Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heu-
tige Tagesordnung um zwei Beschlussempfehlungen des
Vermittlungsausschusses auf den Drucksachen 14/5238
und 14/5239 erweitert werden. Die Punkte werden nach
der Debatte zur Ostseeregion aufgerufen. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Die Bundeswehr der Zukunft, Feinausplanung
und Stationierung
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundes-wehr hat gemeinsam mit verbündeten StreitkräftenDeutschland und seinen Partnern über Jahrzehnte Freiheit,Frieden und Sicherheit gewährleistet. Sie hat Menschen ge-dient, in Katastrophen geholfen und auch einen bedeuten-den Beitrag zur inneren Einheit unseres Landes geleistet.Die Bundeswehr ist, wie niemals zuvor deutsche Streit-kräfte, fest verankert in Demokratie, Rechtsstaat und Be-völkerung. Sie unterstützt die Beilegung von Krisen undKonflikten. Dafür erfahren die Angehörigen unserer Bun-deswehr Anerkennung, Dank und Respekt in der NATO,in der Europäischen Union und zu Hause und sicher auchhier im Deutschen Bundestag.
Seit 1990 haben sich die Bedingungen deutscherAußen- und Sicherheitspolitik grundlegend verändert undin mancher Hinsicht verbessert. Unverändert gilt aber:Nur die Solidarität der internationalen Staatengemein-schaft ermöglicht es auch uns Deutschen, Frieden undFreiheit gemeinsam und umfassend zu gewährleisten undan der politischen Regelung internationaler Konflikte ak-tiv mitzuwirken. Wirksame Einflussnahme setzt eigenesEngagement voraus. Das verlangt auch die Übernahmemilitärischer Verantwortung.Die Bundeswehr dient unverändert der Sicherheit un-seres Landes und unseres Bündnisses. Aus dem histori-schen Gewinn überwundener Teilung Deutschlands undEuropas wurden jedoch in den 90er-Jahren kaum Konse-quenzen gezogen. Ausrüstung, Fähigkeiten und Struktu-ren unserer Streitkräfte wurden sträflich vernachlässigt.Die Bestandsaufnahme vom Mai 1999 hat gezeigt: DerWandel zu modern ausgerüsteten und in großer Band-breite einsetzbaren Streitkräften ist dringend erforderlich.Diese Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf hatbegonnen. Das wird in NATO und Europäischer Unionausdrücklich begrüßt und unterstützt. Die NATO hat aufdem Gipfel in Washington im April 1999 ihr neuesstrategisches Konzept beschlossen. Es beschreibt diekünftigen Anforderungen an Fähigkeiten der Streitkräfte:Führungsfähigkeit, Mobilität, Wirksamkeit im Einsatz,Durchhaltefähigkeit und Überlebensfähigkeit.Die Europäische Union hat auf den Gipfeltreffen in Kölnund Helsinki 1999 und in Nizza im Dezember des letztenJahres die Grundlagen für die Ausgestaltung einer eigen-ständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-politik gelegt. Deutschland hat dazu durch BundeskanzlerSchröder und Außenminister Fischer entscheidende An-stöße gegeben. Diese Entscheidungen unserer Freunde undPartner unter aktiver Mitwirkung Deutschlands waren dieVorgaben für Umfang und Fähigkeitenprofil der Streit-kräfte in Europa, also auch in Deutschland.Die Reform der Bundeswehr ist eine Investition in dreiSäulen: in die Menschen, in die Ausrüstung – einschließ-lich der Infrastruktur –, in die Effizienz von Beschaffungund Betrieb. In allen drei Bereichen sind beachtliche Fort-schritte erzielt worden. Nur siebeneinhalb Monate nach14671
150. SitzungBerlin, Freitag, den 9. Februar 2001Beginn: 9.00 Uhrden Grundsatzentscheidungen der Bundesregierung ste-hen die Eckpfeiler der Reform. Dafür danke ich an dieserStelle allen Beteiligten, insbesondere den Inspekteurender Streitkräfte und ihren Stäben.
Erstens. Diese Leistung bestätigt: Die Menschen mitihren Fähigkeiten sind das größte Kapital in der Bundes-wehr. Das hohe Leistungsniveau zu erhalten erfordertfundierte Ausbildungsmöglichkeiten, attraktive Arbeits-plätze, interessante berufliche Perspektiven und eine an-gemessene Entlohnung. Daher wurde zum Beispiel diebesondere Vergütung für Grundwehrdienstleistendeangehoben.
Weitere gesetzliche Regelungen werden dem DeutschenBundestag vor Ostern vorgelegt werden. Sie sollten vordem Sommer 2001 in Kraft treten.Damit wird unter anderem erreicht, dass die Eingangs-besoldung in der Mannschaftslaufbahn auf A3 angehobenwird oder dass Kompaniechefs grundsätzlich nach A 12besoldet werden können. Im Übrigen bauen diese Ver-änderungen auf den Veränderungen auf, die wir schon inden Jahren 1999 und 2000 für die Menschen in der Bun-deswehr erreicht haben.Zweitens. Die Ausrüstung und die Leistungsfähigkeitder Bundeswehr werden an das neue Fähigkeitenprofilangepasst. Ende nächsten Monats wird das Material- undAusrüstungskonzept vorgelegt. Es wird also frühzeitigmit den Entscheidungen zur organisatorischen Neuaus-richtung der Streitkräfte synchronisiert. Aufbau- und Ab-lauforganisation im Rüstungsbereich werden neu struktu-riert. Das führt zu einer Halbierung der Entwicklungs-und Beschaffungsabläufe für Wehrmaterial.Ganzheitliche Systemlösungen sind wichtiger als op-timierte Teilsysteme. Verbesserungen beim Zusammen-wirken verbundener Waffensysteme haben Vorrang vorder Perfektionierung einzelner Waffen und Geräte. Wasnutzt beispielsweise ein hochmodernes Flugzeug, wennes nicht überlebensfähig ist, weil es über eine nur unzu-reichende Selbstschutzausstattung verfügt? Den Euro-fighter zu beschaffen mag eine vernünftige Entscheidungsein.
Diese fliegende Plattform allerdings nur mit einer Mau-serkanone mit einem Kaliber von 27Millimeter auszurüs-ten ist fahrlässig und hat dazu geführt, dass wir am Endedes letzten Jahres Entscheidungen mit einem finanziellenUmfang von rund 2,7 Milliarden DM für eine vernünftigeSelbstschutzausrüstung dieses neuen fliegenden Waffen-systems der Bundeswehr treffen mussten.
Drittens. Wirtschaftliches Denken und Handeln bei Be-schaffung und Betrieb wird endgültig Führungsmaximeauf allen Ebenen der Bundeswehr. Verbunden mit derNutzung moderner Managementmethoden und dankder strategischen Partnerschaft mit der Wirtschaft führtdies zu beträchtlichen Effektivitätssteigerungen und Kos-tensenkungen. Die infolgedessen frei werdenden Mittelstärken den Verteidigungshaushalt und seine Investitions-kraft. Das ist eine deutliche, grundlegende Veränderunggegenüber früher.1994 bis 1998 wurden der Bundeswehr aus bereits be-schlossenen, schon laufenden Haushalten rund 3,1 Milli-arden DM entzogen. 1994 bis 1998 wurden im Jahres-durchschnitt lediglich knapp 5,7 Milliarden DM in dieAusrüstung investiert. 1997 und 1998 betrugen die durch-schnittlichen Ausgaben des Einzelplanes 14 46,5 Milliar-den DM. 1999 und 2000 lagen sie bei 47,8Milliarden DM.
Über die allgemeine Steigerung des Haushaltes hinaussind die jährlichen Investitionen auf einen Schnitt von7,4 Milliarden DM angewachsen, also um mehr als1,7 Milliarden DM pro Jahr.Das zeigt: Die Bundesregierung nimmt die Investitio-nen in eine moderne, leistungs-, bündnis- und euro-pafähige Bundeswehr ernst.
Genauso richtig ist, dass wir diesen Weg begonnener Ver-besserungen konsequent fortsetzen müssen.Mit den Stationierungsentscheidungen können die Be-triebskosten um jährlich mindestens 200 Millionen DMgesenkt werden. Allerdings verzichtet die Bundeswehrauf ein zusätzliches Rationalisierungspotenzial von min-destens 500 Millionen DM. Sie leistet auf diesem Wegeund unter Berücksichtigung regionaler, wirtschaftlicherund insbesondere sozialer Erwägungen einen hohen Bei-trag zu diesen Belangen – zugunsten von Menschen, Ge-meinden und Regionen, zulasten des Einzelplans 14.Angesichts dieser Argumente ist es an der Grenze derLächerlichkeit, zu behaupten, die Stationierungsentschei-dungen folgten einer finanziellen Vorgabe.
Wäre das der Fall, hätten wir nicht 39, sondern 100 bis110 Standorte schließen müssen.
Im Übrigen wird den wirtschaftlichen und regionalenBelangen auch dadurch Rechnung getragen, dass die Bun-deswehr hilft, Liegenschaften für preiswertes Wohnen,neue Stadtteile und die Erweiterung oder Ansiedlung vonBetrieben zu entwickeln. Das ist ein wirtschaftlich vielversprechender Beitrag zur Konversion, der naturgemäßin Ballungsräumen wie München, Hamburg oder Kölnleichter als in kleineren Städten oder ländlichen Gebietengelingt.Die für 2001 erwarteten auch finanziellen Ergebnissesind erreichbar. So sehen es die Banken, die Wirtschafts-verbände, die Handwerkskammern, die Industrie- undHandelskammern und die Unternehmen. Nur die Opposi-tion denkt, sie müsse das anders sehen, und bleibt damit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Bundesminister Rudolf Scharping14672
nicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch wirtschafts-politisch völlig isoliert.
Unser Land und unsere Soldaten haben aber nichts voneiner Opposition, die ihre schweren Versäumnisse derVergangenheit hinter Polemik verstecken will und glaubt,dass diese Polemik Fantasie und Alternative ersetzenkönnte.
Mit Verdächtigungen, mit haltlosen Behauptungen undmit altem Denken ist eine neue und sichere Zukunft derBundeswehr jedenfalls nicht zu schaffen. Die Behaup-tung, man müsse alles so lassen, wie es ist, und im Übri-gen einfach mehr Geld hineinstecken, sichert keineZukunft, sondern konserviert alte, nicht mehr leistungs-fähige Strukturen.
Stationierungsentscheidungen sind die Konsequenzaus der gerade skizzierten Reform. Diese Reform wirdvon Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr der Zu-kunft bestimmt. Es ist nicht die erste Aufgabe der Bun-deswehr, stationiert zu sein. Es bleibt die erste Aufgabeder Bundeswehr, gemeinsam mit Freunden und Partnernfür die Sicherheit und die friedliche Entwicklung des ei-genen Landes und des eigenen Kontinents zu sorgen.
Das Ergebnis werden modular aufgebaute, flexible undzugleich straffe Streitkräftestrukturen sein, die eine effizi-ente Wahrnehmung von Aufgaben ermöglichen. Das giltim Übrigen auch für die Bundeswehrverwaltung. Siewird umstrukturiert und zu einem modernen Dienstleis-tungsunternehmen fortentwickelt. Ihre Unterstützungsleis-tung für Streitkräfte und Bürger erbringt die Bundeswehr-verwaltung in Zukunft in immer engerer Kooperation mitder Wirtschaft.Insgesamt wird die Bundeswehr kleiner, im Hinblickauf die gewandelten Anforderungen jedoch zugleich mo-derner und leistungsfähiger. Die Zahl der Soldatinnen undSoldaten wird von derzeit rund 315 000 – planerisch sindes 340 000, real 315 000 – auf künftig etwa 285 000 ver-ringert. Davon sind circa 203 000 Berufs- und Zeitsolda-ten. Zugleich kann die Zahl der Dienstposten für zivileMitarbeiter in der Bundeswehr sozialverträglich auf80 000 bis 90 000 reduziert werden.An dieser Stelle ist ein Vergleich angebracht: CDU undCSU – zunächst nur die CDU – hatten im Frühjahr des ver-gangenen Jahres ein scheinbar eigenständiges Konzept vor-gestellt. Sie haben gefordert, die Bundeswehr solle langfris-tig 100 000 Zivilbeschäftigte und rund 300 000 Soldaten,davon 100 000 Wehrpflichtige, umfassen. Die Differenzbesteht also darin, dass die Koalition die Zahl der Berufs-und Zeitsoldaten auf 203 000 festgelegt hat, während dieOpposition 200 000 fordert.
Die Differenz besteht weiterhin darin, dass die Koalition82 000 Dienstplätze für Wehrdienstleistende zur Verfü-gung stellen will, während die Opposition 100 000 Dienst-plätze fordert.Entscheidend ist: Soweit wir über die militärischen An-gehörigen innerhalb der Streitkräfte reden, besteht derUnterschied in den Auffassungen lediglich in Bezug aufdie Zahl der Grundwehrdienstleistenden.
Ob diese Differenz das Maß an Polemik rechtfertigt, dasSie entfalten – ich vermute, das wird sich heute fortsetzen,übrigens zulasten der Streitkräfte –, daran habe ich, undnicht nur ich, begründete Zweifel.
Diese Zweifel werden nicht alleine durch die Zahlenund die marginale Differenz zwischen Ihren und unserenZahlen genährt; sie werden auch dadurch genährt, dass dieUnion in ihrem Papier ausdrücklich nicht einen für dieStreitkräfte gemeinsamen Ansatz verfolgt. Die Koalitiondagegen fördert die Konzentration der Streitkräfte auf denEinsatz und die daraus resultierenden strafferen Struktu-ren; diese erhöhen nämlich die Effizienz in der Aufga-benwahrnehmung.Wenn man die nominelle Differenz von knapp15 000 Soldaten – und zwar hauptsächlich im Bereich derWehrpflichtigen – betrachtet, wird das noch ein Stückdeutlicher. Offenkundig haben Sie ein Bedürfnis danach,angesichts einer fehlenden sicherheits- und außenpoliti-schen Alternative die Chance einer breiten sicherheitspo-litischen Übereinstimmung im Deutschen Bundestag ausausschließlich parteipolitischem Kalkül in Frage zu stel-len.
Die Reduzierung beim militärischen Personal wird biszum Jahre 2006 abgeschlossen sein. Bei den zivilen Mit-arbeitern wird dies bis circa 2010 dauern.
Ich sage bewusst: bis circa 2010, da dieser Prozess durchden hoffentlich baldigen Abschluss von Tarifverträgenund die Kooperation mit der Wirtschaft beeinflusst wird.Die Einrichtung einer Streitkräftebasis ist die auffäl-ligste Neuerung in der Streitkräftestruktur. Die Streitkräf-tebasis wird die zentrale militärische Dienstleistung für dieStreitkräfte. Sie fasst Querschnittsaufgaben wie Führung,Aufklärung, Unterstützung und Ausbildung zusammen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Bundesminister Rudolf Scharping14673
Allein in der Logistik können dadurch rund 8 000 Dienst-posten für andere Aufgaben in der Bundeswehr freige-macht werden.In diesem Zusammenhang komme ich noch einmal aufdie Kollegen der CDU/CSU zu sprechen:
Wenn man die nominelle Differenz bei der Zahl der Be-rufs- und Zeitsoldaten – Sie wollten 200 000, wir werdenuns für 203 000 entscheiden – um die schlichte, von denStreitkräften und den Fachleuten errechnete Zahl von8 000 Dienstposten, die man für andere Aufgaben durcheffizientere Wahrnehmung der Logistik freimachen kann,ergänzt, dann übertrifft die Koalition die Opposition beider Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten nicht um 3 000,sondern sogar um 11 000.Ich sage Ihnen das auch vor dem Hintergrund der wirt-schaftlichen Auswirkungen; denn an den Standorten wirddurch die innere Stärkung der Einheiten sowie durch dieVerbindung von Ausbildungs- und Übungserfordernisseneinerseits und Einsatzerfordernissen andererseits eineStärkung stattfinden, die Sie offenbar aus Ihrer Rechnungherausholen wollen.
Im Übrigen wird der zentrale Sanitätsdienst umge-staltet und die vorher den Teilstreitkräften zugeordnetenAufgaben der sanitätsdienstlichen Versorgung werden ge-bündelt.
Die Stationierung von Bundesgrenzschutz und Streit-kräften der Verbündeten wurde berücksichtigt.Reduzierungen werden vor allem in größeren Gar-nisonen und in Gebieten mit hoher militärischer Konzen-tration vorgenommen. Wo möglich, ist auf die Vorstellun-gen der Bundesländer, der Kreise und der GemeindenRücksicht genommen worden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Bundesminister Rudolf Scharping14674
Die Bundeswehr wird im Jahre 2006 in 539 zivilenGemeinden vertreten sein. Damit bleiben über 90 Prozentder heutigen Dienstorte erhalten. Gleichzeitig wird dieZahl der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter aber umetwa 17 Prozent reduziert. Einer Reduzierung des Um-fangs der Bundeswehr um circa 17 Prozent steht eineSchließung von Standorten in der Größenordnung von6,5 Prozent gegenüber. Auch das zeigt, dass auf wirt-schaftliche, regionale und soziale Belange sehr starkRücksicht genommen wurde.
Der besonderen Verantwortung der Bundesregierung fürdie neuen Länder wird das Ressortkonzept gerecht. Eskommt nur vereinzelt zu Standortschließungen oder zu er-heblichen Reduzierungen.Vor diesem Hintergrund mache ich darauf aufmerk-sam, dass zurzeit, und zwar wiederum anders als in derVergangenheit, intensive Gespräche mit den Minister-präsidenten stattfinden. Ich treffe dabei auf eine Fülleüberlegenswerter Anregungen, vorrangig nicht zur Statio-nierung der Streitkräfte, sondern insbesondere zu Frageneines Wandels, der wirtschaftlich förderlich gemacht wer-den kann, wenn Bedürfnisse bzw. Absichten von Ge-meinden oder von Ländern und Planungen der Bundes-wehr sorgfältig aufeinander abgestimmt werden. Dazusind wir ausdrücklich bereit.Mittlerweile habe ich mit der Mehrheit der Minister-präsidenten gesprochen; mit insgesamt 15 Länderchefssind bis Mitte der nächsten Woche Termine vereinbart.Die Entscheidung wird Ende der nächsten Woche zuver-lässig getroffen. Ich hoffe, dass diejenigen, die in einervollkommen übertriebenen, alarmierenden Wortwahl voneinem „Kahlschlag“ oder von einem „parteipolitischenStrafzug“ reden,
doch wenigstens die Kraft aufbringen, ihren Kalender sozu sortieren, dass man vernünftig miteinander reden kann.Es geht darum, zu erörtern, dass die Zahl der Standorte,die in dem betroffenen Bundesland aufwachsen, groß ist.Zum Beispiel wird im Freistaat Bayern die Stationie-rungsdichte, also das Verhältnis zwischen der Anzahl derDienstposten und der Gesamtheit der Einwohner, unter-durchschnittlich reduziert.
Man kann die Bedeutung der Bundeswehr in einem Landnämlich nicht allein und nicht vorrangig an der Zahl vonStandorten messen; vielmehr ist insbesondere die Zahl derzur Verfügung gestellten, zukunftssichernden Arbeits-plätze entscheidend.
Ich fasse zusammen:
–Mein lieber Herr Kollege Repnik, wir erleben gleich denVersuch der Rehabilitation auf einem ungeeigneten Feld.
Ich bin sehr gespannt, von Ihnen einmal zu hören, ob Siehinsichtlich der Reform der Streitkräfte eine Alternativehaben, die anders als nur quantitativ ist.
Ich bin sehr daran interessiert, von Ihnen einmal eine Be-wertung darüber zu hören, wie die sträfliche Vernachläs-sigung der Investitionen in die Ausrüstung der Bundes-wehr in den 90er-Jahren in kürzester Zeit ausgeglichenwerden könnte. Ich bin sehr daran interessiert, von Ihneneinmal zu hören, ob Sie nicht endlich zur Kenntnis neh-men wollen, dass unsere Partner in der EuropäischenUnion und in der NATO die Reform der Streitkräfte nichtnur ausdrücklich begrüßen, sondern in einer gewissenZeit, in der wir nicht die Verantwortung hatten, auch an-geregt und zum Teil sogar gefordert haben.Glauben Sie wirklich, dass die erstmalige Wahl einesdeutschen Generals zum Chef des Militärstabes der Euro-päischen Union und dass die kurz bevorstehende Ernen-nung eines deutschen Generals zum StellvertretendenOberbefehlshaber der NATO – gar nicht zu reden von demWunsch, der eine oder andere möge noch dazukommen;dieser Wunsch musste leider abgelehnt werden – Hin-weise darauf sind – Sie haben das dümmlicherweise auchin München behauptet –, dass die Bundeswehr innerhalbder NATO schlecht angesehen sei und ihre Aufgaben nichterfüllen könne? Das Gegenteil ist der Fall.
Keine Motivation rechtfertigt es, in der parteipoli-tischen Auseinandersetzung das Ansehen der Streitkräfteund die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutsch-land in der Außen- und Sicherheitspolitik zu beschädigen.Es gibt dafür keine innenpolitische Rechtfertigung!
Die sorgsame und umfassende Prüfung aller relevantenFaktoren hat zu einem gut abgewogenen Ergebnis ge-führt: Kommandobehörden, zivile Dienststellen undTruppe bleiben in der Fläche verteilt. Die Zahl derStandortschließungen ist so gering wie möglich gehalten.Das Gleichgewicht der ausgewogenen Stationierung lässtÄnderungen in der abschließenden Abstimmungsrundenur noch in gut begründeten Ausnahmefällen zu.Mir ist bewusst, dass einige der nun getroffenen Ent-scheidungen auch Härten mit sich bringen, vor allem dort,wo Standorte geschlossen werden. Es ist aber für einesozialverträgliche Umgestaltung hilfreich, dass wir nunplanerische Sicherheit haben. Sie sollte bald durch einenTarifvertrag ergänzt werden. Im Wesentlichen werdenwir mit der Umsetzung der Stationierungsentscheidun-gen in den Jahren 2002 bis 2004 beginnen und sie zumgrößten Teil bis zum Jahre 2006 zum Abschluss gebracht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Bundesminister Rudolf Scharping14675
haben. Es bleibt also genügend Zeit für die Entwicklungvon Maßnahmen, die jene Nachteile abfedern, von denenMenschen oder Gemeinden unmittelbar betroffen sind.Meine Damen und Herren, ich verbinde diese ab-schließende Bemerkung mit einem ausdrücklichen Dankan die Koalition und insbesondere an deren Mitglieder imVerteidigungsausschuss dafür,
dass es in einem erstaunlich kurzen, aber auch außerge-wöhnlich gründlichen Prozess gelungen ist, die kon-zeptionellen Grundlagen für die Reform unserer Streit-kräfte zu erarbeiten, sie planerisch umzusetzen undEntscheidungen zu treffen, die in der Geschichte der Bun-deswehr bisher nur mit ihrer Aufstellung zu vergleichensind.
Hier geht es nämlich nicht um eine Reduzierung derStreitkräfte, sondern um die Einführung eines komplettneuen Aufgaben- und Fähigkeitsprofils, um komplettneue Möglichkeiten der Erfüllung dieser Aufgaben undim Übrigen auch darum, der unbestritten hohen Motiva-tion und Leistungsfähigkeit der Angehörigen der Streit-kräfte nun endlich auch die modernen Strukturen unddie moderne Ausrüstung zur Seite zu stellen, die die An-gehörigen der Streitkräfte verdient haben und die sie jetztauch bekommen werden.
Bevor ich die Aus-sprache eröffne, möchte ich, da es gerade Wortmeldungenzu Zwischenfragen gegeben hat, an unsere Geschäfts-ordnung erinnern: Danach sind während einer Regie-rungserklärung keine Zwischenfragen und im Anschlussan sie auch keine Kurzinterventionen zugelassen, da dieAussprache erst danach beginnt, liebe Kolleginnen undKollegen.Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile das Wortdem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
Friedrich Merz (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Wir hatten ja alle etwas Mühe, bei die-ser Regierungserklärung wach zu bleiben.
Herr Scharping, Sie konnten das nicht sehen, aber bei denanwesenden Mitgliedern der Bundesregierung war dasnoch augenfälliger als bei uns;
sie sparen vielleicht ihre Kräfte.Ich will zunächst zwei Fragen stellen, die mir spontanin den Sinn gekommen sind, als ich Ihre Rede hörte:
– Ich habe nur zwei, aber dafür zwei konkrete.Ich habe mich zum einen gefragt, warum eigentlichvor gut einem Jahr der Generalinspekteur von Kirchbachzurückgetreten ist,
wenn Ihr Konzept so gut ist, wie Sie es hier dargelegt ha-ben. Was war eigentlich der Grund für den Amtsverzichtdes Generalinspekteurs,
den Sie ja auch beauftragt hatten, eine neue Konzeptionfür die Bundeswehr vorzulegen?
Zum Zweiten stellt sich für mich ein logischesProblem: Wenn die Zahlen – ich frage jetzt nicht nachBrutto und Netto – alle stimmen, die Sie hier vor-getragen haben, dann müssten Sie eigentlich auf derSuche nach mindestens 50 neuen Standorten für dieBundeswehr in der Bundesrepublik Deutschland sein.
In Wahrheit hat noch nie ein Verteidigungsministerhier im Parlament eine Konzeption für die zukünftigeStruktur der Bundeswehr vorgestellt, die so auf Sand ge-baut ist wie die, die wir heute Morgen zum zweiten Malgehört haben.
Die Bundeswehr steht vor einem Umbauprozess ohnePerspektive und voller neuer Unsicherheiten. Die „Re-form der Bundeswehr von Grund auf“, wie Sie das nen-nen, stellt die Fähigkeit der Bundeswehr, die ihr gestell-ten Aufträge auch in Zukunft zu erfüllen, von Grund aufin Frage. Das ist die Wahrheit.
Schon die Art und Weise, wie Sie die Standortentschei-dungen hier noch einmal präsentiert haben, zeigt dasganze Ausmaß der Unseriosität, auch was Ihre Zahlenangeht. Ich will Ihnen drei Beispiele nennen.Sie haben vor, einen der größten Standorte in denneuen Bundesländern zu verkleinern. In Ihrem Konzeptwird dieser Standort, Eggesin in Mecklenburg-Vorpom-mern, von 1 800 Dienstposten auf jetzt 55 reduziert.
Da die Grenze zwischen Kleinstandorten und Großstand-orten bei 50 eingezogen wurde, bleibt dieser Standort
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Bundesminister Rudolf Scharping14676
mit 55 auch in Zukunft ein Großstandort. Meine Damenund Herren, so rechnet Scharping.
Lassen Sie mich ein zweites Beispiel nennen. InNeumünster verbleiben von rund 800 Soldaten und zivi-len Mitarbeitern jetzt noch zehn.
Dort verbleibt das Truppendienstgericht
– ohne Truppe, meine Damen und Herren.
Kürzungen, die weniger als 500 Dienstposten ausmachenund nicht mehr als die Hälfte des Personalbestandes be-treffen, werden in Ihrem Konzept überhaupt nicht alsStandortverkleinerungen genannt.Mit diesen Tricksereien täuscht die Bundesregierung,täuscht der Bundesverteidigungsminister die Öffentlich-keit. Schlimmer noch: Er täuscht die Betroffenen, die Sol-daten und die zivilen Mitarbeiter an den Standorten.
Welche seltsamen Wege Sie mit Ihrer Öffentlichkeits-arbeit und Ihrer Informationspolitik gehen, Herr Bundes-verteidigungsminister, das haben wir schon beim Umgangmit dem Problem der so genannten DU-Munition undauch bei der Gefährdung der Soldaten durch die Radarab-strahlungen erlebt.
Darüber werden wir bei anderer Gelegenheit noch aus-führlicher sprechen.Ich will nur etwas Grundsätzliches sagen. Sie sind alsVerteidigungsminister, Herr Scharping, nicht nur Inhaberder Befehls- und Kommandogewalt. Sie sind als obersterDienstherr auch zur Fürsorge den Soldaten gegenüberverpflichtet.
Diese Fürsorgepflicht ernst zu nehmen gegenüber denSoldaten der Bundeswehr erfordert Offenheit und Ehr-lichkeit, und zwar nicht nur beim Einsatz der Soldaten,sondern auch dann, wenn sie an ihren Standorten sind.Von dem Vertrauen, das einmal ein ebenfalls sozialdemo-kratischer Verteidigungsminister namens Georg Leber beiden Soldaten der Bundeswehr gehabt hat
– nein; ich weiß mich daran zu erinnern, weil ich in derZeit meinen Wehrdienst geleistet habe –, sind Sie meilen-weit entfernt, Herr Scharping.
Es ist ja nicht nur ein Konzept zur Reduzierung derStandorte, sondern es muss ein sicherheitspolitischesKonzept dahinter stehen. Darüber zu sprechen mussheute Morgen auch Gelegenheit sein.
Nach der wiedergewonnenen deutschen Einheit haben dieBundesverteidigungsminister Stoltenberg und Rühe auszwei feindlichen Armeen die Armee der Einheit ge-schaffen.
Aus Gegnern wurden Freunde in einer gemeinsamendeutschen Bundeswehr. Nirgendwo sonst in der deut-schen Gesellschaft ist die innere Einheit so schnell und soerfolgreich Realität geworden wie in der Bundeswehr.
Diese historische Leistung haben wir dem großartigenEngagement der Soldaten und zivilen Mitarbeiter derBundeswehr, aber auch der übernommenen Soldaten undzivilen Mitarbeiter der Nationalen Volksarmee zu verdan-ken. Auch zehn Jahre nach der deutschen Einheit hat diesunseren Respekt und unsere Anerkennung verdient.
Ich sage dies, weil seitdem die Bundeswehr in Umfang,Struktur und Auftrag in sehr schwierigen Reformschrittenauf die neuen Aufgaben ausgerichtet worden ist. Es ent-standen die Streitkräfte im vereinten Deutschland, dieStreitkräfte eines Landes, das auch in der Außen- undSicherheitspolitik eine größere internationale Verantwor-tung übernehmen musste, übernehmen wollte und auchübernehmen konnte.Diese neue Bundeswehr hat ihre ersten internationa-len Militäreinsätze bei Friedensmissionen und bei derKrisenbekämpfung insbesondere in Kambodscha und So-malia sowie – bis heute andauernd – in Bosnien und imKosovo professionell und sehr erfolgreich absolviert.Diese Einsätze waren wichtig für den Frieden in den je-weiligen Ländern. Sie waren von unschätzbarer Bedeu-tung für das Ansehen unseres Landes nach der Wieder-vereinigung. Es gehört eben auch zur historischenWahrheit: CDU und CSU haben diese Einsätze damalszum Teil gegen den erbitterten Widerstand von Teilen derSozialdemokraten und insbesondere der Grünen durch-setzen müssen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Friedrich Merz14677
Ich erwähne all dies, weil Sie, Herr Scharping, nachdiesem tief greifenden Umbauprozess in der Bundeswehrein gut bestelltes Haus übernommen haben.
Ich will gar nicht bestreiten, dass es auch nach 1998 wei-teren Reformbedarf in der Bundeswehr gegeben hat.Aber der entscheidende Unterschied ist: Unsere Politikhätte ihre Grundlage in einer Haushaltsplanung gehabt,die nach Jahren des Sparens eine Trendumkehr für dieBundeswehr eingeleitet hätte.
– Meine Damen und Herren, da Sie erwartungsgemäßZwischenrufe in größerer Anzahl machen, möchte ich andieser Stelle daran erinnern, dass es nach der Bundestags-wahl 1998 einen Konsens gegeben hat, die Haushaltspla-nung für die Bundeswehr, so wie ursprünglich vorgese-hen, auf knapp 50 Milliarden DM im Jahr aufzustocken.
Sie, Herr Scharping – wir alle haben dies noch gut in Er-innerung –, haben den Posten als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion nur aufgegeben und sind Verteidi-gungsminister geworden, weil der Bundeskanzler und derBundesfinanzminister Ihnen genau diese Aufstockung zu-gesagt und versprochen haben. Diese Zusage ist gebro-chen worden.
Unter Rot-Grün gibt es die größte Kürzungsaktion inder Geschichte der Bundeswehr. Die Streitkräfte verlierenin vier Jahren knapp 20 Milliarden DM gegenüber dem,was Sie ihnen zu Beginn Ihrer Amtszeit zugesagt haben.
Sie haben damit Ihre Versprechen gebrochen. Sie stehenheute nicht als Gestalter einer Reform, sondern als Ge-triebener des Bundesfinanzministers vor dem DeutschenBundestag.
Dies zeigt noch etwas anderes: Diese Bundesregierungund insbesondere viele Regierungsmitglieder haben einetiefe innere Distanz zur Bundeswehr. Die Bundeswehr hatkeine Freunde mehr in dieser Regierung.
Wer ein Unternehmen neu ausrichten will, der weiß,dass im Zuge einer grundlegenden Reform neue Investi-tionen erforderlich sind.
Auf diesen Punkt hat auch die so genannte Weizsäcker-Kommission in ihrem Bericht „Zukunft der Bundes-wehr“ zu Recht hingewiesen.
Jenseits aller Punkte, die uns heute Morgen in der Bewer-tung Ihrer Reform voneinander trennen, muss ich sagen:Sie berufen sich bei Ihrer Reform doch auf den Bericht derWeizsäcker-Kommission.
Aber die entscheidende Veränderung, die die Weizsäcker-Kommission von Ihnen verlangt, Herr Scharping, nämlicheine Anschubfinanzierung für die Reform der Bundes-wehr, fehlt in jeder Haushaltsplanung für die nächsten Jahre.
Ich will Ihnen ein paar weitere Fragen stellen, HerrScharping: Glauben Sie denn wirklich, dass im laufendenHaushaltsjahr 2001 mehr als 1MilliardeDM durch den Ver-kauf von Bundeswehreigentum eingestellt werden kann?Glauben Sie wirklich, dass die Industrie bereit ist, bis-herige Aufgaben der Bundeswehr zu übernehmen, wennes sich nicht rechnen wird? Woher nehmen Sie eigentlichden Optimismus für die hohen Einsparungen, die Siedurch Privatisierung und Rationalisierung erzielenwollen?Glauben Sie schließlich ernsthaft, dass die Soldatennicht sehr genau registriert hätten, dass die Höhe des Ver-teidigungshaushaltes für dieses Jahr gegenüber den Pla-nungen des Finanzministers nur deswegen relativ undvordergründig freundlich ausfällt, weil Sie rechnerisch imVerteidigungshaushalt rund 2 Milliarden DM zusätzlichverbuchen konnten, nämlich für den Einsatz der Bundes-wehr auf dem Balkan?Dies alles ist auf Sand gebaut. Ihre Zahlen stimmennicht und Sie wissen das, Herr Scharping.
Nun lassen Sie mich, weil auch das in diesen Zusam-menhang gehört, ein Wort zur Wehrpflicht sagen. Sie ha-ben sich – gegen manche Widerstände, auch aus den ei-genen Reihen – stets für die Beibehaltung der allgemeinenWehrpflicht in Deutschland ausgesprochen. Wir teilendiese Einschätzung, weil auch wir der Überzeugung sind,dass die Wehrpflicht gut begründet ist, nicht nur hinsicht-lich der sicherheitspolitischen Lage, sondern auch in un-serem Land und in unserer Gesellschaft. Die Wehrpflichtbleibt als Bindeglied zwischen der Gesellschaft und denStreitkräften auf längere Sicht unverzichtbar.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Friedrich Merz14678
Aber nun sind dramatische Einschnitte bei der Zahl derWehrpflichtigen geplant. Sie wissen doch, Herr Scharping,dass die Zahlen, die Sie uns heute Morgen hier vorgetra-gen haben – soweit man dem überhaupt folgen konnte –,falsch sind.
