Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich. Eigentlich wollte ich den Kol-legen Goldmann besonders herzlich begrüßen. Sobalder kommt, bitte ich, mir einen Hinweis zu geben. Er fei-ert nämlich heute seinen 65. Geburtstag.
– Sie vermuten, er weiß das noch gar nicht?
Dann sollte vielleicht einer unserer Parlamentsassisten-ten diesen Hinweis gezielt weiterleiten.Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 34 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenWolfgang Börnsen , Bartholomäus Kalb,Viola von Cramon-Taubadel, Dagmar Freitag,Otto Fricke, Alexander Ulrich sowie weiterer Ab-geordneter25 Jahre Internationales Parlaments-Stipen-dium
enädbmsdteADFvsaBnsRedet– Drucksache 17/6350 –BeschlussfassungLiebe Kolleginnen und Kollegen, das InternationaleParlaments-Stipendium des Deutschen Bundestages fei-ert in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen. In diesemVierteljahrhundert hat der Deutsche Bundestag über1 750 jungen Menschen aus 28 Ländern die Gelegenheitgegeben, unser parlamentarisches System hautnah ken-nenzulernen, insbesondere auch durch Mitwirkung inden Büros der Abgeordneten.Ich freue mich darüber, dass viele ehemalige Stipen-diaten an den Feierlichkeiten zum Jubiläum tund die Debatte über unser weltweit immer noliges Programm gemeinsam mit Stipendiaten dden Programms auf der Tribüne verfolgen. N
agmar Freitag, Viola von Cramon-Taubadel, Ottoricke, Bartholomäus Kalb und Alexander Ulrich, seitielen Jahren unermüdlich für dieses Programm im Ein-atz ist. Ich will in diesen Dank ausdrücklich auch dienderen Beteiligten einbeziehen, vor allen Dingen dieerliner Universitäten, die politischen Stiftungen undicht zuletzt auch die am Programm beteiligten Bot-chafter. Ich freue mich, dass einige Botschafter heuteextMorgen ebenfalls als Gäste auf der Tribüne dieser De-batte beiwohnen.Wir haben uns zwischen den Fraktionen darauf ver-ständigt, dass wir über dieses Thema, das für die Tages-ordnung des Bundestages ganz ohne Zweifel eher un-gewöhnlich ist, damit aber die Ungewöhnlichkeitverdeutlicht, die dieses Programm auszeichnet, am Be-ginn unserer heutigen Tagesordnung eine halbe Stundedebattieren. Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nichtder Fall. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Wolfgang Börnsen.i der CDU/CSU, der SPD und dere bei Abgeordneten der LINKENNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)eilnehmench einma-es laufen-atürlich ist
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ein Erfolgsprogramm feiert heute Geburtstag, eine Ini-tiative, die vor 25 Jahren aus den Reihen unserer Kolle-gen ins Leben gerufen wurde und alle umfasste; ichfinde es großartig, dass das bis heute so geblieben ist. Esist ein Programm aller Abgeordneten für junge Nach-wuchspolitiker in ganz Europa. Herzlichen Dank!
Damals waren wir mutig und selbstbewusst, unsereArt des Parlamentarismus zu einer Art Exportgut, zu un-serem Beitrag im Wettbewerb der Demokratiesystemezu erklären. Es wurde ein Parlamentarismusausbildungs-programm geschaffen, das in dieser Form – der Präsi-dent hat darauf aufmerksam gemacht – einzigartig in derWelt ist.Zu den ersten Stipendiaten aus Russland gehörteNaina, eine Lehrerin. Dreieinhalb Tage war sie per Pfer-defuhrwerk, Bus und Bahn nach Moskau unterwegs, umsich unbedingt dem Interview zu stellen. Die deutscheSprache hatte sie durch die Deutsche Welle gelernt. IhreHauptsorge war, pünktlich einzutreffen. Denn das wusstesie: Auf Pünktlichkeit legt man in Deutschland besonde-ren Wert.
Wegen Ihres Könnens, Ihrer Kenntnisse, Ihrer Lust,Neues zu lernen, und ihrem unbändigen Willen, demParlamentarismus in ihrem Land neuen Schwung zu ver-leihen, wurde sie ausgewählt. Heute, 15 Jahre später, istsie Vizegouverneurin in ihrer Heimatrepublik – einerRegion von der doppelten Größe unseres Landes. Wennes um öffentliche Aufträge geht, wendet sie sich zuerstan ihre Freunde in Deutschland.Nainas Biografie ist beispielhaft für IPS-Stipendiaten.Nach Rückkehr in ihre Heimat sind sie beste Botschafterunseres Landes in ihrem Land. Diese Demokratiewerk-statt funktioniert, weil sich Jahr für Jahr gut 130 Kolle-gen des Deutschen Bundestags mit aufgeschlossenenMitarbeitern freiwillig dieser zusätzlichen Aufgabe stel-len. Sie reden nicht, sie handeln Internationalität. Sievermitteln nicht nur parlamentarisches Handwerkszeug,sondern auch – das ist noch bedeutender – die Art undWeise unseres Handelns. Sie vermitteln, was demokrati-sches Handeln eigentlich ausmacht.Diese Meisterinnen und Meister der Politik und desParlamentarismus verdienen, wie ich finde, Respekt,Dank und Anerkennung. Dieses Programm wendet sichan die zukünftige politische Elite von 28 befreundetenStaaten. Es hat das Ziel, parlamentarische Kontakte zuvertiefen und demokratische Strukturen zu stabilisieren.Gleichzeitig hinterfragen wir uns selbstkritisch, wo wirunser System optimieren können. Auch unser Parlamen-tarismus ist ausbaufähig.Ganz bewusst überlässt der Bundestag die Außenpoli-tik nicht allein der Regierung. Das IPS ist ein Teil dieserAußenbeziehungen unseres Landes, unser Beitrag zurinternationalen Zusammenarbeit. Aus diesem GrundefuSfeUamdDtedbssSnwwfrdsDuKge–leakEgveRPLFtefoJLF„MadMPaN
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sellschaftlichen und politischen Mitverantwortung. Dasist ein Resultat, auf das unser Bundestag stolz sein kann.
Unsere Verantwortung geht aber weiter. So richtigwie wichtig es war, uns vor 20 Jahren mit diesem Parla-mentsprogramm den fundamentalen Umwälzungen inOsteuropa zu stellen und uns aktiv am Aufbau jungerDemokratien zu beteiligen, so notwendig und solidarischwäre es, uns nun auch an den folgenreichen politischenUmbrüchen in den arabischen Ländern zu beteiligen.Öffnen wir das IPS auch für diese Länder! Stellen wiruns an die Seite der neuen Demokratien!
Das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen, Herr Kol-
lege Börnsen.
Das habe ich mir gedacht, Herr Präsident. Sie blinken
auch schon wieder so aufgeregt vor mir.
Genau. Wir wollen den jungen Leuten die strengen
Regeln des deutschen Parlamentarismus schließlich au-
thentisch vermitteln.
Herr Präsident, das haben wir mit diesem Dialog hin-
reichend getan.
Ich würde aber gern mit Verständnis des Präsidenten des
Hauses meinen Schlusssatz noch loswerden. Das ist mir
sehr ernst. Noch immer leben mehr als die Hälfte der
Menschen auf unserer Erde in autoritär geführten Staaten,
mehr als die Hälfte. Demokratien sind in der Minderheit.
Wer Bürger- und Menschenrechten Raum verschaffen
will, muss den Parlamentarismus weltweit fördern und
bei jungen Leuten damit beginnen. Friede und Freiheit
auf unserer Erde sind erst dann gesichert, wenn überall
auf der Welt die Vision des großartigen amerikanischen
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Schaffung von
Demokratien, Regierung des Volkes durch das Volk für
das Volk.
Danke schön.
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Petra Ernstberger
für die SPD-Fraktion.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undollegen! Ich möchte mich erst einmal bei den Ge-chäftsführern bedanken, denen es gelungen ist, diesemesonderen Programm dadurch Ausdruck zu verleihen,ass wir hier heute diese Debatte führen können. Ichlaube, viele der hier Anwesenden nehmen schon seitnger Zeit an dem Austausch mit jungen Menschen teil.ielleicht können wir sogar noch mehr dafür gewinnen.Wir kennen das Programm als IPS. Das ist unsere Ab-ürzung für Internationales Parlaments-Stipendium. Icheue mich auch, dass mehr als 200 Kolleginnen undollegen den Antrag, den Herr Börnsen initiiert hat, un-rschrieben haben. Denn das bringt die überfraktionelleerbundenheit mit diesem Programm zum Ausdruck.as zeigt, dass wir parteiübergreifend der Überzeugungind, dass der Bundestag kein in sich gekehrtes, nach in-en gerichtetes, sondern ein offenes und transparentesarlament ist. Das leben wir auch. Er ist deshalb transpa-nt und offen, weil wir Jahr für Jahr talentierte und poli-sch interessierte junge Menschen aus mittlerweileHerr Börnsen hat darauf hingewiesen – 28 Ländern inen Bundestag einladen – wir können uns vorstellen,ass noch etliche dazukommen können –, um die parla-entarische Demokratie live und in Farbe mitzuerleben.Die Auswahl der jungen Menschen ist nicht immerinfach. Es werden hohe Hürden aufgestellt, die die jun-en Menschen überwinden müssen. Eine davon ist dasst perfekte Deutsch, das wir erwarten, damit sie in un-erem Parlamentsbetrieb mitarbeiten können.Wir öffnen das Parlament für Entscheidungsträger derukunft und tragen damit einen ganz wesentlichen Teilazu bei, dass Deutschland international vernetzt wird.as ist einmalig. Wenn wir ins Ausland fahren, hörenir aus den Reaktionen aus anderen Parlamenten oft eintück Neid heraus, wenn wir berichten, was wir in die-em Bereich hervorgebracht haben.Aus den 25 Jahren IPS sind Diplomaten, Journalisten,U- und Ministerialbeamte, Mitarbeiter von Denkfabri-en, politischen Stiftungen und NGOs hervorgegangen.iele von ihnen sitzen an besonderen Schaltstellen inter-ationaler, supranationaler und nationaler Organisatio-en. Das ist unser Netzwerk.Lassen Sie mich kurz ein Beispiel nennen. Ich enga-iere mich sehr im Bereich der deutsch-tschechischenusammenarbeit. Als uns der ehemalige Ministerlexandr Vondra hier besuchte, sagte er bei einem Ge-präch mit einem Lächeln: Frau Ernstberger, ich kenneie persönlich noch nicht, aber ich kenne Ihr Netzwerk.as ist ein Erfolg des IPS.
Ich möchte an dieser Stelle den vielen Personen dan-en, die es ermöglichen, dass wir im Parlament ein sol-
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Petra Ernstberger
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ches Programm durchführen können. Ich möchte michbei Herrn Börnsen, aber auch bei Dagmar Freitag undBartholomäus Kalb bedanken, die die Arbeit des IPS in-zwischen schon lange begleiten. Sie sind die Motorenund das Herz dieses Praktikums.
Ebenso möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitar-beitern der Bundestagsverwaltung herzlich danken, dieden Rahmen dafür schaffen, dass wir dieses Programmüberhaupt organisieren können. Nur mit ihnen kann eineUmsetzung gewährleistet werden. Wichtig sind auch dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten, diesich um die Arbeit, die Zuweisung und das Klima in denBüros und Ähnliches kümmern müssen; denn es istwichtig, dass die Stipendiaten ein bisschen Lebensgefühlvon dem vermittelt bekommen, was bei uns in den Ab-geordnetenbüros passiert. Deswegen gilt ihnen ein ganzbesonderer Dank.
Viel verdanken wir auch den externen Beteiligten,zum Beispiel den Botschaften, die im Vorfeld bereits dieAuswahl treffen und damit viel organisatorische Arbeithaben. Ich danke aber auch den politischen Stiftungen,die für ein interessantes Rahmenprogramm sorgen.Zum Schluss möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnenund Kollegen, herzlich danken, dass Sie Ihre Büros fürdas IPS öffnen und damit den jungen Menschen undauch uns die Chance gegeben haben, das Programmdurchzuführen.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Frau Dr. Christel Happach-Kasan ist die
nächste Rednerin für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich besonders, heute zum Thema Internationales
Parlaments-Stipendium sprechen zu dürfen, weil das
Thema uns alle bewegt und weil es eine Erfolgsge-
schichte ist, die Europa prägt.
Am Anfang gab es nur einen Austausch mit den USA.
Gestern Abend trafen wir uns mit den 114 Stipendiaten
aus 27 Ländern, und wir hatten einen begeisternden Sti-
pendiatenabend. Ein solcher Stipendiatenabend ist im-
mer ein Spiegel, der uns vorgehalten wird und der uns
zeigt, wie junge Menschen, die überwiegend aus Europa
kommen, unser Land sehen. Gestern Abend war ich
schon etwas überrascht, dass sie das Thema Bonn-Berlin
aufgegriffen haben. Wir hatten dort eine bezaubernde
fette Henne; das muss man einfach einmal sagen.
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beit. Wir sollten bei allen Haushaltsberatungen immerdaran denken, dass wir den Deutschunterricht in diesenLändern stärken und dazu kommen müssen, dass sich inmöglichst vielen europäischen Ländern Deutsch alszweite Fremdsprache etabliert. Das ist eine Vorausset-zung dafür, dass wir ein solches Programm durchführenkönnen.
Als Vorsitzende der Deutsch-Baltischen Parlamen-tariergruppe ist es mein Anliegen, dass die Alumni-Netzwerke an den Botschaften gepflegt werden. Bei je-der Delegationsreise, die wir nach Lettland, Estland undLitauen gemacht haben, haben wir dafür gesorgt und da-rauf gedrungen, dass die Botschaften diese jungen Men-schen mit einladen, weil sich die Wirkung eines solchenProgrammes dann potenziert und wir erfahren, was siemachen.Eine Stipendiatin von mir ist inzwischen an der Bot-schaft in Serbien beschäftigt. Natascha aus Serbien habeich wiedergefunden, als wir in Belgrad neue Stipendia-ten für das Programm ausgesucht haben. Sie ist dort eineNetzwerkerin, genauso wie sie das hier im DeutschenBundestag schon gewesen ist. Diese Dame hatte sich da-mals nicht wirklich dafür interessiert, was in den Aus-schüssen hier vor sich ging, aber sie war perfekt im Bil-den von Netzwerken und im Knüpfen von Kontakten. Eswar ein Erlebnis, sie dabeizuhaben.Wolfgang Börnsen, ich glaube, dass es richtig ist,wenn wir dieses Programm ein bisschen ausweiten. Ichdenke ebenfalls an die nordafrikanischen Staaten und aneine Unterstützung des Aufbaus ihrer Demokratien. Ichdenke aber zum Beispiel auch an ein Land wie die Mon-golei, wo ein großer Teil der Menschen deutsch spricht.Ich glaube, wir sollten es auch den jungen Menschendort ermöglichen, hierherzukommen.Herr Präsident, gemeinsam mit der Kollegin UteKumpf hatte ich Ihnen dazu einen Brief geschrieben.Wenn wir darüber nachdenken, das Programm zu erwei-tern, dann sollten wir in unsere Überlegungen die Mon-golei einbeziehen. – Klatsch doch einmal laut, Cornelia.Es ist doch gar nicht so schlimm, bei mir zu klatschen.
– Die FDP ist da immer sehr solidarisch. Ich bedankemich.
Das Besondere an der Mongolei ist, dass die DDRKontakte in dieses Land unterstützt hat und dass es des-wegen dort eine Führungselite gibt, die deutsch spricht,und dass dort Deutsch gelernt wird. Das ist eine sinn-volle Voraussetzung, um weitere Kontakte zu knüpfen.Ich könnte mir vorstellen, dass wir dieses Programm einbisschen ausweiten. Ich bitte alle Kolleginnen und Kol-legen, die sich hier engagieren, dies weiterhin zu ma-caAtiaIPfeubeEindzslefoddMKgBazkrifasesgUbggdNMih
Alexander Ulrich ist der nächste Redner für die Frak-
on Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derktuelle Tagesordnungspunkt ist der 25. Geburtstag desS. Es ist toll, dass wir diesen Antrag fraktionsübergrei-nd gemacht haben und dass wir diese drei Tage nutzen,m gebührend zu feiern. Der Geist, der durch diese De-atte weht – das ist ganz wichtig – macht deutlich: Gäbes das IPS nicht, man müsste es erfinden. Das zeigt dierfolgsgeschichte dieses Programms.
Als wir vor 25 Jahren begonnen haben, da stand hier Berlin noch die Mauer. Viele Länder, die heute beiiesem Programm dabei sind, gab es noch gar nicht. Daseigt, welche Geschichte sich in diesen 25 Jahren ab-pielte und wie wir versuchen, einen kleinen Beitrag zuisten, dass in diesen Ländern demokratische Prozesserciert werden, dass diese Prozesse gestärkt werden,ass junge Menschen in ihrem Heimatland versuchen,iesen Prozess mitzubegleiten.Diese jungen Menschen werden später nicht immerinister, Herr Börnsen. Oftmals sind es auch kleinerearrieren. Ich habe in dieser Woche einmal Rückschauehalten. Ein Beispiel ist die Europareferentin unsererundestagsfraktion. Sie ist eine ehemalige Stipendiatinus Bulgarien. Gestern war ich sehr stolz, dass die jet-ige Stipendiatin aus Lettland, die gestern aus Riga ge-ommen ist, die Zusage bekommen hat, als Dolmetsche-n nach Brüssel zu gehen. Das zeigt: Solche Karrierenngen klein an. Für diese jungen Menschen ist es tat-ächlich sehr wichtig, eine Praktikumsbescheinigung zurhalten, die sie vorzeigen können; denn eine solche Be-cheinigung hilft ihnen bei ihren Karrieren.Dem Dank, der hier schon an viele Adressen gegan-en ist, möchte ich mich anschließen. Das sind die dreiniversitäten hier in Berlin. Das sind die vielen Mitar-eiter der Verwaltung. Das sind die politischen Stiftun-en, die das Ganze mit ihren Programmen in hervorra-ender Weise begleiten. Aber letztendlich sind es auchie Abgeordneten, die jedes Jahr immer wieder aufseue gesucht werden müssen, die bereit sind, für fünfonate einen jungen Menschen aus diesen Ländern inrem Büro mit auszubilden.
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Alexander Ulrich
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Ich kann nur an diejenigen Abgeordneten appellieren,die bisher noch nicht dabei waren und vielleicht erstheute auf das Programm aufmerksam werden: Das isteine tolle Sache. Das ist keine zusätzliche Belastung.Vielmehr empfinde ich persönlich es so, dass diese jun-gen Menschen in meinem Büro eine Bereicherung dar-stellen.
Weil wir uns freiwillig oder auch gezwungenermaßenmit diesen Ländern beschäftigen, betrachten wir vielesin Diskussionen aus einem anderen Blickwinkel. Dabeistellen wir auch unsere eigenen demokratischen Pro-zesse infrage; denn wenn wir gefragt werden, warum derBundestag etwas so und nicht anders macht, dann müs-sen wir vielleicht selbst antworten: So ganz klar ist dasnicht, das könnte besser gemacht werden. Die Stipendia-ten bringen auch Lernprozesse für unsere Demokratiemit ein.Wir haben immer wieder darüber gesprochen: Wiekann man das Programm erweitern und fortsetzen? Wirkönnen nicht auf dem aktuellen Stand stehen bleiben.Wir müssen immer versuchen, die Inhalte zu evaluieren.Wir müssen die Seminare der politischen Stiftungen kri-tisch hinterfragen. Die Frage ist auch, wie sich die Zu-sammenarbeit mit den Universitäten weiterentwickelnsoll. Ein weiterer Aspekt wurde schon angesprochen:Können wir das Programm auch auf andere Länder aus-dehnen? Als Beispiele sind Nordafrika und die Mongoleierwähnt worden. Ich sage: Es wäre sinnvoll, auch dieTürkei mit ins Boot zu nehmen.Wenn man etwas hinzunimmt, aber das Programmnicht ausweiten kann, ist die entscheidende Frage, wasman an anderer Stelle wegnehmen kann. Das ist immerein schwieriger Prozess. Unter den teilnehmenden Län-dern gibt es Staaten, in denen die Demokratie auf einemähnlich guten Stand wie in Deutschland ist, aber es fälltuns aus anderen Gründen schwer, diese Länder aus demProgramm herauszunehmen.Wenn wir mehr Länder mit aufnehmen wollen, müs-sen wir deshalb darüber reden, ob wir das Programm ins-gesamt erweitern können. Sind finanzielle Mittel vor-handen? Stehen mehr Abgeordnete zur Verfügung? Istein größeres Programm noch zu schultern? Es wäre fan-tastisch, wenn dies gelingen könnte. Denn es würden si-cherlich über die 28 teilnehmenden Länder hinaus nochviele andere gerne teilnehmen.Der Dank gilt, wie gesagt, allen Beteiligten, die schongenannt worden sind. Lassen Sie uns so weitermachen.Es ist ein gutes Programm. Auf die nächsten 25 Jahre!Vielen Dank.
Die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel hat jetztdas Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.GggremwphoddliErevsKeDb1–kadtiesmcwpndknuscmng
Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-en! Wer gestern Abend die Präsentation der diesjähri-en IPSler gesehen hat, weiß genau, worüber meine Vor-dner geredet haben. Über 100 junge Menschen habenit viel Kreativität und Witz zum Ausdruck gebracht,as sie in den fast fünf Monaten in Berlin im Alltag, imolitischen Umfeld und in unseren Büros mitgenommenaben.Es geht also um mehr als um irgendein Praktikumder um irgendeine Mitarbeit in unseren Büros. Es gehtarum, einer neuen Generation von jungen, politischenkenden Menschen aus den Partnerländern die Mög-chkeit zu eröffnen, nicht nur gemeinsame beruflicherfahrungen, sondern vor allem auch soziale und kultu-lle Erfahrungen zu machen. Es geht um das Vermittelnon interkultureller Kompetenz, wie wir es immer sochön nennen. Das ist also auch an uns adressiert.Genau diese Mischung aus Politik, Wissenschaft undultur macht das Internationale Parlaments-Stipendiuminmalig.
er Deutsche Bundestag war meines Erachtens sehr guteraten, diesen Weg der Soft Power, wie wir es nennen,986 erstmals zu beschreiten.
Das können Sie sicherlich machen, Herr Oswald.Das ursprünglich für den Austausch mit den USAonzipierte Programm ist sukzessive auf weitere Länderusgedehnt worden. Mittlerweile zeigt sich, wie wichtigiese Erweiterung war. Vor allem die jungen Demokra-en in Mittel- und Osteuropa profitieren besonders voninem solchen Austausch und der Mitarbeit im Deut-chen Bundestag.
Das ist der erste Punkt, für den ich hier gerne werbenöchte – das klang auch schon teilweise an –: Es ma-hen sich immer mehr Länder in unserer näheren undeiteren Nachbarschaft auf den Weg zu einem neuenolitischen System. Einige entwickeln sich derzeit zu ei-er parlamentarischen Demokratie. Insbesondere füriese sehr jungen, noch instabilen und anfälligen Demo-ratien wären Programme wie dieses geeignet, institutio-elle Aufbauarbeit vor Ort in den Parlamenten mit zunterstützen.Ägypten, das an der Schwelle zu einer Demokratieteht, ist dafür ein gutes Beispiel. In mehreren Gesprä-hen mit jungen, gut ausgebildeten Ägyptern, aber auchit Marokkanern und Tunesiern habe ich eines mitge-ommen: Geld allein wird diese Länder nicht weiterbrin-en. Aber wenn wir sie bei der parlamentarischen Aus-
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Viola von Cramon-Taubadel
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bildung unterstützen, wäre das Gold wert. Es wäre füruns auch eine Investition in eine hoffnungsvolle Zu-kunft.
Das sollten wir bei der Aufstellung unseres nächstenHaushalts unbedingt berücksichtigen. – Jetzt klatschtkeiner.
Der zweite, nicht zu unterschätzende Faktor ist derNetzwerkgedanke. Gestern haben die ehemaligen Sti-pendiaten ein Alumni-Netzwerk gegründet. Der HerrBundestagspräsident hat das etwas spöttisch als deutscheKrankheit abgetan.
Ich nenne es dagegen nachhaltige Außenpolitik. SolcheVereine und Netzwerke sichern die Nachhaltigkeit diesesProgramms.Zum einen halte ich es für essenziell, dass sich diejungen Führungskräfte dauerhaft über ein Netzwerk aus-tauschen; zum anderen ist das Programm selbstverständ-lich keine Einbahnstraße. Auch für uns Abgeordnetezahlt sich die Zusammenarbeit mit den Partnerländernaus.
Auch wir sind darauf angewiesen, den direkten Kontaktzu Entscheidungsträgern in anderen Parlamenten zu su-chen. Genau da fungieren die IPSler bzw. die ehemali-gen IPSler als wichtige Brücke.Weil wir auch langfristig den Dialog mit den Partnernbenötigen oder sogar ausbauen wollen, möchten wir die-ses Programm zum beiderseitigen Vorteil noch langeweiter unterstützen. Aber heute feiern wir erst einmaldas 25-jährige Bestehen des IPS, zu dem auch ich allenGeburtshelfern – ich weiß nicht, ob einer von ihnenheute anwesend ist – und heutigen Aktiven ganz herzlichgratulieren möchte.Danke schön.
Bevor sich hier eine verheerende Legendenbildung
festsetzt, will ich aus Gründen der historischen Wahrheit
darauf hinweisen, dass ich mir gestern Abend bei dem
Empfang die Bemerkung erlaubt habe, dass die Neigung,
die Wichtigkeit einer Sache durch Gründung eines Ver-
eins zu dokumentieren, zu den herausragenden Merkma-
len deutscher Kultur gehört.
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gen. Das ist ein unschätzbar hohes Gut, erst recht, wennes schwierige Entwicklungen da oder dort gibt.
Darauf wurde schon hingewiesen: Es ist geradezueine Plattform entstanden, von der aus die jeweiligenProgrammteilnehmer aus den verschiedensten Ländernmiteinander kommunizieren und zusammenarbeiten. Siepflegen nicht nur persönliche Freundschaften, sondernsprechen sich auch in politischer Hinsicht ab. Viele die-ser Menschen haben inzwischen erfreulicherweise sehrwichtige und einflussreiche Positionen in ihren Heimat-ländern inne.Meine sehr verehrten Damen und Herren, so bleibtmir eigentlich nur, zu wünschen, dass sich dieses Pro-gramm, so wie es gestern bei diesem herrlichen Stipen-diatenabend zum Ausdruck gekommen ist, in den nächs-ten 25 Jahren weiterentwickelt, damit die Vision, diegestern vorgetragen worden ist, im Jahre 2036 Realitätwerden kann. Ich wünsche allen Teilnehmerinnen undTeilnehmern der Vergangenheit und der Zukunft allesGute und viel Erfolg. Uns, dem Deutschen Bundestag,wünsche ich für die Zukunft viel Freude mit diesem Pro-gramm.Herzlichen Dank.
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf der Tribüne! Normalerweise ist es eineFreude, als letzter Redner einer Debatte zu sprechen, vorallen Dingen dann, wenn es um kontroverse Themengeht. Heute Morgen ist es etwas schwieriger: Sie habenfestgestellt, wie einmütig wir dieses Programm unter-stützen. Deshalb möchte ich nur noch einige wenige An-merkungen, auch aus dem persönlichen Erfahrungs-schatz, machen.Wir sprechen in diesem Hohen Hause oft über Nach-haltigkeit – ein Begriff, der viele Debatten prägt. DiesesProgramm ist eine der nachhaltigsten Initiativen, die derDeutsche Bundestag je geschaffen hat.
Das sollten wir uns vor Augen halten, wenn wir über diesehr schmucklose Abkürzung IPS sprechen.Das IPS ist alles andere als schmucklos oder langwei-lig, im Gegenteil: Es ist einzigartig, unverwechselbarund, wie ich finde, in einem ausgesprochen spannendenAlter – 25. Auf der Tribüne sitzen viele junge Leute, diegenau in diesem Alter sind. Erste Erfahrungen sind indiesem Alter gemacht. Man hat daraus gelernt, und manist vor allen Dingen eines: noch neugierig auf die Zu-kdCdGsntadSWwwWSinghdDkdOdgozMntegsgDisdvv–bgnag
hne Sie gäbe es dieses Programm nicht. Danke schönafür!
Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind diejeni-en, die die jungen Stipendiaten einarbeiten. Wir, Abge-rdnete und Mitarbeiter, bekommen aber auch sehr vielurück. Wir haben in der Regel hochmotivierte jungeenschen in den Büros, denen wir die Chance geben,icht nur Einsichten zu gewinnen, sondern auch Vorur-ile abzubauen, Informationen über das eigene Land zueben und ein internationales Netzwerk zu bilden, daseinesgleichen sucht. Daher denke ich: Dieses Pro-ramm ist eine fantastische Investition in Toleranz, inemokratieverständnis, in Völkerverständigung, und est somit jeden Euro wert, den wir dort investieren.
Wir haben heute häufig über den wunderbaren Stipen-iatenabend gesprochen. Es war beeindruckend, mit wieiel Fantasie und Empathie die jungen Menschen aus soielen Nationen eine gemeinsame Idee formuliert haben die Idee, zusammenzuarbeiten und zusammenzublei-en. Hierzu haben sie kürzlich sogar einen Fördervereinegründet.Ich glaube, dieses wunderbare Programm ist auf ei-em guten Weg. 25 ist kein Alter. Deshalb sollten wirlle gemeinsam daran mitarbeiten, dass dieses Pro-ramm noch viele Jahre weiterbesteht.Ich danke Ihnen.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Abgeordneten Wolfgang Börnsen, Bartholomäus Kalb,
Dagmar Freitag und weiterer Abgeordneter auf der
Drucksache 17/6350 mit dem Titel „25 Jahre Internatio-
nales Parlaments-Stipendium “. Jetzt wird es knapp:
Wer stimmt für den Antrag?
Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme?
– Das Präsidium ist sich einig, dass an der Mehrheit kein
Zweifel bestehen kann.
Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Damit hat der Deutsche Bundestag nicht nur mit gro-
ßer Freude und ein bisschen Stolz den Erfolg von 25 Jah-
ren dieses Programms gewürdigt, sondern gleichzeitig
seine Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, es fort-
zusetzen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung eines aktiven Schutzes von Kindern und
– Drucksache 17/6256 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. –
Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch, sodass wir so
verfahren können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann
Kues.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Eines steht fest: Mit dem neuen Bundeskinderschutzge-setz werden wir eine neue Qualität im Kinderschutz inunserem Land erreichen. Mit dem Bundeskinderschutz-gesetz setzt die Bundesregierung eines der wichtigstenVorhaben in dieser Legislaturperiode um. Sechs Jahrenach dem ersten spektakulären Fall der Kindesverwahr-logreeGßKBgEdsDbuegKüIcdPintugsnbveedkfäDgJÄgGwmKbkddnVHti
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ratung von Familien in schwierigen Lebenslagen nutzen.Sie begleiten diese Familien bis zu einem Jahr nach derGeburt des Kindes, unterstützen die Eltern-Kind-Bezie-hung und können Hilfen vermitteln. Dadurch überneh-men sie eine wichtige Lotsenfunktion im Netzwerk Frü-her Hilfen.Deshalb wollen wir Länder und Kommunen dabei un-terstützen, Familienhebammen einzusetzen, und zwarvorbeugend im Sinne unseres gemeinsamen Ziels, Kin-der besser vor Vernachlässigung und Gewalt zu schüt-zen. Im Rahmen unserer „Bundesinitiative Familienheb-ammen“ stellen wir dafür insgesamt 120 Millionen Eurofür einen Zeitraum von vier Jahren zur Verfügung.Wir freuen uns, dass der Bundesrat grundsätzlich eineAusweitung der Hebammenleistungen befürwortet. Ichsage ausdrücklich: Wir haben eine gute Lösung im Ge-setz. Wir sind dafür offen, noch bessere Lösungen zuentwickeln, wenn alle daran mitwirken, und zwar in jeg-licher Hinsicht. Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrensgibt es hierfür Raum. Wir sind bereit, daran mitzuwir-ken. Über die Details können wir uns gern in den parla-mentarischen Beratungen verständigen.Ich sage aber auch ganz klar an die Adresse aller Be-teiligten – Bund, Länder, Gemeinden –: Kinderschutzgibt es nicht zum Nulltarif. Das muss jeder wissen. Wirmüssen in den Bereich der Frühen Hilfen investieren;denn die Stärkung von Familien durch Frühe Hilfen undverlässliche Netzwerke – gerade in den ersten Lebens-jahren der Kinder – ist ganz entscheidend für einen er-folgreichen Schutz. Ich sage ausdrücklich: Der Bundleistet seinen Beitrag. Wir hoffen, dass auch Länder undKommunen hierzu ihren Beitrag leisten.Meine Damen und Herren, neben den Frühen Hilfenist im präventiven Kinderschutz ein weiterer Aspekt vonzentraler Bedeutung: Einschlägig Vorbestrafte müssenvon Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe ausge-schlossen werden. Eltern müssen sich darauf verlassenkönnen, dass der Staat ihre Kinder bestmöglich schützt,wenn sie sie Personen anvertrauen, die im staatlichenAuftrag oder im Rahmen eines staatlich finanzierten An-gebotes tätig sind. Auch darüber besteht ein breiter Kon-sens.Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass hauptamtlicheMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der öffentlichen undfreien Jugendhilfe künftig ein erweitertes Führungszeug-nis vorlegen müssen. Auch Ehrenamtliche, die einen en-gen und intensiven Kontakt zu Kindern und Jugendli-chen haben, werden ein erweitertes Führungszeugnisvorlegen müssen. Es wird aber keine allgemeine Vorla-gepflicht für Ehrenamtliche geben. Das wäre kompliziertund höchst bürokratisch. Deswegen verpflichtet das Ge-setz die Entscheidungsträger vor Ort, sich darüber zuverständigen, für welche konkrete ehrenamtliche Tätig-keit die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisseserforderlich ist. Damit stärken wir den Schutz der Kin-der, belasten aber das große Engagement der ehrenamtli-chen Mitarbeiter nicht durch allzu viel Bürokratie.
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Ich denke, dass jedes Kind von Anfang an ein Rechtarauf hat, gesund und behütet aufzuwachsen. Das Bun-
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Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
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deskinderschutzgesetz hilft dabei entscheidend. Wir ha-ben lange diskutiert, wir haben mit vielen diskutiert, wirhaben das erarbeitet, auch im Rahmen eines Runden Ti-sches. Ich glaube, dass der Gesetzentwurf eine guteGrundlage bildet, um sich, wenn guter Wille da ist – da-ran zweifele ich nicht –, parteiübergreifend und auch mitden Ländern zu einigen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Frak-
tion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär,von diesem Haus, von uns gemeinsam, herzlichenGlückwunsch an die Ministerin zur Geburt ihrer Toch-ter!
– Zu der Geburt der Tochter Ihrer Ministerin, um daskorrekt auszudrücken.
Die Rede des Staatssekretärs könnte vermuten lassen,dass die konsensuale Atmosphäre, die wir heute bereitsbeim ersten Tagesordnungspunkt gespürt haben, sichhier fortsetzen könnte. Ich darf Ihnen versichern: Das istim Grundsatz auch so. Wir haben wirklich gemeinsamdas Ziel, dass Kinder und Jugendliche gut, gesund undsicher aufwachsen. Aber es liegt natürlich noch eineganze Menge Arbeit vor uns. Ich freue mich, dass derStaatssekretär ausdrücklich gesagt hat, welchen qualita-tiven Sprung dieser Entwurf gegenüber den letzten be-deutet, und er Bereitschaft signalisiert hat, im parlamen-tarischen Verfahren einige Änderungen möglicherweisegemeinsam vorzunehmen.Der Entwurf weist in die richtige Richtung. Er hat zueinem Teil den Schutz, aber zu einem anderen Teil auchdie Prävention zum Inhalt. Die Prävention war derPunkt, an dem es damals in der Bundestagsfraktion derSPD gescheitert ist: Der präventive Charakter war imGesetzentwurf von Frau von der Leyen nicht ausrei-chend verankert. Insofern muss ich ausdrücklich sagen:Hier gab es einen Qualitätssprung. Wir sind sehr dankbardafür, dass Sie diese Anregungen aufgenommen haben.
Es ist auch richtig, dass der verstärkte Einsatz von Fa-milienhebammen von Ihnen im Entwurf verankert wor-den ist. Natürlich haben Familienhebammen den bestenZugang zu Familien. Sie genießen Vertrauen und könnendeshalb auch die Brücke zur Kinder- und Jugendhilfeaufbauen. Aber hier bleiben Sie tatsächlich auf halbemWnmdsssnujäsmzFwraVsjeghsnIcvfüsdsDreneFgdPlerefrGw2eshVzF
Die Länder und Kommunen werden mit der An-chlussfinanzierung überfordert sein. Derartige Situatio-en haben sie schon mehrfach durchlebt und durchlitten.h darf an die Mehrgenerationenhäuser erinnern. Frauon der Leyen ist durch das Land gezogen und hat sichr die Etablierung der Mehrgenerationenhäuser, dieinnvoll sind, feiern lassen. Wir wissen aber alle, dassie dauerhafte Finanzierung aller Mehrgenerationenhäu-er nicht gesichert ist.
eshalb sage ich immer: Das Modellhafte muss aufhö-n. Bei einem Gesetzentwurf muss klar sein, wie die Fi-anzierung dauerhaft gesichert werden kann.
Richtigerweise sehen Sie bessere frühe Hilfen undine bessere Information von Eltern, zum Beispiel inorm von Elterngesprächen, vor. All dies haben Sie auf-enommen. Von wem das umgesetzt wird, ist klar: vonen Kommunen. Die Kommunen müssen zusätzlichesersonal zur Verfügung stellen, um diese Aufgabe erfül-n zu können; denn die Jugendämter sind schon mit ih-n jetzigen Aufgaben voll ausgelastet und haben keineeien Kapazitäten. Deshalb müssen wir uns gemeinsamedanken darüber machen, wie das Vorhaben umgesetzterden kann und wo das Geld dafür herkommt.Die Kommunen haben darüber hinaus die Pflicht, bis013 den gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz zurfüllen. Es müssen Zigtausend zusätzliche Plätze ge-chaffen werden. Der von uns geforderte Kindergipfelat nicht stattgefunden. Wir sagen: Bitte setzt euch mitertretern aller Ebenen zusammen, um die Finanzierungu regeln. Es ist immer wieder das gleiche Thema: Dieinanzierung muss gesichert sein.
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Dagmar Ziegler
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Wir halten den Weg über das Bundeskinderschutzge-setz für richtig. Wir appellieren eindringlich an Sie, dieFinanzierungsfrage gemeinsam mit den Ländern, denKommunen und den Bundestagsfraktionen zu lösen. Einletzter Appell: Solange es auf allen Ebenen, auf Bundes-,Landes- und kommunaler Ebene, einen so enormenHandlungsbedarf gibt und solange jeder sagt: „Wir brau-chen Geld für sinnvollen Kinderschutz“, so lange sparenSie sich bitte Diskussionen über Steuerentlastungen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich bin der Meinung, dass diesesGesetz ein Meilenstein für den Kinderschutz in Deutsch-land ist. Wir sind uns, glaube ich, alle einig, dass kaumein Thema ernster ist als das Thema „Kindesvernachläs-sigung, Kindesmisshandlung und Kindstötung“.Von 1998 bis 2009 starben jährlich mehr als50 Kinder durch einen tätlichen Angriff. Die Zahl derFälle der Misshandlung Schutzbefohlener hat sich in denletzten zehn Jahren auf 4,4 Fälle pro 10 000 Kinder er-höht. Die Zahl der Sorgerechtsentzüge ist von 2005 bis2009 um 40 Prozent gestiegen. Wenn es so weit kommt,ist es allerdings meist schon zu spät. Das zeigt: Das Si-cherheitsnetz für Kinder war bisher zu grob gestrickt. Esist daher aus Sicht der FDP-Fraktion sehr wichtig, dassin diesem Gesetzentwurf die Prävention eine größereRolle spielt, und deshalb haben wir in der letzten Legis-laturperiode, in der Opposition, den von Frau von derLeyen vorgestellten Gesetzentwurf abgelehnt. Beidesgehört zusammen: Prävention und Intervention. Das waruns von der FDP-Fraktion ganz besonders wichtig.
Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet eine Präzi-sierung und eine Beseitigung offensichtlicher Unrichtig-keiten des letzten Entwurfs. Die Prävention, die FrühenHilfen und die Schaffung eines dichten Hilfsnetzwerkssind essenziell. Ich kann nicht verstehen, warum dieSPD diesem Gesetzentwurf nicht zustimmt.
Sie fordern selbst ein Kinderschutzgesetz.
– Ich habe Ihnen zugehört, aber der Presse konnte manentnehmen, dass sich zum Beispiel Frau Rupprecht undFrau Schwesig sehr zurückhaltend geäußert haben.WicdseJDramPsdbSSsÄwnngwgvKsmIndwfahSliliddtiHdBdlewv
enn ich jetzt andere Stimmen vernehmen kann, freueh mich sehr;
enn ich bin der Meinung, dass wir das Kinderschutzge-etz fraktionsübergreifend angehen sollten. Ich werbe fürine breite Zustimmung. Frau Rupprecht hat im letztenahr gesagt:Einen besseren Kinderschutz gibt es nicht zumNulltarif.as stimmt. Jetzt höre ich aber, dass wir von Bundes-tsseite, von den Ländern, keine Zustimmung bekom-en, weil es Geld kosten wird. Das ist widersprüchlich.
assen Sie auf, dass Sie sich nicht in Widersprüche ver-tricken. Wir jedenfalls sind der Meinung: Wir brauchenie Zustimmung von Bundestag und Bundesrat für einenesseren Kinderschutz.Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf wird eineollverpflichtung für die Bereitstellung Früher Hilfen imGB VIII festgeschrieben. Alle Akteure im Kinder-chutz, zum Beispiel Jugendämter, Krankenhäuser,rzte, Schwangerschaftsberatungsstellen und Polizei,erden sich vernetzen. Wir schaffen ein Kooperations-etzwerk. Es gibt beispielsweise in Bayern eine Koordi-ierungsstelle „Frühe Hilfen“ mit Sitz in Erlangen. Auf-rund des großen Erfolgs dieser Koordinierungsstelleurde das Modellprojekt mittlerweile verstetigt.Es wird eine Stärkung der Kooperation im Einzelfalleben: eine bundeseinheitliche Regelung zur Weitergabeon Informationen an das Jugendamt bei Verdacht aufindeswohlgefährdung. Dadurch schaffen wir Rechts-icherheit für Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Hebam-en, Sozialarbeiter und Lehrer. Außerdem soll es eineformationspflicht gegenüber werdenden Eltern überas örtliche Leistungsangebot geben. All das zeigt: Wireben ein Sicherheitsnetz, durch das kein Kind mehrllen soll.Ein zentraler Aspekt ist die Einführung von Familien-ebammen; dies ist uns als FDP ganz besonders wichtig.ie haben eine Schlüsselfunktion als Lotsen für Fami-en. Sie helfen, die Weichen für eine erfolgreiche undebevolle Eltern-Kind-Beziehung zu stellen und damiten Grundstein für eine gute Bindung zu legen. Das Mo-ellprojekt des Bundes über vier Jahre halte ich für rich-g. Familienhebammen haben gegenüber normalenebammen eine sozialpädagogische Zusatzausbildung;as ist uns wichtig. Es ist uns unverständlich, warum derundesrat das Modellprojekt ablehnt; ich vermute, weilie Länder nach vier Jahren nicht die Kosten tragen wol-n. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Des-egen setze ich mich nach wie vor für die Einführungon Familienhebammen ein.
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Miriam Gruß
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Frühe Hilfen setzen an einem sensiblen Punkt an. Da-her muss geschultes Personal zum Einsatz kommen. ImGesetzentwurf ist vorgesehen, dass es für die Betriebs-erlaubnis eine Qualitätsentwicklung und -sicherung so-wie verbindliche Standards gibt. Mir ist unverständlich,warum der Bundesrat auch diesen Punkt ablehnt; denndies ist ein Ergebnis des Runden Tisches „Sexueller Kin-desmissbrauch“. Qualitätsstandards und Qualitätssiche-rung sind essenziell. Das Rote Kreuz und andere Ver-bände begrüßen diesen Aspekt ausdrücklich. Auch imKoalitionsvertrag ist vereinbart, die Qualität der Kinder-und Jugendhilfe weiterzuentwickeln.Der Gesetzentwurf stellt eine Qualitätssteigerung imVergleich zu dem vorherigen Entwurf dar; aber wir müs-sen darauf achten, dass das Gesetz nicht nur auf dem Pa-pier gut aussieht, sondern auch finanziert und von denKommunen umgesetzt werden kann. Die Finanzausstat-tung der Jugendämter ist essenziell und uns ein wichti-ges Anliegen. Das beste Gesetz hilft nicht, wenn die Ju-gendämter es nicht umsetzen können. Wir müssen nochentsprechende Gespräche führen, um es weiter voranzu-treiben. Jeder effektive Euro in der Prävention spart unsspäter eine Menge Geld. Deshalb müssen wir hier voran-kommen.Wir spannen hier ein Sicherheitsnetz für Kinder, dasmeines Erachtens gut ist und qualitativ die Regelungendes ursprünglichen Gesetzentwurfs um einiges über-steigt. Ich freue mich, wenn ich hier heute in den Redenvon der SPD, aber auch von den Grünen breite Zustim-mung signalisiert bekomme.
Ich bin der Meinung: Kinderschutz geht uns alle an. EinBundeskinderschutzgesetz erfordert die breite Unterstüt-zung aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich möchte mich den Glückwünschenan die Ministerin anschließen. Ich wünsche ihr, ihrer Fa-milie und vor allem ihrem Kind, dass sie in allen Lebens-lagen die Unterstützung finden, die sie brauchen – ge-nauso, wie ich es natürlich allen Angestellten, Hartz-IV-Empfängerinnen und allen Menschen in diesem Landewünsche.hdgdxEÖwddbPhdinddhtehhh7vughnddaDluwnneridcmndaA
An den Entwurf des Bundeskinderschutzgesetzes sindohe Erwartungen geknüpft – nicht allein deshalb, weiler Vorgängerentwurf gescheitert ist, sondern auch auf-rund der Debatte, die seitdem stattgefunden hat. Nachem öffentlichen Bekanntwerden der Vorfälle von se-ualisierter Gewalt gegenüber Kindern in kirchlicheninrichtungen hat es eine große Debatte darüber in derffentlichkeit gegeben. Ein Runder Tisch ist eingesetztorden, eine unabhängige Beauftragte ist ernannt wor-en, und die Ergebnisse des Runden Tisches wie aucher Abschlussbericht der unabhängigen Beauftragten ha-en das Ausmaß der Defizite bei Hilfs-, Beratungs- undräventionsangeboten erst deutlich gemacht. Genau des-alb habe ich die Hoffnung, dass wir hier ein Gesetz aufen Weg bringen, das den Kindern tatsächlich hilft und der Realität Bestand hat.Die Erfahrung zeigt leider, dass dieses Haus dazu iner Lage ist, Gesetze für Kinder zu beschließen, die iner Realität keinen Bestand haben und den Kindern nichtelfen. Ich erinnere daran, dass die Bundesarbeitsminis-rin in dieser Woche einen Runden Tisch einberufenat, um sich mit dem vermurksten Bildungs- und Teil-abepaket zu befassen. Erst 30 Prozent der Berechtigtenaben Anträge gestellt. Das heißt im Umkehrschluss: An0 Prozent der Kinder geht diese Leistung immer nochorbei; ihr verfassungsgemäßer Anspruch auf Bildungnd gesellschaftliche Teilhabe wird also noch nicht um-esetzt. Deshalb habe ich die große Hoffnung, dass wirier ein Gesetz beschließen, bei dem ein solcher Fehlericht auftritt.
