morgen bekräftigt – die Inhaltean-bieter durch neue Angebote korrigieren. Wirklich inno-vativ und dringend notwendig wäre es, für einen Erneue-rungsprozess im Bereich des Urheberrechts auch die mitins Boot zu holen, die das Urheberrecht unmittelbar be-trifft,
nämlich Künstlerinnen und Künstler, Journalistinnenund Journalisten und viele andere mehr, also die wirkli-chen Kreativen, denen die Rechte zumeist spottbillig ab-geknöpft werden. Auch die Nutzerinnen und Nutzer soll-ten endlich eingebunden werden. Das wäre einegesamtgesellschaftliche Debatte. Das wäre ein offenerInnovationsansatz auf politischer Ebene.
Sie aber gehen an dieser Stelle überhaupt nicht inno-vativ vor. Ansonsten würden Sie beispielsweise nichtkrampfhaft versuchen, ein Leistungsschutzrecht fürPresseverlage zu entwerfen. Sie schützen lieber alte Ge-schäftsmodelle, als Innovationen zu fördern.
Wohin die Ausgrenzung der Zivilgesellschaft führt, ha-ben wir gerade erst erlebt. Tausende Menschen habenauf den Straßen gegen Ihre ACTA-Geheimpolitik protes-tiert; das finde ich sehr spannend. Demzufolge könnenSie sich nicht weiter abschotten.Lassen Sie mich noch auf die im vorliegenden Antragebenfalls angesprochene Innovations-, Forschungs- undTechnologieförderung in den Bereichen Internet unddigitale Wirtschaft eingehen. Theseus ist nicht nur einantiker Held, sondern auch der Name des im Februar ab-geschlossenen Mammutprojekts des Forschungsministe-riums. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie es bisher lief.Es entstand damals aus dem verzweifelten Versuch,Google mit einer europäischen Suchmaschine zu begeg-nen und Konkurrenz zu machen. Dieses Ziel hat mandann sehr schnell aufgegeben.Übrig blieb nun der Plan, das große und spannendeForschungsgebiet der semantischen Suche weiter auszu-bauen. Das musste nun aber irgendwie politisch verkauftwerden; also sprach man, wie auch Sie heute Morgen,vom Internet der Dinge, vom Internet der Dienste. GroßeWorte! Bei der Abschlusspräsentation zeigte sich aber,dass THESEUS in der Eigenvermarktung nunmehr nurnoch ein Projekt ist, das Dienstleistungen für den deut-schen Mittelstand und die produzierende Industrie zurVerfügung stellen kann. Da war, wie gesagt, der antikeHeld Theseus deutlich erfolgreicher. Er hat nämlich ge-meinsam mit der klugen Ariadne die Athener von derTributlast des kretischen Königs Minos befreit.
Ich muss aber zur Ehrenrettung vieler beteiligter For-scherinnen und Forscher, aber auch der Unternehmen sa-gen, dass dabei durchaus mehr als die beworbene Rolledes kleinen Helferleins herauskam.Ihre PR-Strategie zeigt aber noch etwas: Sie zeigtnämlich auch, wie Sie Innovation wirklich verstehen.Schauen wir noch einmal zurück: Am Anfang stand dieAbwehr der Suchmaschine Google; am Ende haben Sienur noch ein Projekt, das lediglich als Unterstützungdessen dient, was schon immer gut lief. Und so liest sicheben auch ein Großteil Ihres Antrags. In Ihrer Welt istdas Internet sozusagen der Logistikkanal der klassischenWirtschaft, der darüber hinaus den Telekommunika-tionskonzernen Geld in die Kassen spült.
Erst an vorletzter Stelle – das ist die vorletzte Forde-rung in Ihrem Antrag – kommen Start-ups und junge Un-ternehmen als eine Ihrer Zielgruppen ins Spiel. Im Übri-gen: Einzelne Bürgerinnen und Bürger fehlen in IhremAntrag ganz; auf dieses Potenzial wird nicht eingegan-gen.
– Es gibt noch mehr als Start-up-Unternehmer. Das wis-sen Sie genauso gut wie ich. Darüber haben wir langegenug in der Internet-Enquete gesprochen.
Doch gerade diese einzelnen Menschen – lassen Siemich das noch einmal betonen – stellen ein besonderesPotenzial dar; dieses Potenzial sollte man auch bei derDigitalisierung berücksichtigen. Diese nutzen nämlichdas Netz als gemeinsamen Ideenpool, der offen und cha-otisch – das mag oft so sein –, aber auch ungeheuerschnell und flexibel ist. Dabei entstehen wunderbareInnovationen.
Ich erinnere beispielsweise an wheelmap.org, den roll-stuhlgerechten Stadtplan des Vereins Sozialhelden; icherinnere an eine weltweite Onlinecommunity, die ge-meinsam hängende Gemüsegärten für die Fenster vonGroßstadtwohnungen entwickelt hat und derzeit sozu-sagen über die ganze Welt verstreut miteinander kom-muniziert. Oft folgen aus solchen in offenen Prozessenentstandenen Innovationen dann eben auch Produktent-wicklungen, die wiederum die Wirtschaft stärken.
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20488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Dr. Petra Sitte
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Würden Sie Innovation als offenen und gesamtgesell-schaftlichen Prozess denken, käme das auch der digita-len Wirtschaft zugute, wahrscheinlich auch einer digita-len Wirtschaft, unter der nicht nur die üblichen Konzerneverstanden werden. Aber dafür – das will ich abschlie-ßend sagen – müssten Sie Menschen statt Fabriken Vor-fahrt in Ihrer Politik einräumen.Danke schön.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Tabea Rößner.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Indem vorliegenden Antrag bezeichnen Sie, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der Koalition, Innovationenund moderne Technologien als „Motor für Wachstumund Beschäftigung“. Und es stimmt: Wir haben hier ei-nen wichtigen Wirtschaftsfaktor, in dem noch sehr vielPotenzial steckt. Aber dieser Motor kommt nicht sorecht zum Schnurren. Woran liegt das? Ich kann es Ihnensagen: Ihnen fehlt der Mut, jetzt die richtigen Weichenzu stellen.
Hierzu gibt es – der Kollege Klingbeil hat darauf verwie-sen – ungeheuer viele Vorschläge. In der Internet-En-quete haben wir schon vieles erarbeitet; an anderem ar-beiten wir noch. Nichts davon findet sich jedoch indiesem Antrag wieder. Das ist sehr bedauerlich.Viele Menschen haben mit dieser Branche insgesamtnoch ihre Schwierigkeiten; sie fremdeln. Das stellen wirauch in der Internet-Enquete fest. Wenn die Unterneh-mer von morgen richtig Gas geben wollen, treten gleich-zeitig Banken und Bürokratie auf die Bremse. Auch vonder Politik kommt viel zu wenig Anschub.
Eine Bremse sehe ich in dem, was Sie in Ihrem An-trag recht lapidar „allgemeine“ und „IKT-spezifischeRahmenbedingungen“ nennen. Ich möchte das gernekonkretisieren. Eine, wenn nicht die wichtigste Rahmen-bedingung ist das Investitionsklima in Deutschland. Imvergangenen Jahr haben wir zu diesem Thema eine An-hörung im Unterausschuss Neue Medien durchgeführt;Lars Klingbeil und Petra Sitte waren auch dabei. Dabeiwurde sehr deutlich: Eine Wachstumsbremse für weiteTeile der Branche ist die latente Unterfinanzierung; dasist ein Problem. Vor allem kleine Unternehmen mit einerinnovativen Idee, aber ohne ein bewährtes Geschäftsmo-dell – das ist ja das Problem – leiden unter einem er-schwerten Kapitalzugang. Eine Verbesserung der Finan-zierungssituation könnte der Kreativwirtschaft hier denWeg hin zu mehr Wachstum ebnen.
Innovationsstärke, Kreativität und vor allen Dingenungewöhnliche Ideen sind in den Augen vieler Investo-ren oft die Schwäche eines Unternehmens. Erfolg oderMisserfolg lassen sich hier eben nicht so leicht berech-nen wie der Erfolg eines Konzeptes einer Bäckerei in derInnenstadt. Hier brauchen wir mehr Mut zum Risiko undschnellere Entscheidungswege.Damit bin ich beim nächsten Problem. Es gibt mehrals genug öffentliche Förderprogramme; das wurde auchin der Anhörung deutlich. Nur, diese sind nicht auf dieBedürfnisse dieser Branche zugeschnitten. Anders alsbei großen Wirtschaftszweigen dominieren in der Krea-tivwirtschaft nämlich Kleinstbetriebe mit unter zehn Be-schäftigten. Sie brauchen oft viel geringere Kreditvolu-mina. Aber bei Beträgen von unter 30 000 Euro ist dasfür die Banken kein interessantes Geschäft. Auch die öf-fentlichen Förderprogramme berücksichtigen das nicht.Genau hier müssen wir ansetzen. Außerdem brauchenwir längere Rückzahlungsfristen, da sich ein finanziellerErfolg meist erst später einstellt. Wir haben eben von derKultur des Scheiterns gesprochen: Manchmal ist manerst beim zweiten oder dritten oder sogar vierten Versucherfolgreich.
Die Politik muss die Förderprogramme deutlich ein-facher gestalten, übrigens nicht nur für die IKT-Branche.Die Beantragung ist zu komplex und dauert oft vieleMonate – Monate, die in dieser Branche oft das Aus fürsolche kleinen Unternehmen oder Start-ups bedeutenkönnen. Wenn wir also mit den USA oder mit Ländernwie Frankreich konkurrenzfähig werden wollen, dannmüssen wir auch die Bürokratie konkurrenzfähig ma-chen.
– Naja. Davon ist in dem Antrag nicht viel zu lesen. –Flexibel, passgenau und offen für Neues, so muss unsereInvestitionspolitik aussehen. Das wäre schon einmal derrichtige Antrieb für unseren Motor.
Dass dieser Motor umweltfreundlich betrieben wer-den sollte, ist dabei selbstverständlich; Green IT ist dadas Stichwort. Es stünde Deutschland wirklich gut zuGesicht, wenn wir hier unsere Anstrengungen noch ver-stärkten. Denn wenn das T in IKT grün wird, sparen wirRessourcen und damit Geld und machen diese Technolo-gie selbst zum Exportschlager für Deutschland.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20489
Tabea Rößner
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Zum Schluss noch eine Anmerkung zur Infrastruktur.Es wurde viel zum Ausbau der Breitbandanschlüsse ge-sagt. Sie haben recht: Breitbandanschlüsse sind zwin-gende Voraussetzung für die digitale Wirtschaft. Aufdiesem Gebiet gibt es erheblichen Nachholbedarf; auchdas haben wir schon gehört. Ich zitiere:Wenn man es bei der Stromanbindung auch so ge-macht hätte, wie wir es im Moment mit der Internet-anbindung machen, dann wären noch immer tau-sende Höfe im Schwarzwald nicht am Strom …Wissen Sie, wer das gesagt hat? Der Fraktionsvorsit-zende Volker Kauder auf dem Kongress der Unionsfrak-tion vor einigen Tagen. Er hat völlig recht: So wie bishergeht es nämlich nicht weiter.
Deshalb brauchen wir, wie bei der Stromversorgung, ei-nen Universaldienst für ein flächendeckendes Breitband-netz. Sie peilen da zwar hohe Bandbreiten an, aber fürdas Jahr 2014 nur für 75 Prozent der Haushalte. Ich findees geradezu niedlich, wenn Sie in Ihrem Antrag schrei-ben, der Breitbandausbau solle bedarfsgerecht und imRahmen der rechtlichen und haushalterischen Möglich-keiten gestaltet werden. Das ist doch ein Widerspruch insich.
Frau Kollegin Rößner, möchten Sie noch eine Zwi-
schenfrage zulassen? Falls nicht, müssten Sie zum Ende
kommen.
Ich komme gerade zum Ende. Aber Herr Höferlin soll
seine Zwischenfrage stellen. Bitte.
Also, Herr Höferlin, bitte schön.
Liebe Frau Kollegin Rößner, würden Sie mir zustim-
men, dass es etwas anderes ist, ob man Strom oder Da-
tenpakete transportiert, vor allen Dingen hinsichtlich der
Transportmedien? Strom lässt sich bisher noch nicht
durch die Luft transportieren. Der Unterschied zur Breit-
bandstrategie ist doch wesentlich. Man sagt: Wir
schmeißen da einfach Geld rein, und dann wird schon je-
der eine Breitbandanbindung von 2 oder 3 MBit/s haben.
Man finanziert das staatlich und schneidet damit die
Innovation ab, dass sich vielleicht neue Techniken ent-
wickeln könnten, wie Daten auch auf eine andere Art
und Weise zum Endkunden kommen können.
Beim Strom ist das technologisch gesehen doch sicher
eine völlig andere Sache. Da stimmen Sie mir wahr-
scheinlich zu. Wie gewährleisten Sie, dass sich in Zu-
kunft neue Technologien – zum Beispiel die nächste Ge-
neration von LTE mit breiteren Anbindungen –
entwickeln können, wenn man Technologien staatlich
fördert?
Herr Höferlin, ich glaube, Sie haben unseren Antrag
nicht richtig gelesen.
In unserem Antrag wird der Universaldienst richtig
durchbuchstabiert. Es geht nämlich darum, dass jeder
Mensch genauso, wie er einen Anspruch auf einen Strom-
anschluss oder einen Wasseranschluss hat, auch einen
Anspruch auf einen Breitbandanschluss haben soll;
denn der Zugang ist wichtig für die digitale Wirtschaft,
und zwar vor allen Dingen im ländlichen Raum. Deshalb
ist es egal, wie die Übertragungen sind. In unserem An-
trag steht, dass sie technologieneutral sein sollen. Das
muss auch so sein. Das gibt die EU-Richtlinie vor. Es
würde auch nicht etwa viele Fördergelder des Staates be-
deuten, weil die Unternehmen das über eine Umlage fi-
nanzieren. Damit sind nicht nur 1 bis 2 MBit/s zu errei-
chen, wie Sie das immer – –
– Nein. 6 MBit/s auf jeden Fall. Eine Übertragungsge-
schwindigkeit von 6 MBit/s könnte ganz schnell erreicht
werden. Den Ausbau der Übertragungswege auf
50 MBit/s für 75 Prozent der Haushalte betrifft vor allen
Dingen die Städte. Dabei werden die ländlichen Regio-
nen völlig abgehängt. Deshalb ist das nicht der richtige
Weg.
Jetzt müssen Sie aber zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Meine Damen und Herren, in der digitalen Wirtschaft
steckt viel Potenzial. Es fehlt Ihnen aber an Mut und an
Kreativität, um wirklich etwas für die Branche zu ver-
bessern. Auf der Überholspur sind wir noch lange nicht.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der KollegeDieter Jasper das Wort.
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20490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sindvielleicht nicht auf der Überholspur, wir sind aber aufdem richtigen Weg. Auf diesem Weg wollen wir weitervorangehen.
Die digitale Wirtschaft ist kein Zukunftsthema, son-dern ein Thema der Gegenwart. Die digitale Wirtschaftist ein Begriff, der hohe Erwartungen weckt, der aberauch diffus und unbestimmt ist,
ein Feld, auf dem noch viele Fragen offen und genausoviele Entscheidungen zu treffen sind.In jedem Fall ist die digitale Wirtschaft ein zentralerWachstums- und Innovationsmotor. Völlig neue Kom-munikationsformen sind entstanden. Es ist eine struktu-relle Änderung von Entscheidungsprozessen in Wirt-schaft, Politik und Gesellschaft zu beobachten. Esentwickeln sich völlig neue Produkte, Geschäftsfelderund Berufszweige.Durch das Internet und seine verschiedenen Plattfor-men verschiebt sich die Marktmacht immer mehr vomAnbieter zum Nachfrager bzw. zum Verbraucher. Trei-bende Kraft und Motor dieser Entwicklung ist die expo-nentielle Steigerung der Zahl der Internetnutzer. Es dau-ert nur noch wenige Jahre, dann wird bereits die Hälfteder Weltbevölkerung online sein. Die Social Networkserfahren immer größeren Zuspruch. Die zunehmendePopularität mobiler Geräte forciert zusätzlich die rasanteEntwicklung des Internets.Wenn wir heute über die digitale Wirtschaft reden,dann versteht man darunter zunächst Netzpolitik mit denzentralen Themen Urheberrecht, Datenschutz und Netz-neutralität. Immer mehr wird die digitale Wirtschaft aberauch zu einem Themenfeld der Wirtschaftspolitik. Die-ses neue Medium wird zunehmend als weiterer Produk-tionsfaktor anerkannt.Ziel der Wirtschaftspolitik muss es sein, Innovations-freude und Technologieoffenheit zu fördern. Chancenmüssen erkannt und Risiken begrenzt werden.In welchen Bereichen liegen denn nun die Potenzialeder digitalen Wirtschaft? Wir finden sie in den BereichenInnovation, Wachstum und Beschäftigung. Wir findensie erstens im Bereich der Informations- und Kommuni-kationstechnologie selbst, zweitens in den klassischenBranchen – hier vor allen Dingen durch innovative An-wendungen, Produktivitätssteigerungen und neue Ge-schäftsmodelle – sowie drittens in der Bereitstellung undim Ausbau zukunftsfähiger und sicherer Netze und In-frastrukturen.Gerade der dritte Punkt liegt mir besonders am Her-zen. Ich vertrete als Abgeordneter den Kreis Steinfurt imMünsterland. Mein Wahlkreis ist ländlich strukturiertund geprägt durch eine hohe Anzahl von kleinen undmittelständischen Unternehmen. Schnelle Internetver-bindungen und eine hochwertige Breitbandstruktur sindunverzichtbar für hohe Lebensqualität und für die wirt-schaftliche Prosperität in den Städten, aber auch auf demLand.
Dies bedeutet im Umkehrschluss: Der fehlende Zugangzu dieser essenziellen Infrastruktur schließt Menschenund Unternehmen von wesentlichen gesellschaftlichenAktivitäten und Entwicklungsmöglichkeiten aus.Eine moderne Breitbandstruktur ist Voraussetzung fürAnwendungen wie Internetfernsehen, telemedizinischeAnwendungen, digitalisierte Heimarbeitsplätze usw. Un-erlässlich hierfür ist eine flächendeckende Anbindungbesonders für Unternehmen und Freiberufler,
aber auch für die Familien.Wir haben vor einigen Tagen hier im Bundestag da-rüber diskutiert, wie der Anteil von Frauen in der Wirt-schaft vergrößert werden kann.
Auch und gerade hier bietet das Internet erheblicheMöglichkeiten, die Vereinbarkeit von Familie und Berufzu verbessern, und zwar sowohl für Frauen als auch fürMänner.
Die digitale Wirtschaft schafft völlig neue Produkteund Tätigkeitsfelder. Aber es findet auch eine zuneh-mende Auflösung der traditionellen Aufbau- und Ab-laufstrukturen statt. Bisher bestehende Hemmnisse kön-nen abgebaut und neue Wege gegangen werden. Esentstehen völlig neue Führungs- und Bearbeitungswege.Dies ist meines Erachtens eine riesige Chance für einefamilienfreundlichere Arbeits- und Berufswelt.Technologische Innovationen ziehen somit gesell-schaftliche und ökonomische Änderungen nach sich.Das kann aber nur dann funktionieren, wenn allen Bür-gerinnen und Bürgern der Zugang zu den Datenautobah-nen der Zukunft möglich ist. Breitbandanschlüsse mithochrangigen Datentransferraten gehören genauso wieStrom-, Wasser- und Abwasserleitungen zu einem un-verzichtbaren Bestandteil der infrastrukturellen Daseins-vorsorge.
Sie sind ein entscheidender Wettbewerbsfaktor beiStandortfragen.Die Breitbandstrategie der Bundesregierung hat inden letzten Jahren signifikante Ausbauerfolge vorweisenkönnen. Eine fast flächendeckende Versorgung mit An-schlüssen von 1 MBit/s ist erreicht worden. Dieserschöne Erfolg kann jedoch nur ein erster Schritt sein undsollte uns ermutigen, auch den zweiten Schritt konse-quent zu gehen.Die Situation in den ländlich geprägten Kommunenist noch nicht zufriedenstellend. Zahlreiche Kommunenhaben zwar praktikable und wirtschaftliche Lösungen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20491
Dieter Jasper
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vor Ort entwickelt; es ist aber unsere Aufgabe, diese Lö-sungen auf Bundesebene zu fördern und zu unterstützen.Es gilt, Verantwortung zu übernehmen, besonders in denBereichen der Daseinsvorsorge und der Gleichheit vonLebensqualität.Die Anstrengungen der Bundesregierung, auch diebisher nicht ausreichend versorgten Gebiete zu erschlie-ßen, werden von mir ausdrücklich begrüßt. Grundsätz-lich spreche ich mich für einen technologie- und wettbe-werbsoffenen Ansatz aus, der auch Funklösungenbeinhaltet. Doch nach heutigem Wissensstand stellendiese Satelliten- und Mobilfunktechniken nur Über-gangslösungen dar. Es müssen schwankungsfreie Daten-übermittlungen mit hohen Übertragungsraten für jedenEndnutzer gewährleistet sein. Langfristig werden wohlnur leitungsgebundene Anschlüsse zu zufriedenstellen-den Ergebnissen führen.Deutschland ist in vielen Bereichen Weltmarktführer,aber leider nicht im Bereich der IT. Hier haben wir er-heblichen Nachholbedarf. Aufgabe der Politik ist es, ver-lässliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Dies gilt ins-besondere im Bereich der Vorratsdatenerfassung, woendlich eine Lösung gefunden werden muss.Aber auch der Datenschutz ist ein zentrales Thema.Deutsche Unternehmen, die sich im internationalenWettbewerb befinden, sehen sich hier 17 Datenschutz-behörden – 16 auf Länderebene und auf Bundesebene –gegenüber und fühlen sich durch unterschiedliche Geset-zesauslegungen immer wieder ausgebremst. Ich bekennemich ausdrücklich zu unserer föderalen Struktur inDeutschland. Aber die Anforderungen des Datenschut-zes müssen dringend koordiniert werden.Auch die mangelnde Investitionskultur in Deutsch-land ist ein Problem. Junge Start-ups haben es häufigschwer, ihre Ideen umzusetzen, da die notwendigen fi-nanziellen Mittel fehlen. Dafür sind unbürokratischestaatliche Hilfestellungen sinnvoll und notwendig. Hiersind die Stichworte KfW und staatliche Forschungsför-derung zu nennen.
Die Wachstumspotenziale der digitalen Wirtschaftsind gewaltig. Unsere Aufgabe als Bundespolitiker istes, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit diese Poten-ziale in Deutschland schnell und effizient gehoben undausgeschöpft werden können. Die unionsgeführte Koali-tion hat hier schon einiges erreicht. Der vorliegende An-trag unterstreicht unseren Willen, den eingeschlagenenWeg weiterzugehen und den Innovationsstandort Deutsch-land weiter zu stärken.Herzlichen Dank und Glückauf.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! DasThema digitale Wirtschaft ist kein Zukunftsthema. Es istein Gegenwartsthema, bei dem über die Zukunft unsererWirtschaft und unserer Gesellschaft entschieden wird.Auch wenn der Kollege Lämmel recht hat, dass eshier um mehr geht als nur die Frage des Breitbandan-schlusses, möchte ich mich auf die Debatte einlassen, diehier geführt wurde, und möchte vorrangig über diesesThema reden, mich auch auf das beziehen, was wir inder TKG-Novelle festgelegt haben, was uns aus meinerSicht ein ganzes Stück voranbringen wird.Glauben Sie mir, mir tut es schon leid, dass wir dieseNovelle erst jetzt in Kraft setzen können, weil die Län-der das verzögert haben. Sie haben im Übrigen nichtüber die Sache verhandelt, sondern über den schnödenMammon. Bei dem, was der Bundesrat beraten hat, ginges am Ende nur um das Geld für die Rundfunkanstaltenund nicht um Inhalte. Das ärgert mich; das sage ich ganzoffen.
– Es ist keine parteipolitische Kritik, Kollege Heil, son-dern ganz einfach der Hinweis darauf, dass es nicht seinkann, dass der Bundesrat Dinge, die gut sind, die auch erexplizit für gut hält, verzögert, weil er meint, mankönnte an der Stelle noch ein paar Euro herausschlagen.
Ich möchte noch einmal deutlich machen, was uns dieTKG-Novelle letztendlich sehr konkret bringen wird.Wir haben den abstrakten Begriff der investitionsorien-tierten Regulierung das erste Mal in einem Gesetz klardefiniert, haben damit Planungssicherheit für beteiligteUnternehmen, die der Regulierung unterworfen sind, ge-schaffen und Risikoteilung verordnet. Wir haben auchklargemacht, dass das oberste Regulierungsprinzip inZukunft nicht ein preisbezogener Verbraucherschutz seinkann, sondern ein Investitionsanreiz sein muss.
Ich hoffe, dass auch die Regulierungsbehörde das alsHinweis darauf versteht, dass sich in diesem Bereich re-gulatorisch außerhalb des Gesetzes noch einiges tunmuss.Wir haben einen Beitrag dazu geleistet, dass wir auchdie ländlichen Räume kostengünstiger erschließen kön-nen. Wir erreichen das dadurch, dass wir das Microtren-ching ins Gesetz geschrieben haben. So besteht dieMöglichkeit, ohne riesigen baulichen Aufwand Kabelbeispielsweise in Bürgersteigen zu verlegen, indem mannur einen Schlitz schneidet und das Kabel hineinlegt. Sieglauben gar nicht, mit wie vielen Widerständen aus der
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Dr. Georg Nüßlein
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Baubranche, aber auch aus dem Ministerium man letzt-endlich kämpft, wenn man so etwas Vereinfachendes inein Gesetz schreiben will! Trotzdem ist es uns gelungen.Wir haben den Zugang zu breitbandrelevanter Infra-struktur geregelt und festgelegt, dass insbesondere dieöffentliche Hand die bei ihr bereits vorhandene Infra-struktur zur Verfügung stellen muss. Auch da gab es eineganze Reihe von Bedenkenträgern. Ich möchte michausdrücklich bei Bundesminister Peter Ramsauer alsdem zuständigen Minister dafür bedanken, dass er amSchluss ein Machtwort gesprochen und gesagt hat: Na-türlich muss als Erstes der Bund seine Infrastruktur zurVerfügung stellen, um auch die Länder verpflichten zukönnen und um über ein Schiedsverfahren auch Privatean den Tisch holen und mit ihnen verhandeln zu können.Infrastruktur wollen wir ja nicht doppelt aufbauen, son-dern volkswirtschaftlich sinnvoll. Auch das wird aufdiese Art und Weise kostengünstiger gelingen.Ich will jetzt gar nichts zu den zahlreichen Regelun-gen zum Wegerecht sagen, die jetzt im TKG stehen.Auch hier haben wir wieder einen Schritt nach vorn ge-macht. Ich würde mir wünschen, dass ein solches Gesetzdann auch in entsprechender Weise gewürdigt wird.Natürlich ist das noch nicht alles. Ich spreche hier nie-manden an, aber jeder muss sich überlegen, ob er sichangesprochen fühlt. Ein guter Marktwirtschaftler mussabschätzen, was der Markt kann, muss aber ganz ge-nauso auch wissen, was der Markt nicht kann. Bei derErschließung der ländlichen Räume werden wir amSchluss nicht vollumfänglich auf den Markt setzen kön-nen, weil der Markt natürlich nur die Dinge im Wettbe-werb realisieren kann, die am Schluss dann auch renta-bel sind, bei denen Renditen entstehen. Das wird beidem einen oder anderen Dorf, gerade bei mir in Bayern,letztendlich nicht der Fall sein. Deshalb ist mir ganz klar,dass wir andere Möglichkeiten brauchen, um solche Orteanzuschließen; denn es steht sogar in Art. 87 f unseresGrundgesetzes, dass wir eine flächendeckende Erschlie-ßung gewährleisten müssen. Im Übrigen steht da auch,dass eigentlich der Bund für diese flächendeckende Er-schließung zuständig ist. Diese Dinge sind also sehr prä-zise geregelt.
Wie geht es nun weiter? Die mit LTE verbundenenMöglichkeiten entspannen die ganze Situation natürlich.Dass wir in der Lage sind, den ländlichen Raum überFunk mit relativ hoher Frequenzbreite einzubinden, ent-spannt die Situation, aber meiner festen Überzeugungnach nur zeitlich begrenzt. Denn am Ende des Tageswerden wir beides nutzen: die Funktechnologie und denGlasfaseranschluss. Und es kann nicht sein, dass dieländlichen Räume nach einer gewissen Zeit wieder abge-hängt werden, wenn in den Städten höhere Frequenzenund auch die entsprechenden Anwendungen vorhandensind. In der Tat stimmt es nämlich, dass momentan dieAnwendungen für hohe Frequenzen noch nicht in einemsolchen Ausmaß vorhanden sind. Aber das wird kom-men.Ich erinnere mich noch immer lächelnd an den Irrtummeines EDV-Professors, der vor über 20 Jahren gesagthat, dass es an seiner Universität jetzt einen 1-Megabyte-Rechner gibt, dass das das Beste ist, was man habenkann, und man damit in dem Bereich alles machen kann,was man machen will. – Was er gesagt hat, war inner-halb von einem halben Jahr Geschichte. So wird es unsauch bei den Frequenzen und bei der Inanspruchnahmevon Frequenzen gehen.Wir müssen wissen, Herr Minister Rösler: Der Auf-bau von Infrastruktur im Wettbewerb ist schwierig. Aberer ist doppelt schwierig, wenn sich diese Infrastrukturauch noch dynamisch entwickelt. Deshalb sage ich fürdie CSU, dass wir natürlich eine hohe Sympathie für dieÜberlegung hegen, die verbleibende Lücke am Schlussmit einem Universaldienst zu schließen.