– Entschuldigung, Sie haben doch allein 30 000 so ge-nannte Schülerstellen in die Zahlen einbezogen, die in derBundeswehr gar nicht ausgefüllt werden. – Die Zahl derWehrpflichtigen, die Sie vorsehen, und die Haushaltslage,die damit verbunden ist, werden – das wissen Sie ganz ge-nau – dazu führen, dass die Wehrgerechtigkeit im Kerngefährdet ist. Damit wird die Wehrpflicht von innen aus-gehöhlt. Dies wird auch die Fähigkeit der Bundeswehr,Zeit- und Berufssoldaten zu rekrutieren, auf mittlere Sichtim Kern gefährden.
Die Kürzungen bei der Bundeswehr sind weder sicher-heitspolitisch noch verteidigungspolitisch zu verantwor-ten. Die Bundeswehr hat einen erheblichen Modernisie-rungsbedarf:
bei der Aufklärung, bei der Kommunikation, beim Trans-port und auch bei den persönlichen Ausrüstungen der Sol-daten.
Unsere Soldaten haben, gerade wenn wir sie in soschwierige Einsätze wie im Kosovo schicken, einen An-spruch auf die beste Ausrüstung und die beste Ausbildung.Hierfür zu sorgen ist Verpflichtung und Verantwortungder Politik,
dieses Parlaments, das einen Einsatz der Streitkräfte alleinbeschließen kann, und der Bundesregierung.Wir fordern den Mut zu einer notwendigen Prioritäten-setzung zugunsten der Bundeswehr so, wie ihn andereLänder, insbesondere die USA, bereits aufgebracht haben.Wir haben deshalb beantragt, zur Finanzplanung deralten Bundesregierung zurückzukehren, das heißt kon-kret – ich will es noch einmal sagen –, einen Anstieg derMittel auf circa 50 Milliarden DM vorzunehmen.
Die Politik muss der Bundeswehr gerade in dieserschweren Zeit klare und verlässliche Rahmenbedingun-gen setzen. Nur dann kann die Bundeswehr ihren heraus-ragenden Dienst weiterhin so erfolgreich leisten und nurdann können die Soldaten, die zivilen Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter und ihre Familien endlich wieder eineverlässliche Lebensplanung haben.
Der frühere amerikanische Präsident George Bush hatder Bundesrepublik Deutschland 1991 in einer weltweitbeachteten Rede, die er in der Stadt Mainz gehalten hat,„partnership in leadership“ angeboten.
Wenn wir dies ernst nehmen, muss gerade Deutschlanddie Streitkräfte in die Lage versetzen, die politisch vorge-gebenen Aufgaben auch tatsächlich zu erfüllen.Auf der Münchener Konferenz für Sicherheitspolitikam letzten Wochenende – Sie waren doch auch fast dieganze Zeit anwesend, Herr Scharping – haben alle ameri-kanischen Politiker, die aus der neuen Regierung unddie aus der früheren Regierung, diese Ansprüche an unsin aller Deutlichkeit formuliert. Die Erwartungen anDeutschland sind hoch. Deswegen sehen unsereBündnispartner mit großer Sorge, dass zwischen dem po-litischen Anspruch und der Realität in der Bundeswehreine immer größere Lücke klafft.
Diese Sorgen unserer Partner sind alles andere als un-berechtigt. Wer will, dass die Bundeswehr neue Aufgabenübernimmt – da befinden wir uns in einem Konsens, auchund gerade was die Beschlüsse von Nizza betrifft –, werwill, dass diese Aufgaben wirklich erfüllt werden können,
der muss auch bereit sein, die notwendigen Mittel für dieModernisierung der Bundeswehr aufzubringen.Ich will es noch einmal ganz konkret sagen: Weder dieBeschaffung des neuen Transportflugzeuges noch dieFinanzierung des gemeinsamen Aufklärungssatelliten fin-den sich in Ihren Haushaltszahlen ausreichend wieder.Was hier auf dem Spiel steht, meine Damen und Herren,ist nicht mehr und nicht weniger als die unter der früherenRegierung unter schwierigen Bedingungen, aber erfolg-reich begonnene Ausrichtung auf eine neue sicherheits-politische Lage nach dem Ende des Kalten Krieges. Frie-den und Freiheit unseres Landes zu sichern, mitzuwirkenan internationalen Friedensmissionen und deutsche Inte-ressen wirksam zu vertreten, das alles ist nicht zum Null-tarif zu haben.
Wer nicht zur Solidarität fähig ist, verliert an Einfluss.Im Bündnis der NATO steht Deutschland mittlerweile anvorletzter Stelle, was die Ausgaben für die Streitkräftebetrifft, bezogen auf die Anteile am Bruttosozialprodukt,noch hinter Luxemburg. Dies wird der Bedeutung und derVerantwortung unseres Landes nicht gerecht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Friedrich Merz14679
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab-schluss deutlich machen: Deutschland ist, ob wir das wol-len oder nicht, politisch und wirtschaftlich das bedeutends-te Land in Europa. Als wiedervereintes Land in dergeopolitischen Mitte unseres zusammenwachsenden Kon-tinents haben wir eine neue, größere außenpolitische Ver-antwortung übernommen. Außen-, Sicherheits- und Ver-teidigungspolitik stehen in einem inneren Zusammenhang.Deutschland, Europa und die NATO sind aufeinander an-gewiesen. Der Verteidigungsetat dieser Bundesregierunggefährdet diesen inneren Zusammenhalt.Wir wünschen uns eine deutsche Außen- und Sicher-heitspolitik, die die gewachsene Verantwortung, die unserLand trägt, auch aktiv wahrnimmt. Wir müssen eine stär-kere Rolle im Bündnis der NATO, in den transatlantischenBeziehungen und in der Europäischen Union spielen.
Frieden und Freiheit zu sichern, die Menschenrechtezu schützen, aber eben auch unsere Interessen zu vertre-ten, dies muss Aufgabe der deutschen Außenpolitik, aberauch Aufgabe der deutschen Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik sein. Meine Damen und Herren, dieser Auf-gabe wird die Bundesregierung mit der vorgelegten Re-form der Bundeswehr nicht mehr gerecht.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Jürgen Koppelin, F.D.P.-
Fraktion, das Wort.
Herr Kollege Merz, ich
kann durchaus mit vielem, was Sie hier vorgetragen ha-
ben, einverstanden sein. Aber ich denke, eines sollten sich
die beiden Oppositionsfraktionen, CDU/CSU und F.D.P.,
in einer solchen Debatte nicht entgehen lassen, nämlich
auf das zurückzukommen, was der Bundesverteidigungs-
minister in der Haushaltsdebatte Ende November letzten
Jahres gesagt hat. Als wir damals sagten, es würden
50 Standorte geschlossen, hat er nämlich der CDU/CSU
und der F.D.P. in der Person des Kollegen Austermann
und in meiner Person vorgeworfen,
dies sei völlig übertrieben, und hat uns aufgefordert, den
Beweis hierfür zu liefern. Es spricht heute nur noch von
39, hat aber tatsächlich mindestens 59 Standorte ge-
schlossen.
Sie haben das Beispiel Neumünster genannt.
Herr Kollege Merz, Sie haben es nicht gesagt. Dann tue
ich es: Herr Bundesverteidigungsminister, hier ist der Be-
weis, dass Sie über 50 Standorte schließen.
Daneben fehlt mir sowohl bei Ihnen, Herr Kollege
Merz, als auch beim Bundesverteidigungsminister die
Aussage darüber, was dieses Konzept kosten wird. Eine
Standortreduzierung wird nämlich zunächst einmal viel
Geld kosten. Der Bundesverteidigungsminister hat es bis
heute nicht nötig gehabt – das ist der Unterschied zu un-
serer alten Koalition; auch wir haben Standorte geschlos-
sen –, in den Haushaltausschuss zu gehen, dort sein Kon-
zept vorzulegen und zu sagen: So viel wird es zunächst
kosten und so viel werde ich langfristig einsparen. Auch
das muss doch gesagt werden!
Zum Abschluss: Herr Kollege Merz, der Bundesvertei-
digungsminister hat in vielen Teilen seiner Rede die Op-
position, also CDU/CSU und F.D.P., massiv kritisiert. Wir
befinden uns dabei, so meine ich, Herr Verteidigungs-
minister, in allerbester Gesellschaft. Ich habe nämlich ei-
nen Zeitungsartikel dabei und ich freue mich darüber, dass
die Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein
anwesend ist. Die Überschrift lautet: Simonis kritisiert
Scharping. Wahrscheinlich liegt der Unterschied darin,
dass Frau Simonis das schon seit zehn Jahren macht,
während wir es erst tun, seit er Verteidigungsminister ist.
Ich unterstelle, Kol-
lege Merz, dass Sie darauf nicht antworten wollen, denn
Sie waren gar nicht gemeint. Das, was Herr Koppelin ge-
macht hat, nennt man eine Dreiecksintervention.
Kollege Koppelin, die Regel lautet: Die Intervention
soll sich auf den vorherigen Redner beziehen. Daran
möchte ich nur erinnern.
Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Aus Januar/Februar 2001 werden wirzwei Erinnerungen mitnehmen:
eine daran, dass in diesen Tagen ein wichtiger Schritt zurUmsetzung der Bundeswehrreform getan wurde, und zwarmit dem Ziel, die Bundeswehr bündnisfähiger, aufgaben-fähiger und zukunftsfähiger zu machen; eine andere da-ran, dass die Opposition, vor allem die CDU/CSU, diesenSchritt ausschließlich mit Geschrei und leer laufendenAttacken begleitet hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Friedrich Merz14680
Was hier abläuft, ist eine durchschaubare Inszenierung.Herr Merz, erst haben Sie sich an der Kampagne beteiligt,dem Verteidigungsminister bei der Uranmunition ir-gendwas in die Schuhe zu schieben.
Ich betone dabei „irgendwas“; denn die Vorwürfe warenbeliebig und wechselten täglich. Erst hieß es, es hätte zuspäte Informationen für die eingesetzten Soldaten gege-ben, später hieß es, das Problem sei vernachlässigt wor-den, und schließlich hieß es, es hätte eine schlechte Infor-mation des Parlaments gegeben. Was ist heute davonübrig geblieben? – Nichts, gar nichts!
Sie mussten anerkennen: Die eingesetzten Soldatensind rechtzeitig gewarnt und informiert worden, die Bun-deswehr hat anders als andere Streitkräfte sogar eigeneUntersuchungen durchgeführt – das beweist das Gegen-teil von Gefahrenunterschätzung –, und wir konntenIhnen nachweisen, dass der Bundestag über das Themafrüh, wiederholt und gründlich informiert wurde.
Wir haben dabei gemerkt: Ihnen ist es überhaupt nichtum die Sicherheit der Soldaten oder den Schutz von Um-welt und Land gegangen; denn Sie haben uns, als wir ver-sucht haben, in der NATO wenigstens einen Stopp derVerwendung dieser Munition zu erreichen, im Stich ge-lassen. Sie haben uns überhaupt nicht unterstützt. Das be-weist, um was es Ihnen bei dieser Geschichte wirklich ge-gangen ist.
Dann kamen die Standortentscheidungen. Wiederging das Geschrei vom Kahlschlag und von der Gefähr-dung der Sicherheit der Bundesrepublik los. Eigentlichhat nur noch gefehlt, dass Sie Ihre Familien in ein siche-res Ausland verbracht hätten, so ein Geschrei haben Sieangestellt.
Das waren absurde Vorwürfe. Das Echo in der Öffent-lichkeit war verheerend,
und zwar für Sie, nicht für den Verteidigungsminister.
Ich will Ihnen etwas aus der „Süddeutschen Zeitung“vortragen. Sie schreibt:Man kann mäkeln und meckern an dieser oder jenerEcke seiner Reform: Rudolf Scharping kommt dasklare Verdienst zu, anders als seine Vorgänger vonder Union, gründlich Inventur bei der Bundeswehrgemacht zu haben. Seine Standortliste schreckt nichtvor harten Wahrheiten zurück und hat die Logik aufihrer Seite: Wer eine moderne und kleinere Bundes-wehr will, muss sich damit abfinden, dass sie sichdann aus manchem Stadtbild verabschiedet. Das einewollen und das andere nicht aufgeben, geht nicht.Der Vorwurf des Kahlschlags ist nicht gerechtfertigt.Auch die Unterstellung der parteipolitischen Aus-wahl geht bei genauer Betrachtung der Streichlisteins Leere.
Das sind nicht wir, die das sagen, das ist die Öffentlich-keit.
Kollege Erler, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?
Nein, ich möchte gern im Zu-sammenhang vortragen.Im „Mannheimer Morgen“ stand:Scharping hat die Erblast in nur zwei Jahren über-wunden und die Bundeswehr so radikal und grundle-gend umgekrempelt wie keiner seiner Vorgänger.Das könnten wir gar nicht besser ausdrücken.
Die „Kölnische Rundschau“ schreibt:Dabei versucht die Union wieder einmal, alteSchlachten neu zu schlagen. Sie spricht von „Kahl-schlag“
und verlangt eine Bundeswehrstärke von 300 000Soldaten. Im Grunde will die Unionsspitze also nurkosmetische Veränderungen, aber keine Reformen.So ist das; das hat die Öffentlichkeit gemerkt.
Es war also wieder nichts mit der Attacke. In Wirk-lichkeit wissen Sie ganz genau, dass die Standortent-scheidungen im Ganzen rational, in der Lastenverteilungfair und von der Sache her unumgänglich sind. Von derCSU haben wir das sogar schriftlich bekommen, freilichverbunden mit der Aufforderung an die eigenen Funk-tionäre, trotzdem nach Kräften vor Ort Rabatz zu machen.
Sie nutzen also die örtlichen Betroffenheiten, die es gibt,die wir ernst nehmen und auf die wir vor Ort auch unsereAntworten geben werden,
für Ihre billigen Attacken gegen die gesamte Bundes-wehrreform aus, zu der Sie in 16 Jahren nicht die Kraft ge-funden haben.
Herr Merz, Sie haben noch etwas gemacht: Sie habenin München auf der Sicherheitskonferenz – vielleicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Gernot Erler14681
sind Sie so nett und hören mir einmal zu, weil ich Sie per-sönlich ansprechen möchte – vor Fachleuten aus derganzen Welt Ihr eigenes Land an den Pranger gestellt mitden sachlich falschen Behauptungen, die Bundesrepublikwerde durch die Kürzung der Verteidigungsausgaben um20 Millarden DM
ihre Bündnisverpflichtungen nicht erfüllen können, dieübrige Welt sei mit Deutschland unzufrieden. Das ist einunerhörter Regelverstoß; das gibt es in keinem anderenLand. Das hat es in 36 Konferenzen vorher nicht gegeben.
Damit haben Sie den Grundkonsens in der Sicherheitspo-litik gebrochen, Herr Merz. Leute, die mehr Erfahrung ha-ben als Sie, werden Ihnen noch oft sagen, dass diese Pre-miere fehlgeschlagen ist. Sie werden Ihnen sagen, was siedavon halten, nämlich gar nichts.
Ziehen wir also Bilanz: Ihr Versuch bezüglich derUranmunition ist gescheitert, ebenso der bezüglich derStandortentscheidungen. Über die Provokation, die Siesich in München geleistet haben, haben alle geschwie-gen, weil es allen nur peinlich war. Aber Sie brauchen jaetwas, um schnell in die Offensive zu kommen. Sie müs-sen ja ablenken von Ihrem internen Führungshakeln undFührungsdebakel,
von Ihrem geschmacklosen Plakatdesaster und all den an-deren Pleiten der letzten Tage. Deswegen haben Sie jetztein neues Thema gefunden, nämlich die Bundeswehrfi-nanzen. Nach dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, lebtsich’s gänzlich ungeniert“ kann man jetzt natürlich mitdiesem Thema kommen, ohne irgendwelche Etatvor-schläge, die gedeckt sind, zu machen. Die Methode ist:Wieder rein in die Vollen, Horrorzahlen verbreiten, Unsi-cherheit säen – alles wie gehabt. Die Öffentlichkeit er-wartet in der Tat schon gar nichts anderes mehr von Ihnen.
Aber, Herr Kollege, die Zahlen sind nun einmal neu-tral; die können Sie nicht anzweifeln. Nach den Zahlen istes nun einmal Tatsache, dass der Einzelplan 14 nicht in Ih-rer Zeit, sondern in den nur drei Etats der neuen Bundes-regierung angewachsen ist. Es ist nun einmal Tatsache,dass Sie für die Materialerhaltung in den letzten vier Jah-ren Ihrer Regierung im Schnitt 4 Milliarden DM aufge-wendet haben.
Wann wurde denn von der Kannibalisierung ganzer Waf-fensysteme gesprochen? Dieser Begriff ist doch zu IhrerRegierungszeit geprägt worden und nicht zu unserer.
Diese Mittel sind jetzt aufgestockt worden. In Investi-tionen in die militärische Beschaffung sind fast 2 Milli-arden DM mehr als in Ihrer Regierungszeit geflossen.Wir haben doch noch die vielen Klagen der Industrie imOhr, die in Ihrer Regierungszeit in Bezug auf die Arbeits-plätze und die Fähigkeit, international mitzuhalten,geäußert wurden. Das ist jetzt besser geworden.Auch die Investitionsquote, eine magische Größe,haben Sie von 26,9 Prozent im Jahre 1991 auf 23,7 Pro-zent in Ihrem letzten Regierungsjahr heruntergefah-ren – mit einem Tiefpunkt von 21,1 Prozent im Jahr1994. Das ist damals international in der Tat ein Themagewesen. Jetzt liegt die Investitionsquote wieder bei24,3 Prozent; wir wollen in diesem Jahr auf 25,4 Pro-zent kommen.An diesen Zahlen kommen Sie nicht vorbei. IhreAttacken in Bezug auf diese Etatfrage brechen schlichtund einfach zusammen.Tatsache ist: Die neue Bundesregierung hat die Mittelim Einzelplan 14 erhöht.
Sie hat die Materialerhaltung verstärkt. Sie hat die Mit-tel für Investitionen erhöht und vor allen Dingen dieInvestitionsquote wieder heraufgesetzt. Das alles ist imdritten Etatjahr der neuen Bundesregierung gelungen.Das ist ein respektables, ein vorzeigbares Ergebnis, daszudem unter den Zwängen der Haushaltskonsolidie-rung erzielt worden ist, die von der Bevölkerung ak-zeptiert wird und die auch für die Bundeswehr geltenmuss. Darüber gibt es in unserer Gesellschaft einenKonsens.
Deswegen kann ich von dieser Stelle aus abschließendnur eines tun: Ich kann Sie, Herr Merz, und Ihre Fraktionnur dazu auffordern, endlich einmal zur Kenntnis zu neh-men, dass Sie mit Ihrer ständigen Aufforderung zur Aus-weitung der Verteidigungsausgaben weder in der Fach-welt noch in der Mehrheit der Bevölkerung Zustimmungfinden. Die Mehrheit hat die Unseriosität Ihrer Forde-rungen, die ja gar nicht von irgendwelchen Deckungs-vorschlägen begleitet werden, erkannt.
Sie zielen mit Ihren haltlosen Zahlenspielen zwar auf dieVerunsicherung der Beschäftigten ab, werden damitaber Schiffbruch erleiden. Denn die Menschen habenlängst bemerkt, dass es nicht um mehr Verteidigungs-ausgaben geht, sondern darum, die Sicherheit und dieZukunft der Bundeswehr auf der Basis einer Reform, ei-ner realistischen Anpassung der Größenordnung, alsoauf der Basis von Strukturveränderungen, zu gestalten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Gernot Erler14682
Dies ist der einzige Weg und den geht Rudolf Scharpingbzw. die Koalition.
Ich rufe Ihnen zu: Hören Sie auf mit Ihrem unverant-wortlichen Gerede! Kehren Sie zur Sacharbeit zurück, dienoch genügend Platz für ein Ringen um die besseren Ant-worten lässt! Herr Merz, kehren Sie zu dem in sicherheits-politischen Fragen bewährten Grundkonsens zurück! Da-von haben in der Vergangenheit alle profitiert: dieGesellschaft, die Bundeswehr und das Ansehen Deutsch-lands in der ganzen Welt.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion.Günther Friedrich Nolting (von Abgeordne-ten der F.D.P. mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Herr Kollege Erler, ich habe Sie inden letzten Wochen nicht ein einziges Mal im Vertei-digungsausschuss gesehen. Die gesamte Diskussion ist anIhnen vorbeigegangen.
Sie haben sich an dieser Diskussion überhaupt nicht be-teiligt. Nun greifen Sie hier die Opposition an. Das kannes ja wohl nicht sein.
Sie reden hier das Konzept des Ministers schön. Siewerden erleben, dass dieses Konzept nicht zukunftsfähigist.
– Dazu komme ich gleich noch. Einen Moment! – Sie ha-ben hier die Diskussion über die DU-, die Uranmunitionangesprochen. Dazu ist festzustellen: Wir nehmen dieÄngste der Soldaten ernst
und vertuschen nicht, wie Sie es getan haben.
Angesichts dessen, dass Sie von Geschrei in den be-troffenen Standorten gesprochen haben – auch ich schreiejetzt, weil ich nicht anders kann und weil die Emotionenhier hochkommen –,
ist zu fragen: Nehmen Sie eigentlich die Sorgen der Sol-daten, der zivilen Mitarbeiter und der Kommunen ernst?
Nein, Sie tun es nicht.
Ist denn die Kritik der Ministerpräsidentin aus Schleswig-Holstein, die zu Recht vorgetragen wurde, Geschrei? Inwelcher Welt befinden Sie sich? Beschäftigen Sie sich ei-gentlich mit diesen Fragen?
Sie sollten in sich gehen und noch einmal überprüfen, wasSie hier vorgetragen haben.
Herr Kollege Merz, Sie haben ja Recht: Die so ge-nannte Reform Scharping ist aus der sicherheitspoliti-schen Analyse nicht ableitbar. Wir haben ja gemeinsammit dem früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker ei-nen kompetenten Verbündeten; Sie haben darauf hinge-wiesen. Er stammt aus Ihren Reihen. Aber ebenso wie diePläne von Hans-Peter von Kirchbach vom Minister nichtberücksichtigt wurden, wurden auch die Pläne von Herrnvon Weizsäcker nicht berücksichtigt.Allerdings suchen Sie sich aus den Plänen derWeizsäcker-Kommission nur das heraus, was Sie geradebrauchen. Auf die Personalreduzierungen, die Herr vonWeizsäcker vorgeschlagen hat, sind Sie überhaupt nichteingegangen. Auch das hätten Sie einmal tun sollen.
Ich betone an dieser Stelle: Das vorgelegte Konzept„Feinausplanung und Stationierung“ ist kein Genie-streich. Aber, Herr Kollege Merz, angesichts Ihrer heuti-gen Rede kommen bei mir nun doch einige Fragen auf.
Die Bundeswehr ist seit Jahren drastisch unterfinan-ziert und Sie wissen dies.
Das heißt, der Verteidigungshaushalt muss erhöht und dasPersonal auf das sicherheitspolitisch erforderliche Maßreduziert werden. Auch darauf sind Sie heute nicht einge-gangen. Sie bewegen sich in realitätsfernen Gefilden,Herr Kollege Merz.
Sie erwecken den Eindruck, als sei mit der Union allesbesser. Ich frage mich, woher Sie eigentlich diesen Mutnehmen.Wo war der Mut der CDU/CSU-Fraktion in den ge-meinsamen Regierungsjahren mit der F.D.P., als die F.D.P.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Gernot Erler14683
die Öffnung der Bundeswehr für Frauen forderte? DieUnion hat abgelehnt.
– Die SPD hat auch abgelehnt. Klatschen Sie nicht!
Wo war der Wille der CDU/CSU-Fraktion, sich fürdie Menschen einzusetzen, als die F.D.P. gleiche Gehäl-ter für die Bundeswehr in Ost und West durchsetzenwollte?
Die Union hat abgelehnt, die SPD hat abgelehnt, die Grü-nen haben abgelehnt und die PDS hat abgelehnt.
Die F.D.P.-Fraktion hat der Öffentlichkeit bereits vorzwei Jahren ihre Vorstellungen über die Zukunft der Bun-deswehr mitgeteilt. Die von Ihnen geführte CDU/CSU-Fraktion hat bis heute in dieser Frage kein abgestimmtesKonzept. So kann es nicht gehen, Herr Kollege Merz.
Keine eigenen Vorstellungen, aber Kritik üben – das istmir schlicht und einfach zu wenig. So verstehen wir Frei-demokraten unsere Oppositionsrolle nicht.Meine Damen und Herren, der Mensch steht im Mit-telpunkt. Die Politik muss sich immer daran messen, obsie nach diesem Grundsatz handelt. Selbstverständlichgilt das auch für die Reform der Bundeswehr. Die An-gehörigen der Bundeswehr haben Anspruch auf eine best-mögliche Ausbildung, auf modernste Ausrüstung und aufeine angemessene Bezahlung. Sie haben auch Anspruchauf größtmögliche Planungssicherheit, auch in Zeitenschneller Umbrüche wie in den vergangenen Jahren.Selbstverständlich stehen die Angehörigen der Bundes-wehr auch im Mittelpunkt, als Staatsbürger in Uniform.Unsere Soldaten übernehmen viele und nicht immerangenehme Pflichten. Ich verweise auf die gegenwärtigenEinsätze auf dem Balkan. Ich verweise aber auch auf diewichtige Arbeit zu Hause. Deshalb sage ich: Wir haben esnicht mit einem abstrakten Gebilde zu tun, sondern mitMenschen, mit Staatsdienern im wahrsten Sinne des Wor-tes. Ich kann mir nicht helfen, aber genau hier sehe ich un-geheure Defizite bei den Entscheidungen des Verteidi-gungsministers, und zwar von Tag zu Tag zunehmend.In jedem Standort, den ich in den letzten Tagen besuchthabe, bekomme ich von den Menschen gesagt, die Re-form der Bundeswehr ginge an ihnen vorbei. Da werdenHochglanzbroschüren ausgeteilt, die lücken- und fehler-haft sind. Da werden Informationen so lange zurückge-halten, bis die Gerüchteküche überquillt und Presseveröf-fentlichungen den Minister zur Unterrichtung zwingen.Da wird mit Zahlen getrickst, die keiner Überprüfungstandhalten. Ich verweise dabei auf das unhaltbare Papierzur Wehrgerechtigkeit vom Herbst letzten Jahres. So kannes niemanden wundern, dass von der vollmundig an-gekündigten größten Reform in der Geschichte der Bun-deswehr lediglich ein verunglücktes Reförmchen übriggeblieben ist. Ganz offensichtlich hat Sie, Herr MinisterScharping, der Mut verlassen. Das notwendige Geld warvorher schon weg.
Herr Minister Scharping, Sie sind kein Visionär, wiewir das heute wieder erlebt haben,
Sie sind nicht einmal Realist.
Sie sind ein mutloser Zauderer, zunehmend gepaart mitträumerischen Zügen.Herr Minister Scharping, der Kollege Koppelin hatschon darauf hingewiesen: Sie haben hier im letztenHerbst in der Haushaltsdebatte erklärt, es werde, abge-sehen von Kleinststandorten, kein Standort geschlossen,
und in diesem Zusammenhang die Kollegen Austermannund Koppelin der Lüge bezichtigt.
Am 14. Dezember letzten Jahres konnten wir dann in derZeitung „Die Welt“ nachlesen, welche Standorte ge-schlossen werden.Haben Sie, Herr Minister Scharping, am 29. Novemberletzten Jahres wissentlich die Unwahrheit gesagt oder ar-beitet Ihr Haus an Ihnen vorbei?
Ich könnte auch sagen: Es begann mit einer Lüge.
Herr Minister Scharping, Sie sollten sich endlich bei denKollegen Koppelin und Austermann genauso wie beimVorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbandes ent-schuldigen.Natürlich müssen Veränderungen bei Standortenvorgenommen werden,
wenn die Bundeswehr umstrukturiert wird. Daran bestehtkein Zweifel. Aber dann darf der verantwortliche Minis-ter nicht noch zehn Wochen zuvor lediglich von zuschließenden Kleinststandorten sprechen. Das ist der ei-gentliche Skandal! Herr Minister, Ihre eigenen Partei-freunde haben Ihnen diese Aussagen abgenommen unddies auch in den Standorten verkündet. Sie stehen jetzt imRegen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Günther Friedrich Nolting14684
Sie stehen in dieser Frage auch aus Ihren eigenen Rei-hen unter Druck, aber lassen nicht von diesem Wege ab,wie Ihre Hochglanzbroschüre „Feinausplanung und Sta-tionierung“ belegt. Sie ist eine standortpolitische Mogel-packung allererster Güte. Das kann man an einigen weni-gen Fakten belegen:Es werden 59 Standorte geschlossen, davon 39 Groß-standorte; das ist in diesem Papier nachzulesen. Zudemwird der Personalbestand in 20 Standorten halbiert und in18 Standorten bis zu 98 Prozent reduziert, was einer To-talaufgabe gleichkommt. Ich nenne einige wenige Bei-spiele: Dülmen wird von 1 969 Dienstposten auf unter 400reduziert – dort wird es in Zukunft nur noch zivile Mitar-beiter geben – aber der Standort, so der Minister, bleibt er-halten. Eggesin wird von 1 792 auf 55 Dienstpostengekürzt, aber, so der Minister, der Standort bleibt erhalten.Neumünster wird von über 900 Dienstposten auf ganzezehn reduziert, aber der Standort, so der Minister, bleibterhalten. – Die Liste ließe sich fortsetzen. Was haben Siesich eigentlich dabei gedacht, den Standort Schneebergganz zu streichen? Auch dazu müssen Sie noch eine Er-klärung abgeben.
Herr Minister Scharping, ich fordere Sie auf, endlichAntworten auf folgende Fragen zu geben: Wie ernst neh-men Sie eigentlich die Gespräche mit den Betroffenen?Wie gedenken Sie den sozialverträglichen Umbau derBundeswehr zu finanzieren? Haben Sie Vorkehrungen ge-troffen für die fällige Anpassung des Personalbestandes?Wann erfahren die betroffenen Soldaten und zivilen Mit-arbeiter, was mit ihnen passiert? Welche Verträge wird esgeben? Wie wollen Sie den erforderlichen umweltgerech-ten Rückbau der Liegenschaften und die vielerorts über-fällige Modernisierung der Kasernen finanzieren? Wiewollen Sie den Gemeinden helfen, die ihre Kasernenplötzlich ganz oder weitgehend eingebüßt haben? Sieglauben doch selber nicht, dass diese Last allein den Län-dern und Kommunen aufgebürdet werden kann.
Ich prophezeie Ihnen: Wenn Sie hier nicht in kürzesterZeit tragfähige Konzepte vorlegen, werden Sie einen dra-matischen Rückgang beim Unteroffiziersnachwuchs erle-ben und von einer massiven Welle berechtigter Ent-rüstung und innerer Kündigung überrollt. Das kann nunwahrlich nicht im Interesse einer seriösen und zukunfts-fähigen Bundeswehrplanung sein.
Ich werfe Ihnen vor, dass Sie die bei Amtsantritt großangekündigte Bundeswehrreform, die überfällig war– darin sind wir uns ja einig –, zum Reförmchen habenverkommen lassen. Ich werfe Ihnen vor, dass Ihr Werk„Feinausplanung und Stationierung“ dieses Jahrzehntnicht überdauern wird. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie wi-der besseres Wissen um die Zukunft der Wehrpflicht andieser festhalten. Die allgemeine Wehrpflicht wird wegender Wehrungerechtigkeit Ihres Strukturmodells in abseh-barer Zeit ausgesetzt werden.Ob nun mangelhaft ausgeprägte Weitsicht, Mutlosig-keit oder parteipolitisches Kalkül dafür verantwortlichzeichnen, ist für Soldaten wie zivile Bundeswehrbe-schäftigte und deren Familien unbedeutend. Diese erken-nen nur überdeutlich: Sie, die Menschen, stehen bei IhrenEntscheidungen nicht im Mittelpunkt, Herr Minister, siewerden nicht berücksichtigt. Das ist der größte Skandal.
Ihre Amtszeit, Herr Minister, gleicht einem Drama invier Akten. Erster Akt: Vertrauensbildung durch Verspre-chungen und große Ankündigungen. Zweiter Akt: Be-schwichtigung durch Planungsaktivität, Vertuschung undTäuschung. Dritter Akt: Versprechungen nicht eingehal-ten, nur scheibchenweise Eingeständnisse. Vierter Akt:Bundeswehr im Chaos, Scharping macht eine Reform undkeiner macht mit. Wir warten darauf, dass der Vorhangfällt.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! DieCDU/CSU-Fraktion macht die Bundeswehrreform mitder Rede ihres Fraktionsvorsitzenden heute zur Chefsa-che. Angesichts der Bedeutung des Themas ist das anzu-erkennen. Es geht immerhin um die größte und durch-greifendste Reform der Bundeswehr seit ihrer Gründung.Aber das Auswechseln der Spitzenredner der CDU/CSU-Fraktion ändert nichts an der Beschränktheit und künstli-chen Aufgeregtheit ihrer Attacke.
Ihre Verurteilung der laufenden Bundeswehrreform isttotal, die Urteilsbegründung aber ausgesprochen dünn.Das ist auch in Ihrem heute eingebrachten Entschlie-ßungsantrag deutlich nachzulesen.Sie behaupten, die Bundeswehrreform basiere nichtauf einer umfassenden Bedrohungsanalyse. Mir ist bishernicht aufgefallen, dass sich die Bedrohungswahrnehmungder CDU/CSU sonderlich von der des Ministeriumsunterscheidet. Sie behaupten, mit der geplanten reduzier-ten Umfangstärke werde die Bundesrepublik ihrer Rollein der Mitte Europas nicht mehr gerecht. Es bleibt mir un-erfindlich, worauf dann der Vorschlag der CDU/CSUzielt, in dem geringfügig mehr Soldaten gefordert werden,nämlich insgesamt 300 000,
in dem aber auf einen streitkräftegemeinsamen Ansatz,somit Effizienzgewinne durch straffere Strukturen, ver-zichtet wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Günther Friedrich Nolting14685
Herr Merz, was erwarten Sie eigentlich von einer Bun-deswehrreform? Dazu haben Sie gerade in Ihrer Rede garnichts gesagt.
Ihre Kritik ist widersprüchlich, unehrlich, konzeptionslosund kein produktiver Beitrag zur Bundeswehrreform.Wir haben es nun mit der 7. Bundeswehrreform in den45 Jahren ihres Bestehens der Bundeswehr zu tun. DieAusrichtung auf neue Aufgaben geschieht einerseitsdurch eine grundlegende Umstrukturierung der Kräfte,also Zusammenfassung von so genannten Querschnitts-aufgaben in der Streitkräftebasis, verbunden mit einer Zu-sammenfassung der Hauptverteidigungskräfte und Kri-senreaktionskräfte zu den Einsatzkräften. Andererseitsreduzieren wir die Kräfte der Bundeswehr. Diese Redu-zierung ist im Gesamtumfang maßvoll, für einzelne Trup-pengattungen aber einschneidend. Bei den Kampftruppendes Heeres zum Beispiel beträgt sie mehr als 40 Prozent,bei den Logistikverbänden ungefähr 60 Prozent.Mit dem Konzept „Feinausplanung und Stationierung“kommt die Bundeswehrreform bei den Menschen vor Ortan und erhitzt selbstverständlich etliche Gemüter. Unsi-cherheiten sind in einer solchen Phase zunächst einmalunvermeidlich. Deshalb ist es besonders wichtig, dass mitdiesen Unsicherheiten offen umgegangen wird und dasssie vor allem nicht parteipolitisch geschürt oder durch dasSankt-Florians-Prinzip künstlich angefacht werden.