Zunächst einmal möchte ich positiv anmerken, dassie Zusammenarbeit bzw. Abstimmung mit den Verbän-en, Vereinen und Initiativen viel besser funktioniert hatls bei der Erarbeitung des vorangegangenen Entwurfs.as zeigen auch die positiven Kommentare in den Stel-ngnahmen der Verbände. Ich hätte mir natürlich ge-ünscht, dass ich als Parlamentarierin nicht Stellung-ahmen zu einem Gesetzentwurf bekomme, der miroch gar nicht offiziell vorlag, aber so ist es nun einmal.Ich habe mir den nun vorliegenden Gesetzentwurf, alsr offiziell zugestellt wurde, angeschaut. Ich finde eschtig, dass zum Beispiel der verpflichtende Charakterer Vorsorgeuntersuchungen oder auch der Hausbesu-he, wie er im ersten Entwurf enthalten war, nun nichtehr im Gesetz stehen soll. Es ist richtig, dass man hierachgebessert hat. Ich denke aber, dass wir – das ist beier Rede von Frau Ziegler schon deutlich geworden –uch an anderen Stellen noch nachbessern müssen.Ich beginne einmal mit dem Grundsätzlichen. Inrt. 6 Grundgesetz heißt es:Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli-che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob-liegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht diestaatliche Gemeinschaft.
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Diana Golze
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Diese Sätze haben nun auch Eingang in das Bundes-kinderschutzgesetz gefunden. Als Mutter von zwei Kin-dern sage ich: Natürlich haben die Eltern die Pflicht undist es ihre Aufgabe, ihre Kinder zu erziehen und für ihrWohl zu sorgen. Aber darin liegt auch ein Problem, dassich in diesem Gesetz widerspiegelt: Wenn wir die Kin-der- und Jugendhilfe nicht endlich auch als verpflichtendeAufgabe des Staates statt nur als freiwillige Selbstver-pflichtung oder gar als Bonusprogramm oder Katastro-phenhilfe, wenn die Eltern scheitern, begreifen, dannhaben wir immer noch nicht verstanden, dass das Kindes-wohl an erster Stelle stehen muss.
Ich sage es hier zum wiederholte Male: Wer es mitdem Kinderschutz ernst meint, der muss Kinder ernstnehmen, und wer Kinder ernst nimmt, der muss ihnenRechte geben. Deshalb gehören die Kinderrechte aufSchutz, Förderung und Beteiligung in das Grundgesetz.
Dass die Kinderrechte immer noch nicht Eingang in dasGrundgesetz gefunden haben, hat sich am Runden Tischals Problem herausgestellt. Im Gesetzentwurf findet sichein Rechtsanspruch auf Beratung für Kinder und Jugend-liche. Aber dieser Rechtsanspruch ist eingeschränkt; ergilt nur in Not- und Krisensituationen. Woher soll eineSiebenjährige oder auch ein Zehnjähriger wissen, wannsie oder er sich in einer Not- und Krisensituation befin-det und ohne Wissen der Eltern eine Beratung aufsuchendarf? Erst dann, wenn das Kind zu Hause geschlagenwird, oder bereits dann, wenn es sich mit dem Zeugnisnicht nach Hause traut? Wo wird dieser Begriff kindge-recht erklärt? Wo wird den Kindern gesagt, wie eine sol-che Beratung abläuft und wer sie durchführt?Vor wenigen Tagen war die Kinderkommission desDeutschen Bundestages in Norwegen. Dort wurde einflächendeckendes Netz von Beratungs- und Fachzentrenaufgebaut, das allen Familien – nicht nur den sogenann-ten Problemfamilien – zur Verfügung steht. Es wird vonüber 90 Prozent der Familien in Anspruch genommen.Genau so ein Netz wünsche ich mir auch für Deutsch-land.
Dazu müssen wir den Weg hin zu einem – ich nenne eseinmal so – kooperierenden Föderalismus gehen. Es darfnicht so sein, dass jeder sagt: Dafür bin ich nicht zustän-dig. – Wir müssen einen Weg finden, wie ein solchesNetz finanziert werden kann. Wir dürfen Länder undKommunen damit nicht alleinlassen.Damit bin ich bei dem von Frau Ziegler schon ange-sprochenen Modellprogramm Familienhebammen. Ichhabe kein Problem mit diesem Angebot; ich finde es gut.Die Kinderkommission hat dazu Anhörungen durchge-führt. Auch wir schlagen dieses Vorgehen vor. Aber wa-ruhEgsbgWgIcwtivRgPshsdghFswkIcunsaemDePihdabIndZHbeszc
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dazu führt, dass am Ende niemand weiß, was geschieht.Ich kann das Bedürfnis nach Sicherheit und Absicherungverstehen. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Rege-lungen, die getroffen werden, für die Vereine und dieTräger vor Ort umsetzbar sind.
Zum Schluss. Jörg Maywald, einer der Sprecher derNational Coalition, hat auf einer Veranstaltung einensehr einprägsamen Satz gesagt: Das Gegenteil von Rechtist nicht Pflicht, sondern Unrecht. – Das Gegenteil derPflicht der Eltern zur Erziehung sind also nicht Kinder-rechte, sondern ist Unrecht an Kindern. Ich hoffe, dasswir es schaffen, in den bevorstehenden Beratungen imAusschuss, in der Anhörung und in der Auseinanderset-zung mit den Sachverständigen zu einer Lösung zu kom-men, die den Kindern Rechte einräumt und die Kinder inder Praxis schützt. Ich freue mich auf diese Auseinan-dersetzung und auf diese Diskussion und kann Ihnen un-sere kritische Begleitung zusichern.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gestern hat UNICEF einen Bericht zur Lage der Kinderin Deutschland herausgegeben. In ihm stehen ein paarZahlen, die uns aufschrecken sollten: 33 700 Kinderwurden im Jahre 2009 wegen schwieriger Familienver-hältnisse in Obhut genommen. Das waren gegenüberdem Jahr 2004 30 Prozent mehr. 26 Prozent der Kinder,die beim Kindernottelefon anrufen, machen das, weil siesich von häuslicher Gewalt bzw. schweren körperlichenMisshandlungen bedroht oder betroffen fühlen. Schlim-mer noch: Im Jahre 2009 wurden in Deutschland152 Kinder getötet, davon waren 126 unter sechs Jahrealt. Das sind Zahlen, die uns jeden Tag von neuem dazuverpflichten, über Kinderschutz in Deutschland zu redensowie in den Strukturen immer noch besser zu werden.In diesem Sinne wird es wirklich Zeit, dass wir endlichhier im Bundestag auch über dieses Thema diskutieren.
Ich bin, ehrlich gesagt, froh darüber, dass der Geset-zesvorschlag der Großen Koalition von 2009 keinen Be-stand mehr hat, weil es massive berechtigte Kritik gab.Die Regierung hat jetzt eine Vorlage erstellt, die sie nachKonsultation der Fachverbände erarbeitet hat und in dieauch die Initiativen des Runden Tisches Eingang gefun-den haben. Darin sind gute Ansätze enthalten. Auch derBundesrat wurde bereits im Vorfeld im Sinne eines ge-meinsamen Bündnisses einbezogen. Von daher kann mandas Verfahren nicht kritisieren.AridwriMsvgAriwsbandddsmsrasüWtezgEDsssigpdcAknebgdnlin
Zweitens. Das Bundesgesundheitsministerium hatich leider bisher aus der gesamten Debatte komplett he-usgehalten. Ich halte das für einen wirklich dramati-chen Fehler. Wir reden über Schnittstellenprobleme undber ein Netzwerk im Sinne des Schutzes der Kinder.ir reden darüber, dass die Mitarbeiter von Jugendäm-rn und Gesundheitseinrichtungen miteinander vernetztusammenarbeiten sollen. Aber die Politik bzw. die Re-ierung führt ihnen gerade vor, dass es auf unsererbene überhaupt nicht funktioniert.
as kann nicht sein. Es ist nicht glaubwürdig. Wir müs-en an diesem Punkt zusammenarbeiten. Da ist der Ge-undheitsminister gefragt. Ich bedaure sehr, dass das Ge-undheitsministerium in Bezug auf diesen Punkt sonorant ist. Das wird übrigens auch der größte Kritik-unkt vonseiten der Experten sein.
Ich komme jetzt zu dem Hauptpunkt, über den alle re-en, nämlich zu den Familienhebammen. Ja, wir brau-hen die Familienhebammen. Sie leisten wirklich guterbeit. Wir brauchen auf diesem Gebiet übrigens aucheine Projekte mehr. Es gibt dazu ausreichend Erkennt-isse. Wir wissen, was die Familienhebammen leisten;s wurde viel über sie gesagt. Auch wir Grünen habenereits in der letzten Wahlperiode einen Antrag dazu ein-ebracht. Ich halte an diesem Thema fest. Im Hinblickarauf gibt es aber – wie sehr ich Sie auch schätze – ei-en Dissens zwischen uns, Frau Golze.Wir brauchen flächendeckende Angebote für Fami-en in besonderen Verhältnissen. Für diese Familien be-ötigen wir zielspezifische Angebote, mit denen genau
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13700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Ekin Deligöz
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auf sie eingegangen werden kann. Wir brauchen siemöglichst dringend und möglichst bald. Natürlich willauch ich die Welt verbessern, aber ich will zunächst mitdem ersten Schritt anfangen. Dafür brauchen wir dasModell Familienhebammen. Ich kritisiere aber, dass estatsächlich nur ein Projekt ist, das zeitlich befristet ist.Das ist nicht nachhaltig und wird vom Bundesrat zuRecht kritisiert. Die Frage ist: Wie geht es weiter, wennes kein Geld mehr gibt, obwohl wir alle wissen, dass wirdie Familienhebammen brauchen? An diesem Punktmüssen Sie nacharbeiten. Ich würde es für einen Fehlerhalten, wenn es am Ende hieße: „Wir machen im Bereichder Familienhebammen überhaupt nichts mehr“, so wiedarüber zurzeit im Bundesrat debattiert wird. Damitwürde wirklich ein Kernbereich aus diesem Vorhabenherausbrechen. Dieser Punkt eignet sich nicht für denVermittlungsausschuss. Wir sollten da an einem Strangziehen und auch im Sinne der Familien in besonderenUmständen gemeinsam daran arbeiten.
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen will, betrifftdas Qualitätsmanagement. Auch in Bezug auf das Quali-tätsmanagement gibt es vonseiten der Länder Bedenken,die man ernst nehmen muss. Sicher muss man dabeiauch über Zeitschienen und Verfahren reden und wo-möglich überlegen, welche Tatbestände dazu gehörensollen. Das freiwillig, also ohne gesetzliche Verpflich-tung, auszugestalten, halte ich aber für falsch. Dann wür-den wir sagen: Wir halten Qualität zwar für wichtig, undauch der Runde Tisch hat in allen Sitzungen mehrfachgesagt, wie wichtig Qualitätsmanagement ist; aber wirüberlassen das denen, die ohnehin engagiert sind. Daswäre zu wenig. Wenn wir wirklich wollen, dass sich imSinne der Kinder und des Kinderschutzes etwas verän-dert, dann müssen wir mehr Verbindlichkeit herstellen.Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat einen Vorschlaggemacht, an dem wir uns orientieren könnten. Wir soll-ten Verbindlichkeiten schaffen; es sollte kein freiwilligesAdd-on werden, nach dem Motto: Wer es will, macht es,und wer es nicht will, macht es nicht. Wir stehen denKindern gegenüber in der Verantwortung. Wir solltennicht nur darüber reden, dass wir für sie Einrichtungenschaffen, sondern wir sollten darüber reden, dass wir fürsie gute Einrichtungen schaffen.
Ein für die Grünen sehr wichtiger Punkt betrifft dieMeldepflichten für Geheimnisträger. Der Bundesrat hatvorgeschlagen, diese Regelung den Ländern zu überlas-sen. Sie von der Regierung haben dem eine Absage er-teilt. Halten Sie bitte an dieser Absage fest! Hier geht esum das Vertrauen der Patienten, also der Eltern und Kin-der, zum Arzt. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht ver-spielen. Ansonsten werden sie sich womöglich nichtmehr an die vertrauensvollen Stellen wenden. Dannkommen wir womöglich an die Kinder, die Jugendlichenund die Eltern nicht mehr heran. Das wäre ein Fehlerund hätte verheerende Konsequenzen. Sie haben mit derBefugnisnorm ein vernünftiges Verfahren vorgeschla-gadddDjeamgwKgdudeddPeukicwdaddSkhd
ann weiß am Ende nämlich keiner mehr, wie es in denweiligen Bundesländern aussieht. Halten Sie deshalbn Ihrer Position fest.
Kinderschutz geht uns alle an. Das hat auch sehr vielit Kinderrechten zu tun; das ist richtig. Die Regelun-en zum Kinderschutz sagen sehr viel darüber aus, inelcher Gesellschaft wir leben und wie wir mit unserenindern umgehen.Ich möchte zum Schluss noch etwas Persönliches sa-en. Für mich war das heute eine ganz besondere Rede,a mein Sohn oben auf der Tribüne sitzt
nd mir zum ersten Mal in seinem Leben live im Bun-estag zuhört. Eine Mutter ist natürlich aufgeregt, wennr da oben sitzt und sie ausgerechnet zum Thema Kin-erschutz reden hört. Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn;as möchte ich hier sagen. Ich weiß, dass die Kinder vonolitikern – so geht es allen meinen Kollegen – sehr vielntbehren müssen. Wir sind viel unterwegs, und das tutns immer leid. Ich werde das nicht wiedergutmachenönnen; aber meine Zuversicht und meine Kraft schöpfeh auch aus meinen beiden Kindern. Sinan, du sollstissen: Wenn du mich brauchst, werde ich immer fürich da sein. Damit wirklich jedes Kind, das im Lebenlleine ist, jemanden hat, der für es da ist,
afür arbeiten, kämpfen und zanken wir. Das ist das Zieler Gesellschaft, in der ich will, dass du aufwächst,inan.Danke schön.
Dann wollen wir einmal hoffen, dass unsere Debatteeine abschreckende, sondern eine einladende Wirkungat.
Ich erteile das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach fürie CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Präsident, Sie haben das gesagt, als ich zum Mikro-fon gegangen bin. Ich hoffe, das hat nichts mit meinerPerson, sondern mit der vorhergehenden Rede zu tun.
Ich glaube, da sind wir uns alle einig – diese Einigkeitspiegelte sich auch in der bisherigen Diskussion wider –:Wir wollen, dass unsere Kinder geschützt werden. Wirwollen, dass sie liebevoll und behutsam aufwachsen,dass sie das Leben genießen können und dass sie auf dieDinge, die im Leben noch kommen und die schwer ge-nug sein werden, vorbereitet sind. In der Jugend sollensie aber die Möglichkeit haben, geschützt aufzuwachsen.Deswegen freue ich mich, dass heute ein Gesetzentwurfvorliegt, in dem die Fehler der Vergangenheit aufgear-beitet worden sind.Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Ver-such unternommen, ein Kinderschutzgesetz auf den Wegzu bringen. Wir haben erkannt, dass die Vorgehensweisenicht ganz korrekt war. Wir hatten nicht alle Beteiligtenso früh eingebunden, wie es nötig gewesen wäre. Dashaben wir jetzt geändert. Die Vertreter der Vereine, derVerbände, auch der Länder und Kommunen und andereBeteiligte saßen an einem Tisch und haben ihre Sicht-weise eingebracht. Deswegen stößt der vorliegende Ge-setzentwurf auf eine breite Zustimmung.
Das ist unser aller Verdienst.Liebe Frau Golze, es ist im parlamentarischen Verfah-ren so, dass wir Abgeordnete erst ab der ersten Beratungam Verfahren beteiligt werden. Ich verspreche Ihnen:Wir werden die Zeit bis zur zweiten, dritten Beratungnutzen, um all das, was an Kritik vorhanden ist, aufzuar-beiten und damit den Gesetzentwurf zu verbessern; dennein Signal ist wichtig – da schließe ich mich der Kolle-gin Deligöz an –: Wir alle wollen unsere Kinder schüt-zen, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir das mitdem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen.Es gibt zwei große Bereiche, die diesen Gesetzent-wurf ausmachen: zum einen die Prävention, zum ande-ren die Intervention. Dazu ist schon eine Menge gesagtworden. Zum Bereich der Prävention möchte ich kurzdarauf hinweisen, dass uns die Frühen Hilfen sehr wich-tig sind; denn wir wollen nicht warten, bis Kinder ver-nachlässigt, misshandelt oder geschlagen werden, son-dern wir wollen den Eltern, die Schwierigkeiten habenbzw. überfordert sind, früh genug Hilfen an die Hand ge-ben. Die Eltern müssen wissen, welche Hilfen sie be-kommen können. Dazu gehört ein gutes Netzwerk all de-rer, die Angebote machen. Was nützen die bestenAngebote, wenn die Betroffenen gar nicht wissen, dasses sie gibt. Deswegen setzen wir auf ein gutes Netzwerkund auf einheitliche Strukturen. Die Hilfsangebote müs-sen genutzt werden können, unabhängig davon, in wel-chem Bundesland man lebt.SimeerawlihnuuteliskmRulatendzwSngnWgAskamgGdimbDebdliD
Bezogen auf die Hebammen heißt das: Wir sind alleicht dumm, wir kennen die Finanzierung. Das heißt, dieesetzliche Krankenversicherung soll die Kosten über-ehmen, aber damit wäre der Bund wieder zuständig.ir durchschauen das Spiel. Deswegen werden wir unsemeinsam zusammensetzen, um eine Lösung zu finden.ber so einfach machen wir es den Ländern nicht; dasage ich an dieser Stelle ganz deutlich.
Im Bereich der Intervention brauchen wir Möglich-eiten, dass diejenigen, die mit betroffenen Menschenrbeiten und ihnen helfen – Lehrer, Ärzte und Hebam-en –, ihre Informationen austauschen dürfen. Deswe-en ist es uns wichtig, die Möglichkeit zu schaffen, dasseheimnisträger bestimmte Informationen weitergebenürfen. Denn wir haben immer den Schutz des Kindes Blick. Je früher wir ein Kind schützen können, destoesser sind seine Chancen auf eine gute Entwicklung.eswegen ist es gut, dass wir die Geheimnisträger an derinen oder anderen Stelle von ihrer Schweigepflicht ent-inden.Frau Ziegler, Sie haben gesagt, dass die Finanzierungas große Problem sei. Ich habe das beim Thema Fami-enhebammen bereits angesprochen. Ich sage deutlich:er Bund müsste es nicht tun. Wir finanzieren die Fami-
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Ingrid Fischbach
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lienhebammen für vier Jahre, wir sehen aber auch dieNotwendigkeit, die weitere Finanzierung zu klären. Füruns ist es deswegen wichtig, dass wir nach zwei Jahreneinen Zwischenbericht abgeben und dass wir überprü-fen, ob es funktioniert und wer sich an welchen Stelleneinbringen muss. Hier hoffe ich wirklich auf die Unter-stützung aller Ebenen. Das ist nicht nur eine Bundesauf-gabe, sondern das ist auch eine Länder- und kommunaleAufgabe. Deswegen müssen wir nach dem ersten Zwi-schenbericht gemeinsam schauen, wie wir eine dauer-hafte Finanzierung hinbekommen. Hier gebe ich FrauGolze recht: Das müssen wir für alle Kinder auch über2015 hinaus möglich machen. Daran werden wir ge-meinsam arbeiten.
Frau Ziegler hat nach den Mehrgenerationenhäuserngefragt. Auch hier haben wir ein Folgeprojekt auf denWeg gebracht. Ich möchte an dieser Stelle nur einmal sa-gen: Als wir die Mehrgenerationenhäuser auf den Weggebracht haben, war eigentlich allen, die dieses Projektangenommen haben, klar, dass das eine Anschubfinan-zierung ist und dass sich die Häuser danach selber tragenmüssen.
– Ja, es ist immer so: Man schaut, wo es gerade passt, woman mitmacht und wo man sich rauszieht.Der Bund hat ganz klare Vorgaben gemacht. Es istnicht so, dass der Bund etwas auf den Weg gebracht hatund jetzt alle dastehen und die Details nicht kannten.Auch ich habe bei jeder Einweihung eines Hauses ge-sagt: Das ist eine Anschubfinanzierung, und ihr müsstsehen, dass ihr die Finanzierung in der entsprechendenZeit sichert. Das war noch nicht überall möglich. Wirsorgen jetzt für eine Folgefinanzierung. Ich sage an die-ser Stelle aber auch: Das kann keine Dauerfinanzierungsein. Das müssen die Verantwortlichen vor Ort für sichregeln. Sie müssen entsprechende Finanzierungen vor-schlagen und auf den Weg bringen.Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ichnoch sagen: Wir können noch so gute Gesetze auf denWeg bringen, Kinderschutz funktioniert aber nur, wennwir uns alle – Sie, ich, die Zuschauer oben, alle Men-schen, die mit Kindern zu tun haben oder sie sehen –verantwortlich fühlen. Ich glaube, deswegen ist es wich-tig, dass wir alle den Kinderschutz ganz oben auf diePrioritätenliste setzen und sagen: Wir wollen gemeinsametwas verändern.An dieser Stelle kann man sagen: Wegschauen hilftnicht und ist keine Prävention für unsere Kinder. LassenSie uns hinschauen!
Das Wort hat nun Marlene Rupprecht für die SPD-
Fraktion.
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h glaube, wenn das in alle Köpfe gekommen ist, dannaben wir in Deutschland wirklich einen großen Quan-nsprung weg vom Feuerwehr-Spielen hin zu einertruktur gemacht.Durch die UN-Konvention wird das vorgeschrieben;ie Kolleginnen haben es vorhin gesagt. Deshalb plä-iere ich wirklich vehement dafür, dass uns der Schutz,ie Förderung und die Beteiligung von Kindern sowieie Herstellung von kindgerechten Lebensverhältnisseno viel wert sind, dass diese Aufgaben in unserer Verfas-ung verankert und nachlesbar sind.Wie wichtig das ist, konnten wir an dem Rundenisch „Sexueller Kindesmissbrauch“, der noch läuft, undn dem Runden Tisch „Heimerziehung“ sehen. Kinder,enen man anscheinend helfen wollte und die man oft,us welchen obskuren Gründen auch immer, aus ihrenamilien herausgenommen hat, sind massiv miss-raucht, misshandelt, gedemütigt und als Mensch gebro-hen worden. Was hatten diese Kinder nicht? Ihnenurde keine Hilfe gewährt, es gab keine diesbezüglicheffentliche Verantwortung. Deshalb ist eine der zentralenorderungen der Runden Tische: Kinder und Familienrauchen Anlaufstellen, an die sie sich wenden können,der Ombudschaften, wie immer Sie das nennen mögen.ir brauchen qualifizierte Menschen als Ansprechpart-
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Marlene Rupprecht
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ner. Das haben wir in den Gesetzestext – StichwortFachkräfte – aufgenommen. Das war eines der Ergeb-nisse, das wir, Michaela Noll und ich, zum Schluss aus-gehandelt haben. Vieles von dem entdecke ich jetzt imText des Gesetzentwurfs wieder und bin darüber sehrfroh.Die Fachkräfte bekommen wiederum erfahrene Fach-kräfte zur Unterstützung. Familien und Kinder, die inNot sind, brauchen Anlaufstellen. Diese Aufgabe müs-sen wir jetzt angehen. Das hat diese Woche auch dieSonderbeauftragte der Vereinten Nationen deutlich ge-macht. Wir müssen endlich das umsetzen, was schon im-mer im Gesetz steht. In § 81 des Kinder- und Jugendhil-fegesetzes ist die Zusammenarbeit aller festgeschrieben,die mit Kindern arbeiten. Wir nehmen diesen Punktebenfalls in den Gesetzestext auf.Manchmal ärgere ich mich über die Beteiligten undmöchte sie am liebsten schütteln. Warum ist diese Zu-sammenarbeit nicht möglich? Irgendjemand hat vorhingesagt: Wir schaffen es manchmal noch nicht einmalhier im Hause, richtig zusammenzuarbeiten. Ich binfroh, dass heute auf der Regierungsbank die Staatssekre-tärin aus dem Gesundheitsministerium neben demStaatssekretär aus dem Familienministerium sitzt. Ichglaube, Sie haben keine Kommunikationsprobleme.Aber die Häuser haben manchmal Kommunikationspro-bleme. Wenn es die entsprechenden Vertreter der Minis-terien schafften, sich zusammenzusetzen, dann wäre dasfür die Familien und die Kinder optimal.
Dieses Pingpongspiel wird immer auf dem Rückender Menschen ausgetragen und kostet eine Menge Geld.Damit bin ich beim Thema Geld; das ist schon mehrfachangesprochen worden. Wir versuchen – das Beispiel derMehrgenerationenhäuser wurde schon genannt –, deut-lich zu machen: Es muss eine soziale Daseinsfürsorgefür die Menschen geben. Der Lebensmittelpunkt dieserMenschen sind die Gemeinden und Städte, in denen sieleben. Daher brauchen diese ausreichend Geld, um Ein-richtungen der sozialen Daseinsfürsorge vorhalten zukönnen. Es darf keinen Flickenteppich geben, sonderndie Mittel müssen für jede Kommune individuell unter-schiedlich bereitgestellt werden, so wie sie gebrauchtwerden.Dafür müssen sich Bund, Länder und Gemeindenendlich zusammensetzen, sonst passiert das, was dieLänder gerade in einer Absprache hinter unserem Rü-cken gemacht haben, nämlich die Leistungen in der Ju-gendhilfe noch weiter herunterzufahren. Irgendwanngeht das nicht mehr. Man kann nicht einer Familie sa-gen: Im August gibt es leider kein Geld mehr. Es gibtkeine Hilfe mehr, auch wenn diese Hilfe dringend ge-braucht wird. – Wir müssen uns überlegen, wie wir dieGelder besser verteilen und dorthin bringen, wo sie ge-braucht werden.
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Ich will etwas sagen, was heute noch nicht angespro-hen worden ist. Es ist ganz wichtig, dass man beimchutz der Familien nicht übers Ziel hinausschießt.chutz ist wichtig, aber eine totale Kontrolle geht nicht.ir können nicht an jedem Kinderbett eine Kamera be-stigen oder einen Polizisten daneben stellen.
Das Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Kon-olle müssen wir ganz stark im Blick haben, sonst kom-en wir dort an, wo wir bei den Heimkindern aufgehörtaben: zu glauben, wir wüssten, was gut ist. Das ist derlsche Weg. Wichtig ist für uns, dass wir den Menschenas Gefühl geben, sie können den Fachkräften, mit de-en sie zu tun haben, vertrauen. Sie müssen wissen, dassie Menschen um sie herum keine Denunzianten, son-ern Nachbarn sind, mit denen man über Probleme redenann. Daran arbeiten wir. Ich finde es sehr gut, dass wiras heute gemeinsam machen wollen. In diesem Sinneoffe ich auf gute und gemeinsame Beratungen in denächsten Monaten.
Das glaube ich auch, Michaela.Danke.
Das Wort hat nun Sibylle Laurischk für die FDP-
raktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer dienhörung zum Thema Heimkinder Anfang dieser Wo-he verfolgt hat und als Gegensatz dazu gestern Abendas Fest der IPS-Stipendiaten miterlebt hat, weiß, wienterschiedlich sich die Kindheit auf die Entwicklungon jungen Menschen auswirken kann. Ich glaube, ge-de in diesem Spannungsfeld wird uns deutlich, dass
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13704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Sibylle Laurischk
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der Kinderschutz ein Thema ist, das uns permanent be-schäftigen muss.Die Botschaft dieses Entwurfs, mit dem wir uns imRahmen eines Gesetzgebungsverfahrens beschäftigen,ist richtig, nämlich dass mehr Kooperation aller notwen-dig ist, die sich mit dem Wohl von Kindern beschäftigenund sich beruflich um ihren Schutz kümmern. Dabei istes wichtig, ein Netzwerk von Leistungsträgern so zu ge-stalten, dass verbindliche Strukturen den Kinderschutzgewährleisten.Die Zusammenarbeit von Ärzten, Psychologen undHebammen auf der einen Seite und Jugendämtern undFamiliengerichten auf der anderen Seite soll für denKonfliktfall verbindlich geregelt werden. Ich denke, esist sehr wichtig, dass auch die Ärzteschaft Rechtsklarheitdarüber bekommt, dass sie im Falle von Hinweisen aufakute Gefährdung des Kindeswohls berechtigt ist, demJugendamt einen Hinweis zu geben. Die Ärzteschaft tutsich wegen der ärztlichen Schweigepflicht damit schwer.Ich denke, dass wir diesen Konflikt mit einer gesetzli-chen Maßgabe endlich lösen.Ich habe in allen Redebeiträgen den Hinweis daraufvermisst, dass wir das Jugendamts-Hopping beendenwollen.
– Dann ist es wohl doch angesprochen worden. – Mir istes sehr wichtig, diesen Punkt zu betonen. Das ist nachmeinem Dafürhalten eine sehr wichtige Maßnahme.Denn bisher war häufig das Phänomen zu beobachten,dass sich Familien immer dann, wenn das Jugendamtaufmerksam wurde oder von anderer Seite Hinweise aufVerwahrlosung oder Vermüllungstendenzen in einerWohnung kamen, durch Umzug entziehen. Dann ist einneues Amt zuständig, und dort weiß niemand Bescheid.Das soll jetzt geändert werden: Die Akte wandert mit.Dann kann auch in den Ämtern niemand mehr sagen:Das haben wir nicht gewusst. Die Eltern wiederum wis-sen, dass sie nicht einfach ausweichen können.Es gibt aber Beratungsangebote. Dafür wird nochmehr geworben werden müssen. Es ist keine Sanktion,sich einer Beratung zu stellen; es geht vielmehr um echteHilfen, mit denen Kindern eine Perspektive gebotenwerden kann. Das kann funktionieren. Dafür gibt es be-reits positive Beispiele. Wir brauchen aber auch eine ge-setzliche Regelung.Die Qualifizierung von hauptamtlichen Mitarbeiternin den Institutionen ist ein weiteres wichtiges Thema.Wir haben uns aber auch mit dem Thema Führungszeug-nisse im ehrenamtlichen Bereich befasst. Dieses Themawird auch am Runden Tisch „Sexueller Kindesmiss-brauch“ heftig diskutiert. Wir sind als FDP-Fraktion derMeinung, dass die Verpflichtung zur Vorlage erweiterterFührungszeugnisse Sinn macht. Aber eine übertriebene,detailverliebte Pflicht zur Abgabe von Führungszeugnis-sen, die sich bis hin zu solchen Mitarbeitern erstreckt,desDnfrraEMrubwglisbenaderabuAmFMCmcnuFemsfrsmn
Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSU-
raktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!eine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf für dieDU/CSU-Bundestagsfraktion unserer Bundesfamilien-inisterin zur Geburt ihrer Tochter gestern ganz herzli-he Glückwünsche aussprechen. Ich hoffe, dass wir sieach ihrem angemessenen Mutterschutz wieder gesundnd munter in unseren Reihen begrüßen dürfen.
Ich freue mich über die heutigen Signale aus allenraktionen. Sie stimmen mich optimistisch, dass wirine Einigung hinbekommen. Es scheint ein gemeinsa-es Anliegen zu sein – das ist bei Frau Rupprecht sehrchön zum Ausdruck gekommen –, im Bundestag eineaktionsübergreifende Lösung hinzubekommen. Es gibticherlich noch gewisse Unterschiede; das ist völlig nor-al. Trotzdem wäre es gut, jetzt die Kritikpunkte aufzu-ehmen und dann gemeinsam darüber nachzudenken,
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Dorothee Bär
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wie wir diese konsensual beseitigen können, damit es inder zweiten und dritten Lesung einen breiten Konsensgibt.Wir alle sind sicherlich schockiert, wenn wir nicht nurin unseren Wahlkreisen, sondern bundesweit mit Schlag-zeilen konfrontiert werden, aus denen hervorgeht, dassKindern Essen und Trinken vorenthalten wurde. Dassind noch harmlose Fälle. Oft sind die Schicksale hinterden Schlagzeilen noch wesentlich schlimmer. Natürlichbeherrschen solche Schicksale sehr stark die Titelzeilender Medien, manchmal leider nur für Tage, manchmalaber auch über Wochen. Egal ob die Kinder Jessica, Ke-vin oder Lea-Sophie heißen, wir müssen uns intensiv da-mit befassen, welche Schicksale sich hinter diesen Na-men verbergen, und uns die Fragen stellen, warum es soweit kommen konnte und wer eventuell an welcherStelle seine Arbeit nicht ordentlich geleistet hat bzw. ob– das wurde von Ingrid Fischbach schon angesprochen –nicht genau genug hingeschaut wurde. Das geht jedenEinzelnen etwas an.Wenn man nachforscht und die Zusammenhängekennt, dann fällt einem auf, dass ein Wort über allemsteht: Überforderung. Aber in einem Land wie Deutsch-land darf niemand, egal ob Vater, Mutter oder beide El-ternteile, überfordert sein, weil er mit Kindern nicht zu-rechtkommt. Die Gesellschaft muss dann da sein. Mankann es gut oder schlecht finden, Fakt ist aber leiderGottes, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschlandnicht mehr in Großfamilien lebt. Es ist nicht der Normal-fall, dass sieben, acht oder neun Kinder in einer Familiemit den Großeltern unter einem Dach oder auch im sel-ben Ort zusammenleben. So fehlt oft ein Ansprechpart-ner.Das ist einer der Gründe, warum wir uns jetzt intensivmit dem Bundeskinderschutzgesetz befassen müssen.Mit oberflächlichen Diskussionen dürfen wir uns nichtzufriedengeben. Wir wollen Ansprechpartner schaffen.Natürlich kann man sich nun darüber streiten, wer dassein soll, wie diese heißen sollen und wer zuständig ist.Aber dass wir Ansprechpartner und entsprechende Rah-menbedingungen brauchen, ist völlig klar.Um welche konkreten Maßnahmen geht es? Wir ha-ben schon vor der letzten Bundestagswahl sehr intensivdarüber diskutiert. Uns allen war klar, dass wir denSchwerpunkt noch sehr viel stärker auf die Bereiche Prä-vention und Intervention legen müssen. Über die Fami-lienhebammen ist heute schon oft gesprochen worden.Auch ich möchte ein paar Takte zu den Familienhebam-men sagen, weil das für mich eine Herzensangelegenheitist. Ich freue mich, dass du, Ekin Deligöz, heute deinenSohn mitgebracht hast. Man sollte nicht immer seineneigenen Erfahrungsschatz ausklammern. Es ist gut undschön, dass hier im Deutschen Bundestag Menschen mitso unterschiedlichen Biografien vertreten sind.Selbst diejenigen, die schon einmal Erfahrungen mitHebammen gemacht haben – ich denke auch an diejeni-gen, die in einem gut funktionierenden Familienbunduntergebracht sind –, sind oft froh, wenn sie einmal mehrdie Möglichkeit haben, nachzufragen. Viele Mütter, beidenen zwischen der Geburt ihres ersten und ihres zwei-tesNeVnjeföwmlirüGgpwrewONBBmföwisdHgsmsinK–owsDisdptekte
Er gehört aber einer anderen Partei an. Daher ist es
kay.
Frau Kollegin Bär, wir stellen fest, dass wir bei dieserichtigen Debatte parteiübergreifend dieselben Interes-en vertreten. Ich habe nach dem Beitrag von Fraueligöz gerade, in dem sie auf ihren Sohn eingegangent, an Sie die Frage, ob jetzt nicht der Zeitpunkt wäre,ass wir gemeinsam nachhaltig den Begriff „Familien-olitik“ so weit verwenden, dass wir heute auch dem Va-r von Lotte Marie gratulieren, nämlich dem Staatsse-retär Ole Schröder, der an dieser Debatte leider nichtilnehmen kann?
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Ich glaube für das ganze Haus sprechen zu können:
Selbstverständlich gratulieren wir auch dem Vater. Einen
Tag nach der Geburt stehen allerdings die Gesundheit
von Mutter und Kind im Mittelpunkt. Wir freuen uns na-
türlich, wenn auch der Vater wohlauf ist, und senden ihm
die Glückwünsche des ganzen Hauses.
– Ich muss ausnahmsweise einmal einen Zwischenruf
der Kollegin Marks positiv aufgreifen. Sie hat gesagt,
dass – womöglich vermutet sie bei dem Kollegen
Fischer Nachwehen – Männer an dieser Stelle nicht so
belastbar sind.
Zurück zum Thema. Mir wäre es wichtig, den Heb-
ammen von hier aus ein herzliches Dankeschön zukom-
men zu lassen, egal ob es „normale“ Hebammen oder
Familienhebammen sind. Was die Hebammen in
Deutschland leisten, ist wirklich sensationell. Wir haben
leider Gottes aufgrund anderer politischer Aspekte, auch
was das Finanzielle betrifft, im Moment noch Diskussio-
nen zu führen, in denen wir für die Hebammen eintreten.
Nicht nur, Ansprechpartner zu sein, sondern auch, Ver-
trauen aufzubauen – der Wert des Vertrauens ist heute
schon angesprochen worden –, ist ganz wichtig. Ich
denke dabei insbesondere an die Lotsenfunktion, die
Hebammen übernehmen.
Wir haben ursprünglich vorgesehen, dass die Dauer
der Betreuung durch Familienhebammen ein Jahr dauert.
Mir ist es wichtig, die Familienhebammen so stark wie
möglich zu machen, damit sie ihre Funktion vor Ort
bestmöglich erfüllen können. Man sollte in Betracht zie-
hen, dass Hilfe für ein Jahr nicht ausreichend ist. Wir ha-
ben zum Beispiel eine zusätzliche Untersuchung des
Kindes eingeführt, damit die Betreuung der Familien
engmaschiger erfolgt. Wir wollen dafür sorgen, dass es
nach dem ersten Jahr möglich ist, bei Bedarf auf lokaler
Ebene Ansprechpartner zu finden.
In diesem Sinne freue ich mich sehr über die vielen
positiven Signale aller Fraktionen. Ich freue mich auf ei-
nen ganz intensiven Gedankenaustausch, der jetzt statt-
finden wird, bevor wir zur zweiten und dritten Lesung
kommen. Ich hoffe, dass wir dann, wenn wir bei der
zweiten und dritten Lesung wieder hier stehen, unser
Projekt gemeinsam verabschieden können.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich schließe mich meinen Vorrednerinnen von der SPD-FdAinwggbMbKlinmdsswesSddlidzagsrimwdheugmzoEgImsahcG
Die Stadt Monheim
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13707
Caren Marks
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hat eine solche Präventionskette aufgebaut,
die mit der Geburt eines Kindes beginnt. Hier arbeitendie von mir schon genannten Familienhebammen, Kitas,Schulen und Familienbildungsstätten vorbildlich eng zu-sammen. Die Erfolge beim Kinderschutz und bei der Ar-mutsbekämpfung können sich dort wirklich sehen las-sen. Das Modell „Monheim für Kinder“ hat zu Rechtzahlreiche Präventionspreise gewonnen.Aber so gut wie Monheim – auch das wissen wiralle – sind längst nicht alle Städte und Gemeinden aufge-stellt. Auch wir hier im Bund müssen alles dafür tun,dass solche guten Beispiele Schule machen können.Bund und Länder dürfen Kommunen bei der Umsetzungeines guten Kinderschutzes vor Ort nicht im Regen ste-hen lassen. Genau hier sehe ich aber noch einen Webfeh-ler im Gesetz.Ein Bürger hat uns diese Woche zum vorliegendenEntwurf des Bundeskinderschutzgesetzes Folgendes ge-schrieben:Der Entwurf regelt bis ins Detail, wie der Kinder-schutz verbessert werden soll, macht aber keinerleiAussagen darüber, wie viel Personal in den Jugend-ämtern dazu mindestens erforderlich ist. Damitsteht die Qualität der angestrebten Verbesserungenin Frage, denn ausreichendes und qualifiziertes Per-sonal ist zu deren Umsetzung unabdingbare Voraus-setzung.Ich denke, auch da sind wir uns grundsätzlich einig. Die-sem Anschreiben ist nichts hinzuzufügen.
Ich möchte einen zweiten Webfehler im Gesetzent-wurf ansprechen. Das Bundesgesundheitsministerium– das wurde vorhin schon angesprochen – duckt sich wegund macht keine Vorschläge, wie die Kooperation des Ge-sundheitswesens mit der Jugendhilfe verbessert werdenkann. Der 13. Kinder- und Jugendbericht, der sich sehrausführlich und – wie ich finde – fachlich sehr gut mitKindergesundheit beschäftigt hat, hat das zu Recht ange-mahnt.In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass beispiels-weise Ärztinnen und Ärzte wenig Kenntnisse von der Ju-gendhilfe haben und auch nicht die Anlaufstellen für Fa-milien kennen, so wie es notwendig wäre. Oft sind sieauch nicht ausreichend geschult, um eine Kindesver-nachlässigung oder einen Kindesmissbrauch wirklich zuerkennen. Der gute Wille ist bei den Ärztinnen und Ärz-ten grundsätzlich natürlich vorhanden. Das reicht abernicht aus, um in allen Fällen einen effektiven Kinder-schutz zu garantieren.Darum sage ich: Alle Fachkräfte – dabei lege ich dieBetonung auf „alle“ –, die mit Kindern und Jugendlichenzusammenarbeiten, müssen dieselbe Sprache sprechen.Das heißt nicht, originäre Aufgaben der Kinder- und Ju-gendhilfe auf die gesetzliche Krankenversicherung zuvFavnFwJgliGmzUemje–dsssdsteFgsSwsKpuddsad
Als nächste Rednerin zu diesem Debattenpunkt er-
ile ich der Kollegin Michaela Noll für die CDU/CSU-
raktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-en! Auch ich möchte natürlich der jungen Familie – un-erer Familienministerin und ihrem Mann Olechröder – ganz viel Glück wünschen. Ich glaube, es gibtirklich nichts Schöneres, als eine Familie zu gründen.Wir müssen festhalten – darüber bin ich nach wie vorehr glücklich –, dass die überwiegende Mehrzahl derinder in Deutschland ein liebevolles, von Vertrauen ge-rägtes Elternhaus hat, in dem sie entsprechend erzogennd begleitet werden und damit eine Zukunft haben.
Trotzdem finde ich es wichtig, dass wir den Fokus aufie Kinder richten, die auf der Schattenseite groß wer-en. Vielleicht wundern Sie sich, wenn ich jetzt etwasage, was etwas ungewöhnlich klingt. Ich glaube, dassuch die Eltern, die am Anfang Probleme mit der Kin-ererziehung haben, weil sie überfordert sind, ihre Kin-
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13708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Michaela Noll
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der lieben. Oftmals haben sie in ihrem eigenen Eltern-haus nicht das notwendige Rüstzeug mitbekommen. Dasheißt, sie haben nicht kennengelernt, was es heißt, ge-liebt zu werden und Liebe weitergeben zu können. DieseEltern müssen wir unterstützen. Wir sollten ihnen dasentsprechende Rüstzeug geben.Gerade an diesem Punkt sind die Familienhebammendiejenigen, die Vertrauen schaffen, die in die Familiengehen, die den Alltag mit einem Kind verständlich ver-mitteln. Sie erklären den Eltern, dass man, wenn einKind permanent schreit, dieses Kind nicht schütteln darf,sondern dass es andere Mittel und Wege gibt, es zu beru-higen.
Wir leben in einer kinderentwöhnten Welt; das hatvorhin auch meine Kollegin Dorothee Bär erwähnt. Esist einfach so: Früher gab es oft die kurzen Wege: dieNachbarin, die im Haus lebende Mutter oder die vielenGeschwister. Man konnte kurz anrufen und sich Hilfeholen. Das gibt es heute oftmals nicht mehr. Dafür habenwir aber die Jugendämter.Eines finde ich immer wieder schade. In meinemWahlkreis ist Folgendes vorgefallen: Es gab einen klei-nen Jungen namens Daniel, der leider auch zu Tode ge-kommen ist. Man hat die Mutter gefragt: Warum habenSie sich denn nicht ans Jugendamt gewendet? Die Mut-ter sagte: Ich hatte Angst, dass man mir meine Kinderwegnimmt. Da sage ich: Wir müssen etwas tun, damitsich das Image des Jugendamts ändert, sodass es alsHilfeinstanz wahrgenommen wird, die unterstützt, nichtals eine Institution, die als Erstes die Kinder aus der Fa-milie nimmt.An dieser Stelle bin ich unserer Familienministerindankbar dafür, dass sie einen bundesweiten Aktionstagder Jugendämter durchgeführt hat. Viele Jugendämterhaben sich beteiligt, haben Transparenz geschaffen undgezeigt: Wir sind nicht diejenigen, die Kinder aus denFamilien nehmen. Wir wollen die Elternhäuser, die Kin-der in den Familien stabilisieren. Ich denke, das war einguter Schritt; darüber habe ich mich sehr gefreut.
Ich fand heute auch sehr schön, dass der Sohn vonEkin – sie hört zwar gerade nicht zu, aber das ist nichtschlimm –, der oben auf der Bühne war, im Endeffektfeststellen konnte, dass es auch in diesem Parlamentmöglich ist, moderate Töne anzuschlagen, parteiüber-greifend etwas auf den Weg zu bringen, was wirklich al-len Kindern in Deutschland helfen kann. Das war fürmich nach zehn Jahren parlamentarischer Arbeit eineSternstunde im Parlament; denn eine solche Gelegenheithaben wir leider viel zu selten.Frau Marks, ein kleines Kompliment. Normalerweisebin ich gewöhnt, von Ihnen sehr kritische Töne zu hören.Ich freue mich, dass Sie heute Mo.Ki erwähnt haben. Ichbin die Wahlkreisabgeordnete aus der Stadt Monheimund weiß, dass gerade Monheim eine Stadt mit relativvielen Problemen ist. Wir haben ein Viertel, das BerlinerVKdKnmanMwsWkdPlodIchsregisdrusdcFoobagwgvgwDLwn
Darüber hinaus wollte ich eigentlich noch ein paarunkte ansprechen, aber vieles haben meine Kollegenbenswerterweise schon erwähnt. Es gibt einen Punkt,en ich kurz ansprechen möchte: die Führungszeugnisse.h hatte die Gelegenheit, den Oberarzt der Charité zuören, der das Pädophilenprogramm begleitet. Er hat ge-agt: Pädophile suchen aufgrund ihrer sexuellen Präfe-nz den Kontakt zu Kindern. Deswegen sollten wir sa-en: Wir brauchen ein erweitertes Führungszeugnis; est notwendig, diese Personen sichtbar zu machen unden Schutz der Kinder zu verbessern.Jetzt stellt sich die Frage, ob ein erweitertes Füh-ngszeugnis auch bei Ehrenamtlichen nötig ist. An die-em Punkt muss man schon differenzieren: Wie langeauert der Kontakt? In welchem Kontakt bzw. in wel-her Beziehung zu den Kindern steht zum Beispiel derußballtrainer in einem Verein? Es ist ein Unterschied,b man bei einer zehntägigen Ferienfreizeit mitfährtder spontan vier Kinder im Wagen zum Fußballplatzringt. Da können wir nicht überall sagen: Wir wollenuf jeden Fall ein erweitertes Führungszeugnis.Ich möchte mich jetzt schon einmal bei allen Kolle-en bedanken. Ich glaube, dieses Mal schaffen wir esirklich, ein Kinderschutzgesetz auf den Weg zu brin-en. Das ist wichtig; denn es gibt auch heute noch sehriele Kinder – das weiß jeder, der Kontakt mit dem Ju-endamt hat –, die auf der Schattenseite stehen. Machenir uns an die Arbeit! Schaffen wir etwas gemeinsam!ann wäre ich ausgesprochen glücklich und für dieseegislaturperiode dankbar.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-urfs auf Drucksache 17/6256 an die in der Tagesord-ung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13709
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlichnicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 36 a bis c auf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAngelika Graf , Bärbel Bas, Dr. KarlLauterbach, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDPotenziale der Prävention erkennen und nut-zen – Prävention und Gesundheitsförderungüber die gesamte Lebensspanne stärken– Drucksache 17/5384 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
SportausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGesetzliche Grundlage für Prävention und Ge-sundheitsförderung schaffen – Gesamtkonzeptfür nationale Strategie vorlegen– Drucksache 17/5529 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Agnes Alpers, Herbert Behrens, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEPrävention weiter denken – Gesundheitsförde-rung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe stär-ken– Drucksache 17/6304 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache. Ich bitte die Kolleginnenund Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmenwollen, den Saal zu verlassen, damit wir wieder Ruhehaben und Angelika Graf für die SPD-Fraktion das Wortergreifen kann. – Ich erteile das Wort.