Wir müssen jetzt – und wir sind gut dabei, auch die Bun-desregierung – alles dafür tun, damit diese Lücke soklein wie möglich bleibt, und dann durch staatliches Ein-greifen gleiche Verhältnisse bei der Breitbandversorgungin Stadt und Land sicherstellen. Ich bin der Meinung, dasmuss und wird uns gelingen. Das sind wir gerade unse-ren ländlichen Räumen schuldig.
Darüber hinaus ist alles richtig, was zum Thema Inno-vationsförderung gesagt wurde, insbesondere das, wasMinister Rösler zum Thema Venture Capital gesagt hat.Es kann nicht sein, dass es für Management Fees inWagniskapitalfonds Nachteile bei der Umsatzbesteue-rung gibt. Es kann auch nicht sein, dass Steuernachteilein anderen Bereichen aufrechterhalten werden. Wir brau-chen Anreize für Business Angels in Form von Steuerer-leichterungen; hier müssen wir tätig werden. Deutsch-land kann sich nämlich in der Tat in einem Bereich mitden USA vergleichen, und zwar in der Innovations-dichte. Bei der Anzahl der Patente pro 1 Million Ein-wohner ist Deutschland so gut wie die USA.
– Das ist hervorragend, insofern ist der Applaus der Kol-legin absolut angebracht.Wir sind aber schlecht bei der Umsetzung; wir sindschlecht darin, die Patente ökonomisch zu nutzen. Dabeigeht es dann um Venture Capital und darum, Wege zugehen, um solche Innovationen unternehmerisch umzu-setzen. Darauf sollten wir unser Augenmerk richten. Wirsollten alles dafür tun, um Innovationen zu fördern, aberam Schluss auch den Breitbandzugang für alle zu garan-tieren.Vielen herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20493
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9159
mit dem Titel „Wachstumspotenziale der Digitalen Wirt-
schaft weiter ausschöpfen – Innovationsstandort
Deutschland stärken“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich?
– Ich bin der Meinung, die Mehrheit war dafür, aber wir
sind hier unterschiedlicher Meinung.
– Wenn eine Fraktion die Beschlussfähigkeit feststellen
lassen will, müssen wir einen Hammelsprung vorneh-
men.
– Es ist so und nicht zu ändern. So sieht es die Ge-
schäftsordnung vor. Das macht nicht viel Freude, Sie
müssen es aber selbst verantworten.
Ich bitte Sie, den Plenarsaal zu verlassen. Dann
schließen wir die Türen, und Sie klingeln und trommeln,
damit die Kollegen kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie noch
einmal, den Saal zu verlassen und die Türen zu schlie-
ßen, damit wir mit der Auszählung beginnen und diese
so zügig wie möglich durchführen können.
Wir beginnen mit der Abstimmung.
Darf ich um ein Signal von den Schriftführern bitten? –
Ja, dann schließen wir die Türen. – Kann mir einer der
Schriftführer bitte das Ergebnis mitteilen? – Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, ich bitte darum, Platz zu neh-
men. Ich möchte Ihnen das Ergebnis der Zählung be-
kannt geben. – Es haben insgesamt 334 Kolleginnen und
Kollegen an der Abstimmung teilgenommen.
Das heißt, die Sitzung geht jetzt weiter. Es haben
198 Abgeordnete mit Ja gestimmt und 136 Abgeordnete
mit Nein. Damit ist der Antrag angenommen.
Ich warte einen Moment, damit diejenigen, die an
dem nun folgenden Tagesordnungspunkt nicht mitwir-
ken wollen, den Saal verlassen können, und übergebe an
den Kollegen Oswald.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sind alle wieder inder Lage, einen neuen Tagesordnungspunkt zu behan-deln? – Das scheint der Fall zu sein. Wir machen weiter.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a bis c auf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Volker Beck , KaiGehring, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEU-Datenschutzreform unterstützen– Drucksache 17/9166 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Volker Beck ,Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVöllige Unabhängigkeit für den Bundesdaten-schutzbeauftragten– Drucksache 17/6345 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medienc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zu demAntrag der Abgeordneten Dr. Konstantin vonNotz, Nicole Maisch, Tabea Rößner, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENGrundrechte schützen – Datenschutz und Ver-braucherschutz in sozialen Netzwerken stär-ken– Drucksachen 17/8161, 17/9198 –Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer
Gerold ReichenbachGisela PiltzJan KorteDr. Konstantin von NotzNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Siesind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne somit die Aussprache. Erster Redner inunserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen unser Kollege Dr. Konstantin von Notz. Bitte schön,Kollege Dr. Konstantin von Notz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Nachdem wir vor knapp einem Jahr einen eigenen Ge-
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setzentwurf zum Beschäftigtendatenschutz eingebrachthaben, diskutieren wir heute Morgen über drei weitereAnträge der Grünen zu dem wichtigen Thema Daten-schutz: erstens einen Antrag zur Unabhängigkeit desBundesdatenschutzbeauftragten, zweitens unseren An-trag zum Datenschutz in sozialen Netzwerken in zweiterund dritter Lesung und drittens einen Antrag zur anste-henden Reform des Datenschutzes auf EU-Ebene.Mit unseren Anträgen betreten wir thematischschwarz-gelbes Brachland.
Die vollmundigen Versprechen aus dem Koalitionsver-trag – ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, die StiftungDatenschutz, Reformen im Bundesdatenschutzgesetz –sind bisher allesamt Rohrkrepierer. Wir haben die De-batte auf die heutige Tagesordnung gesetzt, um die Bun-desregierung und speziell das Bundesinnenministeriumendlich dazu zu bringen, sich konstruktiv an dieser Dis-kussion zu beteiligen.Die EU-Datenschutzverordnung ist das zentrale Da-tenschutzreformprojekt der nächsten Jahre. Hier wirdsich entscheiden, ob es der Politik gelingt, einen zeitge-mäßen Grundrechtsschutz vor dem Hintergrund von In-ternet und Digitalisierung umzusetzen oder ob diesesProjekt scheitert mit unabsehbaren Folgen für die Rechteder Bürgerinnen und Bürger. Von vielen Seiten wird jetztversucht, den nicht perfekten, aber guten ersten Auf-schlag der Kommission zu zerpflücken: einerseits vonKonzernen und Wirtschaftsverbänden, die versuchen,ihre lukrativen Geschäftsmodelle durch automatisierteVerhaltensauswertung und Datenhandel profitabel zuhalten, andererseits auch von verschiedenen Bundeslän-dern, die derzeit aus Sorge um Kompetenzverlust leidergegen die dringend notwendige Reform mobil machen.Hierzu gesellt sich die Bundesregierung. MinisterFriedrich – er ist leider heute nicht da – hat sich ent-schieden, an diesem wichtigen Projekt nicht konstruktivmitzuwirken, sondern es zu hintertreiben.
Der Minister sagt, dass unser Datenschutzrecht nicht eu-ropäischem Recht unterstellt werden dürfe. Er sagt etwasvolkstümlich – ich zitiere –: „An Bewährtem und Gutemaus deutschen Landen wollen wir festhalten“, ganz so,als lebten wir nicht in einem gemeinsamen Europa, alsgebe es kein grenzüberschreitendes Netz. Ich frage Sie:Was hilft es den Menschen, wenn das gute Datenschutz-niveau in Deutschland endet, sobald Sie in Spanien imUrlaub sind,
wenn die Server des Anbieters, den Sie nutzen, ganz wo-anders stehen oder wenn Sicherheitsbehörden oder Un-ternehmen Daten einfach in andere Länder weiterleiten?Immer wieder suchen große Player nach dem Standortmit den schwächsten Datenschutzvorgaben, das soge-nannte Forum Shopping. Gleichzeitig stehen wir vor denHerausforderungen des Cloud Computing. Es ist deshalbüberfällig, die Anwendungsregelungen nach dem Markt-ortprinzip festzuschreiben. Weil diese Bundesregierungdas Marktortprinzip immer noch nicht im Bundesdaten-schutzgesetz festgeschrieben hat, brauchen wir die euro-päische Datenschutzreform. Wir brauchen hohe, gemein-same, europäische Standards.
Es stimmt: Es gibt in Deutschland in Teilen ein gutesund im Vergleich zu anderen Ländern ein hohes Daten-schutzniveau. Die zuständige EU-Kommissarin Redingerklärte vor einigen Tagen, deutsches Datenschutzrechtsei Richtschnur und Messlatte für die anstehende Re-form auf europäischer Ebene. In einer Zeit, in der mo-derner Datenschutz zur Schlüsselfrage in der digitalenWelt geworden ist, in einer Zeit, in der moderner Daten-schutz ein Standortvorteil ist, darf unser Land nicht vomInnovationsmotor zum Bremsklotz dieser Entwicklungwerden.
Sonst drohen ein Ausverkauf der Grundrechte und eindiskriminierendes Kastensystem, das auf Verhaltenspro-filen und automatisierten Bewertungen aufbaut: Werträgt das Stigma der Kreditunwürdigkeit? Wer bekommtüberhaupt noch einen Vertrag? Wer verendet in der War-teschleife des Callcenters? Wer erhält den Arbeitsplatznach welchen Kriterien? – Solche Fragen berühren dieMenschen ganz konkret. Wenn komplexe Algorithmenüber soziale Teilhabechancen von Menschen entschei-den, dann laufen die Grundrechte einfach leer.Eine ganz zentrale Grundlage der Freiheit ist die indi-viduelle Wahlmöglichkeit, die Entscheidung, was mitden eigenen Daten geschieht. Mit diesem Grundsatz istdie gegenwärtige Praxis vieler Unternehmen einfachnicht zu vereinbaren.Es ist doch nicht zu fassen, dass bald 30 MillionenNutzerinnen und Nutzer allein in Deutschland sozialeNetzwerke als zentrale Informations- und Kommunika-tionsplattform nutzen, aber diese Bundesregierung nochimmer nicht willens und nicht in der Lage ist, hier für ei-nen adäquaten Grundrechtsschutz der Bürgerinnen undBürger zu sorgen.
Ich komme auch nicht darum herum, das Verhaltender Bundesverbraucherschutzministerin zu erwähnen.Frau Aigner ist nach – zugegebenermaßen – unerquickli-chen Gesprächen mit Facebook persönlich dort ausgetre-ten. Seither ist nichts geschehen. Das ist doch unfassbar.Die Ministerin erkennt Probleme und Gefahren und ziehtzwar für sich persönlich Konsequenzen, lässt aber25 Millionen Menschen bei Facebook in diesem Land
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mit der Gefahr und den Problemen alleine. Das wäre un-gefähr so, als hätten wir einen Gammelfleischskandalund Frau Aigner erklärte: Alles kein Problem, die Bun-desregierung muss nichts machen. Ich selbst habe michentschieden, keine Bratwurst mehr zu essen. – So kannman keine Politik machen, meine Damen und Herren!
Auch Bundesinnenminister Friedrich hat sich im letz-ten Jahr mit Vertretern von Facebook getroffen; mantrifft sich öfter. Mit dem Unternehmen wurde eine soge-nannte Selbstverpflichtung vereinbart. Danach sprachder Minister von einer deutlichen Entschärfung des Kon-flikts. Seither ist nichts passiert. Im Gegenteil: Jüngst hatsich der Konzern ganz offiziell final vom Begriff desDatenschutzes verabschiedet. Gerade heute wird die so-genannte Timeline verpflichtend für alle eingeführt. DieErfahrungen der letzten Wochen mit Facebook undGoogle zeigen: Hier werden ständig willkürlich Ände-rungen der ohnehin völlig unverständlichen AGB ein-fach durchgedrückt.Das alles überrascht nur Naive, sage ich Ihnen; dennbis heute gibt es im Datenschutz kein einziges funktio-nierendes Selbstregulierungsmodell. Deswegen sage ichIhnen: Hören Sie auf, sich hinter dem Begriff der Selbst-regulierung zu verstecken, und machen Sie endlich IhreHausaufgaben!
Bewusst haben wir heute unseren Antrag zum Daten-schutz in sozialen Netzwerken aufgesetzt. Die schwarz-gelbe Koalition hat bislang leider nicht reagiert. Deswe-gen freut es uns, dass der Entwurf der EU-Datenschutz-verordnung viele wichtige unserer Forderungen, die dortenthalten sind, aufgegriffen hat.Lassen Sie mich klar sagen: Ausreichend ist dieserEntwurf der Verordnung noch lange nicht. Wir müssenjetzt dafür sorgen, dass viele Bestimmungen weiter kon-kretisiert werden, dass Spielräume für innovative Daten-schutzkonzepte bleiben und dass unser bewährtes Sys-tem der Betriebs- und Behördendatenschutzbeauftragtennicht ausgehöhlt wird.Aber weil weltweit gerade wegen der EU-Reformerstmalig Konturen eines globalen Datenschutzkonzep-tes erkennbar werden und in den USA sogar das WeißeHaus eigene Vorschläge in Reaktion auf die EU-Initia-tive vorlegt, ist es mit der Verweigerung und einem halb-garen Verweis auf das schöne Datenschutzrecht ausdeutschen Landen nicht getan.
Neben der aktuellen Diskussion um die EU-Reformist die Unabhängigkeit der Datenschutzbeauftragten zen-traler Bestandteil eines effektiven Datenschutzes. Siewird sogar in Art. 8 der EU-Grundrechtecharta aus-drücklich genannt. Aber ausgerechnet der Bundesdaten-schutzbeauftragte ist bisher ohne entsprechende Stellungund Durchsetzungsmöglichkeiten geblieben. Weil seineAnbindung an die Parlamente die notwendige politischeund rechtliche Verantwortlichkeit gewährleistet, fordernwir mit unserem Antrag die längst überfällige Anglei-chung seiner Stellung insbesondere an die Vorgaben desEuropäischen Gerichtshofs. Mit Blick auf die Aufsichts-funktion im nichtöffentlichen Bereich muss festgestelltwerden, dass die fehlende Möglichkeit des Beauftragten,selbst Bußgelder zu verhängen, eine echte Schutzlückeist.
Das Internet ist herausragendes Element der digitalenRevolution. Neue Politikfelder und eine eigene Öffent-lichkeit mit großem politischem Gewicht sind geschaf-fen worden. Obwohl wir alle wissen, dass erst der Daten-schutz das notwendige Vertrauen in die freie undunbefangene Nutzung des Netzes schafft, obwohl eineder wichtigsten ständigen Rechtsprechungslinien desBundesverfassungsgerichts den Schutz der Privatheit inallen Facetten betrifft und obwohl zahlreiche Gesetzeseit den 70er-Jahren in Kraft sind und ein entsprechen-des Schutzniveau zu entfalten suchen, können dasGrundverständnis und eine breite Akzeptanz der Privat-heit nicht automatisch als gesichert gelten. Das zeigenuns alle aktuellen Debatten über die verpflichtende an-lasslose Vorratsdatenspeicherung, über die Staatstroja-ner, über Facebook, über die Funkzellenabfrage etc.Deswegen müssen wir die Privatsphäre und den Daten-schutz, dieses besondere Schutzgut unserer Demokratie,jeden Tag neu begründen, erklären und erstreiten.Ganz herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Konstantin von Notz. –
Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Parla-
mentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder. Bitte
schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist schon interessant, zu hören, dass die Grü-nen plötzlich den Staat auffordern, tätig zu werden,
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dass sie die Autorität des Staates einfordern, wenn es da-rum geht, Sicherheit für die Bürger zu erlangen. Dakommen wir uns sehr nahe. Wir sind auch der Auffas-sung, dass wir klare Regeln brauchen, gerade im Inter-net, die dann auch durchgesetzt werden müssen. Von da-her begrüße ich das, was Sie, Herr von Notz, hier geradean Grundsätzlichem ausgeführt haben.
Wir reden heute über das EU-Datenschutzrecht. Wirhaben jetzt einen Verordnungsvorschlag der Kommis-sion vorliegen, der fast alles regelt. Eine Verordnung fin-det unmittelbare Anwendung. Ausgenommen sind nurdie Bereiche Justiz und Polizei.Wo stehen wir heute? Wir haben auf europäischerEbene zu wenig Vereinheitlichung im Bereich der Wirt-schaft, im Bereich des Verbraucherschutzes. Nationalsehr unterschiedliche Standards prägen das Bild. DasSchutzniveau ist sehr unterschiedlich. Der Vollzug istüberhaupt nicht einheitlich geregelt, und es fehlt anTransparenz, Verständlichkeit und Anwenderfreundlich-keit. Das führt natürlich zu Wettbewerbsverzerrungen in-nerhalb des europäischen Wirtschaftsraums. Die Debatteüber Facebook hat das gezeigt. Facebook hat wohl nichtohne Grund Irland als Standort in Europa gewählt. MeinVorredner hat das als Forum Shopping bezeichnet.Das Datenschutzrecht auf europäischer Ebene ist indie Jahre gekommen. Als es entwickelt wurde, haben diesozialen Netzwerke und die Datenverarbeitungsmöglich-keiten von Privaten noch keine so große Rolle gespielt.
Auf Fragen der modernen Informationsgesellschaft fin-den wir hier nur unzureichende Antworten. Cloud Com-puting ist genannt worden. Ich erinnere an die Diskus-sion über den „Like it“-Button von Facebook oder dieBehandlung von Twitter.Wir haben einen EU-Wirtschaftsraum mit 500 Millio-nen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Das ist ein gro-ßer Markt, und das ist zunächst einmal eine unglaublicheChance für die IT-Branche und für jeden einzelnen Ver-braucher. Daher ist ein einheitliches Datenschutzniveauvon großer Bedeutung. Wir müssen erreichen, dass Hür-den abgebaut werden, um wirtschaftlich in ganz Europatätig werden zu können. Wir wollen erreichen, dass un-ser hohes Datenschutzniveau auf europäischer Ebenedurchgesetzt wird.
Natürlich bietet das auch die Chance, dass wir gegen-über den Großen wie Facebook und Google unsere Stan-dards durchsetzen können. Deshalb ist der Übergangvom sogenannten Niederlassungsprinzip zum Marktort-prinzip richtig. Das heißt, dass das Datenschutzrecht desLandes gilt, in dem die Dienstleistungen angeboten wer-den. Diesen Übergang schaffen wir nur, wenn wir diesengroßen Wirtschaftsraum mit einer halben Milliarde Ver-braucherinnen und Verbrauchern in die Waagschale wer-fen. Wir begrüßen die Maßgabe, vom Marktortprinzipauszugehen.Dennoch gibt es grundsätzlichen Erörterungsbedarf.Dabei geht es zum Beispiel um die Frage nach den Gren-zen und der Reichweite des Datenschutzrechts. Daten-schutz ist ein wichtiges Grundrecht.
Aber wir dürfen den Datenschutz nicht über alle anderenwichtigen Grundrechte stellen. Vielmehr müssen wir im-mer abwägen. Ich denke zum Beispiel an die Meinungs-freiheit. Es darf nicht sein – dies wird in diesem Rechts-akt eben nicht ausgeräumt –, dass eine Privatperson, diebeispielsweise etwas in einem Blog postet oder in sozia-len Netzwerken aktiv ist, unter das Datenschutzrechtfällt und betroffene Dritte umfassend informieren oderein Datenschutzkonzept erarbeiten müsste. Das kannnicht der richtige Weg sein. Wir können nicht alles mitdem Datenschutzrecht regeln. Es gibt auch andere Rege-lungsinstrumente, beispielsweise das Urheberrecht und,wenn es zum Beispiel um Beleidigungen geht, das Straf-recht.
Wir müssen bei allen Ambitionen, die wir bezüglichdes Datenschutzes haben, darauf achten, dass wir dieBürokratie in Grenzen halten. Wir dürfen die Chancen,die sich durch diesen einheitlichen Wirtschaftsmarkt bie-ten, nicht dadurch verspielen, dass wir den kleinen undmittelständischen Betrieben bürokratische Hemmnisseauferlegen, die sie nicht erfüllen können. Dann würdenwir genau das Gegenteil von dem erreichen, was wirwollen.Wir müssen die Innovationsfähigkeit erhalten. Wirdürfen mit dem Datenschutzrecht, so wichtig es auch ist,nicht jede Innovation im Internet von vornherein abwür-gen. Wenn ein junges Unternehmen beispielsweise dieIdee hat, auf Basis öffentlicher Geodaten eine App zuentwickeln, dann muss transparent sein, welche daten-schutzrechtlichen Voraussetzungen gelten. Ansonstenwird dieses innovative Produkt nicht in Deutschland,nicht in Europa entwickelt, sondern in Amerika und ananderen Standorten.Wir müssen uns auch sehr genau über die Rolle derKommission, insbesondere gegenüber den Datenschutz-beauftragten, unterhalten. Ist es richtig, dass die Kom-mission in dem Kohärenzverfahren gegenüber den Da-tenschutzbeauftragten faktisch weisungsberechtigt wird?Wenn ja, dann erreichen wir genau das Gegenteil vondem, was hier gefordert wurde. Die Kommission istnicht die Superaufsichtsbehörde unserer Datenschutzbe-auftragten.Wir müssen uns auch darüber unterhalten, ob es rich-tig ist, dass die Kommission mit Ermächtigungen zum
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Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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Erlass von delegierten Rechtsakten – es sind insgesamt26 – mehr oder weniger an den Mitgliedstaaten vorbeiRecht setzen kann. Wir haben bisher überhaupt keineMöglichkeit, die Auswirkungen abzusehen. Das halteich nicht für den richtigen Weg.Wir müssen uns insbesondere auch die Auswirkungenauf unseren bereichsspezifischen Datenschutz an-schauen. Unsere modernen Gesetze – ich denke bei-spielsweise an die Gesetze in den Bereichen Sozialesund Gesundheit – beinhalten zum größten Teil Daten-schutzregeln, die sich im Verlauf der letzten Jahrzehnteentwickelt haben. Es gibt dort ein sehr austariertes Sys-tem. Wenn jetzt alles mit der Verordnung geregelt wird,dann verdrängt das natürlich die bereichsspezifischenDatenschutzregelungen, die wir uns erarbeitet haben.Wollen wir das wirklich? Ich bin der Auffassung, dasswir diesen Rückschritt nicht machen sollten. Dies würdeletztendlich ein Weniger an Datenschutz, eine Absen-kung des Datenschutzniveaus bedeuten. Das wollen wirnicht.
Ähnliches gilt für den Bereich der Polizei und Justiz.Moderne Polizeigesetze und eine moderne Strafprozess-ordnung bestehen zu einem großen Teil aus Daten-schutzregelungen, die austariert und in den jeweiligenBereichen sehr spezifisch sind.Die EU hat deshalb zu Recht in diesem Bereich eineRichtlinie und keine Verordnung gewählt. Dennochmuss ich sagen: Der EU fehlt die Kompetenz, den Da-tenaustausch innerhalb eines Landes zu regeln. GeradeDeutschland ist, weil unser Land einen föderalen Aufbaumit den Bundesländern, mit den unterschiedlichen Si-cherheitsbehörden hat, darauf angewiesen, dass die Si-cherheitsbehörden die Daten untereinander austauschenkönnen. In unserem Datenschutzrecht gibt es dafür ent-sprechende Regelungen. Deshalb sagen wir ganz klar:Die EU hat hierfür keine Kompetenz, und es ist auchnicht sinnvoll, dass die EU den Datenschutz im Bereichvon Polizei und Justiz regelt. Das ist völlig in Ordnung,wenn es um den Datenaustausch zwischen den Mitglied-staaten geht. Aber es gibt keine Notwendigkeit dafür,wenn es um den Datenaustausch innerhalb der Mitglied-staaten geht.
Die Verhandlungen sind auf einem guten Weg. Wirsollten die Chancen nutzen, die sich für die Verbraucherund für die Wirtschaft ergeben. Das Datenschutzrecht,wie wir es uns jetzt geben, wird unser Zusammenlebenin den nächsten 10, 20 Jahren prägen. Deshalb ist hiergroße Sorgfalt angebracht. Wenn wir es richtig machen,dann kann das ein großer Standortvorteil für Europawerden. Wenn wir es falsch machen,
könnten wir allerdings enormen Schaden anrichten, denwir lange Zeit nicht wiedergutmachen könnten. Deshalbist es notwendig, dass alle mitarbeiten, auch die nationa-len Parlamente. Die Union tut das. Das zeigt sich schonallein daran, dass ein Berichterstatter, Michael Frieser,heute spricht, obwohl er Geburtstag hat. HerzlichenGlückwunsch, lieber Michael!
Jetzt müssen wir nur klären: Galt der Applaus dem
Parlamentarischen Staatssekretär oder dem Geburtstags-
kind?
– Herr Staatssekretär, jetzt haben auch Sie noch Applaus
erhalten.
Als nächsten Redner rufe ich auf für die Fraktion der
Sozialdemokraten unseren Kollegen Gerold Reichenbach.
Bitte schön, Kollege Reichenbach.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu-nächst einmal: Lassen Sie auch mich von hier aus gratu-lieren, Kollege Frieser. Herzlichen Glückwunsch!Wir reden heute über Datenschutz, über den Schutzvon Daten in sozialen Netzwerken, über Verbraucher-und Persönlichkeitsschutz.
Wir reden auch darüber, wie dies in einem internationa-len Netz bei Diensten – sie sind alle schon genannt wor-den: Facebook, Twitter, und wie sie alle heißen – und beiinternational agierenden Bestellshops durchsetzbar ist.Aber wir haben auch über die Untätigkeit der Bundes-regierung zu reden.
Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, haben dafürein Beispiel gegeben.
Sie haben am Anfang gesagt: „Das ist ganz wichtig; damüssen wir etwas machen“ und anschließend erklärt,was alles gar nicht geht.
Das war Bedenkenträgerei. Wenn wir uns die Debattender letzten Jahre anschauen, können wir feststellen: Das
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Gerold Reichenbach
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geht immer nach dem Motto: Eigentlich müssen wir denDatenschutz vorantreiben. – Dann pfeift die WirtschaftSie zurück, und es passiert nichts, frei nach dem schönenhessischen Sprichwort: Bevor ich nix mach’, mach’ ichlieber gar nix.
So lautet das Motto dieser Koalition im Bereich des Da-tenschutzes.Das gilt sogar im Hinblick auf die eigenen Reihen. Esfreut mich, dass mein ehemaliger hessischer Landtags-kollege, der jetzige hessische Justizminister, nach mirsprechen wird; vielleicht kann er Ihnen ja ein bisschenDampf machen. Denn noch nicht einmal da, wo FDPund CDU in den Ländern eine Initiative gestartet haben,um die Daten und die Bürger im Netz besser zu schützen– eine Initiative zur Umsetzung eines europäischenRechts, das bereits existiert und das Sie den Menschen indiesem Lande seit über einem Jahr vorenthalten –, warenSie in der Lage, Ihren Kollegen in den Landtagen zu fol-gen. Sie haben keine Ausrede mehr dafür.Wir Sozialdemokraten haben Ihnen hier einen Geset-zesvorschlag vorgelegt. Es geht darum, wie die Bürgervor Cookies geschützt werden. Das sind kleine Dateien,die aufzeichnen, wie Sie sich beim Surfen verhalten, wasSie im Netz tun und lassen, welche Seiten Sie sich an-schauen und wie oft Sie im Netz sind. Es geht darum,dass diese kleinen Cookies ohne das bewusste, aus-drückliche Ja am Anfang nicht gesetzt werden dürfen.Sie sagen: Dann muss man seinen Browser umprogram-mieren; dann kann man das ja auch hinbekommen.Worum es hier geht, macht ein Beispiel deutlich, dasin dieser Woche im Spiegel geschildert wird. Der Vatereines 14-jährigen amerikanischen Mädchens, das regel-mäßig Targeting Shops besucht und in Netzwerken un-terwegs ist, hat sich bei der Geschäftsführung eines sol-chen Shops darüber beschwert, dass es seiner Tochterbeim Surfen im Internet, aber auch per Post, Werbungfür Babykleidung, Babyspielzeug und Kinderbetten ein-blendet bzw. zuschickt.
Er hat gesagt: Es kann doch nicht sein, dass Sie mit Ba-bywerbung versuchen, einem 14-jährigen Mädchen un-terzujubeln, dass es schön ist, ein Baby zu bekommen. –Es stellte sich heraus, dass das Mädchen tatsächlichschwanger war. Das heißt, der Targeting Shop und dieNetzwerke haben durch Verknüpfungen von Daten,durch das Aufzeichnen des Surfverhaltens des Mäd-chens, durch das Aufzeichnen ihres Bestellverhaltensund durch das Aufzeichnen dessen, was sie sich im Netzangeguckt hat, herausbekommen, was selbst die nächs-ten Verwandten nicht wussten.Wir reden heute doch über diese Situation, dass vielesoziale Netzwerke und viele dieser Shops mehr wissenals der eine oder andere nächste Partner oder Verwandte.Ich sage: Das kann ja okay sein, wenn ich denen das be-wusst mitgeteilt habe. Aber es ist nicht okay, wenn diesvon den jeweiligen Diensten unter Umgehung derSelbstschutzmöglichkeit des Verbrauchers ausspioniertwird.
Es gab ja auch in Deutschland einige Fälle. Das Land-gericht Berlin hat ein Urteil gegen Facebook gefällt. Esging dabei um die Umstellung seiner Datenschutzrichtli-nie und die Voreinstellung, dass automatisch, wenn Sieeine Facebook-App installieren, diese anfängt, Ihre Da-ten, Ihre Adressdaten – und zwar nicht nur Ihre, sondernauch die von Dritten, die vielleicht gar nicht bei Face-book sind – zu synchronisieren und herunterzuladen.Nur derjenige, der sich wirklich auskennt und schnellgenug reagiert, kann diesen Prozess stoppen.