Denn nach aller Erfahrung besteht das große Risiko, dasssich gerade ein fahrlässiger Umgang mit der Standort-frage als Bremse für notwendige Reformen auswirkt.Der Umfang der Standortreduzierungen ist ausge-sprochen moderat ausgefallen, verglichen mit Rationali-sierungs- und Einsparungspotenzialen eines strengen Mo-dernisierungskurses oder vor allem mit den Vorschlägender Weizsäcker-Kommission, die bei einer Gesamtstärkevon 240 000 Soldaten eine Halbierung der Zahl der Stand-orte und Liegenschaften empfohlen hat.
Insgesamt betrachtet sind die Standortentscheidungensachgerecht und nachvollziehbar. Wir sehen keinerlei An-haltspunkte für parteipolitisch motivierte Begünstigungenoder Benachteiligungen.
Wo in Einzelfällen die Entscheidungen bisher nicht nach-vollziehbar sind, muss dies schnell nachgeholt werden.
– Herr Braun, Sie sollten ein bisschen genauer hinhören.Dann brauchen Sie nicht dazwischenzurufen.Die Reduzierungen sind – darin stimmen die Auffas-sungen in diesem Haus, wenn man ein bisschen ehrlichist, überein – insgesamt unumgänglich. Deshalb sindÜberlegungen überfällig, wie dieser Prozess wirklich so-zialverträglich gestaltet werden kann. Dabei geht es alsErstes um die betroffenen Menschen, die Soldaten, ihreAngehörigen und die Zivilbeschäftigten. Den Zivilbe-schäftigten versprach die Bundesregierung, dass es keinebetriebsbedingten Kündigungen geben werde. DiesesVersprechen muss jetzt in den laufenden Tarifverhandlun-gen eingelöst werden.
Für etliche Kommunen bedeuten diese Standortredu-zierungen und -schließungen einen einschneidenden undgravierenden Vorgang. Allein in dem RegierungsbezirkMünster, aus dem ich komme, sind mehr als 50 Prozentder Standortreduzierungen von ganz Nordrhein-West-falen vorgenommen worden. Das verunsichert natürlich.Aber wenn wir einmal in die 90er-Jahre zurücksehen, alsenorme Truppenstärken reduziert werden mussten, dannkönnen wir feststellen, dass diese erheblichen Struktur-brüche – zunächst einmal waren es Strukturbrüche – ins-gesamt sehr gut bewältigt wurden, allerdings in den ver-schiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Bayern zumBeispiel war verhältnismäßig wenig betroffen. InBayern – das zeigt sich jetzt sehr deutlich – hat sich dieCSU niemals darum gekümmert, wie solche Prozessewirklich sozialverträglich abgefedert werden können, wiealso Konversion betrieben werden kann.
Hier ist ein Unterschied zum Beispiel zum LandNordrhein-Westfalen, in dem es darum ging, insgesamt120 000 so genannte Militärarbeitsplätze, davon mehrals 20 000 Arbeitsplätze von Zivilbeschäftigten, und300 Liegenschaften abzubauen. Es gelang, in diesenLiegenschaften 10 000 neue Arbeitsplätze zu ent-wickeln; 25 000 weitere sind in Aussicht. Voraussetzungfür diesen erfolgreichen Konversionsprozess war dieausgezeichnete Zusammenarbeit der Kommunen, kom-munaler Akteure, des Landes und der entsprechendenBeratungseinrichtungen, vor allem des InternationalenBonner Konversionszentrums, sowie schließlich undwesentlich auch der Europäischen Union. Diese Erfah-rungen können wir jetzt bei dem weiteren Konversions-prozess hervorragend nutzen. Das macht Hoffnung, die-sen Prozess gut bewältigen zu können.Ich nannte gerade das Stichwort Europäische Union.Hier ergibt sich zugleich ein Problem: Die EU-Gelder, dieim vorigen Jahrzehnt zur Verfügung standen, werden jetztrealistischerweise nicht mehr zur Verfügung stehen. Indiesem Falle geht es ja um eine nationale Militärreformund nicht um eine europaweite Frage. Das heißt in derKonsequenz, dass nun auch der Bund in der Pflicht ist,Mitverantwortung für die Standortkonversion zu über-nehmen. Das wird nicht einfach und einige Interessen-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Winfried Nachtwei14686
konflikte, zum Beispiel beim Liegenschaftsverkauf, sindvorprogrammiert. Aber mit der Koalitionsvereinbarung,in der es hieß, „Rüstungskonversion wird auch als bun-despolitische Aufgabe gesehen“, haben SPD und Grünedazu ihre Bereitschaft erklärt. Dazu stehen wir weiterhin.Danke schön.
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich Adam.
Herr Präsident, ich habe
jetzt ein Problem. Ich hatte mich nämlich mit Blick auf
den Kollegen Erler gemeldet.
Dann beziehen Sie
sich auf den Kollegen Erler; er ist ja anwesend.
Danke schön. – Herr Kol-
lege Erler, ich empfand vor allen Dingen zu Beginn Ihrer
Rede die Behauptung vermessen, wir seien in der Stand-
ortdiskussion lediglich polemisch. Oben auf der Besu-
chertribüne sitzen der Bürgermeister von Eggesin, F.D.P.,
und der Bürgermeister von Stavenhagen, CDU, mit Ver-
tretern aus der Region, die auch draußen mit Transparen-
ten sehr deutlich machen, wie betroffen sie von der
Schließung ihrer Standorte sind. Es ist ja schon wiederholt
dargestellt worden, dass die Entscheidung über Eggesin
faktisch einer Schließung gleichkomme. Insofern ist es
ein Ding, wenn Sie behaupten, es sei reine Polemik, wenn
die Bürger ihren Unmut deutlich machen.
Ich kann Ihnen dann nur bescheinigen, dass Sie nichts
über die neuen Bundesländer wissen. Der Landkreis
Demmin, in dem die Reuterstadt Stavenhagen liegt, hat
die höchste Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpom-
mern und in der Bundesrepublik Deutschland. Gleich da-
nach kommt der Landkreis Uecker-Randow, in dem die
Stadt Eggesin liegt. An dieser Stelle frage ich Sie: Wie
geht das mit den Kriterien überein, die der Verteidigungs-
minister aufgestellt hat? Das habe ich ihm selber auch
schon gesagt. Insofern ist es schon vermessen, wenn Sie
da von Polemik sprechen.
Ein weiteres Argument: Wir hatten in diesem Haus ei-
nen breiten Konsens bei der Aufstellung des Nordost-
Korps. Ich bin sehr stolz darauf, dass das noch unter un-
serer Regierung stattgefunden hat; bevor Polen in der
NATO war, wurde die Absichtserklärung gegeben. Erklä-
ren Sie mir jetzt einmal, wie die Schließung gerade dieser
wichtigen Standorte im Nordosten Deutschlands mit der
internationalen Zusammenarbeit zusammengeht. Das
macht doch wohl keinen Sinn.
Was ich angesprochen habe, war zum Beispiel auch ei-
nes der Kriterien für den Erhalt einzelner Standorte, die
der Verteidigungsminister aufgestellt hat. Dass Sie in die-
sem Zusammenhang immer wieder von Polemik sprechen
und dabei noch den Beifall Ihrer Kollegen haben, halte ich
für ein Unding.
Insofern fordere ich Sie auf, angesichts der betroffenen
Bürger und Soldaten klar zu sagen, worum es hier geht:
Es geht hier nicht um Polemik, sondern um die Sorgen
von Menschen. Es kann nicht sein, dass in den Regionen
unseres Vaterlandes, in denen wir die größten wirtschaft-
lichen Schwierigkeiten und die höchste Arbeitslosigkeit
haben, Standorte in so radikaler Weise geschlossen wer-
den, dass nicht ein Einziger übrig bleibt.
Wenn Sie sich zum Beispiel den Landkreis Demmin
anschauen, werden Sie feststellen, dass dies in dieser Re-
gion der letzte Standort ist, den es dort gegeben hat. Auch
für mich ist das ein Schlag ins Gesicht. Unser Fraktions-
vorsitzender hat zu Recht gesagt: Die Bundeswehr ist die
Armee der deutschen Einheit. Wenn Sie zur Schließung
von Standorten in den ärmsten Regionen der neuen Bun-
desländer – ich schließe darin Schneeberg mit ein – Ihr
Wort geben und unsere Kritik als billige Polemik abtun,
halte ich das schlicht für einen Skandal.
Kollege Erler.
Herr Kollege Adam, Sie habenmir ganz offensichtlich nicht zugehört.
Ich habe den Vorwurf der Polemik nicht den Bürgern ge-macht, sondern Ihnen und Ihrer Partei – und dabei bleibeich.
Ich habe in meiner Rede gesagt, dass es Betroffenheitenvor Ort gibt, die wir in unserer Fraktion sehr ernst neh-men, und dass wir auf den Einzelfall bezogene Antwortengeben werden – und dazu stehen wir.
Ich weiß zum Beispiel, dass es in dem von Ihnen an-gesprochenen Fall, den wir sehr ernst nehmen, noch Ge-spräche zwischen der Landesregierung und dem Ministe-rium gibt. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.Ich wiederhole: Wer von Kahlschlag spricht, wer imZusammenhang mit den Standortentscheidungen, die beieiner Bundeswehrreform notwendig sind, ein Horror-gemälde zeichnet, ist polemisch, weil er versucht, die Sor-gen der Leute vor Ort für einen Schlag gegen die Bun-deswehrreform auszubeuten. Die Bundeswehrreforminsgesamt ist notwendig und dabei bleibe ich. Im Übrigenwar die Reaktion der Öffentlichkeit auf die unerhörtenÜbertreibungen, die sich Ihr Fraktionsvorsitzender undder Sprecher Ihrer Fraktion geleistet haben, entsprechend.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Winfried Nachtwei14687
Das Wort zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Hildebrecht Braun. Sagen Sie bitte, auf wen Sie sich be-
ziehen.
Ich beziehe
mich in erster Linie auf den Kollegen Nachtwei, sage aber
auch etwas zu den Ausführungen des Kollegen Erler.
Herr Erler, Sie weisen den Vorwurf zurück, es habe ein
Kahlschlag stattgefunden. Herr Nachtwei dagegen hat
– in seinem für einen grünen Verteidigungspolitiker be-
merkenswerten Beitrag – ausgeführt, dass der Rückgang
der Kampftruppen beim Heer doch sehr beklagenswert sei.
Das sind interessante Entwicklungen, die sich bei den
Grünen feststellen lassen.
Tatsache ist, Herr Nachtwei, dass Ihre ehrenwerte Kol-
legin Angelika Beer noch vor zweieinhalb Jahren ein bun-
deswehrfreies Schleswig-Holstein gefordert hat.
Jetzt haben Sie, wenn auch nicht in Schleswig-Holstein,
Erfolg. Wenn man sich vor Augen führt, dass das Gebiet
zwischen Donauwörth und Marienberg in Sachsen, zwi-
schen Aalen in Baden-Württemberg und Gera in Sachsen-
Anhalt bundeswehrfrei ist – ein Gebiet, deutlich größer
als Schleswig-Holstein – kann man nur von Kahlschlag
sprechen. Wenn die Menschen in diesem Gebiet mit einer
Ausdehnung von 200 mal 200 Kilometern die Bundes-
wehr in Zukunft nur noch vom Fernsehen her kennen wer-
den, dann entspricht das nicht dem, was Herr Scharping
angekündigt hat, nämlich dass die Bundeswehr in der
Fläche bleiben werde.
Einiges muss einfach angesprochen werden: Es ist ein
unglaublicher Vorgang, dass Bayern weit überpropor-
tional bluten muss und dass innerhalb Bayerns in Schwa-
ben überproportional ausgedünnt wird. So werden zum
Beispiel aus Sonthofen, einem Ort, der in den letzten
45 Jahren in besonderem Maße Opfer für die Bundeswehr
erbracht hat, nahezu 80 Prozent der vorhandenen Streit-
kräfte abgezogen. In Sonthofen soll die Schule für Feld-
jäger und Stabsdienst nicht etwa aufgelöst – dafür hätte
man vielleicht noch Verständnis, wenn Opfer gebracht
werden müssen –, sondern verlegt werden, und zwar, aus
nahe liegenden Gründen, nach Hannover.
Wenn darüber hinaus Memmingen dicht gemacht wird,
Dillingen dicht gemacht wird, Günzburg dicht gemacht
wird, in dieser Schiene auch noch Heidenheim dicht ge-
macht wird, dann ist das nichts anderes als ein Kahl-
schlag.
Unverständlich erscheint auf der anderen Seite, dass
der „Wall“ gegen das neutrale Österreich verstärkt wird,
nämlich die Südschiene: Mittenwald, Füssen, Reichen-
hall. Auf der einen Seite wird wirklich geklotzt – dahin
kommen zusätzliche Soldaten; die brauchen wir dort ja
auch aus strategischen Gründen ganz dringend – und auf
der anderen Seite wird Schneeberg dicht gemacht.
Und dann heißt es noch: Es werden den einzelnen Mit-
arbeitern keine betriebsbedingten Kündigungen aufs Auge
gedrückt. Das heißt, den Halbtagskräften dort wird ange-
boten, in Zukunft für eine Halbtagsstelle in einen 80 Kilo-
meter entfernten Standort zu fahren?
– Nein, Herr Erler, beschäftigten Sie sich mit den Aus-
wirkungen dessen, was Sie hier beredt verteidigen, und
Sie werden sehen: Was hier gemacht wird, entspricht
nicht sozialdemokratischen Grundsätzen und ist auch für
die Bundeswehr nicht in Ordnung.
Das Wort zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich Kollegin Hannelore
Rönsch.
– Ich nehme an, diese Kurzintervention bezieht sich auch
auf Sie, sodass Sie zusammenhängend antworten können.
Nach dieser Kurzintervention hat dann endlich der
nächste Redner das Wort.
Herz-
lichen Dank, Herr Präsident. Ich möchte mich auf den
Kollegen Erler beziehen, weil ich ihm einfach einmal
deutlich machen will, wie – –
Kollegin, es ist un-
üblich, dass als Antwort auf eine Kurzintervention nun
wiederum eine Kurzintervention folgt. Sie müssen sich
ausdrücklich auf die Rede beziehen.
HerrPräsident, ich werde mich ausdrücklich auf die Rede be-ziehen, da ich ja vorhin schon einen Ansatz gemacht habe,eine Zwischenfrage an den Minister zu stellen.Ich will nur einmal deutlich machen, wie örtliche Ant-worten aussehen: Meine Heimatstadt Wiesbaden hat mitihrer Wehrbereichsverwaltung von der Konzeptionslosig-keit des Ministeriums partizipiert. Aus dem Ministeriumkam zunächst die Botschaft, dass dort 800 Arbeitsplätzewegfallen würden. Durch Verhandlungen und viele Inter-ventionen vorher ist offensichtlich dann doch erreichtworden, dass 630 dieser Dienstposten in Wiesbaden ver-bleiben. Das wurde in einer Nacht ausgehandelt und amnächsten Morgen mitgeteilt.Jetzt bekommen wir die Mitteilung, dass es sich hier-bei um „einfache Verwaltungstätigkeiten“ handelt. Ichhätte natürlich gerne vom Ministerium gewusst, wie langedie Nebenstelle Wiesbaden erhalten bleibt. Denn das istdie dringende Frage der Mitarbeiter dort. Der Ministerhatte seiner Kollegin Wieczorek angeblich schon im Junivergangenen Jahres gesagt – –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 200114688
Kollegin Rönsch, ich
muss eine Zwischenbemerkung machen.
Es handelt sich hier um das parlamentarische Instrument
der Kurzintervention. Sie sprechen jetzt das Ministerium
an. Das ist nicht der Sinn der Kurzintervention.
Wir haben dieses Instrument ins Leben gerufen, damit un-
sere Debatten in der parlamentarischen Rede und Gegen-
rede lebendiger werden.
Sie können jetzt nicht auf Entscheidungen des Minis-
teriums ausführlich eingehen. Wer soll denn darauf ant-
worten?
Viel-
leicht kann der Kollege Nachtwei darauf antworten,
sofern er denn in die Verhandlungen mit einbezogen
wurde, und mir mitteilen, was die 630 Mitarbeiter in der
Wehrbereichsverwaltung IV in Wiesbaden unter „einfa-
chen Verwaltungstätigkeiten“ zu verstehen haben, wer in
Wiesbaden verbleibt und wer aus Wiesbaden abgezogen
wird.
Das ist die Frage, die die Wehrbereichsverwaltung IV und
die Mitarbeiter dort brennend interessiert. In der Vergan-
genheit konnte dies keiner beantworten, denn die Staats-
sekretäre aus dem Ministerium haben immer das Gegen-
teil von dem behauptet, was der Minister schriftlich
niedergelegt hat.
Kollege Nachtwei,
Sie haben Gelegenheit, sich dazu zu äußern.
Ich will noch einmal daran erinnern: Das Instrument
der Kurzintervention soll nicht die Fragestunde ersetzen,
in der man Minister und die Regierung befragen kann.
In Respekt vor der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung
werde ich natürlich nicht für das Ministerium sprechen,
sondern nur zu den Punkten, in denen ich konkret ange-
sprochen wurde.
Kollege Braun, Sie haben sich offensichtlich vor kurzem
nicht – so zumindest mein Eindruck – an dem Hörtest be-
teiligt, der hier im Bundestag angeboten wurde. Sonst hät-
ten Sie hören können, dass ich die Reduzierung der Kampf-
truppen, der Logistikverbände – da könnte man noch
einiges andere, zum Beispiel Kampfunterstützung an-
führen – schlichtweg als Beleg dafür konstatiert habe, dass
bei einzelnen Truppenteilen die Reduzierungen viel größer
sind als die Reduzierung des Gesamtumfangs. Das war
ohne jede Wertung, das habe ich schlichtweg konstatiert.
Was Bayern angeht: Sie wissen selbst, dass die Stand-
ortdichte in Bayern erheblich ist, dass Bayern von frühe-
ren Reduzierungen unterproportional betroffen war und
dass Bayern auch von der jetzigen Standortreduzierung
im Vergleich zu etlichen anderen Ländern nicht überpro-
portional betroffen ist.
Was den Vorwurf eines „Kahlschlags“ angeht: Selbst-
verständlich – darum kann man gar nicht herumreden – ist
es für die Gegend, in der ein großer Standort aufgelöst
wird, ein Kahlschlag. Wenn allerdings Sie von der F.D.P.
laut über den Rückzug der Bundeswehr aus der Fläche
jammern, dann gebe ich Ihnen Folgendes zu bedenken:
Erstens. Schon bei den Bundeswehrreformen in den letz-
ten Jahren hat es erhebliche Teilrückzüge aus der Fläche
gegeben. Das dürften Sie nicht übersehen haben. Zwei-
tens. Wäre diese Bundeswehrreform rigide allein nach
militärischen und Effektivitätsgesichtspunkten durchge-
führt worden, dann wären die Rückzüge aus der Fläche er-
heblich größer gewesen. Die Wahrung der Präsenz in der
Fläche war gerade im Hinblick auf die Nachwuchsgewin-
nung weiterhin ein wichtiges Kriterium, und zwar wichti-
ger, als wir vorher erwartet haben.
Herr Braun, vergessen Sie bitte nicht, was die F.D.P.
zur Bundeswehrreform vorgeschlagen hat: erheblich ge-
ringere Kopfstärken.
Wie wollen Sie diesen Vorschlag mit dem Ziel unvermin-
derter Präsenz in Einklang bringen? Es wäre interessant,
darauf von Ihnen einmal eine Antwort zu hören. Im Mo-
ment wollen wir das aber nicht mehr.
Ich erteile dem Kolle-
gen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn all das der Bundeswehrdrohen würde, was aus dem vom Kollegen Merz gezeich-neten Bild hervorgeht, dann könnte ich mich vor Begeis-terung überhaupt nicht mehr einkriegen.
Natürlich weiß jeder, dass das – leider – Unsinn, schwarzeMagie war.Ich habe aber Verständnis dafür, dass der Kollege Merzpersönlich und die CDU allgemein in einem Dilemmastecken. Ihr Dilemma besteht darin, dass Sie im Prinzip
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14689
nichts anderes als das machen würden, was die Regie-rungskoalition macht, wenn man Sie denn lassen würde.Deswegen fallen die Reden so nölig aus, deswegen kannnur am Rande herumgenörgelt und können keine echtenAlternativen aufgezeigt werden.
In einer Regierungskoalition haben sich die Koalitions-fraktionen den Partner teilweise ausgesucht. Eine Oppo-sitionsfraktion kann sich nicht aussuchen, mit wem sie zu-sammen die Oppositionsbänke drückt. Das hat man ebenhinzunehmen.
Die Reform der Bundeswehr ging in diesem Haus vor ei-nem halben Jahr friedlich über die Bühne. In der Richtungwaren sich CDU/CSU, F.D.P., SPD und Grüne über dasqualitativ größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichteder Bundesrepublik Deutschland einig. Sie waren sich inder Richtung einig, dass aus der Bundeswehr, aus einerVerteidigungsarmee, eine weltweite Interventionsarmeewerden sollte. Dass der Kollege Erler das jetzt als einenInhalt sozialdemokratischer Politik darstellt, wirft ein be-zeichnendes Licht darauf, wo die SPD heute angekom-men ist. Dort möchte zumindest ich nicht landen. Das istein wirklich eindeutiger Kurswechsel.
– Die Gefahr besteht wirklich nicht.Allein die Fraktion der PDS war dagegen und hat einanderes Konzept vorgestellt. Die Sache ist doch so: DasVerteidigungsministerium schlägt Standortschließungenvor. Das klingt zunächst nach weniger Militär; so ist esaber nicht. Das Programm heißt nicht Abrüstung, sondernUmrüstung. Tatsächlich handelt es sich um Aufrüstung. ImHinblick auf das Standortkonzept der Regierung ist nichtentscheidend, wie viel sie abbaut – das ist wenig genug –;entscheidend ist, was sie abbaut: Es sind Verbände, die et-was mit der Landesverteidigung zu tun haben. Als Inter-ventionsarmee braucht die Bundeswehr hochmobile,schnelle und flexible Kontingente. Darauf werden dieStandorte zugeschnitten und dafür ist auch fast jedes Mit-tel heilig.Sie müssen schon die Frage beantworten, wie Sie esin Übereinstimmung mit Ihrem Konzept bringen, dassSie neben dem Abbau anderer Standorte gleichzeitig dieGarnison Wittstock – die es bisher noch gar nicht gibt –und das dortige Bombodrom, also den Bombenabwurf-platz, neu einrichten.
– Bombodrom heißt das Ding, das sagt doch jeder in derRegion.
– Dass Sie nicht wissen, wovon Sie sprechen, sieht manschon daran, dass Sie uns unterstellt haben, dass wir nichtfür die Angleichung der Gehälter in der Bundeswehr inOst und West seien. Da haben Sie wirklich etwas ver-wechselt.
– Das ist doch Unsinn.
Wenn man 59 Standorte schließt und gleichzeitig fürden Aufbau eines solchen Standorts insgesamt 500 Milli-onen DM aufwenden will, stellt sich die Frage, was derHintergrund dafür ist. Der Hintergrund dafür ist, dass dieKrisenreaktionskräfte hier Boden-Luft-Übungen durch-führen sollen. Das ist das militärpolitische Konzept dieserRegierung.
Als Rudolf Scharping noch SPD-Vorsitzender war, hater übrigens der Bevölkerung dort versprochen: Das Bom-bodrom kommt weg. Das war seine Aussage.
Über das Thema „Scharping und Wahrheit“ wird mannach der gestrigen „Monitor“-Sendung hier im Bundestagsowieso noch einmal diskutieren müssen.
Das, was die SPD einmal versprochen hat, gilt anschei-nend nicht mehr. Das zeigt: Es geht Ihnen nicht um Ab-rüstung, Sie wollen nur umbauen und neue Waffensys-teme einführen. Für neue Waffensysteme allerdings taugtdas Standortkonzept. Es wird reduziert, um Mittel freizu-bekommen für die Modernisierung und Effektivierungder Bundeswehr. Das ist ein grundfalsches Konzept, daszu allem Überfluss auch noch schlecht umgesetzt wird:Sie verordnen nämlich von oben, Sie reden nicht tatsäch-lich mit den Betroffenen, Sie diktieren. Befehl und Ge-horsam mögen beim Militär üblich sein, in der demokra-tischen Gesellschaft sind sie nicht üblich. Kommunenhören nicht auf Kommandos. Auch das sollten Sie einmallernen.
Darüber hinaus stiehlt sich die Regierung aus der Ver-antwortung. Die Kommunen haben sich nicht freiwilligeinseitig auf die Bundeswehr fixiert. Politische Interessenhaben sie dazu gebracht. Nach dem Verursacherprinzipläge es jetzt beim Bund, den Kommunen ein Leben jen-seits der Standorte zu eröffnen. Das tut die Bundesregie-rung nicht. Sie verbindet die Schließungen nicht mit ge-zielter regionaler Wirtschaftsförderung. Sie bietet keinePerspektiven für einen wirtschaftlichen, sozialen undökologischen Strukturwandel.Um aktuell den größten Schaden von den Gemeindenabzuwenden, fordert die PDS-Fraktion die Bundesregie-rung auf: Erlöse aus dem Verkauf von Liegenschaftenmüssen den Kommunen zugute kommen. Sie dürfen nichtin den Rüstungshaushalt fließen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Wolfgang Gehrcke14690
Beim Verkauf der Liegenschaften müssen die Kommunenein Vorkaufsrecht erhalten. Das ist nicht gesichert. DieKonversion bislang militärisch genutzter Gebäude undFlächen ist aus dem Verteidigungsetat zu bezahlen. Das isteine wichtige Position.
Den Zivilbeschäftigten und den Berufssoldaten, die daswünschen, müssen sofort Beratung, Umschulung undQualifizierung angeboten und finanziert werden.
In den letzten Tagen haben wir Mahnwachen vor Stand-orten erlebt, wo es oft nichts außer der Bundeswehr gibt.Ich kann sehr gut verstehen, dass sich die Menschen dortan den Strohhalm Bundeswehr klammern. Wir hatten inunserer Fraktion diskutiert, von der Bundesregierung zufordern, wenigstens keine Standorte in Ostdeutschlandzu schließen. Dafür würde all das sprechen, was letztend-lich Hoffnungslosigkeit heißt,
also Massenarbeitslosigkeit, Mangel an Ausbildungsplät-zen, schwierigste Bedingungen für den Mittelstand, Ver-armung des kulturellen Lebens. Wir haben uns trotzdemgegen diese pauschale Forderung entschieden. Auch hierlassen wir Ost und West nicht gegeneinander ausspielen.Nicht Aufrüstung, sondern Konversion und Abrüstung inOst und West wollen wir. Das ist die Perspektive.
Konversion und Schließung von Standorten müssen Handin Hand gehen, aber Schließungen mit dem Gestus „Nachuns die Sintflut!“ und ohne Konversion sind unverant-wortlich.
Das trifft insbesondere auf die ostdeutschen Standorte zu,deren Lage mehr als schlecht ist.Wir als PDS haben ein Reformkonzept für die Bundes-wehr vorgelegt. Das ist ein echtes Kontrastprogramm. Wirsetzen auf den Verzicht auf neue Waffensysteme, aufstrukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Die Armee soll auf100 000 Soldaten reduziert werden und sie soll sich aufreine Verteidigung beschränken. Unsere Alternativewürde Standortschließungen in weit größerem Umfangmit sich bringen. Das hier und heute zu sagen gebietet dieRedlichkeit.Im Unterschied zu Ihnen haben wir in unsere Abrüs-tungsvorschläge aber die soziale Verantwortung zum Auf-bau ziviler Strukturen, ein Amt für Konversion und Ab-rüstung sowie Konversionsfonds eingebaut. Wir wollen,dass dieser Prozess sozial verläuft, dass er strukturell ge-ordnet wird. All das fehlt in Ihrem Konzept. Deswegenwerden wir dieses Konzept ablehnen und, soweit wir eskönnen, dazu beitragen, dass es in der Praxis scheitert.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Zumkley, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Mit der Feinausplanung und den damit ver-bundenen Stationierungsentscheidungen ist ein schlüssi-ges und überzeugendes Konzept vorgelegt worden. DieReform der Bundeswehr ist vor dem Hintergrund der Si-cherheitslage in Europa überfällig und dringend notwen-dig. In diesem Punkt sind sich im Übrigen die Fachleuteeinig.
Sie von der CDU sind für 300 000 Soldaten. Wir pla-nen die Zukunft der Bundeswehr mit circa 285 000 Sol-daten. Der Unterschied – es ist gesagt worden – zwischenden beiden Stärkezahlen ist so gering, dass Ihre überzo-gene Kritik nicht begründet ist.Im Übrigen vermissen wir ein Alternativkonzept vonCDU und CSU.
Sie müssen sich endlich einigen, ob Sie 300 000 oder340 000 oder noch mehr Soldaten haben wollen. Sie müs-sen sich auch einigen, welchen Inhalt Sie uns vorschla-gen, damit man mit Ihnen auch einmal ernsthaft diskutie-ren kann.
Bei unserer Reform geht es nicht allein um eine Redu-zierung des Personals und der vorhandenen Standorte,wie es in der Vergangenheit von Ihnen praktiziert wurde.Unser Ziel ist es, die Bundeswehr für die neuen sicher-heitspolitischen Herausforderungen Europas und derNATO fit zu machen. Dazu erhält die Bundeswehr neueFähigkeitsprofile. Für die ihr gestellten Aufgaben im Rah-men der Landes- und Bündnisverteidigung und bei inter-nationalen Kriseneinsätzen ist dies unerlässlich.Sie von der Union kritisieren, dass Deutschland seineninternational zugesagten Beiträgen nicht nachkommenkönne. Nur ein Beispiel hierzu. In Ihrer Regierungszeit lagdie Zahl der Krisenreaktionskräfte bei circa 50 000 Sol-daten bei einer Gesamtstärke von 340 000. Ich gebe Ihnenzu: Manchmal waren wir bei 320 000 – geschenkt! In derneuen Konzeption werden 150 000 Soldaten bei einemStärkeumfang von circa 285 000 Soldaten zu den Einsatz-kräften gehören. Es gibt also eine deutliche Verbesserunghinsichtlich der Einsatz- und Durchhaltefähigkeit.Die Feinausplanung verdeutlicht dies. Aufgaben wer-den neu zugeordnet. Die Zusammenarbeit zwischen denTeilstreitkräften wird ausgebaut. Die Verantwortungsebe-nen werden gestrafft. Die logistischen und sanitätsdienst-lichen Kräfte werden konzentriert. Die Zusammenarbeitin multinationalen Verbänden wird gestärkt. Die Streit-kräfte werden somit moderner und leistungsfähiger, aberauch kleiner.Wenn man den Personalumfang verringert, hat dieszwangsläufig Auswirkungen auf die Standorte. Die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Wolfgang Gehrcke14691
Schließung oder Reduzierung von Standorten ist für dieBetroffenen auch mit Härten verbunden. Dies bedeutetoftmals für viele der betroffenen Städte und Gemeinden,Herr Adam, einen schmerzlichen Einschnitt. Die An-gehörigen der Bundeswehr sind als Bürger mit ihren Re-gionen eng verbunden. Wir wissen um die gewachsenenStrukturen und Traditionen in den Garnisonen. Auch inmeiner Heimatstadt sind die Menschen in der Bundes-wehr und in den sie umgebenden Bereichen durch dasvorliegende Stationierungskonzept zum zweiten Malstark betroffen. Es muss ehrlicherweise aber auch gesagtwerden, dass die Bundeswehr nicht ausschließlich einemstrukturpolitischen Zweck dienen kann, so sehr dies imEinzelfall auch wünschenswert wäre.Die überwiegende Zahl der Standorte bleibt von derjetzigen Entscheidung unberührt. Die Bundeswehr bleibtin der Fläche erhalten. Darüber sind wir froh. Die Solda-ten können grundsätzlich auch weiterhin heimatnah ein-berufen werden und bleiben in die Bevölkerung integriert.Aus betriebswirtschaftlicher Sicht hätte es auch zu drasti-scheren Schließungen kommen können. Die Weizsäcker-Kommission hat dies deutlich empfohlen.Es ist aber äußerst unglaubwürdig, auf der einen Seitedie jetzt notwendigen Standortveränderungen überschäu-mend zu kritisieren und auf der anderen Seite die von Ih-nen zu verantwortenden und Mitte der 90er-Jahre erfolg-ten Reduzierungen und Schließungen insbesondere inSchleswig-Holstein und Niedersachsen nicht zu erwäh-nen. Veränderungen an 46 Standorten aufgrund der dama-ligen Entscheidung sind noch nicht vollzogen. Ich bittedoch um ein wenig Sachlichkeit und Ausgewogenheit indieser Diskussion.
Kollege Zumkley, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?
Ich bin heute stimmlich nichtauf der Höhe. Deswegen bitte ich um Nachsicht, dass ichbei meinem Text bleibe. Vielleicht können wir über dieFrage später reden.
Die überwiegende Zahl der Standorte bleibt also erhal-ten. Wir sind der Meinung, dass wir diese Diskussion auchim Interesse der Bundeswehr versachlichen müssen. DenVorwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, es handelesich um einen Kahlschlag und dieser sei darüber hinausparteipolitisch motiviert, nimmt in der Öffentlichkeit nie-mand ernst. Auch Ihre Fachleute tun dies nicht.In dem vorliegenden Ressortkonzept sind einige For-derungen des Antrages der CDU/CSU bereits aufgenom-men – wir sind froh, dass wir auch Gemeinsamkeiten her-ausstellen können –; exemplarisch nenne ich an dieserStelle – das ist besonders wichtig – das Attraktivitätspro-gramm für das Personal der Bundeswehr. Wir laden Sieherzlich dazu ein, dieses Programm konstruktiv kritischzu begleiten.
Weitere Punkte sind die Sozialverträglichkeit der Perso-nalmaßnahmen und die Beibehaltung der Wehrpflicht. Ichmöchte aber hier hinzufügen, dass ich Respekt vor all de-nen habe, die eine andere Lösung bevorzugt haben.Allerdings sind Ihre Finanzierungsvorschläge, die Siein Ihrem Antrag machen und die auf der überholten Grund-lage von 340 000 Soldaten basieren, rückwärts gerichtetund falsch dimensioniert. Sie haben Ihre Finanzplanung inder Vergangenheit nie eingehalten. Sie haben häufig Kür-zungen im jeweils laufenden Haushaltsjahr vorgenom-men. Ein Großteil der Probleme in der Bundeswehr istnoch heute darauf zurückzuführen – leider. Wir habenkeine Kürzungen vorgenommen und wir werden keineKürzungen im laufenden Haushaltsjahr vornehmen. Mitdem vorgesehenen Plafond werden wir die Bundeswehrkontinuierlich Schritt für Schritt modernisieren.Im Übrigen, Herr Kollege Merz, möchte ich Ihnen Fol-gendes sagen – ich mache diese Bemerkung mit wenigerLeidenschaft als mein Kollege Erler –: Neben bemer-kenswerten Teilen Ihrer Rede in München – diese möchteich ausdrücklich erwähnen – gab es Teile, zu denen ich sa-gen muss: Die Finanzierung der Bundeswehr auf einer in-ternationalen Sicherheitskonferenz so zu thematisieren,wie Sie es getan haben, entsprach nicht den Gepflogen-heiten auf internationalem Parkett.