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13710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
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bigen Projekten und Modellprojekten erreicht man keineNachhaltigkeit vor Ort, schon gar nicht in der Fläche.
Wir wollen dem sogenannten Setting-Ansatz, wonachdie Menschen in ihrem Umfeld abgeholt werden, mehrRaum geben. Dieser Ansatz kommt bisher völlig zukurz. Die Kassen setzen aus Werbe- und Imagegründenvor allem auf individuelle Präventionsmaßnahmen.80 Prozent der Mittel werden in individuelle Maßnah-men gesteckt, obwohl wir wissen, dass wir damit vor al-lem diejenigen erreichen, die eh schon auf dem Präven-tionstrip sind, die das verstanden haben. Diejenigen, dieam stärksten von Präventionsmaßnahmen profitierenkönnten und sie am dringendsten brauchten, erreichenwir mit diesem Ansatz definitiv nicht. Das kann manzum Beispiel im Kontext der zu häufigen Ablehnungvon Mutter-/Vater-Kind-Kuren sehen, aber auch in ande-ren Bereichen. In der Lebenswelt in den Kindergärten,Schulen und Stadtvierteln – insbesondere für alte Men-schen sind die Stadtviertel wichtig – passiert viel zu we-nig. Nur 8 Prozent der GKV-Mittel gehen in diesen Be-reich der Prävention.Auch ältere und alte Menschen müssen besser als bis-her in ihrer Lebenssituation erreicht werden.
Das gilt insbesondere, wenn wir den typischen Alterser-krankungen entgegentreten wollen. Bewegungsmangelzum Beispiel hat katastrophale Folgen für das Knochen-gerüst und das Herz-Kreislauf-System. Ernährungsmän-gel und Fehlernährung sind ebenfalls Ursachen für kos-tenintensive chronische Erkrankungen, die vermiedenwerden könnten oder deren Eintreten hinausgezögertwerden könnte.Damit möchte ich sagen: Auch bei alten Menschenlohnt sich eine breit angelegte Präventionsmaßnahme,
die das Leben vielleicht noch einmal lebenswertermacht. Hier müssen Koordination, Lenkung und Evalua-tion künftig eine wesentlich größere Rolle spielen. Derschwache Setting-Bereich der heutigen Präventions-strukturen macht besonders deutlich, wie wichtig einenationale Präventionsstrategie ist und wie richtig dieForderung unseres Antrages nach einer Stiftung ist. Wirwollen mit dieser Stiftung alle Akteure einbeziehen, so-wohl den Bund, die Länder und Kommunen als auch alleSozialversicherungen inklusive der privaten Kranken-versicherungen; sie sollen nicht außen vor bleiben. Wirsind der Ansicht, dass dies eine gesamtgesellschaftlicheAufgabe ist.
Infolgedessen müssen sich alle Akteure an einen Tischsetzen.Ein nationales Institut für Prävention, das der Stiftunguntergeordnet sein soll, soll Richtlinien erarbeiten, quali-fiSwwlebdswPsWPGomwghhDzWsCresmlavPaDannJww
er Antrag der SPD gibt Ihnen ein sehr konkretes Kon-ept an die Hand. Stellen Sie sich dem nicht in den Weg.ir werden bei den Beratungen sehen, inwieweit Sieich in diese Richtung entwickeln.Vielen herzlichen Dank.
Der nächste Redner ist Johannes Singhammer für die
DU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-n! Frau Graf, ein paar neue Gedanken statt alter Vor-chläge wären ganz gut gewesen. Gesünder essen undehr Bewegung machen jeden Einzelnen in Deutsch-nd gesünder und helfen, die Ausgaben der Kranken-ersicherung zu senken. Das wissen wir. Wir verstehenrävention deshalb als Gesundheitsförderung und nichtls Krankheitsbehandlung.
as ist das Beste für jeden Einzelnen – das wissen wir –,ber auch für unser Land. Bei der Prävention fangen wiricht am Punkt Null an. Die Lebenserwartung von Män-ern und Frauen ist Gott sei Dank in den vergangenenahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Die Deutschenerden immer älter, nur die Bundesgesundheitsministererden immer jünger.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13711
Johannes Singhammer
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Sorge macht uns,
dass ein zunehmend großer Anteil der Bevölkerung ansogenannten Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Er-krankungen, Krebs, Diabetes mellitus, Allergien oderErkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates lei-det. Ein erheblicher Teil dieser Erkrankungen wäre ver-meidbar.
Die Gründe für diese Erkrankungen sind teilweise nega-tive Einflüsse aus der Umgebung, auch am Arbeitsplatz,aber auch persönliches Fehlverhalten.Darauf hat der Gesetzgeber schon seit längerer Zeitnicht nur reagiert, sondern er hat auch sichergestellt,dass wirksame Präventions- und Vorsorgeleistungendurch die gesetzliche Krankenversicherung zur Ver-fügung gestellt werden: Vorsorge- und Früherkennungs-maßnahmen bei Schwangeren und Kindern sowiebezüglich Krebserkrankungen, Gesundheits-Check-up,Prophylaxe und Schutzimpfungen. Das alles ist nichtneu. Diese sinnvollen Präventionsmaßnahmen funktio-nieren und werden von niemandem infrage gestellt.Das Problem ist allerdings, dass ein gewisser Teil derBevölkerung davon weniger Gebrauch macht als ein an-derer.
Dieser Teil der Bevölkerung ist uns besonders wichtig.Dazu gehören beispielsweise die Kinder; denn sie habenden größten Teil ihres Lebens noch vor sich.
Wenn 25 Prozent der Drei- bis Zehnjährigen nicht sport-lich aktiv sind, dann gibt das Anlass zur Sorge. Wir wol-len uns um diejenigen kümmern, die sich in Bezug aufihren Körper nicht so gut auskennen.
Bei denjenigen, die jeden Tag ins Fitnessstudio gehenoder jeden zweiten Tag einen Sportverein besuchen undsich gesund ernähren, ist alles wunderbar. Wir wollenuns um diejenigen kümmern,
die die notwendigen Informationen nicht haben, die ih-ren inneren Schweinehund noch nicht einmal erkannt,geschweige denn besiegt haben.
Deshalb setzen wir auf Eigenverantwortung
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azu braucht es Information, Anreize, Motivation, Be-hnung und Überzeugung.
as ist das Richtige.Wie das gut und erfolgreich funktioniert, wissen wiroch auch. Ich nehme als Beispiel einmal den Bereicher Zahngesundheit. In diesem Bereich hat nachweisbarine besonders effektive Prävention stattgefunden, die inen vergangenen Jahrzehnten zu besserer Zahngesund-eit geführt hat. Noch in den 70er-Jahren war Zahnersatzher die Regel. Heute, vier Jahrzehnte später, ist dieseegel für junge Erwachsene eher zur Ausnahme gewor-en.
uch bei der älteren Generation ist der Zahnverlust nichtehr vorprogrammiert. Gerade diese Erfolge in derahnprophylaxe zeigen doch, dass allein ein Gesetzicht entscheidend wirkt.
ielmehr ist das Zusammenwirken der Leistungserbrin-er, Ärzte und Patienten und eines geschickten Anreiz-nd Überzeugungssystems entscheidend.
eshalb wollen wir die Gesundheitsförderung stärken.
Es gibt eine Vielzahl von erfolgreichen Projekten, umas Thema Vorbeugung im Bewusstsein der jungenenschen, vor allem der Jugendlichen, zu verankern.h nenne die Präventionskampagnen der Krankenkas-en und die Erziehung zur Gesundheit in den Kindergär-n und Schulen, die bei den Ländern und Kommunenegt. Ich nenne die erfolgreichen Maßnahmen in vielenetrieben, um die Arbeitsgesundheit und die Arbeits-icherheit voranzubringen.
h nenne die vielen Einzelprogramme und Maßnahmenon kirchlichen und sozialen Institutionen, und ichenne – stellvertretend für eine Vielzahl von erfolgrei-
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13712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Johannes Singhammer
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chen Programmen der Bundesregierung – den Nationa-len Aktionsplan „In Form – Deutschlands Initiative fürgesunde Ernährung und mehr Bewegung“ mit über100 Einzelmaßnahmen. Das zeigt, dass die Bundesregie-rung gut zusammenwirkt. Ich nenne hier stellvertretenddas Bundesverbraucherschutzministerium und freuemich, dass der Staatssekretär Gerd Müller hier anwesendist.
Ich könnte noch vieles hinzufügen: den NationalenKrebsplan, den Aktionsplan zur Umsetzung der HIV/Aids-Bekämpfungsstrategie. Jetzt ist es notwendig undsinnvoll, alle Gutwilligen und diese vielen Kampagnenund Strategien zusammenzubringen, die gemeinsameSchlagkraft zu erhöhen und mit neuem Schwung in eineneue Dimension der Prävention zu starten.Dabei brauchen wir eines nicht: mehr Bürokratie,neue Institutionen, die einen Finanzbedarf haben und beidenen man sich erst einmal über die Abläufe, Geschäfts-ordnung und Ähnliches streitet. Stattdessen brauchenwir eine nationale Präventionskonferenz,
in der Bundes-, Landes- und kommunale Ebene sowiedie Sozialversicherungsträger, die Krankenkassen undall diejenigen zusammengeführt werden, die in der Ge-sundheitspolitik tätig sind.
Wir brauchen – das sage ich nicht, um abzulenken,sondern weil es um die gemeinsame Verantwortung allergeht – insbesondere die Mitwirkung der Medien. Sie ha-ben eine ganz entscheidende Aufgabe. Deshalb werdenwir sie bevorzugt einbinden.Ich erinnere an die erfolgreiche Kampagne zur Ver-ringerung der Zahl der Verkehrstoten. Bereits vor eini-gen Jahrzehnten gab es eine Fernsehsendung zur Ver-kehrssicherheit mit dem Titel Der 7. Sinn. Weil unsereAutoingenieure besonders tüchtig waren und immer bes-sere Autos bauten, vor allem aber weil mit dieser Kam-pagne erreicht wurde, dass ein Umdenken eingesetzt hat,ist die Zahl der Verkehrstoten um über zwei Drittel zu-rückgegangen.
Eine solche konzertierte Aktion mit den Medien strebenwir an. Wir brauchen sie, um Gesundheitsgefährdungennachhaltig zu bekämpfen.
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eshalb werden wir uns an einem solchen Verfahrenicht beteiligen.Jetzt komme ich SPD und den Grünen. Ihre Feststel-ngen zielen auf eine zentralistische Institution ab,
ie zwangsweise von allen Beteiligten finanziert wirdnd in einem langen, quälenden Prozess vermutlich vorllem zu neuer Bürokratie und zu Abgrenzungs- bzw.ompetenzstreitigkeiten führen wird.Wir wollen nicht – das sage ich mit aller Deutlich-eit –, dass Präventionsmaßnahmen ausschließlich übereitragsmittel finanziert werden.
in Präventionsgesetz darf nicht dazu dienen, dass sicher Staat auf Kosten der Sozialversicherungsträger undamit letztlich auf Kosten der Betriebe und der Arbeit-ehmer bedient.
as wollen wir nicht.
Prävention betrifft das höchstpersönliche Verhaltenes Einzelnen. Entscheidend ist nicht, dass man ein um-ngreiches und ausformuliertes Gesetzespaket schnürt.ntscheidend ist vielmehr die Motivation der Bevölke-ng. Dabei sind wir ein gutes Stück vorangekommen.h danke allen, die sich daran beteiligt haben. Die Kam-agne zur Motivation und Information der Bevölkerungur Förderung der Gesundheit wollen wir voranbringen.abei werden wir die größten Erfolge erzielen.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13713
Johannes Singhammer
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Das Wort hat nun Martina Bunge für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach Ihrer Rede, Herr Singhammer, muss ich sagen: Ge-sundheitsförderung und Prävention werden in Deutsch-land leider stiefmütterlich behandelt;
auch Ihre Beispiele können darüber nicht hinwegtäu-schen. Diese Themen werden unseres Erachtens völligzu Unrecht stiefmütterlich behandelt.Wir sehen: In Deutschland hat sich die Lebenserwar-tung seit 1871, seitdem sie dokumentiert wird, verdop-pelt. Das ist ein großer Erfolg. Dieser Erfolg ist sicherzum Teil auf den medizinischen Fortschritt zurückzufüh-ren. Klar ist aber auch: Den allergrößten Anteil an derZunahme der Lebenserwartung hat die Medizin nicht.
Bessere Hygiene, bessere Arbeitsbedingungen, bessereund ausreichende Nahrungsmittel waren die entschei-denden Größen für diesen Erfolg.
Die Lebensbedingungen der Menschen gesundheits-förderlich zu gestalten, das ist der Schlüssel. Es gibtfolglich keinen Grund, die kurative bzw. behandelndeMedizin so sehr in den Mittelpunkt des Gesundheitssys-tems zu stellen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Wirbrauchen endlich einen Paradigmenwechsel hin zu ei-nem gesundheitsförderlichen, präventiven Gesundheits-system und zu einer gesundheitsförderlichen Gesamt-politik.
Wer nun meint, die Lebensbedingungen, von denen ichanfangs gesprochen habe, seien heutzutage in Deutsch-land genügend gesundheitsförderlich gestaltet, der irrt ge-waltig. Wer in Deutschland arm ist, stirbt zehn Jahre frü-her. Dieser Unterschied in der Lebenserwartung ist wederdurch den unterschiedlichen Zugang zum Gesundheits-system noch durch ein unterschiedliches Gesundheitsver-halten ausreichend zu erklären, Herr Singhammer.Ich sage das ganz deutlich in Richtung FDP: DenMenschen individuell die Schuld am Kranksein zu ge-ben, weil man meint, die Dicken müssten nur ein biss-chen weniger essen und die Raucher müssten aufhören,zu qualmen,
löst die Probleme nicht, die wir haben.DLgdzEwassddnIcarisImDdsdEmGAaPlessGKGvwau
as Gesundheitsverhalten erklärt die unterschiedlicheebenserwartung bei Armen und Reichen nur zu einemeringen Teil. Es sind die Verhältnisse.Von Schwarz-Gelb haben wir keine ernstzunehmen-en Initiativen zur Gesundheitsförderung und Präventionu erwarten. Es wird wieder einmal eine Kampagne zurnährung und Bewegung geben. Herr Singhammer, dasaren hier Ihre ersten Worte. Ich zitiere einen Expertenus dem Sachverständigenrat zur Begutachtung des Ge-undheitswesens, Rolf Rosenbrock, der bereits 2003chrieb: Kampagnen entsprechen nicht mehr dem Stander gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisse. – Aberiese Erkenntnis scheint bei der Bundesregierung nochicht angekommen zu sein.
Umso erfreulicher ist, dass die Opposition tätig wird.
h denke, Herr Singhammer, wir brauchen ein Gesetz –ber nicht für mehr Bürokratie. Entscheidend ist, was da-nsteht. Ich sehe in den Anträgen der Opposition, dieich nicht entgegenstehen, sondern eher ergänzen, auchpulse. Diese Anträge sollten Sie bitte einmal lesen.ann wüssten Sie vielleicht, worüber wir hier sprechen.
Die Linke will Prävention weiterdenken. Dabei sindrei Aspekte besonders wichtig.Erstens. Gesundheit oder das Wohlbefinden der Men-chen ist ein so hohes Gut, dass es ruhig etwas kostenarf.
s ist richtig, dass gute Gesundheitsförderung und nicht-edizinische Primärprävention langfristig Kosten imesundheitssystem einsparen können. Wir haben diesenspekt aber nicht in unserem Antrag erwähnt, weil wiruch dann Gesundheitsförderung und nichtmedizinischerimärprävention favorisieren und massiv fördern wol-n, wenn sie nichts einsparen würden. Der Mensch miteinem Glück und Wohlbefinden muss im Zentrum un-erer Überlegungen stehen.Die wichtigsten Dinge im Leben – dazu gehören dieesundheit und das Wohlbefinden – dürfen nicht unterostenvorbehalt stehen.
esundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprä-ention müssen ausreichend und sicher ausfinanzierterden, beispielsweise zum Start mit 1 Milliarde Euron Bundeszuschuss jährlich, wie wir fordern.Unser zweiter Punkt des Weiterdenkens. Gesundheitnd das Wohlbefinden, aber auch das Leben an sich – also
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Dr. Martina Bunge
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die Lebenserwartung – sind so hohe Güter, dass wir esnicht zulassen dürfen, dass sie in einem solch hohenMaße davon abhängen, in welche Familie man zufällighineingeboren wird. Es widerspricht der Würde des Men-schen, wenn wir zulassen, dass die Lebenserwartung ei-nes Kindes aus einer sozial benachteiligten Familie zehnJahre geringer ist und die Gesundheit im Durchschnittdeutlich schlechter ist als die eines Kindes aus einer be-güterten Familie.Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primär-prävention sind geeignete Maßnahmen, die Auswirkun-gen der sozialen Ungerechtigkeiten in unserem Land zuvermindern. Wenn wir diesen Ansatz nicht nutzen, ha-ben Gesundheitsförderung und Prävention ihren Sinnverfehlt.
Es ist natürlich klar: Gesundheitsförderung und Prä-vention allein können das Problem der sozialen Unge-rechtigkeiten nicht lösen. Die Lebensbedingungen füralle im Land gesundheitsförderlicher zu gestalten, isteine Querschnittsaufgabe aller Politikfelder. Deshalbmüssen wir eine gerechtere Politik betreiben. Aber ichdenke, dafür brauchen wir eine andere Regierung. Mitdieser wird das nicht zu machen sein.
Ich komme zum dritten wesentlichen Ansatz: Wirstellen die Ressourcen und die Fähigkeiten der Men-schen in den Mittelpunkt unseres Antrags. Gesundheits-förderung bedeutet für uns ganz zentral, die Fähigkeitender Menschen zu stärken, damit sie ihr Leben selbstbe-stimmt gestalten und ihre Anforderungen kreativ und zu-friedenstellend lösen können.Wir haben Vertrauen in die Menschen. Alle Men-schen können ihr Leben so gestalten, dass sie sich damitwohlfühlen. Das ist aber nur möglich, wenn die äußerenUmstände es zulassen und die Menschen über ausrei-chende Fähigkeiten und Ressourcen verfügen. An dieserStelle muss Gesundheitsförderung ansetzen. Dann ent-stehen wirkliche Freiheit und Selbstbestimmung.
Diese Selbstbestimmung entsteht aber nicht, indem mansoziale Ungerechtigkeiten weiter verstärkt, einen großenTeil der Gesellschaft abhängt bzw. abschreibt und dieseMenschen dann auffordert, sich gesundheitsbewusst zuverhalten und vernünftig zu ernähren. Das ist grotesk;das ist keine logische Argumentation.
Natürlich gilt unser Dank den Enthusiasten, die sichvor Ort der Gesundheitsförderung und der nichtmedizi-nischen Primärprävention widmen und sich mit tollenIdeen und den richtigen Ansätzen bemühen. Die Ge-sundheitsförderung krankt aber im wahrsten Sinne desWortes daran, dass sie nichts als Aktionismus ist. Daswar leider auch unter den vorhergehenden Regierungender Fall. Sie ist in diesem Zustand stecken geblieben.Gutes versandet: Projekte werden nicht evaluiert, För-dermittel nur zeitlich begrenzt vergeben, mal hier undmal dort wird etwas initiiert.InbcncztuhrüMRisPdteGWGbSnsLsinsSsmppk–
Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!eine Damen und Herren! Viele Wege führen nachom. Über das Ziel sind wir uns alle einig. Präventiont unverzichtbar. Viele Krankheiten lassen sich durchrävention vermeiden. Milliarden Euro ließen sich da-urch jedes Jahr sparen. Die Belastung der Sozialsys-me wird langfristig verringert.Nicht einig sind wir uns über den Weg. SPD undrüne fordern in ihrem Antrag ein Präventionsgesetz.ir Liberale können die Notwendigkeit eines solchenesetzes allerdings nicht erkennen. Denn es existierenereits zahlreiche erfolgreiche Präventionsprogramme.icherlich können sie noch effektiver werden und ge-auer auf Zielgruppen eingehen. Sie können noch inten-iver dazu beitragen, das Bewusstsein für ein gesundeseben zu fördern. Hierfür benötigen wir aber nichtchon wieder ein Gesetz. Wir benötigen vielmehr einetelligente Strategie.
Bekanntlich zieht jedes überflüssige Gesetz überflüs-ige Bürokratie nach sich. Genau das wollen wir nicht.
tattdessen müssen wir das Potenzial der bewährten In-trumente noch besser nutzen als bisher. Das Bundes-inisterium für Gesundheit entwickelt die Gestaltungräventiver Maßnahmen kontinuierlich weiter. Dazu ver-flichtet uns der Koalitionsvertrag. Dieser Verpflichtungommen wir selbstverständlich nach.
Hören Sie einmal zu! Ich lobe Sie jetzt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13715
Dr. Erwin Lotter
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Generell hat der Antrag der SPD viele Problemfelderdurchaus zutreffend umschrieben. Aber leider ziehen Siedaraus die falschen Konsequenzen. Wem wäre denn mitder von Ihnen geforderten Stiftung „Prävention und Ge-sundheitsförderung“ gedient?
Es wäre noch eine weitere bürokratische Ebene mehr,die sich um einen Bereich kümmert, in dem Bund undLänder bereits viel unternehmen. Was soll Ihre Forde-rung, die Krankenkassen auf einen Mindestausgaben-richtwert in Höhe von 10 Euro pro Versichertem festzu-nageln? Ein ganzes Heer von Sachbearbeitern müsste dieUmsetzung dieses Richtwerts und gegebenenfalls dieDurchsetzung von Sanktionen überwachen.
Die diffus gehaltene Forderung, individuelle Programmezurückzufahren und mehr Leistungen in den Bereich vonSettings zu investieren, ist nicht zielführend;
denn die ganz persönliche, individuelle Situation ist imZweifel für den Erfolg von Prävention viel entscheiden-der als Setting-Strukturen.
Ich möchte jetzt nicht die unzähligen Programme auf-zählen, die in den letzten Jahren – übrigens von allengroßen Parteien – initiiert worden sind. Die entschei-dende Frage ist, ob diese Programme ihr Ziel auch errei-chen.Die Bundesregierung will, dass Prävention alle Versi-cherten und alle Altersgruppen erreicht.
Dazu benötigen wir die Setzung von Schwerpunkten.Diese müssen dort liegen, wo die nachhaltigste Wirkungzu erwarten ist.
– Warten Sie ab! – Auf einige dieser Schwerpunktemöchte ich jetzt im Einzelnen eingehen.
Die Weichen für eine gesunde Lebensführung werdenim Kindes- und Jugendalter gestellt. Zu keiner Zeit istPrävention so wichtig.
Die aktuellen Befunde sind alarmierend: 15 Prozent derKinder und Jugendlichen von 3 bis 17 Jahren sind über-gsaDdWzinDJuMzhWinesamPdGhdistigEFstuüüb
ehr als bisher müssen Lehrer, Ärzte und Eltern auf An-eichen psychischer Erkrankungen achten. Die sprung-aft angestiegene Rate an ADHS-Erkrankungen ist einarnsignal.
Wir müssen die Lebensumstände der Familien mehr den Blick nehmen als bisher. Gegebenenfalls mussine Erziehungsberatung angeboten werden. Viele fal-che Weichenstellungen sowohl bei der physischen alsuch bei der psychischen Gesundheit entstehen durchangelhafte Hilfen für überforderte Familien. Diesesroblem ist besonders in den sozial schwächeren Teilener Bevölkerung verbreitet.
leiches gilt für Kinder und Jugendliche mit Migrations-intergrund.
Wer hier wirksam helfen will, der setzt am besten beier Familie an. Bevor das Kind in den Brunnen gefallent, sollte man die Idee eines Elternführerscheins disku-eren. Eltern sollten durch die Teilnahme an Kursen fitemacht werden.
in Elternführerschein ist ein Beitrag zur Prävention, zurörderung der ersten Schritte im Leben eines Kindes zueinem Wohl und dem seiner Eltern sowie zur Entlas-ng öffentlicher Einrichtungen, etwa der schon heuteberlasteten Schulen, die später reparieren sollen, wasberforderte Eltern zuvor versäumt haben.Ein weiteres wichtiges Instrument ist die Ernährungs-eratung. Wenn Kinder erst einmal an Adipositas leiden
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Dr. Erwin Lotter
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und von ihren Mitschülern verspottet werden, ist der Zugschon fast abgefahren. Diese Beratung soll niemandemaufgezwungen werden, wir können sie aber durch An-reize attraktiv machen.
Warum sollte es nicht zum Beispiel Sachleistungen alsBonus dafür geben, dass sich Familien beraten lassenund ihre Kinder dadurch nachweislich gesünder ernäh-ren? Das kann ein Fahrradhelm sein oder eine Jahresmit-gliedschaft in einem interessanten Sportverein.
Solche Leistungen, die die Krankenkassen übernehmenmüssten, werden sich langfristig mehr auszahlen, als ineiner überflüssigen Stiftung Angestellte zu beschäftigen.
– Hören Sie bis zum Ende zu, dann werden Sie das alleserfahren, was Ihnen noch unklar ist.
Wichtig ist auch, dass in Gemeinschaftseinrichtungenwie Kindergärten, Schulen und Vereinen das Bewusst-sein für Gesundheit gefördert werden muss. Natürlichmüssen diese Einrichtungen selber gesunde Ernährungbereitstellen. Für diese Institutionen sind in den letztenJahren viele Aktionsprogramme entworfen worden.Diese werden wir weiterführen und ergänzen.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass bei Haus- undKinderärzten zuweilen die kurative Seite dominiert unddie präventive Seite ins Hintertreffen gerät. Hier sind dieÄrzte gefordert, um Prävention auf breiter Front durch-zusetzen. Deshalb müssen wir das Engagement derHaus- und Kinderärzte fördern.
Ein weiterer Schwerpunkt der Präventionsstrategie istdie Gesundheitsförderung im Betrieb. Die meisten Un-ternehmen wollen gesunde, tatkräftige Mitarbeiter. Siesind auch willens, sich für Prävention starkzumachen.Leider ist festzustellen, dass sich die Krankenkassensehr unterschiedlich um Prävention bemühen. Geradekleine und mittlere Unternehmen haben es schwer, wennsie sich einer Vielzahl von Krankenkassen gegenüber-sehen. Die Gestaltung von Gruppentarifverträgen für dieBeschäftigten eines Betriebes könnte dazu beitragen, dieGesundheitsförderung zu intensivieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Vogler von der Linksfraktion?
s
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S
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F
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Zwi-
chenfrage gestatten.
Immer gerne.
Sie haben gerade sinngemäß gesagt, dass es bei den
inder- und Jugendärzten noch ein unterentwickeltes
ewusstsein für Prävention und Gesundheitsförderung
ibt.
Ich war in der letzten Woche auf einer Veranstaltung
Essen. In der Essener Nordstadt, in den nördlichen
tadtbezirken, gibt es 10 000 Kinder und Jugendliche,
lso 10 000 junge Patientinnen und Patienten, und nur
och zwei niedergelassene Kinder- und Jugendärzte,
eil sich die Ärzte lieber in den südlichen Stadtbezirken
iederlassen, wo die Klientel attraktiver ist.
Essener Norden leben viele Migrantinnen und Mi-
ranten und viele finanziell benachteiligte Familien.
Wie sollen diese zwei Kinder- und Jugendärzte, die
usammen 10 000 junge Patientinnen und Patienten in
er Kartei haben, über die Vorsorgeuntersuchungen hi-
aus, die sie durchführen, auch noch zusätzliche Präven-
onsangebote machen?
as sehe ich schon einmal gar nicht. Ich finde das gera-
ezu illusionär.
Wir haben gerade von allen anderen Rednerinnen und
ednern auch gehört,
ass anerkannt worden ist, dass die Präventionsmaßnah-
en vor allem diejenigen erreichen, die sie eigentlich
eniger brauchen. Im Essener Norden besteht aber ein
chter Bedarf. Wie stellen Sie sich vor, dass wir dort ak-
v werden können, um die Lebensbedingungen der
enschen dort, vor allem der Kinder und Jugendlichen,
u verbessern? Wir sollten den Kinder- und Jugendärz-
n nicht vorwerfen, dass sie ihren Job nicht ordentlich
achen.
Vielen Dank. Ich dachte schon, es käme gar keinerage mehr und Ihr Beitrag wäre nur ein Koreferat.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13717
Dr. Erwin Lotter
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Die Vorvorgängerin im Amt des Gesundheitsminis-ters hat sich immer an dieses Rednerpult gestellt und er-klärt, dass soundsoviele Milliarden Euro für die Versor-gung zur Verfügung gestellt werden und alles bestens ist.Es war unser Gesundheitsminister, Minister Rösler
– Rösler, das sagte ich gerade –, der dieses Problem, dasswir auf einen Ärztemangel zusteuern und in bestimmtenRegionen schon einen Ärztemangel haben, zum erstenMal beschrieben hat. Das wurde hier zum ersten Mal ar-tikuliert. Es wurden jetzt auch Strategien entworfen.
Wenn Sie sich unseren Entwurf des Versorgungsge-setzes anschauen, dann sehen Sie, dass wir gerade diesesProblem angehen, indem wir die Versorgung anders undzielgenauer definieren und Ärzte über Anreize dazubringen wollen, sich auch in solchen Gegenden nieder-zulassen. Unabhängig davon muss man die Ärzte natür-lich informieren. Es muss sich für die Ärzte auch irgend-wie rechnen, dass sie sich um Prävention bemühen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer mehr Men-schen werden immer älter. Wir wollen ihre Lebensquali-tät fördern. Durch körperliche und geistige Fitness wirddie Lebensfreude erhalten und werden die Krankenversi-cherungen entlastet. Bewegung, gesunde Ernährung undsoziale Teilhabe schützen vor Demenz. Die präventivenPotenziale in diesem Feld werden bei weitem nicht aus-reichend genutzt. Ältere Menschen werden allerdingsseltener über das Internet oder über Institutionen ange-sprochen. Hier können Initiativen über Wohnheime,Kommunen oder auch kirchliche Gemeinden ansetzen.Meine Damen und Herren, wir haben zahlreiche In-strumente zur Prävention, die wir nur besser nutzen müs-sen. Sehr wichtig ist die Bundeszentrale für gesundheit-liche Aufklärung, die mehr Projekte für ältere und fürsozial benachteiligte Menschen starten könnte. Sehrwichtig sind auch die Krankenkassen. Sie sind nach§ 20 SGB V dazu berufen, sich um Maßnahmen der pri-mären Prävention zu kümmern. Eine bessere Koordina-tion zwischen den Kassen über Ziele und Maßnahmender Prävention scheint mir dringend erforderlich zu sein.Die Kassen müssen schon aus Eigeninteresse stärker ini-tiativ werden; denn jede vermiedene Krankheit spartGeld und stärkt die Position der Kasse im Wettbewerb.Zu einer erfolgreichen Strategie gehören für michnoch zwei weitere Aspekte. Wir benötigen eine bessereBündelung von Informationen für Patienten. Je besserMenschen informiert sind, desto eher übernehmen sieVerantwortung für die eigene Gesundheit. Informationensollten über Ärzte, Schulen, Krankenkassen, Betriebeund soziale Hilfsdienste so kanalisiert werden, dass siedreQgiheepntuenRstiNnddeiczDwEsDBVTsWmn
in besserer Informationsfluss und eine bessere Koordi-ation der Krankenkassen.
Wie ich eingangs sagte: Viele Wege führen nachom. Die Liberalen möchten, dass wir den besten ein-chlagen.
Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Frak-on Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-en und Kollegen hier im Hause! Ich habe heute Morgenie Beratungen zu dem vorherigen Tagesordnungspunkt,em Bundeskinderschutzgesetz, gehört. Da habe ichrstmalig eine sehr konstruktive Debatte erlebt, bei derh das Gefühl hatte: Alle hier im Saal wollen tatsächlichu neuen Lösungen kommen.
as würde ich mir für die Prävention in gleicher Weiseünschen.
ntsprechende Äußerungen habe ich heute bislang von-eiten der Regierungskoalition leider noch nicht gehört.as finde ich schade.Man sieht anhand der drei Anträge, die wir hier in denundestag eingebracht haben, dass sehr konstruktiveorschläge auf den Tisch gelegt worden sind. Sie sind ineilen unterschiedlich – man muss auch nicht alle An-ichten teilen –, aber die Richtung ist im Grunde klar:ir müssen mehr für die Prävention tun. Wir müssenehr für die Gesundheitsförderung tun. Das dürfen wiricht einfach nur dem Wettbewerb der Krankenkassen
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Maria Klein-Schmeink
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überlassen oder aber daraus nur eine Sonntagsrede ma-chen. So ist es aber bislang. So dürfen wir nicht weiter-machen.
Wir haben heute relativ wenig Fakten und Zahlen be-müht. Ich habe mir einmal angesehen, wie viel wir fürdie Gesundheit ausgeben, und zwar über alle Sozialleis-tungsträger gesehen. Das sind ungefähr 270 MilliardenEuro. Wir geben gerade einmal 2,3 Prozent dieserSumme für Prävention und Gesundheitsförderung aus.
Genau das zeigt, wo derzeit die Schieflage ist. In dieserArt und Weise können wir nicht weitermachen.
Herr Singhammer und Herr Lotter, zu diesem Themahätte ich mir ein paar konkretere Hinweise gewünscht.Sie haben gesagt: Im Grunde genommen ist alles, so wiees ist, gut. Wir müssen noch ein bisschen mehr Kampa-gnen machen und mehr guten Willen zeigen. Wir müssenmehr Fantasie aufbringen und sehen, dass wir das eineoder andere besser bündeln. Dann haben wir genug ge-tan. – Dazu kann ich nur sagen: Das reicht nicht.Viele von Ihnen dürften auch in den Kommunen aktivsein und vielleicht auch Kommunalpolitik gemacht ha-ben. In den Kommunen sehen Sie, dass die Realität einevollständig andere ist. Die Menschen, die über die ge-ringsten Chancen auf Gesundheit und über wenig Bil-dung verfügen, werden von den Präventionsmaßnahmenbislang nicht erreicht. Da, wo in sozialen Brennpunktenfür diese Gruppen Projekte entwickelt und mühseligfinanziert werden, stellt sich nach zwei Jahren die Frage:Wie wird dieses Projekt weiterfinanziert? Das ist heute,zwölf Jahre nachdem wir Gesundheitsförderung undPrävention ins Gesetz geschrieben haben, immer nochdie Realität. Das müssen wir ändern. Da sind wir alle ge-fragt.
Wenn jetzt festgestellt wird, dass ein Richtungs- undPrioritätenwechsel notwendig ist, dann muss er auch tat-sächlich angegangen werden. Wir werden nicht darumherumkommen, entsprechende gesetzliche Regelungenzu schaffen. Hier ist immer wieder davon die Rede, einPräventionsgesetz werde als Wert an sich bemüht undnur zu mehr Bürokratie führen. Das Gegenteil ist derFall: Wir haben jetzt sehr viel Stückwerk, Leerlauf undBürokratie für Kleinstprojekte. Das ist die Realität, unddas müssen wir angehen.
Sie könnten dabei auf alle Vorschläge zurückgreifen,die wir vorgelegt haben. Wir haben Vorschläge dazu ge-macht, wie man Bund, Länder und Kommunen an einenTubngvluusfewdoWmDsatrslaliDnsvfeSdwati–ddkdbs
Das ist das eine. Das andere ist: Auch bei den ver-chiedenen Bemühungen der Krankenkassen müssen wirststellen, dass die bruchstückhafte Finanzierung, dieir derzeit haben, sogar noch rückläufig ist. In der Zeiter Großen Koalition sind Sie nicht vorangekommen,bwohl Sie versprochen hatten, endlich etwas zu tun.o aber sind wir gelandet? Im Stillstand.Aber unter Schwarz-Gelb sind wir derzeit nicht ein-al im Stillstand; wir machen sogar Rückschritte.
as ist die Realität, die Sie zur Kenntnis nehmen müs-en. Die Ausgaben für Prävention sind derzeit niedrigerls noch im Vorjahr. Sie werden in Zeiten von Zusatzbei-ägen im nächsten Jahr weiter rückläufig sein. Das wis-en wir schon heute. Das muss doch Grund sein, unsngsam darüber Gedanken zu machen, wo wir eigent-ch hinwollen.
ieser Aufgabe müssen Sie alle sich stellen. Sie könnenicht einfach unterstellen, dass wir irgendeine bürokrati-che Idee im Kopf haben. Darum geht es nicht. Es gehtielmehr darum, eine vernünftige Grundlage zu schaf-n.Wenn Sie einen besseren Vorschlag haben, könnenie ihn gerne vorlegen. Dazu werden wir, hoffe ich, iner nächsten Zeit Gelegenheit haben.So viel als Eingangsbemerkung. Gemessen daran,as wir beim Thema Kinderschutz erlebt haben, wärenuch beim Thema Prävention konstruktivere Schritte nö-g.
Es geht nicht darum, wer wie anfängt. Jeder hat es iner Hand – Sie reden ja gerne von Eigenverantwortung –,en Stil zu ändern.Ich möchte aber auf den jetzigen Stand zu sprechenommen. Derzeit haben wir ein Wirrwarr von Zustän-igkeiten. An dieser Stelle können wir ansetzen. Dafürrauchen wir das Präventionsgesetz. Wir haben keinetabile Finanzierungsgrundlage. Auch dafür brauchen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13719
Maria Klein-Schmeink
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wir eine gesetzliche Regelung, wie auch immer Sie dasdann nennen. Das können Sie ja anders machen.Darüber hinaus brauchen wir aber auch vernünftigeStrategien. Denn derzeit haben wir in der Tat verschie-dene Strategien, vor allem Marketingstrategien derKrankenkassen; sie werden aber nicht zusammen be-trachtet. Das muss sich ändern. Wir müssen die Grundla-gen dafür schaffen und bestehende Initiativen wie „InForm“ auf eine breite Plattform stellen. Wir braucheneine Übereinkunft darüber, dass das unser gemeinsamesProgramm auf allen Ebenen ist.
Das müssen wir als nationale Strategie ergänzend zudem gestalten, wofür wir die gesetzlichen Grundlagenschaffen.Diese Visionen brauchen wir. Diese Aufgaben müs-sen wir angehen. Das können wir nicht einfach aussit-zen, indem nur ein bisschen analysiert wird, was derzeitvorhanden ist, und allenfalls der Beitragsanteil pro Ver-sicherten weiter angehoben wird. Das kann nicht die Lö-sung sein. Wir brauchen vielmehr eine Gesamtstrategie.
Wenn Sie, wie es vorhin der Fall war, versuchen, sichmit dem Hinweis auf die persönliche Eigenverantwor-tung herauszureden, dann ist das keine geeignete Strate-gie. Sie alle wissen: Prävention und Gesundheitsförde-rung sind Instrumente gegen die soziale Schieflage. Dasist auf allen Ebenen bekannt. Diesem Thema müssen wiruns stellen. Das können wir nicht, indem wir nur an dieEigenverantwortung appellieren. Das ist ein Rückschrittund führt in die Sackgasse. So werden wir nicht weiter-kommen.Befassen Sie sich mit unseren Vorschlägen, die wirvorgelegt haben, statt sich an einer aus meiner Sicht zen-tralistischen Stiftungslösung abzuarbeiten, und ziehenSie auch die anderen Ansätze heran, die Ihnen aufge-zeigt wurden.
Gehen Sie mit uns in die Debatte und schauen Sie, dassSie noch in diesem Jahr etwas auf den Weg bringen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Henke für die Unionsfrak-
tion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin Ihnendankbar, Frau Klein-Schmeink, dass Sie sich von denAdebawtramPdhSu–gtuF–kwwtrN–sKdvtudnawv
ie machen eine Front zwischen Prävention einerseitsnd Behandlung andererseits auf.
Lesen Sie doch Ihren Antrag! – Sie versuchen, das ge-eneinander auszuspielen. Sie stellen Aspekte der Insti-tionalisierung in den Vordergrund. Sie machen eineront zwischen sozialen Schichten auf.
Verehrter Kollege Weinberg, Sie von der Linken dis-reditieren ganz bewusst individuelle Anstrengungen,
eil Sie die Eigenverantwortung in Misskredit bringenollen. Reden Sie nicht! Lesen Sie Ihren eigenen An-ag!Ich darf aus dem Antrag der Linken zitieren:Die bisher hauptsächlich angewendete Prävention… mündet zumeist im Versuch von Verhaltensände-rungen durch Informationskampagnen. Sie blendetdie gesellschaftliche Realität und Verantwortungsowie die individuelle Situation der Menschen aus.un kommt der entscheidende Satz:Diese Form der Prävention ist daher nicht nur zu-meist unwirksam Sie erklären damit also die Kampagnen für Zahnge-undheit, die Aidskampagne, die Maßnahmen zur Herz-reislauf-Prävention und alle anderen Anstrengungener Institutionen, die etwas für die Verbreitung von prä-entiven Ansätzen in der bürgerlichen Zivilgesellschaftn, für unwirksam –,sondern vergrößert oft die soziale Schere in der Ge-sundheit.Das ist in logischer Hinsicht Unsinn. Entweder istiese Form der Prävention unwirksam – dann kann sieicht die soziale Schere vergrößern –, oder sie wirkt sichuf die soziale Schere aus. Dann kann sie aber nicht un-irksam sein. Einen solchen unlogischen Unsinn ist manon der Linken ja gewohnt.
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13720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Rudolf Henke
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Ich komme auf die Potenziale der Prävention zurück.Frau Klein-Schmeink, ich bin Ihnen dankbar, dass Siedaran erinnert haben, welche Rolle in der aktuellen De-batte auch das Bundeskinderschutzgesetz spielt. Auch inder gestrigen Debatte über die Energiepolitik und insbe-sondere über das Ende der Kernenergie in Deutschlandsind wir letzten Endes gesundheitspräventiven Erwägun-gen gefolgt.
– Doch! – Der Gedankengang ist folgender: Bei der Ha-varie eines Kernkraftwerks drohen derart große Gefah-ren für Leib und Leben vieler Menschen,
und die medizinischen Möglichkeiten der Heilung vonStrahlenopfern sind so gering, dass wir dieses Risikonicht länger in Kauf nehmen wollen. Eine Havarie– diese Möglichkeit wurde bis dato zumindest von unsals gering empfunden – kann also doch plötzlich eintre-ten. Das ist die Botschaft der Bilder von Erdbeben, Tsu-nami und der Kernschmelze in Japan. Wir gestalten nununsere Energieversorgung in weiten Teilen neu, um dasRisiko der bei einer Havarie drohenden Gesundheits-schäden auszuschalten. Das ist der Kern dessen, was wirgestern entschieden haben. Es geht um eine gesundheits-verträgliche Energieproduktion.Als Arzt wünsche ich mir, dass wir die Sensibilität,die Aufmerksamkeit, die Fantasie und die Handlungsbe-reitschaft, die wir mit den gestrigen energiepolitischenEntscheidungen unter Beweis gestellt haben, um die Ge-sundheit von Menschen, Tieren und Natur zu schützen,auch gegen Gefahren einsetzen, die uns alle ebenso un-mittelbar betreffen. In unserem Land sterben im Jahrmehr als 100 000 Mitbürger vor der Zeit an den Folgendes Rauchens. 40 000 Mitbürger sterben vor der Zeit anden Folgen maßlosen Konsums von Alkohol.Ohne die epidemieartige Ausbreitung – –
Kollege Henke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Klein-Schmeink?
Ich möchte den Gedanken gern noch zu Ende führen,
und dann gestatte ich das gerne.
Ohne die epidemieartige Ausbreitung der Adipositas,
also des krankhaften Übergewichts, wären mindestens
zwei von drei Zuckerkranken gesund. Wir haben in den
letzten 30 Jahren, je nach Zählung, das metabolische
Syndrom, also die Konsequenz aus Bewegungsarmut
und Überernährung, in einer Weise entwickelt, dass wir
von der Verursachung etlicher Zivilisationskrankheiten
sprechen müssen. Es ist eine blanke Illusion, zu glauben,
dass man das mit der Schaffung bloßer Institutionen be-
seitigen kann. Dazu braucht man vielmehr einen gesell-
schaftlichen Bewusstseinswandel, der beim Einzelnen,
bei seiner persönlichen Verantwortung, ansetzt. Jeder ist
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Herr Henke, Sie haben gerade sehr anschaulich die
olgen von gesundheitsschädlichem Verhalten aufge-
eigt. Wir wissen doch durch viele Projekte, dass man
erade Personen, die dieses Gesundheitswissen in der
egel nicht haben, die in der Familie ungünstige Verhal-
nsweisen erlernt haben, durch settingbezogene, lebens-
eltbezogene Ansätze gut erreichen kann, also eben
icht durch individuelle Maßnahmen.
aben Sie sich unsere Anträge angeschaut?
inden Sie nicht selber, dass man daran arbeiten sollte,
iese Ansätze in der Fläche, vor Ort, vor allen Dingen in
en Kommunen stabil und verlässlich zu verwirklichen?
enau darüber haben wir eben beim Kinderschutzgesetz
gleicher Weise diskutiert.
Ich habe mir Ihre Anträge Wort für Wort vorgenom-en. Mein Eindruck, Frau Kollegin Klein-Schmeink, ist,ass das Bundesministerium für Gesundheit mit großernergie und in enger Abstimmung mit den anderen Res-orts der Bundesregierung an einer nationalen Präven-onsstrategie arbeitet und dass sämtliche Gedanken, die diesen Anträgen formuliert sind – jenseits der Frageer Form der Institutionalisierung, ob es eine Stiftungerden soll oder welche Gremien auch immer manchaffen will –, in diese Strategie einfließen. Ich binankbar dafür, dass wir mit der Entwicklung dieser Stra-gie eine weitere Chance haben, über die Notwendig-eiten zu diskutieren.Wenn man auf die letzten 30 Jahre zurückblickt, er-ennt man, dass wir, je nach Zählung, 15 bis 30 – man-he sprechen sogar von 50 – Gesundheitsreformen erlebtaben. Dabei ist es fast immer um die Frage gegangen,ie viel Geld wohin fließt. Das hat etwas mit einer Miss-terpretation der eigentlich zugrunde liegenden Ursa-hen für die Kostenentwicklung im Gesundheitsbereichu tun.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13721
Rudolf Henke
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Wir interpretieren diese Kosten oft ausschließlich alsFolge des demografischen Wandels und des zunehmen-den Alters, als Folge des medizinisch-technischen Fort-schritts, als Folge der Arzneimittelentwicklung oder alsFolge der Einkommen der Gesundheitsberufe.Ich frage: Ist die Kostenentwicklung in Wahrheitnicht eine Folge unseres sitzenden Lebensstils, unsererÜberforderung mit geistig-emotionaler Dauerreizung,für die wir als ehemalige Savannenläufer nicht konstru-iert sind?
Für übertriebenen Sport sind wir übrigens ebenso wenigkonstruiert wie für ständiges Sitzen. Das Leitbild kannalso auch nicht der Marathonlauf für jeden Untrainiertensein; denn auch das stellt eine Art Überreizung undÜberforderung dar. Die Art, wie wir essen, wie wir trin-ken, wie wir uns bewegen oder vielmehr nicht bewegen,hat vielleicht mehr Einfluss auf unsere Gesundheitsauf-wendungen als alle Forderungen der Gesundheitsberufezusammen.Natürlich gibt es auch riesige Einflüsse des sozialenEingebettetseins,
der Selbstwertvorstellung und der Gedanken zur Sinn-haftigkeit des Lebens auf die Gesundheit.Eine kleine Nebenbemerkung. Welche Entwicklungwir im Hinblick auf dieses Eingebettetseins erleben, wienämlich Krankenkassen mit den Mutter-/Vater-Kind-Ku-ren umgehen, wie sie die in den letzten zwei Jahren zu-sammengestrichen haben, ist unglaublich.