Zur Durchsetzbarkeit und Wirksamkeit dieses Urteils:Facebook sagt, wir sind ein international agierenderKonzern.Die europäischen Datenschutzbeauftragten haben kri-tisiert – der französische Datenschutzbeauftragte wirdjetzt ein Verfahren einleiten –, dass die Datenschutzbe-stimmungen für die Google-Dienste, denen der Nutzervorher bewusst zustimmen muss, so allgemein undnichtssagend sind, dass sie die Voraussetzungen einerbewussten Zustimmung nicht erfüllen, weil darin Wörterwie „womöglich“, „könnte“, „vielleicht“ und, und, undvorkommen. Kein Mensch würde bei uns in ein Restau-rant oder in eine Kneipe gehen, wo auf der Speisekartesteht: Der Preis für Cola könnte womöglich oder viel-leicht 3 Euro betragen. Aber genau das ist momentanUsus im Netz.
Ich finde es immer spannend, dass die ansonsten aufBürgerrechte fokussierte Partei FDP genau das vertei-digt, weil es hier ja um Geschäftsmodelle geht.
Ich sage Ihnen: Im Grundgesetz der BundesrepublikDeutschland steht: „Die Würde des Menschen ist unan-tastbar.“ Daraus hat das Bundesverfassungsgericht abge-leitet, dass der Mensch auch über seine Daten selber be-stimmen kann. Was aber nicht in der Verfassung steht,ist: Jedes Geschäftsmodell ist unantastbar. – Auch da-rüber diskutieren wir hier.
Deswegen ist das, was die Grünen in ihrem Antragvorgelegt haben, richtig. Das unterstützen wir inhaltlich.Darauf will ich nicht im Detail eingehen.
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Gerold Reichenbach
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Sie machen aber natürlich einen falschen Schritt, indemsie sagen: Lasst uns doch schon jetzt mit einem Gesetz-gebungsverfahren anfangen, wo die europäische Verord-nung vorliegt. – Das macht keinen Sinn. Es gibt einenBereich – das habe ich bereits angesprochen –, in demSie uns unterstützen können. Das ist die sogenannteE-Privacy-Richtlinie. Sie ist bereits europäisches Recht.Aber die Bundesregierung setzt diese Richtlinie seit übereinem Jahr nicht in deutsches Recht um. Nach dieserRichtlinie ist es erforderlich, dass, bevor solche Cookies,die den Nutzer ausspionieren können, gesetzt werden,der Betreffende seine Zustimmung erteilen muss. Aberdiese Regierung setzt es nicht um. Herr Hahn, da Siegleich nach mir sprechen und eine ähnliche Position imBundesrat vertreten haben, können Sie vielleicht dieserRegierung sowie Ihren Parteikollegen und -freunden dieMeinung geigen. Oder Sie haben das, was Sie im Bun-desrat vorgetragen haben, gar nicht so ernst gemeint,weil Sie wussten, dass die Kollegen in der Bundesregie-rung das sowieso ablehnen werden?
Es stellt sich die Frage, wie sich das durchsetzen lässt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Durchsetzbar ist dies im europäischen Rahmen. – Des-
wegen begrüßen wir diese Verordnung. Ich kann mich
aber des Verdachts nicht erwehren, dass es denjenigen,
die unter Hinweis auf die Subsidiarität mit Bedenken un-
terwegs sind, um etwas anderes geht. Alle sind sich ei-
nig: Datenschutz lässt sich nur auf europäischer Ebene
und mit größtmöglicher Harmonisierung organisieren.
Aber dann kommen die Bedenken; viele sagen: Harmo-
nisierung ist gut, aber nicht so viel und nicht auf dem Ni-
veau. – In welche Richtung es gehen soll, haben Sie
schon angedeutet, Herr Staatssekretär: möglichst niedri-
ges Niveau und möglichst viel Selbstverpflichtung.
Der Herr Innenminister hat anlässlich der Vorlage der
Verordnung bereits erklärt: Natürlich soll das hohe deut-
sche Datenschutzniveau gelten. – Das Beispiel der E-Pri-
vacy-Richtlinie zeigt, dass Deutschland in einigen Punk-
ten bereits jetzt hinter dem europäischen Niveau zurück
ist. Weiter hat er erklärt: Es soll möglichst viel Spiel-
raum für Selbstverpflichtungen geben. Gucken wir uns
doch einmal die bisherigen Selbstverpflichtungen an, die
von Herrn de Maizière, dem Vorgänger des jetzigen In-
nenministers, groß gefeiert wurden. Er hat auch gesagt:
Ich lege ein Gesetz vor, um eine rote Linie zu ziehen, die
verteidigt werden muss. – Eine solche rote Linie ist nir-
gendwo in Sicht. Das ist eine Nirwanalinie, aber kein Ge-
setz. Herr de Maizière erklärte damals weiter: Ich habe es
geschafft – das ist eine gute Selbstverpflichtung –, eine
Selbstverpflichtung mit Diensten wie Google zu den
Geodaten zu vereinbaren. – Gucken wir uns einmal an:
Was ist denn von dieser Selbstverpflichtung bis jetzt um-
gesetzt worden? Nichts! Die Selbstverpflichtungsverein-
barungen der Bundesregierung mit der Industrie sehen
doch offenkundig so aus: Die Bundesregierung ver-
pflichtet sich, gesetzlich nichts zu tun, während sich die
Industrie verpflichtet, heimlich weiterzumachen, weil
die Bundesregierung sie lässt. So sehen Ihre Selbstver-
pflichtungen aus! Aber so kann man den Datenschutz in
Europa nicht voranbringen. Es müssen klare, für alle gel-
tende Regeln her.
Es ist richtig, dass die Verordnung – sie gilt für die Da-
ten aller europäischen Bürger, egal wo die Daten verar-
beitet werden – klare Zustimmungspflichten, das Recht
auf Vergessen und auch Strafen für Unternehmen vor-
sieht, die sich nicht an sie halten. Es ist allerdings ein biss-
chen seltsam, dass man den Umfang der Sanktionen auf
2 Prozent des jährlichen Umsatzes festgesetzt hat. Im
Wettbewerbsrecht gelten üblicherweise 10 Prozent. Das
wirft die Frage auf: Ist der Wettbewerb mehr wert als der
Schutz der Würde und der Persönlichkeitsrechte der Bür-
ger in Europa? Seltsam ist auch die Altersgrenze von
13 Jahren zum Schutz der Jugendlichen. Eine solche Al-
tersgrenze kommt in keinem anderen Rechtskonstrukt
vor. Die einzige Erklärung ist, dass man schon mit 13 Jah-
ren bei Facebook mitmachen kann.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Unterstützen
Sie diese Verordnung da, wo sie bereits gute und richtige
Akzente setzt! Beteiligen Sie sich nicht am Abschleifen
der Standards! Bessern Sie da nach, wo Nachbesse-
rungsbedarf besteht! Ich will nicht wiederholen, was der
Kollege von Notz dazu gesagt hat. Auch Sie haben ja ei-
nen Teil benannt.
Ich möchte zum Ende kommen. Sie haben zu Recht
moniert: Der Europäische Datenschutzbeauftragte ist ge-
mäß der Verordnung nicht unabhängig; er ist abhängig
von der Kommission; diese kann hineinregieren. Der
EuGH hat den Ländern vorgeschrieben: Die Daten-
schutzbeauftragten müssen unabhängiger von den Re-
gierungen sein. Aber dann fangen Sie im eigenen Hause
an! Der Bundesdatenschutzbeauftragte ist abhängig vom
Innenministerium. Er steht unter der Fach- und Rechts-
aufsicht dieses Ministeriums.
Würden Sie bitte zum Schluss kommen?
Ich sage: Wir sind für unabhängige Datenschutzbe-
auftragte, für ein breites Datenschutzrecht, auch hier in
Deutschland. Deswegen unterstützen wir auch an dieser
Stelle den Antrag der Grünen. Werden Sie endlich im
Sinne des Datenschutzes tätig, und verharren Sie nicht in
Ihrer abwartenden und industriehörigen Haltung!
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Kollege Reichenbach. – Nächster Red-ner ist der Staatsminister der Justiz, für Integration und
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20500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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Europa aus Hessen, Herr Kollege Jörg-Uwe Hahn. Bitteschön, Herr Kollege Jörg-Uwe Hahn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich sage vielen herzlichen Dank, dass ichheute die Möglichkeit habe, als stellvertretender Minis-terpräsident des Landes Hessen, aber auch als Sprecherder Justizministerkonferenz zu Ihnen zu sprechen undIhnen die Überlegungen, die wir in der Länderkammerzum Thema EU-Datenschutz-Grundverordnung und Da-tenschutzrichtlinie angestellt haben, vorzutragen. Zeit-gleich berät ja auch der Bundesrat über dieses Thema.Ich kann bestätigen, Kollege Reichenbach, dass wirHessen eine besondere Empathie für das Thema Daten-schutz haben. Das erste Datenschutzgesetz überhaupt istin Hessen im Jahre 1970, übrigens damals von einer so-zial-liberalen Regierung, Herr Kollege Reichenbach– lange ist es her –, verabschiedet worden.
Wir haben damals aber nicht nur das Datenschutzgesetzverabschiedet, sondern auch einen unabhängigen Daten-schutzbeauftragten für die öffentliche Verwaltung inHessen installiert.Ich möchte Ihnen, meine sehr verehrten Damen undHerren, sagen, dass wir uns in den letzten Wochen in denAusschüssen des Bundesrats sehr ausführlich sowohl mitder Verordnung auf der einen Seite wie auch mit derRichtlinie auf der anderen Seite auseinandergesetzt ha-ben. Ich gehe davon aus, dass die meistens einstimmiggefassten Beschlüsse nachher auch vom Plenum desBundesrates so bestätigt werden.Was ist unsere Überlegung? Wir begrüßen zum einenausdrücklich, dass es eine Reform des Datenschutzrech-tes in Europa gibt. Die technische Entwicklung und dergewandelte gesellschaftliche Umgang mit personenbe-zogenen Daten lassen die alte Datenschutzrichtlinie ausdem Jahre 1995 als ungenügend erscheinen bzw. alt aus-sehen. In einer Zeit – einige Vorredner haben es ja schonangemerkt –, in der Informationen selbst zur Handels-ware geworden sind, in der neue Informations- undKommunikationsangebote, zum Beispiel Google oderFacebook, eine ganz andere Art von Umgang mit perso-nenbezogenen Daten hervorgerufen haben, hat sie nichtsmehr zu bieten.Darüber hinaus – das ist der zweite Gedanke – sindwir Ländervertreter im Bundesrat uns einig darüber, dasses eine Reihe von Gebieten gibt, in denen eine nationaleRegulierung keinen Sinn mehr macht. Das Thema Face-book und das Thema Google wurden eben angespro-chen. Wenn Wirtschaftsunternehmen, die personenbezo-gene Daten verarbeiten, bei der Wahl ihres Standorteseine Art Cherry-Picking machen können, ihn also da-nach aussuchen können, wo es die aus ihrer Sicht bestendatenschutzrechtlichen Regelungen gibt, ist klar, dasseine nationale Regulierung in diesem Bereich nicht aus-reicht.Ebenfalls, meine sehr verehrten Damen und Herren,möchte ich Ihnen auch die Kritik der Länderkammervortragen, die sich insbesondere auf zwei Gebiete be-zieht.Da ist zum einen die kritische Frage: Ist denn eigent-lich eine entsprechende Kompetenz vorhanden, in Formeiner EU-Verordnung alles und jedes zu regeln? Ichmöchte darauf hinweisen: Beim Thema Schufa, also beider Frage „Wie gehen entsprechende Organisationen mitder Verarbeitung von personenbezogenen Daten um?“,haben Sie, der Deutsche Bundestag, eine Änderung desBundesdatenschutzgesetzes, übrigens in enger Abspra-che mit den Ländern, vorgenommen. Ich sage das, damitSie alle darüber Bescheid wissen: So etwas wird es künf-tig nicht mehr geben, weil dann die entsprechendeRechtszuständigkeit ausschließlich auf europäischerEbene liegt. Wir sind der Auffassung, dass das falsch ist.Wir sind der Auffassung, dass man, wenn man über denStandard hinausgehen will – in Deutschland liegt ja derDatenschutz in vielen Gebieten über dem europäischenStandard, auch über dem künftigen europäischen Stan-dard –, das auch machen können oder dürfen sollte. Aberdas wäre dann aufgrund der Strukturen des europäischenRechts nicht mehr möglich.Das Zweite ist – auch das ist eben schon angespro-chen; ich will es einmal etwas polemisch formulieren –:Die Unabhängigkeit der Datenschutzbeauftragten – wirin Hessen sind ja stolz darauf, dass wir dieses Amt alsErste eingeführt haben – wird abgeschafft. Dieses Amtgehört dann in die Struktur der europäischen Regulie-rung, und die Kommission entscheidet über diese Fra-gen. Ich halte das, liebe Kolleginnen und Kollegen, aufalle Fälle für bedenklich und – wenn ich ganz ehrlich bin –eigentlich für falsch.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es anders orga-nisieren müssen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichglaube, dass der Deutsche Bundestag die Chance nutzensollte, wenn der Bundesrat heute in diesen beiden Berei-chen die Subsidiaritätsrüge erhebt. Ich bin eben auch alsEuropaminister angekündigt worden. Wie ich weiß,kann man nicht immer – ein Kollege hat es angespro-chen – mit dem Zeigefinger durch Brüssel gehen und sa-gen: Europäisches Recht muss sich an deutsches Rechthalten. – Deshalb bin ich bei Subsidiaritätsrügen ausPrinzip sehr zurückhaltend. Die hier behandelte Frage istso wichtig, dass wir sie weiterhin auf die Tagesordnungsetzen müssen.Wir sollten in Deutschland weiterhin ein sehr moder-nes Datenschutzrecht haben. Im Sinne der Subsidiarität
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20501
Staatsminister Jörg-Uwe Hahn
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sollten wir die entsprechenden Kompetenzen in den Län-dern belassen. Aber natürlich muss es im Hinblick aufden grenzüberschreitenden Verkehr auch ein europäi-sches Recht geben.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank, Herr Staatsminister Jörg-Uwe
Hahn. – Nächster Redner in unserer Aussprache ist für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Jan Korte. Bitte
schön, Kollege Jan Korte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist sehr erfreulich, dass wir heute einmal
die Gelegenheit haben, dieses Thema zu einer vernünfti-
gen Uhrzeit zu diskutieren. Ich möchte für die Fraktion
Die Linke vorweg einige grundsätzliche Anmerkungen
machen, bevor ich auf die vorliegenden Anträge der
Grünen konkret eingehe, die übrigens unsere Zustim-
mung finden, weil sie sehr sinnvoll sind.
Wir sprechen über das Thema Datenschutz und
Europa. Wir haben es mit einer zunehmenden Dominanz
von Finanzmärkten, von Rettungspaketen, Sparpaketen
und anderem, übersetzt gesagt: mit einer Diktatur der
Finanzmärkte, zu tun. Ich glaube, dass wir in Europa
mehr Gegenwehr, mehr Kritik brauchen. Vor allem ist
dafür ein unangepasstes Verhalten notwendig.
Der Datenschutz ist neben der Frage der sozialen Sicher-
heit in Europa eine entscheidende Säule für eine intakte
Demokratie, für eine intakte Bürgergesellschaft. Wenn
allerdings immer mehr überwacht und gespeichert wird,
stirbt spontanes Handeln. Menschen fangen an, sich an-
gepasst zu verhalten. Genau das können wir in Europa
zurzeit nicht gebrauchen. Wir brauchen in Europa unan-
gepasstes Verhalten; das ist entscheidend.
Wenn wir über das Thema Datenschutz und Europa
reden, dann ist eine Frage in Deutschland aktuell beson-
ders interessant – vielleicht bekommen wir noch eine
Auskunft dazu –: die Vorratsdatenspeicherung. Es gibt
ein paar Indizien dafür, dass es innerhalb der Bundesre-
gierung Unstimmigkeiten in dieser Frage gibt.
Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es bekannter-
maßen – man muss das ja für diejenigen übersetzen, die
zuhören – um die Totalprotokollierung des Kommunika-
tionsverhaltens der Menschen in der Europäischen
Union. Wir erinnern uns: 2010 hat das Bundesverfas-
sungsgericht in aller Deutlichkeit gesagt, dass das, so
wie es in Deutschland umgesetzt wurde, verfassungs-
widrig ist. – Das ist ein sehr gutes Urteil gewesen.
Jetzt haben wir die Situation – das ist sehr interessant –,
dass die zwei letzten Linksliberalen, die es in der FDP
noch gibt – die Justizministerin und ihr wackerer Staats-
sekretär –, sämtlichen Widerstand auffahren, um die
CDU/CSU daran zu hindern, ihr Lieblingsprojekt, die
Vorratsdatenspeicherung – in dem Fall leider zusammen
mit der SPD –, durchzusetzen.
– Berücksichtigt man die Kollegin Piltz, gibt es viel-
leicht noch zweieinhalb Linksliberale, Bürgerrechtslibe-
rale in der FDP.
Das mag sein. So viel Nettigkeit vor dem Wochen-
ende ist in Ordnung.
Wir reden ja über Europa. Interessant ist jetzt folgende
Situation: Die CDU/CSU und in diesem Falle die SPD
sind hochgradig erfreut – sie können damit kaum hinter
dem Berg halten –, dass die Europäische Union voraus-
sichtlich ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutsch-
land einleiten wird. Das ist übrigens eines von 80 bei
insgesamt 2 000 Vertragsverletzungsverfahren in der ge-
samten Europäischen Union. Das ist erst einmal mit Inte-
resse zur Kenntnis zu nehmen. Ich glaube, der Kollege
Stadler und die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger ha-
ben in dieser Frage sehr recht – der Bundestag sollte sie
dabei unterstützen –, dass die Kommission erst einmal
ihre Hausaufgaben machen und die Richtlinie zur Vor-
ratsdatenspeicherung evaluieren und überprüfen muss.
Das wäre der richtige Schritt.
In diesem einen Fall haben Sie, liebe FDP, unsere Unter-
stützung. Es bleibt nämlich dabei – das ist sachlich ei-
gentlich unbestritten –: Die Vorratsdatenspeicherung ist
unverhältnismäßig. Wir hatten dazu einige hochgradig
emotionale Innenausschusssitzungen.
Der Kollege Sebastian Blumenthal hat eine Zwi-
schenfrage. – Bitte schön, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Zwi-schenfrage gestatten.Sie haben einen Großteil Ihrer Redezeit auf Punkteverwendet, über die wir in der FDP-Fraktion ganz gutBescheid wissen. Da brauchen wir jetzt keine Aufklä-rung von Ihnen.
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20502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Sebastian Blumenthal
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Meine Frage ist: Haben Sie die Absicht, auch nochzur Tagesordnung und zu den Anträgen der Grünen zusprechen?
Lieber Kollege, ich habe Ihnen doch eben zugestan-den – ich versuche, hier auf Sachpolitik einzugehen –,dass in diesem einen Fall – als Linker fällt es mir durch-aus schwer, das auch auszusprechen – die FDP in der Tatrichtig liegt.Das Problem ist aber, dass der Zustand Ihrer Parteiuns nicht große Hoffnung macht, dass Sie sich in derFrage der Vorratsdatenspeicherung gegen die CDU/CSUdurchsetzen werden. Deswegen habe ich gesagt: In die-sem Punkt haben Sie unsere Unterstützung.
Wenn wir über Europa und Datenschutz reden, dannmuss es doch wohl erlaubt sein, auf die Frage der Vor-ratsdatenspeicherung einzugehen, die viele Menschenbewegt. Es ist komisch, dass darauf noch nicht eingegan-gen wurde. So sieht es aus.
Um zum Thema zurückzukommen: Wir reden davon– das ist die Position der Linken, und ich finde, das wirdim Antrag der Grünen auch sehr gut dargestellt –, dasswir eine Umkehr in der europäischen Innenpolitik brau-chen. Auch die Linke ist in der Tat dafür, dass die Daten-schutzstandards in der Europäischen Union harmonisiertwerden. Ich glaube, darin sind wir uns alle einig.Die Frage ist aber: Auf welchem Niveau werden sieharmonisiert? Das ist doch die Frage in der Auseinander-setzung, die wir haben. Die Linke tritt dafür ein, die Har-monisierung auf dem höchstmöglichen Niveau durchzu-setzen.
Sie wollen das niedrigstmögliche Niveau. Das ist derUnterschied, um den es hier heute geht.Deswegen ist der Antrag der Grünen richtig. Wie esin diesem Antrag richtig formuliert worden ist, darf es zukeinerlei Absenkungen des Datenschutzniveaus kom-men. Dabei ist noch einmal anzumerken – das darf mannicht vergessen –, dass das Datenschutzniveau, das wirhaben, nicht vom Himmel gefallen ist, sondern relativheftig erkämpft und erstritten worden ist von Bürger-rechtlern, von Bürgerrechtsorganisationen und vielen an-deren. Allein deswegen gilt es schon, dieses hohe Ni-veau anzuheben und auf diesem Niveau eine europäischeHarmonisierung hinzubekommen.Zweiter Punkt zu dem Antrag. Ich glaube, wenn wirüber Europa und Datenschutz sprechen, dürfen wir einesnicht vergessen: Es geht natürlich nicht, dass – ichnehme einmal das Beispiel biometrischer Merkmale inPässen – die Bundesregierung über Europa Gesetze ein-bringt und dann sagt: Das kommt von Europa, es gibtkeine Alternative dazu. – Das muss dringend geändertwerden.
Es wäre schön, wenn diese Bundesregierung nicht alsAnwalt immer neuer Überwachungsmöglichkeiten überden Umweg Europa auffallen würde, sondern wenn sieals Anwalt und Garant eines hohen Datenschutzstan-dards in Europa agieren würde. Das wäre mal wasNeues.
Jetzt möchte ich zu dem anderen Antrag kommen,den wir heute beraten und der sich mit der Unabhängig-keit des Bundesdatenschutzbeauftragten befasst. Auchdas hat in der Tat mit Europa zu tun. Das zeigt die ganzeZweischneidigkeit und Differenziertheit der europäi-schen Innenpolitik, in der nicht alles schlecht, aber ebenauch nicht alles gut ist.In diesem Falle gibt es ein wirklich gutes Urteil desEuGH, in dem es heißt: Die Datenschützer müssen – ichzitiere – „vor jeglicher Einflussnahme von außen ein-schließlich der unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss-nahme des Bundes oder der Länder sicher sein …“. Dasist ein wegweisendes Urteil. Wenn Sie wegen Vertrags-verletzungsverfahren in große Panik verfallen, versteheich nicht, warum Sie dieses Urteil des EuGH nicht zumAnlass nehmen, um an der Situation etwas zu ändern. Esist doch höchste Eisenbahn, das zu tun. Wir würden Siein diesem Falle dabei unterstützen.
Wenn wir über die Unabhängigkeit des Bundesdaten-schutzbeauftragten sprechen, dürfen wir nicht nur überdie institutionelle Unabhängigkeit reden – das ist zuRecht hier schon angesprochen worden –, sondern – unddas ist natürlich ganz entscheidend in der Politik – wirmüssen auch über die finanzielle Unabhängigkeit, diehaushalterische Unabhängigkeit des Bundesbeauftragtenfür den Datenschutz sprechen. Denn – auch das ist indem Antrag richtig angedeutet – es gibt immer mehr Da-teien; die Speicherung nimmt zu. Es gibt übrigens er-freulicherweise auch ein immer größeres Bewusstseinfür Fragen des Datenschutzes. Allerdings sind die Mitteldes Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die In-formationsfreiheit nicht kongruent mit den neuen He-rausforderungen gestiegen. Will man eine richtige Unab-hängigkeit, ist mehr Personal notwendig, damit derBundesbeauftragte endlich mit der zunehmenden Spei-cherung Schritt halten und analog dazu seinen Prüfauf-gaben nachkommen kann. Dafür ist seine finanzielle Un-abhängigkeit notwendig.
Zu überlegen ist auch, ob wir nicht bei Gesetzen, diefür den Bundesbeauftragten für den Datenschutz einenerhöhten Personalaufwand mit sich bringen – ein aktuel-les Beispiel sind die Dateien zum Thema Rechts-extremismus –, die dafür notwendigen Kosten im Ge-setzgebungsverfahren berücksichtigen sollten. Das ist
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20503
Jan Korte
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vielleicht eine konkrete Idee, über die wir uns interfrak-tionell verständigen können.Zu dem letzten Antrag, der heute beraten wird, istschon viel gesagt worden. Rund 48 Prozent der bundes-deutschen Bevölkerung kommunizieren in sozialenNetzwerken. Erfreulich ist, dass es aufgrund vieler De-batten und politischer Entwicklungen bei den dort Akti-ven zunehmend ein Bewusstsein für Fragen des persönli-chen Datenschutzes und die persönliche Integrität gibt.Das ist, glaube ich, eine sehr gute Entwicklung. Es istvöllig logisch, dass beispielsweise Facebook oderGoogle völlig andere Interessen haben. Im Kapitalismusist das so; das ist zunächst so festzuhalten. Deswegen istan dieser Stelle der Staat gefragt. Alle Selbstverpflich-tungserklärungen, auf die die FDP, die CDU und dieCSU setzen, haben sich in allen Politikbereichen – seienes die Umweltfragen in den 80er-Jahren oder heute dasThema soziale Netzwerke und Fragen des Datenschutzes –als völlige Lach- und Luftnummern entpuppt. Dasmüsste einem klar sein, wenn man die Fakten zur Kennt-nis nimmt.
Daher bringen Selbstverpflichtungen überhaupt nichts.Sinnvoll ist vielmehr, dass jeder, der sich in den sozialenNetzwerken bewegt, selber aufpasst und versucht, soweit wie möglich zu steuern, was er dort tut und was erdort einstellt. Entscheidend ist aber, dass wir mit Selbst-verpflichtungen der großen Konzerne nicht weiterkom-men. Hier muss vor Ort und in Europa staatlicherseitseingegriffen werden. Deswegen unterstützen wir denvorliegenden Antrag zu diesem Thema.Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass der Daten-schutz ein zentrales Anliegen von uns allen sein sollte.Zumindest für den Großteil der Opposition kann ich fest-stellen, dass das der Fall ist. Bei der FDP ist davon leidernicht viel übrig geblieben. Das wäre vielleicht eine Mög-lichkeit, sich in dieser Frage zu profilieren.
– Sie sagen, Sie können auf die Ratschläge verzichten.Das glaube ich angesichts Ihrer Wahlergebnisse nicht.Sie sollten ein paar Ratschläge annehmen. Dann wärenSie vielleicht erfolgreicher.Aber davon abgesehen glaube ich, dass Datenschutznicht nur ein Thema für Fachpolitiker, sondern auch eingroßes Thema für die Öffentlichkeit ist.
Ich glaube darüber hinaus, dass Datenschutz ein elemen-tares Abwehrrecht gegenüber dem Staat und einer un-kontrollierbaren Wirtschaftsmacht in Deutschland undEuropa ist. Das ist eine ganz entscheidende Feststellung.
Ich gehe abschließend noch ein Stück weiter: Ich glaube,der Datenschutz ist ein offensives Bürgerrecht, und ermuss, gerade wenn wir über Europa reden, als Mittel desProtests und der Unangepasstheit dienen, um endlich einsolidarisches und soziales Europa zu schaffen. Das funk-tioniert mit Ihrer Trümmertruppe leider nicht.
Vielen Dank, Kollege Jan Korte. – Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Michael Grosse-Brömer. Bitte schön, Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin doch einigermaßen zufrieden, dassSie, Herr Korte, zum Schluss doch noch die Kurve zurSozialpolitik gekriegt haben; mir hätte das sonst gefehlt.
– Deswegen sind Sie auch in Ihrer Fraktion und nicht inunserer.
Datenschutz war natürlich auch schon zu früherenZeiten eine Aufgabe, nur einfacher zu handeln. Es gibtnoch ein paar Kolleginnen und Kollegen in meinem Al-ter. Wir wissen noch, dass man Briefe auch handschrift-lich verfassen und dann verschicken kann. Wer wollte,dass der Inhalt nicht bekannt wird, packte diesen Briefeinfach nur in einen Umschlag. Wer vielleicht sogar be-wusst wollte, dass der Inhalt bekannt wird, schrieb einePostkarte oder eine Ansichtskarte.
Jedenfalls entschied der Absender immer selbst, in wel-chem Maß Datenschutz für ihn wichtig oder gegebenen-falls völlig unwichtig war. Der Staat hat dann etwas ganzSinnvolles gemacht. Er hat für die Fälle, in denen derBürger entschieden hat, dieser Brief wird in einem ge-schlossenen Kuvert verschickt, den Inhalt durch dasPostgeheimnis geschützt. Ich glaube, der Staat hat jetztdie Aufgabe, Wege zu finden, wie man den Datenschutzauf der Grundlage der Wünsche der Menschen sichert.
– Dazu komme ich gleich noch.