So haben es viele empfunden.Herr Kollege Merz, einem solch fachkundigen Publi-kum wie in München können Sie durchaus zutrauen, dasses die Positionen von Regierung und Opposition glei-chermaßen kennt. Sie sollten diesen meinen Rat in IhremHerzen bewegen, insbesondere wenn Sie den Weg zumKanzlerkandidaten beschreiten wollen.
– Als älterer Kollege darf ich mir diesen Ratschlag erlauben.
Herr Kollege Merz ist ja noch nicht allzu lange Mitglieddes Bundestages. Insofern ist mein Rat freundschaftlichgemeint.
Der Stellenabbau wird sozialverträglich und ohne be-triebsbedingte Kündigung erfolgen. Die Umstrukturie-rung der Bundeswehr wird mehrere Jahre dauern. DiesenZeitraum gilt es zu nutzen. Insbesondere die Personal be-arbeitenden Dienststellen in der Bundeswehr und die be-troffenen Gemeinden haben damit die Möglichkeit, sichauf die Veränderung zeitlich einzustellen. Das wird oft-mals nicht leicht sein.Für die Bundeswehrreform sind mit den Eckwerten derGrobausplanung und der Feinausplanung einschließlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Peter Zumkley14692
der Stationierungsentscheidung wichtige Meilensteinegesetzt. Diese Reform verlangt eine große Kraftanstren-gung und die Umsetzung des Kabinettsbeschlusses vom14. Juni 2000.
Für das Gelingen brauchen wir vor allem die Mitwir-kung der Soldaten und zivilen Mitarbeiter sowie ihre Be-reitschaft, sich den neuen Herausforderungen mit Enga-gement zu stellen. Dafür dankt meine Fraktion ihnenbereits im Voraus.Vielen Dank.
Ich rufe
nun zunächst zwei Kurzinterventionen auf, nämlich die
des Kollegen Wolfgang Dehnel und die des Kollegen Kurt
Rossmanith, und gebe dann dem Kollegen Zumkley die
Gelegenheit zu erwidern. Anschließend setzen wir die De-
batte in der vorgesehenen Reihenfolge fort.
Herr Kollege Dehnel, bitte.
Herr Kollege
Zumkley, Sie haben gerade das „schlüssige Konzept“ er-
wähnt und verteidigt. Seit heute früh 7.30 Uhr demons-
trieren Schneeberger Bürger vor dem Brandenburger Tor.
Sie haben sich heute Morgen um 3 Uhr auf den Weg ge-
macht, um für ihren Standort einzutreten.
Sie sprechen von einem „schlüssigen Konzept“. Der
Herr Bundesminister hat noch am 15. Dezember, nach-
dem die ersten Schließungspläne bekannt geworden sind,
angekündigt, dass letzten Endes keine großen Standorte
geschlossen werden und dass sowohl das wirtschaftliche
Umfeld als auch die Ausbildungssituation in diesen Re-
gionen entsprechend berücksichtigt werden.
In keinem Fall hätte danach der Standort Schneeberg
geschlossen werden dürfen. Die Schneeberger Bürger
werden sich heute wundern, dass hier im Plenum nicht ein
einziger SPD-Abgeordneter aus Sachsen vertreten ist und
dass der Minister für den Osten, Herr Schwanitz, nicht an-
wesend ist.
Ich finde, es ist skandalös, dass diese Vertreter ihrer Re-
gion nicht da sind. Die Bürger der Region hätten das ver-
dient gehabt. Die ganze Region Südwestsachsen steht
nämlich zu diesem Standort, und zwar nicht erst seit den
Schließungsplänen, sondern die ganzen zehn Jahre seit
der deutschen Einheit. In diesen zehn Jahren sind dort
110 Millionen DM investiert worden, es ist modernisiert
worden. Jetzt kommen die Schließungspläne von Herrn
Bundesminister Scharping.
Ich glaube, das ist nicht gerecht gegenüber der Region
und den dort lebenden Menschen. Ich bitte da um mehr
Verständnis. Sie sollten Ihre sächsischen Kollegen auffor-
dern, Alternativen zu suchen. Meine Alternativen werde
ich Ihnen in der nächsten Woche in der Fragestunde vor-
stellen.
Ich rufe
jetzt die Kurzintervention des Kollegen Kurt Rossmanith
auf. Herr Rossmanith, bitte.
Was das Sprechenanbelangt, ist Rot ganz gut, für die Zukunft allerdingsnicht.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Ich hätte den Kolleginnen und Kollegen diese Kurz-intervention an sich gerne erspart.
Aber, Kollege Zumkley, Sie haben leider eine Frage vonmir nicht zugelassen. Jetzt dürfen Sie dann trotz Ihrer be-legten Stimme noch antworten.
Ich möchte auf drei Punkte Ihrer Ausführungen einge-hen. Sie haben es als bemerkenswert dargestellt, dass dieZahl der Einsatzkräfte jetzt praktisch verdreifacht wird.Ich möchte aber trotzdem darauf hinweisen, dass dieHauptaufgabe unserer Streitkräfte, der Bundeswehr, nachwie vor die Bündnis- und die Landesverteidigung ist.Sie haben von einer Kraftanstrengung gesprochen, die Siejetzt unternehmen müssen. Das billige ich Ihnen persön-lich zu, weil ich weiß, dass Sie diese so genannte Reformnur sehr widerwillig verteidigen und vertreten. Aber wirkönnen jetzt nicht eine Einsatzarmee wollen; das wollenauch Sie sicher nicht. Deshalb finde ich es nicht richtig,wenn Sie diese so genannte Reform, wie ich noch einmalbetonen will, jetzt mit dieser Begründung als solche dar-stellen.Wenn Sie das schon tun, dann frage ich natürlich auch,weshalb die fliegenden Verbände um 25 Prozent reduziertwerden müssen. Gerade die vergangenen Konflikte undinsbesondere die Beteiligung der Bundeswehr bei derBeilegung des Konflikts im Kosovo haben gezeigt, dassdie Luftverbände im zukünftigen Verteidigungsfalle einewesentliche Rolle spielen.Vor diesem Hintergrund ist es mir unverständlich,weshalb Standorte, wie zum Beispiel Memmingerbergmit über 2 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein-schließlich Soldaten, ohne die Wehrpflichtigen, einfachmit einem Federstrich verschwinden sollen. Gerade Mem-mingerberg ist ein Standort, der im Leistungsvergleichvon der Einsatzbereitschaft und von der Einsatzfähigkeitimmer an erster Stelle gelegen hat, der auch meteorolo-gisch mit die besten Einsatzmöglichkeiten bietet, weilNebel und schlechteWetterverhältnisse dort nur eine sehr
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Peter Zumkley14693
geringe Rolle spielen. Mir ist auch unverständlich, wes-halb Sonthofen praktisch aufgelöst werden soll – im En-deffekt wird auch der Standort Sonthofen geschlossen;denn es verbleiben nur ein paar Soldaten – und weshalbdie Feldjägerschule gerade in den Ballungsraum Hanno-ver verlegt werden soll. Auch eine Begründung hierfürhabe ich in Ihren Ausführungen, Herr Kollege Zumkley,vermisst.Als Letztes will ich Ihnen sagen: Sie haben davon ge-sprochen, Sie müssten 46 Standorte schließen, derenSchließung noch in der Regierungsverantwortung vonCDU/CSU und F.D.P. beschlossen worden sei. LieberHerr Kollege Zumkley, Sie, der Sie sich immer an derWahrheit orientieren und sich nie mit Halbwahrheiten be-gnügen – das sage ich Ihnen anerkennend –, sollten sol-che Argumentationen unterlassen. Diese Standorte wer-den quasi nur noch abgewickelt. In diesen Standortenbefinden sich kaum mehr Soldaten. Die Schließung von39 Standorten plus fast noch einmal der gleichen Anzahl,bei der der beabsichtigte Abbau quasi einer Schließunggleichkommt, haben Sie zu verantworten. Darüber wer-den Sie den Bürgerinnen und Bürgern draußen Rede undAntwort stehen müssen. Sie haben aber nicht einmal Ihreneigenen Genossen Rede und Antwort gestanden.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Sie haben das ein-
fach mit einem Federstrich umgesetzt und erst im Nach-
hinein mit einer Beschwichtigungspolitik gegenüber
ihren eigenen Genossen, den Landtagskollegen oder den
jeweiligen Bürgermeistern reagiert.
Herr Kol-
lege Zumkley zur Erwiderung. – Bitte sehr.
Herr Kollege Dehnel, ich ver-
stehe, dass die Schneeberger Bürger um ihren Standort
kämpfen. Es hätten auch meine Fischbeker draußen ste-
hen können. Ich kann sie gut verstehen und finde es auch
gut, dass sie dies tun. Das zeigt, dass sie eine besondere
Beziehung zur Bundeswehr haben, was wir als außeror-
dentlich positiv empfinden.
Aber wenn es nicht Schneeberg ist, muss es ja wohl
ein anderer Standort sein. Heute ist – ich will dieses
Kampfwort eigentlich gar nicht wiederholen – schon vom
Sankt-Florians-Prinzip gesprochen worden. Davon ist das
Ganze weit entfernt. Aber wenn man reduziert, muss es
leider auch Schließungen geben. Die Frage ist immer: Wo
ist die Alternative? Wenn der Minister den Standort in
Schneeberg beließe, müsste er einen Standort an anderer
Stelle schließen. Ich finde, dieses Wechselspiel kann man
so nicht treiben. Im Übrigen ist Ihr Ministerpräsident ja
noch in der Lage, in dieser Hinsicht Vorschläge zu ma-
chen.
Ich möchte mich nun dem Kollegen Kurt Rossmanith
zuwenden. Herr Kollege, Sie irren sich, wenn Sie glau-
ben, ich stünde nicht hinter dieser Reform. Ich habe dem
Inspekteur des Heeres auch aufgrund meiner beruflichen
Vergangenheit zu dem neuen deutschen Heer mit den fünf
plus zwei Divisionen gratuliert und zu der Art und Weise,
wie diese Divisionen anders als früher instandgehalten
und eingesetzt werden. Ich erinnere in diesem Zusam-
menhang an die vielfältigen europäischen Aufgaben unter
dem Stichwort „headline goal“ – aufgrund der Vereinba-
rungen von Helsinki müssten wir ja 60 000 Soldaten stel-
len – und an die Erfüllung von NATO-Aufgaben.
Ich stimme mit Ihnen überein, wenn Sie sagen, dass
unsere Einsatzkräfte von 150 000 Soldaten vornehmlich
der Landes- und der Bündnisverteidigung dienen.
Dafür sind sie in erster Linie da, dafür brauchen wir sie
und dafür werden Sie auch ausgebildet. Aus diesem Teil
nehmen wir diejenigen, die bei friedenserhaltenden
Maßnahmen benötigt werden. Darüber besteht bei uns
Konsens.
Dass Sie die Reduzierung der Zahl fliegender Ver-
bände in der Luftwaffe beklagen, verstehe ich. Im Heer
gibt es weit drastischere Reduzierungen bei den Kampf-
truppen, den Kampfunterstützungstruppen und den Füh-
rungstruppen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Auch
bei der Marine gibt es Reduzierungen. Das ist so auch ge-
wollt und hat zur Folge, dass wir die Streitkräftebasis ein-
führen, die viele Aufgaben der Teilstreitkräfte unterstüt-
zend übernimmt. Das halte ich für ein sinnvolles
wirtschaftliches und militärisches Konzept.
Sie beklagen die Entwicklungen – ich empfinde das ge-
nauso wie bei Schneeberg oder meinen eigenen Leuten –
in Memmingerberg. Auch dafür habe ich volles Verständ-
nis. Wenn ich aber die Anzahl der fliegenden Verbände re-
duziere, dann muss ein Fliegerhorst geschlossen werden.
Wenn es nicht Memmingerberg ist, muss es ein anderer
sein. Sollen wir Manching, Kaufbeuren oder Nörvenich
schließen?
– Es gibt genügend Möglichkeiten, Alternativen zu fin-
den.
Herr Kol-
lege Zumkley, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herr Präsident, ich bin langegefragt worden. Es gab zwei Interventionen mit mehreren
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Kurt J. Rossmanith14694
Fragen. Es muss erlaubt sein, darauf in sachlicher Formeinzugehen.
Ich glaube, es geht hier um einen ganz wichtigenPunkt. Ich sage jetzt abschließend: Ich werfe Ihnen nichtvor, dass 46 Standorte übrig geblieben sind. Sie haben mitIhrer Bemerkung völlig Recht, dass diese abgewickeltwerden müssen. Wir haben – damals in der Opposition –die 94er-Entscheidung zwar kritisch, aber konstruktiv be-gleitet,
weil wir gesehen haben, dass die Bundeswehr von370 000 auf 340 000 Mann reduziert werden musste.Ich habe nur dafür plädiert, auch diese Seite zu be-trachten, wenn man die jetzigen Maßnahmen und Ent-scheidungen überschäumend kritisiert. Ich halte Ihre Po-sition für unglaubwürdig und Sie sollten sie wirklichernsthaft überprüfen.
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Christian
Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-
dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es wird jetzt in
der Tat eng – für die bayerische SPD. Denn sie hat sich
heute anhören müssen, dass Bayern abgestraft werden
muss, weil es dort zu viele Standorte gibt und man deshalb
zustimmt, dass in Bayern überproportional gekürzt wird.
Genauso ist es.
Der Bundesminister der Verteidigung hat sein Wort ge-
brochen. Er betreibt – ich möchte hier mit Genehmigung
des Präsidenten zitieren – „eine dumme Politik der Stand-
ortauflösung“. So hat er das am 7. Juni 2000 in diesem
Hause formuliert. In der gleichen Bundestagsdebatte, also
vor gerade acht Monaten, hat er den CSU-Kreisverbänden
– das sind diejenigen, die Ihnen, Herr Pfannenstein, Ärger
machen –, die sich für die Sicherung ihrer Bundeswehr-
standorte eingesetzt haben, einen donquichottehaften
Kampf gegen Windmühlen vorgeworfen. Er sagte damals,
die CSU kämpfe um etwas mit großer Kraft, was gar nicht
gefährdet sei.
Zwischenzeitlich habe ich den Eindruck, dass hier kein
Don Quichotte, sondern der Baron von Münchhausen un-
terwegs ist.
Dessen Geschichte, man könne sich selbst am Schopf aus
dem Schlamassel ziehen, war bekanntermaßen nur ein
Märchen. Ein Märchen ist auch, dass diese Bundeswehr-
verkleinerung ohne Geld etwas mit Reform zu tun habe.
Sie verkleinern die Bundeswehr gerade so weit, wie Ihr
Geld reicht. Das ist das Problem, daran kommen Sie nicht
vorbei. Sie haben sich dafür entschieden, die Bundeswehr
drastisch zu verkleinern.
Herr Kol-
lege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Braun?
Bitte sehr.
Herr Kol-
lege Schmidt, Sie beklagen natürlich zu Recht das
Schweigen der bayerischen SPD. Darf ich Sie aber fragen:
Wo ist heute die Bayerische Staatsregierung?
Heute geht es doch um ein Konzept, das praktisch ein
bundeswehrfreies Nordbayern vorsieht und das Schwa-
ben in einem Maße beschädigt, wie wir es bisher nicht er-
lebt haben.
Wissen Sie:
Ich bin schon etwas überrascht, Herr Kollege. Sie haben
sicherlich verfolgt, dass die Bayerische Staatsregierung
im Bayerischen Landtag eine sehr dezidierte Position zu
dieser Frage bezogen hat.
Aus dieser Erklärung geht hervor, dass sie mit den Bür-
germeistern der 20 Kommunen, die betroffen sind und die
vorher nicht informiert waren, Gespräche führen muss.
Auch deswegen hat die Staatsregierung das Gespräch, das
gestern der Bundesverteidigungsminister mit dem Minis-
terpräsidenten führen wollte, abgesagt, weil sie der Auf-
fassung ist, das ist zu früh. Es kann doch nicht sein, dass
eine Reform zwei Jahre lang entwickelt wird und dass an-
schließend innerhalb von vier Werktagen entschieden
werden soll, wie es weitergeht.
Damit eines ganz klar ist: Hier diskutieren wir über
Verantwortlichkeiten. Die Verantwortung liegt bei der
Bundesregierung und bei niemand anderem.
Herr Kol-lege Schmidt, erlauben Sie eine weitere Zwischenfragedes Kollegen Braun?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Peter Zumkley14695
Wissen Sie,
Herr Kollege, wir haben ja keine eigene bayerische Armee
mehr und deswegen ist das Ganze Bundesangelegenheit.
Nachdem ich auch von SPD-Kollegen höre, dass sie bei
der Frage der Finanzierung der Folgen schon klamm-
heimlich auf die Länder verweisen, habe ich den Ein-
druck, dass da einiges schief läuft. Das muss heute dieser
Bundesregierung klar vor Augen geführt werden. Sie kön-
nen sicher sein, dass sich die Bayerische Staatsregierung
in bekannt klarer, dezidierter Weise zu diesen Fragen
äußern wird.
Herr Kol-
lege Schmidt, erlauben Sie trotzdem eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Braun? – Bitte, Herr Braun.
Lieber Kol-
lege Schmidt, natürlich wissen wir sehr gut, dass es sich
hier um reine Bundespolitik handelt.
Aber sollte man nicht die Bundesratsbank nutzen, um
auch hier Stellung zu nehmen, wenn es um so starke In-
teressen eines Bundeslandes, nämlich des Freistaates
Bayern, geht?
Der bayeri-sche Ministerpräsident und der Chef der BayerischenStaatskanzlei haben sich in dieser Sache geäußert.
Sie sind im Gespräch mit den Betroffenen und haben esdort nicht an Deutlichkeit fehlen lassen. Ich bin der An-sicht, dass erst einmal die Fraktionen des Bundestagesdiese Frage diskutieren müssen. Ich werde allerdings auchan den Verteidigungsminister die Aufforderung richten,
seinen Zeitplan zu revidieren, damit eine vernünftige Aus-einandersetzung möglich ist.
– Entschuldigung, ein solch dummes Gerede habe ich sel-ten gehört, wenn Sie hier „Verweigerungsstrategie“ da-zwischenrufen. Am Freitag letzter Woche kam aus demMinisterium zum ersten Mal ein Brief. Die Bürgermeister,die hier auf der Tribüne sitzen, haben bis heute nochnichts Offizielles bekommen. Dann stellt sich der Vertei-digungsminister hier hin und sagt: Die waren leider nochnicht alle bei mir. – Ja, wo sind wir denn? Entschuldigung,wer trägt denn hier die Verantwortung?
Es schwillt mir der Kamm bei dem, was ich von Ihnen,Herr Kollege Erler, gehört habe.
– Lassen Sie mich einmal ausreden, dann werden Siehören, was mein Konzept ist. Ich schicke es Ihnen zu.Kollege Erler, Ihre Propagandarede war missglückt.Uns zu unterstellen, wir hätten kein Konzept auf den Tischgelegt, ist ja nun völlig absurd. Sie haben wohl die Dis-kussion des letzten Jahres nicht verfolgt.
Wenn Sie über die Wehrkundetagung letzte Woche inMünchen sprechen, dann sollten Sie einmal überlegen,welchen Auftritt der Bundeskanzler dort hatte.
Er war schwierig, um nicht ein schärferes Wort zu ver-wenden; ich will vorsichtig sein. Wissen Sie zum Bei-spiel, dass der damalige amerikanische Verteidigungsmi-nister Cohen vor einem halben Jahr in England dieEuropäer aufgefordert hat, ihre Verteidigungshaushalte zuerhöhen? Da liegt doch der Hase im Pfeffer.
Mit dem Kollegen Zumkley setze ich mich gern sach-lich auseinander, weil er ein sachlicher Mann ist.
Er hat gesagt, er sei dafür, zu reduzieren. Das ist eine acht-bare Position.
Ich bin nicht dafür. Wieso bin ich nicht dafür? – Weil ichder Meinung bin, dass angesichts der Anforderungen, dieim Bereich der Krisenreaktionskräfte und der Landesver-teidigung auf uns zukommen, die Stärke der Bundeswehrbei Beibehaltung der Wehrpflicht eine kritische Massenicht unterschreiten darf. Aus diesem Grunde halte ich dieZahl von 250 000, 255 000, über die wir faktisch reden– das müssen wir uns eingestehen, wenn wir ehrlich mit-einander umgehen –, für zu wenig. Ihre Position mag eineandere sein. Aber unsere, meine ich, ist sehr gut begrün-det. Ich kann sogar den Bundesverteidigungsminister zumZeugen anrufen. Er sagt viel, wenn der Tag lang ist. Bun-desverteidigungsminister Scharping hat nach einem Zei-tungsbericht bei einem Truppenbesuch in Hohenmölsenin Sachsen-Anhalt gesagt, er halte an der Personalstärkeder Bundeswehr fest. Immerhin sei die Truppenstärke vonrund 700 000 Bundeswehrangehörigen im Jahre 1991 aufderzeit rund 330 000 Mann mehr als halbiert worden.Also, der Bundesverteidigungsminister sagt, die Trup-penstärke sei halbiert worden, das reiche aus und manbleibe bei einer Truppenstärke von 330 000. Können Siemir bitte erklären, wieso sich die Sicherheitslage zwi-schen dem 23. August 1999 und dem 9. Februar 2001 so
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 200114696
drastisch verändert hat, dass Sie die Bundeswehr um80 000 Mann reduzieren wollen? Sie werden es nichtkönnen.Nun zum Thema Glaubwürdigkeit. Wenn man alsSPD-Politiker in Goldene Bücher hineinschreibt, wie dasin Kötzting der Fall war, „Der Standort bleibt erhalten“und ihn dann schließt, wenn man an der Regierung ist,dann müssen doch die Wähler bzw. die Bürger an derGlaubwürdigkeit der Politik zweifeln.
Ihr Genosse Gantzer hat am 31. Januar 2001 im Bayeri-schen Landtag im Rahmen einer Bundeswehrdebatte denTruppenabbau als ein Geschenk für die Kommunen be-zeichnet. Ich wünsche ihm für das Gespräch mit denBürgermeistern von Ebern, Heidenheim, Sonthofen,Lenggries und Kötzting viel Vergnügen. Ihre Art undWeise, mit diesem Problem umzugehen, ist absolut unak-zeptabel.
Herr Kol-
lege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Pfannenstein?
Aber immer.
– Vorsicht, ich habe es dabei.
Bitte
schön.
Verehrter Herr Kollege
Schmidt, was halten Sie von der Tatsache, dass Sie am
5. Januar dieses Jahres auf Ihrer Klausurtagung ein Papier
Ihrer Landesgruppe veröffentlicht haben, in dem steht,
diese Strukturveränderung mache Sinn, aber man müsse
vor Ort jede einzelne Standortschließung bekämpfen? In
diesem Papier wurde der Standort Kötzting aufgeführt.
Eine Schließung macht laut Ihrem Papier Sinn. Nun steht
Kötzting auf der Liste der zu schließenden Standorte; jetzt
macht eine Schließung keinen Sinn mehr. Können Sie mir
eine Antwort auf diese Widersprüche geben?
Ich bin für
diese Zwischenfrage sehr dankbar, um endlich einmal die
hier herumgeisternde Unterstellung, es gebe bei der CSU
die Strategie, Scharping zu unterstützen, zu widerlegen.
Das ist nämlich für Herrn Scharping ein Problem. Ich bin
schon von Journalisten gefragt worden, ob wir Scharping
gegen Schröder unterstützen würden, weil der einmal die
große Koalition gewollt habe. Ich kann Herrn Scharping
beruhigen: Wir unterstützen ihn nicht in dieser Position
und auch nicht in seiner Reform.
Das können Sie übrigens aus diesem Vermerk ersehen,
der nirgendwo beschlossen worden ist und der offensicht-
lich, wie ich zwischenzeitlich an der Art, wie er präsen-
tiert wird, festgestellt habe – Herr Erler, passen Sie bitte
auf –,
nicht ganz lupenrein an die interessierte Beschaffungsab-
teilung gegangen ist.
Wir werden noch über eine andere Angelegenheit spre-
chen müssen.
– Herr Präsident, möchten die Kollegen von der SPD Auf-
klärung von mir haben oder wollen die mich nieder-
schreien? Sie sollten ruhig sein.
Wenn Sie
die Zwischenfrage noch beantworten würden, dann würde
ich den Kollegen Pfannenstein bitten, sich noch einmal zu
erheben.
Nein, ich
habe sie noch nicht beantwortet.
Herr
Schmidt, Kollege Pfannenstein hat Ihnen auf Ihre Geneh-
migung hin eine Frage gestellt. Die beantworten Sie jetzt.
Ich bitte Herrn Pfannenstein, während dieser Zeit stehen
zu bleiben.
KollegePfannenstein, die CSU hat kein Papier verabschiedet, indem sie das Konzept von Scharping in irgendeiner Weiseunterstützt. Sie hat Informationen weitergegeben. Das istmehr recht als billig in Zeiten, in denen SPD-Abgeordnetebeispielsweise in Günzburg gesagt haben, dass dieserStandort sicher sei.Wenn Sie diesen Vermerk eines Mitarbeiters – mehr istes nicht –
genau lesen, dann stellen Sie fest, dass dort steht, –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Christian Schmidt
14697
Herr Kol-
lege Schmidt, eine Zwischenfrage sollte kurz und knapp
beantwortet werden. Ich bitte darum.
– dass, mein
lieber Kollege Pfannenstein, vor dem Hintergrund dieser
Reform eine Schließung Sinn macht. Wieso macht das
vor dem Hintergrund der Reform Sinn? – Weil Herr
Scharping ein Jahr vorher erzählt hat, es würden nur
Kleinststandorte geschlossen, weil er die Leute belogen
hat. Wir sind aber nicht für diese Reform. Deswegen
macht es nach unserer Meinung auch keinen Sinn; damit
das völlig klar ist.
Jetzt ist
die Frage beantwortet. Danke schön.
Im Übrigen
wundert mich, mit welch eigenartiger Mischung aus Ar-
roganz, Uninteressiertheit, Spaß und Lust dieses Thema
offensichtlich in der Koalition behandelt wird. Dies ist ein
sehr ernst zu nehmendes Thema.
Ich bin bereit, über die Inhalte zu diskutieren. Wir tun das
auch schon lange, aber da haben Sie nicht aufgepasst.
Im Übrigen kann ich nur appellieren, das, was jetzt
stattfinden soll, zu blockieren bzw. zu überdenken. Aber
selbst dann, wenn wir noch einmal darüber diskutieren,
wird es in Wahrheit so bleiben. Ihnen fehlt eines: Geld!
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, witzige Zwischenrufe beleben
die Debatte und sind auch durchaus erwünscht. Wenn aber
dieselben Fragen zehnmal dazwischen gerufen werden,
kann dies zu einer Belastung der Debatte führen.
Ich gebe nun der nächsten Rednerin, der Kollegin
Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! VerehrteFrau Ministerpräsidentin Heide Simonis, ich freue mich,dass Sie hier sind, um dieser Debatte trotz manchmal sin-kender Qualität zu folgen.
Ich glaube, der Stationierungsentwurf ist im Ergebnisin sich ausgewogen und berücksichtigt die verschiedenenInteressenlagen von Kommunen, Ländern, Soldaten, Zi-vilisten und deren Familien. Ich bin der Meinung, dass dieKriterien, die der Minister öffentlich gemacht hat und diehätten korrigiert werden können, berechtigt sind und alsGrundlage dessen gedient haben, über was wir heute dis-kutieren.Ich finde es – hier nehme ich Bezug auf die Rede desKollegen Zumkley – verständlich, dass die Länder imDialog mit den Kommunen versuchen – ohne die kampa-gnenartige Gestaltung der CDU –, noch über das eine oderandere zu diskutieren. Ich sage aber als Schleswig-Hol-steinerin und Neumünsteranerin, wo nun nur noch zehnvon 900 Soldaten übrig bleiben sollen:
Wenn wir bei der Standortentscheidung nach Wirt-schaftlichkeitskriterien und nach militärischen Kriterien– das sind die Hauptkriterien bei dieser Reform – vorge-hen, ist es einfach logisch, dass man Teile der Panzer-brigade zusammenzieht und den Hauptstandort in Boo-stedt lässt, so schlimm das für Neumünster ist. Wirwerden dort mit Fantasie nach vorne schauen, statt im-mer nur zu schreien.Heute Morgen hat im Fernsehen – Herr KollegeSchmidt, Sie haben versucht, dies zu übertrumpfen, aberes war einfach nicht zu übertrumpfen – der Kollege Hubervon einer „Strafexpedition der Bundesregierung gegenBayern“ gesprochen.
Dazu kann ich nur sagen: Gute Nacht! Bleiben Sie in Bay-ern und wir machen unsere Reform.
Nun komme ich zu den Vorwürfen, mit denen Sie unsim Hinblick auf Niedersachsen bzw. – etwas konkreter –auf Hannover parteipolitische Interessen unterstellen undbehaupten, wir würden bei der Zusammenziehung derWehrbereichsverwaltungen einen Kanzlerbonus ein-bauen.
Dazu kann ich nur sagen – so sehr ich den Kanzlerschätze –: Mir ist die Strukturreform der Bundeswehr undinsofern auch die Zusammenlegung der Wehrbereichsver-waltung in Hannover wichtiger. Diese werde ich auchweiterhin verteidigen.Ich will nicht verhehlen, dass die Vorschläge derWeizsäcker-Kommission und unsere Vorstellungen voneiner weiteren Reduzierung der Bundeswehr auf 200 000Mann im Rahmen einer Freiwilligenarmee nicht weit aus-einander lagen. Wir hätten Farbe bekannt: Nach unseremKonzept wären noch mehr Standorte geschlossen worden,mit der Zielsetzung, Kosten zu sparen, wo dies möglichist, und mehr Geld für Investitionen freizumachen. Aberdies sei nun erst einmal zurückgestellt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 200114698
Herr Kollege Nolting, ich kann Ihrer fundierten Kritikan Ihrem früheren Koalitionspartner und an Herrn Merzweitgehend folgen.
Aber dass Sie jetzt nur noch populistisch auf das Konzeptvon Herrn von Weizsäcker aufspringen, das Sie früherbekämpft haben, ist doch etwas zu kurzsichtig.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bevorzuge Of-fenheit in den Aussagen und will anstehende Problemenicht populistisch kleinreden.
Frau Kol-
legin Beer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Börnsen?
Nein,
danke.
Wer das tut, nützt weder der Bundeswehr noch der
Außen- und Sicherheitspolitik. Dieser Bereich ist in die-
ser Debatte leider etwas zu kurz gekommen.
Aber ich sage Ihnen noch einmal ganz klar: Wenn man
eine Außen- und Sicherheitspolitik gestalten will und
akzeptiert, dass wir eine handlungsfähige Bundeswehr
brauchen, die ihren Auftrag hat, muss diese Bundeswehr
entsprechend angepasst werden. Das heißt, dass wir sie
reduzieren müssen, und das heißt, dass wir Stationie-
rungsveränderungen vornehmen müssen. Alles andere
ist keine Unterstützung der Außen- und Sicherheitspoli-
tik, es wäre kontraproduktiv.
Herr Merz, ich habe nicht die Zeit, Ihre einzelnen Aus-
sagen von heute Morgen zu analysieren. Aber ich habe
das Gefühl, dass die frühere Regierungsfraktion der
CDU/CSU einem Trauma verhaftet ist, weil Sie sich heute
noch irgendwo innerlich gezwungen sehen, die jahrelan-
gen Fehler in Ihrer Regierungsverantwortung heute noch
zu rechtfertigen. Diesem Trauma verhaftet, sind Sie poli-
tisch völlig handlungsunfähig geworden.
Sie sind nicht einmal in der Lage, über Ihre eigene Ver-
gangenheitsbewältigung hinaus zu denken.
In Ihrem Antrag – der heute abgestimmt und natürlich
abgelehnt werden wird – lautet die Kernaussage: Sie leh-
nen den Entwurf des Ressortkonzepts „Feinausplanung
und Stationierung der Bundeswehr“ ab. Sie fordern: Ers-
tens. Alles bleibt, wie es war. Zweitens – das muss man
sich wirklich einmal reinziehen – „den Umbau der Bun-
deswehr für Soldaten und Zivilpersonal, an den Modellen
der ehemaligen Bundesregierung orientiert, sozialver-
träglich zu gestalten“. Sie haben doch dafür gesorgt, dass
die Bundeswehr nur noch ein Ersatzteillager ist. Sie haben
dafür gesorgt, dass alle Reformen vorher nicht umgesetzt
worden sind. Und jetzt sagen Sie: „Weiter so!“ und for-
dern noch mehr Geld. Ja, wo bin ich denn hier?
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden das
Reformkonzept weiter unterstützen. Ich sage Ihnen auch,
wie wir Reform verstehen, nicht als Schieben, Strecken,
Streichen, sondern als Wandel. Wandel heißt Bewegung.
Das heißt, die Bundeswehrreform ist auch so etwas wie
ein „work in progress“. Dieser Prozess ist nicht statisch,
ist nicht festgeschrieben bis auf den letzten Tag. Aber wir
wollen ihn zügig umsetzen. Wenn es sein muss, werden
wir auch bereit sein, im Rahmen dieser Reform Nachbes-
serungen vorzunehmen, um allen Interessen gerecht zu
werden.
Wir haben uns vorgenommen und sind dabei – der
Minister hat das heute deutlich gemacht –, als rot-grüne
Koalition nicht nur die Defizite, die Versäumnisse, vor al-
lem die politischen Versäumnisse, der letzten zehn Jahre
aufzuholen, sondern wir wollen auch gemeinsam mit un-
seren europäischen Partnern nach vorne gehen. Ich
glaube, es ist richtig – das möchte ich hier noch einmal un-
terstreichen –, dass wir die Reform der Bundeswehr in ein
Finanzierungskonzept der Bundesregierung eingepasst
haben, das mit der gesamten Haushaltskonsolidierung
kompatibel ist. Dass sich an dieser Konsolidierung auch
das Verteidigungsressort beteiligt, ist eine Selbstverständ-
lichkeit.
Das ist schwierig, aber diesen Weg gehen wir. Sie ha-
ben sich heute aus dem Dialog verabschiedet. Das ist be-
dauerlich, aber es passt in die Planlosigkeit der Opposi-
tion, wofür ich mich eigentlich zu bedanken habe.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich nacheinander dem Kollegen
Austermann und dem Kollegen Börnsen das Wort.
Zunächst Herr Kollege Austermann.
Herr Präsident!Die Kollegin Beer hat behauptet, sie treffe gelegentlichklare Aussagen. Das mag in der Vergangenheit gegoltenhaben.
– Natürlich Schleswig-Holstein. – Sie hat heute sehr ver-schwommene Aussagen gemacht,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Angelika Beer14699
entgegen der Aussage kurz nach Veröffentlichung desStrukturkonzepts des Verteidigungsministers, als sie da-von sprach, dass noch viel zu wenig Standorte geschlos-sen werden. Jetzt frage ich Sie, Frau Kollegin: Ist es wirk-lich viel zu wenig – der Minister sprach von „nurvereinzelten Standortschließungen und -reduzierun-gen“ –, wenn Glückstadt, Großenbrode, Hohenlockstedt,Leck, List, Pinneberg und Westerland mit 4 000 Soldatengeschlossen werden? In meinem Wahlkreis sind2 000 Soldaten betroffen. Die ganze Westküste mit ihrenBundeswehrstandorten wird ausgedünnt. Hinzu kommenNeumünster, Eckernförde, Schleswig und Rendsburg, wodrastisch reduziert wird. Aus diesen Städten sollen4 000 Soldaten abgezogen werden. Wenn man die zivilenMitarbeiter einrechnet, sind es mehr als 10 000 Bundes-wehrbeschäftigte. Wenn man den Anteil Schleswig-Hol-steins an Bundeswehrfachschulen berücksichtigt, der3 Prozent beträgt, haben wir am Ende eine Kürzung von17 Prozent. Halten Sie das für eine bescheidene Kürzung?Halten Sie das für vertretbar?