Man muss sich auch manchmal fragen, ob das, was imZusammenhang mit der City BKK passiert ist – ichmeine den Umgang mit den Versicherten, die man nichthaben will –, in anderen Entscheidungsfeldern der Kas-sen ähnlich wirksam ist. Ich stelle das nur als Frage inden Raum.Ich sage voraus: Der vermeintliche Kostenfaktor Ge-sundheit wird künftig der entscheidende Produktionsfak-tor für die Wirtschaft in der Informationsgesellschaftsein, weil eine umfassende, also auch sozial und seelischspürbare Gesundheit eine Hilfe für jedermann im pro-duktiven Umgang mit Wissen ist. Deswegen glaube ich,dass wir Gesundheit nicht nur als individuelle Verant-wortung verstehen dürfen.
Deswegen finde ich es auch richtig, wenn wir darüberreden, wie wir die Möglichkeiten betrieblicher Gesund-heitsförderung ausbauen können.
Ich stelle auch fest, dass es Betriebe, Unternehmen,onzerne und auch Mittelständler gibt, die genau diesenunkt erkannt haben und deswegen in ihrer konkretenesundheitsförderung über die gesetzlichen Pflichten hi-ausgehen. Sie haben das als einen Faktor für ihren be-ieblichen Erfolg erkannt.
Der größte Bonus, den Gesundheitsförderung liefert,esteht nicht darin, dass die Kasse jemandem, der an ei-em Kurs teilnimmt, 10 Euro Praxisgebühr erlässt. Derrößte Bonus besteht darin, dass wir uns durch mehr Ge-undheit die Chance auf Teilhabe am Leben besser erhal-n können. Das ist der Grund dafür, dass der Einzelnenseits aller institutionellen Anreize für sich einen Rie-engewinn macht – in der Lebenserwartung und in derebensgestaltung.
Wenn wir das zum Anlass nehmen, die Debatte überie nationale Präventionsstrategie, die die Koalition an-ekündigt hat,
it genügend Ernst und mit genügend Sachverstand zuhren,
tatt alte Ideen, die schon in 13 Jahren rot-grün geführtenMGs nicht umgesetzt worden sind, in einem zweitenufguss zu präsentieren,
enn wir das schaffen,
enn wir dabei die Polarisierung überwinden, dann wür-en wir der Gesundheitsprävention, unserer Volkswirt-chaft und den Menschen in Deutschland einen großenienst erweisen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Ferner für die SPD-Frak-
on.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!achdem man die Wortbeiträge vonseiten der Koalitionehört hat, weiß man nicht so wirklich, ob Sie sich über-aupt einig sind, ob Sie sich auch nur in der Unionsfrak-
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Elke Ferner
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tion einig sind. Herr Henke sagte eben: Wir machen einenationale Präventionsstrategie. Herr Singhammer willeine nationale Präventionskonferenz.
Herr Lotter und auch Herr Singhammer setzen auf mehrEigenverantwortung. Das ist Chaos pur. Sie haben keinegemeinsame Linie,
außer der, dass Sie ideologisch verbrämt gegen ein Prä-ventionsgesetz sind. Darin sind Sie sich einig.
Damit entscheiden Sie sich dagegen, die demografi-schen Herausforderungen, die in unserem Gesundheitswe-sen unbestreitbar vorhanden sind, schon heute anzugehen.Sie entscheiden sich dagegen, die Volksgesundheit zuverbessern. Sie entscheiden sich gegen eine bessere Le-bensqualität für den oder die Einzelne. Sie entscheidensich auch dagegen, Krankheiten und Pflegebedürftigkeitzu vermeiden oder zumindest zu verzögern. Das ist dieBlockade, die Sie bis jetzt gemacht haben.Sie haben bisher noch nichts vorgelegt. Sie regierenschon fast zwei Jahre. Vor allen Dingen entscheiden Siesich auch dagegen, Kostensteigerungen, die wegen desdemografischen Wandels zu erwarten sind, zu bremsen.Das ist Ihre Entscheidung.Ich sage Ihnen: Ohne eine nachhaltige und flächende-ckende Gesundheitsprävention können die Gesund-heitschancen der bildungsferneren Schichten nicht ver-bessert werden.
Es ist für meine Begriffe zynisch, dort von Eigenverant-wortung zu reden, wo weder die Mutter noch der Vaterwissen, wie man ein gesundes Essen zubereitet, die Kin-der keinen Sport treiben, wenig Bewegung haben undzudem noch ungesund ernährt werden.
Auf Eigenverantwortung zu setzen, funktioniert dochüberhaupt nicht.
– Natürlich haben die Eltern eine Verantwortung. Wenndie Eltern diese Verantwortung aber nicht wahrnehmen,sagen wir dann einfach: „Dann haben die Kinder ebenPech gehabt; darum kümmern wir uns nicht“?
Wer hat denn bei unseren Diskussionen über die Rege-lungen im Rahmen der SGB-II-Reform verhindert, dassSrewWbkMwEHhKtusDhimssmwwrüvna–EgbndmbmggM
er hat das denn verhindert? Das waren Sie, nicht wir.
Ich sage Ihnen: Solange Sie sich weigern, bei den Le-enswelten der Menschen anzusetzen, so lange wird eseine vernünftige Präventionsstrategie geben. Sämtlicheaßnahmen bringen nichts, wenn ich nicht da hingehe,o die Kinder sind, oder wenn ich darauf warte, dass dieltern zum Arzt gehen, wobei die Ärzte ein zusätzlichesonorar für eine Präventionsberatung bekommen. Sieaben eben wieder deutlich gemacht, dass Sie reinelientelpolitik für Ärztinnen und Ärzte betreiben. Sien aber nichts für diejenigen, die eine vernünftige Ge-undheitsprävention brauchen.
as sieht man auch bei einem Blick auf den Bundes-aushalt. Mit Ihren Stimmen sind die Präventionsmittel letzten Bundeshaushalt gekürzt worden. Ich bin ge-pannt, wie das Ganze für den Bundeshaushalt 2012 aus-ehen wird.Ich kann mich doch nicht hier herstellen und bejam-ern, dass es Menschen gibt, die sich nicht so verhalten,ie sie sich eigentlich verhalten müssten,
enn ich gleichzeitig die Mittel für Information usw. zu-ckschneide. Das, was Sie machen, ist, gelinde gesagt,errückt. Ich sage Ihnen auch: Es gibt Menschen, bei de-en Information alleine nicht ausreicht. Sie brauchenuch eine Begleitung.
Nein, nicht zwangsweise.
s reicht aber doch nicht aus, eine Informationskampa-ne zu starten, von der die meisten überhaupt nichts mit-ekommen, und dann zu sagen: Wer informiert ist undichts tut – selber schuld. So kann Politik doch nicht mitiesem Problem umgehen.Wir müssen in die Kitas und in die Schulen. Zur Notüssen wir auch mit dem Jugendamt – das wurde heuteereits in der Debatte zum Kinderschutzgesetz gesagt –,it Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, über die Ju-endhilfe in die Familien, damit Kinder entsprechendefördert werden können. Damit fängt es an.
Aber auch bei den Erwachsenen kann man etwas tun.an kann natürlich feststellen: Die betriebliche Präven-
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Elke Ferner
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tion ist in Teilen sehr gut. Dabei handelt es sich aber imWesentlichen um die großen Betriebe. Viele Menschenarbeiten jedoch in kleinen Betrieben, in denen die be-triebliche Gesundheitsprävention nicht oder nur sehr un-zureichend erfolgt. Es soll sogar Menschen geben, diegar nicht in einem Betrieb arbeiten. Was ist mit Selbst-ständigen? Was ist mit Rentnerinnen und Rentnern? Wasist mit Arbeitslosen? Diese Gruppen erreiche ich nichtüber die betriebliche Prävention. Insofern ist das, wasSie hier gesagt haben, viel zu kurz gesprungen.
Ich sage Ihnen auch: Die Einführung der Kopfpau-schale ab dem 1. Januar dieses Jahres wird im Ergebnisdazu beitragen, dass die Krankenkassen ihre Ausgabenfür Prävention zurückfahren werden.
Insbesondere für die Kassen, deren Finanzrahmen sehreng ist, wird es schwieriger, Prävention zu finanzieren –es sei denn, man erhebt eine Kopfpauschale. Das wollenSie ja unbedingt. Das ist kontraproduktiv in Bezug aufdas, was Krankenkassen selber für Prävention tun.Ich fände es nicht schlecht, wenn sich all diejenigen,die mit Prävention zu tun haben, besser koordinierenwürden. Es gibt beispielsweise Probleme bei den Rehas,wo die Betroffenen von einem Kostenträger zum ande-ren geschoben werden. Wenn vor Ort ein Präventions-projekt auf den Weg gebracht wird, sollen sich die Initia-toren dann bei 150 oder 120 Krankenkassen oder denvielen privaten Krankenkassen um die Finanzierung be-mühen? Das ist völlig daneben und überhaupt nicht hilf-reich.Herr Lotter hat vorhin gesagt: Viele Wege führennach Rom. Das ist wohl richtig. Nur scheinen Sie denWeg nach Rom so zu nehmen, dass Sie zuerst zum Nord-pol, von da zum Südpol und dann nach Rom fahren.
Für eine bessere Präventionspolitik taugt das über-haupt nicht. Insofern kann ich Sie nur ermuntern:Schauen Sie sich unsere Anträge und die der anderenOppositionsparteien an. Kommen Sie endlich zur Ver-nunft. Machen Sie bei dem Thema Prävention etwasmehr, als Sie bisher getan haben.Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Vogelsang für die Unions-
fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, wir können formulieren, dass uns alle, diewir hier im Hause vertreten sind, die Erkenntnis eint,deQasRdbwnjetiVsJIcgIcsJWz–reteMRsssZSsuss
Keiner hier im Haus hat sich in den vergangenen zehnahren beim Thema Prävention mit Ruhm bekleckert.
h erinnere daran, in welchem Zustand Sie das Bundes-esundheitsministerium übergeben haben.
h erinnere daran, was die neue Führung des Bundesge-undheitsministeriums schon in den ersten anderthalbahren leisten musste:
ir haben heiße Diskussionen zur Sicherung der Finan-ierung der gesetzlichen Krankenversicherung geführt.
Ja, ja. – Wir haben ein sehr kompliziertes und erfolg-ich wirkendes Gesetz zur Neuordnung des Arzneimit-lmarktes durchgesetzt.Jetzt steht im Mittelpunkt der Überlegungen iministerium, wie man Versorgungsstrukturen in unsererepublik, die in der Fläche erhebliche Defizite aufwei-en, reformieren kann; Frau Kollegin Vogler, selbstver-tändlich haben wir erkannt, dass wir uns auch damit be-chäftigen müssen, wie wir die Probleme, die in diesemusammenhang aufgrund bestimmter sozialräumlichertrukturen bestehen, verbessern können. Das wird un-ere Diskussionen im Herbst beherrschen. Wir werdenns dann selbstverständlich mit einer neuen Präventions-trategie für die gesundheitliche Versorgung der Men-chen beschäftigen.
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13724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Stefanie Vogelsang
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Das ist Bestandteil des Koalitionsvertrages; Sie habenschon bei verschiedenen Punkten hier im Hause davongehört.Wenn ich mir anschaue, was in der Verantwortung derLinken geschehen ist, dann kommt mir als Abgeordneteaus Berlin in den Sinn, dass hier eine linke Gesundheits-senatorin zehn Jahre lang den eigentlich nachhaltig wir-kenden Gesundheitsschutz im kommunalen Bereich, inden Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten und denGesundheitsämtern, komplett kaputtgespart hat, ohneRücksicht auf Verluste.
Kollegin Vogelsang, gestatten Sie eine Frage der Kol-
legin Rawert?
Entschuldigung. – Es gibt bei der Gesundheitspolitik
hier im Land Berlin ein einziges Hin und Her – das ist
Aktionismus –: hier mal ein Programm und da mal ein
Programm. – Jetzt lasse ich gerne eine Zwischenfrage
zu.
Wir haben zwei Meldungen. Erst fragt die Kollegin
Rawert, dann die Kollegin Bunge. – Bitte sehr.
Frau Vogelsang, Sie waren Stadträtin in Neukölln und
haben gerade Aussagen dazu gemacht, dass der öffentli-
che Gesundheitsdienst kaputtgespart worden ist. Welche
Anstrengungen sind in Neukölln – einem Bezirk, der
sich, was die soziale Ungleichheit angeht, unter anderem
dadurch auszeichnet, dass es schlechtere gesundheitliche
Startbedingungen und schlechtere Ausgleichsmöglich-
keiten für Kinder, Männer und Frauen gibt – unternom-
men worden, als Sie dort Stadträtin für Gesundheit wa-
ren? Sie haben dort vor wenigen Jahren höchstpersönlich
Verantwortung getragen.
Habe ich das Wort zur Beantwortung?
Ja, natürlich.
Vielen Dank. – Frau Rawert, ich habe eigentlich keine
Lust, mich bei jeder Diskussion auf solch einem Niveau
mit Ihnen auseinanderzusetzen. Sie wissen ganz genau,
wer hier in Berlin die Personalpolitik vorgibt: der Regie-
rende Bürgermeister Wowereit, der die Verantwortung
dafür trägt, dass keine Prävention im Bereich der Fami-
lien stattfindet, die das bitter, bitter nötig hätten.
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Mir ging es nicht darum, Berlin schlechtzumachen. –h wollte darauf hinweisen, dass ich der felsenfestenberzeugung bin, dass eine bessere Gesundheitsvor-orge für die Bevölkerung nicht durch ein Projekt hiernd ein Projekt da gewährleistet werden kann, sonderns einer nachhaltigen Strategie bedarf.
Wir haben eine Zuständigkeit beim Bund,
ir haben eine Zuständigkeit bei den Ländern, wir habenine Zuständigkeit bei den Gemeinden, und wir habenine Zuständigkeit der Krankenkassen. Wir haben auchine Zuständigkeit für das Programm „Soziale Stadt“,as Sie, Frau Kollegin Rawert, angesprochen haben,enn ich Ihre Zwischenfrage richtig verstanden habe.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13725
Stefanie Vogelsang
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Am Ende haben wir eigentlich niemanden, der dafür ver-antwortlich ist, wenn etwas nicht funktioniert.
Mir persönlich ist sehr wichtig, dass wir bei demThema Prävention und Präventionsstrategie mit demewigen Hickhack und dem Kampf aufhören. Das solltenmeine Anmerkungen am Anfang meiner Rede verdeutli-chen. Niemand sollte auf den anderen zeigen. Uns alleeint der Wille, eine Lösung zu finden und eine besseregesundheitliche Fürsorge hinzubekommen.Wir alle wissen, dass an den vielen guten Projektennur die Leute teilnehmen, die dort eigentlich gar nichthingehören, weil sie das, was dort unterrichtet wird,schon wissen. Wir wissen, dass wir im Bereich der Mi-granten ein riesiges Problem haben. Da geht es nicht nurdarum, einen Flyer zu übersetzen oder Kiezmütter in dieHäuser zu schicken, sondern wir brauchen neue, innova-tive Ansätze.Ich bin der felsenfesten Überzeugung – das habe ichschon vor einem Jahr gesagt –, dass wir uns in diesemHaus dazu durchringen müssen, nationale Gesundheits-ziele festzulegen.
Sechs, sieben oder acht Gesundheitsziele gibt es schonlange; ich weiß. Fragen Sie aber einmal in den Kommu-nen, ob jemand diese Gesundheitsziele kennt.
Das ist nicht angekommen. Auch das hat nicht richtigfunktioniert. Im Bereich der Präventionsarbeit gibt esganz viele gute Absichten und viel Aktionismus.Wir müssen das Thema gemeinsam anpacken. Wirmüssen in den Bereichen Krankenkassen, Verantwort-lichkeiten und Gesundheitsvorsorge in Betrieben Struk-turen verändern.
Es kommt aber nicht darauf an, ob man das einen Monatfrüher oder später macht. Wir dürfen nicht in Aktionis-mus verfallen und auch keine Parteipolitik betreiben.Am Ende kommt es darauf an, was dabei herauskommt.Ich gehe felsenfest davon aus, dass wir das Thema in dernächsten Zeit gemeinsam beraten und eine gute Lösunghinbekommen werden. Ich unterbreite Ihnen jedenfallsein entsprechendes Angebot.In der gestrigen Anhörung zur Organspende hat einervon den Grünen gesagt – Frau Bender, ich weiß nichtmehr, wer das war –, es müsse zum Lifestyle gehören,Organspender zu sein. Erinnern Sie sich?
Dann hat es ein anderer formuliert.Ich finde, dass wir unserer Gesundheitsförderung aufen unterschiedlichen Ebenen einen klaren Rahmen ge-en müssen, sodass alle Menschen in dieser Republik es fünf oder zehn Jahren toll finden, gesund zu leben,nd dass das nicht nur bei den Akademikern der Fall ist.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Bas für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am4. Juni 2011 hat Bundesgesundheitsminister Danielahr das Projekt „Starke Eltern – Starke Kinder“ vorge-tellt. Dabei geht es um die Verbesserung der psychi-chen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen; soeit, so gut. Auch ich fand das sehr gut. Das Projekt desundesgesundheitsministeriums, so heißt es, sei Teil ei-er ebenfalls vorgestellten Strategie der Bundesregie-ng zur Förderung der Kindergesundheit. Da habe ichedacht: Vielleicht handelt es sich dabei um die viel zi-erte neue Präventionsstrategie der Bundesregierung.ls ich mir das Papier dann angesehen habe, stellte ichllerdings fest, dass es gar nicht aus der Feder von Herrnahr oder Herrn Rösler stammt. Dieses Strategiepapiert im Jahr 2008 von der damaligen SPD-Gesundheitsmi-isterin Ulla Schmidt entwickelt und vorgestellt worden.o viel zum Thema neue Strategie.
err Bahr hat es immerhin geschafft, das Bild seinerorvorgängerin und das Vorwort auszutauschen und esls sein Papier zu verkaufen.
Genau. – Wir freuen uns, dass die Regierungsarbeiton Ulla Schmidt in dieser Form anerkannt wird.
ber man muss deutlich sagen: Wer keine eigenen Ideenat, der plagiiert.
Ich habe übrigens noch eine weitere Plagiatsidee fürie.
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Bärbel Bas
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In derselben Schublade, in der Sie das Strategiepapiergefunden haben, finden Sie wahrscheinlich auch nochden Entwurf des Präventionsgesetzes. Holen Sie dieseneinfach einmal hervor, kleben Sie das Bild des Ministersdarauf und schreiben Sie meinetwegen auch seinen Na-men darauf, dann werden wir bei der Beschlussfassungauf jeden Fall an Ihrer Seite sein.
Ich möchte noch zwei Aspekte unseres Antrags an-sprechen, die uns besonders wichtig sind: die Kinderge-sundheit und die betriebliche Gesundheitsförderung. Na-türlich haben wir uns die Frage gestellt: Wo können wirbei Kindern und Jugendlichen mit der Prävention anset-zen? Wir haben in der Tat das Problem, dass eine hoheAnzahl von Präventionsprogrammen zum Teil schlichtineffektiv ist. Die Projektitis führt zu Ermüdungserschei-nungen bei den Zielgruppen. Die Konkurrenz zwischenden verschiedenen Projekten ist meist nicht förderlichfür das gesundheitsbewusste Verhalten.Gleichzeitig stellen wir fest, dass viele Programmevorwiegend auf die Mittelschicht ausgerichtet sind unddie Umsetzung in anderen Lebenswelten fehlt. Kinderund Jugendliche aus sozial schwächeren Schichten profi-tieren kaum von solchen Programmen. Dabei sind dieseKinder und Jugendlichen eine besondere Zielgruppe;dies sollte sie für uns alle sein. Die ungerechte Vertei-lung der Gesundheitschancen zulasten dieser Kinder aussozial schwachen Familien, aus bildungsfernen Eltern-häusern oder auch aus Migrantenfamilien sollte endlichein Ende haben. Deshalb sollten wir die durchaus knap-pen Mittel für klare Ziele und mit eindeutigen Vorgabenund Strategien effizient einsetzen.
Wir müssen die Menschen bei der Prävention und Ge-sundheitsförderung dort abholen, wo sie leben und arbei-ten. Das gilt auch für die betriebliche Gesundheitsförde-rung. Das heißt nichts anderes, als dass die Programmedirekt am Arbeitsplatz ansetzen müssen. Das ist das Zielder betrieblichen Gesundheitsförderung. Auch hier gibtes viele Vorschläge und Modelle. Aber die faktische De-ckelung der Ausgaben durch den Ausgabenrichtwertverhindert, dass wir hier die Potenziale gemeinsam he-ben.Wie kann es sein, dass die Bundesregierung nach wievor tatenlos zuschaut, dass die Mittel der Kassen für Prä-vention und Gesundheitsförderung sinken? Die Vor-schläge des Kollegen Singhammer – Stichwort: dersiebte Sinn – muss ich noch einmal erwähnen. Wenn wirdas machen würden, würde uns das wirklich zurückwer-fen. Das ist ein Rückfall hinter 20 Jahre Public Healthund Präventionspolitik. Da machen Sie besser nichts undschreiben weiter bei der SPD ab.
Wir können Ihnen nur noch einmal mit auf den Weggeben: Prävention muss als gesamtgesellschaftliche, res-sortübergreifende Aufgabe des Bundes, der Länder undder Kommunen als vierte eigenständige Säule des Ge-sundheitswesens endlich etabliert und auch legitimiertwhdinsFAhmgBAgmwdzd
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
en Drucksachen 17/5384, 17/5529 und 17/6304 an die
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
chlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
all. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
serung der Eingliederungschancen am Ar-
beitsmarkt
– Drucksache 17/6277 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitsmarktpolitik – In Beschäftigung und
Perspektiven investieren statt Chancen kürzen
– Drucksache 17/6319 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
öre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
entarische Staatssekretär Brauksiepe für die Bundesre-
ierung.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!n Erfolgsmeldungen vom Arbeitsmarkt haben wir unsewöhnt. Sie bringen keine allzu großen Schlagzeilenehr. Erst gestern konnte die Bundesagentur für Arbeitieder aktuelle Erfolge verkünden.Aber auch wenn es nicht die Schlagzeilen beherrscht,arf man doch erwähnen: Wir können sowohl bei der so-ialversicherungspflichtigen Beschäftigung als auch beier Erwerbstätigkeit insgesamt Rekordstände verzeich-
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Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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nen. Die Arbeitslosigkeit – immer noch zu hoch gemes-sen an unseren eigenen Ansprüchen – ist so niedrig wieseit Jahrzehnten nicht mehr. Das sind Erfolgsmeldungen,an die wir uns in den letzten Jahren zum Glück gewöh-nen konnten.
Diese Erfolgsmeldungen sind das Ergebnis der Arbeitvieler. Das Ergebnis hat auch, aber nicht nur mit Politikzu tun. Es hat etwas mit gelebter Sozialpartnerschaft indiesem Land zu tun. Es hat etwas mit den Tarifvertrags-parteien zu tun, die beispielsweise Angebote der Politikzur Kurzarbeit angenommen haben. Es hat auch etwasdamit zu tun, dass wir in den Arbeitsagenturen und Job-centern engagierte und fleißige Mitarbeiterinnen undMitarbeiter haben, die sich darum bemüht haben, Men-schen wieder in Arbeit zu bringen. Es hat etwas mit un-serem arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium zu tun,das wir in den letzten Jahren kontinuierlich verbesserthaben. Nichts ist so gut, dass es nicht noch besser wer-den könnte. Aber wir haben das arbeitsmarktpolitischeInstrumentarium in den letzten Jahren durchaus verbes-sert, und darauf können wir auch ein bisschen stolz zu-rückblicken.
– Ich danke ausdrücklich für den Beifall der sozialdemo-kratischen Kolleginnen; denn wir stehen mit dem, waswir hier tun, durchaus in der Tradition der Arbeit, die wirin der Großen Koalition begonnen haben. – Das Instru-mentarium wird seit langem kontinuierlich evaluiert,und genau darum geht es: dass wir nicht nur um Berichteüber die Wirkung der Instrumente bitten und sie dannabheften, sondern dass wir daraus Konsequenzen ziehen.Das tun wir seit einigen Jahren.Wir haben in der Großen Koalition die Zahl der ar-beitsmarktpolitischen Instrumente deutlich reduziert,weil wir gemeinsam der Überzeugung waren, dass zuviele Instrumente und ein zu großes Dickicht an Rege-lungen letztlich den Arbeitslosen nicht helfen. In derchristlich-liberalen Koalition haben wir uns vorgenom-men, auf diesem Weg weiter voranzugehen. Wir wollendie Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente nocheinmal um etwa ein Viertel reduzieren. Das bedeutetaber keine Reduzierung der Hilfe;
im Gegenteil: Wir reduzieren die Zahl der Instrumente,um die Hilfe effektiver organisieren zu können. Das istdas, was uns bei diesem Gesetzentwurf leitet.
Es geht auch um die Frage von Pflicht- und Ermes-sensleistung. An dieser Stelle hatten wir in der GroßenKoalition unterschiedliche Auffassungen. Wir sind da-mals, wie ich denke, zu insgesamt guten Kompromissengekommen.WwmfümruinggbOpruAjewtrureOfüdfrBBmEdedV
as den Gründungszuschuss betrifft – wir stehen zu ihm –,erden in Zukunft mehr Ermessensleistungen vor Ortöglich sein. Wenn wir mehr Ermessensleistungen ein-hren, heißt das auch, dass wir den Akteuren vor Ortehr Vertrauen entgegenbringen. Das ist genau das, wo-m es uns geht: Wir wollen den Menschen vor Ort, die den letzten Jahren erfolgreich Arbeitslose in Arbeitebracht haben, vertrauen.
Dieses Thema war auch in der Großen Koalition gele-entlich ein Diskussionspunkt. Viele Entscheidungen,ei denen es um die Schaffung von mehr Flexibilität vorrt ging, mussten wir unserem damaligen Koalitions-artner mühsam abringen; auch das gehört zu der Erfah-ng, die wir in der Großen Koalition gemacht haben.n dieser Stelle danke ich herzlich der FDP, unseremtzigen Koalitionspartner, mit der es sehr viel leichterar, darauf hinzuwirken, den Akteuren von Ort Ver-auen zu schenken
nd zu sagen: Lasst uns die Dinge dezentral organisie-n! Lasst uns die Menschen, die qualifiziert sind, vorrt zu entscheiden, auch die Entscheidung treffen, wasr den einzelnen Arbeitslosen richtig ist! Das ist der Ge-anke, der uns bei diesem Gesetzentwurf leitet.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischen-
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Wer möchte denn eine Zwischenfrage stellen?
Eine Kollegin aus der SPD-Fraktion.
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Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich gerade auf die ge-einsamen Erfolge der Großen Koalition bezogen; dieserfolge unterstreichen wir ausdrücklich. Sie lenken aberavon ab, dass Sie hier nicht in dieser Tradition lediglichine Instrumentenreform mit dem Ziel der Verbesserunger Chancen bei der Vermittlung in Arbeit durchführen.ielmehr verbinden Sie die Reform ausdrücklich – unter
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Bettina Hagedorn
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dieser Überschrift steht dieses Vorhaben zwar nicht beiIhnen, aber bei den Abgeordneten der Koalition imHaushaltsausschuss – mit einem finanziellen Kahl-schlag. Ich frage Sie: Wie groß sind eigentlich das Er-messen und die Autonomie vor Ort, wenn dort – stattdass ein Rechtsanspruch besteht – zwar ein Ermessenausgeübt werden soll, die Kasse aber de facto leer ist?Um dies zu verdeutlichen, will ich darauf hinweisen,dass durch die Maßnahmen Ihres Sparpaketes beiSGB II und SGB III bis 2014 in der Summe 16 Milliar-den Euro eingespart bzw., besser gesagt, gekürzt werden.
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Frau Kollegin, wir verquicken hier nichts miteinan-
der, sondern wir legen heute als Bundesregierung den
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Eingliede-
rungschancen am Arbeitsmarkt vor. Hier geht es um
konzeptionelle, instrumentelle Fragen. Es geht darum,
wie der Instrumentenkasten zusammengesetzt sein muss,
damit die Arbeitslosigkeit bekämpft werden kann.
Wir können sehr gerne und sehr engagiert im Detail da-
rüber diskutieren, ob es, wovon wir ausgehen, einen Ar-
beitsmarkt mit einem auszudifferenzierenden Instrumen-
tarium gibt oder ob es zwei Arbeitsmärkte gibt.
– Ich bin eigentlich noch bei der Beantwortung Ihrer
Frage. Haben Sie sich darauf verständigt – ich frage, weil
die Uhr weiterläuft und die Kollegin sich gesetzt hat –,
dass meine Beantwortung erledigt ist? Wenn ja, bitte ich
um Mitteilung.
Ich habe die Uhr bis zu dem Zeitpunkt angehalten, als
sich die Kollegin Hagedorn gesetzt und mir dadurch si-
gnalisiert hat, dass ihr die Beantwortung offensichtlich
ausreicht.
Das kann ich von hier aus nicht entscheiden. Sie beide
müssen sich einigen, ob die Frage beantwortet ist oder
nicht.
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Ich schlage vor, dass wir so verfahren: Sie fragen, was
Sie fragen möchten, und ich antworte so, wie ich antwor-
ten möchte. Das ist das übliche Verfahren.
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öglichst viele Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zutegrieren?
er zweite Arbeitsmarkt, der öffentlich geförderte Be-chäftigungssektor, darf niemals das Ziel unserer Ar-eitsmarktpolitik sein. Er kann für viele eine Durch-angsstation sein. Aber das Ziel muss sein, möglichstiele Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrie-n. Gerade in Zeiten des Aufschwungs müssen wir un-ere Schwerpunkte bei der Integration der Menschen inen Arbeitsmarkt setzen.
er erste Arbeitsmarkt bildet den Schwerpunkt unsererolitik. Die öffentlich geförderte Beschäftigung wird darganisiert und finanziert, wo sie gebraucht wird.Auch das gehört zur Wahrheit: Der arbeitsloseensch steht im Mittelpunkt unserer Anstrengungen. Eruss im Mittelpunkt stehen – nicht Strukturen und Or-anisationen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13729
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Weiterhin gehört auch das zur Wahrheit: Es kanndurchaus sein, dass wir bei weniger als 3 Millionen Ar-beitslosen manche Strukturen und manche Institutionennicht mehr haben werden, die wir bei über 5 MillionenArbeitslosen hatten. Vielleicht braucht man in diesemLand für weniger als 3 Millionen Arbeitslose nicht soviele Sozialkaufhäuser wie für über 5 Millionen Arbeits-lose. Ich bitte, einfach einmal – mit großem Respekt vorall den Wohlfahrtsverbänden und den Trägern, die diesesegensreiche Arbeit leisten – unvoreingenommen da-rüber nachzudenken.
Ich habe viele dieser Einrichtungen besucht und weiß,wie segensreich da gearbeitet wird. Es muss uns aberklar sein, dass wir für weniger als 3 Millionen Arbeits-lose nicht die gleichen Strukturen brauchen wie für über5 Millionen Arbeitslose. Natürlich brauchen wir auchnicht dieselbe Summe Geldes.Ich will auf eines hinweisen: Jedem musste klar sein,dass wir die Summen, die wir im Hauptkrisenjahr 2009und auch im Jahr 2010 zusätzlich zur Bekämpfung derArbeitslosigkeit aufgebracht haben, auf Dauer nicht auf-bringen können und dass dieses Niveau nicht aufrechtzu-erhalten sein würde. Das war auch uns in der GroßenKoalition klar, als wir die entsprechenden Maßnahmenergriffen haben.
Das musste jedem klar sein. Daher sind alle Vergleichemit den Ausgaben der Jahre 2009 und 2010 nicht fair;denn das waren die Hauptkrisenjahre, in denen wir be-sondere Anstrengungen unternehmen mussten.Deswegen sage ich zu der Zwischenfrage, die geradegestellt wurde: Wir werden im Jahr 2013 8 MilliardenEuro für Eingliederungsmaßnahmen im SGB-II-Bereichbzw. für Langzeitarbeitslose bereitstellen. 8 MilliardenEuro – das ist nicht gar nichts, sondern eine großeSumme. Das ist ziemlich genau die Summe, die 2006 fürsehr viel mehr Arbeitslose zur Verfügung stand.
Für weniger Arbeitslose wird also das gleiche Geld zurVerfügung stehen. Das heißt, dass wir pro Kopf mehrLeistungen zur Verfügung stellen.Der entscheidende Punkt ist, Menschen in Arbeit zubringen. So kann man auch Arbeitslosenunterstützungsparen. Wir kürzen nicht, wir streichen nicht zusammen,sondern wir wollen Menschen in Arbeit bringen. Das istnicht Theorie, sondern gelebte Praxis der letzten Jahre.Wir haben das in den letzten Jahren erfolgreich ge-schafft. Diesen Weg werden wir entschlossen weiterge-hen.
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r hat gemutmaßt, dass wir dem mit großem Misstrauenegenüberstehen. Ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht derall, im Gegenteil. Es hört sich im Grunde genommenut an, wenn man über Entscheidungsspielräume vor Ortpricht. Vor Ort kennt man die Menschen.Man könnte sich an dieser Stelle fragen, ob erst das Eia war und dann die Henne oder ob erst die Henne daar und dann das Ei. Für uns ist ganz klar: Es gab zuerstas Sparpaket und dann die Reform. Zunächst gab esen Beschluss darüber, der Bundesagentur für Arbeiteld im Gegenwert von einem halben Mehrwertsteuer-unkt zu streichen. Wenn man sich das anschaut, siehtan, dass es sich um ungeheure Beträge handelt.
llein aus dem Sparpaket resultieren Einsparungen von9 Milliarden Euro bis zum Jahr 2015. Die Streichung inöhe eines halben Mehrwertsteuerpunktes bedeutetoch einmal 4 Milliarden Euro jährlich weniger. Wennan sich das anschaut, dann stellt man fest, dass der Er-essensspielraum auf null schrumpft. Man kann von ei-em postsowjetischen „Njet“ sprechen. Das ist die eineeschichte.Das Ausnutzen von Ermessensspielräumen setzt aberuch voraus, dass es Menschen vor Ort gibt, die sich da-m kümmern können. Man hätte also logischerweise imuge dieser Reform bei den Betreuungsschlüsseln anset-en müssen.
an hätte die Betreuungsschlüssel in der Arbeitsverwal-ng – das Verhältnis beträgt 1 : 150 – heruntersetzenüssen. Das wäre deshalb eine kluge Entscheidung ge-esen, weil die Evaluierung ergeben hat: Je mehr Men-chen in den Agenturen als Fallmanager arbeiten, destochneller schafft man es, Menschen wieder in Arbeit zuringen.
Herr Brauksiepe, Sie haben uns immer wieder vorge-alten und auch jetzt noch einmal dargelegt, dass Sie aufer Basis wissenschaftlicher Evaluierung arbeiten. Wis-enschaftliche Evaluierungen sind gut. Im Übrigen sindir diejenigen, die dieses System aufgebaut haben. Al-rdings wird mittlerweile manchmal überevaluiert. Denstrumenten wird somit überhaupt keine Chance gege-en, sich zu entwickeln. Sie haben diese Evaluierungen
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13730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Anette Kramme
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aber nicht beachtet, sondern haben das genaue Gegenteilvon dem gemacht, was die Evaluierungen nahegelegt ha-ben: Sie haben den Gründungszuschuss eingeschränkt.Der Gründungszuschuss ist ein hocheffektives Instru-ment. Es ist daher nicht ansatzweise nachvollziehbar,weshalb es an dieser Stelle nun mehr Restriktionen ge-ben soll.
Andererseits soll der Vermittlungsgutschein, der denprivaten Arbeitsvermittlern zugutekommt, erhalten blei-ben. Viel Logik steckt nicht hinter diesem System.Herr Brauksiepe, Sie sagen, diese Arbeitsmarktinstru-mentenreform sei zukunftsorientiert. Ich denke, es gibtin der Arbeitsmarktpolitik vor allen Dingen zwei Pro-bleme, die wir perspektivisch lösen müssen. Das eineProblem, das uns als Sozialdemokratinnen und Sozialde-mokraten große Sorgen bereitet, ist die Langzeitarbeits-losigkeit. Uns liegt eine Analyse des IAB vor, die dieSituation der Arbeitslosen nach fünf Jahren Arbeitslosig-keit evaluiert. Darin wird mitgeteilt, dass 45 Prozent al-ler erwerbsfähigen Menschen, die Leistungen aus demSGB II beziehen, Dauerbezieher sind und nicht aus derArbeitslosigkeit herauskommen. Wir wissen, dass dieseMenschen in vielen Fällen schlecht qualifiziert sind.Was aber machen Sie? Das einzige Instrumentarium,nämlich das der öffentlichen Beschäftigung, streichenSie noch einmal zusammen. Das betrifft zum Beispieldie Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante. Den Be-schäftigungszuschuss haben Sie objektiv betrachtetschon letztes Jahr erledigt. Rechtlich haben Sie jetztnachgelegt. Wir brauchten an sich viel mehr Ehrlichkeitin diesem Bereich. Wenn wir ehrlich miteinander umgin-gen, dann wüssten wir, dass es in dieser Republik Men-schen gibt, die nur sehr schwer in den Arbeitsmarkt zuintegrieren sind. Deshalb brauchen wir diese Arbeitsge-legenheit, diesen Beschäftigungszuschuss als erstenSchritt in den Arbeitsmarkt.
Eine unmittelbare Integration bekommen wir nämlichfast nicht hin.Wir brauchen weiterhin Integrationsfirmen. Was abermachen Sie? Sie setzen die Hürden hoch und legen zuhohe Kriterien an. Eigentlich müssten wir aber den ent-gegengesetzten Weg gehen. Wir müssten es so machen,dass die Arbeitsgelegenheiten in einem ersten Schritt ar-beitsmarktfern sind; damit kann man leben. Je mehr dieMenschen in den Arbeitsmarkt integriert werden und jebesser sie werden, desto arbeitsmarktnäher müsste dasGanze sein. Missbrauch kann man dadurch verhindern,dass man vor Ort Beiräte integriert und mit den Indus-trie- und Handelskammern, den Handwerkskammern,den Sozialverbänden und den Gewerkschaften zusam-menarbeitet. Das ist die Lösung. Das ist der Weg. IhreArbeitsmarktinstrumentarienreform ist Mist und nichtsanderes. Den Fachkräftemangel gehen Sie gar nicht erstan. Mit dieser Reform werden Sie nicht weit springen.Sie werden allenfalls den Grashüpfer machen.Vielen Dank.IcgEFßKsgUHmwwAwlubIntogVremnadEdSaddmIcs
Das Wort hat der Kollege Vogel für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!h glaube, dass heute ein guter Tag ist, weil wir einenuten Gesetzentwurf beraten.
s handelt sich deshalb um einen guten Gesetzentwurf,rau Kollegin Mast, weil es sich dabei um die erste grö-ere Reform im Bereich Arbeit und Soziales dieseroalition handelt, zu der wir nicht aufgrund der verfas-ungswidrigen Regelungen aus rot-grüner Zeit gezwun-en sind.
nsere bisherigen großen Reformen – Jobcenterreform,artz-IV-Regelsatzreform – haben wir gut gemacht. Wirussten sie aber durchführen, weil Sie uns verfassungs-idrige Gesetze hinterlassen haben. Diesen Gesetzent-urf können wir nun positiv angehen. Wir wollen dierbeitsvermittlung in unserem Land verbessern. Wirollen den Menschen vor Ort die Chance auf Entwick-ng und Perspektiven geben. Dafür braucht man einenesseren Werkzeugkasten der arbeitsmarktpolitischenstrumente.
Warum ist das so? Wir wollen eine umfangreiche Au-nomie der Jobcenter vor Ort und ihnen mehr Freiheiteben. Wir wollen gut und immer besser ausgebildeteermittler in den Jobcentern und in den Arbeitsagentu-n. Wenn diese gut funktionieren sollen, dann brauchtan neben dem guten Handwerker vor Ort aber auch ei-en aufgeräumten Werkzeugkasten. Das erreichen wirlleine dadurch, dass wir Übersichtlichkeit schaffen undie Zahl der Instrumente um ein Viertel reduzieren.
s machte keinen Sinn, sechs unterschiedliche Einglie-erungszuschüsse für dasselbe Ziel zu haben. Das habenie uns hinterlassen. Deshalb ist es gut, dass wir jetztufräumen.
Frau Kollegin Kramme hat eben behauptet, wir wür-en nichts gegen den Fachkräftemangel tun. Es ist gut,ass wir hier sehr wohl etwas verändern und dabei auchehr Flexibilität schaffen.
h gebe Ihnen ein Beispiel. Die Weiterbildung von be-chäftigten Arbeitnehmern kommt erstmalig unbefristet
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13731
Johannes Vogel
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ins Gesetz, weil das in Zeiten des Fachkräftemangelseine dauerhafte Aufgabe sein muss. Wir geben den Ver-mittlern mehr Flexibilität. Sie können beispielsweiseeine Kofinanzierung mit den Unternehmungen vor Ortvereinbaren und sind daher nicht mehr an so starre Rege-lungen gebunden wie bisher. Das meinen wir mit mehrFreiheit vor Ort und mehr Flexibilität. Dazu leistet dervorliegende Gesetzentwurf einen sehr guten Beitrag.Ich möchte auf ein zweites Thema eingehen.
– Nein, das muss ich nicht schönquatschen. Es ist ein gu-ter Entwurf. Er schafft eine Verbesserung bei der Ar-beitsvermittlung vor Ort. – Ich möchte auf einen Punkteingehen, der mir als Vertreter der FDP besonders wich-tig ist. Ich bin froh, dass wir ihn in den konstruktivenGesprächen mit unserem Koalitionspartner jetzt schonerreichen konnten.
Wir wollen die private Arbeitsvermittlung als Pflicht-angebot erhalten, weil wir so im Bereich der Arbeitsver-mittlung den Dreiklang erhalten wollen: Jeder muss sichselbst darum bemühen, in Arbeit zu kommen, die Bun-desagentur ist weiterhin zuständig, aber es gibt auch pri-vate Konkurrenz auf dem Markt. Diesen Dreiklang wol-len wir erhalten – das ist eine gute Nachricht –,
weil wir so einen kreativen Input in der Arbeitsvermitt-lung haben werden. Ich bin froh, dass diese Regelung imGesetzentwurf enthalten ist.
Frau Kollegin Kramme, Sie haben eben die öffentlichgeförderte Beschäftigung angesprochen. Ja, die brau-chen wir, und zwar für eine bestimmte Zielgruppe, dienicht von heute auf morgen auf den ersten Arbeitsmarktkommen kann. Wir sind froh, dass im Bereich des In-strumentes Jobperspektive keine Zusätzlichkeit in denGesetzentwurf aufgenommen wurde. Das halte ich fürrichtig, weil es darum geht, auf dem Arbeitsmarkt dabeizu sein und nicht irgendeine Beschäftigungstherapie zumachen.
Es geht darum, auf dem Arbeitsmarkt mit einer gleichbe-rechtigten Tätigkeit dabei zu sein, um in einem zweitenSchritt irgendwann der Unabhängigkeit auf dem erstenArbeitsmarkt näherzukommen. Es ist gut, dass das indiesem Gesetzentwurf enthalten ist. Insofern sind IhreKlagen, wir würden dort, wo die öffentlich geförderteBeschäftigung sinnvoll ist, die Beschäftigung kaputt ma-chen, unberechtigt. Wir wollen sie lediglich stärker ein-grenzen.gnshtiGGgw2bWngimtelodmRFtitiMbliuLsbtiHd
leichzeitig wird auch im Bereich Arbeit und Soziales
eld eingespart. Das ist richtig. Ich will es mit dem ver-
leichen, was Sie damals hinterlassen haben. Schauen
ir uns das zum Abschluss an.
Im Bereich SGB II Langzeitarbeitslosigkeit haben Sie
006 Mittel hinterlassen, die sich auf 1 500 Euro pro Ar-
eitslosen umrechnen lassen.
ir sind heute bei 2 000 Euro. Wir müssen uns von Ih-
en wirklich nicht unterstellen lassen, hier würde in ir-
endeiner Form gekürzt. Wir kürzen unterproportional
Vergleich dazu, was im Haushalt da ist, und auch un-
rproportional im Vergleich dazu, wie sich die Arbeits-
sigkeit entwickelt. Die Wahrheit ist: Pro Arbeitslosem,
er in Beschäftigung kommen soll, stellen wir noch
ehr Geld zur Verfügung, als es der Fall war, als Sie von
ot-Grün Verantwortung getragen haben.
rau Kollegin Kramme, dasselbe gilt auch für die Rela-
on von Vermittlern und Arbeitslosen.
Kollege Vogel, das mit dem Abschluss war ein wich-
ger Hinweis.
Mein letzter Punkt. In den Jobcentern stehen mehr
itarbeiter zur Verfügung. Als Sie 2005 aufgehört ha-
en, hatte die BA 90 000 Mitarbeiter, und das bei 5 Mil-
onen Arbeitslosen. Jetzt gibt es 115 000 Mitarbeiter,
nd das bei unter 3 Millionen Arbeitslosen. Bei aller
iebe: Ein Kürzungsgesetz ist das nicht. Bitte setzen Sie
ich mit uns in der Sache auseinander, und führen Sie
itte keine Scheingefechte.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Zimmermann für die Frak-
on Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen underren! Herr Vogel, ich muss Ihnen sagen: Sie könnenie besten Instrumente auf dem Papier haben, aber wenn
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13732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Sabine Zimmermann
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kein Geld da ist, ist kein Geld da. Dann können Sienichts finanzieren. Das ist doch wohl logisch. Sie legenein Kürzungsprogramm auf und betreiben damit in derArbeitsmarktpolitik Kahlschlag.
– Doch, ich habe Ihnen gut zugehört. Ich höre Ihnen im-mer gut zu.
Heute beraten wir einen Gesetzentwurf der Bundes-regierung mit dem wunderschönen Titel „Entwurf einesGesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancenam Arbeitsmarkt“. Da fällt mir eigentlich nur noch dasWahrheitsministerium aus dem Buch 1984 von GeorgeOrwell ein.
Auch in diesem wurden falsche Behauptungen in dieWelt gesetzt, um über die wahren Absichten hinwegzu-täuschen. Herr Vogel und Herr Brauksiepe, Sie könnendie schönsten Bilder malen: Das kommt bei der Bevöl-kerung nicht an.Frau von der Leyen zieht durch das Land und behaup-tet, die Regierung verbessere mit diesem Gesetzentwurfdie Chancen der Erwerbslosen. Tatsächlich organisierenSie einen arbeitsmarktpolitischen Kahlschlag, den es inder Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so nochnie gegeben hat.
Hier sagen wir als Linke: Das machen wir nicht mit.