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20504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Michael Grosse-Brömer
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– Aber Sie sind doch im Ausschuss nicht so unruhig undschon gar nicht so ungeduldig, Frau Kollegin.Ich gehe mit meiner Fraktion jedenfalls vom mündi-gen Bürger aus,
der erst einmal selbst entscheidet, ob er Datenschutz willoder nicht. Ich glaube, das ist die richtige Grundlage, imÜbrigen auch beim Verbraucherschutz. Wir als Unionund vielleicht auch als Koalition unterscheiden uns davon Ihnen. Sie trauen den Menschen nicht zu, für sichselbst verantwortlich sein zu können. Ich möchte nicht,dass der Staat mir mein Leben grundsätzlich erklärt undalles vorschreibt. Ich möchte erst einmal selbst entschei-den, was ich will und was ich nicht will, auch im Hin-blick auf den Datenschutz.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen
Reichenbach?
Selbstverständlich.
Bitte schön, Kollege Reichenbach.
Das wird er sich nicht trauen. Er wird jetzt eine kurze
Frage stellen.
Ich habe eine Frage zu Ihrem Beispiel. Beispiele hin-
ken ja bekanntlich.
Aber nicht alles, was hinkt, ist ein Beispiel; das sollte
man auch noch sagen.
Genau. – Beispiele sind aber auch immer schön. Um
bei Ihrem Beispiel mit dem Briefumschlag zu bleiben:
Jetzt haben wir aber die Situation, dass die Industrie
Briefumschläge verkauft, die gegenüber dem Nutzer so
aussehen, als seien es Briefumschläge; bestimmte Unter-
nehmen aber können da hineingucken. Sind Sie der Auf-
fassung, dass diese Unternehmen gezwungen werden
sollten, zu kennzeichnen, dass dieser Briefumschlag
nicht für alle dicht ist, sondern für sie offen und einseh-
bar?
Ja, ich glaube, da sind wir einer Auffassung. Ich binder Meinung, dass gerade bei den sozialen NetzwerkenSensibilität wesentlich mehr angezeigt ist als bei derVorratsdatenspeicherung und bei allem anderen, was hiermit Kampfbegriffen bezeichnet wird, wo dem Staat einAufspürinteresse grundsätzlicher Art unterstellt wird.Man denkt: Wir kaufen einen Computer, und da ist im-mer ein kleiner Bundesinnenminister drin, der danngleich alles nach Berlin weiterschickt.
Das ist der wahre Unsinn. Deswegen gebe ich Ihnenrecht. Ich glaube, in den sozialen Netzwerken ist die Ge-fahr des Datenmissbrauchs für jeden einzelnen Bürgerund für jede einzelne Bürgerin wesentlich größer als beiden Themen, über die wir hier sonst diskutieren. Deswe-gen bin ich mit Ihnen der Auffassung: Wir müssen da-rüber nachdenken – dazu komme ich gleich noch –, wiewir Wege finden, möglichst auch grenzüberschreitend,um Datenmissbrauch zu verhindern. Ich halte es für völ-lig falsch, dass von 15-jährigen oder 16-jährigen Kin-dern Profile erstellt werden.
Ich glaube, das können wir alle nicht wollen. Da müssenwir überlegen, wie man das verhindert; gar keine Frage.
– Wir können uns auch gleich persönlich noch ein biss-chen unterhalten. Ich möchte jetzt eben die Rede zuEnde führen.
Mein grundsätzlicher Gedanke geht dahin, dass wirmit der freiwilligen Selbstverpflichtung und auch mit derVorstellung vom mündigen Bürger arbeiten müssen. Wirmüssen die Medienkompetenz des Bürgers stärken, under muss selbst entscheiden, wie er vorgehen will. Deswe-gen finde ich den grundsätzlichen Ansatz in dem Antragder Grünen gar nicht falsch. Endlich einmal wird er-kannt, dass da vielleicht ein wesentlich größeres Daten-schutzproblem besteht als bei den Mindestspeicherungs-fristen, über die wir sonst immer diskutieren. Wir habenauf Antrag der Grünen und sonstiger Kolleginnen undKollegen auch über die akustische Wohnraumüberwa-chung diskutiert.
Die hat 2010 viermal stattgefunden. Es ist manchmalsinnvoller, wenn man über die Fakten und Probleme re-det, die es täglich gibt. Da sind Facebook, Google undalles, was damit zusammenhängt, wesentlich gefährli-cher als das, was wir sonst diskutieren.Ich glaube auch, wir müssen gerade in dieser Hinsichtaufpassen. Das diffuse Gefühl des Beobachtetseins, dasdas Bundesverfassungsgericht im Urteil zur Vorratsda-tenspeicherung festgestellt hat, das bei den Menschenoffensichtlich vorhanden ist, erlegt uns vielleicht auf,einmal seriös mit dem Thema umzugehen, den Leutenkeine Angst zu machen, sondern ihnen zu erklären: DerStaat kann deine Daten nur bekommen, wenn er den
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Michael Grosse-Brömer
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starken Verdacht einer Straftat hat, einer Tat, die mit Ter-rorismus zusammenhängt. Aber dann muss er es auchnoch von einem Richter genehmigen lassen. Der Staat istalso nicht das Problem. Das Problem sind große, welt-weit agierende Unternehmen, die Profile erstellen, weilsie sich daraus Vorteile erhoffen. Das können wir nichtzulassen, jedenfalls dann nicht, wenn die Menschennicht wissen, was mit ihren Daten passiert. Das ist,glaube ich, die große Aufgabe, die wir gemeinsam ha-ben. Deswegen bin ich ganz froh darüber, dass die Grü-nen fordern – ich glaube, wir alle sollten das tun –, dasswir uns mit dem EU-Datenschutzpaket beschäftigen.Wir müssen es aktiv mitgestalten und überlegen, wie eskünftig ausgestaltet sein könnte.Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Aspekterwähnen, der hier noch gar nicht angesprochen wurde:Hierbei ist besondere Sorgfalt geboten, wie auch aus be-rufenem Munde zu hören war; denn mit einer Vollhar-monisierung des Datenschutzrechtes durch eine europäi-sche Verordnung könnte – so jedenfalls die Auffassungeines Bundesverfassungsrichters – die Kontrollfunktiondes Bundesverfassungsgerichts beim Datenschutz ausge-schaltet werden. Darüber müssen wir reden. Damitkönnte die Rechtsprechung zum Datenschutz nach30 Jahren Geschichte werden. Da diese Verordnung wieein europaweites Gesetz wirkt, müssen wir schon überle-gen, wie wir in Deutschland, wo das Datenschutzniveauhoch ist, mit einer solchen Verordnung umgehen wür-den. Darauf hat Johannes Masing, Richter am Bundes-verfassungsgericht, Anfang Januar in der SüddeutschenZeitung hingewiesen. Er hat sogar davor gewarnt, dassdie Grundrechte dann nicht mehr anwendbar seien undEinbußen beim Grundrechtsschutz entstehen könnten.Seinen Worten nach – ich zitiere –erweisen sich die scheinbar rechtstechnisch daher-kommenden Regulierungsvorschläge der Europäi-schen Kommission zum Datenschutz als hochpoli-tisch. Ihrer Wirkung nach haben sie das Potenzialeiner tiefgreifenden Verfassungsänderung – undmüssen als solche diskutiert werden.Das ist auch für uns eine besondere Herausforderung.
Es ist nicht so, dass alles nur glorreich abzuwickeln wäre –Hauptsache, wir haben ein bisschen grenzüberschreiten-den Datenschutz. Wir haben da noch einiges zu tun.
Darüber haben wir noch intensiv zu diskutieren. DasVerfahren in Brüssel läuft gerade erst an. Ich habe heuteVormittag noch mit einem Kollegen in Brüssel telefo-niert. Ich glaube, es gab bislang eine vierjährige Vor-arbeit in Kooperationsrunden, und jetzt rechnet mannoch mit anderthalb Jahren Arbeit an diesem Thema.Deswegen haben wir als Bundestag noch ausreichendMöglichkeiten, uns einzubringen.In Ihrem Antrag zum Bundesdatenschutzbeauftrag-ten habe ich nicht so richtig verstanden, warum er nichtunabhängig handeln können soll.
Nach § 22 Abs. 4 Bundesdatenschutzgesetz ist er in derAusübung seines Amtes unabhängig und nur dem Gesetzunterworfen. Freie Stellen können nur im Einvernehmenmit ihm besetzt werden.
– Ja, das muss er vielleicht auch nicht, wenn er grund-sätzlich auf das Personal zugreifen und selbst entschei-den kann, ob es ihm passt oder nicht. Das ist doch keinZeichen fehlender Unabhängigkeit.
– Es ehrt mich ja, dass Sie mich mit dem Bundesdaten-schutzbeauftragten vergleichen, aber meine Aufgabensind glücklicherweise, insbesondere in meinem Büro,andere.Das von Ihnen zitierte Urteil des EuGH ist jedenfallsnicht passend; denn es bezieht sich nur auf die Länder.Es gibt nach meiner Kenntnis jetzt ein Verfahren gegenÖsterreich; vielleicht sollte man das abwarten, damitman konkrete Informationen hat. Es sollten nicht vor-schnell irgendwelche Forderungen aufgestellt werden.Jedenfalls können wir als Parlamentarier im Deut-schen Bundestag doch erst einmal froh und glücklichsein, dass eine so kluge Frau wie die KommissarinReding am 21. März 2012 gesagt hat:Ihr habt bislang den stärksten Datenschutz inEuropa, und das Bundesdatenschutzgesetz hat michbei meiner Arbeit inspiriert.Da muss man doch einmal sagen: Herzlichen Glück-wunsch, Bundesregierung! Alles habt ihr auch nichtfalsch gemacht.
Manches scheint doch ganz gut zu sein. Aber natürlichist es Aufgabe der Opposition, Fehler zu suchen; dasnehmen wir Ihnen auch gar nicht übel.Ich will zum Schluss noch sagen: Wie immer hat dieEU auch ein paar ganz tolle Ideen, zum Beispiel zu Ver-bandsklagerechten. Das findet meine Fraktion nicht sotoll. Es soll derjenige klagen, der in seinen Rechten be-einträchtigt ist.Wir werden also eine spannende Debatte zu spannen-den Themen führen. Aus unserer Sicht müssen dabei im-mer die Selbstverantwortung und auch das Selbstbe-wusstsein der Menschen sowie deren Bereitschaft, sichmit dem Thema auseinanderzusetzen, um künftig medial
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20506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Michael Grosse-Brömer
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sensibler zu sein, berücksichtigt werden. Ich glaube, dasist unser aller Verpflichtung. Das geht in diesem Fallauch einmal ohne Gesetz. Wir haben also noch viel zudiskutieren; und das werden wir auch tun. Es wird span-nend werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Grosse-Brömer. – Jetzt spricht
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Kerstin Tack. Bitte schön, Frau Kollegin Kerstin Tack.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, wenn wir uns über die europäische Verordnung
unterhalten, merken wir an vielen Stellen, dass wir Ge-
meinsamkeiten haben, über die es sich zu reden lohnt.
Wir merken aber auch, dass wir die Verbraucherinnen
und Verbraucher einbeziehen müssen, wenn es um die
Frage geht: „Wo und warum sehen wir Regelungs- und
Handlungsbedarf?“, wenn es darum geht, Verbraucherin-
nen und Verbraucher im Netz zu schützen und den
Datenschutz hier so ernst zu nehmen wie außerhalb der
digitalen Welt. Deshalb diskutieren wir über die Netz-
politik.
Das Internet ist eine der größten Errungenschaften. Es
ist selbstverständlich, dass wir Internet haben. Wir alle
nutzen es regelmäßig. Insbesondere der weltweite Aus-
tausch stellt sich ganz anders dar. Aber – auch das ist
klar – wer sich im Netz bewegt, ist auf der einen Seite
Verbraucher, auf der anderen Seite aber auch Anbieter;
denn er konsumiert auf der einen Seite, aber er handelt
auf der anderen Seite, nämlich mit seinen persönlichen
Daten. Das Zahlungsmittel im Internet, in der digitalen
Welt messen wir nicht in Euro, sondern in der Eingabe
der persönlichen Daten. Die Erkenntnis, dass dies nicht
kostenlos ist, dass ich mit meinen persönlichen Daten,
die ich eingebe, zahle, weil andere ein wirtschaftliches
Interesse daran haben und Vorteile daraus ziehen, muss
reifen. Wir müssen uns klarmachen, warum wir Daten-
schutz im Internet brauchen, der sich am Datenschutz
außerhalb der digitalen Welt misst. Ich mache an drei
Beispielen deutlich, was das bedeuten kann.
Ich fange an mit Paul. Paul ist erst 13 Jahre alt. Er ist,
wie viele seiner Freunde und Mitschüler, in sozialen
Netzwerken. Seine Eltern nehmen das zur Kenntnis und
unterstützen das auch ein Stück weit. Er gibt ganz selbst-
verständlich seine Daten, seinen Namen, seine Adresse
und auch sein Geburtsdatum ein. Er chattet mit Freun-
den. Er lädt Bilder hoch. Er gibt im Netz Kommentare
ab. Das alles macht er ganz selbstverständlich, ohne dass
irgendjemand daran interessiert ist. Wenn er seine Bilder
hochlädt, so lädt er auch Bilder hoch, von denen man sa-
gen würde: Na ja, ob das die Bilder sind, die uns alle in-
teressieren? – Es sind zum Beispiel Fotos, auf denen ge-
rauft wird. Diese Fotos, auf denen er im Netz nicht
immer nur positiv dargestellt wird, können ihm an ande-
rer Stelle aber wieder begegnen. Wenn sich unser Paul
mit 16 Jahren zum Beispiel als Einzelhandelskaufmann
bewirbt, könnte ein potenzieller Arbeitgeber sagen:
„Dich halten wir für charakterlich nicht geeignet“, weil
er sich im Netz über Paul informiert hat. An dieser Stelle
merken wir, dass es möglich sein muss, einmal ins Inter-
net Gestelltes wieder löschen zu können. Würde Paul in
der nicht digitalen Welt seine Fotos seinen Freunden zur
Kenntnis geben und sie in der Schule oder woanders auf-
hängen, könnte er sie wieder abhängen. Das muss auch
im Internet möglich sein. Hier zeigt sich, dass es auf eu-
ropäischer Ebene Handlungsbedarf gibt.
Paul ist 13 Jahre alt und nicht geschäftsfähig.
Frau Kollegin Kerstin Tack, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage?
Ja, bitte schön.
Bitte schön.
Sehr verehrte Kollegin Tack, ich möchte auf Paul zu-
rückkommen.
Gerne.
Ich weiß nicht, ob Sie wirklich mit Paul gesprochenhaben oder ihn sich ausgedacht haben. Ich habe mit Re-alschulklassen aus meinem Wahlkreis gesprochen. Dassind 13-, 14-jährige Schüler. Ich muss sagen: Entgegenmeiner Erwartung war ich höchst überrascht, dass dieseRealschüler zu 80 bis 85 Prozent ihre Facebook-Profilegesichert hatten. Ich jedenfalls konnte nicht darauf zu-greifen. Es gibt also durchaus ein Bewusstsein dafür, wieman mit dem Datenschutz umgeht. Ich weiß nicht, werPaul ist; ich kenne ihn nicht. Aber vielleicht kennen Sieihn. Haben Sie das einmal überprüft? Meine Erfahrungjedenfalls ist eine andere.Sie fordern, es solle im Internet die Möglichkeit ge-ben, die Bilder wieder zurückzuholen, so wie in der ana-logen Welt, wenn man Bilder in der Schule verteilt hat.Ich weiß nicht, wo Sie zur Schule gegangen sind; aberich weiß, dass sich Peinlichkeiten, die man sich in deranalogen Welt geleistet hat – ich möchte keine Beispielenennen; aber Sie können sich vielleicht Peinlichkeiteneines Jugendlichen bei einem Dorffest vorstellen –, nichtrückgängig machen lassen. Darüber wird noch nach20 Jahren geredet. Wie wollen Sie es in der digitalenWelt überhaupt technisch realisieren, Dinge, die einmaleingestellt wurden, wieder zurückzunehmen? Bilder, dieSie einmal in der Schule verteilt haben, bekommen Sieauch nicht mehr zurück. Ich finde das, was Sie hier vor-tragen, völlig lebensfremd.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20507
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. Ich glaube, an dieser
Stelle merken wir, wie hoch die Anforderungen sein
müssen, die wir an den Datenschutz stellen. Das gilt vor
allem im Hinblick darauf, wie schnell sich die Daten-
schutzbestimmungen und die Einstellungen in den sozia-
len Netzwerken verändern. Man hat es nämlich zum Ziel
des wirtschaftlichen Interesses gemacht, zu sagen: Die
Einstellungen für einen gesicherten Datenschutz im Netz
werden ständig geändert. Es gehört zum Geschäftsmo-
dell, bei den Schutzbestimmungen immer wieder Verän-
derungen herbeizuführen. Man will die Schnelllebigkeit
im Netz nutzen, sodass die jungen Leute und alle ande-
ren dies nicht mitbekommen. Das ist doch reines Ge-
schäftsinteresse. Hier gilt es eine Schutzfunktion einzu-
bauen. Darum wollen wir im Datenschutz Regelungen
einführen, die über die Haltung „Wenn ihr euch selber
nicht genügend informiert, dann seid ihr eben schutzlos“
hinausgehen.
Lassen Sie mich fortfahren.
Auch und insbesondere für die ältere Generation sind
folgende Fragen wichtig: Wie schützen wir im Netz?
Wie kann man erreichen, dass jeder ein eigenes Interesse
an seinen Zugängen entwickelt? Wie schaffen wir es, die
Verbraucherinnen und Verbraucher im Hinblick auf die
Einwilligungsvorbehalte über nötige und einzuhaltende
Schutzfunktionen zu informieren, bevor mit ihren Daten
gearbeitet wird? – Die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher müssen wissen, welche Daten von ihnen erhoben
werden und was mit ihren Daten geschieht. Darüber
müssen sie von vornherein eine klare Vorstellung haben,
und dem müssen sie auch zugestimmt haben. Sie dürfen
sich nicht darauf verlassen, dass die Schutzbestimmun-
gen schon ausreichen und die Daten nicht missbräuch-
lich verwendet werden.
Insbesondere wenn es um das Ausspionieren des
Surfverhaltens von Verbraucherinnen und Verbrauchern
geht, ist es wichtig, dass die Bundesregierung die
EU-Cookie-Richtlinie in nationales Recht umsetzt; das
wurde bereits mehrfach angesprochen. Wir wollen die-
sen Schutz; er muss klar und deutlich umgesetzt werden.
Ich komme zum Schluss. Wenn es um die Daten im
Internet geht, die als Wirtschaftsgut gelten, ist ein Ver-
braucherschutz mit entsprechenden Informationen, mit
Transparenz und mit einer Kontrolle sämtlicher Vor-
gänge im Internet unabdingbar. Diesen Schutzgedanken
müssen wir auf europäischer Ebene regeln; das ist ganz
klar. Aber auch auf nationaler Ebene müssen wir unsere
Regelungskompetenzen ernst nehmen und, soweit erfor-
derlich, die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen er-
greifen.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Tack. – Nächste
Rednerin für die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin
Gisela Piltz. Bitte schön, Frau Kollegin Gisela Piltz.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ich denke, es ist klar, was jetzt kommt, nach denReden von Herrn von Notz und von Herrn Reichenbach.
– Danke. Warum sagt ihr es denn nicht selber? – Ichhabe einmal den Koalitionsvertrag von 1998 mitge-bracht. Darin findet sich kein einziges Wort zum Daten-schutz. Dort steht aber:Wir setzen uns in der EU zur Stärkung der InnerenSicherheit und zur Gewährleistung der Bürger-rechte folgende Ziele:Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusam-menarbeit bei der Verbrechensbekämpfung sowieAusbau von Europol unter Gewährleistung der ge-richtlichen Kontrolle und der Befassungsrechte desEuropäischen Parlaments.Datenaustausch schon; aber Datenschutz hatten Sie nichtauf dem Schirm.
Im Koalitionsvertrag 2002 – das ist noch gar nicht solange her –
stand Folgendes:Wir werden das Datenschutzrecht auf der Grund-lage der Vorarbeiten der 14. Legislatur umfassendreformieren.Darauf warten wir bei Ihnen bis heute.Der Schutz der Daten der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer wird erstmals in einem eigenen Ge-setz verankert.Das hören Herr Frieser und ich besonders gerne. Herzli-chen Glückwunsch, Herr Kollege!
– In der Realität haben Sie nichts gemacht; wir arbeitenwenigstens daran. Das unterscheidet uns.
Weil es so schön ist: Es gab ein Terrorismusbekämp-fungsgesetz, ein Finanzmarktförderungsgesetz, einGKV-Modernisierungsgesetz, ein Gesetz zur Änderung
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Gisela Piltz
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des Bundesgrenzschutzgesetzes, ein Steueränderungsge-setz, ein Telekommunikationsgesetz, ein EU-Passagier-datenabkommen und ein Gesetz zur Neuregelung vonLuftsicherheitsaufgaben. All das sind Regelungen ausIhrer Zeit, bei denen Sie sich nicht um den Datenschutzgekümmert haben. Wir brauchen von Ihnen keine Beleh-rung.
Wenn wir hier und heute über einen europäischenRechtsrahmen für den Datenschutz reden, geht es im Er-gebnis um nicht mehr und nicht weniger als die nahezuvollständige Ersetzung, das heißt Außerkraftsetzung, desnationalen Datenschutzrechtes. Entsprechend sorgfältigsollten wir alle uns mit den Entwürfen beschäftigen.
– Hören Sie auf, zu blöken. – Zunächst ist es gut undrichtig, dass die Ansätze der Kommission mehr sind alseine Lex Google oder eine Lex Facebook. Es geht umeine harmonisierte Rechtsordnung im gesamten Binnen-markt und damit auch außerhalb der virtuellen Welt. Dasmuss man sehen; denn wir reden hier nur über die virtu-elle Welt. Es geht um allgemein verbindliche Rechte fürdie Betroffenen und um einheitliche Spielregeln fürsämtliche Branchen. Wir alle wissen: Manches, was füruns ein kleiner Schritt ist – ich spreche in diesem Zu-sammenhang zum Beispiel vom Datenschutzbeauftrag-ten –, ist ein großer Schritt für Europa. Das sollten wirnie vergessen.Die uns vorliegenden Anträge sind eine ordentlicheDiskussionsgrundlage. Wir freuen uns, dass damit end-gültig die Modernisierung des Datenschutzrechtes ange-stoßen wird.
Wir finden die holzschnittartigen Vorwürfe, die Sie unsimmer machen, nicht ganz passend, weil sie nicht derSache dienen.Wir haben natürlich auch Kritik; das ist klar. Vor al-lem im nicht öffentlichen Bereich sollte sich eine unmit-telbar wirkende Verordnung und der damit verbundenehohe Grad der Harmonisierung sowohl auf alle Unions-bürger als auch auf die datenverarbeitende Wirtschaftpositiv auswirken, dies vor allem deshalb, weil künftigauch solche Unternehmen vom Rechtsregime der EU er-fasst werden, die ihren Sitz nicht in der EU haben; da-rauf ist schon hingewiesen worden. Ein hoher Harmoni-sierungsgrad darf auf der anderen Seite nicht dazuführen, dass das hohe deutsche Datenschutzniveau un-terschritten wird; darauf werden wir sehr sorgfältig ach-ten.Es geht hier um Grundrechtseingriffe. Da muss manganz klar sagen – das war bei einigen von Ihnen nicht soganz klar –: Es geht im Verhältnis zwischen den Betrof-fenen und den verantwortlichen nicht öffentlichen Stel-len vor allen Dingen um die Betätigung und Ausübungvon Grundrechten. Nach unserer Einschätzung muss dasnoch klarer herausgearbeitet werden. Das fehlt uns inden Anträgen.Ich wende mich an die Kollegen von den Grünen. Ausunserer Sicht lässt sich bei Ihren Vorschlägen ein auffäl-liges Missverhältnis zulasten des Datenschutzes bei derpolizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit erkennen.Zu den Vorstellungen der Europäischen Kommission,wie der Schutz der Bürgerrechte gerade in diesem sen-siblen Bereich in Zukunft ausgestaltet sein soll, sagenSie gar nichts; aber das wundert einen nicht wirklich.Am Ende haben auch wir noch viele Kritikpunkte. Ei-nige sind hier schon, verstreut über alle Reden, genanntworden. Auch wenn man sich mit der europäischen Sa-che beschäftigt, gibt es noch viele Kritikpunkte. So stelltsich etwa die Frage, ab welcher Größe der Unternehmenes Datenschutzbeauftragte geben sollte. Die Tatsache,dass dort 45 Rechtsetzungsakte vorgesehen sind, kannman als stolzer Parlamentarier nicht hinnehmen. Wirwerden uns darum kümmern müssen, dass viele Sachennicht direkt geregelt werden. Die Fragen, wie wir dasBußgeld, das Verbandsklagerecht und die Altersgrenzeregeln, sind angesprochen worden.Frau Kollegin Tack, ich wundere mich schon, dassSie für die SPD eine nicht gegenderte Rede halten undnur von Paul reden dürfen. Bei uns müsste man schonvon Paul und Paula sprechen.
Wenn Sie schon das Beispiel des 13-jährigen Paul nen-nen, dann hätte ich mir schon – das hätte ich mir ge-wünscht – eine Äußerung zu der Altersgrenze auf euro-päischer Ebene gewünscht. Denn es ist aus unserer Sichtnicht hinzunehmen, dass das total undifferenziert ist.
– Ja, der erwähnte Paul war 13. Wir wissen immer nochnicht, ob es ihn gibt. Wir würden ihn gerne kennenler-nen. – Wir werden sicherlich alle gemeinsam daran ar-beiten, dass der Datenschutz in Europa und damit inDeutschland noch besser wird.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Gisela Piltz. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Stephan Mayer. Bitte schön,
Kollege Stephan Mayer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Das EU-Datenschutzrecht
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Stephan Mayer
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ist in die Jahre gekommen. Die noch heute gültige EU-Datenschutzrichtlinie stammt aus dem Jahr 1995, ist also17 Jahre alt. Das bedeutet Lichtjahre im Bereich des Da-tenschutzes,
gerade angesichts der rasanten Entwicklung im Bereichder Informations- und Kommunikationstechnologie.Deshalb begrüßen wir grundsätzlich das Tätigwerdender EU-Kommission in diesem Bereich. Die EU-Kom-missarin und Vizepräsidentin der EU-Kommission,Viviane Reding, hat am 25. Januar 2012 zwei Rechtset-zungsvorschläge für eine neue Datenschutz-Grundver-ordnung und für eine Datenschutzrichtlinie unterbreitet.Was mich wundert, gerade in Bezug auf die drei An-träge der Grünen, die wir heute debattieren: Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie ge-hen schon sehr zaghaft und sehr zögerlich in Ihrer Kritikgegenüber diesen beiden Rechtsetzungsakten vor.
Ansonsten sind Sie mit Kritik gegenüber der Regie-rungsseite auf Bundes-, Landes- oder auf europäischerEbene nicht so zurückhaltend. Ich muss sagen: Ihre An-träge sind insoweit schon reichlich armselig.
Was mich ebenfalls wundert – auch das muss ich ganzoffen gestehen –, ist, dass Ihren Anträgen eine unheimli-che Regulierungshörigkeit innewohnt, eine Staatsgläu-bigkeit, die Ihnen an sich sonst eher fremd ist. Aberoffenbar sind das die neuen Grünen, die lieber auf Regu-lierung und gesetzgeberisches Handeln als auf Selbstver-pflichtungen oder auf die Eigenverantwortung der Bür-ger setzen.
Bei aller Grundsympathie gegenüber diesen beidenRechtsetzungsvorschlägen der EU-Kommission bleibenmeines Erachtens doch deutliche Kritikpunkte an denbeiden Vorschlägen. Es ist gut, dass wir uns mit diesenbeiden Vorschlägen frühzeitig befassen. Es wird mit Si-cherheit noch 18 Monate dauern, bis die beiden Vor-schläge letzten Endes Gesetzeskraft erlangen werden.Aber gerade bei EU-Rechtsetzungsakten kann man sichaus meiner Sicht als nationales Parlament gar nicht frühgenug zu Wort melden.
Deswegen begrüße ich grundsätzlich die heutige De-batte.Ich möchte deutlich betonen, dass es meines Erach-tens sehr berechtigte und stichhaltige Gründe gibt, dasssich der Bundesrat heute mit zwei Subsidiaritätsrügen zuWort meldet. Sehr geehrter Herr Landesminister Hahn,ich darf Ihnen stellvertretend für den Bundesrat ganzherzlich dafür danken, dass Sie sich dieses Themas an-nehmen, weil die beiden Rechtsetzungsakte die durchausberechtigte Frage aufwerfen, inwieweit hier nicht dieKompetenz, die Rechtsetzungshoheit der nationalenMitgliedsländer betroffen ist; andersherum gefragt, obdie Europäische Union nicht teilweise Gesetzgebungs-kompetenzen an sich zieht, die ihr an sich gar nicht zu-gemessen sind.Ich meine vor allem den Bereich der polizeilichenund justiziellen Zusammenarbeit. Aus meiner Sicht gehtes die EU-Kommission und auch die europäische Ge-setzgebung nichts an, wenn Daten von einer Polizei-inspektion in Bad Reichenhall an eine andere Polizei-inspektion nach Altötting übertragen werden. Ich sehedie ganz konkrete Gefahr, dass unser bewährtes deut-sches Strafprozessrecht durch diesen Vorschlag im Be-reich der Datenschutzrichtlinie ausgehöhlt wird.In der Datenschutzrichtlinie werden umfangreicheVorgaben für die Führung von Verfahrensakten, für Er-mittlungsmaßnahmen unter der Verwendung besondererKategorien von personenbezogenen Daten sowie für dieAkteneinsicht und die Auskunftserteilung gemacht. Diesist alles sehr sauber und sehr ordentlich im Strafprozess-recht in Deutschland geregelt und bedarf keiner europäi-schen Regulierung. Die Argumentation der Kommissionist: Es kann ja einmal sein, dass Daten, die von Polizei-behörden erhoben werden, grenzüberschreitend weiter-gegeben werden. – Ich sage ganz offen: Dies ist aus mei-ner Sicht eine zu kurz greifende und zu kurz springendeArgumentation, weil die überwiegende Mehrheit der Da-ten, gerade im polizeilichen Bereich, die Landes- undBundesgrenzen nicht verlässt. Über die Hintertür, dasabstrakt und rein hypothetisch die Möglichkeit besteht,dass irgendwann einmal eine Weitergabe der Daten anausländische Polizeibehörden erfolgt, eine Gesetzge-bungskompetenz der Europäischen Union zu begründen,halte ich für verfehlt.