– Es ist völlig richtig, was der Kollege Braun sagt. Sie hatin der Vergangenheit ein bundeswehrfreies Schleswig-Holstein gefordert.
Wie passt das zu der Position, die jetzt von den Grünenvertreten wird? – Ich kann Ihnen das Zitat aus demJahr 1995 vorlegen. Sie haben von einem „bun-deswehrfreien Schleswig-Holstein“ gesprochen. Sie wol-len jetzt die Westküste bundeswehrfrei machen. Auch beiden Heeresfliegern in Schleswig-Holstein soll reduziertwerden. Es gibt in absehbarer Zeit nördlich der Elbe beider Bundeswehr keine Hubschrauber mehr. Dies ist einunverantwortliches Vorgehen.Jetzt komme ich zur Präsenz der Landesregierung,weil dies vorhin ein Thema gewesen ist. Ich habe gedacht,der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, HerrBuß, der heute anwesend ist – er ist der Beauftragte derMinisterpräsidentin für Bundeswehrfragen –, würde Ge-legenheit nehmen, hier zu reden. Nachdem die Minister-präsidentin eingetroffen ist, bin ich davon ausgegangen,dass sie sprechen wird. Aber auf der Rednerliste stehen siebeide nicht. Ihre Namen erscheinen erst bei dem nachfol-genden Tagesordnungspunkt. Ich erinnere in diesem Zu-sammenhang daran, dass wir bereits im Herbst des letztenJahres – Kollege Koppelin hat darauf hingewiesen – ge-sagt haben, dass die Existenz des Heeresfliegers „Hungri-ger Wolf“ und mit ihm andere Standorte gefährdet sind.
Wir wurden in diesem Punkt aber nicht unterstützt.
– Ich weiß nicht, warum der ehemalige Polizistentreter dau-ernd dazwischenreden muss. Das war bisher nicht üblich.Es werden nicht vereinzelt Standorte geschlossen, son-dern es kommt zu drastischen Einschnitten. Das mussdeutlich gesagt werden.Der letzte Punkt, den ich erwähnen möchte, ist die Fi-nanzsituation.
Herr Kol-
lege Austermann, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Mein letzter
Satz, Herr Präsident.
Nein, kei-
nen Satz mehr.
Okay.
Herr Kol-
lege Börnsen, bitte schön.
FrauKollegin Beer, Sie haben sich für die Stärkung von Han-nover ausgesprochen und deutlich gemacht, dass nichtparteipolitisch vorgegangen wurde. Damit haben Sie sichaber gegen Kiel ausgesprochen. Ihre eigene Landtags-fraktion in Kiel hat sich vehement für die Stärkung undnicht für die Schwächung von Kiel eingesetzt. Ihre Land-tagsfraktion hat sich auch für die Beibehaltung des Stand-ortes Neumünster eingesetzt.Sie halten es für gut, dass der Standort der Bundeswehrdort geschlossen wurde. Sie haben deutlich gemacht, dassSie sich weder für Hohenlockstedt noch für andere Stand-orte einsetzen. Ist es immer noch Ihre Auffassung, dass inSchleswig-Holstein keinerlei Bundeswehrstandorte mehrsein sollen? Von Ihnen gibt es mehrere Belege dafür, dassSie für ein bundeswehrfreies Schleswig-Holstein sind.Sie haben unterstrichen, dass Sie zu dem Konzept desBundesverteidigungsministers stehen. Die Kommunenvor Ort haben nur die nackten Zahlen darüber bekom-men, wie viel reduziert und was geschlossen werden soll –keine Begründung. Halten Sie das für ein vernünftigesKonzept? In drei Wochen müssen Stellungnahmen er-stellt werden. Niemand weiß, wofür oder wogegen eineStellungnahme erstellt werden soll. Ist das Ihre Bereit-schaft zum Dialog, Frau Beer? Ist das vertretbar? Alle un-sere Bürger sind in Unruhe und Sorge. Man muss ihnendoch Argumente dafür geben, warum Soldaten ausSchleswig, aus Tarp, aus Flensburg, aus Hohenlockstedtund aus vielen anderen Städten und Kreisen unserer Re-publik abgezogen werden sollen. Es reicht nicht aus, Zah-len zu nennen.Halten Sie es für richtig, dass vor Ort der Eindruck er-weckt wird, der Bundesverteidigungsminister sei bereit,über jedes Problem mit Bürgermeistern zu sprechen,während sie in Wirklichkeit vor Ort abgefertigt werden?Die Hohenlockstedter sind hier gewesen, aber sie habenmit dem Bundesverteidigungsminister nicht sprechen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Dietrich Austermann14700
können. Auch die Schleswiger sind hier gewesen, aber derBundesverteidigungsminister war nicht da. Die Staatsse-kretäre haben sich große Mühe gegeben, aber vor Ort wirdder Eindruck erweckt, der Bundesverteidigungsministerselbst werde den Dialog führen. Dann muss er auch Ter-mine nennen.Ich hoffe sehr, dass er einen Termin für die Standortenennt, auf deren Rückzug wir ihn angesprochen haben.Bisher haben wir von seiner Seite nicht einmal eine Ant-wort bekommen.
Frau Kol-
legin Beer, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Ver-
ehrte Kollegen aus Schleswig-Holstein! Worum geht es
hier eigentlich? Wir diskutieren heute die Feinplanung.
Es geht um eine Vorlage des Bundesministers der Vertei-
digung, die in den Ländern und Kommunen sowie im Par-
lament zur Debatte gestellt wird. Der Minister hat signa-
lisiert, dass bis zum 15. Februar Gespräche stattfinden
und dass er die endgültige Entscheidung am 16. treffen
wird. Der Verteidigungsminister setzt damit eine Koaliti-
onsvereinbarung zwischen Rot und Grün um, die besagt,
dass wir die Bundeswehr reformieren wollen. Wir haben
beschlossen, dass wir das Personal der Bundeswehr redu-
zieren wollen. Das bedeutet – das ist die Logik dieses Re-
formprozesses –, dass Standorte geschlossen werden.
Nun ist es – das habe ich vorhin bereits gesagt – durch-
aus verständlich, dass alle Gemeinden quer durch die Re-
publik – von Ost nach West, von Nord nach Süd – erst ein-
mal aufschreien und sagen: Okay, eigentlich ja, aber nicht
bei uns! Als verteidigungspolitische Sprecherin unter-
stütze ich das Konzept des Bundesministers der Verteidi-
gung, jedenfalls weitestgehend. Insofern vertrete ich auch
die Strukturmaßnahmen, die notwendig sind. Ich habe
vorhin gesagt – ich vertrete das auch zu Hause, obwohl
ich Neumünsteraner bin –: Wenn man Geld sparen muss
und die Bundeswehr wirtschaftlich gestalten will, damit
sie für die Zukunft fit ist, dann muss man Strukturverän-
derungen vornehmen. Deswegen ist es erstens sinnvoll,
Teile der 18. Panzerbrigade von Neumünster nach Boo-
stedt zu verlegen, wo die Kaserne, wie Wirtschaftlich-
keitsprüfungen erwiesen haben, sehr viel günstiger als der
Standort in Neumünster arbeitet. Zweitens ist es im Rah-
men dieser Umstrukturierung – das betrifft ja nicht nur
Schleswig-Holstein – sinnvoll, die Wehrbereichsverwal-
tungen in der geplanten Form zusammenzulegen.
Ich nehme durchaus zur Kenntnis – ich habe das übri-
gens auch mit den Grünen diskutiert –, dass man das vor
Ort etwas anders sieht. Das geht Ihnen ja in Ihren Parteien
genau so; wir wissen das aus allen Diskussionen. Diese
Koalition hat aber noch ein zweites Vorhaben klar defi-
niert: Wir sehen Konversion und die Reform als Schritt
nach vorne. Das heißt – da stimme ich mit dem Sprecher
des Konversionsinstituts in Bonn überein –, dass es gut
ist, wenn die Kommunen nicht in den Fehler verfallen, Ih-
rer Kampagne gegen die Regierung zu folgen und immer
nur Nein zu schreien, sondern die Chancen einer langfris-
tigen Konversion wahrnehmen. Wir wissen aus der ersten
Konversionsphase in Schleswig-Holstein, dass dies man-
chen inzwischen geschlossenen Standorten durchaus gut
getan hat.
Wir werden uns bemühen – das ist die Verantwortung
einer Bundespolitikerin; ich hoffe, Sie kommen bald wie-
der ins gemeinsame Boot zurück –, mit den Kommunen
konzeptionelle Vorschläge zu erörtern und da, wo es mög-
lich ist, mit regionaler Strukturunterstützung auch umzu-
setzen. Wir haben das Dilemma, dass – das ist nicht nur in
Schleswig-Holstein so, aber bei uns ganz besonders – die
Bundeswehr aus struktur- und wirtschaftspolitischen
Aspekten überproportional ins Land geholt worden ist.
Die Bundeswehr ist aber ein sicherheitspolitisches Instru-
ment. Da die letzte Regierung die Reform verschlafen
hat – ich habe das vorhin ausgeführt –,
sind wir jetzt in der schwierigen, aber handhabbaren Si-
tuation, diesen Reformprozess regional, kommunal, lan-
despolitisch und bundesweit umzusetzen. Ich glaube, dass
die Kriterien, die der Verteidigungsminister zugrunde ge-
legt hat, weitestgehend berücksichtigt worden sind. Des-
wegen kann ich mich Ihrem Geschrei, das wirklich nur
parteipolitisch motiviert ist und nichts mit dem Interesse
der Bundeswehr zu tun hat, nicht anschließen.
Wegen
des Zeitablaufs werde ich in dieser Debatte keine Kurzin-
terventionen mehr zulassen.
Die nächste Rednerin ist jetzt die Kollegin Ursula
Mogg von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich werde versuchen, die Debatte inaller Sachlichkeit auf den Kern zurückzuführen.
Die Würfel sind gefallen. Nach der Erarbeitung allerGrundlagen für die Vorlage einer Konzeption für die Bun-deswehr der Zukunft herrscht jetzt bei allen am ProzessBeteiligten Klarheit: bei den Soldaten, bei den Zivilbe-schäftigten, bei den Kommunen und Regionen. Wir wis-sen jetzt, wohin die Reise gehen wird.Minister Scharping unterstreicht zu Recht, dass Ände-rungen nur noch in gut begründeten Einzelfällen möglichsein werden. Für die sozialverträgliche Umgestaltung istes hilfreich, dass jetzt eine weitgehende planerische Si-cherheit besteht. Seit damit begonnen wurde, Überlegun-gen über die sicherheits- und außenpolitisch unbestrittennotwendige Reduzierung der Bundeswehr anzustellen, ist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Wolfgang Börnsen
14701
klar: Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Überlegun-gen.
Lassen Sie uns also dem Vorschlag des Ministers fol-gen und mehr über Arbeitsplätze, aber weniger überStandorte diskutieren. Ich kenne kein Unternehmen, daseine Reduzierung und Modernisierung mit einem solchenAnspruch – betriebsbedingte Kündigungen sind ausge-schlossen, der Umbau erfolgt sozialverträglich – einge-läutet hätte, wie es der Verteidigungsminister, wie es dieseBundesregierung, getan hat.
Frau Kol-
legin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dehnel?
Nein, das erlaube ich jetzt nicht.
Es gilt jetzt, diesen Anspruch zu konkretisieren. Die
Koalitionsfraktionen bekennen sich ausdrücklich zu ihrer
sozialen Verantwortung bei der Umgestaltung der Bun-
deswehr. Ich bin mir ganz sicher, die betroffenen Men-
schen werden erkennen, dass Sie, meine Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, zurzeit nicht dieses Inte-
resse im Auge haben, sondern eine kurzatmige parteipoli-
tische Effekthascherei betreiben.
Es ist festzuhalten, dass genügend Zeit vorhanden ist,
um geeignete Maßnahmen für die betroffenen Menschen
zu entwickeln. Sowohl beim militärischen als auch beim
zivilen Personal sind Übergangszeiten von mehreren
Jahren eingeplant. Viele werden in dieser Zeitspanne aus
Altersgründen den Arbeitgeber Bundeswehr verlassen
und in den regulären Ruhestand eintreten. Darüber hinaus
wird jetzt selbstverständlich darüber nachgedacht, in wel-
chem Umfang und unter welchen Bedingungen Formen
der Altersteilzeit und des Vorruhestands erwünscht, not-
wendig und realisierbar sind.
Es wird Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben,
die den Arbeitsplatz innerhalb der Bundeswehr wechseln
oder bei einer anderen Verwaltung neu beginnen werden.
Es wird Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die
zu anderen Arbeitgebern wechseln werden. Kalte Über-
nahmen werden dabei ausgeschlossen. Niemand muss be-
fürchten, dass die Zusage der Sozialverträglichkeit un-
terlaufen wird.
Wir werden dabei auch nicht vergessen, Herr Kollege
Nolting, dass es Festlegungen bezüglich der Zusage von
Versorgungsleistungen geben muss. In einigen Fällen
gibt es heute schon nicht nur die Zusage eines privaten Ar-
beitgebers, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
übernehmen, sondern dies auch zu günstigeren Konditio-
nen zu tun, als dies bei der Bundeswehr der Fall ist.
Auf jeden Fall aber muss gelten: Die erforderliche Be-
endigung des Arbeits- oder Dienstverhältnisses bei der
Bundeswehr bedarf der Zustimmung des betroffenen Mit-
arbeiters.
Frau Kol-
legin, galt Ihre Ablehnung von Zwischenfragen grund-
sätzlich oder gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des
Kollegen Adam?
Ich möchte grundsätzlich keine
Zwischenfrage zulassen.
Bei der Bundeswehr entstehen neue, moderne und at-
traktive Arbeitsplätze. Die Reform der Bundeswehr wird
vielen verbesserte Perspektiven bringen. Sie wird auf
mittlere Sicht neue Aufstiegs- und Beförderungsmög-
lichkeiten eröffnen. Das ist selbstverständlich auch eine
Herausforderung für die Bereitschaft der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, sich auf Neues einzulassen. Auch
dazu stehen die Angebote: gute Ausbildung, Fort- und
Weiterbildung und zivilberufliche Qualifizierung; in Ko-
operation mit den Kammern.
Ich bin mir sicher: Diese Reform wird bei den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr einen
neuen Motivationsschub erzeugen, da wir alle wissen,
dass der Prozess der Erneuerung unumkehrbar ist. Die Zu-
sage der Sozialverträglichkeit gilt in jeder Konsequenz.
Jeder und jede wird die Chance haben, eine Antwort auf
die ganz persönliche Lebens- und Berufsplanung zu fin-
den.
– Herr Kollege, ich gehöre zu der kleinen Zahl privile-
gierter Abgeordneter, die ein hartes Jahr der Diskussion
vor Ort hinter sich haben. Ich sehe an dem Standort in Ko-
blenz viele strahlende Gesichter, weil klar ist, welche Per-
spektiven diese Bundeswehr bietet.
Der Blick zurück macht Mut. In der Vergangenheit ist
es gelungen, Erneuerungsprozesse sozialverträglich zu
gestalten. Das wird auch in der Zukunft gelingen.
Eine herausfordernde Aufgabe zur Gestaltung der Bun-
deswehr der Zukunft liegt vor uns. Das ist ganz unbestrit-
ten. Ich fordere Sie alle auf: Arbeiten wir gemeinsam da-
ran!
Alsnächster Redner hat das Wort der Kollege Paul Breuer vonder CDU/CSU-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Ursula Mogg14702
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Wenn man die Debatte hier verfolgt,auch gerade den letzten Redebeitrag von Frau Mogg, hatman den Eindruck, die Bundeswehr sei ein Feld fürBetriebswirtschaftler oder Sozialpolitiker. Ich sage Ihneneines: Die Bundeswehr ist ein wichtiges verteidigungs-und sicherheitspolitisches Instrument.
Wir werden niemanden in Deutschland und darüber hi-naus überzeugen können, wofür wir diese Bundeswehrbrauchen und haben, wenn wir nicht primär eine sicher-heits- und verteidigungspolitische Debatte darüberführen.
Diese sicherheits- und verteidigungspolitische Debatte,meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, ist nicht hinreichend geführt worden. Das ist auch dasHauptproblem, das Verteidigungsminister Scharping hat.Sein Hauptproblem ist, dass er sagt, er wolle eine großeReform machen. Schaut man aber genau hin, stellt manfest: Er hat nicht das Geld dafür, die Reform nach vornezu bringen, keine Anschubinvestition, keine Möglichkeitzu modernisieren, weder inhaltlich noch personell.Ich sage Ihnen, warum er es nicht hat: Er hat die Frak-tionen in der Regierung, SPD und Grüne, nicht davonüberzeugen können, dass es wichtig ist, das zu tun, weilsie die sicherheitspolitische Debatte unterlassen haben.
Den Vorwurf, wir hätten die Bundeswehr in den 90er-Jahren nicht modernisiert,
muss man sich einmal genau anschauen. Die Entwicklungin den 90er-Jahren, in den letzten zehn Jahren,
war insbesondere natürlich zunächst dadurch geprägt,dass der Warschauer Pakt zusammenbrach und die Sow-jetunion von der Bildfläche verschwand. Das hat uns ei-nen Sicherheitszugewinn hier in Mitteleuropa gebracht.Auf der anderen Seite hatten wir die Entwicklung, dasseine diffuse Sicherheitslage in Europa selbst – siehe Bal-kan – entstanden ist und dass Konflikte am Rande Euro-pas – Kaukasus, Nordafrika, Naher Osten – aufgetre-ten sind, die uns in Europa nicht ruhig lassen können.
Wir müssen Sicherheit exportieren, wir müssen Stabili-tätspolitik betreiben.Als diese Debatte in der Sicherheitspolitik in den 90er-Jahren in Deutschland geführt wurde, haben Sie, SPD undGrüne, zunächst jämmerlich versagt, weil Sie glaubten,dass eine deutsche Verantwortungskultur, zusammen mitunseren Partnern mit Streitkräften ins Ausland zu gehen,ungefähr mit dem Imperialismus zu vergleichen war.
Das war doch Ihre Position in der damaligen Zeit.
Wir haben begonnen, im Übrigen gegen Ihren Willen,die Bundeswehr zu reformieren.
Wir haben zunächst einmal zahlenmäßig eine große An-passung vorgenommen. Die Bundeswehr ist fast halbiertworden. Wir haben die Krisenreaktionskräfte aufge-baut. Jetzt geht es darum, diesen Reformprozess fortzu-setzen.
Wir wissen sehr genau, dass dieser Reformprozess fort-gesetzt werden muss, weil zwischen die Vereinigten Staa-ten von Amerika und Europa eine Lücke gekommen ist,eine Lücke der Investition, eine Lücke der Technologie.Wer nicht bereit ist, in Deutschland diese Verantwortungzu erkennen und als wesentliches Land in Europa und inder NATO hier etwas zu tun, der versagt in diesem Pro-zess.
Dieses Versagen, Herr Kollege Erler, werfe ich Ihnen undIhrem Minister Scharping vor. Scharping ist ein Reform-versager.
Das, was Sie hier als größte Reform aller Zeiten für dieBundeswehr vorgeben, ist in meinen Augen eine Mogel-packung.
Es ist auch in der Art, wie es präsentiert wird, eine Mo-gelpackung. Heute soll über Standorte diskutiert werden.Wir kennen die Realität.
60 Standorte werden komplett geschlossen, an die 100 ins-gesamt massiv betroffen. Wie hat der Verteidigungsmi-nister Scharping die deutsche Öffentlichkeit, die Soldatenund die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr auf diese Dis-kussion vorbereitet? In der „Süddeutschen Zeitung“ vom18. April des letzten Jahres – das ist noch kein Jahr her –wird Herr Scharping mit folgender Aussage zitiert:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14703
Ich glaube nicht, dass wir mit Standortschließungenwirklich weiterkommen, denn das heißt ja immerauch, in die Lebens- und Arbeitsbedingungen der An-gehörigen der Bundeswehr einzugreifen ...Das hat er damals gesagt und heute sind 100 Standorte inDeutschland von Schließungen betroffen. Sie machensich unglaubwürdig.
Gemessen an dem Anspruch, der vertreten worden ist,sind die vorgelegten Pläne eine Mogelpackung.
– Sparen Sie Ihre Luft! Sie brauchen sie noch.Eggesin in Mecklenburg-Vorpommern wurde hier alsBeispiel genannt. Ministerpräsident Ringstorff, SPD,wird im „Nordkurier“ der letzten Tage zitiert: „Scharpinghat falsche Hoffnungen geweckt.“ Der „Wiesbadener Ku-rier“ aus Hessen schreibt am 30. Januar – es ist also nurein paar Tage her –:Ringen um den Standort WiesbadenDas Bundesverteidigungsministerium hat gesternder Darstellung von Bundesministerin HeidemarieWieczorek-Zeul widersprochen.Der Hintergrund war, dass Frau Wieczorek-Zeul – sie isthier anwesend und sitzt im Übrigen auf der Regierungs-bank; Herr Scharping hat sich wieder irgendwohin ver-dünnisiert;
ich weiß nicht, wo er gerade ist – in Wiesbaden gesagt hat,sie habe die Zusage, die Wehrbereichsverwaltung Wies-baden bleibe erhalten. Die Realität heute sieht so aus, dassdie Wehrbereichsverwaltung Wiesbaden geschlossenwird, nur die Außenstelle bleibt. So sieht die Glaubwür-digkeit von Verteidigungsminister Scharping und dieserBundesregierung aus.
Die Art, wie dieses Standortkonzept präsentiert wird,
ist stellvertretend für das gesamte Reformkonzept. Sie er-heben hier den Anspruch, die Ausrüstung der Bundes-wehr zu modernisieren. Die Rede ist von großen Investi-tionen. Die Realität in der Bundeswehr ist völlig klar. Ichsage Ihnen eines: Die Rechnungen für die Reparaturen derLuftfahrzeuge und für andere Fahrzeuge der Bundeswehraus dem vergangenen Jahr sind heute, Anfang Februar,noch nicht bezahlt.
Die Realität hinsichtlich der Planungen im Bundesvertei-digungsministerium über die Abwicklung des Haushal-tes 2001 – nennen Sie mich einen Lügner, wenn es nichtstimmt – sieht derzeit so aus, dass die Planer dazu aufge-fordert werden, dieses Haushaltsjahr mit Tricksereien zugestalten. Sie müssen schon jetzt zugeben, dass sie die Re-paraturen des laufenden Jahres in diesem Jahr nicht be-zahlen können. Die Planer fordern die Industrie dazu auf,die Rechnungen im November zu stellen, damit man sie imMärz oder im April des kommenden Jahres bezahlen kann.Ich sage Ihnen voraus: Der Haushalt ist so knapp, dassSie in diesem Jahr nicht dazu in der Lage sind, ein einzi-ges größeres Beschaffungsprojekt auf den Weg zu brin-gen. Der Anspruch, den Sie hier erheben, hat mit derWirklichkeit einer echten Reform zum Zwecke der Mo-dernisierung der Bundeswehr nichts zu tun. Der Schadenfür Deutschland in Bezug auf seinen Beitrag zur europä-ischen und zur nordatlantischen Sicherheit wird leidermassiv werden.
Ändern Sie diese Politik! Es ist dringend notwendig.
Als letz-ter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege ManfredOpel von der SPD-Fraktion das Wort.Manfred Opel (von der SPD mit Beifall be-grüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich freue mich darüber, dass diese Debatteim Hohen Hause so viel Aufmerksamkeit findet. Ich be-grüße die sehr zahlreich vertretene Delegation ausSchleswig-Holstein ganz besonders. Das ist mustergültigfür die Landesregierungen. Ich begrüße ausdrücklichHeide Simonis und Klaus Buß.
Der Kollege Schmidt hat versucht, sachlich zu bleiben.Er sagte, die Bürgermeister hätten nichts Offizielles be-kommen.
– Jetzt warten Sie eine Sekunde; dann kommt das allesschon noch im Detail. – Sämtliche Bürgermeister undsämtliche Landräte sind zum Beispiel am Mittwoch, dem31. Januar, von der Ministerpräsidentin des LandesSchleswig-Holstein – übrigens zum wiederholten Male –zu einer Konferenz eingeladen worden.Dort haben wir die Stellungnahme, die wir dem Bun-desminister der Verteidigung geben werden – übrigenseine sehr konstruktive –, besprochen. Wir haben dort ein-vernehmlich beschlossen, was zu tun ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Paul Breuer14704
Außerdem sind die Bürgermeister in Schleswig-Hol-stein moderner Technik gegenüber aufgeschlossen:
Sie haben Zugang zum Internet und konnten sich vondort das gesamte Konzept des Verteidigungsministersbesorgen. – Verehrte Kollegin Lippmann, Sie verwech-seln im Moment Intranet und Internet. Da Sie für IhreTechnologiefeindlichkeit bekannt sind, ist das auch nichtverwunderlich.
Ich will, weil der Kollege Austermann meinte, er könnedie Anwesenheit hochrangiger Vertreter der Landes-regierung herunterspielen, ein wenig zur Aufklärungbeitragen. Im Moment finden Protestkundgebungen und-versammlungen statt. Zum Beispiel wurde die Minister-präsidentin wie auch ich eingeladen, aus diesem Grundenach List auf Sylt, der nördlichsten Gemeinde Deutsch-lands, zu kommen. Wir haben es vorgezogen, hier zu seinund uns hier für unsere Standortgemeinden einzusetzen.Betroffen sind zum Beispiel auch Schleswig oder Hohen-lockstedt. Gemeinsam werden wir für Schleswig-HolsteinForderungen stellen. Das verstehen wir unter einer ver-nünftigen Politik im Sinne des Ganzen.Herr Breuer hat gesagt, man würde jetzt so unglaublichviel abbauen und alles sei doch so schlimm. Ich möchtedaran erinnern, dass beispielsweise für die Dasa einKonzept mit dem Namen Dolores erstellt wurde. Dem-nach sollten die Arbeitsplätze von 60 000 Beschäftigtendieser Firma auf einmal abgebaut werden, um ein einzigesZiel zu verfolgen. Dieses Ziel hieß Shareholder-Value.
Hinterher wurden aufgrund der Konjunkturlage nur40 000 Arbeitsplätze abgebaut. Es ist aber so, dass Sie hierim Hause überhaupt kein Wort des Bedauerns für dieseMenschen, die sofort entlassen wurden, geäußert haben.Hier sprechen Sie angesichts der Tatsache, dass der Bun-desminister der Verteidigung den zivilen Bereich bis 2010insgesamt an die Notwendigkeiten angleichen will, vonunsozialen Maßnahmen. Dies ist nicht der Fall.
Herr Breuer, Sie haben zu Recht gesagt, dass die De-batte der sicherheitspolitischen Grundlage entbehre. Ichmöchte Sie aber daran erinnern, dass Sie eine Debattedarüber nie geführt haben. Wir waren immer dazu bereit,diese Debatte zu führen. Sie haben es jahrelang versäumt.Seitdem es eine rot-grüne Regierung gibt, wurde wenigs-tens versucht, hier im Hause – wie heute – und auch in denAusschüssen diese Debatte zu führen. Das werden wirauch weiterhin tun.Deutsche Sicherheitspolitik ist zugleich immer eu-ropäische und atlantische Sicherheitspolitik. Das darfman nie aus dem Auge verlieren. Wenn wir die Bun-deswehr der Zukunft schaffen wollen, dann muss sie folg-lich auch ihren europäischen und atlantischen Aufgabenuneingeschränkt nachkommen können. Nationale Sicher-heitspolitik, wie sie manchmal gefordert wird – und auchheute gefordert wurde –, hat sich überlebt. Die Bun-deswehr muss in das Bemühen eingebunden werden, Eu-ropa zu einigen, und zugleich gegenüber den USA einebenso eigenständiger wie verlässlicher Partner sein.Weiterhin muss sie in die Bemühungen um Rüstungskon-trolle und Abrüstung eingebunden werden. Das muss ge-rade heute deutlich gesagt werden.
Es ist unsere politische Hauptaufgabe, unser Landdurch eine Reduzierung der Bedrohung sicherer zumachen und nicht über Aufrüstung. Auch das muss mansehr deutlich sagen.
Wir wollen eine Welt frei von Massenvernichtungswaf-fen – das hat jüngst auch der Bundeskanzler deutlich ge-macht – und frei von ihren Trägern. Dann erübrigen sichnämlich teure Abwehrsysteme, die viel Geld verschlingenund deren Nutzen zumindest zweifelhaft ist.Hier möchte ich dem Kollegen Gehrcke auch etwassagen, was ich kürzlich schon Frau Lippmann gesagthabe. Wenn er behauptet, die Bundeswehr werde zu einerweltweiten Interventionsarmee umgebaut,
dann entgegne ich ihm darauf, dass er entweder nichtweiß, was eine weltweite Interventionsarmee ist – dasnehme ich einmal an –, oder er behauptet etwas wider bes-seres Wissen. Die Bundeswehr beschränkt sich auf das,was sie ist, nämlich eine Stütze der gemeinsamen Vertei-digung des Bündnisses – sonst nichts.
Unsere Bundeswehr muss zusammen mit den Armeender europäischen Partner die Fähigkeit besitzen, eigen-ständig auf krisenhafte Entwicklungen aller Art zu rea-gieren. Deswegen muss sie umgebaut werden.
Das haben die Regierungschefs in Nizza beschlossen. DieStruktur der Bundeswehr muss selbstverständlich aufdiese Aufgaben ausgerichtet werden.Der Kollege Merz – er war gerade noch da –
hat heute den dritten Versuch unternommen, sich als Si-cherheitspolitiker zu profilieren. Es ist, um es vornehmauszudrücken, bei dem Versuch geblieben.
Er hat sich zum Beispiel über Neumünster geäußert. Erhat bloß eines vergessen – die Kollegin Beer hat darauf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Manfred Opel14705
hingewiesen –: Neben Neumünster liegt Boostedt. Wennman das nicht als Einheit sieht, dann kommt man natür-lich zu den Fehlschlüssen, die er hier vorgetragen hat –übrigens auch der Kollege Börnsen; aber ihm sehe ich dasnach. So viel Ahnung von den Interna der Bundeswehr hater nicht.
Dann hat Herr Merz noch gesagt, der rot-grünen Koali-tion sei ein gut bestelltes Haus übergeben worden. Jetztmöchte ich aus einer Zeitung zitieren. Dort heißt es:Vor diesem Hintergrund warnte der verteidi-gungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion,Paul Breuer ... davor, daß Deutschland nur noch„eine Sicherheitspolitik nach Kassenlage“ betreibe ...Als Folgen einer solchen Sparpolitik befürchtetBreuer: Der ... festgelegte Bundeswehr-Umfangwäre „nicht zu finanzieren“. Eine weitere Absenkungdes Personalumfangs dürfte nicht zu umgehen sein.
Eine „erneute Standortdebatte mit Standortauflö-sung“ würde notwendig.Das hat der Kollege Breuer am 30. Juni 1996 in der „Weltam Sonntag“ gesagt.
Wenn Herr Merz dann sagt, Sie hätten ein gut bestelltesHaus übergeben, dann leidet er entweder unter Wahr-nehmungsstörungen oder er hört nicht auf Sie, HerrBreuer.
Da müssen Sie sich schon entscheiden.Dann hat Herr Merz – das muss ich hier einfach sagen,weil das auch qualifiziert – davon gesprochen, dass30 000 Schülerstellen mitgezählt worden sind. Er weißwahrscheinlich gar nicht, was das ist. Die Schülerstellensind derzeit in die Dienstposten integriert, die im Haushaltausgewiesen sind; das können Sie jederzeit nachlesen.Wir machen endlich das, was die Truppe und übrigensauch der Bundeswehr-Verband seit langem fordern: Wirweisen die 22 000 Schülerstellen gesondert aus. Das isteine vernünftige Maßnahme.
Herr Kol-
lege Opel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Breuer?
Herr Präsident, mit größtem
Vergnügen.
Bitte
schön, Herr Breuer.
Herr Kollege Opel, könnte
der Unterschied zwischen der Zeit Ende der 90er-Jahre
und heute möglicherweise erstens darin liegen, dass die
Kassenlage wirklich besser geworden ist? Das ist, glaube
ich, eindeutig.
Könnte der Unterschied in der verteidigungspoliti-
schen Debatte, was die Finanzen angeht, zweitens
möglicherweise darin liegen, dass es damals innerhalb der
Koalition von CDU/CSU und F.D.P. Politiker gab, die
gesagt haben: „Wir müssen in der Finanzpolitik Verant-
wortung zeigen“, und es heute möglicherweise in Ihren
Reihen niemanden gibt, der Verantwortung zeigt? Das ist
der Vorwurf, den ich Ihnen mache.
Verehrter Herr Kollege Breuer,es hat niemand behauptet, dass wir im Geld schwimmen;am wenigsten der Bundesminister der Verteidigung. Erhat die tatsächliche Lage immer sehr deutlich gemacht.Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass wir jedes Jahr82 Milliarden DM nur für Zinszahlungen für die Schul-den, die Sie uns hinterlassen haben, ausgeben. Das ist fastdas Doppelte des Verteidigungshaushalts.
Das ist Ihre Erblast, die wir heute auch zusammen mit derBundeswehr abarbeiten müssen. Ich bin stolz darauf, dassdie Bundeswehr das mitmacht und darunter nicht zu sehrzu leiden hat.Ich möchte schließen mit drei Bitten. Erstens. Ich bittedie Landesregierungen und die Kolleginnen und Kolle-gen, die Stellungnahmen, die Minister Scharping erbetenhat, mit Augenmaß abzugeben und nicht öffentlich großenWind zu machen. Es sollte tatsächlich versucht werden,einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Der Bundesminis-ter der Verteidigung hat angeboten, dass er konstruktiveVorschläge entsprechend aufnimmt.Zweitens habe ich die Bitte, nicht etwas zu fordern,was ganz offensichtlich unsinnig ist. Das ist hier heutemehrfach geschehen. Herr Breuer, ich habe Sie zitiert; Siehaben es in Ihrer Zwischenfrage sogar verteidigt. Siehaben sehr deutlich gemacht, dass die Bundeswehr denneuen Gegebenheiten angepasst werden muss. Helfen Siealso mit, sie anzupassen.