Nun können Sie ja wieder sagen: Die Linke hat wie-der einmal etwas zu kritisieren. – Das, was wir sagen, sa-gen aber auch die Sozialverbände, die Erwerbslosenini-tiativen und auch die Gewerkschaften. Die Wahrheit ist:Diese Regierung hat bereits vor einem Jahr beschlossen,bis 2014 über 20 Milliarden Euro bei der Arbeitsmarkt-politik einzusparen. Der heute zu beratende Gesetzent-wurf ist nichts anderes als die Auftragsarbeit zur Umset-zung dieser Kürzung, und zwar auf Kosten derErwerbslosen.Frau von der Leyen sagt auch, der Staat solle seinGeld nutzen, um Menschen wieder in reguläre Jobs zubringen. Dabei hätten Sie uns auf Ihrer Seite. ErklärenSie mir dann aber bitte, warum Sie bei den Qualifizie-rungs- und Weiterbildungsmaßnahmen sparen wollen.Die Krönung ist eigentlich, dass Sie schon jetzt sparen.Ich will Ihnen das auch erklären: Im Juni dieses JahrestrrudatugknsandriGbsesloEDvM–lehbsnteMdmtehgebfo
Es gibt einen riesigen Bedarf bei der Weiterbildung,ber die Regierung spart hier und will dies auch in denächsten Jahren tun. In der letzten Woche veranstalteteie Bundesregierung mit einem ganz großen Brimbo-um einen Fachkräftegipfel. Heute beraten wir einenesetzentwurf, in dem drastische Einschnitte bei der Ar-eitsförderung vorgesehen sind. Das passt doch nicht zu-ammen.Gestern meldete die Süddeutsche Zeitung, der Gesetz-ntwurf der Bundesregierung sehe vor, die Mittel für dietaatlich geförderte Beschäftigung, die Sie vorhin so ge-bt haben, um 1 Milliarde Euro auf nur 185 Millionenuro zu kürzen.
abei soll diese Beschäftigungsförderung helfen, sinn-olle Projekte zu finanzieren und langzeiterwerbsloseenschen
hören Sie mir zu, vielleicht können Sie ein bisschenrnen, Herr Vogel – wieder an den ersten Arbeitsmarkteranzuführen. Das ist auch dringend notwendig; dennisher ging der Aufschwung an den Langzeiterwerbslo-en doch vorbei. Machen Sie sich doch nichts vor!
Die Beschäftigungsförderung für diese Gruppe sollun um 80 Prozent gekürzt werden. Herr Vogel, mit gu-r Arbeitsmarktpolitik im Interesse von erwerbslosenenschen – das muss ich Ihnen so deutlich sagen – hatas überhaupt nichts zu tun. Vielmehr drängt sich beiir der Eindruck auf, die Bundesregierung sei daran in-ressiert, eine größere Sockelarbeitslosigkeit beizube-alten, und zwar als abschreckendes Beispiel für diejeni-en, die in Lohn und Brot stehen, um sie daran zurinnern, dass ihnen Hartz IV droht, sollten sie zu selbst-ewusst höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungenrdern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13733
Sabine Zimmermann
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Deshalb sage ich: Dieser arbeitsmarktpolitische Kahl-schlag der Bundesregierung richtet sich auch gegen dieMillionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das isteine unmögliche Politik, für die Sie die Verantwortungtragen. Das machen wir nicht mit.
Ich könnte noch viele Kritikpunkte aufzählen, aberdie Redezeit geht zu Ende. Auf einen möchte ich abernoch kurz eingehen. Es geht um den sogenannten Ver-mittlungsgutschein für die privaten Arbeitsvermittler.Die Arbeitsmarktforschung hat festgestellt: Über denVermittlungsgutschein wird kaum besser vermittelt, unddie Betroffenen landen häufiger in prekärer, nicht exis-tenzsichernder Arbeit.Ich fasse zusammen: Diese Regierung spart erstensauf dem Rücken der Langzeiterwerbslosen, zweitenswill sie mehr Billigjobs fördern und drittens die Langzeit-erwerbslosen abschreiben. Das macht die Linke nichtmit.Danke schön für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Pothmer das Wort.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weißnicht, ob Sie sich noch so richtig daran erinnern können,aber lange galt Frau von der Leyen als Glücksfall für diePolitik.
Sie galt zumindest für mich – das gebe ich zu – alsGlücksfall für die Union. Aber inzwischen sind dieTexte, die man über Frau von der Leyen liest, ganz ande-rer Natur. Ich will Ihnen nur einmal zitieren, was im ak-tuellen Spiegel steht.
Dort heißt es:Das Scheitern in der Arbeitslosenpolitik hat …Ursula von der Leyen von der CDU zu verantwor-ten.
– Auch ich habe mich gefragt: Hat der Spiegel recht?Wenn ich mir aber anschaue, was Frau von der Leyen ar-beitsmarktpolitisch erreicht hat, dann muss ich sagen:DeIhsreßnDsIcdAkstuudnWsEAisisdKAmEngL
r Prestigeprojekt, das Bildungspaket, ist ein bürokrati-ches Monster und deswegen ein Flop.
Beim Thema Fachkräftemangel ist diese Bundes-gierung blank, weil sie total zerstritten ist. Die mit gro-em Tusch angekündigte Instrumentenreform bedeutetichts anderes, als die Langzeitarbeitslosen abzuhängen.
iese Ministerin musste niemand entzaubern. Sie hatich selbst entzaubert.
h sage Ihnen: Der Lack ist ab.Mal ehrlich: Bei dieser Instrumentenreform geht esoch nicht wirklich um die Instrumente, mit denen dierbeitslosen wieder in Beschäftigung gebracht werdenönnen. Es geht vor allen Dingen – das ist hier schon ge-agt worden – ums Geld. Herr Vogel, wenn Pflichtleis-ngen zu Ermessensleistungen umgewandelt werdennd gleichzeitig das Geld gekürzt wird,
ann reduziert sich das Ermessen darauf, die Anträgeur noch abzulehnen.
enn beim Gründungszuschuss, dem erfolgreichsten In-trument der aktiven Arbeitsmarktpolitik, 5 Milliardenuro eingespart werden, dann hat das mit vernünftigerrbeitsmarktpolitik nichts zu tun.Kommen wir einmal zum Thema Weiterbildung. Est hier schon hervorgehoben worden, wie wichtig dast. Schon in diesem Jahr ist der Anteil der Weiterbil-ung um ein Drittel zurückgegangen. Das wird mit denürzungen der Folgejahre noch viel schlimmer werden.ll das geschieht vor dem Hintergrund des Fachkräfte-angels.
In der aktiven Arbeitsmarktpolitik sollen 8 Milliardenuro eingespart werden. Das steht eben nicht im Verhält-is zum Rückgang der Arbeitslosigkeit. Vor allen Din-en steht es nicht im Verhältnis zum Rückgang derangzeitarbeitslosigkeit. Das wird für diese Gruppe fa-
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13734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Brigitte Pothmer
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tale Folgen haben. Herr Vogel, die Integration dieserGruppe wird nicht etwa billiger. Sie wird teurer werden,weil sie aufwendiger ist.Sie konzentrieren sich in Ihrer Arbeitsmarktpolitikausschließlich auf diejenigen, die schnell in den erstenArbeitsmarkt zu integrieren sind. Diejenigen, bei denennicht mit einem schnellen Erfolg zu rechnen ist, werdenvon Ihnen „aussortiert und abgeschrieben“. Das ist jetztnicht meine Formulierung, sondern die des Stellvertre-tenden Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz.Vielleicht kommt ja diese Botschaft bei Ihnen an.
Mit dieser Politik treiben Sie die Spaltung des Ar-beitsmarktes weiter voran. Herr Vogel, Herr Brauksiepe,dies sollte eigentlich die Stunde der Arbeitsmarktpolitiksein. Jetzt könnte Arbeitsmarktpolitik zeigen, was in ihrsteckt, was sie kann, denn jetzt sind die Jobs da, in diehineinqualifiziert und vermittelt werden kann. Ich for-dere Sie auf: Nutzen Sie den Schwung dieser Konjunk-tur, um auch die Langzeitarbeitslosen in Arbeit zu brin-gen!Sie laufen auf das zu, was Sie selber einmal als Hor-rorszenario bezeichnet haben, nämlich eine hohe Ar-beitslosigkeit bei gleichzeitigem Fachkräftemangel.Aber Sie versauen damit nicht nur die Chancen der Ar-beitslosen. Nein, das, was Sie machen, ist auch für dieVolkswirtschaft schlecht. Der Fachkräftemangel drohtwirklich zu dem größten Risiko des wirtschaftlichenAufschwungs zu werden.Für die Bundesregierung sind Integration und Teil-habe offensichtlich kein politisches Ziel mehr. Für unswird es aber das politische Ziel bleiben. Frau von derLeyen spekuliert offensichtlich auf die Weiterentwick-lung der Konjunktur. Sie sonnt sich in den sinkenden Ar-beitslosenzahlen, und sie rechnet damit, dass niemandmehr diejenigen, die hinten runterfallen, im Blick hat.Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, und daswerden Ihnen auch andere nicht durchgehen lassen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Pothmer, was Sie hier
immer wieder an ansatzlosem Entrüstungspotenzial ent-
fesseln, ist ganz großes Kino. Aber es geht zum Teil an
der Wirklichkeit vorbei.
Die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
ist nicht dafür gedacht, den Selbsterhaltungsstress der
Träger zu mildern,
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ondern die Menschen in Arbeit zu bringen. Nehmen Sie
as so hin!
Wir sind schon 2008 eine Reform der arbeitsmarkt-
olitischen Instrumente angegangen. Ich habe mich noch
inmal etwas genauer mit den damaligen Debatten und
uch mit Ihrer Rede, Frau Pothmer, befasst, in der Sie
chon damals beinahe das Ende der Zivilisation be-
chworen haben. Demgegenüber hat der damalige Ar-
eitsminister Scholz gesagt, wir müssten die Reform der
rbeitsmarktpolitischen Instrumente an der Möglichkeit
er Vollbeschäftigung messen lassen. Damit hat er recht.
Wir müssen auch anerkennen, dass die heutige Ar-
eitsmarktsituation mit dem boomenden Arbeitsmarkt,
der wir jetzt die Neubestimmung der arbeitsmarktpoli-
schen Instrumente vornehmen, sich von der Situation
008 unterscheidet und dass die gute Lage am Arbeits-
arkt vielleicht auch ein bisschen damit zu tun hat, dass
an 2008 die Instrumente gut geschärft hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Man kannoch einiges verbessern. Das wollen wir tun.
Zielrichtung der Reform der arbeitsmarktpolitischenstrumente ist die Integration in den Arbeitsmarkt. Dasuggeriert schon der Titel „Leistungssteigerung der ar-eitsmarktpolitischen Instrumente“. Man kann sich sehrohl darüber streiten, ob für das SGB II ein eigenes In-trumentarium notwendig ist. Aber ich denke, mit Blickuf den boomenden Arbeitsmarkt ist es die richtige Ent-cheidung, auf den Arbeitsmarkt hin zu integrieren.Wir dürfen dabei all diejenigen nicht vergessen, dierkennbar keine Chance haben, auf den Arbeitsmarkt zuommen. Deswegen bin ich Staatssekretär Brauksiepeehr dankbar, dass er sehr deutlich hervorgehoben hat,ass wir die öffentlich geförderte Beschäftigung weiter-hren wollen.
Wenn die Integration in den ersten Arbeitsmarkt dieielrichtung dieses Reformvorhabens ist, dann war esuch richtig, dass im Gegensatz zum Referentenentwurfer § 16 e SGB II, in dem der Beschäftigungszuschuss
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13735
Dr. Matthias Zimmer
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geregelt ist, in der Kabinettsvorlage geändert wurde. DieKriterien der Zusätzlichkeit, der Wettbewerbsneutralitätund des öffentlichen Interesses sind weggefallen. Mankann bei einem Beschäftigungszuschuss von bis zu75 Prozent von einem Arbeitgeber nicht verlangen, dasser die übrigen 25 Prozent arbeitsmarktfern aufbringt. Ichglaube, das ist nicht möglich, und es entspricht auchnicht der Philosophie dieses Gesetzes.Ich wünschte mir dann allerdings auch eine andereRegelung bei den AGH. Das haben Sie schon angespro-chen, Frau Kramme. Hier sind Zusätzlichkeit, öffentli-ches Interesse und Wettbewerbsneutralität benannt. DieWettbewerbsneutralität war bisher nur in den Ausfüh-rungsbestimmungen enthalten. Wenn die Brücke in denArbeitsmarkt tragen soll, dann müssen die Arbeitsgele-genheiten arbeitsmarktnah ausgestaltet werden. Ichwürde mir wünschen, dass man dort ebenfalls im Sinneder Philosophie des Gesetzes zu mehr Entscheidungs-freiheit vor Ort kommt.
Vieles wird beibehalten, beispielsweise der Rechtsan-spruch auf die Vorbereitung auf den Hauptschulab-schluss. Das war einer der zentralen Punkte der Reformvon 2008. Mich ärgert, offen gestanden, ein bisschen,dass wir die Länder zu wenig in die Pflicht nehmen. Alldiejenigen, die keinen Hauptschulabschluss haben, wer-den der Bundesagentur für Arbeit gewissermaßen vordie Füße gekehrt. Ich wünsche mir, dass wir einmal sehrernsthaft über die Einführung eines Aussteuerungsbei-trags der Länder für jeden, der den Hauptschulabschlussnicht geschafft hat, an die Bundesagentur für Arbeit dis-kutieren. Mit einem solchen Beitrag würden wir die Län-der nachhaltig in die Verantwortung für die Bildungser-folge junger Menschen nehmen.Vieles gerade im Bereich der Jugendarbeitslosigkeitkann durch zielgenaue Beratung gelöst werden. Dazubedarf es gut ausgebildeter Berater und Mitarbeiter. Des-wegen ist auch die Qualifizierung der Mitarbeiter in denAgenturen wichtig.
Nachdem die Strukturreform des SGB II auf den Weggebracht wurde – das wurde schon mehrfach angespro-chen –, besteht nach meiner Meinung eine gute Perspek-tive, dass Beratung und Vermittlung professioneller er-folgen.Der Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage, um die ar-beitsmarktpolitischen Instrumente zielgenauer, effekti-ver, transparenter und stärker dezentral organisiert zugestalten. Das wichtigste Ziel ist, Menschen in Beschäf-tigung zu bringen, nicht, eine Bestandsgarantie für Maß-nahmenträger abzugeben. An dem Ziel, Menschen inBeschäftigung zu bringen, wird man uns messen. Ich binzuversichtlich, dass wir diesem Maß gewachsen sind.Danke schön.
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h werde Ihnen das gleich belegen.Dieser Gesetzentwurf ist alles andere als der Entwurfines Chancengesetzes. Er ist letztendlich nichts anderesls ein Sumpf, in dem die Chancen der Menschen, dierbeit suchen, versinken. Damit werden keine neuenhancen eröffnet.
Herr Vogel, vielleicht hören Sie mir bis zum Ende zu.ann können Sie mir diese Frage noch einmal stellen.
Der kommt. Ich möchte meine Redezeit nicht dazuutzen, diesen Dialog fortzusetzen, vielmehr will ich aufie Inhalte eingehen.Der Gesetzentwurf ist ein Sumpf. Die Kolleginnennd Kollegen, die vor mir gesprochen haben, habeneutlich gemacht, dass man, wenn man Menschen, dierbeit suchen, Chancen eröffnen will, Geld und gutesersonal braucht. Sie, meine Damen und Herren von deroalition, haben aber beschlossen, bis 2015 19 Milliar-en Euro – 11,5 Milliarden Euro bei Menschen im Be-ug des Arbeitslosengeldes I und 7,5 Milliarden Euro beienschen im Bezug des Arbeitslosengeldes II – einzu-paren. Ich frage mich, woher die Chancen kommen sol-n, wenn kein Geld mehr da ist.
er Staatssekretär hat von Vertrauen und Handlungs-pielräumen vor Ort gesprochen. Sie schaffen aber nur ininem einzigen Punkt Vertrauen: Die Vermittlerinnennd Vermittler müssen Nein zur Förderung von Weiter-ildungen und Berufsausbildungen sagen. Sie müssenein zu öffentlich geförderter Beschäftigung sagen.hne Moos nix los! Das ist Ihr Sumpf.
In welcher gesellschaftlichen Situation diskutierenir über diesen Gesetzentwurf? Wir stehen vor riesigenufgaben. Erstens geht es um Deckung des Fachkräfte-edarfs. Die Kollegin Pothmer hat natürlich recht, wennie darauf hinweist, dass das die Kernaufgabe bei der Si-herung unserer wirtschaftlichen Zukunft ist.
Metadaten/Kopzeile:
13736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Katja Mast
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Zweitens wollen wir, dass heute langzeitarbeitsloseMenschen zu Fachkräften qualifiziert werden, damit sieden Sprung in den ersten Arbeitsmarkt und vor allenDingen in gute Arbeit dauerhaft schaffen.
Drittens. Wir wollen – ich komme gleich wieder zumeinem Kollegen Zimmer, der sich jetzt unterhält –,dass Menschen, die trotz unserer Vermittlungsanstren-gungen keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt ha-ben, durch öffentlich geförderte Beschäftigung am Ar-beitsmarkt teilhaben können. Die Förderungsdauer solltenicht maximal zwei Jahre dauern. Durch Ihren heute ein-gebrachten Gesetzentwurf werden die Jobperspektivender Langzeitarbeitslosen beschnitten; denn wegen derNeuregelung des Beschäftigungszuschusses nehmen Sieihnen die Möglichkeit, einen dauerhaften Arbeitsvertragzu haben.
Ihre Absicht, die Förderungsdauer auf zwei Jahre zu be-grenzen, ist nichts Würdevolles.An diesem Punkt waren die Kollegen von der Union,als sie noch mit uns in der Großen Koalition waren,schon einmal weiter. Ich sage ausdrücklich: Ich bedau-ere, dass Sie sich da, von wem auch immer, über denTisch haben ziehen lassen, dass Sie das wertvolle Instru-ment zum Umgang mit langzeitarbeitslosen Menschenaufgeben. Diese Menschen stehen ganz am Rande in un-serer Gesellschaft. Viele hatten seit sechs Jahren undmehr keine Arbeit mehr. Bei ihnen gibt es vielfache Ver-mittlungshemmnisse. Sie haben gesundheitliche Pro-bleme, darunter vielleicht psychische. Diesen Menschensagen Sie: Wir geben euch keinen ordentlichen Arbeits-vertrag. – Das ist der eigentliche Skandal bei der öffent-lich geförderten Beschäftigung.Sie wissen, dass es einen Flächenbrand vonseiten derTräger gibt. Ich halte hier kein Plädoyer für die Träger;mir geht es um die langzeitarbeitslosen Menschen. Ichmache jedes Jahr ein Praktikum mit Langzeitarbeitslo-sen. Wissen Sie, was sie immer zu mir sagen? – Wir wol-len Arbeit. Wir wollen einen Arbeitsvertrag. Wir wollenmorgens aufstehen und eine Aufgabe in dieser Gesell-schaft haben, und wir wollen dafür fair entlohnt werden.Wenn die Förderung innerhalb von fünf Jahren längerals zwei Jahre dauern muss, dann verstehe ich nicht, wa-rum Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,sich auf solch einen Deal einlassen; denn das entwürdigtdie Arbeit dieser Menschen. Sie wollen einen Arbeits-vertrag wie alle anderen auch.
Ich bleibe dabei – Herr Vogel, hoffentlich haben Sieden Beleg zur Kenntnis genommen –,
dass es sich um einen Sumpf handelt, durch den Chan-cen genommen werden. Genommen werden nicht nurdCeadndAskwVmgAkmFcWWmssdgDdtuggdSkempFwb
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!enn einem nichts einfällt, dann könnte man auch ein-al schweigen. Wenn einem dennoch Redezeit im Deut-chen Bundestag gewährt wird und man vor der Aufgabeteht, einen Gesetzentwurf der Regierung zu bewerten,ann könnte man auch einmal loben, wenn etwas gelun-en ist.
as ist hier der Fall.Worum es Ihnen eigentlich geht, merkt man daran,ass Sie sich genötigt fühlen, Ihre Redezeit mit Behaup-ngen zu füllen, die, wenn man sie auf ihren Wahrheits-ehalt prüft, in sich zusammenfallen und sich sogaregen Sie selbst richten. Ihre Theorie, dass der Einglie-erungstitel desto wirksamer ist, je höher er in derumme ist,
önnte richtig sein. Wir glauben aber nicht daran; dennin Eingliederungstitel „arbeitsmarktpolitische Maßnah-en“ allein reicht nicht. Was es braucht, sind Arbeits-lätze, und die entstehen durch eine gute Wirtschafts-,inanz- und Steuerpolitik,
ie wir sie als christlich-liberale Koalition so erfolgreichetreiben, wie es Ihnen noch nie gelungen ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13737
Pascal Kober
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Frau Hagedorn, Sie haben in diese Debatte mit IhrerZwischenfrage den Begriff „Kahlschlag“ eingeführt.Diesen Begriff hat die Kollegin von der Partei Die Linkedann aufgegriffen. Wenn es Kahlschlag sein soll, dasswir die Eingliederungstitel zurückführen, weil wenigerMenschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind,
dann muss man zumindest einmal sagen dürfen, was Siein Ihrer Regierungszeit für diese Personengruppe bereit-gestellt haben, Frau Hagedorn.Im Jahr 2005, am Ende Ihrer Regierungszeit – da wa-ren Sie schon Mitglied des Deutschen Bundestages –,wies der Eingliederungstitel in Summe einen Wert von6,55 Milliarden Euro auf – bei 4,8 Millionen Arbeitslo-sen. Wenn man das zu den Daten ins Verhältnis setzt, de-nen wir jetzt glücklicherweise entgegensehen, nämlicheiner durchschnittlichen Zahl von Arbeitslosen von2,7 Millionen im Jahr 2011 und einem Eingliederungsti-tel von 5,3 Milliarden Euro im Jahr 2012, dann ist ein-deutig klar und für jeden ersichtlich, dass wir für diesenBereich mehr Geld pro Person aufwenden, als Sie je auf-zuwenden bereit waren.
Deshalb verfängt Ihr Argument vom Kahlschlag nicht.
Weil wir über diesen Gesetzentwurf nicht nur im Ple-num des Bundestags diskutieren werden, sondern auchim Fachausschuss und, wie ich höre, zu Recht auch inanderen Ausschüssen, im Haushaltsausschuss beispiels-weise,
möchte ich Sie von vornherein darum bitten, dass Siesich an der Sachdiskussion beteiligen und nicht verfan-gen bleiben in der falschen Behauptung, wir würden denEingliederungstitel über die Maßen zurückfahren unddamit den Menschen schaden.
Es geht darum, jetzt insbesondere das Problem derLangzeitarbeitslosigkeit anzugehen. Dazu müssen wirden Instrumentenkasten – so bezeichnen wir das – ziel-gerichteter machen. Dazu müssen wir erreichen, dassmehr Entscheidungsfreiheit vor Ort bei den Jobvermitt-lern besteht, dass individueller auf die Bedürfnisse derMenschen eingegangen werden kann. Das alles ist schonjetzt Gegenstand dieses Entwurfs. An diesem Entwurfarbeiten wir weiter; denn er ist gut.Liebe Frau Pothmer, Ursula von der Leyen als Minis-terin mit Unterstützung der FDP- und der Unionskolle-gen ist in der Tat eine gute Ministerin für die Arbeitslo-sen; denn wir bekämpfen Arbeitslosigkeit so erfolgreich,wie es Ihnen zu Ihrer Regierungszeit nie gelungen ist.WgwMsKdcdle1zdisreluseKnd–KbobBfügmgcgptufüea
Es reicht also nicht, pauschal Kritik zu üben oder zuagen: Es fehlt an Geld. – Vielmehr sollten wir uns nachinem Blick zurück überlegen, wie wir in dieser gutenonjunktur mit der Situation umgehen. Da kann ich Ih-en den kleinen Hinweis nicht ersparen, dass wir nachem Negativrekord 2005 mit 13 Prozent Arbeitslosigkeit das waren 5 Millionen Arbeitslose – heute, nach derrise, glücklich bei einer Zahl von unter 3 Millionen Ar-eitslosen stehen.
Auch die Kritik, dass es um Einsparungen geht, istffensichtlich unrichtig. Es gab 2007 600 000 Hilfe-edürftige mehr. Wenn man das auf die Zahl der jetztedürftigen umrechnet, stellt man fest: Wir haben heuter weniger Langzeitarbeitslose mehr Geld zur Verfü-ung als damals. Wenn man mit Zahlen arbeitet, solltean, so meine Bitte, schon korrekt mit den Zahlen um-ehen.
Wir garantieren mit diesem Gesetzentwurf soziale Si-herheit. Gewisse Punkte greifen wir deswegen auchanz bewusst nicht an. Indem wir besondere Schwer-unkte setzen, geben wir aber die Chance für mehr Bera-ng vor Ort, für mehr Dezentralität, für mehr Effizienz,r eine höhere Förderung junger Menschen, Allein-rziehender und Älterer.Liebe Frau Pothmer, Sie haben vorhin die Fachkräftengesprochen. Wir haben hier schon einmal eine Debatte
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13738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Ulrich Lange
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geführt über Fachkräfte und ältere Menschen, die wirwieder in den Arbeitsmarkt bringen wollen.
– Sie haben vorhin die Fachkräfte angesprochen. Ichglaube, dass wir gerade in diesem Punkt sehr genau wis-sen, dass eine große Aufgabe und Herausforderung voruns liegt. Wir nehmen sie an, weil wir genau diesesPotenzial zur Fachkräftesicherung heben wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wann, wenn nichtjetzt?
Zum einen zum Zeitpunkt einer Haushaltskonsolidie-rung, zum anderen und vor allem zum Zeitpunkt einerüberaus erfreulichen Konjunktur und deutlich sinkenderArbeitslosigkeit wollen wir eine solche Reform durch-führen. In einigen Regionen haben wir heute schon Voll-beschäftigung. Bei der Arbeitslosenzahl liegen wir unterder 3-Millionen-Grenze. Es gibt 250 000 Arbeitsloseweniger als vor der Krise.Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Ichglaube auch, dass wir in der jetzigen Situation die richti-gen Maßnahmen ergreifen, dass wir in Zeiten guter Kon-junktur Steuergelder gezielt einsetzen und uns genauüberlegen, wo wir wie an die Menschen herankommen.Denn Langzeitarbeitslosigkeit ist kein fester Block. Esgibt Bewegung; das haben die letzten Monate gezeigt.Nehmen wir den Schwung, nehmen wir die Bewe-gung mit durch die Konjunktur und durch ein gutes Ge-setz! Ziehen wir bei diesem Thema an einem Strang!Dann werden wir nach den Beratungen zu einem gutenErfolg kommen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/6277 und 17/6319 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 sowie den Zu-
satzpunkt 16 auf:
38 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Den Staat Palästina anerkennen
– Drucksache 17/6150 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieNO beschloss 1948 die Gründung des Staates Israel fürie Jüdinnen und Juden nach dem durch Deutsche aufeisung von Hitler und seiner Regierung begangeneninzigartigen Verbrechen – dem Versuch, die Jüdinnennd Juden in Europa auszurotten.6 Millionen Jüdinnen und Juden wurden ermordet.ur durch in von unserem Land begangenen Verbrechenam es überhaupt zu einem solchen UN-Beschluss. Des-alb müssen wir Deutsche dafür eintreten, dass die Jü-innen und Juden das Recht auf einen Staat haben, inem sie die Mehrheit stellen, aber ebenso selbstverständ-ch Nichtjüdinnen und Nichtjuden gleichberechtigt zuehandeln haben.
Die UNO hat 1948 aber auch beschlossen, den Staatalästina zu gründen. Die arabischen Länder lehntenies damals ab und begannen stattdessen einen Krieg ge-en Israel. Die Waffenlieferungen an Israel kamen übri-ens nicht aus den USA, nicht aus Großbritannien oderrankreich, sondern mithilfe der Sowjetunion aus derschechoslowakei. Letztlich gewann Israel und erwei-rte sein Territorium.Wie immer man zu dem Territoriumsgewinn steht: Esntstanden die Grenzen, die bis 1967 einigermaßen hiel-n. Es ist bekannt, welche Kriege anschließend stattfan-en. Die Palästinenserinnen und Palästinenser wolltennd wollen inzwischen endlich einen eigenen Staat.In Übereinstimmung mit sämtlichen UNO-Beschlüs-en soll der Staat Palästina in den Grenzen von 1967roklamiert und anerkannt werden. Ein Austausch vonerritorien kann nur zwischen Israel und Palästina ver-inbart werden. Die Palästinenserinnen und Palästinen-er, die im Unterschied zu den Deutschen die Verbrechen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13739
Dr. Gregor Gysi
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an den Jüdinnen und Juden nicht begangen haben, habeneinen Anspruch auf einen eigenen lebensfähigen Staat,in dem sie souveräne Rechte ausüben.
Die Friedlichkeit zwischen beiden Staaten muss interna-tional garantiert und gewährleistet werden.Die israelische Regierung sperrt sich zurzeit dagegen.Viele Staaten unterstützen aber die Palästinenserinnenund Palästinenser. Der französische Präsident Sarkozyist bereit, diesen Staat zu unterstützen und anzuerken-nen. Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenministerwarnen vor einseitigen Schritten. Ich frage Sie: Was solldaran einseitig sein? Einseitig wäre es, wenn beide Staa-ten noch nicht gegründet wären und plötzlich eine Seitedamit begönne. Aber den Staat Israel gibt es seit 1948.Es ist mehr als höchste Zeit, dass auch der Staat Paläs-tina entsteht. Wenn Sie erklären, dass Sie warten wollen,bis die israelische Regierung dies genehmigt, können Sieauch sagen, dass es den Staat Palästina niemals gebenwird, wenn die israelische Regierung es eben nie geneh-migen sollte.Die Lage im Nahen Osten und in Nordafrika ist völligverändert. Wir wissen noch nicht, welche Strukturen inÄgypten, Tunesien, Libyen, Syrien, Jemen und Bahrainentstehen. Gerade in einer solchen Situation wäre dasfriedliche Nebeneinander der Staaten Israel und Paläs-tina für den Friedens- und Demokratieprozess im NahenOsten und in Nordafrika ungeheuer wichtig.
Unsere Regierung trägt seit heute als Vorsitzende desSicherheitsrates der UNO eine hohe Verantwortung. Wirmüssen das Zwei-Staaten-Modell aktiv unterstützen, imInteresse der Palästinenserinnen und Palästinenser, imInteresse der Israelis, im Interesse aller Menschen imNahen Osten und der Weltgemeinschaft.Es ist zu befürchten, dass ein Antrag auf Ausrufungund Anerkennung des Staates Palästina und seine Mit-gliedschaft in der UNO im Sicherheitsrat am Veto derUSA scheitern werden. Ich hoffe, die Bundesregierungstimmt für die Gründung des Staates. Der Beschluss desSicherheitsrates kann aber durch eine Zweidrittelmehr-heit der Mitglieder der UNO aufgehoben werden: Min-destens 128 der 192 Mitgliedstaaten müssten dafür stim-men; das ist durchaus möglich. Auch hier sollteDeutschland für die Gründung des Staates stimmen. Esänderte sich noch nichts in der Region, aber der Drucknähme zu, diesen Willen der Weltgemeinschaft zu reali-sieren. Die Bundesregierung darf dabei nicht zurückhal-tend sein; sie muss aktiv werden. Halten Sie Ihre wichti-gen Beziehungen zu Israel aufrecht, aber erkennen Sieden Staat Palästina unbedingt an!
Wir sollten auch Palästina helfen, soweit wir können.Auch das entspräche unserer besonderen historischenVerantwortung.
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Wir müssen auch die Folgen für Israel bedenken. Al-s andere als ein klares Nein zu einer einseitigen Staats-usrufung wäre ein eklatanter Bruch in der deutschenußenpolitik.
n einer so grundlegenden Frage zeigt sich, ob wir esrnst meinen damit, dass die Sicherheit Israels Teil dereutschen Staatsräson ist.
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Thomas Silberhorn
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Deswegen ist die Idee einer einseitigen Ausrufung ei-nes palästinensischen Staates kein Signal zum Aufbruch,sondern eine diplomatische Sackgasse. Ich will aller-dings auch sagen, dass ich durchaus nachvollziehenkann, welche Frustration sich auf palästinensischer Seiteaufgebaut hat. Bei den Friedensverhandlungen tritt manauf der Stelle. Sie kreisen seit Jahrzehnten um dieselbenThemen, ohne dass eine echte Perspektive für eine um-fassende Lösung absehbar wäre.Hinzu kommt, dass die Palästinenser in den letztenJahren substanzielle Fortschritte beim Aufbau einesStaatswesens erzielt haben. Das haben die Experten derVereinten Nationen, der Weltbank und des Internationa-len Währungsfonds wiederholt bestätigt. Auf der letztenKonferenz der wichtigsten Geber für die palästinensi-schen Gebiete im April dieses Jahres kamen sie überein-stimmend zu dem Schluss, dass die palästinensische Au-tonomiebehörde die grundlegenden Voraussetzungen füreigene Staatlichkeit geschaffen hat. Das ist ein großesVerdienst von Premierminister Fayyad. Die Bundesre-gierung hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Aufbaustaatlicher Strukturen unterstützt, unter anderem durchdie Einsetzung eines deutsch-palästinensischen Len-kungsausschusses im letzten Jahr.Dennoch ist der einzig gangbare Weg zu einer tragfä-higen Friedenslösung die Wiederaufnahme direkter Ver-handlungen. Dazu bedarf es natürlich des politischenWillens beider Seiten. Es bedarf auch der Aussicht auferreichbare Fortschritte in absehbarer Zeit. Deswegenmüssen wir beiden Seiten erhebliche Anstrengungen ab-verlangen.Der palästinensischen Seite müssen wir deutlich ma-chen, dass das Einheitsabkommen, das Anfang Mai inKairo mit der Hamas unterzeichnet worden ist, unterdem Vorbehalt stehen muss, dass die Hamas das Exis-tenzrecht Israels anerkennt, von Gewalt Abstand nimmtund bisherige Abkommen anerkennt; denn es ist für Is-rael zu Recht schlicht inakzeptabel, mit einem Akteur zuverhandeln, der als Zielsetzung seiner Charta formuliert,die Existenz Israels zerstören zu wollen.Die israelische Regierung muss endlich darlegen, wiesie sich eine umfassende und gerechte Friedenslösungvorstellt. Außer dem grundsätzlichen Bekenntnis zu ei-ner Zwei-Staaten-Lösung haben wir dazu bisher wenigSubstanzielles gehört. Das gilt im Übrigen auch für dieviel beachtete Rede des israelischen Premierministersvor dem US-Kongress vor wenigen Wochen. Was wir er-warten müssen, ist, dass Israel eine positive Vision füreine Friedenslösung einbringt. Das würde es auch dengemäßigten Kräften auf palästinensischer Seite ermögli-chen, auf realistische Ziele hinzuarbeiten und das gegen-über der Bevölkerung auch zu vertreten.Es gilt, gegenüber beiden Parteien immer wiederdeutlich zu machen, dass eine Friedenslösung in ihremeigenen Interesse ist. Israel würde dadurch aus dem Fo-kus der Kritik in der arabischen Welt genommen. Das istdurchaus von Bedeutung; denn die Palästina-Frage istnoch immer ein Thema mit großem Mobilisierungs-potenzial in diesen Staaten. Angesichts des gegenwärti-gen Umbruchs deutet manches darauf hin, dass die Poli-tiMmWddCÜsgsJdzsgdIsuFmßSgGneFLWNdMhPeaPndhßggp
Das Wort hat der Kollege Günter Gloser für die SPD-
raktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!iebe Kollegen! Seit dem Beginn dieses Jahres weht derind des Wandels durch die Nahostregion und durchordafrika. Mit Überraschung und Staunen haben wiras massenhafte Aufbegehren der Menschen gegenachthaber und Herrschaftssysteme in der Region gese-en, die jahrelang als nicht erschütterbar galten. Dieserrozess ist mit Leid und Tod verbunden, da die Aus-inandersetzungen insbesondere in Libyen und Syrien,ber auch im Jemen mit Gewalt geführt werden. Derrozess ist, wie wir täglich in den Nachrichten sehen,och nicht an sein Ende gekommen. Der Wind des Wan-els in Tunesien, Ägypten und vielen anderen Staatenat das Fenster für neue Entwicklungschancen aufgesto-en.Auch vor Palästina hat diese Entwicklung nicht halt-emacht. Die Palästinenser sind vielerorts auf die Straßeegangen, um endlich das Ende ihrer zerstrittenen Dop-elführung und eine Regierung für sich zu fordern, und
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Günter Gloser
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zwar weitgehend gewaltfrei. Dieser Hinweis ist mir sehrwichtig. Es war zuerst die Bevölkerung Palästinas, wel-che den Wandel und Entwicklungschancen wollte, nichtdas politische Establishment. Die Menschen in Palästinawollen nicht länger Opfer machtstrategischer Züge vonEinzelinteressen innerhalb der gespaltenen Regierungbleiben. Religion spielte in dieser sozialen Bewegungübrigens kaum eine Rolle. Die Forderung nach einerEinheitsregierung für Palästina ist legitim und demokra-tisch.
Nun ist zu hoffen, dass der Prozess der Regierungsbil-dung wirklich vorankommt und den Nahostfriedensver-handlungen neuer Schwung verliehen werden kann, sowie es in dem Titel unseres Antrags heißt. Ohne neuenSchwung in den Friedensverhandlungen wird auch eineaktivere Beteiligung der Menschen in Israel und Paläs-tina nicht möglich sein. Aber nur damit wäre eine ausge-handelte Friedenslösung langfristig tragfähig.
Wo ist die israelische Friedensinitiative in diesen Ver-handlungen? Ich und viele andere Kollegen haben ausunseren jüngsten Gesprächen mit Partnern aus Israel denEindruck gewonnen, dass die neue Situation in der Re-gion bei der Regierung Netanjahu Verunsicherung her-vorgerufen hat, über die sie bis heute nicht hinausge-kommen ist. Dabei könnte zumindest durch einen Stoppdes Siedlungsneubaus ein erstes positives Signal gege-ben werden.
Auf palästinensischer Seite sehen wir im sogenanntenFayyad-Plan einen konstruktiven Ansatz, die Vorausset-zungen für eine Staatsgründung und einen dauerhaftenFrieden zu schaffen. Diese Einschätzung wird übrigensvon der Europäischen Union und vom Nahostquartettgeteilt. Was aber, wenn es bis zum Herbst zu keinen Ver-handlungen kommt? Kann man den Palästinensern dannden Wunsch nach der Ausrufung eines eigenen Staatsdauerhaft verwehren?Eine Anerkennung kann nach Auffassung der SPD-Fraktion jedenfalls nur dann erfolgen, wenn drei Forde-rungen erfüllt sind, die vor allem die Sicherheit Israelsbetreffen und bereits vom Nahostquartett formuliert wor-den sind – Kollege Silberhorn, ich möchte darauf hinwei-sen, dass es hier um eine Zusicherung der neu gewähltenRegierung und nicht der Fatah oder Hamas geht –:
die Anerkennung des Existenzrechts Israels, eine Garan-tie für Gewaltverzicht und die Zustimmung zu allen bis-herigen Abkommen. Kollege Gysi, ich denke, da unter-scheiden wir uns erheblich von Ihrem Antrag.Nun komme ich zur Hauptkritik, die sich an die Bun-desregierung und insbesondere an die Bundeskanzlerinrichtet. Auch wenn sie heute nicht anwesend ist, darf ichdhgoOukamvhwPjemlögMshhsDdKgdeaEsGgHnshddWB
hne jede Not hat sich die Bundeskanzlerin im Aprilnd noch einmal im Mai dieses Jahres gegen eine Aner-ennung der Unabhängigkeit des Staates Palästinausgesprochen. Damit hat sie, wie ich meine, eine ge-einsame europäische Initiative in dieser Frage vonornherein und ohne Konsultation mit den Partnern ver-indert. Friedensgespräche werden auf diese Weise nichtahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher.
Durch die unbedingte vorauseilende Zustimmung zurosition von Ministerpräsident Netanjahu hat sie auchne in der israelischen Regierung gestärkt, die offenbareinen, der Status quo sei besser als jede Verhandlungs-sung. Solch einer Analyse sollten wir aber offen entge-entreten. Deutschland entmutigt sonst auch alle jeneenschen in der Region weiter, die an eine Friedenslö-ung glauben. Das dient letztlich auch nicht der Sicher-eit Israels, der wir uns ja alle verpflichtet fühlen.Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buch-andels David Grossman hat dazu 2010 in Frankfurt ge-agt – ich zitiere –:Wer aber die Möglichkeit des Friedens aufgegebenhat, ist schon geschlagen. Er hat das Schicksal desanhaltenden Krieges im Grunde über sich selbstverhängt.iese Worte wiegen umso schwerer, wenn man weiß,ass David Grossmans eigener Sohn 2006 im Libanon-rieg von einer Hisbollah-Rakete getötet worden ist.Deutschland sollte daher alles dafür tun, für diejeni-en in der Nahostregion, die – so wie David Grossman –en Glauben an eine Friedenslösung noch in sich tragen,ine neue Perspektive zu schaffen. Das geht meines Er-chtens nur im europäischen Kontext.
Die Bundeskanzlerin hat für die Mitgliedstaaten deruropäischen Union, die Hohe Vertreterin der Europäi-chen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und dieemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU ins-esamt ein Präjudiz geschaffen, das eine gemeinsamealtung Europas in der Frage der Anerkennung Palästi-as nicht mehr zulässt. Damit verbaut sie Europa insge-amt die Möglichkeit zur Einflussnahme auf neue Ver-andlungen. Jedem wirklich überzeugten Europäer mussies als deutsche Sonderwegpolitik erscheinen – was lei-er auch für andere Felder gilt, wie wir in den letztenochen und Monaten gesehen haben.Daher fordert die Bundestagsfraktion der SPD dieundesregierung und insbesondere die Kanzlerin mit
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13742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Günter Gloser
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dem vorliegenden Antrag auf, den Fehler, den sie durchihren Alleingang verursacht hat, zu korrigieren. Ich wie-derhole noch einmal: Das Ziel deutscher und europäi-scher Außenpolitik muss natürlich eine Verhandlungslö-sung für den Nahostkonflikt sein, und Europa muss diesebefördern. Wenn es aber nicht zu neuen Verhandlungenkommt, dann müssen wir im europäischen Kontext bera-ten, welche Bedingungen wir an die Anerkennung einerpalästinensischen Regierung und eines palästinensischenStaates knüpfen. Nur so können wir den Einfluss gewin-nen, den wir brauchen. Dabei wären wir als Europäerauch nicht allein. Mit Präsident Obama haben wir – nachJahren verfehlter Nahostpolitik durch die Bush-Admi-nistration – einen starken Partner im Einsatz für denFrieden im Nahen Osten an unserer Seite.Zum Schluss zitiere ich noch einmal aus der beein-druckenden Rede von David Grossman im letzten Jahr inFrankfurt. Er sagt:Ich möchte sie daran erinnern, dass weder Israelnoch Palästina eine Heimat, eine sichere Zukunftund eine stabile Existenz haben werden, wenn ihrGegenüber nicht genau dasselbe haben kann. Indiesem Sinne sind die beiden Völker aneinander ge-bunden. … und nur, wenn sie das begreifen, werdensie wirklich in der Lage sein, den Prozess wiederzu-beleben.Dem ist nichts hinzuzufügen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Gysi, ohne jeden Zweifel steht Ihr heutevorliegender Antrag im Kontext einer anderen Diskus-sion, die Ihre Partei beschäftigt hat. Deshalb versteheich, dass der erste Teil Ihrer Rede durchaus an Ihre Parteigerichtet war. Ich sage Ihnen persönlich, Herr Gysi: Siesind für mich in diesem Falle sehr glaubwürdig, und al-les andere müssen Sie mit Ihrer Partei abmachen. Ichhabe Verständnis dafür, dass Sie das heute hier so einge-führt haben.Wenn man aber ein Freund Palästinas ist und für Pa-lästina etwas tun will, muss man sich fragen, ob Sie mitIhrem heutigen Antrag Palästina etwas Gutes tun oder obSie Palästina nicht eventuell sogar schaden.
Denn eine Sache ist, etwas zu fordern; die andere Sacheist das Timing: Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wennich mir vor Augen halte, worüber wir in den letzten Wo-chen diskutiert haben, kann ich nur sagen: So verständ-liZmadgaamrefeinabanSutidluwdntuu„vInnvmiszdwmictedmInvTTZdWRmszS
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es dort zur Bildung einer Regierung kommt, wissen wir,dass diese Regierung nicht für beide Teile, über die wirsprechen, für das Westjordanland und Gaza, gleicherma-ßen sprechen kann. Die Staatlichkeit bzw. möglicheStaatlichkeit ist eingeschränkt, weil die Durchsetzungs-fähigkeit dieser Übergangsregierung, um es vorsichtigzu formulieren, fragwürdig ist.Allerdings ist in Palästina erfreulicherweise – daswurde international begutachtet und wird befürwortet –eine wesentliche Verbesserung beim Aufbau staatlicherStrukturen zu verzeichnen; das finde ich sehr gut. DieseFortschritte werden allseits anerkannt. Das ist im Hin-blick auf die Etablierung von Staatlichkeit ein ganz we-sentlicher Schritt. Was die Situation in der arabischenWelt betrifft, herrschen in Palästina allerdings Erwartun-gen, die wir bitte schön nicht strapazieren sollten, weilsie, wie wir alle wissen, eventuell nicht erfüllt werdenkönnen.Wie ist die Situation in Amerika? Nach meinem Da-fürhalten hat sich die Situation in Amerika seit Februardieses Jahres geändert. Die Vereinigten Staaten vonAmerika haben im Februar dieses Jahres eine Resolutionder Vereinten Nationen durch ihr Veto verhindert.Deutschland hat zum Glück so wie alle anderen europäi-schen Staaten abgestimmt; das fand ich sehr gut.
Deutschland hat es also „gewagt“, sich bei diesem sen-siblen Thema anders zu entscheiden als Amerika. Ichsage Ihnen aber: Nach meinem Dafürhalten hat sich dieSituation in Washington geändert, und zwar durch denBesuch von Netanjahu, durch die Rede Obamas unddurch die verbale Ohrfeige, die Netanjahu dem amerika-nischen Präsidenten verpasst hat. Nach meinen Informa-tionen aus Washington positioniert sich die amerikani-sche Regierung bei diesem Thema mittlerweile andersals noch im Februar.Ich komme zum Schluss. Man muss jetzt das Richtigetun. Diesen übereilten Schritt darf man nicht machen.Der Kontext muss verstanden werden. Wir als Europäer,als Deutsche sollten Israel drängen – und durch die inner-israelische Entwicklung haben wir die Chance dazu –, ineinen Verhandlungsprozess einzutreten. Wir alle wissen– ich brauche es nicht zu wiederholen –, dass die Deter-minanten bzw. Elemente einer möglichen Lösung seitlangem beschrieben sind. Jede mögliche Lösung, wennsie überhaupt möglich ist, wird sich plus/minus 5 Pro-zent an den einzelnen Elementen – ob es sich um dieGrenzen, um Flüchtlingsfragen oder um den StreitpunktJerusalem handelt – entlanghangeln. Jetzt kommt es da-rauf an, auf Israel einzuwirken, in diesen Prozess einzu-treten und ihn fortzuführen. Das muss bis zum Herbstdie Aufgabe sein. Die Dringlichkeit ist in Israel erkannt;das ist unsere Chance. Deshalb drängen wir darauf, dassdie Bundesregierung im europäischen Kontext – mög-lichst mit den Amerikanern gemeinsam – die israelischeRegierung drängt, drängt und noch einmal drängt, diesenProzess anzunehmen, ihn zu beginnen und die Chancenzu nutzen, die in ihm liegen.BNisdtiteSosranNghPmcetiNzimvvsbgswFwcSleteeDddEzkdd
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Est schon gesagt worden: Die Palästinenser werden – je-enfalls wenn sich die Lage bis dahin nicht noch drama-sch verändert – in der Generalversammlung der Verein-n Nationen die Anerkennung eines palästinensischentaates beantragen. Genauer gesagt werden sie den Be-bachterstatus als Non-Member-State beantragen, fallsie nicht sogar vorher auf Mitgliedschaft im Sicherheits-t setzen, dem die Amerikaner mit einem Veto entgeg-en würden. Die PLO hat das letzten Sonntag erklärt.ach Gesprächen, die ich in New York, aber auch hiereführt habe – andere werden auch Gespräche geführtaben –, kann ich nur sagen: Mein Eindruck ist, dass diealästinenser sehr entschlossen sind. Herr Silberhorn, esag zwar sein, dass man nicht weiß, wie sich das entwi-kelt, und dass das risikobehaftet ist. Man muss aber an-rkennen: So viel Bewegung in der internationalen Poli-k in Bezug auf diese Frage hat es lange nicht gegeben.