Auch die Datenschutz-Grundverordnung begegnetaus meiner Sicht großen Bedenken. Ich habe grundsätz-lich Verständnis für den Wunsch der Wirtschaft nacheinheitlichen Datenschutzstandards in der gesamtenEuropäischen Union; dagegen ist zunächst überhauptnichts einzuwenden. Ich sage ganz offen: Davon werdendie Verbraucherinnen und Verbraucher profitieren, weilauch die jetzige Regelung nicht zielführend ist, da sichmanche Unternehmen – ein Fall ist heute schon genanntworden – als Sitzland das Land aussuchen, das die ge-ringsten Datenschutzstandards aufweist.
Insoweit ist es richtig, dass wir ein einheitliches Grund-niveau in Europa schaffen. Es muss nur verhindert wer-
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den, dass damit die sehr hohen deutschen Datenschutz-standards ausgehöhlt werden.
Es ist schon mehrmals auf die Aussage der EU-Kom-missarin Reding hingewiesen worden, die in der Wo-chenzeitung Die Zeit vom 21. März ganz deutlich betonthat, dass das deutsche Datenschutzrecht mit das beste in-nerhalb der Europäischen Union ist.
Das ist ein Ritterschlag für Deutschland. Ich kann denVorwürfen vonseiten der Opposition nur entgegnen: Las-sen Sie die Fakten sprechen und vor allem die profiliertezuständige EU-Kommissarin!
Wenn sie der Auffassung ist, dass wir in Deutschland ei-nen hohen Datenschutzstandard haben, dann sollte mandies sehr wohlwollend und anerkennend zur Kenntnisnehmen.Ich nehme ebenfalls sehr anerkennend und positiv zurKenntnis, dass der Verordnungsentwurf der Kommissa-rin vorsieht, dass der Strafrahmen für Bußgelder deutlicherhöht wird. Das in Deutschland derzeit maximal festzu-stellende Bußgeld von 300 000 Euro schreckt großeKonzerne wie Microsoft oder Google nicht ab. Es istdeshalb richtig, dass der Bußgeldrahmen auf 5,6 Millio-nen Euro erhöht wird.Das vorgesehene Kohärenzverfahren hingegen seheich sehr kritisch. Aus meiner Sicht begegnet es großenverfassungsrechtlichen Bedenken. Ich teile die Auffas-sung der Datenschutzbeauftragten des Bundes und derLänder, die in ihrer Entschließung vom 21. und 22. Märzdieses Jahres deutliche Kritik am vorgesehenen Kohä-renzverfahren geübt haben; denn mit dem Kohärenzver-fahren wird die Unabhängigkeit der Datenschutzbeauf-tragten deutlich beeinträchtigt. Die EU-Kommissionschriebt sich ein Selbsteintrittsrecht zu, was im End-effekt bedeutet, dass die Befugnisse nationaler Daten-schutzbehörden ausgehöhlt werden, dass die Entschei-dungen von nationalen Datenschutzbehörden bis zueinem Zeitraum von zwölf Wochen sogar suspendiertwerden können und die EU-Kommission sich an dieStelle der nationalen Datenschutzbehörden setzt. Das istmeines Erachtens mit deutschem Recht, vor allem mitdeutschem Verfassungsrecht, nicht in Einklang zu brin-gen.Aus meiner Sicht ist ebenso kritisch zu sehen, dassder Verordnungsentwurf insgesamt knapp 50 Verord-nungsermächtigungen für die EU-Kommission beinhal-tet. Wir sollten unserem Selbstbewusstsein als nationalesParlament entsprechend die Auffassung vertreten, dassdie Grundzüge, die wesentlichen Inhalte des Daten-schutzrechts entweder von den Mitgliedstaaten oder inder Verordnung selbst geregelt werden, aber nicht imWege von Ermächtigungen, weil dann der Kommissiondie Möglichkeit gegeben wird, eigenmächtig, ohne jegli-che demokratische Rückkopplung Änderungen in dasDatenschutzrecht zu implementieren.
Ich möchte auf einen sehr wesentlichen Punkt zurück-kommen. Wir haben in Deutschland bereits ein qualitativhochwertiges Datenschutzrecht. Deswegen erfreut esmich, dass die EU-Kommission die Bedeutung von be-trieblichen Datenschutzbeauftragten grundsätzlich aner-kennt. Ich möchte aber kritisch hinterfragen, dass dieEU-Kommission die Einsetzung von betrieblichen Da-tenschutzbeauftragten erst ab einer Mitarbeiterzahl von250 pro Unternehmen verbindlich vorsieht.
Es muss im Zuge von Öffnungsklauseln die Möglichkeitgeben, dass die in Deutschland bewährte Regelung, dassschon ab einer Mitarbeiterzahl von 10 ein betrieblicherDatenschutzbeauftragter vorgesehen ist, weiterhin inKraft bleiben kann.Der Programmsatz, der im Verordnungsentwurf steht,dass es ein „Recht auf Vergessenwerden“ gibt, ist wun-derschön. Das Problem ist nur, dass das derzeit technischnicht umsetzbar ist: Den digitalen Radiergummi gibt esnicht. Nach dem Ermessen von Fachleuten, von ausge-wiesenen Experten, wird dies auch in absehbarer Zeitnicht möglich sein. Deswegen sollte man ein großes Fra-gezeichen hinter dieses „Recht auf Vergessenwerden“setzen. Es ist zwar schön gemeint, aber meines Erach-tens nicht gut gemacht.
Das Verbandsklagerecht ist schon angesprochen wor-den.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wieschon erwähnt: Es ist gut, dass wir uns frühzeitig mit denbeiden Rechtsetzungsakten auseinandersetzen. Wir wer-den mit Sicherheit in den nächsten Monaten bei unter-schiedlichen Gelegenheiten noch die Möglichkeit dazuhaben.Den drei Anträgen, die heute zur Abstimmung stehenund die seitens der Grünen gestellt worden sind, kannnur in aller Deutlichkeit die Zustimmung verweigertwerden.Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Aufmerksam-keit.
Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. – Nächste Red-nerin ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsereKollegin Frau Kirsten Lühmann. Bitte schön, Frau Kol-legin.
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Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Sehr verehrte Gäste! Eine junge Frau stellt ein freizügi-
ges Foto von sich selbst in ein soziales Netzwerk und
findet es auf einer privaten Sexseite wieder, deren Server
in Russland steht. Sie wird ihre Rechte genauso wenig
geltend machen können wie das Opfer des Einbruch-
diebstahls aus Reutlingen, das bei Facebook Hinweise
auf den Täter vermutete. Der Server stand in den USA.
Die Hinweise konnten nicht erlangt werden.
Wir reden heute hier sehr viel über Deutschland und
die EU. Die beiden Beispiele zeigen, dass eine Forde-
rung aus dem Antrag, den wir heute debattieren, nämlich
neben den Regelungen für Deutschland und die EU und
auch den Schutz der Rechte von Bürgerinnen und Bür-
gern gegenüber Drittstaaten zu sichern, von drängender
Bedeutung ist.
Das Internet hat erreicht, was die Politik noch nicht
geschafft hat – daran arbeiten wir –, nämlich eine welt-
weite Gemeinschaft, Stärkung und Fortschritt durch Dis-
kussionen in allen Bereichen der Gesellschaft. Aber ne-
ben den Chancen dieser Gesellschaft ohne Grenzen gibt
es natürlich auch Möglichkeiten für unerwünschtes Ver-
halten. Wir alle sind uns einig: Regeln sind nötig. Aber
die Frage ist: Wer stellt diese Regeln in einem weltwei-
ten Netz auf, und wie werden diese Regeln dann durch-
gesetzt?
Dieses Thema ist nicht neu. Die EU und die USA ha-
ben bereits im Jahr 2000 das Safe-Harbor-Abkommen
getroffen. Dabei geht es um die Speicherung von perso-
nenbezogenen Daten. Aber auch da ist die Frage der
Sanktionierung noch unklar. Der G-8-Gipfel hat sich im
letzten Jahr des Themas angenommen. Präsident
Sarkozy forderte die „Zivilisierung des Netzes“ mit ent-
sprechenden Eingriffen. Attac merkte dazu an, der Fokus
liege bei dieser Forderung wohl einseitig auf der Wirt-
schaft, und von der Freiheit sei wenig die Rede. Wenn
ich mir die Worte unseres Staatssekretärs Schröder von
vorhin vor Augen halte, dann muss ich sagen, dass das
zu stimmen scheint.
Der UN-Sonderberichterstatter hat im Juni 2011 zu
der Frage der Informations- und Meinungsfreiheit fest-
gestellt: Es gibt deutliche Unterschiede zwischen den
konventionellen Medien und dem Netz. Wir müssen auf-
passen, dass wir die Freiheitsrechte sicherstellen. – Da
stellt sich mir jetzt die Frage: Wo bleibt eigentlich die
Bundesregierung in dieser Debatte?
– Genau, das ist eine gute Frage. – Bei der Antwort habe
ich etwas gefunden. Die Kanzlerin nimmt Stellung.
Beim G-8-Gipfel hat sie Stellung genommen, aber weni-
ger zu den Einschränkungsplänen des französischen Prä-
sidenten, sondern ihr wichtiges Thema bei den interna-
tionalen Verhandlungen war: schnelles Internet. Bei der
UNO hat Deutschland den Bericht noch nicht einmal un-
terzeichnet.
Das heißt, bei einer elementaren Zukunftsfrage, nämlich:
„Wie wollen wir unsere Gesellschaft organisieren?“, ist
diese Bundesregierung abgetaucht. Das finde ich un-
glaublich.
Dabei gibt es doch Beispiele: Im internationalen
Flugverkehr haben wir die ICAO, im internationalen
Schiffsverkehr haben wir die IMO. Das heißt, gemein-
sam mit allen wurden Regeln festgelegt, die für alle ver-
bindlich sind. Nun weiß auch ich, dass man diese beiden
Organisationen nicht eins zu eins auf das Netz übertra-
gen kann. Aber wir haben doch eine Richtung, wohin es
gehen kann. Die Richtung heißt nicht binationale Ver-
träge. Die Richtung heißt auch nicht G 8. Die Richtung
heißt weltweite Standards. Gerade für Deutschland als
Hochtechnologieland sind Freiheit und Sicherheit im
Netz sowohl für die Wirtschaft als auch für die Zivilge-
sellschaft elementar wichtig. Und was hören wir dazu
von der Bundesregierung? Dröhnendes Schweigen,
meine Herren und Damen. Reden Sie endlich, Frau
Merkel!
Die Menschen in diesem Land haben ein Recht darauf,
dass sich die Regierung hier für ihre Interessen einsetzt.
Danke schön.
Wir danken Ihnen, Frau Kollegin. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Sebastian Blumenthal. Bitte schön, Kollege
Sebastian Blumenthal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenjetzt schon einige Debattenbeiträge zu den Anträgen ge-hört, die Sie von Bündnis 90/Die Grünen uns hier vorge-legt haben. Ich möchte in meinem Beitrag auf den Antragvon Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8161 ein-gehen. Das ist der Antrag zu Datenschutz und Verbrau-cherschutz in sozialen Netzwerken.Lieber Herr Kollege von Notz, wir stimmen mit Si-cherheit in vielen Punkten überein, gerade wenn es da-rum geht, darauf hinzuweisen, dass die bestehenden Da-tenschutzgesetze von den Dienstebetreibern, namentlichFacebook und Google, nicht immer vorbildlich eingehal-ten wurden. Das eint uns. Gleichwohl sind in Ihrem An-trag auch einige Punkte aufgeführt, zu denen ich, wie sohäufig, sagen muss: Die Arbeit ist im Detail nicht ganzgelungen.
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Sebastian Blumenthal
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Darauf möchte ich im Folgenden gezielt eingehen.Sie fordern die Bundesregierung und die Regierungs-fraktionen auf, sich offensiver mit dem Thema zu be-schäftigen. Genau das findet statt. Herr von Notz, Siewaren selbst dabei. Wir haben uns im UnterausschussNeue Medien mehrfach mit Google und Facebook aus-einandergesetzt, unter Beteiligung des Bundesinnen-ministeriums und des Verbraucherministeriums.
Die handelnden Akteure waren dort vertreten und habenihre Position dargestellt.
– Gut, dass Sie danach fragen. – Wir haben dort einenErfolg erzielt. Sie erinnern sich, dass der DienstGoogle+, ein Konkurrent von Facebook im Bereich so-zialer Netzwerke, im letzten Jahr versucht hat, die Ver-wendung von Pseudonymen bei der Nutzung des Diens-tes nicht zuzulassen. Das war ein klarer Verstoß gegendas Telemediengesetz in Deutschland. Wir habenGoogle+ in der Sitzung des Unterausschusses mit die-sem Umstand konfrontiert. Wir haben schon vorherDruck ausgeübt. Es gab offene Briefe, auch von Parla-mentariern; Sie waren mit dabei. In der Sitzung des Un-terausschusses Neue Medien hat Google+ klargestellt,dass das offensichtlich dann doch ein Versehen war. DiePseudonyme dürfen wieder verwendet werden. DieRechtskonformität mit dem Telemediengesetz wurdehergestellt.
Hier den Eindruck zu erwecken, man schaue einfach nurzu und tue nichts, ist nicht zielführend. Das Gegenteil istder Fall, und das können wir mit Fakten belegen.Ich möchte nun auf Punkt III.4 Ihres Antrags einge-hen. Sie möchten gesetzlich regeln, dass Maßnahmen zuergreifen sind, „die grundsätzlich die Auslesbarkeit vonProfilen und nutzergenerierten Inhalten durch Suchma-schinen ausschließen“. Wer die Souveränität und dieEntscheidungsfreiheit von Nutzern ernst nimmt, kann soetwas auf gar keinen Fall gesetzlich regeln wollen. Icherinnere daran, dass zum Beispiel das BusinessnetzwerkXing die Möglichkeit bietet, dass sich Nutzer zumZweck der Jobsuche mit ihren eigenen Profilen darstel-len. Diese Menschen machen das ganz bewusst. Siepublizieren dort ganz bewusst ihre Skillprofile, also ihreFähigkeitsprofile, um über die Suchmaschine entspre-chend gefunden zu werden. Deswegen geben sie Stich-worte ein, die auf Branchenschwerpunkte hinweisenoder auf besondere Fähigkeiten, zum Beispiel im Be-reich Softwareentwicklung und Programmierung.
Gesetzlich regeln zu wollen, dass das nicht mehr passie-ren darf, dass Suchmaschinen das nicht mehr auslesendürfen, widerspricht komplett den Gedanken von Wahl-freiheit und Nutzersouveränität. Dafür stehen wir vonder Fraktion der Freien Demokratischen Partei unbe-dingt.Es gibt trotz vieler Gemeinsamkeiten also guteGründe, Ihren Antrag abzulehnen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Sebastian Blumenthal. – Letz-
ter Redner in unserer Aussprache ist das heutige Ge-
burtstagskind, Michael Frieser, dem schon mehrfach
gratuliert worden ist. Auch ich gratuliere ihm. Vielleicht
klatschen wir jetzt Beifall, weil sich jetzt vermutlich alle
Fraktionen dem Beifall anschließen können.
Man weiß nie, wie das am Ende einer Rede ist.
Bitte schön, Kollege Michael Frieser.
Sogenannter Akontoapplaus tut immer gut. Vielen
Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Es ist ein schöner Tag, auch um über den
Datenschutz zu reden. Dann bekomme ich von den Grü-
nen auch noch drei Anträge, die ich nun zusammenfas-
send würdigen darf. Das ist ein wunderschönes Paket,
aber es ist vieles dabei, was uns nicht ganz neu ist. Aber
so ist das nun einmal mit Geschenken. Wann schaut man
sie sich schon genau an? Wir freuen uns trotzdem da-
rüber. Ein schönes Schleifchen gehört auch dazu: Zur
Stunde berät der Bundesrat bei der Subsidiaritätsrüge
über genau diese Frage.
Der letzte Redner hat immer das Problem, dass vieles
schon gesagt wurde. Ich versuche, es zusammenzufas-
sen.
Man muss die Redezeit natürlich nicht ganz ausnut-
zen.
Ich wollte gerade sagen: Wenn mich das Präsidiumnicht unterbricht, könnte ich die geplante Redezeit sogarunterbieten.
Ich möchte deutlich machen, dass es einen wirklichenKonsens gibt: Es ist wichtig, dass sich Europa endlichmit der Frage einer EU-Datenschutzrichtlinie, soweit es
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Michael Frieser
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Recht und Justiz betrifft, und einer entsprechenden Ver-ordnung, soweit es im weitesten Sinne die privaten Da-ten betrifft, befasst. Wenn wir uns die Zahlen in Europaanschauen, sehen wir, dass immer noch drei Viertel derMenschen ihr Verhältnis zum Thema Daten und Datensi-cherheit zumindest als gestört ansehen. In Deutschlandsind es über 80 Prozent. Deshalb ist es nicht nur geboten,dass wir uns dieser Frage intensiv stellen, sondern auch,dass wir die Tatsache aufnehmen und uns mit der Frage,wie man dieses Thema europaweit regeln sollte, aus-einandersetzen. Es ist keine Häresie und keine Majes-tätsbeleidigung, wenn man sagt, dass das, was vorgelegtwurde, noch nicht ganz dem entspricht, was wir wollen.Wir haben eine Harmonisierung des Datenschutzes undder Planungssicherheit auf europäischer Ebene erwartet.Das sind die grundlegenden Ziele. Von diesen sind wirnoch etwas entfernt.Ich darf sagen, dass ich von der heutigen Debatte et-was überrascht bin. Die Regelungswut, die uns hier von-seiten der Grünen entgegenschlägt – sie wird zumindestvon den Linken akkompagniert –, hat mich etwas über-rascht.
Herr Kollege, ich bin gespannt, welche Reaktionen vonder Netzcommunity kommen, wenn sie Kenntnis davonerlangt, welche Grenzen im Einzelnen gesetzt werdensollen und welche Einzelbestimmungen die Grünen for-dern.
Wir wollen – das ist der Punkt –, dass nicht nur dieRegelungen an sich betrachtet werden. Wir haben vor al-lem die Sorge, dass es auf diesem sehr hohen Abstrak-tionsniveau zu einer Vollharmonisierung kommt. Wassind die Gefahren? Die Gefahren sind alle schon hin-länglich angesprochen worden. Deshalb möchte ich sienicht noch einmal benennen. Das Problem der Niveau-absenkung scheint mir das entscheidende zu sein. Inso-fern sind alle politischen Kräfte aufgefordert, wenn sieEinfluss im Europäischen Parlament haben, darauf hin-zuwirken, dass man sich nicht auf dem niedrigstmögli-chen Niveau einigt. Das kann nicht unser gemeinsamesZiel sein.
Es bedarf auch noch der Konkretisierung. Das hat dieKommission anscheinend selbst erkannt. Sie hat inso-fern einen Hilfsmodus eingenommen und gesagt: Das,worauf wir uns jetzt nicht einigen können, werden wir ir-gendwann einmal regeln. Gerade deshalb sind wir in derUnion bereit, die inhaltlichen Bedenken der derzeitigenSubsidiaritätsrüge zu teilen.Ich darf zu dem Thema der personenbezogenen Datensagen, dass es wichtig ist, dass wir nicht alle Daten, diewir sammeln, dem gleichen Schutzkatalog – ich sprechenoch nicht einmal von Schutzniveau – unterwerfen. Esist ein Unterschied, ob Daten zwischen Privaten ohnejegliches wirtschaftliches Interesse gesammelt werdenoder ob private Daten mit einem kommerziellen Gedan-ken, aufgrund wirtschaftlicher Interessen, oder von öf-fentlichen Verwaltungen und staatlichen Behörden erho-ben werden. Das sind unterschiedliche Risikosphären,die unterschiedlich behandelt werden müssen. Hier müs-sen wir feststellen, dass in der vorgelegten Verordnungnoch Nachholbedarf besteht.Ich komme zum zweiten wesentlichen Punkt; ichmöchte mich ja in meiner Rede auf wenige Punkte be-schränken. Die Delegated and Implementing Acts sindtatsächlich wichtig. Wenn man sich vorstellt, dass es bei45 von 91 vorgelegten Artikeln eine Ermächtigungs-grundlage für die EU geben soll, dann erweckt das denAnschein, dass sich hier unterschiedliche Bereiche in-nerhalb der Kommission nicht ganz einigen konnten,was man am Ende des Tages wirklich regeln kann undregeln will. Deshalb muss ich sagen: Über diese Formvon nichtkontrollierbarer selbstgewählter Eigenmachtder Kommission würde ich gerne näher informiert wer-den, bevor ich einer solchen Verordnung zustimme. Ichglaube, an dieser Stelle ist es deshalb nicht zu viel ver-langt, wenn man versucht, etwas nachzubessern.Es wird Sie nicht irritieren, dass wir beim Thema Be-schäftigtendatenschutz hängen bleiben. Als Berichterstat-ter nehme ich mir heraus, noch ein Beispiel zu nennen. Ei-niges wird durch die EU vielleicht etwas überorganisiert.Aber eines hat sie nicht geregelt. Wir finden in der ge-samten Verordnung nichts zum Thema Konzernprivileg.Dabei geht es um Daten, die innerhalb eines europäisch,international organisierten Konzerns – derer haben wir janun wirklich viele – von einem Sitz an einen anderenweitergegeben werden. Hier waren wir uns hinsichtlichdes Schutzniveaus relativ einig. Es soll erst einmal einenErlaubnistatbestand geben, das heißt, Daten dürfen über-mittelt werden, aber beim Empfänger müssen alle An-forderungen an den Datenschutz erfüllt werden.
Diese Frage ist im Augenblick noch nicht geregelt.Ich kann nur sagen: Wir sollten in der Debatte nichtversuchen, das alte Klischee zu bedienen, dass der Staat,dass Europa versucht, Daten zu sammeln, wo immer esgeht. Vielmehr sollten wir versuchen, bei dieser Frageernst zu bleiben. Wir müssen das Datenschutzniveau sohoch halten, wie es irgend geht. Vor allem müssen wirGrenzen setzen, wenn es um sogenannte Datenmilliar-däre geht, also um Unternehmen, die so viele Daten sam-meln, dass sie gar nicht mehr wissen, wohin damit.Letztendlich haben wir unsere Arbeit dann richtig getan,wenn wir den Datenschutz auf unserem, dem deutschenNiveau gehalten haben, ohne überzureglementieren.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Michael Frieser. In der Tat ha-ben Sie Ihre Redezeit nicht ausgeschöpft. Das verdientAnerkennung. Vielen Dank.
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Vizepräsident Eduard Oswald
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/9166 und 17/6345 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen jetzt – Tagesordnungspunkt 32 c – zurAbstimmung über die Beschlussempfehlung des Innen-ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit dem Titel „Grundrechte schützen – Daten-schutz und Verbraucherschutz in sozialen Netzwerkenstärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/9198, den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8161abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! –Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und dieLinksfraktion. Enthaltungen? – Die Fraktion der Sozial-demokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um allzu große Ver-zögerungen zu vermeiden, mache ich weiter.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der SPDUmsetzung von Basel III: Finanzmärkte stabi-lisieren – Realwirtschaft stärken – Kommu-nalfinanzierung sichern– Drucksache 17/9167 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Sie wi-dersprechen nicht. Dann ist auch das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unsererDebatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unserKollege Manfred Zöllmer. Bitte schön, Herr KollegeManfred Zöllmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einwesentlicher Baustein der Neujustierung der Finanz-märkte sind die Vorschläge des sogenannten BaselerAusschusses für Bankenaufsicht – Stichwort Basel III –,der notwendige, strengere Regeln zur Regulierung desFinanzsystems vorgelegt hat. Im Vordergrund und imMittelpunkt dieser Regulierung stehen dabei Regelungenzur Eigenkapitalunterlegung. Die EU-Kommission setztdiese Vorschläge zurzeit in europäisches Recht um. Siesollen stufenweise von 2012 bis 2018 umgesetzt werden.Dabei hat die EU-Kommission die Empfehlungen desBaseler Ausschusses weitgehend übernommen. DieseEmpfehlungen wurden für international tätige Großban-ken formuliert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die beabsichtigteStärkung der Eigenkapital- und Liquiditätsausstattungvon Banken ist notwendig, um die Krisenfestigkeit desSystems zu erhöhen.
Die quantitative und qualitative Anhebung der Eigen-kapitalausstattung erhöht die Risikovorsorge der Kredit-institute. Aber: Diese Bundesregierung ist dafür ver-antwortlich, dass dieses Regelwerk in Form einerVerordnung und nicht, wie wir Sozialdemokraten gefor-dert haben, in Form einer Richtlinie umgesetzt wird. Sieblockieren damit jede Möglichkeit, diese Regeln an dieBesonderheiten der deutschen Bankenstruktur anzupas-sen.
Wir haben in Deutschland nun einmal eine dreigliedrigeStruktur – mit Sparkassen, Genossenschaftsbanken undinternational agierenden Großbanken –, die so in ande-ren Ländern nicht zu finden ist. Für die Kreditver-sorgung gerade des Mittelstandes sind die örtlichenSparkassen und Genossenschaftsbanken von zentralerBedeutung.Nun ist Basel III aber für international agierende, ka-pitalmarktorientierte Großbanken konzipiert. Deshalbwollen wir mit unserem Antrag auf ein wichtiges Problemaufmerksam machen: Wenn der Grundsatz „SameRisk – Same Rules“, also „Gleiches Risiko – Gleiche Re-geln“, richtig ist – und wir halten ihn für richtig –, dannmüssen örtliche Sparkassen und internationale Großban-ken differenziert behandelt werden. Wir sind nicht derAuffassung, dass eine Bankengruppe von dem neuen Re-gelwerk ausgenommen werden sollte, aber die Finanz-marktkrise hat gezeigt, wo Risiken und Gefahren liegen –jedenfalls nicht bei den örtlichen Sparkassen.
Die Europäische Kommission hat diese Differenzie-rung innerhalb der Bankenlandschaft in Deutschland beider Umsetzung von Basel III bisher allerdings zu wenigbeachtet. Wir fordern die Bundesregierung in unseremAntrag nun auf, hier tätig zu werden. Wir fordern, dassdie neuen Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungenauf die Größe und auf das Geschäftsmodell der Kredit-institute differenziert Anwendung finden. Neben derStabilisierung des Finanzsystems muss auch die Kredit-vergabefähigkeit besonders der Sparkassen und der Ge-nossenschaftsbanken, die ja die Hauptkreditgeber fürden Mittelstand sind, besondere Beachtung finden.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, bei denVerhandlungen über Basel III folgende Punkte umzuset-zen:Die Eigenkapital- und Liquiditätsregeln sind nach Ge-schäftsmodell und Größe der Institute zu differenzieren.Die Risikogewichte von Mittelstandskrediten sind an ihre
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20515
Manfred Zöllmer
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tatsächlichen Risiken anzupassen und nicht mit demgleichzusetzen, was von Großbanken spekulativ umge-setzt wird. Die besonderen Bedingungen der Finanzver-bünde bei Sparkassen und Genossenschaftsbanken sindzu berücksichtigen. Bei der Bankenaufsicht – wir habenbereits gestern Abend darüber diskutiert – muss es zu ei-ner vernünftigen Arbeitsteilung zwischen europäischerund nationaler Bankenaufsicht kommen, die die Unter-schiede zwischen systemrelevanten internationalen Groß-banken und zum Beispiel der Sparkasse Wuppertal be-rücksichtigt.
Bei der risikounabhängigen Verschuldungsobergrenze,der sogenannten Leverage-Ratio, ist zu differenzieren.Wir Sozialdemokraten sagen: Wir brauchen eine Leve-rage-Ratio. Sie ist im Grundsatz eine wirksame Maß-nahme, um eine ausufernde Fremdfinanzierung der Ban-ken zu verhindern, und damit eine sinnvolle Ergänzungder risikogewichteten Eigenkapitalunterlegung. Wenn esdiese Leverage-Ratio gibt, dann besteht für die Bankenallerdings der Anreiz, auf risikoreiches und damit ge-winnträchtigeres Geschäft auszuweichen, um bei glei-chem Geschäftsvolumen eine höhere Eigenkapitalren-dite erwirtschaften zu können.
Kollege Zöllmer, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Schick?
Aber immer.
– Das haben Sie jetzt gesagt.
Die Frage ist auch ganz kurz: Mich würde interessie-
ren, welche Höhe die Leverage-Ratio nach der Vorstel-
lung Ihrer Fraktion haben soll. Ich habe das im Antrag
nicht gefunden.
Nein, das haben wir nicht in den Antrag hineinge-
schrieben. Ich denke, hier muss man erst einmal die Vor-
schläge des Baseler Ausschusses abwarten, bevor wir
uns differenziert über die Höhe unterhalten.