Die dritte Bitte richte ich an den Bundesminister derVerteidigung, Rudolf Scharping. Ich bitte ihn, die Stel-lungnahmen, die zum Teil mit viel Herzblut geschriebenworden sind, ernst zu nehmen – auch in Ihrem Stab – undsie in das Konzept einzuarbeiten. Ich gehe davon aus – dashaben Sie zugesagt, Herr Bundesminister der Verteidi-gung –, dass Verbesserungsvorschläge aufgenommenwerden und Verbesserungen auch möglich sind. Daraufvertrauen wir; darauf vertraut die Bundeswehr.Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir einen Ministerhaben, der in der Lage ist, die Gefühle der Menschen, der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Manfred Opel14706
Familien und auch der Standortgemeinden aufzunehmen.Das hat er immer wieder bewiesen. Darauf sind wir stolz.Wir hoffen, dass diese Reform über diesen Weg zu einemguten Ende kommt.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Entschlie-
ßungsanträge auf Drucksachen 14/5220 und 14/5236 zur
federführenden Beratung an den Verteidigungsausschuss
und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den
Haushaltsausschuss und den Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c sowie
Zusatzpunkt 8 auf:
15 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen , Gunnar Uldall,
Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Die Ostseeregion – Chancen und Risiken ei-
ner Wachstumsregion von zunehmender
weltweiter Bedeutung
– Drucksachen 14/2293, 14/4460 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie zu dem Antrag der Abge-
ordneten Wolfgang Börnsen , Gunnar
Uldall, Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der CDU/CSU
Initiative zur Stärkung der Ostseeregion
– Drucksachen 14/3293, 14/4573 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Margareta Wolf
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Jürgen Koppelin, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich
Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Ostseepolitik der Bundesregierung
– Drucksachen 14/3424, 14/4026 –
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz
Thönnes, Dr. Margrit Wetzel, Dr. Ditmar
Staffelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz
, Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Die Entwicklung der Ostseeregion nachhaltig
stärken
– Drucksache 14/5226 –
Zu der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU
liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Weiterhin liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. zu ihrer eigenen Großen Anfrage vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Margrit Wetzel von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Debatteüber die Ostseeregion. Ich denke, es ist wichtig, zunächsteinen Schwerpunkt bei der wirtschaftlichen Entwicklungzu setzen. Handel und wirtschaftliche Entwicklung sindnämlich eine der wichtigsten Grundlagen auch für Frie-den und Sicherheit, für soziale und kulturelle Achtung so-wie für politische Stabilität. Deutschland ist für einigeLänder der wichtigste Handelspartner im Netzwerk derOstseeanrainerländer. Damit sind wir auch Motor in denanderen uns verbindenden Sektoren; denn in Länder, mitdenen wir handeln, reisen wir. Das fördert nicht nur denbeidseitigen Tourismus mit seinen positiven wirtschaftli-chen Begleiterscheinungen, sondern auch das Verstehender vielfältigen Kulturen und Sprachen, die sich rund umdie Ostsee begegnen. Frieden und Sicherheit, kulturelleBeziehungen und soziale Entwicklung aber sind wesent-liche Voraussetzungen für die Verfestigung der regionalenIdentität, die wir gemeinsam als Wachstumsregion Ostseeentwickeln wollen.Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU – ich darf in diesem Zusammenhang an dieEinbringung Ihrer Große Anfrage erinnern –, nicht umeine deutsche Strategie für die Ostseeregion, sonderndarum, gemeinsam in guter Kooperation eine europäischePolitik der aktiven Gestaltung des Nordens mit unserenPartnerländern voranzutreiben. Das ist es, wozu unsereRegierung den Vorsitz im Ostseerat aktiv nutzt; das ist es,woran die nördlichen Bundesländer – Frau Simonis wirduns noch Beispiele dafür geben – in täglicher Praxis ar-beiten. Wir wollen die Ostsee selbst als das pulsierendeHerz der Region begreifen.Lebensader der Wirtschaft sind die Verkehrswege.DieStraßenverbindungen sind durch die großen Brücken-bauwerke erheblich verbessert worden. Aber wirbrauchen Straßen und vor allem Schienenwege rund umdie ganze Ostsee als leistungsfähiges Verkehrsnetz, dasdie Schnitt- und Umschlagsstellen der Ostseehäfenverbindet und schnelle Anschlüsse der Verkehrswege insHinterland ermöglicht. Übrigens nicht nur das Hinterland,auch der Nord-Ostsee-Kanal verdient hier Erwähnung, ister doch schließlich eine der Hauptschlagadern des Han-dels zwischen der Ostseeregion und Übersee.Die Ostsee hat nichts Trennendes mehr. Sie ist einverbindendes Meer, das der ökologisch unbedenklichsteund sicherste Verkehrsweg überhaupt ist. Für Handel undTourismus quer über die Ostsee und an den Küsten sindund bleiben die Schiffe mit ihren vielfältigen Mög-lichkeiten des Massentransports, der Spezialtransporte,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Manfred Opel14707
der High-Speed-Beförderung, der Fähren, aber auch derkomfortablen Kreuzfahrt im touristischen Bereich un-verzichtbar. Deshalb sind wir froh darüber, dass dieRegierung erfolgreich beim Einsatz für mehr Schiffs-sicherheit war. Wir unterstützen sie energisch darin, dieweitere Förderung des europäischen Schiffbaus vo-ranzutreiben. Dies ist für die gesamten Ostseeanrainer-länder wichtig.Es läuft schon so viel anderes: beispielsweise der Aus-tausch von Studenten und die Kooperation von Forschungs-einrichtungen als Teil der Wissensgesellschaft. Im Zeital-ter der elektronischen Kommunikation geht es uminternationale Kompatibilität von Geodaten und um dieErfassung hydrographischer Daten. Wir freuen uns überdie Unterstützung der Institutionen der Wirtschaft beimAufbau der kleinen und mittelständischen Unternehmen inOsteuropa und Kaliningrad.Aber das reicht noch nicht. Die Unternehmen der ver-schiedensten Ostseenationen können untereinander auchjungen Berufstätigen die Chance geben, für eine gewisseZeit in den Nachbarländern zu arbeiten. Das erweitertihren Horizont, fördert das Verständnis für verschiedeneKulturen, Arbeits- und Lebensweisen sowie für sozialeZusammenhänge und ist auch Inbegriff des lebenslangenLernens.An der Stelle fällt mir ein: Haben wir uns eigentlichschon einmal über gemeinsame Frauenförderung in derOstseeregion unterhalten? Ich glaube, nicht wirklich.
– Schön, dass Sie darauf warten, Herr Koppelin; das habeich mir gedacht.Die Ostseeregion bietet Chancen über Chancen. Wirsollten sie annehmen und täglich weiter ausbauen.Umweltschäden halten sich nicht an nationale Gren-zen. Hier bestehen ebenfalls Chancen, sie zu bewältigen.Ich denke, die Ostseeregion ist das beste Beispiel für einechtes gemeinsames Küstenzonenmanagement – nichtso, wie es auf EU-Ebene diskutiert wird, sondern wirklichim Hinblick auf ein gemeinsames Verstehen und Be-greifen der Zusammenhänge von Natur-, Umwelt-,Küsten- und Klimaschutz.
Die Nutzung gemeinsam vorangebrachter umwelt-schützender Technologien, die auch den in ihrer wirt-schaftlichen und technischen Entwicklung hinterher-hinkenden Ländern sofort zur Verfügung stehen müssen,kann den Begriff der nachhaltigen wirtschaftlichen Ent-wicklung zur Leitidee der großen europäischen Wachs-tumsregion Ostsee machen, sozial, ökonomisch und öko-logisch stark.
Deshalb danken wir – wenn ich das an dieser Stellesagen darf – Franz Thönnes als dem unheimlich aktivenVorsitzenden der Deutsch-Skandinavischen Parlamen-tariergruppe für seine Aktivitäten in diesem Zusammen-hang.
eigentlich „unheimlich“?)Regierung und Koalitionsfraktionen sagen Ja zurWachstumsregion Ostsee.Ich bedanke mich fürs Zuhören.
Als
nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Börnsen von
der CDU/CSU-Fraktion hat das Wort.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich aner-kenne, dass heute, bei der dritten Debatte um die Ostsee-region, zum ersten Mal der Vorsitzende des Ostseerates,der Außenminister, persönlich anwesend ist. Ich habezweimal seine Abwesenheit kritisiert und will deshalbausdrücklich anerkennen, dass er heute mit dabei ist, wasmich aber nicht daran hindern wird, zu der bisherigen Ost-seepolitik kritisch Stellung zu nehmen.
– Das ist prima; er wird auch darauf antworten.Die augenblickliche Ostseepolitik gleicht, ob man willoder nicht – wir kennen uns ja beide aus in dem Bereich,Franz Thönnes –, eher einem kastrierten Kater: Der wirdimmer dicker und was ihm fehlt, ist die Potenz.
Seit dem 1. Juni 2000 hat Deutschland die Präsi-dentschaft im Ostseerat. Ich wünschte, ich könnte sagen,Herr Außenminister, Sie hätten die Aufgabe mit Kraft undKreativität angetreten.
Aber Fehlanzeige. Es gibt keine Ostseekooperation miteinem Konzept.
Es gibt wenig Pläne, viel Lyrik und keine genaue Aus-richtung der Ostseepolitik.Jetzt, acht Monate später, kann man das feststellen. DieAdministration hat gewollt, doch der politische Wille hatgefehlt. Es ist klargeworden, dass man keine Vision hat,diesen geteilten Musterraum in Europa in eine Vorzeige-region umzuwandeln.
Fünf Punkte hat Außenminister Fischer den Parlamen-tariern der 9. Ostseekonferenz in Malmö vortragen lassen.Er selber hat absagen müssen, war nicht anwesend – daserste Mal, dass der Vorsitzende des Ostseerates nicht an-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Dr. Margrit Wetzel14708
wesend war. Das war ein Affront gegenüber elf Parla-menten. Darüber kann ich nicht lachen. Meine Freunde inDänemark, Schweden und Norwegen haben das als aus-gesprochen unpassend empfunden. Deren Außenministerwaren da.
Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West, sohat er mitteilen lassen, wolle man abbauen. Das war dieAnkündigung. Tatsächlich ist die Schere zwischen Reichund Arm im Ostseeraum weiter aufgegangen. Das Brut-toinlandsprodukt steigt im Westen und stagniert im Osten.In Lettland verdient ein Arbeitnehmer im Jahr durch-schnittlich 3 800 DM, in Finnland 40 000 DM. Das istmehr als zehnmal so viel.
Das bedeutet, dass wir mit der Wirtschaftsförderung imOsten ansetzen müssen. Es gibt von uns kein Direktpro-gramm zur Förderung des Ostseeraumes. Schweden inves-tiert dafür 1 Milliarde DM im Jahr.
Bei uns: Fehlanzeige. In der Antwort auf unsere Große An-frage sagt die Bundesregierung sogar, sie erwäge derzeitnicht, ein eigenes Regionalprogramm für die Ostseeko-operation aufzulegen. Franz Thönnes, Sie und viele anderehaben das gewollt und gewünscht. Wir sind Haupt-handelspartner aller Länder. Aber um es auch in Zukunftzu bleiben, wird derzeit nichts getan. Das ist kurzsichtig.
Die überwiegende Zahl der Programme zur Stärkungder jungen Demokratien in diesem Raum – von INTER-REG bis TACIS – kommt aus Brüssel, nicht aus Deutsch-land. Aber die östlichen Ostseeanrainer kommen damitnicht aus. Wir müssen selbst etwas tun.Aber es geht nicht nur um die finanzielle Förderung.Wir sind leider auch bei der strukturellen Förderungpassiv. Der Ausbau der Verkehrswege rund um die Ostseestagniert: bei der Straße, bei der Schiene, beimFlugverkehr. Dies gilt auch für unsere gemeinsameForderung, mehr Verkehr von der Straße auf das Wasserzu bringen, „From Road to Sea“ umzusetzen.
Bei der Fehmarnbelt-Querung gilt das Gleiche. Unsernördlicher Nachbar Dänemark schafft in einem Jahrzehntden Bau zweier großer Brückenprojekte, über den GroßenBelt und über den Oeresund. Wir schaffen Sprechblasen.
Thönnes [SPD]: Was habt ihr in 16 Jahren ge-macht? Wo sind die Brücken der 16 Jahre? –Lothar Mark [SPD]: Sag mir, wo die Brückensind, wo sind sie geblieben? – Dr. Uwe Küster[SPD]: Seid still, er muss doch sein Programmabspulen!)Von der jetzigen Regierung ist nicht einmal dieFortschreibung des Bundesverkehrswegeplans in die Tatumgesetzt worden und es kommt auch nicht dazu. DerBundesverkehrswegeplan wäre wirtschaftlich undrechtlich notwendig und international geboten. Der Planwird bis nach der Bundestagswahl ausgesetzt und damitherrscht auch Stillstand bei dringenden Strukturmaßnah-men für die Ostseeregion. Oder wird es noch zu einemBundesverkehrswegeplan kommen? Alle Informationensagen: Nein. Stillstand herrscht in der Ostseeregion hin-sichtlich dringender Strukturmaßnahmen. Das ist daseigentliche Problem.
Ein weiteres Beispiel für eine Ostseepolitik im Rück-wärtsgang ist, Herr Außenminister – auch wenn Sie sichdarüber amüsieren –, Ihr Programm „Zwei Stunden in2000“, das Sie zur Grenzabfertigung aufgelegt haben.Damit soll die Grenzproblematik – an den östlichenGrenzen gibt es lange Staus – gelöst werden. Was hatman jetzt gemacht? Das Programm ist geblieben, aberstatt „Zwei Stunden in 2000“ hat man es nunmehr „ZweiStunden in 2001“ genannt. Es wurde zwar das Datumgeändert, damit aber nicht die Bürokratie bei der Grenz-abfertigung abgebaut. 40 Stunden stehen Brummis ander Grenze.
Das ist für Menschen und Wirtschaft eine Zumutung.Nicht das Datum ist zu ändern, sondern die Grenzbüro-kratie gilt es abzubauen. Da ist mehr zu tun, als nur da-rüber zu reden.
Ich spreche in diesem Zusammenhang auch die Hilfs-organisationen an. Viele, die hier sitzen, sind selbst en-gagiert, den baltischen Staaten wirklich Hilfe zukommenzu lassen. Weder Kirchen noch Jugendverbände habenzurzeit Chancen, ihre Hilfsgüter über die Ostsee zu brin-gen. Es wird ihnen immer schwerer gemacht, die Büro-kratie zu überwinden.
Damit wird Hilfsbereitschaft unterbunden. Wir appellie-ren, das Gegenteil umzusetzen, nämlich die gute Tat Tau-sender von Menschen zu fördern, damit Hilfsmaßnah-men auch an ihrem Ziel ankommen.Gut 160Milliarden DM umfasst der durchschnittlichejährliche Handel Deutschlands mit dem Ostseeraum. Erhat den gleichen Umfang wie der Handel mit den Ver-einigten Staaten und Japan zusammen. Dies ist einRiesenpotenzial.
Das Entwicklungspotenzial wird von den Experten fürdie nächsten zehn Jahre auf 100 Prozent bis 250 Prozentgeschätzt. Das heißt, es ergeben sich große Chancen fürBetriebe in unserem Land und damit auch für unsereArbeitsplätze.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Wolfgang Börnsen
14709
Deutschland muss als Drehscheibe zwischen Nordost-und Mitteleuropa eine aktive Rolle in der Ostseeinfra-strukturpolitik einnehmen. Ich will Ihnen zeigen, wie ak-tiv Ihre Rolle dagegen ist: Sie lassen es zu, dass ein Güter-transport per Bahn von Kopenhagen nach Berlin18 Stunden und per LKW 8,5 Stunden dauert.
Das ist ökonomisch und ökologisch unvertretbar. Da mussman ansetzen. Sie wollten das umsetzen, haben das bisheraber nicht erreicht.
Anerkennung sollte man den IHK rund um die Ostseezollen,
die in Eigeninitiative einen Wirtschaftsring um die Ostseeerrichten. Die IHK Kiel ist wesentlicher Motor im Rah-men dieser Initiative.Der Außenminister hat versprechen lassen, die Wis-sensgesellschaft in der Ostseeregion zu stärken. Es hat inden letzten acht Monaten keine wirkliche Initiative dazugegeben. Nicht einmal die Eurofakultät in Kaliningrad istzu nennen, deren Grundstock bereits 1992 gelegt wordenist. Nein, wir fordern eine wirkliche Bildungsoffensivefür den Ostseeraum, für die Universitäten im Ostseeraum.Dort gibt es über 100 Hochschuleinrichtungen, deren Ver-netzung ebenso notwendig ist wie ein Ostseehoch-schulgipfel. Die Anerkennung von privaten Initiativenwie der Professor-Petersen-Stiftung, die junge Wis-senschaftler in die Lage versetzen, im Ostseeraum aktivzu sein, ist wichtig.Der Außenminister hat im Ostseerat versprechenlassen, die Ostseeländer zu stärken. Er hat auf der Kon-ferenz mitteilen lassen, er hoffe, dass der EU-Beitritt derersten Gruppe der Kandidaten am 1. Januar 2005 vollzo-gen werde. Das kann man wörtlich nachlesen. Er sollnicht hoffen, er soll handeln. Vielleicht wird er es heutekorrigieren und sagen, wie er sich das Konzept für alleOstseeanrainer vorstellt. Nach unserer Auffassung, HerrAußenminister, gehören die baltischen Staaten gemein-sam in die Europäische Union und nicht, wie es IhrVertreter gesagt hat, in unterschiedlichem Tempo. Wirsind auf jeden Fall dafür, dass die Ostseeländer gemein-sam Mitglieder der Europäischen Union werden.Sie haben mitteilen lassen, dass der Ostseeraum zueiner Modellregion der Nachhaltigkeit werden soll. InIhrer Antwort auf unsere Große Anfrage steht das Gegen-teil. Die Ostsee ist leider fern davon, ein ökologischerModellraum zu sein. Zunehmende Planktondichte, einsinkendes Artenspektrum und hohe Schadstoff- undNährstoffeinträge sind nur ein paar der Probleme, die inder Ostsee wieder mehr und nicht weniger werden. Sosteht es in der Antwort auf unsere Anfrage. Wir sind derAuffassung, dass man nicht von dem Ziel, eine saubereOstsee zu erreichen, abrücken darf. Darum müssen wiruns gemeinsam bemühen.
Der Außenminister hat in Malmö versprechen lassen,dass es zu einer Stärkung der Zivilgesellschaft kommenwird. Er hat ausdrücklich betonen lassen, es müsse eineBeteiligung der Parlamente geben. Die Wirklichkeitsieht anders aus. Bis auf die jährliche Ostseeparlamen-tarierkonferenz gibt es für die 100 Parlamentarier aus elfLändern wenig zu sagen im Ostseeraum. Während die Eu-ropäische Kommission am Tisch des Ostseerates sitzt, istdie Parlamentarierkonferenz ausgeklammert.Ich habe den Eindruck, dass es alle Beteiligten – dazugehört auch Franz Thönnes –
für nötig halten, dass die Ostseekonferenz auch Sitz undStimme im Ostseerat erhält. Wenn es nicht nach zehn Jah-ren zu einer Reform kommen kann, dann frage ich: Wanndenn sonst? Es ist jetzt an der Zeit, das umzusetzen, wasder Außenminister selbst wünscht.Die Regierung lässt sich bei der Ostseepolitik leidervertreten: in der Finanzierung durch Programme der Eu-ropäischen Union; ferner verlegt sie eine Reihe von Auf-gaben auf Nichtregierungsorganisationen, ohne selbst zugestalten, und sie delegiert die Ostseearbeit mehr undmehr auf die norddeutschen Bundesländer.Die norddeutschen Bundesländer waren zwar schonimmer aktiv – hier möchte ich den Kollegen Walter ganzbesonders nennen –, doch die Kompetenz der Länderreicht nach unserer Verfassungslage dafür nicht aus.Schleswig-Holstein ist nun wirklich kein gleichberech-tigter Partner von Russland, Polen und Schweden. DieBundesrepublik ist es. Deswegen ist es hier nicht möglich,Aufgaben zu delegieren. Es ist falsch, dass die Bun-desregierung außen- und wirtschaftspolitische Belangeauf die Schultern der Bundesländer abwälzt. Das ist zwarvor Ort eine prima Sache, aber es geht nicht an, dass mandie Aufgaben trennt.Die Ostseepolitik bleibt eine nationale Aufgabe. Sowird sie von allen Ostseeanrainern praktiziert. Sie allewissen, dass die existenziellen Herausforderungen wieSicherheitspolitik, Ökologie, Demokratieförderung, Auf-bau von Verkehrsinfrastruktur, Bekämpfung organisierterKriminalität und Menschen- und Minderheitenrechte füralle Staaten Themen sind, die von den nationalenRegierungen und ihren Parlamenten angepackt werdenmüssen, aber nicht von Landesregierungen.Auch der Sachverhalt, dass die Lebenserwartung inSkandinavien durchschnittlich bei 80 Jahren liegt – inRussland liegt sie bei 57–, muss uns einen Anstoß geben,darüber nachzudenken, weil dieser Unterschied auchWanderungsbewegungen auslösen könnte. Wer das nichtwill, muss zu einer aktiven Ostseepolitik kommen, mussdazu beitragen, dass die Probleme gerade bei den östli-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Wolfgang Börnsen
14710
chen Ostseeanrainern abgebaut werden, dass die jungenDemokratien gefördert werden.Die Bundesregierung ist dabei, der Ostseepolitik denRang einer Regionalpolitik zuzuweisen.
Das geht nicht; sie darf nicht degradiert werden. Damitverfährt die rot-grüne Bundesregierung nach der Devise,Schecks auf eine Bank zu ziehen, bei der sie kein Kontohat.Danke.
Für die
Bundesregierung hat jetzt der Bundesminister Joseph
Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Börnsen,wir haben es heute und auch in den vergangenen Tagenmehrfach erlebt, dass Opposition weiß Gott ein schwieri-ges Geschäft ist, dass man verzweifeln kann und das Ge-dächtnis ausschalten muss.
Denn Sie haben ja sehr lange regiert.Man könnte geradezu meinen, Sie hätten an die rot-grüne Bundesregierung den Vorwurf gerichtet, dass es unsin zwei Jahren nicht gelungen sei, im Norden ein europä-isches Brückenbauprojekt hinzubekommen. Wenn ichmich richtig entsinne – es tut mir Leid, dass ich Ihnen die-ses banale Argument entgegenhalten muss –, hat Ihre Par-tei 16 Jahre regiert. Sie haben gesagt, die Dänen hätten esin zehn Jahren geschafft, zwei herausragende Projektevon europäischem Rang – ich selbst hatte die Gelegenheit,über eines, die Oeresund-Brücke, zu laufen – hinzube-kommen.
Wenn ich mich richtig entsinne, haben Sie, Herr Börnsen,das nicht geschafft.Sie haben das Problem der Verkehrsanbindung Schles-wig-Holsteins erwähnt. Wir alle haben das ja erlebt, dasswir in Hamburg-Altona umsteigen mussten, weil Streckennicht elektrifiziert waren; ich selber habe das x-mal aufdem Weg in den Wahlkampf, zu politischen Veranstaltun-gen, bei privaten Besuchen oder Urlaubsfahrten erlebt.Das liegt doch nicht an der rot-grünen Bundesregierung.Vielmehr stellen Sie sich hier mit einem Wunschkataloghin und vergessen, dass Sie die Verantwortung in den ver-gangenen 16 Jahren hatten. Dieser Verantwortung müssenSie sich stellen.
Im Übrigen finde ich, Sie machen einen Riesenfehler.Sie tun gerade so, als wenn es sich bei der Ostseeregion –ich meine nicht nur die deutschen Bundesländer; ichmeine nicht nur Ihr eigenes wunderbares BundeslandSchleswig-Holstein; ich meine auch unsere skandinavi-schen Nachbarn – um die Problemregion in der EU han-deln würde. Das ist doch nicht der Fall.
Vielmehr ist es eine Region mit enormen Chancen und miteinem enormen Wachstumspotenzial. Es ist eine der zu-kunftsfähigsten und wird in Zukunft auch eine der reichs-ten Regionen in der Europäischen Union sein. Ich wollte,wir hätten in den anderen Regionen die Probleme, die wirim Ostseeraum haben – mit einigen Ausnahmen; daraufkomme ich gleich zu sprechen –,
dann hätten wir wenig Probleme.
Herr Kollege Börnsen, Sie haben auch dem KollegenScharping vorgehalten – ich sage Ihnen, ich weiß, wieschwer das Oppositionsgeschäft ist; ich fordere Sie aberauf: Seien Sie nicht so ministerfixiert –, dass die Parla-mentarische Staatssekretärin die Bürgermeister empfan-gen habe; mir werfen Sie vor, dass ich bei der von Ihnenerwähnten Konferenz nicht gewesen bin. Sie sagen, dassei eine Missachtung gewesen.
– Das war es natürlich nicht. Ich habe doch nicht zu Hausegelegen und war der Meinung: Ich muss mir den Börnsennicht anhören. – Vielmehr hatte ich dringende andere Ver-pflichtungen. Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen:Die Parlamentarischen Staatssekretäre sind ja Kollegin-nen und Kollegen von Ihnen. Es wird ja immer so getan,als wären sie Vertreter minderen Ranges. Diese Institutionist aus der Mitte dieses Hauses eingerichtet worden.
Es handelt sich dabei um Kolleginnen und Kollegen, dieselbstverständlich die Politik des Hauses vertreten. Dashat doch mit Missachtung nichts zu tun. Der Staatsminis-ter muss mich ja auch an anderer Stelle vertreten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Wolfgang Börnsen
14711
– Ich bekenne offen, Herr Kollege Börnsen: Es ist mir inden zwei Jahren bisher nicht gelungen, das alte theologi-sche Problem der Ubiquität zu lösen. Deswegen werde ichauch in Zukunft dann und wann vertreten werden müssen.Zur Sache: Ich warne davor, die Ostseeraumpolitik zuüberladen. Wir werden die bestehenden Probleme, zumBeispiel das Sozialgefälle und das Gefälle im Hinblickauf die Lebenserwartung der Bevölkerung von Russlandund der Bevölkerung der skandinavischen Länder, nichtzuerst über die Ostseeraumpolitik lösen können.
Das wäre eine völlige Überfrachtung dessen, was ein sol-cher regionaler Ansatz leisten kann.Wir sind sehr der Meinung, dass dieser Ansatz einegroße Zukunft hat. Allerdings sollten wir dabei, Herr Kol-lege Börnsen, nicht als Erstes nach neuen Regionalpro-grammen rufen. Wenn ich mich richtig entsinne, hat dieneue Bundesregierung kein nationales Regionalpro-gramm vorgefunden und dann eingestellt. Mitnichten!Nachdem Sie jetzt in der Opposition sind, fordern Sieplötzlich nach dem Motto „Opponieren kostet nichts“ einzusätzliches Regionalprogramm, wobei Sie genau wissen,dass die dazu erforderlichen nationalen Mittel angesichtsder von uns zu leistenden Haushaltssanierung nicht vor-handen sind. Das ist eine Form von, wie ich finde, sehrbilliger Oppositionspolitik.Bei der Bundeswehr, die man zum Ersatzteillager de-naturiert hat, ruft man jetzt nach mehr Geld. Gleichzeitigfordert man, für den Ostseeraum und die Landwirtschaftsollten nationale Zusatzmittel zur Verfügung gestellt wer-den, das Wunder Steuersenkung sollte finanziert werdenund am Ende sollte auch noch eine Sanierung der Staats-finanzen herauskommen. Das kann man im Parlamentvon Wolkenkuckucksheim realisieren, aber nicht in die-sem irdischen Jammertal. Auch wenn man der CDU/CSUangehört, wird man das nicht schaffen.
Ich will Ihnen sagen, warum ich nicht auf dieser Ost-seekonferenz war. Ich habe mir die Termine heraussuchenlassen. Gleichzeitig war die erste Botschafterkonferenz– sie war seit langem festgelegt –, die die BundesrepublikDeutschland abgehalten hat. Sie hat am 4. und 5. Septem-ber 2000 stattgefunden. Es war unverzichtbar, dass derBundesaußenminister in Person an dieser Botschafter-konferenz teilgenommen hat. Das wollte ich hier nur ein-mal betonen. Daran kann man sehen, wie haltlos Ihre Vor-würfe sind.
Herr
Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Börnsen?
Ja.
Bitte
schön, Herr Börnsen.
Ich be-
danke mich, dass ich dazu eine Zwischenfrage stellen
kann.
Herr Minister, ist Ihnen anhand Ihres Terminkalenders
auch deutlich geworden, dass Sie der Landtagspräsident
von Schleswig-Holstein bereits neun Monate vor Beginn
dieser Konferenz angeschrieben und gebeten hat teilzu-
nehmen? Er hat sechs Monate auf die Antwort gewartet.
Auch in der ersten Antwort hat er keinen Hinweis auf die
Botschafterkonferenz bekommen. Erst nachdem er noch
einmal nachgefragt hat – Herr Arens ist ein engagierter
Ostseevertreter –, hat er den Bescheid bekommen, dass
Sie sich vertreten lassen würden. Das ist, so finde ich, ein
Zeichen dafür, dass Sie sich als Vorsitzender nicht um die
Belange dieser Konferenz gekümmert haben.
Herr Kollege Börnsen, Sie interessiert wohl die Botschaf-terkonferenz nicht sonderlich. Ich will Ihnen die Gründenennen, warum ich an der Ostseekonferenz nicht teilge-nommen habe:
– Nein, hätte sie nicht. Sie war langfristig geplant. Das istkeine Kleinigkeit. – Angesichts der geplanten umfassen-den Reform des Auswärtigen Dienstes war es erstens un-verzichtbar, diese Konferenz durchzuführen, und zwei-tens unverzichtbar, dass ich anwesend war. Also,akzeptieren Sie das doch einfach! Lassen Sie uns an die-sem Punkt keinen Scheinkonflikt führen oder eine Herab-stufung vornehmen! Das Gegenteil davon ist richtig.
Die EU-Osterweiterung bietet eine gewaltigeChance. Es wird jetzt zu einer Zwischenphase kommen;danach wird die Ostsee faktisch zu einem EU-Binnen-meer werden. Ganz entscheidend wird es dabei darauf an-kommen, dass wir Russland in seinen regionalen Interes-sen, und zwar vor allen Dingen unter den Gesichtspunktender Wirtschafts-, Wissenschafts- und Infrastrukturförde-rung, aber auch der Sicherheitspolitik – dies ist für michein sehr wichtiger Gesichtspunkt; Rüstungsfragen, Abrüs-tungsfragen und regionale Stabilitätsfragen spielen dabeieine große Rolle –, unterstützen.Wie vorsichtig wir dabei allerdings sein müssen, zeigtsich daran, dass die in der britischen Presse erschieneneZeitungsente, Deutschland wolle die Region Kalinin-grad/Königsberg zurückhaben, dazu führte, dass michverschiedene Kollegen am Rande des Allgemeinen Rates
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Bundesminister Joseph Fischer14712
sofort darauf angesprochen haben, nach der Devise: Istdenn da was dran? Das heißt, gerade die Region Kalinin-grad/Königsberg müssen wir bei unseren Nachbarn mitder notwendigen historischen Sensibilität behandeln,ohne uns gleichzeitig zurückzuhalten, wenn es um ge-meinsame Entwicklungschancen und um die Integrationdieser Region in den Ostseeraum geht.
Für uns ist aber folgender Punkt ganz entscheidend– ich möchte die Kollegen darauf hinweisen –: Wir erle-ben natürlich gegenwärtig, dass die nordischen EU-Mit-gliedstaaten gleichzeitig mit der Frage der nördlichen Di-mension ernst machen. Das sind im Grunde genommenzwei parallele Ansätze. Das heißt, wir müssen verhindern,dass hier Doppelstrukturen entstehen, die sich dann ge-genseitig blockieren, und dass es zu einer Überfrachtungkommt. Aus meiner Sicht wird die Ostseekooperation erstdann wirklich anlaufen, wenn die Ostsee faktisch ein EU-Binnenmeer sein wird. Dies wird im Zusammenhang mitdem Beitritt von noch größerer Bedeutung sein.Eine EU der 27 wird natürlich für die regionale Ko-operation eine ganz andere Bedeutung haben. Herr Kol-lege Börnsen, ohne dass wir uns als Bund verabschiedenwollen, sehe ich den Regionalansatz der Bundesländer alsganz entscheidend an. Das heißt nicht, dass wir uns ausder Verantwortung zurückziehen, im Gegenteil. Aber esist doch unsere Stärke, dass wir Bundesländer mit höchstunterschiedlichen Interessenausrichtungen haben. Bayerninteressiert sich dafür weniger als Schleswig-Holstein,Mecklenburg-Vorpommern und andere nördliche Bun-desländer. Dies ist ein großer Vorteil, weil wir dadurch beider Kooperation flexibler sind und gleichzeitig im EU-Verbund in Verkehrsfragen, Bildungsfragen, Fragen derWissenschaftskooperation, der Wirtschaftsförderung undWirtschaftskooperation eine ganz andere Flexibilität ha-ben als etwa Berlin oder – wenn Sie noch höher gehen –Brüssel. Ich finde, hierin liegt eine große Chance.Im Übrigen geht es auch um Organisationsgrößen.Sie haben die baltischen Staaten und Dänemark erwähnt.Dies sind Staaten, die von der Größenordnung her durch-aus in der Lage sind – auch was die Wirtschaftskraft be-trifft –, mit unseren Bundesländern zu kooperieren. Ichsehe hierin keine Alternative, sondern eine hervorragendeErgänzung. Ich kann nur nochmals betonen, dass die Bun-desregierung hierin einen ganz entscheidenden Punkt fürunsere Außen- und vor allen Dingen für unsere Europa-politik sieht.Hinsichtlich der Erweiterung um die baltischen Staatenstimme ich Ihnen zu. Entscheidend wird aber sein, dasssie die Kriterien von Stockholm erfüllen.
Jetzt geht es aber weiter: Es gibt einen noch wichtigerenOstseeanrainer, den Sie nicht erwähnt haben, und zwar Po-len, der auch wirtschaftlich und politisch für uns von über-ragender Bedeutung ist. Das dürfen wir nicht vergessen.
Damit ich nicht missverstanden werde: Für mich ist daskein Entweder-oder zwischen baltischen Staaten und Po-len. Ich möchte hier wirklich nicht missverstanden wer-den.
– Ja, da kann ich Ihnen nur zustimmen. Es geht um allevier.
– Gemeinsam, wenn sie die Kriterien, die wir in Helsinkifestgelegt haben, erfüllen. Es darf keine politische Ku-lanzentscheidung geben. Daran arbeitet die Bundesregie-rung.Gegenwärtig liegt unser eigentlicher Schwerpunkt aufder EU-Osterweiterung. Die EU-Osterweiterung wirdder wichtigste Beitrag auch für Schleswig-Holstein, fürMecklenburg-Vorpommern und die anderen ostdeut-schen Bundesländer sein. Hierin liegt für unsere neuenBundesländer und übrigens auch für die Grenzregionenin Bayern und für Schleswig-Holstein die große Chance.Dies wird eine erhebliche Entwicklungsdynamik auslö-sen.In diesem Zusammenhang brauchen wir dann nichtmehr groß über neue Strukturfonds, regionale Fördermit-tel oder Ähnliches zu diskutieren. Diese brauchen wir imZusammenhang mit den Grenzgebieten. Hier hat es dieseBundesregierung durchgesetzt, dass im Zusammenhangmit der Erweiterung für die neuen Bundesländer und Bay-ern als Beitrittsgrenzland ein neuer Fonds aufgelegt wird,um eine regionale Strukturanpassung und um für einenbestimmten Zeitraum eine, was die regionale Wirtschaftbetrifft, nicht konfrontative, sondern kooperative Lösungzu ermöglichen. Die Bundesregierung ist bereit, dieseChancen umfassend zu nutzen. Aber ich sage auch ganzoffen: Schwerpunkt ist für uns jetzt wirklich, im Interessealler Beteiligten die Erweiterung zu einem erfolgreichenAbschluss zu bringen.