Hintergrund ist ohne Frage der völlige Stillstand imahost-Friedensprozess. Die palästinensische Seite istu Recht besorgt, dass die Siedler, je mehr Zeit vergeht,mer mehr Fakten schaffen. Seit dem Oslo-Abkommenon 1993 haben sich die Siedlungen in der Westbankerdreifacht: von 100 000 auf 300 000; in Ostjerusalemind es zusätzlich 200 000 und wir alle wissen – Sie ha-en die Führung von Ir Amin wahrscheinlich auch mit-emacht –, dass die Besiedlung in Ostjerusalem mit be-onders radikalen Siedlern erfolgt. Obwohl viele Israelisissen – das ist ein Zitat –, dass „der Siedlungsbau dieundamente des Staates Israel buchstäblich untergräbt“,urde leider unter allen israelischen Regierungen glei-hermaßen weitergebaut. Ich sage sehr deutlich: Dieseriedlungsbau ist nicht nur nach internationalem Recht il-gal, er ist auch nicht im Sicherheitsinteresse des Staa-s Israel.Ich kann an dieser Stelle die Sorgen der Palästinenserin Stück weit verstehen.
as ist nicht hinnehmbar. Immer weniger Menschen inen palästinensischen Gebieten glauben deshalb noch anie Zwei-Staaten-Lösung. Das ist ein großes Problem.ine ganz andere Frage ist, ob dieser Schritt tatsächlichielführend ist, um zu einer Zwei-Staaten-Lösung zuommen. Der UN-Beauftrage Robert Serry, aber aucher IWF haben der PA Staatsreife attestiert. Ich nenne iniesem Zusammenhang das von der Europäischen Union
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13744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Kerstin Müller
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unterstützte Staatsbildungsprogramm von Fayyad. Den-noch ist das Ganze – das will ich hier auch sagen – nichtohne Risiko. Herr Stinner, Sie haben MinisterpräsidentFayyad erwähnt. Er hat gestern in einem Interview mitder Washington Post sehr deutlich gesagt, das – Zitat –„wäre nur ein symbolischer Sieg und würde an derRealität der israelischen Besatzung nichts ändern“. Erhat das warnend gesagt. In der Tat stellt sich die Frage:Was passiert denn, wenn sich dadurch „on the ground“für die Menschen nichts ändert?Wenn man diese Frage der palästinensischen Führungstellt, hat sie keine Antwort darauf. Ihre Mitglieder sa-gen, dass sie sich eine Win-win-Situation für beide Sei-ten versprechen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganzehrlich: Das könnte natürlich auch gehörig schiefgehen.Für mich ist daher klar: Wir müssen jetzt alles tun, damites schnell zu Verhandlungen kommt. Das dürfen nicht ir-gendwelche Verhandlungen sein, sondern müssen sub-stanzielle Verhandlungen sein. Denn klar ist, dass die Pa-lästinenser Verhandeln-um-des-Verhandelns-willen nichtmachen werden. Das muss man auch verstehen. Ver-handlungen, um Zeit zu schinden, werden sie nicht ak-zeptieren. Sie sagen aber immer wieder, das sei ihre ersteOption, und das bleibe als erste Option auf dem Tisch.Deshalb muss man an die israelische Regierung appellie-ren. Wenn sie den Gang zur UNO verhindern will, dannmuss sie jetzt ein konkretes und substanzielles Angebotauf den Tisch legen. Das ist meine Position.
Zurzeit hat man den Eindruck – so geht es auch einigenmeiner Kollegen in Israel –, dass diese israelische Regie-rung dazu nicht bereit ist. Man muss sich nur die RedeNetanjahus vor dem amerikanischen Kongress an-schauen. Er hat fast alle Türen zugeschlagen – das ist un-fassbar – und keine neuen Türen geöffnet.Herr Kollege Stinner, Sie haben eben davon gespro-chen, dass das eine Vorfestlegung vonseiten der Linkenist. Vor diesem Hintergrund war es dann aber auch vor-eilig und unnötig, dass sich die Bundeskanzlerin vor-schnell festgelegt hat, dass Deutschland auf jeden Fallmit Nein stimmen wird.
Wenn wir den Druck auf beide Seiten aufrechterhaltenwollen, dann darf sich weder Deutschland noch Frank-reich festlegen. Was für eine Kakofonie in Europa! Wirwissen, dass diese beiden Länder der Motor Europassind. Deshalb müssen Deutschland und Frankreich sa-gen: Wir werden jetzt gemeinsam für eine Verhand-lungslösung sorgen. Wie wir am Ende abstimmen, sehenwir dann. – Es gibt dieses wunderbare Beispiel derStimmerklärung zu der gemeinsamen Siedlerresolutionvon Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Dassind die Parameter, die immer mehr zu den Terms ofReference werden. Das war eine gute Erklärung.NczzSakNVbCMbLbnfüsSNdüVZszzdspkmGA
Ich komme gleich zum Schluss. – Wir sollten versu-
hen, auf dieser Basis zu einer Sicherheitsratsresolution
u kommen. Dann, Herr Gysi, hätte man etwas Substan-
ielles; das habe ich jedenfalls von palästinensischer
eite gehört. Dann wären die Palästinenser auch bereit,
uf diesen konfrontativen Schritt, dem Antrag auf Aner-
ennung, zu verzichten.
Frau Kollegin!
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
EN):
Deshalb sage ich: Jetzt ist die Gunst der Stunde für
erhandlungen. Daran muss diese Bundesregierung ar-
eiten.
Danke schön.
Das Wort hat nun Thomas Feist für die Fraktion der
DU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!eine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschlandekennt sich ohne Wenn und Aber zur Zwei-Staaten-ösung. Deutschland wird alles unternehmen und hatereits sehr viel unternommen, damit die Verhandlungenicht an diesem Punkt stehen bleiben und zum Erfolghren werden. Die Frage, ob es zu diesem Zeitpunktinnvoll ist, sich auf eine einseitige Proklamation destaates Palästina festzulegen, würde ich allerdings mitein beantworten, und zwar aus mehreren Gründen.Zum Ersten ist es so, dass ein Staat ausgerufen wer-en soll, der – zumindest in meiner Wahrnehmung –berhaupt keine funktionsfähige Regierung hat. Wenn esereinbarungen zwischen der Fatah und der Hamas zurusammenarbeit gibt, dann muss die Hamas vor den ent-cheidenden Verhandlungen natürlich ihrem Ziel, Israelu vernichten, abschwören. Das muss man als Vorausset-ung für weitere Schritte einfordern.
Sie haben gesagt – das steht auch in den Anträgen –,ies habe vor allem symbolischen Charakter. Nun stelltich die Frage: Welchen Wert hat eine solche Symbol-olitik? Herr Gysi, Sie haben gesagt, eine einseitige Pro-lamation des Staates Israel und eine einseitige Prokla-ation des Staates Palästina seien im Prinzip dasleiche. Wir wissen doch aber alle, dass es im Oslo-bkommen II einen Passus gibt, der besagt, dass der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13745
Dr. Thomas Feist
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)Status der Westbank und des Gazastreifens nicht einsei-tig verändert werden kann. Genau das aber wird versuchtdurch diese Proklamation zu erreichen: die einseitigeVeränderung dieses Status. Deswegen können wir demnicht zustimmen.Ich habe meinem Kollegen Weinberg aus Hamburg,der hier vorne interessiert zuhört, gesagt: Es gibt auch et-was Interessantes am Antrag der Linken. Ich muss hin-zufügen: Es war schon interessant, Herr Gysi, dass Siezu Ihrem Antrag eigentlich nichts gesagt haben. In die-sem Antrag findet sich eine Schwarz-Weiß-Malerei, diemir noch aus dem Land bekannt ist, in dem ich aufge-wachsen bin. In diesem Land wurde durch spitzfindigewissenschaftliche Theorie erklärt, dass eine Partei, diean der Führung ist, immer recht hat. Es war völlig ein-fach, Gut und Schlecht, Freund und Feind sowieSchwarz und Weiß voneinander zu trennen. Natürlichwaren wir immer für das revolutionäre palästinensischeVolk und gegen den imperialistischen Aggressor Israel.Etwas von diesem Duktus findet sich auch in Ihrem An-trag wieder. Wenn Sie ihn noch einmal genau lesen, wer-den Sie das sehen.
– Ich weiß, dass Sie nicht gerne daran erinnert werden,dass Sie, die Sie links außen von mir sitzen, eine andereVergangenheit haben und einer Partei mit dem NamenSED angehört haben.Ich muss Ihnen zu den vorliegenden Anträgen zweier-lei sagen: Entweder sind sie überflüssig, oder sie sindkontraproduktiv.
– Wenn unsere Bundeskanzlerin erklärt, Frau Müller,dass sie diesem einseitigen Schritt nicht zustimmen wird
– nein, das war kein Fehler –, dann ist völlig klar, dassdie einseitige Proklamation ein symbolischer Akt seinwird, den es übrigens schon einmal gab. 1988 gab eseine einseitige Ausrufung des Staates Palästina in Algier.Wenn wir die palästinensische Vertretung in Deutsch-land aufwerten sollen – das wurde in den Anträgen for-muliert –, dann schauen Sie doch einfach auf die Inter-netseite www.palaestina.de. Es ist interessant, dass dortnur von der Fatah gesprochen wird. Über die Hamas, diean der Regierung beteiligt werden muss, ist kein Wort zulesen.Eines ist völlig klar: Wir brauchen zunächst eine An-erkennung der Grenzen, eine Einigung über den Grenz-verlauf. Dazu können wir inhaltlich wenig beitragen.Das ist eine Sache, die beide Verhandlungspartner mitei-nander austragen müssen. Es ist ja nicht so, als habe sichin dieser Richtung nichts getan. Es muss erwähnt wer-den, dass beispielsweise 85 Prozent der Straßenkontrol-lesVmsnPeBAAaTSsaAdta
ber zum jetzigen Zeitpunkt zu fordern, dass wir diesenträge unterstützen, ist völlig verkehrt.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenuf den Drucksachen 17/6150 und 17/6298 an die in deragesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.ind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 39 a und 39 buf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-serung der Feststellung und Anerkennung imAusland erworbener Berufsqualifikationen– Drucksache 17/6260 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesAlpers, Sevim Dağdelen, Dr. Petra Sitte, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAnerkennung ausländischer Bildungs- undBerufsabschlüsse wirksam regeln– Drucksache 17/6271 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höreazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-rischen Staatssekretär Helge Braun das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung legt dem Bundestag den Entwurf eines
Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Aner-
kennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen
vor. Mit diesem Gesetz verfolgen wir zwei wichtige
Ziele.
Erstens. Der eigene Berufsabschluss ist ein wichtiger
Teil der persönlichen Identität. Deshalb und aus Respekt
vor der Lebensleistung der hier lebenden Menschen ist
es wichtig, ihre tatsächlich vorhandenen Kompetenzen
ausdrücklich anzuerkennen und ihren Abschlüssen nicht
ohne schwerwiegende Sachgründe die Gleichwertigkeit
abzusprechen. Deshalb ist ein Rechtsanspruch auf ein
transparentes und in seinem Ergebnis nachvollziehbares
und zuverlässiges Anerkennungsverfahren ein wichtiges
integrationspolitisches Vorhaben.
Zweitens. Ein Land, das zunehmenden Fachkräfte-
mangel beklagt, darf auch aus wirtschaftspolitischer
Sicht nicht darauf verzichten, die 285 000 Menschen in
ihren Berufen, in denen sie einen ausländischen Ab-
schluss erworben haben, einzusetzen. Einem asiatischen
oder amerikanischen Techniker in Deutschland als ver-
meintlich ungelerntem Arbeiter wenig anspruchsvolle
Gelegenheitsjobs anzubieten, ist gesellschaftlich, inte-
grationspolitisch und wirtschaftspolitisch nicht verant-
wortbar.
Der weitaus größte Teil der potenziellen Antragsteller
verfügt über einen beruflichen Abschluss. Nach der Aus-
wertung eines Mikrozensus gehen wir davon aus, dass es
in Deutschland bereits 285 000 potenzielle Antragsteller
gibt. Davon haben rund 16 000 einen Hochschulab-
schluss, alle anderen verfügen über einen beruflichen
Abschluss. In der Wirtschaft werden Bewerber mit tech-
nischen Berufsabschlüssen, über die viele der potenziel-
len Petenten verfügen, stark nachgefragt.
Was bietet jetzt dieses Gesetz? Es gibt erstmals einen
Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren. Dieser
Rechtsanspruch besteht für jeden, der über einen auslän-
dischen Abschluss verfügt und eine ernsthafte Er-
werbsabsicht in Deutschland hat. Weitere Voraussetzun-
gen oder Einschränkungen des antragsberechtigten
Personenkreises gibt es nicht. Das ist ein deutliches Zei-
chen der Willkommenskultur, auch für die Antragsteller
aus dem Ausland. Nach Eingang aller Unterlagen gibt es
eine dreimonatige Frist, damit das Verfahren auch
hinsichtlich seiner Dauer praktikabel und für den An-
tragsteller verlässlich ist. Ist eine Anerkennung nicht
möglich, erhält der Antragsteller Informationen über we-
sentliche Unterschiede zwischen seiner Qualifikation
und dem Erfordernis für eine deutsche Anerkennung, so-
dass er eine klare Perspektive dafür aufgezeigt be-
kommt, wie er durch Anpassungsqualifizierungen zu ei-
ner Anerkennung kommen kann.
Das Gesetz sieht ebenfalls vor, dass die Berufserfah-
rung bei der Feststellung der Qualifikation berücksich-
tigt wird. Wir wollen zwar nicht, dass Berufserfahrung
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Oberste Priorität – das sage ich hier sehr deutlich –
at für die Bundesregierung die Qualitätssicherung unse-
r deutschen Abschlüsse. Mit dem Gesetz wollen wir
rreichen, dass die ausländischen Abschlüsse, für die es
in Gleichwertigkeitszertifikat gibt, tatsächlich das deut-
che Qualifikationsniveau erreichen. Wir gehen deshalb
inen nicht ganz einfachen Weg; denn die Stellen, die in
ukunft die Gleichwertigkeit der ausländischen Ab-
chlüsse anerkennen, sind die gleichen Stellen, die heute
Deutschland dafür verantwortlich sind, deutsche Ab-
chlüsse zu vergeben und die Qualität deutscher Ab-
chlüsse zu sichern. Das erfordert zum einen hohe
nsprüche an die Abstimmung zwischen den verschie-
enen Partnern, insbesondere den Kammern. Zum ande-
n müssen wir als Bund die Aufgabe übernehmen, mit
iner zentralen Rufnummer und einer Informationsplatt-
rm dafür zu sorgen, dass jeder potenzielle Antragstel-
r leicht Zugang zu diesem System und letztlich zu der
ntsprechenden Anerkennungsstelle findet.
Der Gesetzentwurf umfasst rund 350 Ausbildungsbe-
fe und rund 60 bundesgesetzlich geregelte Berufe, ins-
esondere Heil- und Rechtsberufe. Damit ist ein ganz
berwiegender Teil der Personen, die sich in Deutsch-
nd befinden, erfasst. Die Abstimmung mit den 16 Bun-
esländern war von großem Einvernehmen und hoher
achlichkeit geprägt. Dies ist aus meiner Sicht ein Vor-
ild für Bund-Länder-Zusammenarbeit. Die Länder ha-
en bereits ihre Bereitschaft erklärt, in Zukunft ver-
leichbare Regelungen für die Berufe zu schaffen, die in
ren Zuständigkeitsbereich fallen.
Mit diesem Gesetz schlagen wir ein neues Kapitel bei
er Anerkennung von ausländischen Abschlüssen auf.
as ist ein wichtiges Signal für die Menschen, die hier
ben, aber auch ein wichtiges Signal für diejenigen, die
ine Arbeit in Deutschland aufnehmen wollen. Es führt
uch zu Verlässlichkeit bei der Fachkräftesicherung für
nsere Wirtschaft in Deutschland. In diesem Sinne bitte
h das Hohe Haus um breite Zustimmung.
Das Wort hat nun Swen Schulz für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!eine sehr verehrten Damen und Herren! Endlich liegter lang ersehnte Gesetzentwurf vor. Wir haben wirklichnge darauf warten müssen. Bereits in der Großen Ko-lition hat die SPD mit dem damaligen Arbeitsminister
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Swen Schulz
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Olaf Scholz einen Vorstoß unternommen. Dieser ist vonder Union abgelehnt worden.
Am 1. Dezember 2009 hat die SPD-Bundestagsfrak-tion hier einen Antrag eingebracht. Kurz danach legtedann auch die Bundesregierung ein Papier vor: Eck-punkte zur Verbesserung der Feststellung und Anerken-nung von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifika-tionen und Berufsabschlüssen. Wir mussten aber bisheute auf die erste Lesung eines Gesetzentwurfs warten.Jetzt stellt sich die Frage: Hat sich das lange Warten ge-lohnt? Die Antwort lautet: Leider bleibt der Gesetzent-wurf hinter den im Eckpunktepapier der Bundesregie-rung selbst formulierten Ansprüchen zurück. Dass eserheblichen Änderungsbedarf gibt, zeigt schon die Tat-sache, dass der Bundesrat, und zwar quer durch alle Län-der, unabhängig davon, wie die Landesregierungenparteipolitisch zusammengesetzt sind, viele Änderungs-vorschläge – 100 an der Zahl – zu dem Gesetzentwurfeingebracht hat. Leider sind sie von der Bundesregie-rung in der Entgegnung, jedenfalls zum größten Teil,einfach vom Tisch gewischt worden. Dabei sind diewichtigsten Forderungen des Bundesrates direkt demEckpunktepapier der Bundesregierung entnommen. Ichwill das an einigen Stellen aufzeigen.Im Eckpunktepapier ist von einer Erstanlaufstelle dieRede, die geschaffen werden soll. Im Gesetzentwurf fin-det sich dazu nichts mehr. Herr Staatssekretär, Sie habenhier von einer Telefonhotline und von Internetangebotengesprochen. Das reicht nicht.
Im Eckpunktepapier sind Angebote zur Ergänzungs-und Anpassungsqualifizierung genannt. Im Gesetzent-wurf ist davon praktisch nicht mehr die Rede. Es stellensich folgende Fragen: Wer bietet sie an? Wer finanziertsie? Wie wird es den Leuten ermöglicht, sie tatsächlichin Anspruch zu nehmen? Auch das ist eine Leerstelle imGesetzentwurf.Weiterhin sind in Ihrem Eckpunktepapier Unterstüt-zungsangebote zur Verbesserung der Qualität und bun-desweiten Vergleichbarkeit der Bewertungen aufgeführt.Völlig richtig, das ist natürlich ein wichtiger Punkt. Esdarf kein Lotteriespiel sein, ob ein Abschluss anerkanntwird oder nicht. Es darf nicht vom Wohnsitz abhängen,weil regional unterschiedliche Stellen zuständig sind, obein Abschluss anerkannt wird. Auch das ist im Gesetz-entwurf nicht genügend geregelt.Im Eckpunktepapier wird auch von Mehrkosten ge-sprochen, die die erfolgreiche Durchsetzung dieses Ge-setzes mit sich bringe, wenn man die Anerkennung rich-tig umsetzen möchte. Im Gesetzentwurf ist die ganzeZeit von Kostenneutralität die Rede. Es ist doch sogarso, dass Sie an anderer Stelle massive Einsparungen undKürzungsmaßnahmen im Bereich der aktiven Arbeits-marktpolitik vorsehen. Das reicht nicht aus, um diesesAnerkennungsgesetz tatsächlich zum Erfolg zu führen.eEdGkBmbdinruwdbzrüfuMaudqbgNbudGekbzsWwD
Ich will nicht missverstanden werden: Dieser Gesetz-ntwurf ist nicht falsch.
r enthält in der Tat auch einige Verbesserungen. Aberas ist nicht genug. Es ist vollkommen klar, dass diesesesetz so nicht zu einem Erfolg führen kann. Es wird soeinen entscheidenden Beitrag zur Integration und zurekämpfung des Fachkräftemangels leisten. Deswegenuss der Gesetzentwurf nachgebessert werden.Die SPD-Fraktion – ich habe es schon gesagt – hatereits im Dezember 2009 Vorschläge gemacht. Aucher Bundesrat hat Vorschläge vorgelegt. Wir treten jetzt die Beratungen ein und setzen darauf, dass die Regie-ngskoalition diese Beratungen ernst nimmt. Wirerden im Ausschuss eine Sachverständigenanhörungurchführen. Ich glaube, dass eine ganze Menge an Ver-esserungsvorschlägen gemacht werden wird. Wir set-en darauf, dass dann das eine oder andere von Ihnen be-cksichtigt wird, damit die Anerkennung in Zukunftnktioniert.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Heiner Kamp für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!eine Damen und Herren! Wer was gelten will, mussndere gelten lassen. – Diesen Grundsatz haben FDPnd Union beherzigt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt,ie Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufs-ualifikationen erheblich zu erleichtern.Natürlich haben auch schon Vorgängerregierungenemerkt, dass etwas schiefläuft, wenn im Ausland aus-ebildete Ärzte nur fachfremd eine Betätigung finden.atürlich hat man die fehlende Flexibilität unseres Ar-eitsmarktes beklagt und über die Barrieren innerhalbnseres Ausbildungssystems lamentiert. Der entschei-ende Unterschied insbesondere zu den von SPD undrünen getragenen Vorgängerregierungen ist, dass wirs nicht bei Wehklagen belassen haben. Mit dem Aner-ennungsgesetz haben wir tatsächlich etwas zuwege ge-racht, das sich sehen lassen kann.
Das hat seinen Grund. Die FDP ist der festen Über-eugung, dass Arbeit und Beschäftigung der beste Impf-toff gegen Isolation und Parallelgesellschaften sind.ir müssen Menschen, die zu uns gekommen sind, et-as gelten lassen, um mit Goethes Worten zu sprechen.enn dann kommen sie tatsächlich in Deutschland an.
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13748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Heiner Kamp
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Dann finden sie bei uns eine neue Heimat. Arbeit alsIdentifikations- und Integrationsfaktor Nummer einskann diesbezüglich Wunder wirken.Doch das Anerkennungsgesetz beschränkt sich kei-neswegs darauf, die Folgeschäden einer jahrzehntelangfehlgeleiteten Integrationspolitik zu beheben. Es kon-zentriert sich beileibe nicht nur auf die bereits bei uns le-benden Mitbürger. Nein, das Anerkennungsgesetz öffnetauch ausländischen High Potentials, Leistungsträgernund Qualifizierten, die ihre Chance in Deutschland nut-zen wollen, die Tür zu unserem Land. Mit diesem Gesetzwird Deutschland weltoffener, internationaler und dyna-mischer.Das Anerkennungsgesetz ermöglicht es Ärzten, Kran-kenschwestern, Altenpflegern, aber auch Wirtschaftsprü-fern, noch im Ausland die vorhandenen Abschlüsse anden deutschen Referenzausbildungen und -berufen mes-sen zu lassen, und erleichtert ihnen damit den Schritt inRichtung des deutschen Arbeitsmarktes. Dass wir dieseFrischzellenkur an Fachkräften dringend benötigen, istmittlerweile auch in die letzten Winkel der Republik ge-drungen.Der demografische Wandel zwingt uns dazu, unserePforten zu öffnen. Gerade diese Woche haben wir dieMeldung erhalten, dass im Bereich von Industrie undHandel 40 000 Lehrstellen unbesetzt sind. Das sind25 Prozent mehr als im letzten Jahr. Selbst in beliebtenAusbildungsberufen wie Mechatroniker oder Bankkauf-mann fehlen schon jetzt Bewerber. Es muss uns dochwachrütteln, wenn uns trotz Wehrpflichtaussetzung unddoppelter Abiturjahrgänge die Bewerber ausgehen.Wir legen ganz klar den Schwerpunkt auf die Aus-schöpfung des inländischen Potenzials. Hier müssen wiralle Reserven aktivieren. Mit dem gelungenen Fachkräf-tekonzept der Bundesregierung und vernetzten Maßnah-men wie der erfolgreichen Einstiegsqualifizierung undden Bildungsketten beschreiten wir den richtigen Weg.Aber ohne qualifizierte Zuwanderung werden wir unsnicht retten können. Andere Länder haben bereits dieNase vorn. Wir können es uns nicht leisten, gut ausgebil-dete Menschen an uns vorbeiziehen zu lassen. Wir müs-sen auf Deutschland als attraktives Ziel aufmerksammachen. Wir müssen den roten Teppich ausrollen. Wirmüssen schließlich dankbar sein, wenn die Menschenbei uns arbeiten möchten und dafür in ihrer Heimat eini-ges aufgeben.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt demArbeitsauftrag der Koalitionsfraktionen Rechnung. Wirschaffen erstmals einen Rechtsanspruch auf ein Aner-kennungsverfahren. Was zunächst seltsam klingt, ist einechter Paradigmenwechsel: Nach einheitlichen Kriterienund in einem einheitlich geregelten Verfahren wird fürdie vom Gesetz erfassten Berufe geprüft, ob die im Aus-land erworbene Qualifikation mit unserer heimischengleichwertig ist.Ein weiterer wichtiger Wegepunkt ist die Aufhebungder Kopplung von Berufsausübung und Zugang zum An-erkennungsverfahren an die Staatsangehörigkeit, die esbislang bei einigen Berufen gab. Damit ist im GroßenurudwtiliinAewMVdWxwlareleAfükgDgztewledtiwkAbtestuAdhLMT
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13749
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aus China gehofft haben, mit dem neuen Anerkennungs-gesetz endlich ihre Berufsabschlüsse hier in Deutschlandanerkennen zu lassen, dann haben sie alle Pech gehabt.
Das Gesetz bezieht nur Berufe ein, die bundeseinheitlichgeregelt sind.
Abschlüsse, für die die Bundesländer zuständig sind,und Schulabschlüsse werden nicht berücksichtigt. Auchwer älter als 55 Jahre ist und wer den Berufsabschlussvor mehr als zehn Jahren gemacht hat, hat keine Chanceauf Anerkennung. Sagen Sie mir: Wie soll sich ein An-tragsteller bei diesem Wirrwarr aus Länder- und Bundes-recht sowie vielen anderen Bedingungen noch zurecht-finden?
Der Dschungel aus Zuständigkeiten ist insgesamt nochgrößer geworden, obwohl die Bundesregierung immervermittelt hat, ein transparentes und schlankes Anerken-nungsverfahren für alle etablieren zu wollen. Das ist ge-scheitert.Ich hatte von diesem Gesetz erwartet, dass Begleitungund Unterstützung für die Betroffenen, also die Beratungbei dem Anerkennungsverfahren, auf jeden Fall gesi-chert sind. Doch weit gefehlt! Das Gesetz sieht keinekontinuierliche Beratung vor. Dies hat auch der Bundes-rat im Mai umfänglich kritisiert. Wer gedacht hat, dass indiesem Gesetz das Recht auf Nachqualifizierung, dassman also noch einzelne Teile einer Ausbildung für eineAnerkennung nachholen kann, festgeschrieben wird unddie Vorschriften dazu sucht, der muss sich das Gesetzganz genau anschauen. Nachqualifizierungen für Berufe,über die eine staatliche Stelle entscheidet, sind noch auf-geführt. Aber bei den Ausbildungsberufen, über die dieKammern entscheiden, taucht die Nachqualifizierungnoch nicht einmal im Gesetz auf. Ich finde es einfach er-staunlich, welchen Beitrag die Bundesregierung hierleistet, um Fachkräfte zu sichern.
Eines steht fest: Ohne Beratung und Nachqualifizierungwird dieses Gesetz für die Betroffenen wirkungslos blei-ben.
Im Wesentlichen sollen die Kammern darüber ent-scheiden, ob die Berufsabschlüsse anerkannt werden.Die Bundesregierung meint, dass die Kammern an denInhalten näher dran sind und diese Lösung kostengünsti-ger sei.
Ich gebe zu bedenken, dass die Kammern, die sehr nahan der Ausbildung dran sind und weit ins Detail gehen,möglicherweise keine Lösung für all die Abschlüsse ausawdEsDtrDzulissKGbüMBgMihzmSBDGbleZzmrerutipd
ine gibt es schon lange: die Zentralstelle für ausländi-ches Bildungswesen.
as würde sich auch für die Betroffenen rechnen. Die Zen-alstelle erhebt Gebühren zwischen 100 und 200 Euro.ie Kammern planen mit kostendeckenden Gebührenwischen 1 000 und 5 000 Euro für jeden Antrag. Fürns ist wichtig: Das Recht auf Anerkennung muss mög-chst viele erreichen. Deshalb muss es gebührenfreiein.
Halten wir noch einmal fest: Bei vielen Berufsab-chlüssen entscheiden allein die Arbeitgeber bzw. dieammern über die Anerkennung. Das erklärte Ziel desesetzes ist ausschließlich die bessere Nutzung der Ar-eitskraft für den deutschen Arbeitsmarkt. Kein Wortber die Bedeutung der Anerkennung für die betroffenenenschen! Das ist wieder einmal typisch für unsereundesregierung.
Aus meiner Sicht hat die Bundesregierung die Auf-abe, ein Anerkennungsgesetz zu verabschieden, das dieenschen mit ihren Abschlüssen, ihren Leistungen undren Kompetenzen anerkennt, ihre rechtliche und so-iale Gleichstellung gewährleistet, sie endlich willkom-en heißt und ihnen Perspektiven aufzeigt. Das habenie bisher noch nicht geschafft.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion
ündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenamen und Herren! Herr Staatssekretär Braun hat denesetzentwurf mit einem einzigen Satz eigentlich schoneschrieben: Wir gehen nicht den einfachen Weg. – Al-rdings! Anstatt allen gut qualifizierten Personen einenugang zu einem einheitlichen Anerkennungsverfahrenu eröffnen, ist dieser Gesetzentwurf ein Flickenteppichit vielen unterschiedlichen, undurchschaubaren undstriktiven Regelungen geworden.
Mit diesem Gesetzentwurf bleibt die Bundesregie-ng bei weitem hinter ihrer Ankündigung, die Integra-on durch eine transparente und einfache Anerkennungs-raxis zu fördern, zurück. Das verwundert nicht beiieser Regierung, die sich auch ansonsten weigert, die
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13750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Memet Kilic
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Situation für ausländische Fachkräfte in Deutschland zuverbessern. Dass sich die Bundesregierung nur zuwachsweichen Regelungen durchringen konnte, lässtsich schon nach der Lektüre von § 1 des Berufsqualifika-tionsfeststellungsgesetzes erahnen. Während im Refe-rentenentwurf der Zweck des Gesetzes noch lautete, denBetroffenen eine „adäquate“ Beschäftigung zu ermögli-chen, ist im Gesetzentwurf nur noch die Rede von einer„qualifikationsnahen“ Beschäftigung. Frau Schavan willangeblich verhindern, dass der vielzitierte Arzt Taxifährt. Wenn der Arzt in der Praxis aber nur die Möglich-keit erhält, für ein niedriges Gehalt als Krankenpflegerzu arbeiten, wird er womöglich das Taxifahren bevorzu-gen.Das Hauptproblem dieses Regelwerks ist aber nichtdas Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz. Dieses ent-hält tatsächlich einige positive Ansätze; sie wurdenheute schon beschrieben. Die mangelnde Transparenzund Einheitlichkeit der Verfahren folgen im Wesentli-chen daraus, dass die allgemeinen Regelungen desBerufsqualifikationsfeststellungsgesetzes nur gelten, so-fern die berufsrechtlichen Regelungen nichts anderes be-stimmen – aber sie bestimmen anderes.In vielen Gesetzen wie der Bundesrechtsanwaltsord-nung, der Bundesärzteordnung oder dem Krankenpfle-gegesetz wird das Berufsqualifikationsfeststellungsge-setz sogar pauschal für unanwendbar erklärt. Dadurchwerden entscheidende Fortschritte verhindert. Zum ei-nen wird bei manchen Berufen, wie dem Arztberuf, beiDrittstaatsabschlüssen kein Anpassungslehrgang odereine Defizitprüfung verlangt, sondern immer eine Voll-prüfung. Es ist überhaupt kein Grund ersichtlich, warumnicht auch hier eine gezielte Beseitigung der Defizite dasZiel sein soll.Zum anderen wird die Anerkennung vergleichbarerBerufe unterschiedlich geregelt. Die Bundesregierung istoffenbar nur bereit, in denjenigen Bereichen großzügigeAnerkennungsregelungen einzuführen, in denen ein er-höhter Bedarf an Fachkräften besteht. Ziel ist also dieWahrung rein wirtschaftlicher Interessen und nicht dieIntegration und Gewährleistung der Entfaltungsmöglich-keiten der gut ausgebildeten Bürgerinnen und Bürger.Das ist Egoismus und Missachtung zugleich.
Vier wesentliche Bereiche hat die Bundesregierungganz außer Acht gelassen:Erstens. Es ist völlig ungenügend, dass die Betroffe-nen keinen Anspruch auf Beratungen und Begleitungwährend des Anerkennungsverfahrens erhalten.Zweitens. Die Angebote für passgenaue Anpassungs-qualifizierungen und berufsbezogenes Deutsch müssendringend ausgebaut werden. Wer dafür sorgt und wie dasgeschehen soll, ist bisher völlig offen.Drittens. Der Gesetzentwurf gibt keine Antwort aufdie Frage, wer künftig für Qualitätssicherung, Einheit-lichkeit und Fairness bei den Anerkennungsverfahrensorgen soll.dnzGnagCKbtiugFhimraLDdhdmdBasvbn
Zweitens gehört zur Richtigstellung dazu, dass dieäufig gepriesene Regierung der Großen Koalition
Vergleich zur Regierung der jetzigen christlich-libe-len Koalition schlichtweg administrativ nicht in derage war, ein solches Gesetz rechtzeitig vorzulegen.iese Regierung hat es im Kreuz, und deswegen liegtas Gesetz jetzt auch vor.
Noch einmal: Sie hatten elf Jahre Zeit. Die Grünenatten auch einige Jahre Zeit. Im Übrigen: Um die Be-eutung der Grünen bei diesem Thema einmal präsent zuachen: Zur Halbzeit der Debatte hier ist von den or-entlichen Mitgliedern der Grünen im Ausschuss fürildung und Forschung einzig Kai Gehring anwesend;lle anderen ordentlichen Mitglieder der Grünen in die-em Ausschuss sind gar nicht da.Noch einmal: Sie hatten elf Jahre Zeit. Fakt ist, dassiele darüber reden, aber wir es machen.Herr Kollege Schulz, Sie hatten in einer Ihrer Redeneispielsweise die Forderung erhoben, nach sechs Mo-aten müsse das Verfahren abgeschlossen sein. Wir
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13751
Albert Rupprecht
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übertreffen Sie. Nach unseren Vorstellungen soll es nachdrei Monaten abgeschlossen sein.
Wenn Sie Ihre früheren Forderungen mit dem verglei-chen, was wir jetzt beschließen wollen, wäre es durchausfair, anzuerkennen, dass wir in einigen Punkten Ihre Vor-schläge übererfüllen.
Das Anerkennungsgesetz ist ein Riesenschritt in Rich-tung von mehr Integration, in Richtung von mehr qualifi-zierten Fachkräften in Deutschland und – das ist auchwichtig – in Richtung von weniger Lasten für unsere so-zialen Sicherungssysteme. 16 Millionen Menschen mitMigrationshintergrund leben in Deutschland. Viele dieserBürgerinnen und Bürger sind gut ausgebildet, qualifiziertund gut integriert, sogar hervorragend integriert. Nichts-destotrotz sind es noch ein paar zu viel, deren Potenzialebrachliegen.Das Anerkennungsgesetz ist nicht nur ein strukturellbedeutendes Gesetz. Ich bin der Meinung, dass es durch-aus das Label verdient, dass es in der Integrationspolitikein historischer Schritt ist.
Was wir vorschlagen, führt nicht dazu, dass das hohe Ni-veau der Abschlüsse in Deutschland – das war uns alsUnionsfraktion ein großes Anliegen – gesenkt wird. Wirmachen keine, wie Frau Sager es immer wieder einge-fordert hat, individuelle Kompetenzfeststellung, bei derman seitenweise hochkomplexes Material von Fachleu-ten bekommt, das kein Unternehmer beurteilen kann,was letztendlich im Ergebnis dazu führt, dass unser ho-hes Qualitätsniveau in Deutschland gesenkt wird. Wirvergleichen die vorhandenen Qualifikationen mit denhohen deutschen Qualifikationen.
Das ist der Bewertungsmaßstab. Das ist er, und dasbleibt er, weil wir wollen, dass das hohe deutsche Ni-veau gehalten wird.
Das Anerkennungsgesetz ist darüber hinaus auchhandwerklich sehr gut gemacht.
Es ist keine banale Geschichte, sondern es ist ein hoch-komplexes Gesetz und betrifft 60 Berufsgesetze undVerordnungen – viele Ministerien sind involviert –, eineVielzahl von Berufsgruppen mit eigener Historie und ei-genen Traditionen, 350 Ausbildungsberufe. Im BereichdSBDkriinisriWongzbzswhUmAWEvpfadfunpDdspwHNrud
Dass es viele Diskussionen braucht, dass es auch einetensive Abstimmung mit den Betroffenen braucht,
t richtig und notwendig. Diese Arbeit hat das Ministe-um, wie ich finde, in exzellenter und hervorragendereise gemacht.
Die Abstimmung mit den Ländern war sehr sach-rientiert und in den allermeisten Bereichen einver-ehmlich. Es gibt nur wenige Punkte, bei denen nochrundsätzliche Fragen offen sind. Darüber hinaus gibt esu Detailregelungen, was das Operative und den Vollzugetrifft, noch Gesprächsbedarf. Aber von den Grundsät-en her ist das Allermeiste inzwischen einvernehmlich.
Deswegen ein Dankeschön und Gratulation an Staats-ekretär Braun, der mit seinen Mitarbeitern im Hauseirklich eine intensive und exzellente Arbeit geleistetat.
Ein Dankeschön auch an die Kammern, die bei dermsetzung eine Schlüsselrolle spielen. Auf die Kam-ern kommt in den nächsten Monaten eine bedeutendeufgabe zu. Wir werden nichtsdestotrotz das komplexeerk im parlamentarischen Verfahren genau überprüfen.s gibt durchaus ernstzunehmende Anliegen der Berufs-erbände. Dabei muss klar sein, dass es nicht um Grup-en, Partialinteressen und Willkür geht, sondern dassire, sachliche und nachvollziehbare Prinzipien im Vor-ergrund stehen.Strittig ist beispielsweise die Frage der Defizitprü-ng. Ist sie ausreichend, oder ist die Kenntnisprüfungotwendig? Wir sind der Meinung, dass die Kenntnis-rüfung faktisch eigentlich bedeutet, dass die Prüfung ineutschland noch einmal vollzogen werden müsste, wo-urch im Grunde die Türen geschlossen werden. Darumollte die Defizitprüfung die Regel sein. Die Kenntnis-rüfung darf nur die absolute Ausnahme bilden. Wirerden uns insbesondere den Bereich der Heilberufe iminblick darauf noch einmal genau anschauen.
Als letzten Aspekt nenne ich den Rechtsanspruch aufachqualifizierung. Natürlich wird es Nachqualifizie-ngen geben. Der Bedarf wird vorhanden sein, wenner Abschluss nicht anerkannt ist. Bildungsträger wer-
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Albert Rupprecht
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den entsprechende Angebote machen. Das ist zu erwar-ten, aber das wird sich automatisch regeln.
Die Frage ist, wer das Ganze bezahlt.
Hier gilt dasselbe, was für andere Bürger in Deutschlandauch gilt: Wer bedürftig ist, kann auf die laufenden Pro-gramme – beispielsweise der Arbeitsmarktpolitik – zu-greifen.
Wer nicht bedürftig ist, muss die Kosten aus eigener Ta-sche zahlen. Eines geht aber nicht: dass wir für ausländi-sche Bürger einen Rechtsanspruch kreieren, der für deut-sche Bürger nicht gilt. Wer eine solche Forderung fürAusländer erhebt, diskriminiert letztendlich Inländer.Das ist mit uns nicht zu machen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Den Rest heben wir uns auf für die zweite und die
dritte Lesung.
Danke schön.
Das Wort hat nun Daniela Kolbe für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Damen und Herren! Herr Rupprecht, daSie sich ein bisschen über die viele Kritik beschwert ha-ben, will ich zunächst einmal mit dem Positiven begin-nen: Die Regierung hat bei diesem Thema Kurs gehal-ten. Ich nehme Ihnen durchaus ab, dass Sie sich einBerufsqualifikationsanerkennungsgesetz – sogar ein gu-tes – zum Ziel gesetzt haben. Dass Sie Kurs gehalten ha-ben, ist, wie ich finde, bei dieser Regierung bemerkens-wert, angesichts von Volten bei der EU-Politik undPirouetten in der Energiepolitik.
Darum lohnt es sich, das einmal positiv hervorzuheben,zumal wir den Kurs auch unterstützen.
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Es ist vollkommen unklar, wie Sie die Gleichwertig-eit von Verfahren erreichen wollen. Ein Beispiel ist dasnerkennungsverfahren für einen Kfz-Mechatroniker inerlin oder in Bayern. Es ist nicht erkennbar, wie Sie dieleichwertigkeit erreichen und das Verfahren nicht zuiner Lotterie werden lassen wollen,
obei die Chance auf Anerkennung davon abhängt, woan wohnt. Vollkommen unklar ist auch, wer das Wis-en sammelt. Wissensmanagement ist überhaupt keinhema in diesem Gesetzentwurf. Das klingt ganz ein-ch: Die eine Kammer sammelt Informationen über dieinen Berufe und die andere über die anderen. Wennan aber genauer hinschaut, stellt man fest, dass es sehriele Länder auf dieser Welt gibt, in denen Kfz-Mecha-oniker ausgebildet werden. Die zuständige Kammeruss wissen, was die berufliche Ausbildung in jedeminzelnen Land beinhaltet, und zwar nicht nur heute,ondern auch vor 5, 10 oder 15 Jahren.
anche Länder gab es vor 15 Jahren noch gar nicht.
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Daniela Kolbe
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Das ist wirklich eine knifflige Aufgabe. Zum ThemaWissensmanagement steht nichts im Gesetz. Von Ihnenhöre ich nur, dass das Wirtschaftsministerium Datensammeln soll. Ich finde, das ist ungenügend.Größtes Problem ist aber die Prämisse, die hinter demGesetzentwurf steht: Es darf nichts kosten. Ich glaube,das wird an vielen Stellen ein Problem werden. Ichgreife ein Problem heraus: Viele Antragsteller werdeneine Gleichwertigkeitsbescheinigung nicht bekommen.
– Das habe ich in Gesprächen mit Fachleuten erfahren.
Ich bin jetzt einmal sehr optimistisch und sage: JederDritte bekommt eine Gleichwertigkeitsbescheinigung.Wenn Sie sagen wollen, dass das mehr sind, dann mel-den Sie sich bitte zu einer Zwischenfrage. Ich finde, ichbin optimistisch, wenn ich von jedem Dritten ausgehe.
Das bedeutet, dass zwei Drittel der Antragsteller ohneGleichwertigkeitsanerkennung dastehen. Was ist mit de-nen? Sie sollen eine Anpassungsqualifizierung machen.Wo finden die denn statt?
In Ihrem Fachkräftekonzept schreiben Sie: VerbesserteAngebote für Anpassungs- und Ergänzungsqualifikatio-nen zur vollen Arbeitsmarktintegration bei nur teilweisenachgewiesenen Qualifikationen bilden eine Herausfor-derung, der sich alle stellen müssen. – Das Gesetz stelltsich dieser Herausforderung aber überhaupt nicht. Werbezahlt das denn?
Wo kommen die Maßnahmen her? Wie ermöglicht manes dem Taxifahrer, der entsprechend seiner Qualifikationarbeiten will, seinen Lebensunterhalt in der Zeit derQualifikationsmaßnahme zu bestreiten? Wer bietet ihmeine realistische Möglichkeit, die Qualifizierungsmaß-nahme anzutreten? Ich sehe die große Gefahr, dass Siedie Erwartungen, die Sie geweckt haben, enttäuschenwerden.
Die Schnecke ist auf dem richtigen Weg. Sie ist auchin die richtige Richtung unterwegs. Wir freuen uns, dasssie auf dem Weg ist. Ich glaube aber, dass noch viel zutubrudnwaTSdZZ
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenuf den Drucksachen 17/6260 und 17/6271 an die in deragesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.ind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlicher Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun die Zusatzpunkte 17 bis 19 auf:P 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten ManuelSarrazin, Priska Hinz , Fritz Kuhn, wei-terer Abgeordneter sowie der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENzu den Legislativvorschlägen der Europäi-schen Kommission „Wirtschaftspolitische Steue-
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3des GrundgesetzesBundesregierung muss unverzüglich euro-päisch gestalten– Drucksache 17/6316 –P 18 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus,Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEzu dem Vorschlag für eine Verordnung
Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verord-nung Nr. 1467/97 über die Beschleuni-gung und Klärung des Verfahrens bei einemübermäßigen Defizit– Ratsdok.-Nr. 14496/10 –zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Ratesüber die Anforderungen an die haushaltspoli-tischen Rahmen der Mitgliedstaaten– Ratsdok.-Nr. 14497/10 –zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates über diewirksame Durchsetzung der haushaltspoliti-schen Überwachung im Euro-Währungsgebiet– Ratsdok.-Nr. 14498/10 –zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates zur Än-derung der Verordnung Nr. 1466/97 überden Ausbau der haushaltspolitischen Überwa-
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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chung und der Überwachung und Koordinie-rung der Wirtschaftspolitiken– Ratsdok.-Nr. 14520/10 –hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3des Grundgesetzes– Drucksachen 17/5904, 17/6168 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider
Otto FrickeRoland ClausPriska Hinz
ZP 19 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht,Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEzu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro-päischen Parlaments und des Rates überDurchsetzungsmaßnahmen zur Korrekturübermäßiger makroökonomischer Ungleich-
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro-päischen Parlaments und des Rates über dieVermeidung und Korrektur makroökonomi-
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3des Grundgesetzes– Drucksachen 17/5905, 17/6175 –Berichterstattung:Abgeordneter Garrelt DuinNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höreich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile KollegenManuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Wir Grüne beantragen heute, dass dieBundesregierung den Weg freimacht. Das ist ein biss-chen ungewöhnlich. Normalerweise wirft man uns vor,die Dagegen-Partei zu sein. In dieser historischen Situa-tion, in der die Europäische Union eine kleine Revolu-tion machen will – so beschrieben es manche Publizistenletztes Jahr –, indem sie einen Schritt in Richtung einerstärkeren wirtschaftspolitischen Koordinierung geht,wodurch wir Europa gemeinsam voranbringen können,sind die Rollen plötzlich vertauscht. Auf dieser Seite desHauses sitzen die Dagegen-Koalition und die Dagegen-Regierung.hSpqvdsHegdmwreWtearasTGksElafochInpsreamMsRpteSeGnws
Worum geht es? Ein Jahr lang habe ich von Ihnen ge-ört – das haben Sie auch mehrfach beschlossen –, dassie bei Verstößen gegen den Stabilitäts- und Wachstums-akt automatische Sanktionen wollen. Sie wollen dieuasi-automatische Mehrheit. All diese Punkte höre ichon Ihnen seit einem Jahr. Sie haben Ihre Regierungazu aufgefordert. Doch was ist vor zwei Wochen pas-iert? Die Bundeskanzlerin kam von einem Treffen miterrn Sarkozy wieder, auf dem sie genau diesen Punktingestampft hat, und zwar nicht, weil alle in Europa da-egen wären. Das Europäische Parlament hat darauf ge-rungen, diese Stärkung des Stabilitätspaktes zu bekom-en, die von Deutschland jetzt in den Orkus geschüttetird. Verkehrte Welt!