Wir haben gesagt: Bei einer Leverage-Ratio sind die Ri-
siken unterschiedlich zu bewerten. Das muss in den Vor-
gaben dann auch entsprechend umgesetzt werden.
Wir wollen nicht, dass eine solche Leverage-Ratio
letztendlich zulasten des risiko- und margenarmen Kom-
munal- und Hypothekenkreditgeschäftes geht. Deshalb
muss bei einer Leverage-Ratio zwischen risikoreichen
und risikoarmen Geschäftsmodellen unterschieden wer-
den.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere
Ziele sind eine effektive Regulierung und eine effiziente
Aufsicht. Entscheidend ist dabei der Grundsatz „Same
Risk – Same Rules“. Dieser Grundsatz muss bei Ba-
sel III eingehalten werden. Die Bundesregierung ist hier
in der Pflicht, für die deutschen Banken das Gebotene
nachzuverhandeln – ich habe eben versucht, das zu skiz-
zieren – und auch auf europäischer Ebene durchzuset-
zen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koali-
tionsfraktionen, bei diesem Vorhaben werden Sie uns an
Ihrer Seite haben.
Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Ralph
Brinkhaus.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerKollege Zöllmer hat schon erklärt: Ein Ergebnis derBankenkrise 2008 ist die Erkenntnis, dass die Bankenmehr Eigenkapital und mehr Liquidität brauchen. Dersogenannte Baseler Ausschuss hat sich daraufhin zusam-mengesetzt und neue Regeln gemacht. Diese Regelnwerden gerade in europäisches Recht umgesetzt. Dasnennt man CRD IV. Wenn diese Regeln in europäischesRecht umgesetzt werden, kommen wir zu einem Grund-problem jeglicher europäischer Rechtsetzung: Sie passennicht für alle gleichermaßen. Das heißt, wenn wir ein-heitliche Regeln für ganz Europa aufstellen, dann passensie nicht zu 100 Prozent zu Deutschland. Teilweise sinddiese Regeln dann schlechter als diejenigen, die wir al-lein beschließen würden. Wir müssen uns daher dieFrage stellen: Was wollen wir? Was ist uns wichtiger:gemeinsame europäische Regeln oder ein Rechtssystem,das zu 100 Prozent zu uns passt?Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nichts-destotrotz ist es mehr als berechtigt, dass wir uns mitdiesem Punkt befassen; denn wir kennen die vielfachenSorgen insbesondere von kleinen, regionalen und mittel-ständischen Banken genauso wie die Sorgen des Mittel-standes, der sogenannten Realwirtschaft, und der Kom-munen. Man kann auf die eben gestellte Frage zweiAntworten geben. Die eine Antwort lautet – diese habenwir auch in unserem Antrag gegeben, den wir gesternhier im Plenum beschlossen haben –: Wir akzeptieren,dass es gemeinsame europäische Regeln gibt, aber wirwollen diese Regeln verbessern. Wir wollen, dass dieseRegeln alle Institute berücksichtigen, nicht nur die klas-sische britische börsennotierte Bankaktiengesellschaft,sondern zum Beispiel auch die Volksbank Kaunitz miteiner Bilanzsumme von 90 Millionen Euro in meinemWahlkreis. Ich denke, diese Antwort ist richtig.
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Ralph Brinkhaus
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Wenn ich allerdings Ihren Antrag lese, habe ich dasGefühl, dass Sie eigentlich ein deutsches Sonderrechtgenerieren wollen. Ich glaube, dass das nicht gut ist. Ichwill Ihnen das anhand einiger Beispiele erläutern. Siehaben als erste Forderung aufgestellt, dass unterschiedli-che Banken unterschiedlich behandelt werden sollen,dass also differenziert wird. Herr Kollege Zöllmer hat inseiner Rede begründet, was damit gemeint ist. ImGrunde ist damit ein spezielles Aufsichtsrecht für Spar-kassen und Volksbanken gemeint. Ich glaube, es ist nichtgut und nicht richtig, für unser deutsches System und un-sere deutschen Besonderheiten ein spezielles Aufsichts-recht zu schaffen. Das kann sich irgendwann einmalauch gegen uns richten. Griechen, Spanier und Portugie-sen können dann ebenfalls ein spezielles Aufsichtsrechtfür ihre kleinen und mittleren Banken fordern. Das kannman nicht wirklich wollen.Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage. Was istuns wichtiger: ein System, das zu 100 Prozent zu unspasst, oder gemeinsame europäische Regeln? Ich bin derMeinung, dass es gut ist, dass wir an dieser Stelle ge-meinsame europäische Regeln haben. Aber wir müssendie Regeln so konstruieren, dass die deutschen Interes-sen berücksichtigt werden. Das hat die Bundesregierungmit ihren Vertretern im Verhandlungsprozess im BaselerAusschuss und im CRD-IV-Verfahren in Brüssel er-reicht. Die Bundesregierung hat es geschafft, dass alsEigenkapital nicht nur – wie von mancher Seite ge-wünscht – das Kapital gilt, das an der Börse oder aufdem Kapitalmarkt beschafft wird, sondern auch das guteGenossenschaftskapital und stille Beteiligungen. Das istein riesiger Erfolg. Herr Zöllmer, es ist nicht richtig undnicht wahr, dass die Bundesregierung, wie Sie behauptethaben, nichts erreicht und nicht versucht hat, den tat-sächlichen Besonderheiten und Anforderungen des deut-schen Bankensystems gerecht zu werden. Wir haben hiereiniges geschafft, und das ist auch gut so. Ich denke, esist ein besserer Weg, gemeinsame europäische Regeln zuschaffen, die zu allen passen, als spezielle deutsche Re-geln.
Zu den Mittelstandskrediten. Sie haben gesagt, dieMittelstandskredite dürften sich durch Basel III nicht un-nötig verteuern. Wir sind hier genau der gleichen Mei-nung. Die Bundesregierung hat sich dafür eingesetzt,dass noch einmal geprüft wird, ob die Risikogewichtungder Mittelstandskredite richtig ist und gegebenenfallseine Anpassung notwendig ist. Herr Staatssekretär, wirsind auf einem guten Weg. Wir werden hier einiges er-reichen. Aber die Dramatik, die Sie hier sehen, HerrZöllmer, ist tatsächlich nicht gegeben. Erst heute hat dieBundesbank veröffentlicht, dass sie nicht damit rechnet,dass die Kreditkosten des Mittelstands durch Basel IIIsignifikant steigen werden. Ich habe bei den Sparkassennachgefragt und erfahren, dass man mit einem Anstiegvon 30 bis 40 Basispunkten rechnet. Das führt zu 0,3 bis0,4 Prozent höheren Kreditkosten. Wenn das tatsächlichin dem Rahmen bleibt, dann sollte es uns, wie ichglaube, das wert sein, dass wir einen stabilen Finanzrah-men in Europa haben. Insofern ist zu den Mittelstands-krediten zu sagen: Die Bundesregierung arbeitet daran.Wir sollten das nicht dramatisieren. Wir werden zu einerguten Lösung kommen.Ein weiterer Punkt ist die Eigenkapitalunterlegungbei Verbundbeteiligungen. Das ist in der Tat sehr interes-sant. Hier geht es zum Beispiel um eine Sparkasse, dieüber ihren Verband wiederum an einer anderen wirt-schaftlichen Einheit, wie zum Beispiel einer Bauspar-kasse oder Ähnlichem, beteiligt ist. Hier gab es in derTat bisher eine Sonderregelung. Diese hat ganz gut ge-passt, wenn auch nicht immer; denn durch solche Betei-ligungen sind durchaus auch einige Risiken in das Spar-kassenlager hineingekommen, wie wir in der jüngstenVergangenheit schmerzvoll erfahren mussten. Bei dieserSonderregelung stellt sich aber nun auch wieder dieFrage: Wollen wir, dass sie europaweit gilt? Wollen wir,dass solche Sonderregelungen, die das Finanzsystemweniger stabil machen, auch in Griechenland und Spa-nien gelten? Ich frage mich angesichts dessen, ob esnicht besser wäre, den deutschen Genossenschaftsban-ken und Sparkassen eine angemessene Übergangsfrist zugewähren – diese haben wir ja auch ausgehandelt –, so-dass wir auch hier am Ende des Tages zu einheitlicheneuropäischen Regelungen kommen.Nun kommen wir zu einem weiteren interessantenPunkt: Sie sagen, dass eigentlich bei Hypotheken- undkommunalen Krediten überhaupt kein Risiko vorhandensei, und fordern, dass man dieses Risiko auch entspre-chend geringer gewichten sollte. Das ist vielleicht sogarrichtig angesichts der heutigen Situation in Deutschland.Aber, wie gesagt, wir machen Regelungen für ganz Eu-ropa. Finden Sie, Herr Zöllmer, dass bei griechischenGemeinden gewährten Kommunalkrediten kein Risikobesteht?
Schauen wir einmal weiter in die Zukunft: Glauben Sie,dass Kommunalkredite, die Ihrer Heimatstadt Wupper-tal, für die Sie ja jahrelang als Kommunalpolitiker Ver-antwortung getragen haben und die eine der am höchstenverschuldeten Städte Deutschlands ist, gewährt wurden,auf ewige Zeiten sicher sind? Ich bin mir da nicht ganzsicher.Wir haben, meine Damen und Herren, eines in derKrise gelernt: Dinge, die wir heute als sicher ansehen,können auf einmal zu einem erheblichen Risikofaktorwerden. So hätte vor zwei oder drei Jahren jeder gesagt,bei griechischen Staatsanleihen könne nichts passieren.Dementsprechend mahne ich zur Vorsicht, ehe man ausder Augenblicksbetrachtung heraus sagt: Das ist doch si-cher. Da kann im Grunde genommen nichts passieren.Dementsprechend müssen Banken dafür weniger Eigen-kapital hinterlegen und können mit diesem Risiko andersumgehen. – Ich trete dafür ein, dass wir hier ein wenigmehr in die Zukunft schauen.Jetzt zu den Punkten 5 und 6 Ihres Forderungskata-logs: Diese Forderungen bezüglich der Aufsicht sindrichtig gut, wir teilen sie auch. Wir kommen hier zu demeigentlichen Punkt, der bei der Umsetzung der CRD IVim Zuge von Basel III tatsächlich auch unsere Sparkas-
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Ralph Brinkhaus
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sen, Volksbanken und kleinen Privatbanken belastet. Ih-nen wird das Gefühl vermittelt, dass sie aufsichtsmäßiggenauso behandelt werden sollen wie Großbanken unddass eine große Bürokratie aufgebaut wird. Sie habennun Angst, dass sie auf einmal Briefe von der EBA inLondon bekommen, mit denen sie nicht umgehen kön-nen. Diese Punkte sind in der Tat ernst zu nehmen. Genauaus diesem Grund haben wir gestern einen entsprechen-den Antrag gestellt, den die SPD dankenswerterweiseauch unterstützt hat. Ich glaube, wir sind uns einig, dasswir aufpassen müssen, dass hier das passiert, was Sie imersten Punkt Ihres Antrages fordern, nämlich dass unter-schiedliche Dinge unterschiedlich behandelt werden. Wirwerden über diesen Antrag auch noch im Ausschuss be-raten. Da sollten wir uns wirklich die Zeit nehmen, nocheinmal auf diesen Punkt einzugehen, und uns fragen, obdie Aufsicht so tatsächlich funktionieren kann.Ich habe lange nach einem passenden Vergleich ge-sucht, um das verständlich zu machen. Vielleicht neh-men wir einmal eine Situation aus dem Straßenverkehr:In einer geschlossenen Ortschaft dürfen Sie überall nur50 km/h fahren. Diese Regelung gilt für ungefährlicheStraßen und auch für Unfallschwerpunkte. Ungefährli-chen Straßen entsprächen in diesem Bild Sparkassen undVolksbanken, Unfallschwerpunkten große internationaltätige Banken und Institute. Wie kontrolliert die Polizeijetzt die einzuhaltende Geschwindigkeit? Sie stellt sichganz oft an die Unfallschwerpunkte. Das ist auch gut so;denn es ist ganz besonders wichtig, dass hier die Ge-schwindigkeitsgrenze eingehalten wird. Manchmal stelltsich die Polizei auch an Stellen, die keine Unfallschwer-punkte darstellen, aber eben nicht mit der gleichen Inten-sität.Wir sollten uns einmal überlegen, meine Damen undHerren, ob wir Finanzaufsicht nicht auch so organisie-ren: Da, wo große Risiken bestehen, also bei den großenBanken, muss es eine intensive Aufsicht geben. Hiermuss ganz genau hingeschaut werden. Hier ist es ange-bracht, lieber eine Zahl mehr als eine Zahl weniger zuerheben. Aber bei den kleineren Banken, bei der von mirschon erwähnten Volksbank Kaunitz zum Beispiel, mussnicht jedes Jahr genau das abgefragt werden, was beigrößeren Instituten abgefragt wird. Diese Banken sollensich vor Ort mit der Kreditvergabe beschäftigen, mit denHäuslebauern, den Firmenkunden und den Handwer-kern, mit denen sie Geldgeschäfte tätigen.Wenn man das Positive aus diesem Antrag heraus-zieht, der sicherlich gut gemeint war, aber in vielen Be-reichen einen falschen Ansatz verfolgt, weil gefordertwird, eine spezielle Regulierungswelt für Deutschlandzu schaffen, so ist festzustellen: Gut an diesem Antragist, dass wir uns mit der Bürokratie, mit der Intensität derAufsicht beschäftigen müssen. Da haben Sie auch mituns einen Partner. Lassen Sie uns das gemeinsam ange-hen. Ich glaube, dann werden wir mehr für den Finanz-platz Deutschland tun, als wenn wir eine Diskussion da-rüber führen, ob wir eine Verordnung oder eineRichtlinie, ob wir ein Sonderaufsichtsrecht für Sparkas-sen und Volksbanken brauchen. Ich denke, eine Eini-gung darüber bringen wir nach einer guten Diskussionim Finanzausschuss zustande.Danke schön.
Für die Fraktion Die Linke hat nun Richard Pitterle
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Was haben wir nicht schon allesvon den Vertretern der Regierungskoalition in den letz-ten Monaten, aber auch heute wieder gehört: Die Regie-rung wolle die Finanzmärkte stabilisieren und die Real-wirtschaft stärken, nichts solle unbeaufsichtigt bleiben,alle Finanzprodukte sollten reguliert werden. Manchmalkönnte man meinen, dass die Bundesregierung in dierichtige Richtung denkt, zum Beispiel, wenn von Ban-kenabgabe, der Finanztransaktionsteuer oder dem Fi-nanzmarkt-TÜV die Rede ist.Doch leider ist es nicht so. Die Redewendung „etwasauf die lange Bank schieben“ bekommt erst bei dieserBundesregierung ihren Sinn.
Die Bundesregierung hat bei der Regulierung der Fi-nanzmärkte fast nichts auf die Reihe bekommen: keineFinanztransaktionsteuer, keine richtige Bankenabgabe.Da müsste sie bereit sein, sich mit den Ackermännernanzulegen, statt ihnen Sahnetörtchen zu schenken.
Sie gehen Tippelschritte – zum Beispiel leichte Erhö-hung des Eigenkapitals, Einschränkungen bei der Ver-schuldung –; ein größerer Wurf fehlt allerdings. Aberden bekämen Sie bei der FDP auch nicht durch.Da hatten wir einen Rettungsschirm mit 400 Milliar-den Euro Garantien und 80 Milliarden Euro direkte Ka-pitalhilfen. Damit haben wir unter anderem die Com-merzbank gerettet. Ja, die Commerzbank: Selbst als sieGewinne erwirtschaftet hatte, haben wir kaum einenCent davon gesehen, weil Sie die Verträge so schlechtausgehandelt hatten, dass die Commerzbank bisherkaum Zinsen auf die Kapitalhilfen zahlen musste.
Durch Ihre mehr als großzügige Unterstützung greift dieCommerzbank außerdem Sparkassen und Genossen-schaftsbanken an und nimmt ihnen mit Kampfkonditio-nen Spargelder weg.Ich sage Ihnen: Wenn es um die Regulierung der Ban-ken geht, haben Sie die Sache so gebogen, wie Sie siebrauchen. Der Schutz von Sparkassen und Genossen-schaftsbanken kommt nicht vor. Dabei sind sie es, die in
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Richard Pitterle
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der Finanzkrise die Kreditversorgung der kleinen undmittleren Unternehmen, der Verbraucherinnen und Ver-braucher sowie der Kommunen sichergestellt hatten.
Bei der Umsetzung der neuen Vorschriften für Ban-ken, Basel III genannt, in deutsches Recht, besteht jetztdie große Gefahr, dass die bewährten Vorteile, beispiels-weise eine sichere und stabile Kreditversorgung, auf derStrecke bleiben. Bereits Bundesbankdirektor Zeitler be-tonte, dass das Kreditgeschäft der Banken wichtiger istals deren spekulative Geschäfte.Meine Damen und Herren, was mir in dem Antrag derSPD noch fehlt, ist der stärkere Schutz der Kreditnehme-rinnen und Kreditnehmer, nämlich des Mittelstands, derVerbraucherinnen und Verbraucher, der Kommunen. Wirwollen, dass sie weiter langfristige Kredite zu stabilenBedingungen bekommen können, für 10 Jahre, für15 Jahre oder noch länger. Und nicht nur das: Auch dieZinsen sollen für einen langen Zeitraum festgeschriebenbleiben. Damit hätten Unternehmen, Kommunen undPrivatleute eine klare Kalkulationsgrundlage und wärenvor unangenehmen Überraschungen an der Zinsfront ge-schützt.
Doch diese Sicherheit ist durch die geplante Umset-zung von Basel III in deutsches Recht stark gefährdet.Basel III fördert die aus den USA und Großbritannienbekannte Kurzfristkultur. Was bedeutet Kurzfristigkeit?Das sind Bankkredite für ein bis zwei Jahre für Maschi-nen, die aber zehn Jahre laufen sollen. Doch nach Ablaufder zwei Jahre ist unsicher, ob die Unternehmerin oderder Unternehmer einen neuen Kredit bekommt. Wenn sieoder er ihn bekommt, ist unsicher, zu welchem Zinssatz.Damit werden Finanzmärkte aber nicht stabilisiert, son-dern es werden Schwankungen und Unwägbarkeiten er-höht. Das wollen wir nicht.
Wir sagen: Statt Rentnerinnen und Rentner, Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer zu belasten, müssenendlich die Spekulation der Banken beendet, die Finanz-transaktionsteuer eingeführt, die großen Banken zer-schlagen und vergesellschaftet werden. Dann würden dieBanken auch wieder der Realwirtschaft dienen und nichtnur ihren Aktionären.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Björn
Sänger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Im Grunde genommen hat sich die Debatte mitder Abstimmung von gestern Abend über den Antrag zurStärkung des Systems der europäischen Finanzaufsichterledigt.Dabei sind wir uns mit der SPD einig. Die strittigenPunkte sind von der Bundesregierung – durch das Bun-desministerium der Finanzen und das Bundesministe-rium für Wirtschaft und Technologie – aufgegriffen wor-den, und darüber wird in Brüssel gut verhandelt, sodassauch die Kreditversorgung der kleinen und mittleren Un-ternehmen gewährleistet ist.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Ihr Antraggeht aber von einem grundsätzlichen Missverständnisaus. Ich werde versuchen, darzulegen, worin das Miss-verständnis bestehen könnte. Sie gehen davon aus, dasses nicht um „Same Business – Same Rules“, sondern um„Same Risk – Same Rules“ geht. Wenn Sie aber eineBank betreiben, dann haben Sie eben ein bestimmtes Ri-siko, das für alle Bereiche gilt.Ich habe gestern schon einmal versucht, das anhandder Gastronomie zu verdeutlichen. Das ist vielleichtnach dem Vergleich mit dem Straßenverkehr ein weite-res Bild, das Ihnen weiterhilft. Wenn Sie einen gastrono-mischen Betrieb betreiben, dann unterliegen Sie den Hy-gienevorschriften. Deshalb können Sie nicht sagen: Ichhabe aber ein besonders gutes Restaurant mit einem be-sonders ausgewählten Kundenkreis. Außerdem ver-wende ich überhaupt gar keine Risikolebensmittel. Ro-her Fisch kommt bei mir nicht auf die Karte. Ichverwende keine Mayonnaise. Eier lasse ich weg.
Also im Prinzip all das, was möglicherweise zu Proble-men führen könnte, lasse ich weg. Außerdem kommendie Tierchen nur aus ökologischer Aufzucht und werdensanft in den Tod gekuschelt.
Ich brauche also nicht die Hygienevorschriften einzuhal-ten, die beispielsweise für eine grenzüberschreitend tä-tige Imbisskette gelten müssen, bei der die knoblauch-haltige Joghurtsoße vorne in der Auslage steht.Es beruht auf einem Grundmissverständnis, dass Siediese Regeln ändern wollen. Im Grunde genommen wol-len Sie aus Basel III eine Art Lüneburg I machen. Daswird aber nicht funktionieren.Natürlich bilden die Sparkassen und Volksbankenwertvolle Institutsgruppen. Ich bin Kunde von Instituten,die zu diesen beiden Säulen gehören, und außerordent-lich zufrieden mit ihnen.
– Ich bin nicht befangen, sondern gehe, wie man merkt,kritisch damit um.Wir haben aber Krisenerfahrungen gemacht. Wir ha-ben auch eine Anhörung zu Basel III durchgeführt, inder die Wirtschaftssachverständige Frau Professor Buchsehr klar gesagt hat, dass auch bei kleinen und mittlerenUnternehmen systemische Risiken entstehen können.
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Björn Sänger
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Weil Ostern vor der Tür steht, möchte ich Ihnen dasanhand eines Beispiels aus dem Lebensmittelbereichverdeutlichen. Wir haben Erfahrungen mit schadstoffbe-lasteten Eiern gemacht. Es ist sozusagen das Ei an sichin Probleme geraten. Dabei wurde auch nicht differen-ziert, aus welchem Betrieb das Ei kommt. Sondern dasEi an sich war das Problem.Wenn beispielsweise ein Problem bei einer Bank miteinem großen S auftaucht, dann differenziert der Kundenicht, welche Sparkasse dies ist, ob dies die LüneburgerSparkasse ist, die möglicherweise besonders gut aufge-stellt ist, oder ob dies die Sparkasse Köln-Bonn ist, beider man vielleicht etwas vorsichtig sein sollte.Damit sind wir beim zweiten Punkt Ihres konsequen-ten Ausblendens der Krisenerfahrung. Sie möchten, dassFinanzbeteiligungen weiterhin beim Eigenkapital ange-rechnet werden. Herr Kollege Zöllmer, Sie haben dieSparkasse Wuppertal angesprochen, die auch an derWestLB beteiligt war. Ich habe nicht den Eindruck, dassdas eine besonders werthaltige oder eine besonders risi-kofreie Beteiligung gewesen ist. Bei der BayernLB siehtes ähnlich aus.Natürlich wird Basel III die Kreditvergabe hinsicht-lich der Konditionen für Unternehmen und auch fürKommunen verändern. Bei den Unternehmen ist es et-was problematisch, weil wir in Deutschland traditionelleinen sehr starken Fokus auf die Kreditfinanzierung le-gen.An dieser Stelle sage ich Ihnen ganz klar: Wenn Sieetwas für die kleinen und mittleren Unternehmen tunwollen, können Sie beispielsweise dazu beitragen, dassdie Unternehmen in die Lage versetzt werden, Eigenka-pital aufzubauen. Ihre Steuerbeschlüsse – bei der SPDplus 30 Milliarden Euro, bei den Grünen plus 26 Milliar-den Euro – passen aber sicherlich nicht dazu. Diese Be-schlüsse sind sicherlich nicht dazu geeignet, Eigenkapi-tal bei kleinen und mittleren Unternehmen aufzubauen.Dabei habe ich die Gebote und Verbote, mit denen Sieunseren gut arbeitenden deutschen Mittelstand überzie-hen wollen, noch gar nicht eingepreist.Es geht eher darum, auch kleinen und mittleren Un-ternehmen einen alternativen Zugang zum Kapitalmarktzu verschaffen. Gute Ansätze dafür gibt es beispiels-weise bei den Börsen in Düsseldorf oder Stuttgart. Diesegilt es weiter auszubauen.Auch für die Kommunen gibt es einen Weg, um ausder Finanzierungsproblematik herauszukommen. DieserWeg heißt – das wird Sie jetzt möglicherweise ein biss-chen irritieren –: Sparen. Auch dafür gibt es in Nord-rhein-Westfalen gute Beispiele, etwa in Düsseldorf. Dorthalten sich Einnahmen und Ausgaben die Waage.
Die Düsseldorfer Bürger haben sich aber auch eine be-sondere App geleistet. Diese App heißt Schwarz-Gelb.Da funktioniert das: Dort halten sich Einnahmen undAusgaben die Waage.
Aber auch die Kommunen können und müssen sichAlternativen überlegen, um Zugang zum Kapitalmarktzu bekommen. Damit kommen wir im Grunde genom-men zu der Intention Ihres Antrags, wenn man die Prosalinks und rechts wegstreicht.Sie möchten den Kommunen weiterhin niedrige Zin-sen sichern, damit Sie – Nordrhein-Westfalen macht esvor – Ihre Schuldenorgien weiterfeiern können.
Sie möchten weniger Sicherheit bei den Finanzsyste-men, um Ihre Schuldenorgien feiern zu können. DiesenWeg gehen wir nicht mit. Wir machen keine Abstrichebei der Sicherheit in den Finanzsystemen.
Die berechtigten Anliegen, die der Antrag aufgreift,sind bei der Bundesregierung in guten Händen. Darüberwird in Brüssel verhandelt. Mit der Ergänzung des An-trags gestern sind wir insgesamt auf einem guten Weg.Deswegen kann Ihr Antrag keine Zustimmung finden.Herzlichen Dank.
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat nun für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man die Öffentlichkeitsarbeit der SPD in der letz-ten Zeit verfolgt hat, dann hat man festgestellt, dass kna-ckige Sätze die Runde machten. Der ParteivorsitzendeSigmar Gabriel hat gesagt: „Unsere Gegner sind die Fi-nanzmärkte.“ Die Kampfansage lautet: „Demokratiestatt Bankenmacht.“Vor diesem Hintergrund habe ich den vorliegendenAntrag gelesen und festgestellt, dass davon wenig übrigbleibt.
Alle Ihre Forderungen zum Thema Basel III laufen da-rauf hinaus: Die Aufsicht soll weniger tun.
Ich möchte aus Ihrer gestrigen Rede zitieren, HerrZöllmer:Wir hatten gehofft, dass Sie in Ihren Formulierun-gen Konkretes von der Bundesregierung fordern.Aber diese Hoffnung war vergeblich. Wir diskutie-ren hier im Bundestag viele Anträge, aber selten
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20520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Dr. Gerhard Schick
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gibt es im Forderungsteil eines Antrags eine solcheAnsammlung von Plattitüden und Gemeinplätzenwie hier.Das haben Sie gestern anderen vorgeworfen und danngesagt, das sei alles nicht besonders klar.Jetzt will ich zwei Beispiele nennen. Sie wollen, dassAufsichtsstandards angemessen angewandt werden. Sol-len sie etwa unangemessen angewandt werden? Das istdoch eine Selbstverständlichkeit.
– Sie sprechen von einer angemessenen Arbeitsteilungzwischen nationaler und europäischer Aufsicht, ohne zusagen, wer eigentlich was machen soll.Wenn Sie Forderungen zur Bankenregulierung vorle-gen, dann sollten Sie auch konkrete Vorschläge vorle-gen. Sonst geht der Vorwurf, den Sie gestern geäußerthaben,
auch an Sie. Sie haben nämlich gesagt: „Da werfen Sieaber schwer mit Wattebäuschchen.“ Ich finde, das istverglichen mit den großen Forderungen Ihres Parteivor-sitzenden bei diesem Antrag der Fall.
Ich will aber konkret sagen, um welche zentralenAuseinandersetzungen es in Brüssel bei der Kapitalad-äquanzrichtlinie gerade geht. Eine zentrale Frage betrifftdie Leverage-Ratio. Deswegen habe ich gerade die Zwi-schenfrage gestellt. Es geht darum, ob ein Mindestni-veau an Eigenkapital gelten soll, unabhängig davon, wasman sich mit den Risikogewichten ausrechnet. Wir hal-ten diese Schuldenbremse bei Banken für eine zentraleRegelung.
Die Bundesregierung hat sich dagegen ausgespro-chen, sie verbindlich zu machen, sowohl in Basel alsauch in Brüssel. So hat die Bundesregierung meineKleine Anfrage dazu beantwortet.
Wir fordern, dass sie auch in Deutschland verbindlicheingeführt wird. Das ist übrigens auch auf nationalerEbene möglich. Wenn man sie will, muss man eben andieser Stelle auch einmal springen.