Dennoch ist die Stärkung der wirtschaftlichen Zusam-menarbeit in dieser Region die große Zukunftschance. Zuden Infrastrukturprojekten hat auch gerade der Bundes-kanzler klargemacht, dass wir ein Interesse daran haben,die Verkehrsanbindung und hier vor allen Dingen dieNord-Süd-Anbindung zu verbessern. Dagegen wird manwenig sagen können.Sie fordern, es solle mehr Verkehr auf die Schienekommen. Meine Güte! Wir haben die Bundesbahn nuneinmal so vorgefunden, wie sie ist. Wenn das jemand be-dauert, dann diese Bundesregierung. Das können Sieglauben. Aber wir können die Dinge nicht schönzeichnen.Sie sind lange genug schöngerechnet worden. Uns sinddoch allen die Augen übergegangen, als wir von den De-fiziten erfahren haben.Zu Großprojekten: Dort, wo ich zu Hause bin, inFrankfurt am Main, wurde ein milliardenschweres
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Bundesminister Joseph Fischer14713
Großprojekt geplant. Es hieß „Frankfurt 21“. Diese gab esauch noch woanders.
Dies war alles nicht bezahlbar.
Dies ist alles nicht bezahlbar, wenn Sie gleichzeitig dieVerschuldung betrachten und auch noch die Dinge geleis-tet werden sollen, von denen Sie gesprochen haben. Auchich würde mir wünschen, dass die Schiene als Verkehrs-träger beim Gütertransport heute schon wettbewerbsfähigwäre und nicht erst wettbewerbsfähig gemacht werdenmüsste. All das sind Dinge, die wir vorgefunden haben;die können Sie uns nicht anlasten.Die „Wissensregion Ostsee“ ist ein weiterer ganz ent-scheidender Punkt, an dem wir arbeiten wollen. Dazuwird es an der Humboldt-Universität in Berlin und an derUniversität in Kiel im Mai entsprechende Tagungen ge-ben. Die Intensivierung der Kooperation spielt dabeiebenfalls eine Rolle. Dasselbe gilt für die Zusammenar-beit der Nichtregierungsorganisationen. Auch hier liegteine große Chance.In Bezug auf praktische Fortschritte in der Umwelt-politik, hier vor allem in Verbindung mit den skandina-vischen Staaten würde ich mir wünschen, dass Sie alsAngehörige der Unionsfraktion einmal Ihre Position be-zogen auf die Ökosteuer etwas „skandinavisieren“ wür-den. Dann wäre die Kooperation wesentlich einfacher.
Wenn Sie Dänemark diesbezüglich als Beispiel nehmen,kann ich Ihnen nur sagen: Nähern wir uns doch den Dä-nen und ihren entsprechenden Vorstellungen an! Das istetwas, was ich ausdrücklich begrüßen würde.
Herr
Minister, Sie haben natürlich unbegrenztes Rederecht;
aber Sie haben bereits vier Minuten auf Kosten der Frak-
tion der SPD geredet.
Das tut mir Leid. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ich möchte hier nochmals versichern, dass die Bun-
desregierung alles tun wird, um die Kooperation im Ost-
seeraum, aber in enger Einbindung in die sich ent-
wickelnde nördliche Dimension, voranzubringen. Ich
glaube, Frau Ministerpräsidentin Simonis, die nördliche
Dimension in der EU wird immer wichtiger werden. Der
Ostseeraum ist gegenwärtig sozusagen das Forum. Bei
der schwedischen EU-Präsidentschaft werden wir wie-
der sehen, was wir bei der finnischen Präsidentschaft da-
mals festgestellt haben und was wir vermutlich auch fest-
stellen werden, wenn wir neue Mitglieder haben: dass, vor
allem wenn die Balten noch hinzukommen werden, die
nördliche Dimension innerhalb der Europäischen Union
immer wichtiger werden wird. Das heißt, die Integration
dieser Staaten wird von großer Bedeutung sein. Ich
glaube, das Regionalinstrument der Ostseekooperation
wird in der Außen- und Sicherheitspolitik und in all den
anderen Fragen immer wichtiger. Die Bundesregierung
wird das Ihre dazu beitragen, aus der Präsidentschaft ei-
nen Erfolg zu machen.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen
Koppelin von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Deutschland ist wie kaum ein an-derer Anrainerstaat von der Entwicklung im Ostseeraumunmittelbar betroffen. Stabilität und Sicherheit in der ge-samten Region liegen vorrangig im deutschen Interesse.Insofern wäre es mir lieber – das sage ich ganz offen –,wenn wir versuchten, Vergangenes etwas weiter nach hin-ten zu schieben, mehr die Gemeinsamkeiten zu suchenund auch in dieser Diskussion herauszufinden, wo wir unsgemeinsam engagieren können. Ich werde nachher nochauf einen Punkt zurückkommen, bei dem wir vielleichtsogar als Deutscher Bundestag eine Vorbildwirkung hät-ten.Die seit nunmehr zehn Jahren unternommenenBemühungen um die Ostseekooperation haben – so mei-nen wir als Freie Demokraten – leider zu einem kaumübersehbaren Gestrüpp von Gremien und Organisationenauf nationaler, regionaler und lokaler Ebene sowie aufstaatlicher und nichtstaatlicher Ebene geführt.
Die einzelnen Aktivitäten sind sicher positiv; aber ichmeine, hier fehlt die Koordinierung. Eine britische Zeit-schrift hat vor einiger Zeit geschrieben, das Ganze sei Ak-tionismus, der nur Papierberge und heiße Luft hervor-bringe. Ich meine, diesen Spiegel müssen wir uns schonvorhalten lassen.Das einzige politische Gremium, in dem alle Ostsee-Anrainerstaaten sowie Norwegen, Island und die EU zu-sammenarbeiten und das in der Lage wäre, eine vernünf-tige Struktur in das heillose Durcheinander der diversenKooperationsbemühungen zu bringen, ist der Ostseerat.Aber auch acht Jahre nach der Gründung ist der Ostseerattrotz aller Bemühungen heute immer noch weit davon ent-fernt, seine Koordinierungsrolle effektiv wahrzunehmen.Das kreide ich nicht unbedingt der Bundesregierung al-lein an; es sind ja noch mehr Partner dabei. Aber einessteht fest: Seit Juli letzten Jahres haben wir den Vorsitz,Herr Bundesaußenminister. Da wäre es mir schon liebergewesen, wenn Sie, statt noch ein bisschen auf die alteKoalition zu schimpfen – aber das ist selbstverständlichIhr gutes Recht – und statt uns zu sagen, was Sie allesnoch tun wollen, einmal konkret benannt hätten, was Siebisher in diesen acht Monaten bewegt haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Bundesminister Joseph Fischer14714
Ich habe nicht erkennen können, dass Sie gesagt hätten:Hier und da und dort haben wir Aktivitäten entfaltet. Viel-leicht lag es an der Kürze der Zeit, dass Sie nicht in derLage waren, diese Punkte zu nennen. Wir als Freie De-mokraten sind jedenfalls daran interessiert, dass in derZeit, in der wir den Vorsitz noch innehaben, massiv etwasgetan wird.Herr Bundesaußenminister, Sie müssen sich schon denVorwurf gefallen lassen, dass Ihre Bilanz bisher – ichdrücke es einmal vorsichtig aus – mager ausfällt. Ich habedas vor Ihrer Rede schon geahnt und habe mich hinterherbestätigt gefühlt. Sie haben zwar – ich möchte es einmalso formulieren – so manchen Stein in die Ostsee gewor-fen. Diese haben mir mehr als die früheren Steine gefal-len. Aber ich kann nicht erkennen, dass man auf dieseSteine bauen kann.
Mein Vorschlag ist, dass Sie wirklich einmal darübernachdenken: Was können wir in der kommenden Zeit un-ternehmen, damit der Ostseerat wirklich der Ort wird, indem wir für diese Region alle gemeinsam an einem Strangziehen?Es ist schon angesprochen worden: Es gibt ein Projekt,das man als durchaus positiv ansehen kann, die Euro-Fa-kultät in Königsberg. Aber das allein reicht nicht. Kürz-lich hat der „Focus“ zur Kooperation im Ostseerat ge-schrieben: „Deutschland muss aus seiner Mitläuferrolleherausfinden.“ Auch das kann ich nur unterschreiben. DiePerspektiven für diese Region sind glänzend. Es ist auchvon anderen Rednern darauf hingewiesen worden: Nir-gendwo in Europa gibt es bessere Voraussetzungen füreine positive Zukunft als dort.Doch die politische Bedeutung dieser Region fällt imAugenblick, wie ich finde, eher dürftig aus. Ich will die-sen Vorwurf nicht nur an die Bundesregierung richten.Mein Eindruck ist, dass das Thema Ostseeregion bisher inBrüssel leider nicht die Rolle gespielt hat, die diese Re-gion verdient hätte.
Wenn wir mit Vertretern in Brüssel – egal, ob das die Re-gierung oder das Parlament ist – in den entsprechendenGremien Gespräche führen, dann sollten wir etwas mehrDampf machen und dafür sorgen, dass diese Region inBrüssel ernst genommen wird.
Es wird immer gerne aus Zeitungen zitiert. ErlaubenSie mir, dass auch ich zitiere, nämlich aus der „NeuenZürcher Zeitung“. Sie hat sich vor einiger Zeit intensivmit dem Ostseeraum beschäftigt. Dazu hat sie geschrie-ben:In deutschen Städten und Regionen, bei Wirtschafts-und Kulturkreisen mag der Ostseeraum ein gewissespartnerschaftliches Interesse wecken. In der BerlinerAußenpolitik hingegen existiert er nicht, zumindestnicht als Teil der europäischen Idee. Das könnte sichspäter einmal bitter rächen.Ich finde, das ist sehr sachlich dargestellt. Aber über die-ses Thema sollten wir uns alle Gedanken machen.Ich sage noch einmal: Ich will nicht allein der Bundes-regierung diesen Vorwurf machen. Wir alle sind hier zumHandeln aufgefordert. Ich weiß, dass wir viele Partner ha-ben. Kaum eine Region in Europa hat sich in der letztenZeit zu einem so dynamischen Handelsraum entwickeltwie die Ostseeregion. Aber innerhalb dieses Konglome-rats aus EU- und Nicht-EU-Staaten, aus beitrittswilligenStaaten und einer kontinentalen Macht wie Russland sinddie Unterschiede in Bezug auf Wirtschaftspotenzial, tech-nische Entwicklung, Infrastruktur und Umweltstandardsdramatisch. Diese Unterschiede sind einfach zu groß.Hier liegt die große Herausforderung für den Ostseerat.Deswegen sage ich: Bis zu unserer nächsten Sitzung – ichglaube, sie ist in Hamburg – im Juni sollten sich dieAußenminister wirklich überlegen, was sie für diesen Be-reich tun können und wie die ganzen Probleme zu meis-tern sind oder wie zumindest einiges auf den Weg ge-bracht werden kann.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat verschiedene Initia-tiven ergriffen. Ihnen liegt heute ein Antrag von uns vor.Weil wir wissen, wie wichtig diese Region ist, haben wirentsprechende Anträge eingebracht.Ich will einen Punkt nennen, bei dem sich die deutscheSeite in positiver Weise engagiert. Ich sage dies als Mit-glied des Aufsichtsrats der GTZ. Auch in anderen Frak-tionen gibt es Mitglieder, die im Aufsichtsrat der Gesell-schaft für Technische Zusammenarbeit sind. Ich willein ganz großes Lob für die Arbeit der GTZ aussprechen,die sich in dieser Region unglaublich engagiert. Ich weiß,Frau Ministerpräsidentin Simonis, dass Sie mit Vertreternder GTZ gesprochen haben. Dazu können wir nur sagen:Hut ab.Ich will noch etwas zu den politischen Stiftungen sa-gen, die sich in diesem Bereich ebenfalls engagieren. Ichdenke, auch sie haben ein Lob verdient.
In diesem Zusammenhang will ich ein Vorbild nennen.Ich finde es ausgesprochen positiv, dass sich alle Fraktio-nen des Schleswig-Holsteinischen Landtages einschließ-lich der Landesregierung – erlauben Sie mir, Frau Minis-terpräsidentin Simonis, dass ich meinen Parteifreund undIhren Staatssekretär Klaus Gärtner besonders her-vorhebe – in diesem Bereich besonders engagieren. Da-von könnte sich der Bundestag noch so manche Scheibeabschneiden. Hier ist dieser Landtag wirklich ein Vorbild.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ostseeraum hates verdient, dass wir uns für ihn engagieren. Wir sollten– über Parteigrenzen hinweg – nicht bei diesem Klein-Klein bleiben, sondern wir sollten alle zusammen das Zielim Auge behalten. Wenn sich der Deutsche Bundestag zu-sammen mit der Bundesregierung den Landtag und die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Jürgen Koppelin14715
Landesregierung von Schleswig-Holstein – bei allen Un-terschieden, die man bei einzelnen Punkten haben kann –zum Vorbild nehmen, dann bin ich sicher, dass wir in die-ser Sache sehr erfolgreich sein werden.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-sche Ihnen ein schönes Wochenende, falls wir uns nichtmehr sehen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Rolf Kutzmutz von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Der Ostseeraum ist von enormer
wirtschaftlicher und politischer Bedeutung: Hier wurde
und wird Kulturgeschichte geschrieben und hier treffen
sich West- und Osteuropa. Darin besteht große Überein-
stimmung, übrigens auch in der Einschätzung der Lage.
Daher begrüßt meine Fraktion das Bekenntnis zur nach-
haltigen Stärkung der Entwicklung in dieser Region. Wir
erwarten, dass dies über den zu Ende gehenden Vorsitz im
Ostseerat hinaus andauert. Wir erwarten auch, dass den
wohlwollenden Worten noch mehr als bisher konkrete Ta-
ten folgen.
Der CDU/CSU gebührt das Verdienst, mit einem eige-
nen Antrag als Erste in diesem Haus frühzeitig die Dis-
kussion angestoßen zu haben. Deshalb, aber auch wegen
vieler inhaltlicher Übereinstimmungen werden wir nach-
her einer Ablehnung Ihres Antrags nicht zustimmen. Wir
werden ihn also durchaus unterstützen.
– Das lag daran, dass ich mich schon auf Sie konzentriert
habe.
Auch die F.D.P. unterbreitet heute viele bedenkens-
werte Vorschläge, insbesondere zur Qualifizierung der
Arbeit des Ostseerats. Nur eines, verehrte Kollegen Libe-
rale, scheinen Sie übersehen zu haben: Russland grenzt
nicht nur in Kaliningrad, sondern auch um Sankt Peters-
burg an die Ostsee. Auch dort sollen in einigen Jahren
künftige EU-Außengrenzen – neben der von Finnland die
von Estland – nicht ausgrenzen, sondern verbinden. Eine
von Ihnen hoffentlich unbeabsichtigte Fokussierung aus-
gerechnet der Bundesrepublik auf das frühere Königsberg
könnte allzu leicht jahrzehntelang durchaus berechtigte
Ängste von neuem schüren.
Herr Kol-
lege Kutzmutz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Koppelin?
Ja.
Bitte
schön.
Herr Kollege Kutzmutz,
ich nehme durchaus ernst, was Sie hier vortragen. Aber
darf ich Ihnen einmal unsere Sorge nennen? Unsere Sorge
ist, dass Königsberg allein schon durch seine Lage eine
Armutsregion an der Ostsee werden könnte. Deswegen
haben wir Königsberg besonders herausgestellt. Es ist
nicht das, was Sie hineininterpretieren.
Nein, Herr Kollege Koppelin,ich habe ausdrücklich von „unbeabsichtigt“ gesprochen.Ich habe auch den Artikel Ihres Kollegen Kinkel in der„Welt“ gelesen; ich bereite mich also durchaus auf solcheDiskussionen vor.
Ich sehe Ihre Sorge. Aber ich sage zugleich: Mich bewegtdie Sorge, dass es auch passieren kann, dass sich Russ-land, das wir bei der EU-Erweiterung gedanklich einbe-ziehen müssen, gerade angesichts der Fokussierung da-rauf vor den Kopf gestoßen fühlt. Nur deshalb habe ichdas angesprochen, nicht, um Ihnen irgendetwas zu unter-stellen. Gerade in diesem sensiblen Punkt dürfen sichDeutsche aber auch nicht der Spur eines Verdachtes aus-setzen.Am Antrag der Koalition verblüfft mich zweierlei: Ers-tens scheint Abrüstung kein Thema zu sein; denn mit„Ausbau der Sicherheitskooperation“, wie es in den For-derungen der Koalition heißt, wird dieses wichtige Anlie-gen, wenn es denn eines ist, wohl arg verschleiert. Zwei-tens beginnt Hilfe bei regionaler Kooperation offenbarerst außerhalb der Bundesgrenzen. Ich zitiere auch dazu:„enge Zusammenarbeit und Abstimmung mit den nord-deutschen Ländern“. Das ist das eine. Aber wie steht esmit aktiver Unterstützung, beispielsweise bei der Vorbe-reitung angrenzender Staaten auf den EU-Beitritt?Ich will an dieser Stelle nicht erneut das leidige Themader Haltung der Bundesregierung zu Mecklenburg-Vor-pommern beim neuen Airbus 380 thematisieren; wirhaben oft genug darüber gesprochen. Der Bundeskanzlerhat aber mehrfach, beispielsweise auf seiner Sommer-reise, die Hoffnung auf eine besondere Förderung derRegionen an der heutigen EU-Außengrenze genährt. Nunenttäuscht schon, dass sich die Koalition dazu nach wievor keine Aussage entlocken lässt, zumal diese Frage mitder absehbaren stärkeren Ausrichtung Vorpommerns aufSzczecin gerade auch an der Ostsee akut wird.
In diesem Zusammenhang stelle ich – besonders nachder einhelligen Ablehnung durch die anderen Fraktionenim Wirtschaftsausschuss – noch einmal unsere Haltungzum so genannten integrierten Küstenzonenmanage-ment klar. Natürlich kann es nicht um zusätzliches Be-richtsunwesen Richtung Brüssel und muss es auch umGeld für eine neue Politik gehen. Wir befürchten aber,dass über die Ablehnung der Berichte auch der zugrunde
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Jürgen Koppelin14716
liegende Ansatz gleich mit beerdigt wird. Aber ohne eineganzheitliche Analyse der Situation und der Potenzialesowie eine Entwicklung darauf aufbauender Strategien,wie von der Kommission vorgeschlagen, können keinetragfähigen politischen Leitbilder für die Region geschaf-fen werden.
An dieser Stelle sind wir nicht so weit auseinander; je-denfalls habe ich Sie so verstanden, Frau Kollegin Wetzel.Ohne solche Leitbilder, an deren Umsetzung dann auchalle Politikbereiche miteinander und nicht gegeneinanderarbeiten, lassen sich aber weder Investoren locken nochqualifizierte und mobile junge Menschen halten.Deshalb ist ein solcher Ansatz überall im Land – auchin Schleswig-Holstein, besonders aber in Mecklenburg-Vorpommern – wichtig, da die übrige Republik an einersich dort sonst zwangsläufig weiter vollziehenden Ab-wanderung junger und der Zuwanderung älterer Men-schen kein ernsthaftes Interesse haben kann.Kurzum: Auch wenn das Thema Ostsee zum politi-schen Blick auf ferne Gestade geradezu einlädt, darf daseigene Ufer nicht vergessen werden. Zu beidem legt diePDS-Fraktion mit ihrem Antrag nicht nur eine politischeWillensbekundung vor, sondern unterbreitet auch ergeb-nisorientierte Vorschläge.Wie schon im Vorjahr bekennt sich die Koalition zumOstseeraum als einem Modell für wirtschaftlichen Wohl-stand, nachhaltigen Umgang mit der Natur, kulturellenReichtum und soziale Verantwortung.Wir hoffen sehr, dass in der Region wirklich spürbarAktivitäten in diesem Sinne ausgelöst werden. GeradeMecklenburg-Vorpommern hängt sehr direkt und unmit-telbar von der Ostseeregion ab. Damit ist die Entwicklungdieser Region nicht allein ein Gebot des europäischen Ei-nigungsprozesses, sondern zugleich ein wichtiger Beitragzur Vollendung der inneren Einheit der BundesrepublikDeutschland.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Mi-nisterpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, HeideSimonis.
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordne-ten! Herr Kollege Börnsen, ich habe mich über einigePassagen Ihrer Ausführungen wirklich gewundert. Wennman den Regionen, von denen Sie gesprochen haben,Hilfe geben will, weiß man, was Bürokratie bedeutet. Wirhaben uns im Namen der Nördlichen Dimension bereit er-klärt, zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern in Kali-ningrad und Sankt Petersburg vor allem humanitäre Auf-gaben zu übernehmen.
Wir wissen, dass die betroffenen Helfer teilweise achtStunden an der Grenze warten. Das ist aber doch keineFolge der deutschen Bürokratie, sondern diese Bürokratiegeht von der anderen Seite aus. Was soll die Bundesre-gierung in diesem Fall tun? Soll sie mit einem Panzer vor-neweg fahren und eine Schneise schlagen? Man kann dasProblem doch nur auf diplomatischem Wege lösen. Mitdem Anklageton, den Sie angeschlagen haben, als Sie for-derten, die Bundesregierung solle etwas unternehmen,kommt man nicht weiter. Ich habe das Gefühl, da habenSie auf dem falschen Bein Hurra geschrien.
Aus der Sicht der schleswig-holsteinischen Landes-regierung – die anderen norddeutschen Länder sehen dasgenauso – können wir jedenfalls feststellen: Wir werdenvon der Bundesregierung in unseren Aufgaben für dieOstseeregion so unterstützt wie noch nie zuvor.
Es war Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zum erstenMal die drei Staaten im Baltikum besuchte und ihnen so-mit das Gefühl gab, dass sie zu Europa gehören und vonuns wahrgenommen werden. Diese Staaten haben durchdiesen Besuch zum ersten Mal eine Antwort auf ihregroßen Hoffnungen bekommen. Einen solchen Schritt hates vorher noch nicht gegeben.
Es hat sehr viele Entschließungsanträge gegeben, fürdie ich mich ausdrücklich bedanke. Die heutige Debattezeigt, dass sich auch der Bundestag für diese Region in-teressiert. Die Norddeutschen sind Ihnen für dieses Inte-resse dankbar, da wir in der Tat Hilfen benötigen, undzwar sowohl im Kleinen als auch im Großen.Wir wollen gerne, dass die Ergänzung und die Erwei-terung der Europäischen Union von uns mitbegleitetwird, weil wir darin eine Chance sehen und bereit sind,dafür gewisse Investitionen vorzunehmen. Es gibt aller-dings Probleme, die wir selbst dann, wenn wir die Neben-außenpolitik bis zum Gehtnichtmehr ausdehnen, alleinenicht lösen können. Dazu gehört, dass das, was unter Re-gion Building – als neudeutsches Wort – eingeführt wor-den ist, stärker durch die Bundesregierung unterstütztwird.Neben den wesentlichen Elementen, die Außenminis-ter Fischer in seiner Rede in der Humboldt-Universitätangesprochen hat, braucht Europa auch Bildung vonhandlungsfähigen Großregionen, die sich nicht imKlein-Klein vertrödeln, sondern mit großen, nachvoll-ziehbaren Projekten in Brüssel als Ansprechpartner stär-ker wahrgenommen werden als Einzelne.Wir brauchen in diesen neuen territorialen Gruppie-rungen Bindungen und Formen, die über die alten Gren-zen hinausgehen und neue Elemente von Bindung, Wie-dererkennung und Sichwohlfühlen in einer Regionermöglichen. Dazu brauchen wir Flechtwerke, die dieseZusammenarbeit tragen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Rolf Kutzmutz14717
Eine dieser Großregionen ist die Ostseeregion, dieschon jetzt sehr erfolgreich ist und in der Zukunft nocherfolgreicher werden wird. Es ist eine Region, die einMusterbeispiel an Nachhaltigkeit abgeben kann, weil siedurch die neuen Wege in die Informationsgesellschaft ei-nige der Fehler, die wir in unserer Entwicklung gemachthaben, überspringen kann und offensichtlich auch bereitist, sie zu überspringen.
Die Länder um die Ostsee haben es sich zur Aufgabegesetzt, den Aufbau der Zivilgesellschaften in den Bei-trittsländern und in Russland – nicht nur in Kalinin-grad, sondern zum Teil auch in Sankt Petersburg; mehrkönnen wir nicht schaffen – mit zu unterstützen. Wir wol-len, dass sich Bürgerinnen und Bürger treffen. Wir wol-len, dass die Universitäten und Technikzentren sowie dieKammern noch stärker zusammenarbeiten, und habendeshalb Vertreter vor Ort.Wir wollen, dass unsere Universitäten sich das zunutzemachen, was man unter einer virtuellen Hochschule ver-steht. Wir haben zum Beispiel mit Polen einen Windener-giepark für die EXPO konzipiert, wir haben in Estlandeine Kläranlage mitfinanziert, wir machen Stadtentwick-lungsprojekte in Estland, Litauen und Kaliningrad. Wirarbeiten bei der inneren Sicherheit zusammen mit den bal-tischen Staaten – dahin darf der Bund übrigens keine Po-lizei schicken, das möchten die Länder schon gerne al-leine machen, darauf bestehen wir –, wir haben einMolkereiprojekt in Estland für die EXPO mit entwickelt.Wir tun also schon eine ganze Menge.Unter anderem wird die Landesregierung in diesemMai mit rund 60 Jugendlichen aus Schleswig-Holsteinüber Krakau und Auschwitz nach Danzig fahren, wo diesejungen Leute mit polnischen Jugendlichen einen großenKongress über die Zukunft Europas gestalten werdenund – das ist bemerkenswert – privat in polnischen Fami-lien untergebracht sein werden. Das ist das Neue an die-sem Projekt.
Wir tun alles, bis wir an unsere äußerste Grenze kom-men.Nun habe ich drei Wünsche an Sie: Ich verstehe ja, dassdie südlichen Mitgliedstaaten jedes Mal, wenn die Ost-seeregion auf die Tagesordnung der Europäischen Unionkommt, die Ohren dicht machen und anfangen zu rech-nen, was das wohl kosten könnte. Hier brauchen wir IhreHilfe, zum Beispiel bei der Integration von Verkehrs-projekten in die großen europäischen Netze.
– Wir bestreiten gar nicht, dass da großer Bedarf besteht.Wir brauchen eine ganze Menge. Ich wäre schon froh ge-wesen, Herr Kollege Börnsen, wenn Sie das früher einmalgesagt hätten, als wir das gefordert haben, als wir das drin-gend brauchten.
Jetzt kriege ich langsam einen Adrenalinstoß! Was habenSie uns durch den Kakao gezogen, als wir von der festenFehmarn-Belt-Querung gesprochen haben! Wer hat dennin Fehmarn angefangen zu zündeln und von den Arbeits-plätzen zu sprechen?
– Doch, die wollten wir.
Wir waren schon viel weiter als ihr.
– Alles Unsinn. Ich erinnere mich ziemlich genau daran,wer vor Ort den Fehmeranern erzählt hat, dass jetzt dasEnde der Insel Fehmarn eingeläutet werde, weil wir einefeste Beltquerung haben wollten.
Das ist nicht fair, was Sie uns jetzt vorwerfen. Aber ichwill mich wieder abregen, man soll ja Parlamentarier an-ständig behandeln.
Wenn wir von Ihnen und durch Ihren Beitrag eine Zusi-cherung bekommen, dass Sie uns dabei helfen, dass dieseNetze ausgebaut werden – es ist vor allem europäischesGeld, was dort gefordert ist, gar nicht so sehr bundes-republikanisches Geld –, dann kann man über Parteigren-zen hinweg zusammenarbeiten.
– Auf die Diskussion will ich mich jetzt nicht einlassen.Wir hätten gerne von Ihnen Unterstützung für einen„Baltic Sea Desk“ in Europa, an den sich die einzelnenRegionen sofort wenden können. Wir hätten gerne, dassSie die vier Staaten, die beitreten wollen, unterstützen. Siekönnen Polen nicht von Litauen abspalten und Sie könnenauch die beiden anderen baltischen Staaten nicht von Li-tauen abspalten. Sie müssen also für alle vier reden, damitsie, wenn sie die Kriterien erfüllt haben, in die Europä-ische Union aufgenommen werden als die guten Nach-barn, als die sie sich in der Vergangenheit für uns erwie-sen haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Ministerpräsidentin Heide Simonis
14718
Wir sind der Meinung, dass der Vorsitz des Ostseeratesbei der Bundesrepublik Deutschland gut aufgehoben war.Wir bedanken uns dafür, dass wir nicht ans Gängelbandgelegt worden sind, sondern weiter das machen durften,was wir für richtig empfunden haben. Wenn Herr Fischerda gewesen wäre, hätten wir uns gefreut. Wir haben aberauch ohne ihn gute Politik gemacht. Das ist überhauptnicht unser Problem. Herr Bundesaußenminister, wirschaffen es ganz allein, uns dort für die Interessen der Re-gion, unserer Länder und der Bundesregierung einzuset-zen.
Wir sind auch durchaus in der Lage, egal welcher Parteidiese Bundesregierung angehört, sie zu loben, wenn sieGutes tut, und sie zu tadeln, wenn sie nichts Gutes tut. Wirhaben das Gefühl, ihre Arbeit im Ostseerat war sehr hilf-reich für die Region.
Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken, auch imNamen meiner norddeutschen Ministerpräsidentenkolle-gen, die gestern mit mir zusammen über dieses Thema ge-sprochen haben.Für alles Weitere, was Ihnen noch einfällt, sind wirdankbar und offen. Zeigen Sie ein bisschen Kreativitätauch für die nördliche Region. Sie ist eine wunderschöne,eine spannende Region.
Sie ist es immer wert, eine Reise dorthin zu machen, HerrBundesaußenminister.
Vielen herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Ulrich Adam.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wirhaben es von vielen heute schon gehört: Die Ostseeregionentwickelt sich mehr und mehr zu einem Gebiet vonwachsender Bedeutung, und dies im ökonomischen, aberauch im politischen und kulturellen Sinne. Ich möchte andieser Stelle speziell auf einige Beispiele für Chancen,aber auch für Chancenverwertung meines HeimatlandesMecklenburg-Vorpommern eingehen. Bisher haben wirsehr viele Beispiele der anderen Anlieger, zum BeispielSchleswig-Holsteins, gehört.Wie bei allen Ostseeanliegerstaaten ist die Tourismus-branche ein wichtiges Standbein. Wir sind deswegen be-sonders stolz, dass wir in Mecklenburg-Vorpommern aufdiesem Gebiet sehr hohe Steigerungsraten erreicht haben.Die Antwort der Bundesregierung zeigt uns aber, dassgroße Chancen bestehen, gerade den Anteil ausländischerTouristen am Übernachtungsaufkommen noch zu stei-gern. Ich fordere meine Landesregierung auf, insbeson-dere im Hinblick auf die Außenwirkung mehr zu unter-nehmen. Es wäre schön, wenn der Bund mein Land dabeiunterstützte. Insofern begrüße ich natürlich, dass auf derBundesratsbank die zuständige Referentin der Landesver-tretung sitzt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass unserLand bei dieser wichtigen Debatte, wie Schleswig-Hol-stein, auch durch den Ministerpräsidenten vertreten wäre.
Wir haben bei Tourismus diese Steigerungsraten des-wegen erreicht, weil wir an die Bäderarchitektur der20er-Jahre angeknüpft haben. Damit wurde den Gästenein sehr willkommenes Angebot gemacht. Rostock-War-nemünde gilt zudem als ein attraktives Ziel für Kreuz-fahrten, mit wachsender Tendenz. Daraus lässt sich dieIdee entwickeln, dort einen zweiten Standort anzubieten.Aus historischer Sicht, liegt der Vorschlag nahe – daswurde auch schon in den Gemeinden überlegt –, in Zu-sammenarbeit mit der Entwicklung der Museumsland-schaft die Region Peenemünde als neues, interessantesZiel gerade für Kreuzfahrer aus Übersee anzubieten. DerFlughafen Peenemünde würde zudem die Chance einerguten Anbindung für Auflüge in große Zentren Deutsch-lands, zum Beispiel Berlin, bieten.Meine Vorredner haben schon die wichtige Rolle vonVerkehrsverbindungen hervorgehoben. Dabei spielendie Fährhäfen eine besondere Rolle. Bei uns sind das imSpeziellen Rostock und Mukran. Deswegen ist es mir un-verständlich – das geht an die Adresse der jetzigen Regie-rung –, dass die Deutsche Bahn AG als hundertprozentigeTochter des Bundes eine erhebliche Ausdünnung bei denInterregioverbindungen vornimmt, wodurch es zu einerstarken Beeinträchtigung der Anbindung von Mecklen-burg-Vorpommern und damit auch der Universitäts- undHansestadt Greifswald zu den anderen Ostseeanrainernkommt. Dem muss dringend Einhalt geboten werden.
Ich möchte auf die Antwort der Bundesregierungzurückkommen. Dort wurde festgestellt, dass gerade dieTransrapidtechnik für den Industriestandort Deutsch-land einen hohen Stellenwert hat. Deshalb ist mir dieStreichung der Transrapidstrecke Hamburg–Schwerin–Berlin unerklärlich.
Es ist für mich, gelinde gesagt, erstaunlich, dass sich derMinisterpräsident Ringstorff für dieses Projekt nicht ein-gesetzt hat, sondern sich dagegen ausgesprochen hat. DemLand hätte es viele Arbeitsplätze, vor allen Dingen im Bau-wesen – laut IHK Schwerin rund 4 000 –, gesichert.Was die sicherheitspolitische Situation in der Ostsee-region angeht, so ist vor allem die Rolle des trinationa-len Korps zwischen Dänemark, Deutschland und Polen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Ministerpräsidentin Heide Simonis
14719
hervorzuheben. Mit der Unterzeichnung einer Absichtser-klärung zum Aufbau dieses Korps am 28. Oktober 1997,bereits vor dem Eintritt Polens in die NATO, wurde unterdem damaligen Minister Rühe sehr vorausschauend ge-handelt. Das dann 1999 in Dienst gestellte multinationaleKorps Nordost mit Sitz in Stettin ist derzeit der einzigemultinationale Großverband von Heereskräften in dieserRegion. Dort leistet er einen großen Beitrag zu Sicherheitund Stabilität.In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage betont dieBundesregierung in diesem Zusammenhang die Arbeitdes Stabes bei Rettungs- und humanitären Einsätzen,einschließlich der Katastrophenhilfe. Gerade dies ist eineBesonderheit dieses multinationalen Korps; schließlichist die Katastrophenhilfe in der Regel eine rein nationaleAngelegenheit. Umso unverständlicher ist für mich daherdie geplante enorme Reduzierung des angrenzenden Bun-deswehrstandortes Eggesin. Minister Scharping hat sichbei seinen Plänen offensichtlich ohnehin nicht von seinenselbst vorgegebenen Kriterien leiten lassen. Schließlichhat er im Vorfeld die internationale Einbindung als wich-tigen Faktor für seine Entscheidungen benannt. Nunschließt er Eggesin beinahe komplett. Das passt nicht zu-sammen, Herr Scharping. Ich fordere Sie daher eindring-lich auf, Ihre Entscheidung noch einmal gründlich zuüberprüfen.
Nun zu Ihnen, Herr Bundesaußenminister: Durch dasschon eben beschriebene trinationale Korps wurde geradeauch aus unserer Sicht die Stellung von Stettin aufgewer-tet. Umso unverständlicher ist von daher die Schließungdes dortigen Generalkonsulates.
Bislang gibt es zudem auch keinerlei Maßnahmen, diediesen Wegfall kompensieren würden, was Sie ja eigent-lich zugesagt haben. Ich fordere Sie daher auf, endlich indiesem Sinne zu handeln, damit der Prozess der Erweite-rung der Europäischen Union auch zukünftig entspre-chend begleitet wird. Vorbilder in diesem Zusammen-hang – das sollten Sie sich einmal genau anschauen – sinddie IHK Neubrandenburg und der UnternehmerverbandVorpommern, die beide bereits Kontaktbüros in Stettineingerichtet haben.