Mit welcher Begründung machen Sie das? Sie erklä-n uns: Wir müssen verhindern, dass in der künftigenirtschaftsregierung bei den Indikatoren im sogenann-n Scoreboard ein symmetrischer Ansatz herrscht,
nsonsten würde Europa Deutschland die Exportkraftuben und – böse, böse – dafür sorgen, dass unser Auf-chwung nicht mehr stattfindet. Sie haben mit diesemhema einen Popanz aufgeblasen.
lauben Sie wirklich, dass die Europäische Kommissionein Interesse daran hat, dass sich Deutschland wirt-chaftlich verbessert? Oder haben Sie Angst, dass dieuropäische Kommission aufschreibt, wo auch Deutsch-nd noch besser werden kann, und versucht, dies einzu-rdern, damit wir in ganz Europa endlich zu ausgegli-henen Leistungsbilanzen kommen? Diesen Popanzaben Sie aufgeblasen. Jetzt verticken Sie das deutscheteresse an einem stärkeren Stabilitäts- und Wachstums-akt, um einen Popanz zu retten. Das ist wirklich einchwaches Stück dieser Dagegen-Regierung.
Dieses Thema ist aber auch eine Gelegenheit, über Ih-n Stil zu reden. Das Europäische Parlament hat sichuf eine Position verständigt. Das Europäische Parla-ent hat Vorschläge vorgelegt, um die umgekehrteehrheit und die Symmetrie zu erreichen. Der Rat hatich auf etwas verständigt. Verschiedene Positionen imat sind ausgehandelt worden. Alle in Europa, das Euro-äische Parlament mit dem ganzen Haus und der Rat un-r ungarischer Ratspräsidentschaft mit allen anderentaaten, haben sich auf einen Deal geeinigt, der jedemtwas gibt, aber auch jeden etwas kostet.Dann kommt die Bundesregierung mit der Haltung:anz oder gar nicht, wir kriegen alles, sonst machen wirichts. Dies machen Sie, obwohl Sie genau wissen, wieichtig in der jetzigen Situation eine Stärkung der wirt-chaftspolitischen Überwachung und des Stabilitäts- und
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Manuel Sarrazin
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Wachstumspakts ist. Mit dieser Art, hinter der sich wie-der Ihre Unionsmethode versteckt, verhindern Sie Lö-sungen in der Europäischen Union. So funktioniertEuropa nicht.
In unserem Antrag geht es nicht darum, dass Sie ge-gen die Prüfung in Bezug auf Euro-Bonds und gegen dieEinführung eines delegierten Rechtsaktes waren; es gehtnicht um alles, bei dem Sie dagegen waren. Es geht umdie zwei entscheidenden Punkte, die jetzt noch auf demTisch liegen. Gerade meine Kollegen von der FDP wer-den zumindest einem dieser Punkte zustimmen müssen;denn im Moment droht es gerade Ihrer Fraktion im Euro-päischen Parlament, von dieser Regierung an der Naseherumgeführt zu werden.Seit einem Jahr rennen Sie mit Forderungen herum.Sie beschließen diese mehrfach hier im Haus. Jetztplötzlich werden von der Regierung rechtliche Bedenkenvorgetragen. Geben Sie es einfach zu: Die Dagegen-Re-gierung hat es verditscht und möchte das hier nicht zuge-ben. So funktioniert das nicht.Danke sehr.
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Als ich den Antrag der Grünen „Bundes-regierung muss unverzüglich europäisch gestalten“ las,habe ich mich sehr gewundert. Der Antrag ist in einerSprache geschrieben, die nicht unbedingt an ein Doku-ment des Deutschen Parlamentes erinnert.
Es scheint so, als wollten Sie um Ihren Antrag unbedingteinen Popanz aufbauen; aber darauf möchte ich jetztnicht näher eingehen.Zum Inhalt: In Ihrem Antrag behaupten Sie, die Bun-desregierung würde die haushalts- und wirtschaftspoliti-sche Steuerung in der EU blockieren. Sie kritisieren– das haben Sie jetzt noch einmal deutlich dargelegt –die von der Bundesregierung vertretene Auffassung zurwirtschaftspolitischen Überwachung. Es ist schon aben-teuerlich, wenn Sie der Bundesregierung Verzögerungbei der Durchsetzung von Maßnahmen des Stabilitäts-und Wachstumspaktes vorwerfen. Das Legislativpaketder Kommission zur Stärkung des Wachstumspaktes,welches Sie in Ihrem Antrag ansprechen, also das soge-nannte Sixpack, wurde auf dem Europäischen Rat imMärz 2011 bestätigt mit der Zielrichtung, auf dieser Ba-sis die Gespräche mit dem EU-Parlament zu beginnen.Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.ameEmsdtibdadasbLknsSdvsabwstesIcmDdwsudDdB
h bitte Sie, das einfach einmal zur Kenntnis zu neh-en.
ann verbessert sich nämlich für die schwächeren Län-er nichts, rein gar nichts. Das wäre ungefähr so, alsenn Sie den beiden deutschen Fußballnationalmann-chaften vorschlagen würden, sie sollten Birgit Prinznd Philipp Lahm aus der Mannschaft herausnehmen,ann gehe es den Mannschaften anderer Länder besser.as kann es nicht sein.
Der sogenannte symmetrische Ansatz, der im Antrager Grünen vorgeschlagen wird, wird daher von derundesregierung zu Recht abgelehnt.
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Bettina Kudla
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Dieser Ansatz würde eine Schwächung der EU insge-samt bedeuten, wenn ein Teil der Staaten sich auf einemniedrigeren wirtschaftlichen Niveau befindet.Ich wiederhole: keine Nivellierung der Wettbewerbs-fähigkeit von Staaten, sondern Orientierung an der Wett-bewerbsfähigkeit der Besten. Sie können doch nichternsthaft wollen, dass die Wirtschaft in Deutschlandschwächer wird. Wollen Sie das den Menschen sagen?Und wollen Sie vielleicht noch hinzufügen: „Verliertmöglichst in Deutschland eure Arbeitsplätze“?Übrigens: Vor einigen Wochen haben sich im Han-delsblatt zwölf namhafte Professoren zur aktuellenEuropapolitik unter dem Titel „Zwölf gegen Merkel“geäußert. Dem Titel können Sie entnehmen, dass dieWissenschaftler der Bundesregierung nicht unbedingtfreundlich gesonnen waren. Einer der Professoren aberstellte Folgendes fest:Da es keine schlechten Standorte gibt, sondern nurfalsche Wirtschaftsstrukturen, sind solche Faktorenzu analysieren, die Fehlanpassungen begünstigen.Viele– insbesondere die Grünen; das gehört allerdings nichtzum Zitat –
fixieren sich auf außenwirtschaftliche Ungleichge-wichte. Aber: Außenhandelsüberschüsse sind auchAusdruck von Arbeitsteilung und Entwicklungssta-tus. Gleiches gilt für Sparquoten …Deutschland ist nun einmal ein hochtechnisiertes Ex-portland. Die Regierungsfraktionen setzen sich dafürein, dass dies auch so bleibt. Deutschland kann struktu-rell in einer globalisierten Welt durchaus weiterhin einenLeistungsbilanzüberschuss haben.
– Doch.
Und nun zu den Anträgen der Linken. Diese Anträgewenden sich gegen den Stabilitäts- und Wachstumspaktan sich. Das ist nicht nachvollziehbar. Wenn es Problemegibt, muss man sich mit den Ursachen auseinanderset-zen. Unsolide Haushaltspolitik und fehlende Wettbe-werbsfähigkeit sind die Ursachen der Verschuldung vonStaaten. Folglich müssen diese Ursachen beseitigt wer-den. Das wird aber nur gelingen durch solide Haushalts-politik, gepaart mit Maßnahmen zur Verbesserung derWettbewerbsfähigkeit. Schließlich heißt es ja „Stabili-täts- und Wachstumspakt“, beides ist genannt. Dazu ge-hören auch ein wettbewerbsfähiges Lohnniveau und guteRahmenbedingungen, damit die Löhne entsprechendsteigen können.Die Einführung der Schuldenbremse hat sich inDeutschland bewährt. Sie sollte auch in den Verfassun-gen anderer Länder verankert werden. Ich finde es kon-traproduktiv, dass Sie hier zentrale Forderungen, die dieBreInssCsdbDleInGeksWawdeKsstiwBabAWFSSnd
as haben wir in der jüngsten Vergangenheit allzu oft er-bt.
sofern bin ich den Kolleginnen und Kollegen von denrünen für ihren Antrag ausgesprochen dankbar.
In Sonntagsreden spielt die Wirtschaftskoordinationine ganz zentrale Rolle. Es dürfte keinen Politiker undeine Politikerin geben, der bzw. die nicht immer wiederagt: Jetzt müsste koordiniert werden; das ist überfällig.ie es konkret in der Praxis ausschaut, darüber wirdber zu Recht gestritten. Dass Sie das nicht gerne hören,eiß ich. Dennoch sollte man Ihnen den einen oder an-eren Hinweis ins Stammbuch schreiben.
Die Krise ist sicherlich maßgeblich verursacht durchine unzureichende, nicht vorhandene Regulierung bzw.ontrolle unserer Finanzmärkte. Die Ursachen findenich aber auch in fehlender Koordination der Wirt-chafts-, der Haushalts-, der Finanz- und der Sozialpoli-k. Das greift tief in nationale Souveränitäten ein. Des-egen ist es gut, dass wir diese Diskussion heute hier imundestag führen, auch wenn ich sie mir zu einer etwasttraktiveren Zeit gewünscht hätte.Der Ansatz der Kommission, das sogenannte Sixpackzw. die Rehn-Vorschläge, ist im Grundsatz richtig.ber eine alleinige Verschärfung des Stabilitäts- undachstumspaktes führt doch in die Irre. Ich bitte Sie,rau Kudla, und Ihre Kolleginnen und Kollegen um eintück mehr Realitätssinn. Die gegenwärtige Krise, dietaatsschuldenkrise in der Europäischen Union, haticht in allen Mitgliedstaaten mit einer Infragestellunges Stabilitäts- und Wachstumspaketes zu tun. Das trifft
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13757
Michael Roth
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)auf Griechenland sicher zu. Schauen Sie sich aber ein-mal die Situation in Irland an; dort hat man eine FDP-Politik in Reinkultur betrieben. Schauen Sie sich einmaldie Situation in Portugal oder Spanien an; dort hat manauf dem Weg der Haushaltskonsolidierung gute Fort-schritte erzielt. Diese Länder hatten eine niedrigere Ver-schuldungsrate als beispielsweise die BundesrepublikDeutschland.Wenn Sie sich die Situation in der BundesrepublikDeutschland vor Augen führen und sich fragen, warumdie Verschuldung in Deutschland gerade in der jüngstenVergangenheit massiv zugenommen hat – das werfe ichIhnen gar nicht vor, auch wenn Sie zumindest in derGroßen Koalition daran beteiligt waren –, stellen Siefest: Wir haben die Krise durch massive öffentliche In-vestitionen zu schultern versucht. Im Gegensatz zu ande-ren Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind wirhalbwegs erfolgreich aus der Krise gekommen.
Jetzt immer zu behaupten, Schulden seien per se vonÜbel, ist doch völliger Blödsinn.Der Ansatz, den meine Fraktion und unsere Kollegin-nen und Kollegen im Europäischen Parlament fahren, istgenau der richtige. Wir müssen endlich differenzieren:Investitionen in überflüssige und überbordende Bürokra-tie sind der falsche Weg. Aber nachhaltige Investitionenin erneuerbare Energien, in Forschung und in Innovatio-nen sind in Griechenland genauso nötig wie in Spanien,in Portugal, in Irland und in Deutschland. Das war einerder wesentlichen Ansätze, die vom Europäischen Parla-ment verfolgt worden sind und die von Ihnen – ich kannniemanden direkt ansprechen, weil seitens der Bundesre-gierung heute niemand da ist –
bzw. von der Bundesregierung beharrlich blockiert wor-den sind. Wir brauchen Wachstum und Beschäftigung.Dass Sie seitens der CDU/CSU und der FDP sich dieserErkenntnis wieder verweigern, irritiert mich schon.Denn ich habe in Ihren jüngsten Anträgen zumindest abund zu mal gelesen, dass auch Sie dafür und der Mei-nung sind, dass reines Sparen um des Sparens willen dieLänder nicht aus der Krise führt, sondern dass wir auchWachstum, Beschäftigungsimpulse sowie nachhaltigeInvestitionen brauchen. Hier haben Sie offenkundignichts dazugelernt.
Wir stellen uns ganz selbstbewusst dem symmetri-schen Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte. Ichweiß natürlich, dass Ihnen das nicht passt. Ideologischist das für Sie Gift. Denn es geht doch nicht allen Ernstesdarum, dass wir, die wir einen symmetrischen Abbau derUngleichgewichte einfordern, die deutschen Exportevermindern wollen. Wir müssen uns aber selber fragen:Inwieweit haben wir einen Beitrag dazu geleistet, dassdie Bilanzen in vielen Mitgliedstaaten so aussehen, wiesie aussehen? Es besteht also nicht nur ein Auftrag zumHandeln in den Ländern, die ein Defizit haben, sondernauch bei denjenigen, die einen Überschuss aufweisen.DdBMzegmadbzgoEcdbpliwUhapdsntidddvKfütebEGsz
it überholter Ideologie hat das überhaupt nichts zu tun,umal wir das zu Recht immer wieder innenpolitischinfordern. Es hat aber eben auch Auswirkungen auf dieesamte Europäische Union. So viel Solidarität solltean zumindest von Ihnen erwarten können – geradeuch angesichts der Tatsache, dass Sie ebenso wie wirafür eintreten, unsere Arbeitsmärkte zu öffnen und Ar-eitnehmerfreizügigkeit walten zu lassen. Das muss so-ial flankiert werden. Mindestlöhne sind da ein wichti-er Aspekt.
Ebenso begrüßen wir, dass die liberale Europaabge-rdnete Sylvie Goulard ebenso wie wir konditionierteuro-Bonds einfordert. In der Europäischen Union brau-hen wir konditionierte Gemeinschaftsanleihen. Auchas ist eine Forderung, die von der Bundesregierungrüsk abgelehnt worden ist.
In all dem zeigt sich wieder einmal, dass die Europa-olitik der Bundeskanzlerin bzw. dieser Regierung kläg-ch gescheitert ist. Es ist heute noch nicht abzusehen,ie groß die Kollateralschäden in der Europäischennion sind, die diese Regierung und Sie zu verantwortenaben. Die Methoden der Bundeskanzlerin – das wirduch angesichts der Verhandlungen im Rahmen des Six-acks eindrücklich deutlich – sind ganz einfach geprägt:Frau Merkel spaltet die Europäische Union, indem sieie südeuropäischen Länder beschimpft und die Kli-chees und Vorurteile des Boulevards bedient. Sie sorgticht mehr für Partnerschaft, Kooperation und gegensei-ges Vertrauen, sondern haut erst einmal so richtig aufie anderen drauf. Wir brüskieren die Luxemburger bzw.ie Partnerstaaten. Dann beschweren wir uns darüber,ass wir in der Europäischen Union nicht gemeinsamorankommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
ollegen Silberhorn?
Bitte schön.
Herr Kollege Roth, Sie treten zum wiederholten Maler Euro-Bonds ein. Verstehe ich Sie richtig, dass Sie un-r Euro-Bonds Anleihen verstehen, die sich von denisherigen Finanzhilfen, die die Mitgliedstaaten deruro-Zone gewähren, dadurch unterscheiden, dass dieeberländer nicht anteilig haften, sondern dass eine ge-amtschuldnerische Haftung besteht, dass also jeder ein-elne Mitgliedstaat eine Garantie für die gesamte Kredit-
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Thomas Silberhorn
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summe übernimmt? Wenn dies der Fall ist: Glauben Sie,dass Sie die Öffentlichkeit davon überzeugen können?Denn mit Euro-Bonds würde ein Modell eingeführt, beidem sich Solidarität als Einbahnstraße darstellt. Weshalbwehren Sie sich dagegen, dass jeder, der zu einem Kreditbeiträgt, anteilig haftet, sodass sich nicht der eine aufden anderen verlässt, sondern jeder, der gibt, weiß, wo-rauf er sich einlässt?
Lieber Herr Kollege Silberhorn, wenn die bisherige
Krisenbewältigungspolitik in der Europäischen Union
große Erfolge gezeitigt hätte, könnte ich Ihre Bedenken-
trägerei noch verstehen. Wie sieht es aber aus? Die
Wahrheit ist: Ihre Regierung hat bislang alle Vorschläge,
die auf den Tisch gelegt wurden, brüsk abgelehnt. Sie
hat sich anfänglich gegen jegliche solidarische Hilfe für
andere Länder ausgesprochen. Die Hilfe kam. Sie hat
sich gegen einen Rettungsschirm ausgesprochen. Der
Rettungsschirm kam. Sie hat sich für eine Befristung des
Rettungsschirms ausgesprochen. Die Entfristung wird
mit dem ESM sehr wahrscheinlich kommen, es sei denn,
Sie erklären uns, dass Sie dem nicht zustimmen wollen.
Nichts hat gefruchtet. Nun haben wir es abermals mit ei-
nem Rettungspaket für Griechenland zu tun, obwohl Ihre
Regierung erklärt hat, dass es das letzte gewesen sei und
dass man eine klare Strategie verfolgen würde, um aus
der Krise herauszukommen.
Es ist niemandem zu verdenken, angesichts des
Scheiterns der bisherigen Krisenstrategien über neue
Wege nachzudenken. In meiner Fraktion und unter den
Befürworterinnen und Befürwortern von Gemeinschafts-
anleihen ist niemand dabei, der nicht auch der Meinung
ist, dass Staaten wie Deutschland einen Beitrag zu leis-
ten haben. Selbstverständlich muss Deutschland einen
Beitrag leisten. Wir helfen den Staaten, die in eine Krise
geraten sind, unter bestimmten Bedingungen nachhaltig,
weil wir deren Refinanzierungschancen massiv erhöhen.
Selbstverständlich zahlen auch wir einen Preis. Den
Preis zahlen wir jedoch so oder so. Wir zahlen ihn auch
jetzt schon für die Problembewältigung in Griechenland.
Sie können den Bürgerinnen und Bürgern nicht ständig
einreden, dass das, was sich derzeit in der Europäischen
Union abspielt, ohne solidarische Beiträge auch aus
Deutschland zu richten ist.
Diese Ehrlichkeit erwarte ich von Ihnen. Sie können
nicht einfach auf kleinkarierte Weise sagen: Gemein-
schaftsanleihen sind eine Solidarität der Einbahnstraße.
Nein, sie sind eine Solidarität der Zweibahnstraßen. Da-
für steht meine Fraktion. Ich hoffe, dass wir Sie irgend-
wann noch davon überzeugen können.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei weitere
Punkte erwähnen: Wir sind davon überzeugt, dass der
Weg der Renationalisierung, der von Frau Bundeskanz-
lerin Merkel maßgeblich zu verantworten ist, in die Irre
führt. Es gibt nun eine neue Methode, und zwar die
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Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirefinden uns inmitten einer schweren Schuldenkrise.ir mussten für drei Euro-Länder Rettungspaketechnüren. Wir mussten Hilfe zur Selbsthilfe leisten, weiluropäische Regeln nicht durchgesetzt werden konntender sich Länder nicht an Regeln gehalten haben. Wiraben also nicht zu wenig Europa, sondern brauchen eintärkeres Europa. Wir brauchen einen stärkeren Stabili-tspakt. Wir müssen die Gemeinschaftsinstitutionentärken. Denn nur ein starkes Europa kann künftig Kri-en verhindern.Vor allem müssen die Mitgliedstaaten der Verantwor-ng nachkommen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhö-en. Das ist Aufgabe der Mitgliedstaaten. Im Falle Grie-henlands heißt das, dass die Versprechungen nach denrfolgreichen Abstimmungen im Parlament auch umge-etzt werden müssen. Das gilt insbesondere im Hinblickuf die Privatisierung. Ich möchte hier auch ausdrück-ch den griechischen Premierminister Papandreou lo-en, der mit der parlamentarischen Zustimmung zueiteren Reformen den ungeordneten Staatsbankrottriechenlands verhindert hat. Damit wurden Deutsch-nd und auch Europa vor einer schweren Krise bewahrt.as verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung.
Wir ziehen zwei Schlussfolgerungen aus der Staats-chuldenkrise. Wir brauchen ein stärkeres Europa. Ret-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13759
Oliver Luksic
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tungspakete darf es nur in äußersten Notfällen, also alsUltima Ratio, geben. Sie dürfen nicht zum Dauerzustandwerden, sie erkaufen nämlich nur Zeit, um die Ursachender Probleme anzugehen. Dafür ist in der Tat entschei-dend, dass die Haushalts- und Wirtschaftspolitik inEuropa schon früher überwacht und, wenn nötig, korri-giert wird.Um dies zu erreichen, hat die Kommission sechs Ge-setzgebungsvorschläge zur Stärkung des Stabilitätspak-tes und zur makroökonomischen Überwachung vorge-legt. Die FDP-Bundestagsfraktion ist überzeugt, dass dieRehn-Vorschläge in die richtige Richtung gehen. Jetztgeht es darum, auf europäischer Ebene einen Kompro-miss zu finden, damit es nicht mehr zu Rettungspaketenkommen muss; denn klar ist: Je länger die Politik in diefalsche Richtung läuft, je länger Reformen verschlafenund je länger zu hohe Schulden gemacht werden, destoteurer wird es am Ende.Um eine wirksame Prävention zu erreichen, müssendie Gemeinschaftsinstitutionen gestärkt werden. DieSanktionierung von Fehlverhalten muss weitestgehendentpolitisiert werden, also aus der Hand der Mitglied-staaten genommen werden; denn sonst bleiben die Täterihre eigenen Wächter. Der Kompromiss von Deauvilledarf nicht das letzte Wort bleiben. Wir brauchen weitge-hend automatisierte und weiter als bisher gehende inBrüssel verhandelte Sanktionen
gegen die Staaten, die gegen den Stabilitätspakt versto-ßen. Wir brauchen einen neuen Stabilitätspakt. Ich setzedarauf, dass das Europäische Parlament einiges in dieseRichtung durchsetzen wird.Noch wichtiger als die institutionellen Verfahren inBrüssel sind strukturelle Reformen in den Mitgliedstaa-ten. Die geforderte vernünftige makroökonomische Ko-ordinierung besteht gerade darin, die Wettbewerbsfähig-keit aller Mitgliedstaaten zu stärken. Ich kann nurwiederholen, was Frau Kudla gesagt hat: DeutschlandsLeistungsbilanzüberschüsse sind nicht schuld an den De-fiziten anderer Mitgliedstaaten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegin Sarrazin?
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Luksic, ist die FDP-Bundestags-
fraktion dafür, dass sich die Liberalen im Europaparla-
ment mit ihrer Forderung nach einer umgekehrten Mehr-
heit zur Einleitung des Verfahrens im präventiven Arm
des Stabilitätspakts durchsetzen? Wenn Sie einen Kom-
promiss eingehen wollen, dann kann ich Ihnen sagen: Es
gibt in Europa keinen mehr, der gegen diese Position ist,
außer der von Ihnen getragene Bundesregierung. Deswe-
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h hätte mir Ihr Engagement auch bei der Enthaltungum Euro-Rettungsschirm gewünscht. In dieser wichti-en Stunde haben Sie sich leider enthalten.
as war daneben.
Ihr Problem mit Leistungsbilanzüberschüssen ist,ass Sie eine staatsfixierte Weltsicht zugrunde legen. Est nicht die Bundesregierung oder der Staat, der festlegt,elches Modell wir haben, sondern es sind Unterneh-en, Arbeitnehmer und Konsumenten in Deutschland,ie über unsere Wirtschaftsstruktur entscheiden. In die-er Hinsicht haben Sie leider ein grundsätzliches Pro-lem in Ihrem Verständnis. 2010 gingen gerade einmal,6 Prozent unseres Exports nach Griechenland. Dasroblem in Griechenland wäre nicht gelöst, wenn statteutschen italienische, russische oder chinesische Pro-ukte importiert würden.Der symmetrische Ansatz, den Sie fordern, hilft beier Bewältigung der Problemursachen nicht. Er linderticht einmal die Symptome.
nser asymmetrischer Ansatz bedeutet, dass wir uns anen Besten in der Welt und nicht an den Schwächsten inuropa orientieren. Kurzum: Ihre Forderung nach einemymmetrischen Ansatz in der wirtschaftspolitischen Ko-rdinierung bedeutet, Leistungsbilanzüberschüsse abzu-auen – da sind Sie sich, von den Grünen bis zur Links-artei, einig –, aber ich kann Ihnen sagen: Ein Programmum Abbau deutscher Exporte und damit zum Abbaueutscher Arbeitsplätze wird unsere Koalition nicht mit-achen.
Im Antrag der Grünen heißt es:Europa ist kein Durchboxen von Mindermeinun-gen.
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13760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Oliver Luksic
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, die Bun-desregierung hat die Beteiligung privater Gläubiger imESM-Vertrag verankert.
Die CACs kommen. Auch beim Thema der Beteiligungprivater Gläubiger an einem weiteren Griechenlandpaketgibt es Bewegung. Nach Ihrem Antrag hätten wir das zu-gunsten der Mehrheitsmeinung aufgeben müssen. Es istgut, dass die Bundesregierung die Minderheitenmeinungin Europa durchgesetzt hat. Das ist gut für Deutschlandund für den Euro-Raum.Wenn Sie am Verhandlungstisch säßen, würden Sieden Krisenländern die notwendigen Reformen ersparen.
Eine Einsetzung von Euro-Bonds bedeutet, Geld zu ver-leihen, ohne die notwendigen Anpassungsprogramme zuberücksichtigen. Das hilft weder beim Schuldenabbaunoch beim Thema Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit.Wir setzen auf Fordern und Fördern, auf Hilfe zurSelbsthilfe.Es geht eben nicht, wie Sie es suggerieren, um deut-sche Interessen, sondern es geht um die richtigen ord-nungspolitischen Regeln für Europa und für einen stabi-len Euro. Deswegen wollen wir die EU und denStabilitätspakt jetzt stärken. Wir wollen mehr und nichtweniger Kontrolle durch die Europäische Kommissionund das Europäische Parlament. Die Mitgliedstaatenmüssen notwendige Reformen umsetzen, statt auf Brüs-sel zu verweisen.Ihr Ansatz wäre nicht im deutschen Interesse undschlecht für Europa. Es ist gut, dass die Bundesregierungihre Position offensiv einbringt und durchsetzt, wie beimThema Gläubigerbeteiligung. Die Gestaltungskraft derGrünen haben wir bei Ihrer Enthaltung zum Rettungs-schirm leider vor Augen geführt bekommen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Michael Schlecht für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es stehtschlecht um Europa,
solange die beiden Fraktionen des Deutschen Bundesta-ges, die die Regierung bilden, die Mehrheit haben; dennSie haben Ansichten, die auf die Zerstörung des euro-päischen Integrationsprozesses hinauslaufen.–khLslaslamSDuLGsAbDVsddgZslaAIn–füBwsDsginzdkhDgR
Ich erkläre Ihnen das. Bleiben Sie doch ganz ruhig. Sieönnen etwas lernen, wenn Sie hier zuhören.
Ihre Position, die Sie hier jetzt mehrfach vorgetragenaben, ist, dass die Außenhandelsungleichgewichte, dieeistungsbilanzüberschüsse, überhaupt kein Problemind und dass dies eine vermeintliche Stärke Deutsch-nds ist. Das ist ein großer Irrtum. In diesem Punkt be-teht eine große Differenz.Wenn man alle Außenhandelsüberschüsse Deutsch-nds der letzten zehn Jahren aufaddiert – es hat ja im-er Überschüsse gegeben –, dann erhält man eineumme in der Größenordnung von 1,2 Billionen Euro.iese 1,2 Billionen Euro Außenhandelsüberschuss sindnd waren nur möglich, weil es auf der anderen Seiteänder gibt, die Außenhandelsdefizite in entsprechenderrößenordnung haben, das heißt im Klartext, sich ver-chulden mussten. Da Deutschland gut 60 Prozent seinesußenhandels mit seinen europäischen Partnerländernetreibt, ist klar, dass sich die Außenhandelsüberschüsseeutschlands vor allen Dingen in einer zunehmendenerschuldung dieser Länder widerspiegeln. Der Über-chuss in Deutschland findet sich also spiegelbildlich inieser Verschuldung wieder. Insofern muss die Verschul-ung in diesen Ländern – sei es in Griechenland, Portu-al oder wo auch immer – immer in einem innerenusammenhang mit der deutschen Wirtschaftspolitik ge-ehen werden. Es kommt also gerade hier von Deutsch-nd aus zu einer Verschärfung dieses Problems.Die spannende Frage ist natürlich, warum es diesenußenhandelsüberschuss überhaupt gibt. Der zentraledikator für die internationale WettbewerbsfähigkeitFrau Kudla, ein paar Indikatoren haben Sie ja aufge-hrt –, nämlich die Lohnstückkosten, hat mir bei deretrachtung hier bisher gefehlt. Die Produktivitätsent-icklung und die Lohnentwicklung werden quasi in die-em Indikator zusammengefasst.
en Außenhandelsüberschuss gibt es, weil die Lohn-tückkosten in Deutschland in den letzten zehn Jahrenerade einmal um 6 Prozent gestiegen sind, während sie allen anderen europäischen Ländern um 20 bis 30 Pro-ent gestiegen sind.Hier in Deutschland haben die Unternehmer alsourch diese sehr schwache Steigerung der Lohnstück-osten einen ganz dramatischen Wettbewerbsvorteil ge-abt.
ie Ursache dafür liegt darin – das ist eigentlich derrößte Skandal, den man benennen kann –, dass dieeallöhne in Deutschland in den letzten zehn Jahren um
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13761
Michael Schlecht
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4,5 Prozent gesunken sind. Das ist der zentrale Skandal,der hier zu einer massiven Ungerechtigkeit geführt hat.
Dieser Skandal führte eben auch dazu, dass sich dieanderen Länder aufgrund dieser – ich sage es einmal so –ungeordneten Wettbewerbsvorteile und vor allem derSchwächung der Binnennachfrage hier am Ende massivverschuldet haben. Das Lohndumping in Deutschland istnicht nur dadurch bedingt, weil es keinen Mindestlohngibt, sondern vor allen Dingen durch die Agenda 2010,durch den Lohndumpingmechanismus in Form von Befris-tung, Leiharbeit, Minijobs und dem Arbeitslosengeld II,also Hartz IV. Das ist sozusagen die Ursache für diesenProzess. Dafür trägt Rot-Grün große Verantwortung. Dassind die entscheidenden Ursachen für die jetzige Situa-tion.Eines muss man ganz klar sagen: Wenn Europa geret-tet werden soll, dann brauchen wir in Deutschland eineUmkehr dieser Entwicklung. Wir müssen wieder hin zueiner ganz anderen Lohnentwicklung kommen. Dies er-reichen wir nur, wenn die Agenda 2010 stückchenweiseauf eine vernünftige Ordnung am Arbeitsmarkt zurück-geführt wird.Es gibt ferner die Möglichkeit, dass es durch Stärkungder Binnennachfrage mehr Importe gibt. Dann gibt esauch die Möglichkeit, dass sich ein Teil der Exportwirt-schaft eher auf binnenländische Verwendungen konzen-triert. Damit lässt sich der Exportüberschuss abbauen.Dadurch ist es möglich, dass die anderen Länder nichtmehr wie noch heute in die Verschuldung getrieben wer-den. Am Ende fragt man sich dann, wie das alles passie-ren konnte.Ich danke Ihnen vielmals.
Nun hat Karl Holmeier für die CDU/CSU das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Mit dem hier zur Debatte stehenden Antrag haben sichdie Grünen endgültig als politisch verantwortungsbe-wusster Partner disqualifiziert.
Es würde schlecht um Europa stehen, Herr Schlecht,wenn die Linken in unserem Parlament das Sagen hät-ten.
dsdDlizvlitureDhnhpsEssEVL2hZwWwgWUpGss
Diese Stärke ist aber keineswegs eine Selbstverständ-chkeit. Deutschland ist deswegen wirtschaftlich so leis-ngsfähig, weil es verantwortungsbewusst und erfolg-ich regiert wurde und weiter regiert wird, weileutschland innovative und erfolgreiche Unternehmenat und weil wir tüchtige und fleißige Arbeitnehmerin-en und Arbeitnehmer in unserem Land haben. Nur des-alb sind wir heute eine echte Stütze im gesamten euro-äischen Währungsraum.Wer sich wie Grüne und Linke in dieser Situation hin-tellt und uns erklären will, dass wir auf europäischerbene wirtschaftlich erfolgreich agierende Staaten be-trafen sollen, der schwächt Deutschland und unter-chreibt damit das Todesurteil für den Euro und dieuropäische Union.
ielleicht will das der eine oder andere von Ihnen sogar.etztlich waren es doch die Grünen und die SPD, die004 den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweichtaben.
Die christlich-liberale Koalition hingegen hat dasiel, den Euro als dauerhafte und zuverlässige Währungeltweit zu etablieren.
ir wollen mit verantwortungsbewusster Politik dieirtschaftliche Säule der Währungsunion stärken, umegen künftige Krisen besser gerüstet zu sein.
ir wollen die Wettbewerbsfähigkeit in der gesamtennion verbessern. Hierin sind wir uns mit unseren euro-äischen Partnern im Übrigen einig. Das scheint an denrünen jedoch vorbeigegangen zu sein. Vom Platzenlas-en irgendwelcher Kompromisse kann daher keine Redeein.
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13762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Karl Holmeier
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Es ist geradezu eine Unverschämtheit, der Bundesre-gierung vorzuwerfen, sie wolle die Stärkung des Stabili-täts- und Wachstumspaktes verhindern.
Lesen Sie die Schlussfolgerungen des Europäischen Ra-tes von letzter Woche. Darin steht eindeutig, dass alleMitgliedstaaten fest entschlossen sind, alles Erforderli-che zu tun, um den Stabilitäts- und Wachstumspakt un-eingeschränkt umzusetzen.Dabei ist Deutschland übrigens zum Teil bereits überseinen Schatten gesprungen, um mit den anderen Mit-gliedstaaten zu einer einvernehmlichen Lösung zu kom-men; denn auch wir würden eigentlich gern bereits impräventiven Bereich die sogenannte umgekehrte Abstim-mung einführen, um einen Automatismus für Warnun-gen und Sanktionen zu ermöglichen.
In einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaatenkann man seine Vorstellungen aber nicht immer volldurchsetzen.
Ich denke außerdem, wir sollten uns nicht zu stark aufdie umgekehrte Abstimmung im präventiven Arm ver-steifen. Die Realität zeigt, dass solche Maßnahmen inder Praxis weit weniger Bedeutung haben als zunächstangenommen.
So befinden sich heute bereits 24 der 27 Mitgliedstaatenin einem Defizitverfahren. Hier konnte die Hürde auchohne den Automatismus genommen werden.Außerdem ist das Kompromissangebot zur Aufnahmeeiner Überprüfungsklausel, das die europäischen Finanz-minister dem Europäischen Parlament gegenüber in die-ser Sache gemacht haben, ein faires Angebot, um auchhier zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.
Weit wichtiger als die Durchsetzung der umgekehrtenMehrheit erscheint mir, im Rahmen der makroökonomi-schen Ungleichgewichte nicht Länder wie Deutschlandins Visier zu nehmen, die erfolgreich sind und sogarLeistungsbilanzüberschüsse zu verzeichnen haben. EineBestrafung dieser Länder wäre für die gesamte Euro-päische Union absolut kontraproduktiv. Das habe icheingangs bereits klargemacht.
Hierin sind sich die Staats- und Regierungschef sowiedie EU-Finanzminister auch einig. Ich würde michfrtiwFspressdLtuHLsDaLfüESLuzmVgsdleWeFnM1wute
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13763
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der größte Naziaufmarsch Europas zum wiederholtenMale verhindert.
Das ist eine zivilgesellschaftliche Leistung, auf die wiralle stolz sein sollten.
Leider wurde an diesem Tag nicht nur der größte Na-ziaufmarsch Europas verhindert; die Polizei hat aucheine der größten Datenabfragen gegenüber den Bürge-rinnen und Bürgern Dresdens gestartet. Fast 1 MillionHandydaten von 330 000 Bürgerinnen und Bürgern– das sind ungefähr 10 Prozent der gesamten sächsi-schen Bevölkerung und zwei Drittel der Dresdnerinnenund Dresdner – wurden erhoben. Dabei spielte es keineRolle, wer erfasst wurde. Es wurden Unbeteiligte erfasst.Es wurden Demonstranten, Anwälte, Journalisten, Ärztesowie Mitglieder der Landtage und des Bundestags er-fasst.Diese Vorgehensweise bei der Erhebung der Daten-sätze durch die Funkzellenabfrage ist ein klar rechtswid-riger Akt, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grundist: Eine Funkzellenabfrage ist in gewissem Sinne einedigitale Rasterfahndung. Die digitale Rasterfahndung istdeshalb hochproblematisch, weil sie in bestimmteGrundrechte – ich nenne nur die Unschuldsvermutungals Beispiel – eingreift. Sie ist daher nur bei schwerstenVerbrechen vorgesehen – dies hat der Gesetzgeber klardefiniert –: bei Mord, Totschlag, Kinderpornografie,Hochverrat oder Terrorismus. Ich frage Sie, liebe Kolle-ginnen und Kollegen: Was haben friedliche Proteste ge-gen Nazis mit diesen Kriterien zu tun? Was hier passiertist, ist nichts anderes als eine beispiellose Kriminalisie-rung antifaschistischen Engagements.
Die zweite Rechtswidrigkeit, die hier begangenwurde, ist: Wir wissen mittlerweile, dass die Funkzellen-abfrage schon am 18. Februar begonnen wurde, sozusa-gen präventiv eingesetzt wurde. Das ist wiederum einklarer Rechtsbruch. Wir wissen mittlerweile auch, dassGespräche abgehört und SMS mitgelesen wurden.Wir befassen uns heute im Bundestag damit, weil essich nicht um eine rein sächsische Angelegenheit han-delt, sondern weil die Ursachen auch auf Bundesebenezu suchen sind. Ich möchte daran erinnern, dass auf Bun-desebene seit Jahren ein gesellschaftliches Klima ge-schaffen wurde, das mit dafür sorgt, dass antifaschisti-sches Engagement in unserer Gesellschaft kriminalisiertwird.
– Hören Sie mir bitte zu! Dann werden Sie es vielleichtverstehen.Es gibt seit einiger Zeit die sogenannte Extremismus-klausel; diese haben Sie durchgesetzt. Das heißt, jedeInitiative, die vom Bund Fördergelder für Aktionen ge-gao–tidKvbdefasereInvfeWmDsteUgetiahPds
Nein. Das setzt aber die Vermutung voraus, dass Initia-ven gegen Nazis nicht auf dem Boden der freiheitlich-emokratischen Grundordnung stehen könnten. Bis zurriminalisierung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.
Ihnen allen liegt der neue Verfassungsschutzberichtor. Wenn Sie ihn genau lesen, stellen Sie fest, dass ins-esondere in Ostdeutschland die Zahl der Straftaten under Organisationsgrad der Nazis zunehmen. Wenn wirrnsthaft etwas dagegen tun wollen, müssen wir das anti-schistische Engagement in unserer Gesellschaft als Be-tandteil ebendieser Gesellschaft stärken. Daher darf esrstens keine weiteren Mittelkürzungen in diesem Be-ich geben. Zweitens muss klargestellt werden, dassstrumente zur Terrorismusbekämpfung nicht gegen zi-ilgesellschaftliches Engagement eingesetzt werden dür-n.
as wäre denn der nächste Schritt, wenn solche Instru-ente gegen Antifa-Demonstranten eingesetzt würden?rittens hoffe ich, dass sich nach den Vorfällen in Sach-en ab sofort die öffentliche Debatte über die Vorratsda-nspeicherung erledigt hat.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Clemens Binninger für die
nionsfraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-en! An meinen Vorredner gerichtet: Angesichts der Er-ignisse, die wir neben der friedlichen Großdemonstra-on, die in der Tat beachtens- und unterstützenswert war,n diesem Tag in Dresden ebenfalls erleben mussten,ätten Sie wenigstens einen Satz zu den vielen verletztenolizisten verlieren und die Randale verurteilen müssen;
as wäre notwendig gewesen. Aber Fehlanzeige an die-er Stelle, wie immer!
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Clemens Binninger
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Heute hat der Bundesinnenminister den Verfassungs-schutzbericht 2010 vorgestellt. Eine der zentralen Aussa-gen dieses Berichtes lautet: Die Gewaltbereitschaft vonRechtsextremisten und Linksextremisten nimmt in ei-nem besorgniserregenden Maße zu.
Es gibt kaum noch Hemmungen, Gewalt auszuüben. Wirstehen am Beginn einer möglicherweise verhängnisvol-len Gewaltspirale.Der 19. Februar 2011 in Dresden war, abgesehen vonder friedlichen Großdemonstration, die zu Recht unsereUnterstützung verdient, leider ein Tag, der diese Thesebelegt hat.
Dieser Tag wurde von einigen Chaoten bedauerlicher-weise zu einer Gewaltorgie umfunktioniert: Steinwürfe,brennende Barrikaden, mehr als 100 verletzte Polizeibe-amte, über 600 Straftaten, mehr als 23 Fälle schwerenLandfriedensbruchs.
Da hat in Dresden eine kleine Minderheit mit ihrer Ge-waltbereitschaft das gute Anliegen einer großen Mehr-heit diskreditiert und für eine Gewaltorgie gesorgt. Dasmüssten wir genauso verurteilen. Diesbezüglich war beiIhnen an dieser Stelle aber Fehlanzeige.
Die mehr als 600 Straftaten, die größtenteils ver-mummt begangen wurden, müssen jetzt von der Polizeiund der Staatsanwaltschaft aufgeklärt werden. Polizeiund Staatsanwaltschaft in Dresden haben sich dazu einerErmittlungsmethode bedient, die wir mit der großenMehrheit dieses Hauses in § 100 g Strafprozessordnungbeschlossen haben. Es handelt sich also um geltendesRecht; das muss man an dieser Stelle dazusagen.
Mit der Funkzellenauswertung ist es möglich, festzu-stellen, wessen Handy zur Tatzeit am Tatort war. DieseMaßnahme wurde angewandt.
Sie ist bei erheblichen Straftaten zulässig. Ein besondersschwerer Fall des Landfriedensbruchs ist eine erheblicheStraftat.
Das ist überhaupt keine Frage. Dies ist eine zulässige Er-mittlungsmethode.
Gans–SetädmdgDnIcsds–nGlädgmDSGaGd
uf Antrag der Staatsanwaltschaft, angeordnet von ei-em Richter. Jetzt wird versucht, diese Maßnahme zukandalisieren.
An die Adresse der Linken: Wenn Sie mit unserertrafprozessordnung ein Problem haben, dann sagen Sies einfach. Aber versuchen Sie nicht, irgendetwas vorzu-uschen.
Jetzt stürzt man sich auf die unbestreitbar große Zahler dabei gewonnenen Handydaten, der Telefonnum-ern; man erhält weder Inhalte noch Informationen überie Anschlussinhaber. Einige Tausend Daten wurden soeneriert.
arauf stürzt man sich jetzt.Man muss sich fragen: Ist das in der Strafprozessord-ung vorgesehen oder nicht?
h sage Ihnen deutlich: Dieses Vorgehen ist nicht ausge-chlossen. Die Menge dieser Daten ergibt sich allein ausem Tatort, aus der Tatzeit und aus der Anzahl der anwe-enden Personen.
Herr Kollege Montag, wenn man eine solche Maß-ahme in einer Großstadt zur Tageszeit am Rande einerroßveranstaltung durchführt, dann ist es fast zwangs-ufig, dass mehr Daten generiert werden, als wenn manie gleiche Maßnahme zur Nachtzeit in einem Industrie-ebiet durchführt.
Jetzt wird gesagt: Das Vorgehen war nicht verhältnis-äßig. Das mag eine Rechtsfrage sein. Tatsache ist:iese Maßnahme wurde so durchgeführt, wie es in dertrafprozessordnung vorgesehen ist. Es gibt keinenrund, sie zu skandalisieren. Wenn Sie diese Maßnahmels solche ablehnen, da Sie sie aus rechtspolitischenründen nicht wollen, etwa weil Sie gegen den § 100 ger Strafprozessordnung sind, dann muss man entspre-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13765
Clemens Binninger
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chende Vorlagen einbringen. Aber die Durchführungdieser Maßnahme nach Antrag der Staatsanwaltschaftund nach Genehmigung durch einen Richter ist keinGrund, sie zu skandalisieren.Karin Schlottmann schreibt heute in der SächsischenZeitung sinngemäß, was die Bewertung der gesamtenDebatte angeht, sehr treffend: Ein Teil der Kritiker hatoffensichtlich zu wenig Wissen über die Rechtslage unddie Möglichkeiten, die Polizei und Justiz haben,
und der andere Teil der Kritiker versucht, diesen Anlasszu skandalisieren, ihn zu benutzen. Beides ist nicht zu-lässig. Sie, meine Damen und Herren von den Linken,gehören zu beiden Teilen. Stellen Sie Ihre Versuche ein!Es glaubt Ihnen sowieso niemand.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ichweiß nicht, wer von Ihnen sich noch daran erinnernkann, wo er am 19. Februar 2011 war. Es war ein Sams-tag, es war ziemlich kalt, und ich war wie einige anderehier im Saal in Dresden und habe friedlich gegen Neo-nazis demonstriert. Ich gebe zu: Ich habe mich wie einegute Demokratin gefühlt. Ich habe mein Demonstra-tionsrecht wahrgenommen.
Ich habe mich Verfassungsfeinden in den Weg gestellt,Menschen, die anderen Menschen ihr Lebensrecht aber-kennen und eine Ideologie vertreten, die ich nur als aufdie Straße bringend empfinden kann. Wenn Nazis auf dieStraße gehen, dann gehe ich auch. Da waren noch10 000 und mehr Menschen, die das genauso gemachthaben, zumeist friedlich: MdBs, MdLs, Anwälte, Jour-nalisten, Touristen und auch Menschen, die in Dresdenleben.Wo genau in Dresden ich mich aufgehalten habe, er-frage ich gerade bei der Dresdner Polizei;
denn jetzt, vier Monate später, erfahren wir: Im Nach-gang zu dieser Demonstration sind in zwei Schritten1 Million Daten erfasst worden, Handydaten: Wer warwann wo eingeloggt?
„–e–SreEsPwDGDdtemaDgkzdMfrOfü
Das ist richtig, die Telefonnummer.
Ich gebe zu: Dieses Vorgehen erzeugt bei mir wirklichine ganz massive Gänsehaut.
Sie sagen: Lassen Sie Ihr Handy zu Hause! Überprüfenie bitte Ihr Verhältnis zum Grundgesetz und zu Grund-chten wie dem Demonstrationsrecht!
s kann ja wohl nicht wahr sein, dass ich mein Demon-trationsrecht wahrnehme und indirekt ins Visier derolizei gerate. Bei mir stellt sich das Gefühl ein: Icherde hier kriminalisiert. Im Zusammenhang mit deremonstration am 19. Februar in Dresden hatte ich dasefühl auch schon vorher.
a wurde öffentlich durchaus kritisch gegenüber deneniskutiert, die friedlich gegen Nazis demonstrieren woll-n.Ja, es ist nicht wegzudiskutieren: Von den Gegende-onstrationen ist erhebliche Gewalt ausgegangen,
uch schwerer Landfriedensbruch.
ie Polizei muss da ermitteln. Allerdings hätte ich mirewünscht, dass die Polizei schon vor Ort hätte ermittelnönnen. Ich habe leider nicht die Zeit, zur Polizeitaktiku sprechen,
ie ich nicht den Polizeibeamten vor Ort anlaste.Eine Möglichkeit – das stimmt – ist der § 100 a StPO.an kann bei schweren Straftaten eine Funkzellenab-age machen, um genau diese Daten zu erheben.
b schwerer Landfriedensbruch diesen Tatbestand er-llt,
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13766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Daniela Kolbe
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das mögen andere entscheiden; ich bin keine Juristin.Aber selbst wenn er erfüllt ist, sehe ich zwei Probleme:Das erste Problem: Die Ergebnisse der Funkzellenab-frage sind auch in Akten von Menschen aufgetaucht, diewegen definitiv nicht schwerer Straftaten angezeigt wor-den sind bzw. gegen die ermittelt worden ist, zumBeispiel wegen des Verstoßes gegen das Versammlungs-gesetz. Es ist ein Skandal, dass das in Deutschland vor-kommt.