Die zweite Frage, die sich stellt, lautet: Wie gehen wirmit dem Streit über die Frage „Soll es eine Maximalhar-monisierung sein oder nicht?“ um? Wichtige Auseinan-dersetzung in Brüssel! Die Regierung des VereinigtenKönigreichs hat gesagt: Wir wollen, dass eine nationaleRegierung höhere Anforderungen an die Banken stellenkann. Die Position der Kommission ist: Wir wollen eineeinheitliche Regelung für alle. Die Position von Bünd-nis 90/Die Grünen dazu ist völlig klar: Es braucht eineMindestharmonisierung auf europäischer Ebene, aber esgibt keinen Grund, auszuschließen, dass eine nationaleAufsichtsbehörde dann, wenn sie feststellt, dass es zuwenig Kapital bei ihren Banken gibt, einen zusätzlichenAufschlag festsetzt. Ich finde, wir müssen hier bei dieserDebatte klären: Was ist eigentlich die Position Deutsch-lands in dieser entscheidenden Frage? Darauf geben Siekeine Antwort.Mich würde bei den nachfolgenden Reden die Posi-tion der Regierungsfraktionen dazu interessieren; dennich höre, dass die Bundesregierung auf der Seite dererist, die sagen: Nationale Regierungen sollen keinen Auf-schlag festsetzen können. Ich fände diese Positionfalsch. Ich fordere Sie auf: Machen Sie den Weg frei da-für, dass wir eine Mindestharmonisierung bekommen,aber dass dann zusätzlich national Vorsorge getroffenwerden kann! Es ist ja wichtig, konkret reagieren zukönnen, wenn es Schieflagen im nationalen Bankensek-tor gibt.
Damit komme ich zu der abschließenden Bewertung.Was passiert bei Basel III? Ich glaube, es gibt für eineReihe von regionalen Banken tatsächlich zu hohe Anfor-derungen, gerade in den Säulen 2 und 3, also bei derFrage der Standards. Das ist so. Wir müssen dafür sor-gen, dass es hier Erleichterungen gibt, um nicht einemKonzentrationsprozess Vorschub zu leisten.Ich finde Folgendes richtig – an dieser Stelle aus-drückliche Zustimmung; ich glaube, da haben wir einenKonsens –: Wenn die empirischen Daten zeigen, dass dieRisikogewichte bei den Mittelstandskrediten zu hoch ge-setzt sind, müssen diese runter.
Es ist völlig klar, dass wir uns hier an den wissenschaftli-chen Ergebnissen orientieren müssen.Aber auf der anderen Seite müssen wir auch dafürsorgen, dass die Eigenkapitalanforderungen, die ja im-mer wieder heruntergerechnet werden, eine Mindestun-tergrenze bekommen. Ich will noch einmal die Zahl nen-nen, die einfach die Verantwortung auch in Deutschlandverdeutlicht: Die Deutsche Bank hat eine ungewichteteEigenkapitalquote von nur 2,3 Prozent.
Die Zahl ist vom Sachverständigenrat. Das zu tolerieren,halte ich für einen Fehler. Wir brauchen sofort eine ver-bindliche Untergrenze von 3 Prozent. Wir Grünen sagen:Die muss über die Jahre auf 5 Prozent aufwachsen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20521
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Kollege Schick, ich kann leider keine Zeitkredite ver-
geben. Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
5 Prozent Eigenkapital muss das Minimum sein, das
wir bei Banken einfordern.
Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Antje
Tillmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Liebe Kollegender SPD, in Ihrem Antrag, der auch „Kommunalfinan-zierung sichern“ im Titel hat, gibt es drei Sätze überKommunalfinanzierung – ein bisschen enttäuschend. Indiesen drei Sätzen fordern Sie, dass wir sicherstellen,dass auch hochverschuldete Kommunen unbegrenzt undpreisgünstig an neue Kredite gelangen. Was macht dasfür einen Sinn? Was macht das für einen Sinn für Kom-munen, die selbstverschuldet in Schwierigkeiten geraten,weil sie jahrelang fahrlässig mehr Geld ausgegeben ha-ben, als es die Lage zuließ, weil sie auf sinkende Steuer-einnahmen nicht mit Ausgabenkürzungen oder Personal-abbau reagiert haben, weil sie gegebenenfalls bewusstProbleme nicht beachtet und nicht dementsprechend re-agiert haben? Mit Blick auf diese selbstverschuldetenSchwierigkeiten macht Ihr Antrag gar keinen Sinn.Das gilt auch für die Aussage des Deutschen Städte-tages:Das Risikogewicht von Direktausleihungen derKreditinstitute an Kommunen … muss sich auch inZukunft an der Bonität des Zentralstaates orientie-ren können. Für die Bundesrepublik Deutschlandbedeutet das aufgrund des gesamtstaatlichen Haf-tungsverbundes aus Bund, Ländern und Kommu-nen eine Beibehaltung der Null-Risiko-Gewich-tung.Für die Kommunen, die bewusst nicht reagieren, ob-wohl sie finanzielle Schwierigkeiten haben, heißt das:Ganz egal, was sie ausgeben – irgendjemand im Staatwird es schon bezahlen. Bezahlen wird es genau dieKommune, die, gegebenenfalls mit hohen eigenen An-strengungen, versucht, auf die wirtschaftliche Situationzu reagieren, die ihren Bürgern und Bürgerinnen Einspa-rungen zumutet. Diese Kommune soll nach Ihrer Auffas-sung demnächst der Nachbarkommune, die diese Diszi-plin nicht aufbringt, aus der Patsche helfen. Das heißt,sie soll nicht nur beim eigenen Haushalt einsparen, son-dern auch noch die Fehler der Nachbarkommune mitbe-zahlen. Das kann aus unserer Sicht nicht richtig sein.
Aber selbstverständlich gibt es auch Kommunen, dieunverschuldet in die Situation geraten, dass ihr Haushaltnicht mehr ausgeglichen ist. Das kann zwei Gründe ha-ben. Erstens könnte ein großes Unternehmen, das denHauptanteil an den Gewerbesteuereinnahmen erbrachthat, aus einer Kommunen weggezogen oder pleitegegan-gen sein. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise könn-ten also eine Kommune, die sehr abhängig von den Ge-werbesteuereinnahmen ist, besonders getroffen haben.Zweitens könnten Bürgerinnen oder Bürger, die einehohe Einkommensteuer zahlen, aus einer Kommuneweggezogen sein, weil sie anderswo einen Arbeitsplatzgefunden haben.Solchen Kommunen sagen Sie: Wir helfen dir. Wir ge-ben dir die Möglichkeit, zu deinen sowieso schon hohenSchulden weitere Schulden aufzunehmen, die du sehrgünstig finanzieren kannst. – Auch das ist doch wohlkeine sinnvolle Lösung. Eine Kommune, die unverschul-det in eine solche Situation geraten ist, braucht einenStrukturwandel. Sie braucht Hilfen vom entsprechendenLand, um ihre Struktur umzubauen. Wir haben auf Bun-desebene reagiert, indem wir es schon seit einigen Jahrenzulassen, dass mit der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ nicht mehr nurostdeutsche Kommunen, sondern selbstverständlich auchstrukturschwache westdeutsche Kommunen unterstütztwerden können. Einer betroffenen Kommune helfenkeine neuen Kredite, sondern Förderprogramme, wie wirsie zusammenstellen.
Wenn man sich dann die Verteilung der Schulden aufdie einzelnen Länder anschaut, dann wird doch ganz of-fensichtlich, dass die Länder ihre Kommunen finanziellsehr unterschiedlich ausstatten. Ich will nicht die Son-dersituation der ostdeutschen Kommunen aufzeigen, dieGott sei Dank aus manchen Fehlern der westdeutschenKommunen gelernt haben, die von Anfang an Haushalts-disziplin großgeschrieben haben, die aber natürlich auchüber den Solidaritätszuschlag und über den SolidarpaktHilfen bekommen.Aber vergleichen Sie nur einmal die Kommunen inNordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg! Warumsind denn die Kommunen in Nordrhein-Westfalen soviel höher verschuldet als in Baden-Württemberg? Manhat doch den Verdacht, dass manche Länder ihre Haus-halte sehr wohl auf Kosten der Kommunen entlasten.Auch diesen Kommunen hilft man nicht durch zusätzli-che billige Kredite, sondern man hilft ihnen, indem dieLänder ihrer Verantwortung gerecht werden und ihreKommunen entsprechend entlasten.Gott sei Dank haben das die ersten Länder getan; esgibt kommunale Hilfsfonds. Die ersten Länder habenfestgestellt, dass zusätzliche Neuverschuldung keine Lö-sung ist, sondern dass die Haushalte wieder zur Haus-haltsdisziplin und -konsolidierung zurückgeführt werdenmüssen.
Aber ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: DieKommunen sind verfassungsrechtlich Teil der Länder.
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20522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Antje Tillmann
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Es ist nicht Bundesaufgabe, die Kommunen zu finanzie-ren, sondern das ist Aufgabe der Länder. Der Bund isthingegen für die Sozialversicherungssysteme zuständig.Unsere Verantwortung für die Sozialversicherungssys-teme nehmen wir genauso ernst wie unsere Verantwor-tung für die Schuldensituation im Bund.Doch der Bund hat in der Vergangenheit auch Fehlergemacht. Wir sind dabei, diese Fehler peu à peu in dieserLegislaturperiode zu beheben. Wir haben bei der Grund-sicherung angefangen, bei der die rot-grüne Bundesre-gierung einen großen Fehler gemacht hat. Wir haben ihnbehoben, indem wir den Kommunen die Kosten für dieGrundsicherung im Alter zu 100 Prozent erstatten.
– Dass Ihnen das nicht gefällt, Herr Scheelen, ist mirklar. Aber Sie haben ja gleich noch fünf Minuten, umdas richtigzustellen.Es ist eine Tatsache, dass die Kommunen bis 2020von dieser Bundesregierung um 50 Milliarden Euro ent-lastet werden.
Seien Sie sicher, das hilft den Kommunen mehr, alswenn ihnen Kredite zu günstigen Konditionen zur Verfü-gung gestellt würden.
– Es war diese Regierung. Die Finanzierung der Kom-munen hat unser Finanzminister Schäuble als Erster insGespräch gebracht. Ich habe Ihnen die Protokolle schonx-mal zugeschickt; ich tue das gerne noch einmal.
Ich weiß sehr sicher, dass die Verhandlungen zum 1. Ja-nuar 2013 abgeschlossen sein werden und dass dieseEntlastungen kommen.Aber ich möchte noch andere Punkte aufgreifen, dieSie aufregen werden. Von daher können Sie Ihre Emo-tionen noch ein bisschen zurückhalten.
Wir kommen zum Thema Kinderbetreuung. Auchhier hat der Bund seine Aufgabe erfüllt. Wir haben4 Milliarden Euro für den Ausbau der Kinderbetreuungzur Verfügung gestellt. Auch hierbei sieht man wieder,welche Länder ihren Kommunen Kofinanzierungmittelzur Verfügung stellen und welche nicht.Bei den Familienhebammen, beim Bildungspaket, beider Sprachförderung, bei Mehrgenerationenhäusern ha-ben wir unseren Anteil gezahlt. Der Bund lässt die Kom-munen nicht im Stich. Wir geben Hilfen und nicht dieMöglichkeit, neue Kredite aufzunehmen.
– Das hätten Sie unter Rot-Grün ja mit sehr viel wenigerDruck haben können, Sie haben es aber nicht gemacht.Von daher ist diese Aussage sehr fragwürdig.Wir haben aktuell eine einmalige Chance: Im Jahr 2011stiegen die Einnahmen aus der Gewerbesteuer um fast14 Prozent auf einen neuen Rekordwert von 42,5 Milliar-den Euro.
2008 – vor der Krise – waren es 41 Milliarden Euro. Dassind also Steuereinnahmen in einer Höhe, die es nie zu-vor gegeben hat.In dieser Situation erzählen Sie den Kommunen: Esist doch gut, wenn ihr zusätzliche Kredite zu günstigenKonditionen aufnehmt. Wir helfen euch dabei. – Das istfür uns der falsche Weg. Wir glauben, durch eine Kom-bination aus Strukturmitteln, aus Hilfen aus den Ländernund auch aus Haushaltskonsolidierungen können wir dieKommunen auf dem richtigen Weg begleiten. Bei diesenHilfsmaßnahmen stehen wir an der Seite der Kommu-nen. Das gilt aber nicht für den Fall, dass trotz über-schuldeter Haushalte zusätzliche Kredite aufgenommenwerden.Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Bernd
Scheelen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kollegin Tillmann, die schwarz-gelbe Ko-alition kann froh sein, dass es den Vermittlungsaus-schuss gibt, in dem die SPD und die Grünen eine ge-wisse Durchschlagskraft haben, sonst hätten Sie diesepositiven Dinge für die Kommunen nicht auf Ihrer Ha-benseite verbuchen können.
Gestern war ich in meiner Heimatstadt Krefeld. Dortfand eine Konferenz zur Aufstellung der Kandidatinnenund Kandidaten für die Landtagswahl am 13. Mai statt.
Es ging dort um die Wahlkreise Krefeld I und Krefeld II.Als ich sagte, dass ich heute im Bundestag eine Redezum Thema Basel III halten werde, wurde ich gefragt,welcher Wahlkreis das sei.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20523
Bernd Scheelen
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Dabei wurde mir deutlich, dass wir häufig über Dingereden, die der Bevölkerung nur schwer zu vermittelnsind. Deswegen will ich noch einmal kurz erklären, wasBasel III ist.
– Möglicherweise.Basel III ist ein Regelwerk, das der Baseler Aus-schuss für Bankenaufsicht geschaffen hat, um Leitplan-ken zu entwickeln, innerhalb derer sich Banken in ihremGeschäft bewegen können, und um auf dem Bankensek-tor Sicherheit herzustellen. Basel III heißt aber auch,dass es zuvor Basel I und Basel II gegeben haben muss.Basel I und II haben die große Finanzkrise mit dem Zu-sammenbruch von Lehman Brothers im Jahre 2008 nichtverhindern können. Deswegen ist es logisch, dass es eineWeiterentwicklung des Regelwerks geben muss. Dieseliegt uns jetzt vor. Darüber debattieren wir heute.Das Regelwerk Basel III ist sinnvoll, weil es system-relevante große Banken regulieren soll; denn dort ent-stand die Krise. Das ist der Ansatz. Wir versuchen, inunserem Antrag deutlich zu machen, dass das generelleRegelwerk, das für systemrelevante, weltweit agierendeBanken gedacht ist, die besondere Handelsgeschäfte be-treiben, nicht für alle Banken gleichermaßen angewen-det werden kann. Das würde nämlich einer Rasenmäher-methode entsprechen, durch die die Geschäfte kleinerund mittlerer Institute, die nur regional tätig sind, sehrbegrenzt würden bzw. durch die bestimmte Kreditge-schäfte sogar verhindert würden.Das ist unser Thema. Deswegen haben wir die Kom-munen in unserem Antrag – „Kommunalfinanzierung si-chern“ – erwähnt. Frau Kollegin Tillmann, es geht nichtdarum, Kommunen zu ermuntern, sich auf Teufel kommraus zu verschulden. Das, was Sie hier vorgetragen ha-ben, ist Wahlkampfrabulistik.
Es geht darum, zu ermöglichen, dass die Kommunen inZukunft noch Kredite aufnehmen können.
Sowohl der Bund, die Länder, die Kommunen wieauch die reale Wirtschaft kommen nicht ohne Krediteaus. Es ist sinnvoll, dass man über Kredite Investitionenfinanziert. Das macht jeder Privatmann, der sich einHaus bauen oder eine Wohnung kaufen will. Er geht zurBank und bittet um einen Kredit, den er dann über20 oder 30 Jahre abbezahlt. So ähnlich agieren auch diestaatlichen Ebenen, zu denen auch die Kommunen gehö-ren.Uns geht es darum, dass dies in Zukunft weiterhinmöglich ist. Wenn Sie mit den Vertretern der Sparkassenreden – reden Sie doch einmal mit Herrn Haasis; dersteht Ihnen politisch doch näher als uns –, werden Siefeststellen, dass sie sehr große Sorgen haben, dass diesesRegelwerk, wenn es nicht differenziert angewendetwird, verhindert, dass Banken überhaupt noch Kommu-nalfinanzierung machen.Wie kommt das? In diesem Zusammenhang will ich ei-nen Punkt besonders hervorheben. Das ist die Verschul-dungsobergrenze. Sie wird als Leverage-Ratio bezeich-net. Verschuldungsobergrenze heißt: Die Banken habenaufgrund ihres Eigenkapitals und Geschäftsmodells einbestimmtes Volumen, das sie als Kredit ausgeben können.Kommunalkredite zeichnen sich dadurch aus, dass siehundertprozentig sicher sind – Frau Kollegin Tillmannund Herr Sänger, Sie haben diesen Punkt angesprochen –,weil hinter den Kommunen der Haftungsverbund vonLändern und Bund steht. Wenn Sie hier die Bonität derBundesrepublik Deutschland anzweifeln wollen, dannsollten Sie das zu Protokoll geben. Ich glaube, das wäreeine falsche Aussage.
Es geht, wie gesagt, darum, dass Kommunalkreditehundertprozentig sicher sind. Kommunen können nachder geltenden Gesetzeslage nicht pleitegehen. Bankenvergeben Kommunalkredite und erhalten dafür relativwenig Zins; denn für ein sicheres Geschäft bekommtman nur eine kleine Marge.Wenn nun einer Bank im Hinblick auf ihre GeschäfteGrenzen vorgeschrieben werden, dann kann, um genü-gend Geld zu verdienen, die Neigung dieser Bank großsein, zu sagen: Wir vergeben keine Kommunalkreditemehr; wir vergeben lieber Mittelstandskredite oder küm-mern uns um andere, risikoreichere Geschäfte mit einergrößeren Marge, die also mehr Gewinn bringen. AuchInstitute wie Banken, Sparkassen, Genossenschaftsban-ken und Förderbanken leben natürlich davon, dass sie ei-nen Profit machen. Das ist ihre Aufgabe. Die Gefahr be-steht, dass sie das margenschwache Kommunalgeschäftabstoßen und sich risikoreicheren Geschäften widmen.Genau das wollten wir mit Basel III eigentlich verhin-dern. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz.Deswegen sagen wir: Das Regelwerk muss differen-ziert angewendet werden, um Kreditklemmen zu verhin-dern. Ebenso muss verhindert werden, dass sich Kom-munen in Zukunft nicht mehr finanzieren können; dennKommunen tragen 60 Prozent der öffentlichen Investi-tionen. Sie haben die Verantwortung für Arbeitsplätzeund Beschäftigungssicherung im Mittelstand und im ört-lichen Handwerk.Wenn Sie das alles eliminieren wollen, dann müssenSie gegen unseren Antrag stimmen. Ich gehe aber davonaus, dass auch Sie das örtliche Handwerk und den Mit-telstand in den Kommunen unterstützen wollen. Deswe-gen müssen Sie unserem Antrag zustimmen. Ich rechnemit einer breiten Mehrheit.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
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20524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
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Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9167 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten JörnWunderlich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAlleinerziehung von Kindern würdigen –Alleinerziehende gebührend unterstützen– Drucksache 17/8793 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und SozialesNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich bitte Sie, die notwendigen Umgruppierungen imPlenarsaal zügig vorzunehmen, damit wir jetzt dem ers-ten Redner folgen können.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeJörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bei dieser Debatte geht es um die Situation Alleinerzie-hender; man könnte glatt von der „Auflage 3“ reden. DasThema dürfte eigentlich allen bekannt sein; für die, diean partieller Demenz leiden, möchte ich kurz daran erin-nern:
Wir haben in der 16. Legislaturperiode darüber gespro-chen, wir haben auch vor anderthalb Jahren über die Si-tuation Alleinerziehender gesprochen.Alleinerziehende sind häufig massiv von Arbeitslo-sigkeit bedroht, sie befinden sich in Teilzeitarbeit odersind im Niedriglohnsektor beschäftigt. Ich will aus demKoalitionsvertrag zitieren; dort heißt es:Wir wollen die Rahmenbedingungen für Allein-erziehende durch ein Maßnahmenpaket verbessern.
Was ist in der Zwischenzeit passiert? Nichts. Seit demletzten Mittwoch wissen wir ja, wie die Familienministe-rin mit solchen Themen umgeht: Sie weiß um die Situa-tion, sie fordert Sachverständigengutachten an usw., unddann ruft sie hilfeschreiend nach Ideen und Initiativen,weil ihr selbst nichts einfällt. Gut. Wir legen nun einBündel von Maßnahmen und Initiativen vor. Ich hoffe,dass die Ministerin zumindest das eine oder andere da-von aufgreift.
In Anbetracht der Kürze der mir verbleibenden Zeitkann ich nur einige wenige Punkte aufgreifen. Es gehtzunächst um die Flexibilisierung der Arbeitszeit; darüberhaben wir schon gesprochen. Die Arbeitszeit muss flexi-bel gestaltet sein. Das ist gerade für Frauen wichtig. Indiesem Zusammenhang möchte ich noch einmal an dieQuote erinnern und daran, wie wichtig Frauen für dieUnternehmen sind. Ebenfalls erforderlich ist ein gesetz-licher Mindestlohn, um die Situation von Alleinerzie-henden deutlich zu verbessern.
Bei einem vorübergehenden Ausstieg aus dem Berufmuss weiterhin ein Rechtsanspruch auf Qualifizierungbestehen, ebenso nach dem Wiedereinstieg in den Beruf.Dieser Anspruch muss also während der Auszeit sowienach der Rückkehr Bestand haben. Die soziale Infra-struktur, auf die Alleinerziehende besonders angewiesensind, ist auszubauen. Notwendig ist insbesondere eineumfassende bedarfs- und altersgerechte Ganztagskinder-betreuung.Die Ausbildung und Qualifikation von Erzieherinnen,Erziehern, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogensind sicherzustellen und dem gestiegenen Bedarf anzu-passen. Vor Jahren habe ich Frau von der Leyen schondarauf hingewiesen, dass es, berechnet im Hinblick aufdas Jahr 2013, einen Fehlbedarf von 14 000 Erzieherin-nen und Erziehern gibt.
– Ja, Markus, die Leute gehen, aber das hat, glaube ich,andere Gründe. – Inzwischen wurde festgestellt, dassnicht nur 14 000, sondern 20 000 Erzieherinnen und Er-zieher fehlen. Es gibt aber keine entsprechend hohe Zahlvon Auszubildenden. Das heißt, die Regierung weiß,dass es zu einem Mangel kommt, aber sie macht nichts –das Übliche halt.Die Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe müs-sen rückgängig gemacht werden.
– Frau Ministerin ist auch nicht da; das stimmt. Sie inte-ressiert sich anscheinend nicht so richtig für diesesThema. –
In diesem Bereich geht es darum, auf kommunalerEbene und auf Kreisebene letztlich die alleinerziehendenMütter und – wir wollen sie nicht vergessen – die allein-erziehenden Väter zu unterstützen.In diesem Zusammenhang ist natürlich zu sagen, dassdas sogenannte Betreuungsgeld zurückzunehmen ist. Esist familienpolitisch absoluter Quatsch und Nonsens; dashat die Anhörung gezeigt. Insofern hat die Regierunggestern wieder eine Chance vertan, als es um das Betreu-ungsgeld ging.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20525
Jörn Wunderlich
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Ich zitiere einmal den VAMV, der zum Kindertages-stättenausbau sagt: Davon würden besonders Allein-erziehende und Familienernährerinnen profitieren, dennAlleinerziehende brauchen Kitaplätze und kein Betreu-ungsgeld.
Bei der Gesundheitsförderung und den Maßnahmender Prävention, bei den Mutter-Kind- und Vater-Kind-Kuren – man muss sich nur die Ablehnungspraxis derKrankenkassen anschauen – besteht dringender Hand-lungsbedarf. All das steht in unserem Antrag.Die finanzielle Absicherung von Alleinerziehendenund Kindern ist zu gewährleisten. Der Unterhaltsvor-schuss ist auszubauen. Es dürfen nicht, wie jetzt von derRegierung geplant, Streichungen erfolgen. Den Allein-erziehenden darf beim Unterhaltsvorschuss kein Monatverloren gehen, wodurch sie wieder finanziell schlech-tergestellt werden würden, was offensichtlich der Sinnder Maßnahme ist. Vielmehr ist der Unterhaltsvorschussauszubauen und bis zur Vollendung des 18. Lebensjahreszu gewähren. Die maximale Bezugsdauer von derzeit72 Monaten ist zu entfristen. Der Entlastungsbetrag fürAlleinerziehende im Steuerrecht ist auf 1 308 Euro anzu-heben. Die Kürzungen beim Elterngeld sind zurückzu-nehmen.Wenn mir jetzt einer von der Koalition kommt undsagt: „Da sind wir ja dran, und alles ist auf einem gutenWeg“, dann muss ich sagen: Diesen „guten Weg“ kenneich jetzt seit sechseinhalb Jahren. Auf dem „guten Weg“ist so dermaßen viel abgeladen worden, dass ich nichtweiß, wo er zu finden ist; wahrscheinlich ist er im Be-reich der Mythologie anzusiedeln. Es gibt Vorhaben derRegierung, die so alt sind, dass sie in Kürze eingeschultwerden.
Kollege Wunderlich, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ja, es geht doch noch.
Ich bin sofort fertig. – Langsam habe ich den Eindruck:
Bei dieser Regierung ist der Weg das Ziel. Ich denke, da
besteht dringender Handlungsbedarf, damit den Allein-
erziehenden endlich geholfen wird.
Danke für die Nachsicht. Ich wünsche frohe Ostern.
Ich weise darauf hin, dass es noch die Möglichkeitgibt, diesen Antrag in aller Ausführlichkeit in den Aus-schüssen zu beraten.
Die Kollegin Nadine Schön hat für die Unionsfrak-tion das Wort.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen!Wenn ich als Mutter alleine wäre und ich hätte we-der Partner noch Großeltern, noch soziales Umfeldoder Freunde noch irgendwas, dann würde ich viel-leicht wirklich sagen, bin ich „alleinerziehend“.Ich bin eine Mutter mit Kind, aber ich bin nicht al-leinerziehend.Das sind Aussagen aus der Studie Lebenswelten und-wirklichkeiten von Alleinerziehenden des Sinus-Insti-tuts.Diese Aussagen zeigen: Die meisten Alleinerziehen-den mögen das Wort „alleinerziehend“ nicht, weil esnach Einsamkeit und Isolation klingt. Die Studie zeigt,dass das Selbstbild alleinerziehender Mütter und Väterin Deutschland – in der Studie dreht es sich vor allenDingen um Mütter – wesentlich positiver ist als dasFremdbild. Das war für mich eine sehr interessante Er-kenntnis.Laut der Studie überwiegt bei allen Schwierigkeiten,die Alleinerziehende anerkanntermaßen haben und diewir auch in den Blick nehmen müssen, bei vielen dasglückliche und stolze Gefühl, Mutter zu sein. Viele be-werten ihr Leben weitaus weniger kompliziert, als ihnendas durch die Öffentlichkeit suggeriert wird. Sie leidenunter den Vorurteilen, dem negativen Fremdbild und derOpferrolle, die ihnen zugeschrieben wird.Diese Studie verschafft wirklich ein sehr klares Bild.Wenn man sich Medienberichte anschaut und auchschaut, wie wir immer über das Thema diskutieren – ichglaube, da müssen wir uns an die eigene Nase fassen –,dann erkennt man, dass das Bild wirklich von Begriffenwie „Hilfsbedürftigkeit“, „Chancenlosigkeit“, „finan-ziell schwierige Situation“ und „Einsamkeit“ geprägt ist.Das ist auch der Tenor Ihres Antrags, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Linkspartei. Ich finde, das müssenwir alle gemeinsam einmal überdenken.Das Bild, das Sie in Ihrem Antrag von den Allein-erziehenden zeichnen, ist sehr einfach. Deshalb sindauch Ihre Antworten auf die wirklich komplexe Lebens-situation Alleinerziehender ziemlich einfach. Sie sagenschlicht: Es muss mehr Geld her, und die Wirtschaftmuss umgekrempelt werden.
Ich habe mich beim Lesen Ihres Antrags wirklichgefragt: Was bringt nun den Alleinerziehenden eine„kollektive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnaus-
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Nadine Schön
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gleich“? Eben haben Sie die Quote angesprochen. So-sehr ich dafür bin: Aber was bringt die Frauenquote denAlleinerziehenden? Wie viele Unternehmen werdendann noch Alleinerziehende einstellen, wenn Sie denKündigungsschutz für Alleinerziehende bis zum 7. Le-bensjahr des Kindes ausdehnen? Ihre Vorschläge gehenin die falsche Richtung. Sie werden den Bedürfnissenund auch der komplexen Situation von Alleinerziehen-den in keiner Weise gerecht.
Natürlich legen Alleinerziehende wie jeder andereauch Wert auf soziale Absicherung und finanzielle Si-cherheit. Dass sie es besonders schwer haben – das zei-gen uns die Zahlen –, kritisieren Sie in Ihrem Antrag zuRecht. Was Sie aber verkennen, ist, dass auch Allein-erziehende die soziale Sicherheit am liebsten nicht vomStaat bekommen, sondern sich selbst erarbeiten wollen.Dafür spricht, dass über 57 Prozent der Alleinerziehen-den tatsächlich einen Job haben. Zwei Drittel von denen,die arbeitslos sind, wollen arbeiten. Selbstständigkeit,das eigene Leben managen, das wollen die meisten Al-leinerziehenden. Das ist ihnen wichtiger als die Transfer-leistungen, die Sie fordern. Genau in diesem Wunschsollten wir sie unterstützen.
Dafür braucht es natürlich an erster Stelle einen Arbeits-platz. Hier gilt: Sozial ist, was Arbeit schafft.