Erst dadurch, dass das als rechtswidrig erkannt wordenist, ist es an die Öffentlichkeit gekommen und zurückge-nommen worden. Die Gänsehaut bei mir bleibt trotzdemangesichts dessen, wie der Staat mit Menschen und mitDaten umgeht.Das zweite Problem: die Verhältnismäßigkeit. Es gabeinen Bericht des sächsischen Justizministers und dessächsischen Innenministers an Herrn Tillich. Darin stehtzu den ersten 200 000 Daten, was die Verhältnismäßig-keit angeht: Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeitwurde in besonderem Maße durch die dezidierten zeitli-chen und räumlichen Einschränkungen im richterlichenBeschluss Rechnung getragen.Im Endeffekt sind es jetzt 200 000 plus 800 000 Da-ten wegen irgendeiner anderen Straftat; wir wissen nichtgenau, weshalb diese Daten erhoben worden sind. Essind 1 Million Daten vom 18. und 19. Februar aus ver-schiedensten Orten der Stadt. Einmal flapsig zusammen-gefasst: Zwei Tage ist die halbe Stadt Dresden – mitmehreren Tausend Menschen, die dazugekommen sind –überwacht worden. Das wird als verhältnismäßig be-zeichnet. Das kann nur sächsische Verhältnismäßigkeitsein.
Ich persönlich glaube, dass hier zwischen der Wahrungder Persönlichkeitsrechte und der Strafverfolgungschlecht, wirklich schlecht abgewogen worden ist.Beides, dass Daten in Akten vorkamen, in die sienicht gehören, und diese massive Datensammlung, löstbei mir einen schalen Nachgeschmack aus. Was jetzt nö-tig ist, ist Aufklärung. Wir müssen dringend die zahlrei-chen offenen Fragen aufklären. Das muss im sächsi-schen Parlament geschehen.
Ich sage Ihnen auch, warum diese Aufklärung nötigist. Ich empfinde es so, dass hier das Grundvertrauenzwischen dem Bürger, der sein Demonstrationsrechtwahrnimmt, und dem Staat ein Stück weit bröcklig ge-worden ist. Die Fragen müssen beantwortet werden, da-muwewasgsnKmlihmkwinrewliIchbGusicfispS
Das Wort hat die Kollegin Piltz für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-en! Es ist doch immer wieder erstaunlich, dass manich am späten – oder am frühen, je nachdem – Freitag-achmittag hier Dinge anhören muss, von denen dieollegen offensichtlich glauben, dass sie sonst keineritbekommt.
Frau Kolbe, es war schon interessant, was Sie hier ge-efert haben. Ich stelle fest: Sie bekommen eine Gänse-aut, wenn Daten gesammelt werden. Dann frage ichich, wie Sie eigentlich Mitglied Ihrer Fraktion seinönnen,
enn die Innenminister, die der SPD angehören, und dernenpolitische Sprecher der SPD ganz großartig erklä-n, man müsse die Vorratsdatenspeicherung unbedingtieder einführen, und zwar für sechs Monate, und mög-chst viele Daten sammeln.
h kann mich nicht erinnern, dass ich Ihre Stimme ge-ört hätte
zw. die Beschreibung des klinischen Zustandes Ihreränsehaut. Das habe ich wirklich vermisst.Es ist auch interessant, wenn Sie sich hier hinstellennd sagen: Ob schwerer Landfriedensbruch eine Voraus-etzung für eine Funkzellenabfrage ist oder nicht, weißh nicht. – Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechts-ndung. Das lernt man im ersten Semester. Es wärechön, wenn man dies auch in der ersten Legislatur-eriode im Parlament lernen würde. Es ist nämlich so.chönen Gruß vom Gesetz.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13767
Gisela Piltz
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Interessant finde ich auch, dass § 100 g StPO, gegenden Sie jetzt so viel Gänsehaut entwickeln, auch von derSPD verabschiedet worden ist.
Das ist sehr spannend und zeigt, wie Ihr Verhältnis zumRechtsstaat wirklich ist. Die Innenminister dürfen dieVorratsdatenspeicherung fordern, und Sie bekommenGänsehaut. Viel Spaß dabei!
Ebenfalls erstaunlich ist, dass die Fraktion der Linkensich hier immer so aufspielt, als sei gerade sie die Hüte-rin des Rechtsstaates.
Wenn man Ihnen zuhört, bemerkt man ganz deutlich,dass es Ihnen um das Gegenteil geht. Herr Leutert – dashaben Sie sehr deutlich gemacht –: Es ging Ihnen nichtum das Versammlungsrecht oder um friedliche Demon-strationen, sondern es ging Ihnen um „die beispielloseDiskriminierung antifaschistischen Engagements“.
– Ich habe überhaupt nichts dagegen.
Ein Schelm, der nicht auf die Idee kommt, dass Siemit dieser Bugwelle, die Sie vor sich herschieben, etwasvertuschen wollen. Es wäre besser gewesen, Sie hätteneine Aktuelle Stunde zum Linksextremismus beantragt.
Man könnte auf die Idee kommen, Sie wollten Ihr nichtgeklärtes Verhältnis zum Antisemitismus vertuschen.Darum geht es Ihnen doch eigentlich.
Es ist selbstverständlich – ich glaube, da sollte sichdas Hohe Haus einig sein –, dass die Versammlungsfrei-heit ein hohes Gut in diesem Rechtsstaat ist.
– Wissen Sie, nur weil Sie laut schreien, haben Sie nichtrecht.
DmdGmbWddm„reukLnhDEgsleluDkmlaiswwreWfrfüute
enauso selbstverständlich ist es aber, dass auch De-onstrationen gegen Nazis keine Rechtfertigung dafürieten dürfen, Gewalt anzuwenden.
er diese Position verteidigt, darf hinterher nicht nachem Schutz der Versammlungsfreiheit schreien. Entwe-er, oder – beides passt nicht zusammen. Ich wundereich, dass Sie in diesem Zusammenhang das WortRechtsstaat“ überhaupt noch in den Mund nehmen.Zur Sache selbst nur so viel: Der Vorfall – das ist be-its gesagt worden – muss vom Sächsischen Landtagnd der sächsischen Landesregierung umfassend aufge-lärt werden. Das ist Sache der zuständigen Gremien imande. Es ist anmaßend, wenn manche Kollegen mei-en, darüber könnten wir hier entscheiden. Im Übrigenat der Bundestag nicht die Dienstaufsicht über dieresdner Polizei, und das ist auch gut so.
s ist gut, dass der Polizeipräsident die Konsequenzenezogen hat und zurückgetreten ist. Wir sagen auch, dassich ein solcher Vorfall aus unserer Sicht nicht wiederho-n sollte.Natürlich hat es Auswirkungen auf die Versamm-ngsfreiheit, wenn man damit rechnen muss, dass alleaten ausgewertet werden. Diese mittelbare Einschrän-ung der Versammlungsfreiheit ist schwerlich hinzuneh-en; aber wir leben weder in einem Staat, der das er-ubt, noch in einem Staat, in dem das die Regel ist. Dast ein extremer und, soweit ich weiß, ein Einzelfall. Esäre besser, wenn das gar nicht passiert wäre.Wir werden genau hinschauen, welche Konsequenzenir für die StPO ziehen müssen. Die sächsische Landes-gierung hat eine Initiative im Bundesrat angekündigt.ir werden prüfen, was notwendig ist. Ich würde micheuen, wenn wir hier eine sachliche Debatte darüberhren könnten
nd wenn wir dafür einen anderen Anlass als heute hät-n.Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Jerzy Montag das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei dieser Debatte geht es in erster Linie – so hat es die
Linke gewollt, und darauf will ich eingehen – um das
Versammlungsrecht. Deswegen steht diese Frage für
mich im Mittelpunkt und an erster Stelle.
Am 13. Februar dieses Jahres haben Neonazis zu
Hunderten oder gar Tausenden in Dresden demonstriert.
Sie haben dies eine Woche später, am 19. Februar, wie-
derholt. Was wünschen wir Abgeordnete, was wünscht
sich der Deutsche Bundestag in so einer Situation von
den Menschen in unserem Land? Dass sie Zivilcourage
zeigen, dass sie aufstehen, dass sie sich den Neonazis in
den Weg stellen, dass es Demonstrationen gibt. Diese
Demonstrationen hat es gegeben. In Dresden haben viele
Tausende demonstriert. Deswegen will ich mich von die-
ser Stelle aus ausdrücklich bedanken und meine Hoch-
achtung vor all denjenigen ausdrücken, die dort demon-
striert haben.
Ebenso ist völlig klar – auch das muss angesprochen
werden; das dürfen Sie nicht verschweigen oder ver-
schämt im Nebensatz sagen, Kollegen von der Linken –,
dass es an diesem 19. Februar schwere Straftaten gege-
ben hat, auch mit vielen verletzten Polizisten. Ich will
sagen: Das ist für uns nicht hinnehmbar. Ich erkläre
meine Hochachtung auch vor den Polizeibeamten, die
verletzt worden sind.
Diese Straftaten müssen mit den Mitteln des Gesetzes
verfolgt werden.
Was ist aber stattdessen passiert? Es sind an 14 Plät-
zen in Dresden innerhalb bestimmter Zeiträume von der
einen Polizeieinheit fast 140 000 Kommunikationsvor-
gänge und von einer anderen Polizeieinheit, von der des
Landeskriminalamtes, mehrere Hunderttausend Kom-
munikationsvorgänge, zusammen fast 1 Million Kom-
munikationsvorgänge, abgefischt worden. Das sind fast
1 Million Grundrechtsbeeinträchtigungen. Das ist in ei-
nem unglaublichen und monströsen Ausmaß ein Eingriff
in die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern, und
zwar nicht nur in das Grundrecht der informationellen
Selbstbestimmung, sondern auch in das Grundrecht der
Versammlungsfreiheit.
Es ist doch völlig klar: Wenn Bürgerinnen und Bür-
ger, die nichts Unrechtes tun, die nur ihr Grundrecht auf
Demonstrationsfreiheit geltend machen, in einem sol-
chen Ausmaß in polizeiliche Ermittlungen einbezogen
werden und wissen, dass das geschieht, dann beeinträch-
tigt das das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Das
liegt doch absolut auf der Hand.
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eswegen ist es wichtig, dass wir über diese Grund-
chtsverletzungen hier, an dieser Stelle, diskutieren.
as ist keine Landesangelegenheit.
Die gesetzlichen Vorgaben sind nicht so klar, wie Sie
einen. Die Funkzellenabfrage ist nur erlaubt bei ganz
estimmten Telefonnummern. Es gibt dazu eine Ausnah-
evorschrift. Diese Ausnahmevorschrift ist aber an ganz
nge Voraussetzungen geknüpft. Diese engen Vorausset-
ungen sind im vorliegenden Fall offensichtlich miss-
chtet worden. In die Begründung des Entwurfes eines
esetzes zur Neuregelung der Telekommunikations-
berwachung haben Sie, meine Damen und Herren von
er Union und der SPD, in der letzten Legislaturperiode
Bezug auf § 100 g Strafprozessordnung geschrieben:
enn bei dieser Ausnahmevorschrift der Funkzellenab-
age mit Drittbetroffenheit unzumutbar viele Dritte be-
offen sind, dann muss von dieser Maßnahme Abstand
enommen werden.
Genau das Gegenteil ist in Dresden geschehen. Es ist
icht Abstand genommen worden, obwohl fast 1 Million
ritte betroffen waren. Man hat es sehenden Auges ge-
n. Es ist doch klar, dass man, wenn man in einer gro-
en Stadt am Ort und zum Zeitpunkt einer großen De-
onstration solche Abfragen startet, hundertausendfach
nschuldige, nicht betroffene Dritte in diese Maßnahmen
inbezieht. Deswegen hätte diese Maßnahme unterblei-
en müssen.
Weil das nicht geschehen ist, werden wir uns hier
ach der Sommerpause darüber unterhalten müssen – die
rünen werden dazu Vorschläge machen –, was an der
trafprozessordnung, einem Bundesgesetz, geändert
erden kann und muss, damit sich solche Vorfälle nicht
iederholen.
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Sensburg für
ie Unionsfraktion.
Herr Kollege Montag, ich möchte Ihnen für die ein-hrenden Worte zur Zivilcourage der Personen, die inresden demonstriert und gezeigt haben, dass sie so et-as, wie es in Dresden geplant war, nicht akzeptieren,anz herzlich danken. Ich möchte mich auch für dieorte an die Polizei bedanken, die nämlich nicht nurazu da ist, Straftaten zu verfolgen, sondern auch dazu,olche Demonstrationen zu ermöglichen, es Menschenu ermöglichen, von ihrem Demonstrationsrecht Ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13769
Dr. Patrick Sensburg
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brauch zu machen. Deswegen ist es, glaube ich, richtig,hier diese Worte auszusprechen. Dafür herzlichen Dank.Die juristischen Schlussfolgerungen, die Sie gezogenhaben, kann ich allerdings nicht teilen.
Ich muss auch ganz ehrlich sagen: Diese von den Linkenbeantragte Aktuelle Stunde zeigt, dass sie eine Täu-schungstaktik betreiben. Sie probieren, das Versamm-lungsrecht, das wir schützen und ermöglichen wollen,mit Straftaten, die es zu verfolgen gilt, zu vermischen.Wir müssen trennen: Versammlungsrecht auf der einenSeite und die Straftaten, die die Polizei verfolgen mussund soll, auf der anderen Seite.
Das sollten Sie nicht zusammenwerfen, sonst wird diePolizei nicht der Aufgabe gerecht, Demonstrationen zuermöglichen.
Wenn Sie sich Art. 8 des Grundgesetzes einmal an-schauen, dann werden Sie merken, dass das Versamm-lungsrecht unter dem Vorbehalt steht, dass die Versamm-lung friedlich und ohne Waffen stattfindet.
Wenn eine Versammlung nicht friedlich stattfindet, dannmuss das Versammlungsrecht geschützt werden und esmuss möglich sein, dass die Polizei Ermittlungsmaßnah-men gegen die Straftäter durchführt.
Es haben Ermittlungsmaßnahmen stattgefunden, unddiese waren rechtmäßig.Ich muss sagen: Ein Abfischen oder ein Phishing– diesen Eindruck wollten Sie wahrscheinlich mit demWort „Abfischen“ erwecken – hat mit Sicherheit nichtstattgefunden, wenn im Rahmen des § 100 g Strafpro-zessordnung in Verbindung mit dem TKG Daten
zur Verfolgung erheblicher Straftaten im Einzelfall erho-ben worden sind,
und dies nur dann, wenn es erforderlich war.
Erhebliche Straftaten lagen vor.
ShuSfe17üHhDliddwAbFdufoknsetesleeinSGDnRSu
ie werden es wahrscheinlich als nicht erheblich einstu-n, wenn es um Polizeibeamte geht. Was sagen Sie zu12 Körperverletzungen an Polizeibeamten und zu8 Sachbeschädigungen? Auf einen Polizeibeamten istbrigens eine Eisenstange geworfen worden. Sie ist amelm abgeprallt. Dazu kann ich nur sagen: Das sind er-ebliche Straftaten. Hier galt es, die Täter zu ermitteln.as war erforderlich. Ein Großteil der Personen ist näm-ch vermummt gewesen.
Da frage ich auch die Kollegin Kolbe: Haben Sieenn Anzeige erstattet? Ist denn von Ihnen, die Sie mit-emonstriert haben, Anzeige gegen die Täter erstattetorden?
nscheinend nicht. Welche Ermittlungsmaßnahmenleiben denn dann übrig? Dann ist die Nutzung derunkzellendaten eine Maßnahme, um zu ermöglichen,ass die Straftaten aufgeklärt werden können,
nd darum geht es der Polizei.Wie viele Taten sind unterm Strich tatsächlich ver-lgt worden? Es wird bisher in 330 Verfahren gegen be-annte Straftäter und in 354 Verfahren gegen bisher nochicht bekannte Straftäter ermittelt. Übrigens sind insge-amt 223 Verfahren bereits bei der Staatsanwaltschaftingeleitet worden. Da wollen wir doch einmal abwar-n, was bei diesen Verfahren herauskommt.Ich finde, Sie sollten Ihre Täuschungstaktik unterlas-en. Sie werfen das Versammlungsrecht, das wir gewähr-isten wollen, und die Verfolgung von Straftaten durch-inander,
dem Sie so tun, als wollten wir mit der Verfolgung vontraftaten Versammlungen unmöglich machen. Ganz imegenteil: Dadurch werden sie erst möglich gemacht.ass Sie jetzt hier so viel dazwischenrufen, zeigt dochur Ihr gestörtes Verhältnis zur Rechtsordnung und zumechtsstaat.
onst würden Sie das doch nicht machen, sondern unsnterstützen.
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13770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Dr. Patrick Sensburg
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Die Beantragung der Aktuellen Stunde ist durchschau-bar. § 100 g der Strafprozessordnung ist verfassungsge-mäß und verhältnismäßig eingesetzt worden. Das müs-sen auch Sie akzeptieren.Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Aufmerksam-keit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir
eine kurze geschäftsleitende Bemerkung. Da jetzt mehr-
mals der Wunsch nach weiteren Wortmeldungen an mich
herangetragen wurde, weise ich darauf hin, dass wir uns
in der Aktuellen Stunde befinden. Ich weiß, es tut allen
Beteiligten leid, dass es nicht möglich ist, Zwischenfra-
gen zu stellen, Zwischenbemerkungen zu machen oder
gar mit Kurzinterventionen auf persönliche Anwürfe
einzugehen. Aber so sind nun einmal die Regeln. Wenn
Sie es anders wollten, müssten Sie eine Debatte zu die-
sem Thema beantragen. Insofern ist es allerdings auch
nicht hilfreich, wenn man sich gegenseitig als „Spinner“,
„Lügner“ oder anderes hier bezeichnet, weil auch darauf
nicht geantwortet werden kann. Außerdem können dieje-
nigen, die die Aktuelle Stunde am Fernseher verfolgen,
diese Zwischenrufe auch gar nicht hören und deshalb die
Reaktionen nicht verstehen.
Wir fahren jetzt in der Aktuellen Stunde fort. Das
Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Sehr verehrte Gäste! Ich habe in den letzten Tagen einGespräch mit einem Kollegen aus meiner Gewerkschaft,der Deutschen Polizeigewerkschaft, geführt, der in Dres-den Dienst tut. In diesem Gespräch hat er drei Dinge ge-sagt, die ich beachtenswert finde:Er hat erstens gesagt: Die politisch etablierten Par-teien haben es nicht geschafft, durch ihre Politik ein An-wachsen der Zahl der extremen Kräfte am rechten undlinken Rand unserer Gesellschaft zu verhindern. Jetztsollen wir, die Polizei, so sagte er zweitens, die Kohlenaus dem Feuer holen. Dazu werden wir aber weder per-sonell noch durch eine eindeutige Rechtslage hinrei-chend ausgestattet. Wenn dann – drittens – etwas schief-geht, zieht die Politik ihren Kopf aus der Schlinge undsucht sich ein Bauernopfer.Wir schaffen es tatsächlich nicht, liebe Kollegen undKolleginnen, den Menschen immer zu erklären, warumund wie wir Entscheidungen in diesem Hause treffen.Als Beispiel möchte ich nur eines anführen: Ich finde eserschreckend, dass nur etwa die Hälfte der Bevölkerungversteht, warum wir in Europa verschiedenen Ländernhelfen müssen. Augenscheinlich schaffen wir es nicht,klarzumachen, warum dies nötig ist.Zu seinem zweiten Punkt. Zur Personalsituation ha-ben wir hier schon viel gesagt. Ich möchte in Bezug aufDresden darauf hinweisen, dass Innenminister UlbigfecdmleTLß2ucbdwhswDtaBshlesabEaravdGvwdBrilinMfrnfomfaSns
Noch einmal: Hier geht es nicht um persönliche Mei-ungen. Hier geht es um Recht. Das bestehende Gesetzrdert eine besondere Verhältnismäßigkeit. Der Innen-inister schreibt dazu in seinem Bericht – er ist mehr-ch zitiert worden –:Bei Beantragung der Maßnahme war das Ausmaßdes Datenaufkommens nicht einschätzbar.Ich frage Sie, meine Herren und Damen: Wie könnenie die Verhältnismäßigkeit feststellen, wenn Sie garicht feststellen, wie viele davon überhaupt betroffenind?
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Kirsten Lühmann
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Wenn man aber feststellt, dass im ersten Fall 140 000 Da-ten vorliegen, dann ist spätestens der Moment gekom-men, in dem jemand sagen muss: Jetzt stelle ich fest,dass das Ganze nicht mehr verhältnismäßig ist. – Das istnicht passiert.
Zum dritten Punkt, den der Kollege ansprach. Innen-minister Ulbig hat den Einsatz zur Chefsache erklärt, eswurden Fehler gemacht – sonst hätte PolizeipräsidentHanitsch nicht seinen Sessel räumen müssen –, und ei-gentlich sollte sich der Innenminister nicht hinter seinenBeamten verstecken, sondern die Konsequenzen ziehen.
Unser Fazit lautet: Mein Kollege von der Polizei hatterecht. Wir müssen endlich den Auftrag annehmen, klareund verfassungsgemäße Regeln zur Datensammlung undzur Verwendung von Daten Dritter zu treffen. Frau Piltz,ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie angekündigt haben,dies zu tun. Als Parlament sind wir für den Schutz allerGrundrechte der Bürger und Bürgerinnen verantwort-lich. Lassen Sie uns handeln, um zu verhindern, dassmein Kollege von der Polizei recht behält!Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Diese Diskussion verläuft gemischt: Ei-nerseits findet eine sachliche Diskussion statt – HerrKollege Montag, Ihr Beitrag war ausgesprochen sach-lich; vielen Dank –, andererseits eine – ich sage es ein-mal so – politisch getriebene Diskussion; an dieser Stelleschaue ich in Ihre Richtung, liebe Kollegen von der Lin-ken.
– Lassen Sie mich doch ausreden. Man hört Sie sowiesonicht, Frau Kollegin.
Der Titel der Aktuellen Stunde, die Sie beantragt ha-ben, lautet „Einschränkung des Versammlungsrechtsdurch Massenfunkzellenabfrage“. Ich muss sagen: IchdwdbdAhSaadcbDdedohAwnDsAsleDERvühbnbgnebmgdnmdds
Es ist sehr wichtig, sich kurz mit der Faktenlage zueschäftigen, statt nur irgendwelche Schlagworte in dieiskussion zu werfen. Es fand eine Kundgebung statt,ie Rechtsradikale vorangetrieben haben. Zu Recht istin breites bürgerliches Engagement entstanden, um sichem entgegenzustellen. Es war vorhin interessant, zu be-bachten, dass Sie, als dieses Stichwort fiel, geklatschtaben. Als aber zur Sprache kam, dass bei der gleichenktion sehr viele Polizisten, nämlich über 100, verletzturden, haben sich die Hände Ihrer Fraktionsmitgliederur zur Hälfte bewegt.
as spricht Bände. Daran wird deutlich, wie Sie zu die-en Vorgängen stehen und zu welchem Zweck Sie diesektuelle Stunde nutzen wollen.Es ist Teil unserer demokratischen Kultur, dass Men-chen ihre Meinung frei äußern dürfen, müssen und sol-n. Es ist das Recht und die Pflicht eines jeden Bürgers,emonstrationen anzustoßen und daran teilzunehmen.s ist aber auch das Recht eines jeden Bürgers, gewisseechtsgüter zu schützen. Dass mein Auto und die Un-ersehrtheit meines Körpers geschützt werden – das giltbrigens auch für Polizisten –, ist ein Recht, das wir mit-ilfe unserer Rechtsordnung schützen müssen. Dieseeiden Dinge muss man erwähnen. Das haben Sie soicht getan.
Die Frage, wie man das in eine Verhältnismäßigkeitringt, ist doch der Kernpunkt, über den Sie hier nichtesprochen haben. Man muss sich das Ganze einmal ge-au anschauen. Es wurde eine Anordnung getroffen, dieinen maßgeblichen Eingriff zur Folge hatte. Gerichtlichetrachtet könnte er zunächst einmal als durchaus ange-essen angesehen werden. Ich glaube, dass er auch an-emessen war. Allerdings wurden Daten – das hat sichanach gezeigt – in wesentlich größerem Umfang ge-utzt, als zunächst beabsichtigt war. Das ist ein Punkt,it dem man sich intensiv beschäftigen muss. Wenn esabei um die Landespolizei geht, dann ist der Ort, anem man sich damit beschäftigen muss, das Land Sach-en. Deswegen wird das – Frau Kollegin Piltz hat das
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13772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Manuel Höferlin
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schon gesagt – dort sicherlich auch eingehend geprüftwerden.Wenn wir einen Bezug zur Bundesebene herstellenwollen, müssen wir uns zu Recht § 100 g StPO ansehen.Das ist eine Anregung, die wir durchaus aufnehmen kön-nen. Ich finde schon, dass es angemessen ist, diesen Vor-fall dafür zum Anlass zu nehmen. Wenn Sie das dannaber ausposaunen und es auf den Rechts- und den Links-extremismus beziehen, wie Sie es getan haben, ist das,glaube ich, der Sache nicht angemessen.
– Doch, das war so.Die Funkzellenabfrage wurde später massiv weitergenutzt. Die Daten wurden, wie inzwischen herauskam,später auch für andere Verfahren genutzt. Das ist eineMaßnahme, die längst außerhalb dessen steht, was ge-rechtfertigt ist. Daraus wurden auch Konsequenzen ge-zogen.
Wir können aus dem Fall auch lernen, dass Daten, dieeinmal in großem Maßstab erhoben wurden, häufig auchfür ganz andere Zwecke verwendet werden, als ur-sprünglich vorgesehen war. Das ist etwas, was unsereFraktion bzw. die Liberalen schon immer befürchtet ha-ben. Das ist übrigens auch unsere Position, wenn es da-rum geht, wie man mit Daten umgeht, die für längereZeit gespeichert werden. Unser Vorschlag war und istauch weiterhin, dass man sehr vorsichtig damit umgehenmuss, überhaupt Daten zu erheben.
– Daten nicht so zu verwenden war schon immer unserePosition, liebe Kollegen. Ich wüsste gar nicht, dass Siejetzt irgendetwas Neues gehört haben könnten. Dennwenn Telekommunikationsunternehmen Daten vorrätighalten, gibt es immer andere, die darauf zugreifen möch-ten. Deswegen ist es gut und klug, sich an dieser Stellesehr vorsichtig zu verhalten. Den Rest – da bin ich mirganz sicher – wird man sich im Land Sachsen an-schauen.Ich sage noch einmal: Wir sollten uns § 100 g StPOnoch einmal in Ruhe anschauen und dann vielleicht einesachgerechte Debatte zu diesem Thema führen.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichwende mich erst einmal an meine Kollegen von derUnion: Dass Sie heute versuchen, das polizeiliche Ver-fasedVdrüeSapßtuszahühVBteDtiVingisTwdD1isCdkCKaukg
ie betroffenen Bürgerinitiativen, die diese Demonstra-on organisiert haben, wussten nicht, dass sie schon imorfeld – Stichwort § 129 – ausgespäht wurden. Das ist der Tat – hierbei handelt es sich übrigens um Bundes-esetze – eine Kriminalisierung von Antifaschisten. Dast einfach nicht hinzunehmen.
Die sächsische Regierung schwindelt sich in diesenagen im Übrigen von einer Lüge zur nächsten. Heuteissen wir, dass ganze Stadtteile total überwacht wur-en.
ie Daten Zehntausender Handynutzer wurden erfasst.Million Handydatensätze sind gespeichert worden; dast schon mehrfach gesagt worden. Sogenannte IMSI-atcher wurden eingesetzt, um direkt mitzuhören, was inen Handygesprächen vor Ort gesagt wurde. Wir be-ommen hiermit einen Vorgeschmack auf die Pläne vonDU und SPD – das ist der einzige Punkt, in dem ich derollegin Piltz zustimmen kann –, die uneingeschränktenlasslose Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführennd das Kommunikationsverhalten der gesamten Bevöl-erung zu erfassen. Das lehnen wir ganz klar ab. Aberenau das hat dort stattgefunden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13773
Ulla Jelpke
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– Hier geht es darum, dass Zehntausende unbescholtenerBürger, über die wir heute kaum geredet haben,
ebenfalls abgehört wurden; das müssen Sie sich klarma-chen.
Es gibt keinen Grund, zu glauben, es sei der Polizei nurdarum gegangen, einzelne Gewalttäter unter Zehntau-senden Nazigegnern zu identifizieren. Wenn Neonazis inder Vergangenheit irgendwo in Sachsen einen Migrantenoder einen Obdachlosen zusammengeschlagen haben,hat die Polizei noch nie – ich betone: noch nie – flächen-deckende Abhörmaßnahmen durchgeführt; Sie müssenmir erst das Gegenteil beweisen. Das heißt natürlichnicht, dass wir das fordern. Entscheidend ist aber, wel-che verhältnismäßigen Mittel zu welchem Zeitpunkt ein-gesetzt werden. Es wird deutlich, dass es Ihnen vor allemum eines geht: Der Feind steht auf der Seite der Antifa-schisten und eben nicht auf der Seite der Neonazis.
Das ist hier das große Problem.
– Ich glaube, ich habe hier das Wort.In den Augen der sächsischen Regierung ist jeder kri-minell, der dazu beigetragen hat, den Naziaufmarsch am19. Februar 2011 zu verhindern. Nicht anders ist zu er-klären, dass dort im Vorfeld allen Ernstes Abhörmetho-den gegen das Bündnis „Dresden – Nazifrei“ eingesetztworden sind. Ich hoffe, dass es Klagen von Journalistenund Anwälten geben wird; denn auch der Überwa-chungsschutz wurde verletzt.
Anwälte, Journalisten und auch Parlamentarier habenBerufsgeheimnisse. Sie dürfen deshalb nicht überwachtwerden. Der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thiersehat diesen Skandal als „Demokratie auf Sächsisch“ be-zeichnet. Dem kann ich eigentlich nur in einer Hinsichtwidersprechen: Es handelt sich in diesem Fall nicht nurum Sachsen. So etwas gibt es auch in anderen Teilen derRepublik.Die Bundesregierung darf sich hier nicht aus der Ver-antwortung stehlen. Ich hoffe, dass wir eine auswertendeDdrusdFgdwhgmghvUHddnJredDtesdcDtaL
Kollegin Jelpke, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
en.
Ich komme zum letzten Satz. – Wir werden unsere be-
onnene Auswertung dieses Einsatzes fortführen. Ich
offe, dass wir von den antifaschistischen Bündnissen
iel Unterstützung bekommen.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt für die
nionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen underren Kollegen! Wir haben nun fast eine Stunde überas Thema Einschränkung der Versammlungsfreiheiturch Massenfunkzellenabfrage vor dem Hintergrund ei-er Neonazidemonstration in Dresden im Februar diesesahres diskutiert. Man muss es deutlich sagen: Daschtfertigt dem Grunde nach keine Befassung des Bun-estags in einer Aktuellen Stunde.
enn es fanden nicht unerhebliche Ausschreitungen un-r Ausnutzung des Demonstrationsrechts statt. Im An-chluss daran hat die sächsische Polizei zur Ermittlunger Straftaten und der Straftäter die Daten von zahlrei-hen Handynutzern überprüft und ausgewertet.
as ist ein klassisches Thema für den Sächsischen Land-g.Meine Damen und Herren von der Fraktion Dieinke, ich danke Ihnen dennoch für diese Aktuelle
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13774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Helmut Brandt
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Stunde. Sie haben völlig recht: Das in Art. 8 unseresGrundgesetzes verankerte Recht der Versammlungsfrei-heit ist ein zentrales Grundrecht, das es zu schützen gilt.In Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz heißt es – ich zitiere –:Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmel-dung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zuversammeln.
Ich betone: „friedlich und ohne Waffen“. Allerdings er-leben wir seit Jahren, dass Demonstrationen keineswegsfriedlich ablaufen. Im Gegenteil: Es kommt immer wie-der zu teils heftigen Ausschreitungen und Gewalt gegenPersonen und Sachen, und zwar sowohl seitens der rech-ten wie seitens der linken Szene. Durch die Gewaltbe-reitschaft wird das Versammlungsrecht immer wiedermissbraucht, und dieser Missbrauch führt zur Gefähr-dung des Grundrechts als solchem. Deshalb gebietet derSchutz des Versammlungsrechtes, diejenigen zu ermit-teln, die dieses Recht missbrauchen und infrage stellen.
Wie aber ermittelt man die teils vermummten Tätermit Erfolg?
Wie zieht man Demonstranten, die sich Mützen über denKopf ziehen, um nicht erkannt zu werden und um in die-ser Anonymität Gewalt auszuüben, zur Verantwortung?Der Berliner Innensenator Körting warnte am Dienstag-morgen in einem Gespräch mit dem Tagesspiegel voreiner Eskalation der Gewalt zwischen Rechts- undLinksextremisten: Er befürchte vor allem, dass bei Ex-tremisten auf jede Aktion eine Gegenaktion folge – dasist sicherlich berechtigt –,
und dem gelte es, Einhalt zu gebieten. Der Innensenatorhat vollkommen recht: Die Spirale der Gewalt und dieBereitschaft, das in Art. 8 Grundgesetz verankerte Rechtauf Versammlungsfreiheit für die eigenen Zwecke zumissbrauchen, müssen wir mit allen nötigen, aber natür-lich auch rechtmäßigen Mitteln unterbinden.
Wenn dies, wie hier, mit legitimen Mitteln auf derGrundlage unserer Gesetze geschieht, dann ist das inOrdnung und nicht in Zweifel zu ziehen.Die Erhebung der Funkzellendaten durch die Polizei– das ist mehrfach ausgeführt worden – findet ihreGrundlage in § 100 g StPO. Danach dürfen bei Verdachtauf eine Straftat von erheblicher Bedeutung auch ohneWissen des Betroffenen Verkehrsdaten erhoben werden,soweit dies für die Erforschung des Sachverhalts oderdie Ermittlung des Aufenthaltsortes des BeschuldigteneSvugFlezdkhasBVPPcwASnGmdestedd––
Dazu komme ich gleich, Herr Montag.
Zwei Dinge möchte ich ausdrücklich betonen, weilier rein aus politischen Gründen versucht wird, das innderer Weise darzustellen:Erstens. Die ermittelten Daten bestehen nicht aus Ge-prächsinhalten.
ei den ermittelten Daten handelt es sich um sogenannteerbindungsdaten. Als Ergebnis der Abfrage wird derolizei eine Vielzahl von Verkehrsdaten übermittelt. Dieolizei erkennt anhand dieser Daten aber lediglich, wel-he Mobilfunkanschlüsse wann, wo und wie verwendeturden. Sie ersieht aus den Daten nicht einmal, wer dernschlussinhaber ist.
ie sieht damit erst recht nicht, welche Personen mitei-ander kommuniziert haben oder welchen Inhalt dieseespräche oder die versandte SMS hatten.Zweitens. Durch die Zahl mag man jetzt zunächst ein-al misstrauisch werden, weil man mit dieser Fahn-ungsmaßnahme natürlich eine große Zahl von Personenrmittelt hat, aber ich sage noch einmal: Wenn eine Mas-endemonstration, die wir grundsätzlich für richtig hal-n, missbraucht wird, besteht natürlich auch das Risiko,ass mit dieser Methode zu viele Menschen erfasst wer-en.
Natürlich haben die Extremisten sie missbraucht.
Die nicht, von denen rede ich nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13775
Helmut Brandt
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– Die sind leider miterfasst worden, aber das war nichtdas Ziel der Aktion.Ich muss Ihnen ganz offen und ehrlich sagen – das isthier zum Glück bei einigen Kollegen schon mehrfachangeklungen –: Ich vermisse hier eine eindeutige Stel-lungnahme zur Unterstützung der Polizei, die sich in die-sen Situationen mit Gewalttätern auseinandersetzenmuss. Dazu hat hier bis zum jetzigen Zeitpunkt jedesWort der Antragsteller gefehlt.
Kollege Brandt, achten Sie bitte auf das Signal.
Frau Präsidentin, ich sehe, dass meine Redezeit leider
schon zu Ende ist. Ich komme zum Schluss.
In der Süddeutschen Zeitung vom 24. Juni 2011 heißt
es:
Bisher wurde über den Einsatz der Methode vor al-
lem nach schweren Straftaten wie dem Holzklotz-
wurf von einer Autobahnbrücke in Niedersachsen
berichtet. Aber bei einer Demonstration?
Das war die Frage. Ich sage zum Schluss: Ja, notfalls
und im Einzelfall auch bei einer Demonstration. Wenn
hier wegen vorsätzlicher Delikte wie versuchtem Tot-
schlag, 37 Körperverletzungen zum Nachteil von Poli-
zeibeamten
und Landfriedensbruch ermittelt wird, dann sind diese
Methoden gerechtfertigt.
Danke schön.
– Ja, da gehören Sie hin.
Das Wort hat der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe mich spät entschlossen, hier doch das Wort zuergreifen. Ich will Ihnen nicht Ihre Zeit stehlen,
awSSbMßmRoDinudshfrnPsdwDcTadatadsDS
Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet – das werdenie nicht bestreiten, lieber Herr Montag –:Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmel-dung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zuversammeln.
ie wissen, dass ich ein berühmter Verfassungsrechtlerin.
an kann Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz auch folgenderma-en lesen, Herr Ströbele – und ich glaube, Sie werdenir nicht widersprechen –: Alle Deutschen haben dasecht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich undhne Waffen zu versammeln – mit oder ohne Handy. –as ist nicht absurd oder lächerlich.
Bei dieser großen Versammlung am 19. Februar 2011 Dresden haben sich über 10 000 Menschen friedlichnd ohne Waffen versammelt. Ich gehe davon aus, dassie meisten dieser Menschen – oder zumindest Tau-ende, Herr Sensburg – auch ein Handy in der Tascheatten.
Die meisten dieser Menschen – 99 Prozent – habeniedlich von ihrem Grundrecht Gebrauch gemacht. Ei-ige wenige haben schwere Straftaten zum Nachteil vonolizisten begangen. Dafür gibt es überhaupt keine Ent-chuldigung, und diese Straftaten müssen geahndet wer-en. Das ist überhaupt keine Frage. Ich denke, darin sindir uns alle hier von links bis rechts einig.
as kann gar nicht streitig sein.Es kann aber doch nicht wahr sein, dass ein friedli-her Versammlungsteilnehmer, der ein Handy in derasche hat, damit rechnen muss, durch die Funkzellen-bfrage an diesem 19. Februar 2011 mit seinen Verkehrs-aten in dieser oder jener Akte aufzutauchen. Ich mussls friedlicher Versammlungsteilnehmer, der keine Straf-ten begeht und gegen den es keinen konkreten Ver-acht gibt, das Vertrauen haben, dass ich nicht Gegen-tand polizeilicher Beobachtung werde und dass keineaten von mir erfasst werden. Das kann doch an diesertelle überhaupt nicht streitig sein.
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13776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011
Dr. Dieter Wiefelspütz
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Man muss erst einmal auf die Idee kommen, dass das et-was mit der durchaus legitimen Diskussion über Vorrats-datenspeicherung zu tun haben könnte. Nichts hat dasdamit zu tun.
Hier hat Strafverfolgung stattgefunden, weil es in der Tateinen konkreten Verdacht auf schwerste Straftaten gab.Aber dann die Daten von Zehntausenden von Menschenüber Funkzellenabfrage zu erfassen, wenn die von derDemonstration mit ihrer Freundin telefonieren oder mitjemand anderem kommunizieren, so wie wir das alle tun– das kann doch nicht wahr sein.Lieber Kollege Brandt, lieber Kollege Sensburg, mankann über vieles streiten. Aber dass hier das Prinzip derVerhältnismäßigkeit massiv verletzt worden ist, ist mitHänden zu greifen. Ich möchte gerne dazu beitragen,dass wir nicht eine parteipolitische Debatte gegen oderfür den sächsischen Innenminister oder wen auch immerführen. Wir müssen sehen, dass der aus meiner Sichtdurchaus legitime Einsatz nach § 100 g StPO – über Ein-zelheiten kann man reden – an vielen Stellen sinnvoll ist,um schwerste Straftaten aufzuklären. Es darf aber nichtsein, dass die Möglichkeiten dieses Paragrafen so ausge-legt werden – das ist auch von einem Richter abgesegnetworden –, dass es zu Kollateralschäden oder einer Ver-letzung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit kommt unddamit letztlich § 100 g StPO infrage gestellt wird. Wirblamieren uns doch alle miteinander, wenn wir dasRecht in dieser völlig unverhältnismäßigen Form anwen-den.Es kann nicht sein, dass Zehntausende von friedlichenVersammlungsteilnehmern Opfer einer Strafverfolgungwerden und dass ihre Daten ausgelesen werden. Das istnicht in Ordnung. Das müssen wir abstellen. Wenn dasanders nicht möglich ist, dann müssen wir das entspre-chende Gesetz präzisieren.
Es müsste doch in diesem Haus einen großen Kon-sens dahin gehend geben, dass das nicht sein darf, geradewenn wir verhindern wollen, dass schwere Straftatenbegangen werden oder wenn wir Täter von schwerenVerbrechen ermitteln wollen. Die Möglichkeiten nach§ 100 g StPO sind an vielen Stellen sinnvoll angewandtworden. Am 19. Februar dieses Jahres ist man in Dres-den weit über das verfassungsrechtlich zulässige Ziel hi-nausgeschossen. Das ist eine schwere Grundrechtsver-letzung. Ich möchte sehr dafür werben, dass wir uns andieser Stelle einig sind.Schönen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat der Kollege Günter Baumann für die
Unionsfraktion.
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ür mich ist das eindeutig ein Thema, das im Land Sach-en geklärt werden muss. Der Landtag hat sich dieseoche damit beschäftigt und gesagt: Dieses Thema ge-ört in unser Land, nicht nach Berlin.
Ich möchte ganz kurz etwas zur Vorgeschichte sagen,eil hier vieles untergegangen ist. Jedes Jahr am 13. Fe-ruar – das ist gut so – gedenken friedliche Menschen inresden der Bombardierung ihrer Stadt, gehen auf dietraße und verleihen ihrer Trauer Ausdruck. Das mussöglich sein. Wir sind verpflichtet, eine solche Veran-taltung abzusichern. Einige Redner haben es schon ge-agt – ihnen gebe ich 100 Prozent recht –: Wir müssen Vorfeld mehr dafür tun, dass weder rechte noch linkehaoten diese Veranstaltung stören können. Wir alleüssen etwas mehr dafür tun, dass dies möglich ist.In den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass dieseersammlungen am 13. und 14. Februar in Dresdenissbraucht werden, weil von Rechten Demonstrationeneantragt werden, die genehmigt werden müssen. Wirlle kennen die Gesetze bestens. Dieses Recht wirdissbraucht, um dort aufzumarschieren, was uns allenehtut; das ist gar keine Frage. Infolgedessen kommeneistens zusätzlich linke Chaoten. Dadurch entstehenie berühmten Straßenschlachten.In diesem Jahr war das in Dresden besonders extrem,eil die Rechten die Versammlung instrumentalisiert ha-en und den Krieg, so wie er war, geleugnet haben; dasann man nicht dulden. Das ist ein Missbrauch auf demücken der Dresdner Einwohner. Ich denke, in diesemunkt sind wir uns einig. Wir sind alle wütend, wenn wirehen, dass linke Chaoten dazukommen und sich denechten entgegenstellen. Das führte dann zu Straßen-chlachten. Ich denke, das kam zu wenig heraus: Inresden gab es Straßenschlachten. Arnold Vaatz hat dason vielen Bürgerinnen und Bürgern in seinem Wahl-reis gehört. Die Stadt hat gebrannt. Es haben Müllton-en gebrannt. Es wurden Steine in Fensterscheibeniedlicher Bürger geworfen. Es ging dort also chaotischu.Die Frage ist, was man in einer solchen Situation ma-hen kann. Soll man zuschauen, Wasserwerfer einsetzender was auch immer? Frau Lühmann, Sie haben dashema angesprochen. Wenn man zwischen zwei chaoti-chen Gruppen steht, muss man vielleicht einiges tun,as man normalerweise nicht macht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13777
Günter Baumann
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In Dresden wurden 112 Polizisten zum Teil schwerverletzt. Das kann man nicht hinnehmen. Es wurden ins-gesamt 687 Straftaten registriert. Die Spitze – im wahrs-ten Sinne des Wortes – war, dass eine Eisenspitze hinter-rücks auf Polizisten geworfen wurde. Das ist eindeutigversuchter Totschlag, und das kann man nicht hinneh-men.
Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen,den Polizistinnen und Polizisten ganz herzlich zu dan-ken, die jeden Tag in unserem Land an irgendeiner Stellestehen und die auch in Dresden standen und einen Super-job für unsere Sicherheit leisten. Herzlichen Dank allensagt niemand, dass in Dresden alles zu 100 Prozent sau-ber gelaufen ist.
Es gab den Beschluss eines Richters. Danach wurdegehandelt. In einigen Fällen wurden Daten verwendet, indenen dies nicht zulässig war. Das ist korrigiert worden.Insofern ist das in Ordnung. Es wird auch weiter aufge-arbeitet.Der Landtag hat sich diese Woche damit beschäftigt.Marko Schiemann, mein Kollege im Landtag, hat ge-sagt, dass dieses Thema eindeutig nicht nach Berlin ge-hört; es sei keine Angelegenheit der Bundesregierung,sondern ein Dresdner bzw. ein sächsisches Thema, das inSachsen aufgearbeitet werden solle. Dem kann manPolizisten, die ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt und da-für gesorgt haben, dass halbwegs Ordnung herrschte!
Ich bin der Überzeugung, dass die Mehrheit der Bür-gerinnen und Bürger will, dass die Straftaten aufgeklärtund die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Diesächsische Polizei hat eine Sonderkommission gegrün-det – das ist, glaube ich, in solchen Fällen üblich – undhat als Ermittlungsansatz bei der Staatsanwaltschaft ei-nen Antrag auf Funkzellenabfrage gestellt. Auch das istein ganz normales Vorgehen. Die Staatsanwaltschaft hatden Antrag geprüft, und ein Richter hat ihn genehmigt.Ich frage mich, ob Sie die Unabhängigkeit der Richterabschaffen wollen, weil das Vorgehen Ihrer Meinungnach nicht in Ordnung war. Dann muss man das deutlichsagen.Wir sagen: Wenn ein Richter das nach der Prüfungdurch den Staatsanwalt genehmigt, dann ist das in Ord-nung. Dann darf es gemacht werden. Das ist auch in die-ser Form erfolgt.
– Dazu komme ich noch. – 45 Strafverfahren wurdeneingeleitet und bearbeitet. Der sächsische Innenministerhat deutlich gesagt, dass es hierbei zu einer Datenerfas-sung kam, die nicht zulässig war. Diese Daten wurdenaus den Akten herausgenommen. Das wurde geklärt. EsnbwwnPBMcod
Ich komme zum Schluss. Ich denke, wenn eine Stadtrennt und es in den Straßen zu Chaos kommt, solltenir alle Mittel nutzen, dagegen vorzugehen. Das müssenir bekämpfen. Dazu gehört auch die Funkzellenabfrageach Genehmigung eines Richters.Wir sind auch verpflichtet, alles zu tun, um unsereolizistinnen und Polizisten und unsere Bürgerinnen undürger vor den Chaoten zu schützen. Dabei ist jedesittel recht, welches das Gesetz zulässt.Herzlichen Dank. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wo-henende.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
rdnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
estages auf Mittwoch, den 6. Juli 2011, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.