Deshalb trägt die gute wirtschaftliche Entwicklung dazubei, die Chancen von Alleinerziehenden zu verbessern.Will ich als Alleinerziehende arbeiten, dann braucheich in dieser Zeit natürlich eine gute Kinderbetreuung.Deshalb ist der vom Bund forcierte Ausbau der Kinder-tagesstätten genau das Richtige für Alleinerziehende.Nachmittagsbetreuung in den Schulen und vor allemverlässliche Schulzeiten sind hier unverzichtbare Ele-mente; denn als Mutter oder Vater kann ich nur dann ar-beiten, wenn ich mein Kind in guten Händen weiß. Be-treuung wiederum kann nur funktionieren, wenn dieArbeitszeiten mit den Öffnungszeiten der Betreuungs-einrichtungen harmonisieren.Diese Zahnräder müssen perfekt ineinandergreifen.Das macht die Sache so schwer. Deshalb beschäftigt sichdie vom Bundesfamilienministerium forcierte Initiative„Familienbewusste Arbeitszeiten“ mit genau diesemThema. Sensibilität und Verständnis des Arbeitgeberssind wichtige Voraussetzungen für die Vereinbarkeit vonKindererziehung und Beruf und für Alleinerziehendeganz besonders wichtig.
Neben dem Arbeitsplatz und neben der Betreuung istnatürlich die finanzielle Absicherung ein wichtigesThema, gerade dann, wenn derjenige, der Unterhalt zah-len muss, seinen Pflichten nicht nachkommt. FehlendeUnterhaltszahlungen können ein massives Problem fürdiejenige werden, die die Verantwortung für das Kindübernimmt. Deshalb gibt es den Unterhaltsvorschuss.Wie Sie wissen, haben wir die Höhe in dieser Legislatur-periode angehoben. Wir sind mit der Entwicklung desUnterhaltsvorschusses ganz sicher noch nicht am Ende.Diese Art von Hilfe kommt wirklich an.Schließlich brauchen Alleinerziehende unbürokrati-sche und schnelle Hilfe. In meinem Wahlkreis laufenzwei Projekte mit Alleinerziehenden als Zielgruppe. Dawurde genau geschaut: Was brauchen Alleinerziehendevor Ort wirklich? Wie Sie wissen, komme ich aus demländlichen Raum, wo die Situation besonders schwierigist. Als Ergebnis der Projekte hat sich herausgestellt:Wenn engagierte Menschen als Ansprechpartner vor Ortmit den Alleinerziehenden zusammen ein Netz spinnen,wenn sie die Kinderbetreuung sicherstellen, wenn sie imHaushalt unterstützend tätig sind und sich dafür ein-setzen, dass die Arbeitszeiten mit dem Arbeitgeber ab-gestimmt werden, dann können diese Helfer dazu beitra-gen, dass die Alleinerziehenden genau das bekommen,was sie brauchen. Dann können sie dazu beitragen, dassAlleinerziehende ihr Leben selbst managen. Das istwirklich konkrete Unterstützung, die ankommt. Von die-sen Projekten können wir alle lernen.Mit der chronischen Verteilungsmaschinerie, die Sievorschlagen, hilft man bestimmt kurzfristig, aber nichtnachhaltig. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Wirwollen Politik machen, die wirklich hilft.
Deshalb wollen wir genau so vorgehen, wie ich es ebengeschildert habe. Mit Ihrem Antrag helfen wir vielleichtkurzfristig, aber langfristig helfen wir den Alleinerzie-henden nicht.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Caren
Marks das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit demletzten Tagesordnungspunkt in dieser Sitzungswoche vorOstern debattieren wir ein wichtiges Thema: die Unter-stützung Alleinerziehender in unserem Land. Viele derim Antrag der Linken formulierten Forderungen sindrichtig und gleichermaßen wichtig. Über Details werdenwir sicherlich noch in der Ausschussberatung sprechen.
Fakt ist: Alleinerziehende, aber auch ihre Kinder leis-ten in ihrem Alltag Enormes und müssen von der Politik,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20527
Caren Marks
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von uns, insgesamt noch mehr Unterstützung erfahren,und zwar nicht nur in Form von politischen Erklärungen,Frau Schön, sondern in Form von Taten.
Der Anteil Alleinerziehender hat sich in den letzten30 Jahren verdoppelt. Die sogenannten Ein-Elternteil-Familien – in Deutschland sind es circa 1,6 Millionen –machen ungefähr ein Fünftel aller Familien in Deutsch-land aus. Es sind nach wie vor überwiegend alleinerzie-hende Frauen, circa 90 Prozent. All das ist bekannt.Aufgabe der Politik ist es, gesellschaftliche Rahmenbe-dingungen zu schaffen, die die Lebenssituation Allein-erziehender und ihrer Kinder wirklich verbessert. Politikfür Alleinerziehende ist und bleibt eine Querschnittsauf-gabe.
Dabei muss es insbesondere um die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf, um die Betreuungssituation, die Bil-dung, die Erwerbssituation, aber um auch um eine ge-zielte finanzielle Unterstützung gehen. Alles in allemgeht es um nichts anderes als um eine moderne und so-zial gerechte Familienpolitik, die diesen Namen auchverdient; denn Familie ist für uns überall dort, wo Men-schen füreinander Verantwortung übernehmen.Beim Thema Alleinerziehende geht es aber auch umGleichstellung und Chancengleichheit vor allem vonFrauen, etwa auf dem Arbeitsmarkt; es geht aber auchum die Chancengleichheit von Kindern. Im Detail gehtes natürlich – Herr Wunderlich sprach das an – um Re-gelungen im Zusammenhang mit dem Elterngeld, demSorgerecht, dem Unterhalt, dem Unterhaltsvorschussund vieles andere Wichtige mehr. Es ist theoretisch einwirklich weites Betätigungsfeld für die Bundesregie-rung. Nur leider kommt auch hier nichts, aber auch garnichts Substanzielles.Alleinerziehende brauchen einen gelungenen Mix ausall dem. Vor allem brauchen sie gute Arbeit. Nach wievor haben sie nur eingeschränkte Möglichkeiten, einerexistenzsichernden Arbeit nachzugehen und eine eigen-ständige Alterssicherung aufzubauen. Der Gleichstel-lungsbericht der Bundesregierung hat sehr deutlich dar-gelegt, dass eine eigenständige Existenzsicherung undfinanzielle Unabhängigkeit nur mit einer Vollzeitbe-schäftigung bzw. vollzeitnahen Beschäftigung möglichsind. Alleinerziehende sind mit 37 Prozent mehr als an-derthalbmal so häufig in Vollzeit erwerbstätig als Mütterin sogenannten Paarhaushalten. Die Möglichkeit, einersolchen Beschäftigung nachzugehen, hängt aber ent-scheidend vom Betreuungsangebot in unserem Land ab.Ist die Betreuung der Kinder unter sechs Jahren sicher-gestellt, ist immerhin über die Hälfte der alleinerziehen-den Mütter erwerbstätig.Allerdings liegt die Teilzeitquote von Frauen insge-samt in Deutschland deutlich über dem EU-Durch-schnitt. Fast die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen ar-beitet – überwiegend nicht gewünscht – in Teilzeit.Hauptgrund für Teilzeittätigkeit sind die Betreuung vonKindern und die Pflege von Angehörigen sowie unzurei-chende Betreuungs- und Unterstützungsangebote. Auchdeshalb brauchen wir einen Rechtsanspruch auf Wieder-aufstockung der Arbeitszeit und weder unverbindlicheErklärungen von Arbeitgebern noch Showveranstaltun-gen für die Presse.
Teilzeitarbeit und die Beschäftigung zu Niedriglöh-nen stehen einer eigenständigen Existenzsicherung Al-leinerziehender im Weg. Deshalb ist die Einführung ei-nes gesetzlichen Mindestlohns – wir können es nicht oftgenug sagen – ein notwendiger und wirklich längst über-fälliger Schritt.
Aber auch hier bleibt festzuhalten: Die Bundesregierunginteressiert sich nicht für die Situation der Frauen, undschon gar nicht für die Situation Alleinerziehender.
– Ich scheine es getroffen zu haben, sonst würden Sienicht so aufjaulen.
– Der Beweis ist noch einmal erbracht; das ist schön.Alleinerziehende benötigen vor allem verlässlicheAngebote an Kinderbetreuungsplätzen. Deswegen sindKitas und Ganztagsschulen, aber auch die Erfüllung desRechtsanspruchs auf einen Krippenplatz für unter Drei-jährige ab 2013 so besonders wichtig. Der Ausbau musshier schneller vorangehen. Wir fordern von Familienmi-nisterin Schröder, die hier in der Pflicht ist, zu Recht,endlich einen Krippengipfel einzuberufen, um mit denLändern und Kommunen schneller voranzukommen.Die Eltern und Kinder in unserem Land brauchen das.
Eine Verbesserung der Betreuungssituation bedingtauch mehr Ganztagsangebote. Eine zuverlässige ganztä-gige Betreuung geht mit mehr Chancen für eine Er-werbstätigkeit gerade Alleinerziehender einher. Dahermuss der Ausbau von Ganztagsangeboten und Ganztags-schulen vorangehen.Gerade erst gestern hat die Bundesfamilienministerineine neue Studie präsentiert. Die Studie zeigt, dass einflächendeckendes Angebot an Ganztagsbetreuungsplät-zen 110 000 Alleinerziehende in Arbeit bringen könnte.Damit wären 175 000 Kinder finanziell besser abgesi-chert. Zudem haben Kinder von Alleinerziehenden
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Caren Marks
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durch gute Betreuungsangebote – auch das sagt dieseStudie – bessere Bildungschancen.Die Studie zeigt ebenfalls ganz klar, dass sich dieGanztagsbetreuung mittelfristig für die öffentliche Handauch finanziell auszahlt: durch Erwerbstätigkeit, weni-ger Sozialleistungen, weniger Nachqualifizierung undvieles mehr.Das alles sind viele richtige und wichtige Erkennt-nisse. Aber es steht zu befürchten – wie bei vielen ande-ren Studien, die aus dem Familienministerium veröffent-licht werden –, dass es bei der Präsentation bleibt.Fakten und wichtige Erkenntnisse, wie zum Beispiel imGleichstellungsbericht, führen nicht zu einer politischenUmsetzung durch die Bundesregierung. Frau Schröderist und bleibt seit nunmehr gut zwei Jahren handlungsun-willig. Ich finde, es ist Zeit zum Aufwachen.
Der Ausbau der Kinderbetreuung ist und bleibt diewichtigste Voraussetzung dafür, erwerbstätig sein zukönnen und damit unabhängig von staatlichen Transfer-leistungen zu leben. Dies ist auch langfristig die wirklichbeste Armutsvermeidungsstrategie; denn Alleinerzie-hende haben nach wie vor ein hohes Armutsrisiko. Dasist nicht zu akzeptieren. Auch in diesem Zusammenhangbleibt unerklärbar, weshalb diese Bundesregierung dasunsinnige Betreuungsgeld einführen will.Natürlich haben auch die Transferleistungen für dieSituation von Alleinerziehenden eine Bedeutung. Mehrals jede dritte Familie mit nur einem Elternteil beziehtLeistungen der Grundsicherung nach dem SGB II. Fürknapp ein Drittel der Alleinerziehenden stellt diese Leis-tung eine Überbrückungsphase dar. Die Vermittlung inexistenzsichernde Arbeit ist eine sehr wichtige Aufgabe.Alleinerziehende brauchen auch Teilzeitqualifizie-rungsmöglichkeiten; denn diese können gerade für ar-beitslose Alleinerziehende für die spätere Berufstätigkeiteine wichtige und gute Grundlage darstellen.Ich komme zum Schluss. Zu der Situation von Allein-erziehenden gäbe es noch viel zu sagen. Fest steht: ImGegensatz zu Schwarz-Gelb wollen wir, also alle Oppo-sitionsparteien, Alleinerziehende in unserer Gesell-schaft nicht im Regen stehen lassen. Sie brauchen dieUnterstützung und Wertschätzung der Politik. Darummuss gehandelt werden.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Sibylle
Laurischk das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieseDebatte zeigt mir, dass wir noch einmal ganz grundsätz-lich etwas zum Thema Alleinerziehende sagen sollten.Man kann dieses Thema sicherlich behandeln, indemman über viele Einzelleistungen spricht. Wir sollten unsaber bewusst machen, dass sich die Gesellschaft in denletzten Jahren tatsächlich gewandelt hat. Diesem Wandelwidmen wir uns als die die Bundesregierung tragendenKoalitionsfraktionen ernsthaft.Im Raum steht zum einen der Begriff des Alleinerzie-henden, der alleinerziehenden Mutter; Frau Schön, Siehaben das Stichwort genannt. Vor Jahren war das nochein Stigma. Das war ein Tabu. Es wurde die Frage ge-stellt: Ist da etwas schiefgelaufen? Mittlerweile ist dasRealität. Ungefähr ein Viertel unserer Familien sind Fa-milien mit einem Elternteil. Das heißt, es sind Allein-erziehende. Es gibt immer mehr Alleinerziehende, übri-gens auch immer mehr alleinerziehende Männer.Männer nehmen zunehmend ihre Verantwortung wahrund stellen sich der Aufgabe, die sich aufgrund vonTrennung oder anderen persönlichen Entwicklungen ein-fach ergibt. Dieser Realität müssen wir uns politischstellen.Ich glaube, wir stellen uns dieser Realität. Im Fami-lienausschuss sind wir einhellig der Auffassung, dasswir den Bereich der Kinderbetreuung ganz entschiedenausbauen müssen. Es ist gar keine Frage mehr, ob wirdas wollen. Die Frage ist eher, ob wir das in angemesse-ner Zeit schaffen. Der Anspruch auf Kinderbetreuung istfür uns eine Selbstverständlichkeit. Er wird überhauptnicht mehr infrage gestellt.
Ich möchte hier durchaus auch anmerken, dass dasBetreuungsgeld, das in diesem Zusammenhang immerwieder genannt wird, nach meinem Dafürhalten zuRecht kritisiert wird. Der Wunsch, daheimbleiben zukönnen und sich seinem Kind widmen zu können, ist javerständlich. Ob wir dafür unbedingt Geld ausgebenmüssen, bezweifle ich.
Es ist durchaus wünschenswert, sich seinem Kind wid-men zu können. Ob wir uns das leisten können, ist eineganz andere Frage. In vielen Familien ist nicht nur dasEinkommen eines Elternteils, sondern beider Elternteiledringend notwendig, um überhaupt die Existenz der Fa-milie zu sichern. Das zeigt, dass der Alleinerziehendebzw. die alleinerziehende Mutter mit ihrem Einkommen,so sie eines hat, oftmals am Rand des Existenzmini-mums steht.Wenn die Alleinerziehende dann auch noch keinenUnterhalt bekommt, dann ist die Situation der Familieganz schwierig. In der Debatte wird dieses Thema mei-ner Ansicht nach völlig unterschätzt. Viele alleinerzie-hende Elternteile bekommen vom anderen Elternteilkeinen Unterhalt für ihre Kinder. Das ist kein Kavaliers-delikt – dies ist übrigens ein Straftatbestand im Strafgesetz-buch; dessen sollten wir uns einmal bewusst werden –, son-dern dabei handelt es sich um eine völlige Verkennung
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Sibylle Laurischk
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der Situation der Alleinerziehenden. Hier müssen wirHilfestellung geben.Ich glaube, dass das Ziel, eine Erhöhung des Unter-haltsvorschusses zu erreichen, richtig ist. Das ist finan-ziell zweifellos schwierig; daraus mache ich gar keinenHehl. Der Unterhaltsvorschuss ist eine familienpoliti-sche Leistung und keine Sozialleistung, die es schonlange gibt. Dieser Unterhaltsvorschuss muss als Über-brückungsleistung dann, wenn kein Unterhalt gezahltwird, für einen längeren Zeitraum gewährt werden undnicht nur bis zum zwölften Lebensjahr eines Kindes.Dies wurde von uns zu Recht im Koalitionsvertrag ver-ankert.Meiner Ansicht nach müssen Alleinerziehende – inder Mehrzahl sind es Mütter – die Möglichkeit zur Be-rufstätigkeit haben. Hierfür ist öffentliche Unterstützungin Form von Kinderbetreuung nötig.Im Zusammenhang mit dem Thema Alleinerziehendewird oftmals die Situation von Migranten verkannt. Al-leinerziehende Migranten befinden sich in einer nochschwierigeren wirtschaftlichen Situation. Sie leiden be-sonders unter Stigmatisierung, weil es in der Zuwande-rungsgesellschaft oftmals überhaupt nicht akzeptiert ist,alleinerziehend zu sein.In diesem Feld haben wir also einige Fragen aufzu-werfen und zu beantworten, die meiner Ansicht nach zuwenig Beachtung finden. Sie eignen sich auch nicht fürPlattitüden und kontroverse Exkurse, die man heute inder letzten Debatte eventuell noch auf den Weg bringenwill.Ich werbe dafür, dass wir das Thema Alleinerzie-hende als eine echte Aufgabenstellung der Familienpoli-tik in diesem Lande verstehen und entsprechende Si-gnale senden; dies tun wir insgesamt mit unsererfamilienpolitischen Aufstellung. Durch die Anhörung imAusschuss werden wir hoffentlich die Differenziertheitdieser Situation noch besser verstehen. Wir müssen inunsere Gesellschaft das Signal senden, dass es keinStigma mehr ist, alleinerziehend zu sein, sondern dass esje nach persönlicher Situation durchaus ein Schicksalsein kann, das man sich so nicht ausgesucht hat, demman sich aber stellt. Wir werden die bestehenden Pro-bleme hoffentlich gut lösen.Ich hoffe, dass ich in diese Diskussion etwas mehrRuhe und Augenmaß bringen konnte; das ist mir bei die-sem Thema sehr wichtig.Vielen Dank.
Mein Respekt, Kollegin Laurischk, Sie sind bisher die
Einzige, die sich an die vorgesehene Redezeit gehalten
hat.
Das Wort hat nun die Kollegin Katja Dörner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Schön, ich finde es sehrgut, dass Sie hier deutlich gemacht haben, dass sich Al-leinerziehende nicht in der Opferrolle sehen. Das istnämlich nicht so. Aber das darf gerade nicht heißen, dasswir in der Politik ihre besondere Lebenssituation undihre besonderen Bedürfnisse komplett aus dem Blickverlieren.
Das ist leider bei dieser Bundesregierung der Fall.Weitere Belege dafür sind der aktuelle Achte Familien-bericht und auch die Stellungnahme der Bundesregie-rung dazu. Der Familienbericht befasst sich dezidiert mitdem Faktor Zeit. Der Faktor Zeit ist natürlich für Allein-erziehende von ganz besonders herausragender Bedeu-tung, aber weder im Familienbericht noch in der Stel-lungnahme werden die Alleinerziehenden besonderserwähnt. Dabei müsste sich die Familienministerin denAlleinerziehenden ganz besonders widmen.Eben wurde schon gesagt: Zwei Drittel der Alleiner-ziehenden bestreiten ihren Lebensunterhalt durch Er-werbstätigkeit. Mehr als die Hälfte von ihnen arbeitet inVollzeit. Damit ist die Erwerbsquote deutlich höher alsdie verheirateter Frauen. Trotzdem ist das Armutsrisikovon Alleinerziehenden deutlich erhöht. Das muss uns zudenken geben.
Was ist zu tun? Selbstverständlich ist der Ausbau derKindertagesbetreuung elementar; das ist schon gesagtworden. Erst gestern hat das Deutsche Rote Kreuz eineStudie vorgelegt, in der ganz klar belegt wird, dass Ganz-tagsplätze unabdingbar sind. Deshalb ist es überfällig,dass in dem diesbezüglichen Bundesgesetz klargestelltwird, dass es sich beim Recht auf einen Betreuungsplatzum einen Ganztagsplatz handelt. Selbstverständlichmuss auch der Ausbau der Ganztagsschulen forciert wer-den.
Es geht um mehr. Gut die Hälfte der alleinerziehen-den Frauen mit Kindern zwischen null und sechs Jahrenhat keinen Berufsabschluss. Fast 20 Prozent haben nichteinmal einen Schulabschluss. Vor diesem Hintergrund istes fatal, dass die schwarz-gelbe Koalition die Anzahl deröffentlich geförderten Beschäftigungsangebote fast hal-biert hat; denn passgenaue Hilfen bei der Qualifizierungund die Heranführung an den ersten Arbeitsmarkt sindfür diese jungen Mütter unerlässlich. Wir unterstützenausdrücklich die Forderung im Antrag der Linken, dieMöglichkeiten, eine Teilzeitausbildung zu machen, aus-
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Katja Dörner
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zubauen, weil sich damit für viele Alleinerziehende neuePerspektiven eröffnen, insbesondere wenn sie kleineKinder haben.Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag verein-bart, die Altersgrenze der Kinder im Unterhaltsvor-schussgesetz von 12 auf 14 Jahre auszuweiten. Das wäreeine sinnvolle Maßnahme. Wir wissen: Dieses Vorhabenliegt auf Eis. Wir dürfen jetzt nicht nur nicht auf Verbes-serungen hoffen, sondern wir müssen uns eventuell so-gar auch auf Verschlechterungen einstellen. Aus demBundesrat kommt das sogenannte Unterhaltsvorschuss-entbürokratisierungsgesetz auf uns zu; Herr Wunderlichhat es schon angesprochen. Wir müssen befürchten, dassunter dem Label Entbürokratisierung Maßnahmen einge-führt werden, die faktisch zulasten der unterhaltsberech-tigten Kinder und damit ihrer alleinerziehenden Elterngehen. Wir werden uns damit im Bundestag befassen.Ich möchte Sie aber bereits jetzt für dieses Thema sensi-bilisieren, weil ich finde, dass wir das nicht zulassen dür-fen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Verband al-leinerziehender Mütter und Väter hat in einem Positions-papier zur Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sehrgut herausgearbeitet, dass alleinerziehende Frauen aufdem Arbeitsmarkt nicht in erster Linie deshalb benach-teiligt sind, weil sie alleinerziehende Frauen sind, son-dern erstens deshalb, weil sie Frauen sind, und zweitens,weil sie Mütter sind. Solange die Geschlechtergerechtig-keit auf dem Arbeitsmarkt nicht forciert wird, so langewird sich auch für alleinerziehende Mütter wenig än-dern. Wir müssen also große und kleine Räder drehen.Es wäre wichtig, bei den Alleinerziehenden endlich da-mit anzufangen.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Eckhard
Pols das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Frau Marks hat es schon gesagt:1,6 Millionen Menschen in Deutschland sind alleinerzie-hend, und 90 Prozent davon sind Frauen; da haben Sievöllig recht. Die Linksfraktion hat in ihrem Antrag ver-sucht, eine Momentaufnahme der Situation der Alleiner-ziehenden zu machen. Ich finde, das Bild, das Sie zeich-nen, ist ein bisschen schief. Sicherlich ist nicht allesglänzend; aber das Bild ist schief.Die Gründe für Alleinerziehung sind vielfältig. Malist sie ungewollt, mal gewollt. Vielleicht kommt es auchdurch das Ende einer Beziehung dazu. Wenn es ganzschlimm kommt, wird sie durch den Tod des Partnersverursacht. Aber viele Alleinerziehende sind nicht einLeben lang alleinerziehend. Wer alleinerziehend ist,muss all das, was vorher gemeinsam mit der Familie unddem Partner rund lief, allein bewerkstelligen. Dabei gehtes um Erziehung, Schule, Unterhalt, Versorgung undFreizeit; das sind nur einige Themen, die auf die allein-erziehende Person und ihre Kinder zukommen.In Ihrem Antrag fordern Sie zu Recht, dass der Staathierfür Rahmenbedingungen schaffen muss, Rahmenbe-dingungen, wie sie der Staat auch für eine funktionie-rende, florierende Wirtschaft schafft. So gut wie dieseBundesregierung dies für die Wirtschaft tut – wir mer-ken, es boomt in Deutschland –, tut sie das auch für dieFamilien in Deutschland. Dazu zählen auch die Familiender Alleinerziehenden. Das Bild, das Sie von den allein-erziehenden Familien zeichnen, ist falsch.Wir als CDU haben schon in der Großen Koalitionmit der zentralen Aufgabe einer modernen und zukunfts-weisenden Familienpolitik, wie es in Ihrem Antrag heißt,begonnen. Unter Rot-Grün war so etwas nicht möglich.Kanzler Schröder hat Familienpolitik ja noch als „Ge-döns“ abgetan.
Wir haben diese Kompetenz an uns gezogen und – ichnenne nur ein Beispiel, das wir schon mehrfach gehörthaben – die Krippenvereinbarung zwischen Bund, Län-dern und Kommunen auf den Weg gebracht. Dies warein entscheidender Schritt zur Förderung der Vereinbar-keit von Familie und Beruf. Besonders für Alleinerzie-hende muss eine bedarfsgerechte Palette von Kinder-betreuungsangeboten zur Verfügung gestellt werden.Denn gerade Alleinerziehenden ermöglicht oft erst dieKinderbetreuung eine eigene Erwerbstätigkeit, ohne dienicht selten andere staatliche Leistungen wie das Ar-beitslosengeld II in Anspruch genommen werden müss-ten.Sie behaupten in Ihrem Antrag, dass auf der Ebeneder unterstützenden Infrastruktur Defizite unübersehbarsind.
Ich behaupte das Gegenteil. Der Ausbau der Kinderbe-treuung für unter Dreijährige stockt nicht – wenn, dannvielleicht in den Ländern und Kommunen, in denen Siean der Regierung beteiligt sind.
Ich will nur ein Beispiel nennen, wo das funktioniert,Herr Wunderlich.
– Nein,
in Niedersachsen,
und zwar in meiner Heimatstadt Lüneburg.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2012 20531
Eckhard Pols
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Ich kann Ihnen sagen, dass wir dort sehr gut aufge-stellt sind. Bis Ende 2012 haben wir die 35-Prozent-Quote erreicht. Wir hören aber nicht auf. Denn wir wis-sen: Wir leben in einer wachsenden Region, und wirbrauchen mehr. Wir wollen nämlich attraktiv bleiben.Wir wollen den Alleinerziehenden das bieten, was siebrauchen. Viele Alleinerziehende sind nämlich – daswissen Sie – im Schichtdienst tätig: in der Alten- oderKrankenpflege und in Produktionsbetrieben. Daher müs-sen sich Kinderbetreuungseinrichtungen, ob in kommu-naler oder freier Trägerschaft, den zeitlichen Bedürfnis-sen der Alleinerziehenden anpassen. Wenn Flexibilitätvon der Wirtschaft gefordert wird, dann muss sie auchvon den Betreuungseinrichtungen gefordert werden.Dies ist aber Aufgabe der Kommunen.
Auch Ihre Aussage zur nicht bedarfsorientierten Be-rechnung der Hartz-IV-Regelsätze für Kinder ist falsch.Das Bundesverfassungsgericht hat seinerzeit nicht dieHöhe, sondern die Berechnungsverfahren beanstandet.Die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts inder Höhe unverändert gebliebenen Hartz-IV-Regelsätzefür Kinder sind das Ergebnis einer realitäts- und bedarfs-gerechten Ermittlung.
Die Richter konnten nicht feststellen, dass die Regelleis-tungsbeträge evident unzureichend sind.Vieles, was Sie bemängeln und fordern, sind kommu-nale Aufgaben. Diese Bundesregierung ist die kommu-nalfreundlichste, die wir seit langem haben, und sieentlastet – das haben wir auch schon gehört – die Kom-munen auf vielen Ebenen.
Die Kommunen sind für die Umsetzung des Bildungs-und Teilhabepakets für Kinder zuständig. Insbesonderealleinerziehende Mütter, die überdurchschnittlich häufigauf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchendeangewiesen sind, profitieren davon.Ich möchte noch einmal auf meine Heimat zurück-kommen. Im Landkreis Lüneburg wurde im Vorfeld eineumfangreiche und erfolgreiche Informationspolitik be-trieben. In Kitas und Schulen sind flächendeckend Hin-weise verteilt worden. Auch meine Kinder kamen mitden Hinweisen nach Hause. Außerdem wurden alle Be-darfsgemeinschaften angeschrieben. Die Rücklaufquotebeträgt immerhin über 60 Prozent.
Die Verwaltung in Lüneburg ist damit ihrer Bring-schuld nachgekommen. Ich meine aber, die Eltern habenhier auch eine Holschuld. Als Mitglied des Rates derStadt Lüneburg widerspreche ich Ihnen, HerrWunderlich, dass viele Kommunen öffentliche Infra-struktureinrichtungen wie Büchereien, Jugendzentrenund Musikschulen aus Finanznot schließen mussten. DieStadt Lüneburg baut zurzeit eine neue Musikschule, HerrWunderlich, und ein Jugendtheater ist vor zwei Jahrenentstanden.
Innovativ und zukunftsorientiert ist auch eine Projekt-idee des Landkreises Lüneburg, die im Rahmen des Mo-dellvorhabens „LandZukunft“ des Bundesministeriumsfür Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutzeingereicht wurde. Eine Kinder-Notfall-App wird Elternverlässlich über Betreuungsangebote informieren.
Das ist ein wichtiger Schritt zur weiteren Verbesserungder Situation von Alleinerziehenden.Alle Alleinerziehenden brauchen unsere gesellschaft-liche Anerkennung; das ist richtig. Viele von ihnen sinddoppelt belastet: durch Erwerbstätigkeit und Fürsor-geaufgaben. Deshalb müssen wir die Möglichkeiten derUnterstützung für Alleinerziehende ausweiten. Es darfkein Entweder-oder zwischen Familie und Beruf geben.Herr Wunderlich, ich wünsche Ihnen und auch allenanderen ein frohes Osterfest im Kreise Ihrer Familienund freue mich, wenn wir uns in etwa vier Wochen hierwiedersehen.Vielen Dank.
Herzlichen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8793 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 25. April 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute. Finden Sie auch ein wenig Erholung über die Fei-
ertage.