Damit haben sie nämlich genau das Gegenteil von demgetan, was Sie getan haben.Meine Damen und Herren, es ist hervorzuheben, dassim Bereich der Bildungspolitik durch die CDU/CSU-ge-führte Bundesregierung die Ständige Konferenz derHistoriker des Ostseeraumes ins Leben gerufen wurde.Ganz besonders freue ich mich, dass das Koordinierungs-büro an meiner Heimatuniversität Greifswald angesiedeltwurde. Es wurde ja schon die Bedeutung der Universitä-ten Berlin und Kiel hervorgehoben. Ich denke, hier reihtsich Greifswald besonders gut ein. Bislang gibt es für die-ses Projekt nationale Förderung der zehn beteiligten Ost-seeanrainerstaaten. Der zuständige Leiter der Konferenz,Professor Wernicke, hat vorgeschlagen, sich nun auch in-ternational auf eine Förderung zu verständigen. Ich haltedies für eine ausgesprochen gute Idee. Damit könnte dasweitere Bestehen des Begegnungs- und Diskussionsfo-rums auf eine neue Grundlage gestellt werden.Es muss in unser aller Interesse liegen, die Ostsee-region auch zukünftig weiter zu unterstützen und zu för-dern, damit sie sich zu einem europäischen und globalenMotor für Wachstum und Wohlstand entwickelt. Eswurde ja hier schon der Vergleich zum Mittelmeer gezo-gen. Gerade vor diesem Hintergrund ist die stark ange-spannte wirtschaftliche Situation in Mecklenburg-Vor-pommern von besonders großer Bedeutung. Hier sindsowohl die Bundesregierung als auch die Landesregie-rung gefordert.Abschließend möchte ich festhalten: Ich sehe für alleAnrainer der Ostsee große Entwicklungspotenziale. Des-halb muss es vor allem darum gehen, die bisherige Zu-sammenarbeit fortzuführen, um gerade auch die StaatenOsteuropas weiter einzubinden. Der Transformationspro-zess der osteuropäischen Staaten bietet auch für unsenorme wirtschaftliche Chancen. Das Beispiel der Kom-munalgemeinschaft Europaregion Pomerania im Be-reich Pommern dies- und jenseits der deutsch-polnischenGrenze ist ein gutes Vorbild dafür, wie multinationale Zu-sammenarbeit gefördert werden kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Franz Thönnes für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Das Mare Balticum, die Ostsee,als Region einer aufblühenden wirtschaftlichen und kul-turellen Begegnung ist eine unserer großen Visionen – so1988 der ehemalige Ministerpräsident Schleswig-Hol-steins Björn Engholm. Die Anwesenheit der heutigen Mi-nisterpräsidentin des nördlichsten Bundeslandes, HeideSimonis, unterstreicht die gute Kontinuität dieser Auffas-sung.
Aus der Vision ist inzwischen ein vielfältiges Netzpraktischer Zusammenarbeit entstanden. Insgesamt ist dieOstseekooperation eine faszinierende Erfolgsge-schichte. Vor 50 Jahren herrschten Krieg und Zerstörung,vor 10 Jahren gab es noch eine Konfrontation der Blöcke,heute gibt es Zusammenarbeit und Verständigung. DieOstsee trennt nicht mehr, die Ostsee verbindet.
Keine andere Region hat den Übergang aus den Zeitender Konfrontation in die Gegenwart so gut und so fried-lich bewältigt. Alte Verbindungen lebten wieder auf, neue
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Ulrich Adam14720
Demokratien entstanden, Handel und Verkehr ent-wickelten sich enorm. Mit Russland entsteht ein neuesnachbarschaftliches Verhältnis, ebenso mit Polen, und diebaltischen Staaten sind wie Polen auf dem Weg in die EU.Kein Zweifel: Diese Region gehört zu den Zukunfts-regionen eines größeren Europas.
Ich sage aber auch: Alle Regierungen sollten die sich da-raus ergebenden Chancen noch viel stärker als bisher nut-zen.
Von der Bundesregierung erwarten wir – das ist die Ab-sicht unseres Antrages –, dass sie gegenüber der EU fürdie weitere Ausgestaltung einer eigenständigen EU-Ost-seepolitik eintritt. Darunter fallen sowohl eine bessereKoordinierung der EU-Förderinstrumente im Ostseeraumals auch die Vereinheitlichung der Zuständigkeiten inner-halb der Kommission.Die Kooperation zwischen der EU und Russland unddie regionale Zusammenarbeit mit den Regionen Nord-westrusslands unter Einbeziehung von Kaliningrad sindweiter zu fördern.Mit den Partnern des Ostseerates gemeinsam sollteüber den EU-Gipfel in Göteborg hinaus an den Projektenzur weiteren Umsetzung des Aktionsplans zur NördlichenDimension gearbeitet werden. Dabei geht es insbesondereum die Weiterentwicklung der transeuropäischen Netzefür Transport, Energie, Verkehr und Kommunikation, denAusbau der Sicherheitskooperation in der Ostseeregion,die Entwicklung zur Wissensgesellschaft und den Ausbauder Zivilgesellschaft mit kultureller Zusammenarbeit, mitJugendbegegnungen und der Kooperation von und mitNichtregierungsorganisationen.Gerade am Komplex der Jugendbegegnungen will ichmit einem besonderen Anliegen anknüpfen. In der Schluss-resolution der 9. Ostseeparlamentarierkonferenz haben116 Parlamentarier der Ostseeanrainerstaaten im Septem-ber 2000 einstimmig angeregt, zur Förderung des Austau-sches und des Tourismus in der Ostseeregion eine Ost-seejugendstiftung zu bilden. Sie sollte auf den gutenErfahrungen des Ostseejugendsekretariats in Kiel auf-bauen. Das Ostseejugendforum, die Plattform der natio-nalen bzw. regionalen Jugendringe in der Region, hat denBedarf für die Ostseejugendstiftung bestätigt. Unterstüt-zung hat man von der Konferenz über die Ostseejugend-zusammenarbeit erhalten. Gleiches gilt für die Konferenzder Subregionen.In einer Studie zu Finanzierungsmöglichkeiten von Ju-gendprojekten im Ostseeraum haben die nationalen Ju-gendministerien und Jugendringe sowie die Subregionenim Ostseeraum festgestellt, dass gerade Förderpro-gramme für Langzeit- und für Folgeprojekte fehlen. Ichglaube, dass es notwendig ist, diese Stiftung bald auf denWeg zu bringen; denn sie wäre eine gute Hilfe, Hinder-nisse für Jugendmobilität im Ostseeraum zu beseitigen.
Die Ostsee verbindet. Brücken verbinden. Brücken brau-chen Pfeiler. Eine Ostseejugendstiftung könnte einer dertragenden Pfeiler für eine gute und friedliche Zukunft imNorden Europas sein.Was den zweiten wichtigen Pfeiler angeht, so solltenwir Parlamentarier uns aus meiner persönlichen Sicht dieFrage stellen: Wie halten wir es mit der Stärkung der par-lamentarischen Demokratie in der Ostseeregion? Solltenwir angesichts der Herausforderungen und der Chancen indieser Region nicht auch der jährlich und diesmal inGreifswald stattfindenden Ostseeparlamentarierkonfe-renz mehr Kontinuität, mehr Verantwortung und mehrVerbindlichkeit zubilligen als bisher? Wenn sich das Eu-ropa der Regionen entwickelt, dann wäre auch die Fragenach regionalen parlamentarischen Strukturen, vielleichtmit dem Fernziel einer parlamentarischen Versammlung,zu stellen.Ich meine, wir sollten in den Parlamentariergruppendieses Hauses darüber diskutieren und die Einladung derfinnisch-deutschen Parlamentariergruppe in Helsinkidazu nutzen, mit den Freundinnen und Freunden dort zusprechen. Wir sollten dies auch mit der erstmals gebilde-ten schwedisch-deutschen Abgeordnetengruppe aus demRiksdag in Stockholm erörtern.Eine engagiert aktive Bundesregierung in Ostseefra-gen, eine Initiative für die Ausweitung der Jugendkon-takte in der Region und eine Stärkung des Parlamentaris-mus im Mare Balticum, das wären drei starke Pfeiler fürBrücken, die verbinden, Brücken zur nachhaltigen Ge-staltung einer friedlichen Zukunft in der Ostseeregion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in der
Debatte ist die Kollegin Dr. Christine Lucyga für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerpräsi-dentin! Die politische und wirtschaftliche Bedeutung desOstseeraums als Wachstumsregion der Zukunft haben alleVorredner übereinstimmend hervorgehoben. Sie habenChancen deutlich gemacht, aber auch einige Risiken auf-gezeigt.Der Ostseeraum ist über die wirtschaftliche Dimensionhinaus jedoch auch ein Stück Gemeinsamkeit in Kultur,Geschichte und Tradition mit einem starken verbinden-den Element; das ist der maritime Charakter. Deshalbwird der Ostseeraum eine gemeinsame maritime Zukunfthaben.Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in denzusammenwachsenden EU-Mitgliedsländern, aber auchin den künftigen Beitrittsländern macht deutlich, dass dieChancen der Region unser aller Chancen sind, dass aberdie Probleme, die in der Region zu lösen sind, auch unseregemeinsamen Probleme sind, an die wir gemeinsam he-rangehen müssen. Daher ist es eine lohnende gesamteu-ropäische Aufgabe, diesen Prozess durch eine langfristige
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Franz Thönnes14721
Orientierung, wie im Aktionsprogramm „Zur nördlichenDimension“ vorgegeben, aktiv zu gestalten. Dieses Kon-zept zielt auf die Weiterentwicklung des gesamtennordeuropäischen Raumes mit besonderer Zielrichtungauf die EU-Beitrittskandidaten und Russland. Dies nütztletztlich auch ganz Europa.Für die Zusammenarbeit im Ostseeraum bieten sich ge-rade im Hinblick auf die bevorstehende EU-Osterweite-rung umfangreiche gemeinsame Handlungsfelder an, obes nun die Umwelt-, Gesundheits- und Bildungspolitik,eine gemeinsame Energiepolitik oder Fragen der innerenSicherheit, aber auch der nuklearen Sicherheit betrifft.Das ökologische Gleichgewicht der Ostsee muss wiederhergestellt werden. Es gilt, gemeinsame Strategien derKriminalitätsbekämpfung zu entwickeln und Engpässe imVerkehrsbereich zu überwinden. Ein wichtiges verkehrs-politisches Anliegen ist die Erhöhung der Sicherheit aufSee.Herr Börnsen, die von Ihnen aufgeführten Defizite ha-ben sich während Ihrer Regierungszeit angesammelt. Wirhaben sie erkannt und benannt. Deutschland hat sie imOstseerat zum Thema gemacht. Wir entwickeln dazu ge-meinsame Handlungsstrategien. So weit zu Ihrem Vor-wurf, den Sie uns eingangs gemacht haben.
Unverzichtbar ist auch die weitere Entwicklung derInfrastruktur. Das bedeutet auch die Neuerschließungoder Wiederbelebung von Verkehrskorridoren über dieOstsee. Nachdem die Oeresundquerung Skandinavien einStück weiter nach Zentraleuropa bringt, bietet es sich an,bei der anstehenden Neubewertung der Transeuropä-ischen Netze auch im Interesse des südeuropäischen Hin-terlandes die Nord-Süd-Achse über die deutschen Ost-seehäfen zu stärken. Denkbar wäre für mich zum Beispieleine Achse Kopenhagen–Berlin–Prag über den Seeha-fen Rostock, die kürzeste und schnellste Verbindung;denn bewährte Verkehrswege über die Ostsee müssenihren Stellenwert zurückerhalten. Während Ihrer Regie-rungszeit, Herr Börnsen, ist vieles zurückgefahren wor-den, was nun wieder in Gang gesetzt werden muss.
Natürlich brauchen wir auch neue und innovative Ver-kehrslösungen, über die anderenorts, zum Beispiel inSchleswig-Holstein, nachgedacht wird. Die logistischenStärken der Regionen können sich nämlich nicht imSelbstlauf durchsetzen. Daher gilt es, ihre jeweiligen Vor-züge beweisfähig zu machen.Das Land Mecklenburg-Vorpommern, für das ichhier spreche, wird im Prozess der EU-Osterweiterung einebesondere Funktion haben. Bereits jetzt gibt es exempla-rische Formen der Zusammenarbeit mit Skandinavien,aber auch insbesondere mit den osteuropäischen Nach-barn, besonders mit Polen. Beispielhaft ist hier die Mo-dellregion Pomerania zu nennen.Wichtige Ergebnisse wurden unter dem gegenwärtigendeutschen Ostseeratsvorsitz erreicht. Da der Herr Außen-minister selbst die Ergebnisse schon ausgiebig dargestellthat,
kann ich mich kurz fassen und kann ihn außerdem nichtganz so ausführlich loben, wie ich es sonst getan hätte.
Aber immerhin möchte ich erwähnen, dass das Problemder Schiffssicherheit und der maritimen Notfallvorsorge,das aufgrund des zunehmenden Schiffsverkehrs auf derOstsee an Bedeutung gewinnt, ebenso wie Überlegungenzur Harmonisierung der EU-Förderprogramme und nichtzuletzt auch Fragen der Sicherheitskooperation im Ost-seeraum zu Themen des Ostseerats wurden. Das geschahunter deutscher Präsidentschaft. Deutschland bekenntsich zum Ostseeraum. Es gilt nun, dieses Engagementfortzusetzen und finanziell wie personell zu untersetzen.
Handlungsfelder sind reichlich vorgegeben; Instrumentesind vorhanden. Worauf es jetzt ankommt und wofür wiruns einsetzen müssen, ist, sie flexibel und insbesonderefür die lokale Ebene handhabbar zu machen, sie besser zuverzahnen und zu flexibilisieren.Eine letzte Bemerkung. Die Übernahme der EU-Rats-präsidentschaft durch Schweden im ersten Halbjahr 2001wie auch der ab Juli anstehende russische Vorsitz im Ost-seerat werden das gesamteuropäische Bewusstsein fürden nordeuropäischen Raum weiter schärfen. Sie werdendazu beitragen, die Ergebnisse der deutschen Ostseerats-präsidentschaft wie auch die Bekenntnisse des Europä-ischen Rates zur Ostseeregion nachhaltig zu untersetzen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Ab-stimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionder PDS auf Drucksache 14/5235. Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen derPDS-Fraktion abgelehnt.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag derFraktion der CDU/CSU „Initiative zur Stärkung der Ost-seeregion“ auf Drucksache 14/4573. Der Ausschuss emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3293 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istgegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS an-genommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Dr. Christine Lucyga14722
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache14/5231. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsan-trag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Ent-haltung der CDU/CSU abgelehnt.Nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionender SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-sache 14/5226 mit dem Titel „Die Entwicklung der Ost-seeregion nachhaltig stärken“. Wer stimmt für diesen An-trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Antrag istgegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung derPDS- und der F.D.P.-Fraktion angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
derung des Bundeswahlgesetzes– Drucksachen 14/3764, 14/4265, 14/4647,14/5238 –Berichterstattung:Abgeordneter Ludwig StieglerWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Wirddas Wort zu einer Erklärung gewünscht? – Das ist nicht derFall.Dann kommen wir gleich zur Abstimmung. Der Ver-mittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seinerGeschäftsordnung beschlossen, dass im Bundestag überdie Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmtfür die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschus-ses auf Drucksache 14/5238? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung derPDS-Fraktion angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
fährlicher Hunde– Drucksachen 14/4451, 14/4920, 14/5052,14/5239 –Berichterstattung:Abgeordneter Ludwig StieglerWird das Wort zur Berichterstattung oder zu einer Er-klärung gewünscht? – Das ist nicht der Fall.Deshalb kommen wir auch hier gleich zur Abstim-mung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass imDeutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsamabzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-lung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache14/5239? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-men.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a bis 16 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrichHeinrich, Ulrike Flach, Marita Sehn, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.Innovationspotenzial moderner Technologienfür mittelständische Pflanzenzüchter erhalten– Drucksache 14/2297 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheitb) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenMarita Sehn, Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Harmonisierung der Zulassungspraxis vonPflanzenschutzmitteln auf europäischer Ebene– Drucksachen 14/3054, 14/4136 –c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten
– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSUZulassung von Pflanzenschutzmitteln auf na-tionaler und EU-Ebene beschleunigen– zu dem Antrag der Abgeordneten Marita Sehn,Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der F.D.P.Wettbewerbsnachteile durch unterschiedli-che Zulassungspraxis von Pflanzenschutz-mitteln in Europa zügig abbauen– Drucksachen 14/3096, 14/3298, 14/3713 –Berichterstattung:Abgeordnete. Ulrike HöfkenNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieF.D.P. sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Für die F.D.P. spricht derKollege Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die reizvolleAufgabe, innerhalb weniger Minuten über die Große An-frage der F.D.P.-Bundestagsfraktion zum Pflanzenschutz,zur Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln und zurGentechnik zu sprechen. Ich werde versuchen, das ei-nigermaßen hinzubekommen.In der Bundesrepublik Deutschland ist die F.D.P. ei-gentlich die einzige Partei, die klare Position
gegenüber der grünen Gentechnik bezogen hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss14723
Wir sind der Meinung, dass die grüne Gentechnik eineTechnik der Zukunft ist. Die Biotechnik und die Gentech-nik sind in der Zukunft Wachstumsmotoren in der Welt.Deshalb müssen wir uns – da gibt es gar keine andereMöglichkeit – daran beteiligen.
Wir werden uns insbesondere mit der zweiten und drit-ten Generation der grünen Gentechnik, also den maßge-schneiderten Pflanzen mit entsprechenden Inhaltsstoffen,verstärkt auseinander setzen müssen; denn diese gentech-nisch veränderten Pflanzen werden dem Verbraucher dentatsächlichen Nutzen deutlicher machen. Das ist dringendnötig; denn die Bevölkerung ist derzeit noch nicht beson-ders davon überzeugt, dass die grüne Gentechnik not-wendig ist und den Menschen Nutzen bringt. In diesemSinne müssen wir mehr Aufklärungsarbeit leisten. Wirmüssen die berechtigten Bedenken abwägen, aber wirdürfen auf keinen Fall die Chancen, die in dieser Gen-technik stecken, verschlafen.
Insoweit ist es ganz sicher kontraproduktiv, wenn derBundeskanzler zwar zu Kamingesprächen einlädt, dannaber ganz schnell wieder Ausladungen verschickt, weil ermerkt, dass sich die Windrichtung verändert hat und eraufgrund der BSE-Krise in der Bevölkerung derzeit keingeeignetes Klima vorfindet, um diese Gespräche weiter-zuführen. Meine Damen und Herren, so kann man keinePolitik machen,
erst recht keine Politik, die sich künftig auf diese wichtigeTechnologie praktisch auswirkt. Hier kritisieren wir dieBundesregierung nachdrücklich. Sie hat wohl dem grünenKoalitionspartner gegenüber nachgegeben.
Ich halte das nicht für akzeptabel.Ich halte es auch unserer Wirtschaft gegenüber nichtfür akzeptabel. Die Forschung ist das eine, das Umsetzenin die Praxis ist das andere. Beides gehört zusammen. Wirkönnen nicht erwarten, dass die Wirtschaft forscht, wennsie nicht gleichzeitig Nutzen hieraus ziehen kann. Des-halb muss die Entwicklung weitergehen und deshalb wol-len wir auch, nicht zuletzt, um den mittelständischenPflanzenzuchtunternehmen in der Bundesrepublik klareRahmenbedingungen vorzugeben, dass die Perspektiveklar wird.
Wenn Sie die grüne Gentechnik nicht wollen, dann sa-gen Sie das klar und deutlich. Dann wissen die Firmen,was sie von dieser Regierung in Zukunft zu erwarten ha-ben. Aber diese Zickzack-Politik, diese Schaukelpolitik,ist nicht akzeptabel. Hierdurch wird der Standort Bundes-republik Deutschland in einer Art und Weise beschädigt,die nicht verantwortbar ist.
Ich habe zu der Großen Anfrage noch einige Anmer-kungen zu machen. Einleitend möchte ich sagen: Ichhoffe, dass sich die neue Ministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft an das erinnert,was in der Antwort auf unsere Große Anfrage steht, dassnämlich der chemische Pflanzenschutz auf absehbareZeit unverzichtbar ist und zur Produktion qualitativ hoch-wertiger Nahrungsmittel auch künftig erforderlich seinwird. Wir werden die künftige Politik an dieser Aussagemessen. Denn in der Tat gibt es derzeit keine Alternative,die wirtschaftlich vertretbar wäre und die man auch erfolg-reich praktizieren könnte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach wie vorbesteht ein großes Problem im Bereich der Lückenindika-tion. Nach wie vor besteht ein großes Problem bei der Er-haltung von Kleinkulturen im Gartenbaubereich, im Baum-schulenbereich. In den letzten Jahren sind wir hierbeiwirklich an die Grenze des Zumutbaren gestoßen. Wir ha-ben letztes Jahr einiges geschafft; einige Lücken wurdengeschlossen.
Aber ich bitte doch, dass die Bundesregierung und die sietragenden Fraktionen auf diesem Wege weitergehen undalles unternehmen, damit die Lückenindikation entspre-chend weitergeführt wird.Wir brauchen ein vereinfachtes Zulassungsverfahrenund eine Lösung hinsichtlich der Altwirkstoffe. Die dies-bezüglichen Regelungen laufen ja im Jahre 2003 aus.Wenn dieser Zeitpunkt erreicht ist, sollten wir nicht imRegen stehen, sondern nach wie vor die notwendigenPflanzenschutzmittel zur Verfügung haben, um die Kul-turpflanzen gesund erhalten zu können.Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Hinweis ge-ben. Mich hat stutzig gemacht, dass es eine der ersten Re-aktionen der Bundesregierung in diesem Bereich war, denEinsatz von Plantomycin zu verbieten. Plantomycin istnotwendig, um den gefährlichen Feuerbrand zu bekämp-fen. Der Feuerbrand vernichtet die Bäume ganzer Regio-nen und es gibt kein Mittel, das so dagegen wirkt wie dasPlantomycin. Dieses wird nur sehr vorsichtig verwandt.Der Einsatz erfolgt nur auf Sondergenehmigung und istauf einen Zeitraum von zwei Jahren begrenzt. Bislang gibtes kein Mittel, das dieses Plantomycin tatsächlich erset-zen könnte. Wir haben gedacht, wir hätten mit ihm einMittel, das wir wirklich zwei Jahre lang einsetzen könn-ten. Nachdem es in zwei oder drei Proben von Honig ge-funden wurde, hat man es schlagartig verboten. Das halteich nicht für akzeptabel; denn das gefährdet unsere Kul-turlandschaft und die Existenz unserer Obstbauern. Dieshat eine viel größere Dimension, als man im ersten Au-genblick denken mag. Die Streuobstwiesen und die wich-tigen ökologischen Nischen, die auch Sie erhalten wollen,werden damit gefährdet. Ich bitte die Bundesregierungeindringlich, den Stopp des Einsatzes von Plantomycinwieder rückgängig zu machen. Denken Sie über Ihrefalsche Entscheidung nach! Spätestens bei der Baum-blüte, wenn dieses Mittel eingesetzt werden soll, brau-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Ulrich Heinrich14724
chen die Landwirte dieses Mittel, zu dem es keinerlei Al-ternative gibt.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Heino Wiese.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Herr Heinrich, die Bundes-regierung hat eine ganz klare Meinung zur grünen Gen-technik und die hat sie auch deutlich formuliert.
– Das ist wohl wahr, Herr Heiderich, auf Sie komme ichgleich auch noch zu sprechen.Herr Heinrich, Sie sind für mich der unglaubwürdigstePolitiker, den ich in diesem Bundestag bislang kennen ge-lernt habe.
Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die man dafür an-führen kann. Auf der einen Seite fordern Sie freien Marktund freien Handel, auf der anderen Seite aber machen Sieden größten Aufstand, wenn Subventionen für dieLandwirtschaft gestrichen werden. Daneben sind Sie auchbei BSE nicht ganz ehrlich gewesen. Heute tun Sie fast so,als wären Sie der Mahner in der Wüste gewesen, der ge-sagt hat: Wir kennen alle die BSE-Gefahren.Ich kann mich noch sehr gut an die Sitzung im Juni desletzten Jahres erinnern.
– Ja, aber ich möchte deutlich machen, wie Sie agieren. –Im Juni haben Sie die Bundesregierung noch schärfstensverurteilt und gesagt, sie würde die Bauern in Brüsselnicht entsprechend vertreten, weil sie den BSE-freien Sta-tus Deutschlands nicht durchgesetzt hat.Damals sind Sie nur noch vom Kollegen Heiderich ge-toppt worden. Herr Heiderich, vielleicht wissen Sie noch,was Sie gesagt haben. Sie warfen der Gesundheitsminis-terin vor, sie falle der deutschen Landwirtschaft in denRücken. Heute ist das alles vergessen und Sie tun so, alsob das Thema für Sie schon immer auf der Tagesordnungstand.Herr Heinrich, ich habe in der letzten Woche mit Land-wirten aus Ihrer Heimat gesprochen. Diese haben mirdoch tatsächlich glaubhaft versichert, Sie hätten dort ver-kündet, dass Sie gegen die bestehende Nachbauregelungund auch gegen die Patentierung von Pflanzen seien.
Ob das tatsächlich stimmt? Ich habe von Ihnen bisher im-mer etwas anderes gehört.
– Ja, das sagte der Bauer, aber vielleicht reden Sie in derHeimat anders als hier.
– Vielleicht werden Sie auch nur falsch verstanden. Danndrücken Sie sich aber wahrscheinlich nicht richtig aus.
Die grüne Gentechnik birgt Risiken; das wissen wiralle. Wir haben noch keine Langzeiterfahrung und wissennicht, ob nicht zum Beispiel die grüne Gentechnik dazuführen kann, dass bei der Nahrungsaufnahme Allergienentstehen.
– Ich rede jetzt erst einmal davon, wo die Risiken liegen. –Ein zweites Risiko ist: Kann die Artenvielfalt erhalten blei-ben? Auch das wissen wir nicht. Wenn man die Risikenaber kennt, dann kann man nicht sagen: Wir fangen erst ein-mal mit dem Anbau an. Wir werden schon sehen, was da-bei herauskommt.Auf der anderen Seite will ich die Chancen nicht ver-kennen. Natürlich birgt die Gentechnik Chancen, einerseitsökonomische – nämlich für die Saatgutunternehmen –, an-dererseits aber auch ökologische. So braucht man bei-spielsweise weniger Düngemittel oder weniger Pflanzen-schutz; auch das wäre eine gute Sache.Sie führen immer wieder an, die Entwicklungshilfe-länder in der Dritten Welt müssten gefördert werden. Dortmüsste die Nahrungsmittelknappheit bekämpft werden.
– Ja, das ist ein sehr gutes Ziel. – Bisher habe ich immergesagt: Die Entwicklungshilfeländer können sich dasSaatgut von Monsanto und anderen Saatgutunternehmenohnehin nicht leisten.
– Hören Sie erst einmal weiter zu! – Ich habe jetzt etwasanderes gesehen. Es gibt ein Entwicklungshilfeprojekt beiHerrn Professor Jacobsen in Hannover, wo junge Nach-wuchsforscher aus Entwicklungshilfeländern Praktikamachen. Sie könnten die Ergebnisse dann in ihrem Hei-matland selbst umsetzen. Das würde ich tatsächlich füreine weitere Chance ansehen.Nur, wir müssen eben beides sehen, die Risiken und dieChancen. Man kann nicht, wie die F.D.P. es tut, sagen:„Wir starten dieses Projekt und alle, die das verhindernwollen, sind Fortschrittsverhinderer“
– das werfen Sie uns ja immer gern vor –, aber wenn dasKind in den Brunnen gefallen ist, erklären: Damit habenwir nichts zu tun.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Ulrich Heinrich14725
Die Bundesregierung sagt: Wir wollen die Chancennutzen, aber die Risiken vermeiden. Das ist die richtigeStrategie. Um herauszufinden, wie groß die Risiken sindund welche Chancen wir haben, muss man Forschung be-treiben. Das tun wir in verstärktem Maße. Frau Bulmahn,die Bildungs- und Forschungsministerin, hat 30 Milli-onen DM jährlich für das GABI-Projekt zur Verfügunggestellt und damit die Fortführung der Grundlagenfor-schung ermöglicht.Ich sage Ihnen jetzt etwas zu dem runden Tisch beimBundeskanzler. Dieser runde Tisch ist jetzt erst einmal imEinvernehmen ausgesetzt worden.
– Aber es hat vorher Telefonate gegeben.
Sie wollen angeblich einen Erfolg. Wenn Sie das wol-len, dann ist es doch sehr fahrlässig, dieses Thema in ei-ner emotional aufgeladenen Situation, wie wir sie im Mo-ment haben, in den Vordergrund zu stellen. Stattdessensollten Sie konstruktiv mitarbeiten.Zum Schluss will ich Ihnen noch eines sagen: Nurwenn die Landwirte, die Bürger und Verbraucher davonüberzeugt sind, dass diese Technologie einen wirklichenNutzen für sie bringt, werden sie diese Technologie auchanwenden wollen.Ich weise auf Folgendes hin, da ich gerade HerrnRamsauer sehe: Die CSU hat an dieser Stelle ein ethischesProblem ausgemacht. Ich meine, die ethischen Problemesind noch nicht zu Ende diskutiert. Wir sollten uns daheran dieser Stelle Zeit nehmen, bis die Bürger und Verbrau-cher davon überzeugt sind, dass das etwas Gutes ist. Dannwerden wir die grüne Gentechnik auch umsetzen.Den Antrag der F.D.P. können wir aber nur ablehnen.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Helmut Heiderich.
Frau Präsidentin!Meine verehrten verbliebenen Kolleginnen und Kollegen!Gern will ich die Zeit nutzen, Frau Kollegin Wolff, um aufdie Themen ein Stück tiefer einzugehen.Es liegt uns ein Antrag zum Pflanzenschutz vor. Ichwill festhalten, dass für mich die Möglichkeiten des Pflan-zenschutzes ein wesentlicher Bestandteil einer hygieni-schen, einwandfreien, umweltschonenden und lokal opti-mierten Erzeugung von hoher Qualität im Pflanzenbausind. Für dieses Ziel haben wir innerhalb der EuropäischenUnion bereits vor zehn Jahren den Beschluss gefasst, eineEU-weite Harmonisierung mit einer gleichzeitigen Ver-schärfung der Zulassungsbedingungen und der Kontrollenherbeizuführen. Hintergrund war damals die Überlegung,gleiche Chancen für alle Bauern in Europa zu bieten. Daswar und ist der entscheidende Gesichtspunkt.Deutschland hat in dieser Frage einen nationalen Al-leingang unternommen, hat das längst umgesetzt und wei-tergeführt. Aber auf der europäischen Ebene hinken wirdieser Entwicklung immer noch hinterher. Obendreinkommt es zu Engpässen und Wettbewerbsverzerrungengerade beim integrierten Pflanzenbau; darauf ist eben be-reits hingewiesen worden. Ich denke, es muss an dieserStelle dafür gesorgt werden, dass es Übergangslösungengibt und dass die Möglichkeiten, die hier vorgesehen sind,von uns umgesetzt werden.Der zweite Schwerpunkt, der heute zur Debatte steht,betrifft die gentechnische Verbesserung von Pflanzenund den Einsatz dieser Pflanzen in der Landwirtschaft.Wir alle wissen, dass dazu auf europäischer und auch aufdeutscher Ebene seit vielen Jahren zahlreiche Versuchestattgefunden haben. Es gibt Hunderte von Freisetzungs-versuchen der deutschen Institute. Es gibt vielfältige Ver-suchsanwendungen der verschiedenen Pflanzenzuchtfir-men und Pflanzenzuchtunternehmen.Wir haben im letzten Jahr einen Schritt nach vorne ge-macht, indem sich alle Beteiligten zu einer Initiative ver-abredet haben. Mit dieser Initiative sollte dafür Sorge ge-tragen werden, dass genau die Aspekte bearbeitet werden,die soeben von Ihnen, Herr Kollege Wiese, angesprochenworden sind: die intensive Prüfung dieser neuen Techno-logie, die Kommunikation mit der Öffentlichkeit und dieBeantwortung der Fragen, was diese neuen Methodenleisten können, wo Chancen liegen, die wir nutzen kön-nen, wo noch Probleme und Punkte sind, die nicht ent-sprechend ausgeschöpft worden sind, und wo noch For-schung und Beobachtungen nachgeschoben werdenmüssen. Diese Initiative war deswegen sinnvoll, weil siealle in ein Boot gebracht hat. Man hat über Monate hin-weg eine Lösung ausgearbeitet. Diese Lösung stand kurzvor der Verabschiedung.Nun kann man wirklich nicht sagen, dass die Bundes-regierung eine geradlinige und zielgerichtete Politik be-treiben würde.
Denn wenige Tage vor der Unterschrift unter dieses ge-meinsame Vertragswerk, wenige Tage, bevor man an dieÖffentlichkeit gehen wollte, hat das Kanzleramt den so-eben von mir in einem Zuruf genannten Eilbrief an alleBeteiligten abgeschickt. Keiner von den Beteiligten wuss-te vorher, was da auf ihn zukommt. Wir alle hatten wenigeTage vorher auf der Grünen Woche die Gelegenheit, mitden Betroffenen über diese Thematik zu sprechen. Allesind davon ausgegangen, dass es zu einem Ergebnis kom-men wird. Umso überraschender ist es gewesen, dass derKanzler diese Initiative kurzfristig abgesagt und auf denKopf gestellt hat. Ich glaube, damit hat er ihr einen Bären-dienst erwiesen. Ebenso problematisch ist die nachge-schobene Begründung für dieses Vorgehen. Es wurde er-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Heino Wiese
14726
klärt, diese Initiative habe man abgesagt, weil die Situationin der Landwirtschaft im Moment sehr schwierig sei.Dieser möglichen neuen Technologie erweist man ei-nen Bärendienst. Denn wir haben im Hinblick auf dengentechnischen Pflanzenbau – das muss man einmal fest-halten – seit vielen Jahren eine intensive Forschung be-trieben. Sie haben soeben selbst auf das Projekt GABIhingewiesen, das allerdings nur in indirektem Zusam-menhang mit dieser Thematik steht. Wir haben auf euro-päischer und deutscher Ebene eine intensive Forschungbetrieben. Wir haben das berühmte Schritt-für-Schritt-Prinzip entwickelt, indem wir gesagt haben: Erst dann,wenn wir auf der einen Stufe sicher sind, gehen wir dienächste Stufe an und gehen aus dem Labor ins Freiland.Dann erfolgt der nächste Schritt.Der Vorteil dieser Initiative war doch, sagen zu kön-nen: Wir gehen jetzt großflächig über das gesamte Landhinweg auf den flächenweiten Anbau über. Wir geben derBevölkerung, jedem Interessenten und der Wissenschaftdie Möglichkeit, diese Technologie unter normalen An-baubedingungen in der Landwirtschaft zu testen und zusehen, ob es Probleme oder ob es keine Probleme gibt,und zu überprüfen, ob die Ressentiments, die auf denverschiedenen Seiten bestehen, zutreffen oder nicht zu-treffen. Es gibt doch niemanden, der sagen würde: Wirwollen diese Technologie auf jeden Fall, auch dann, wennes keine wissenschaftliche Rückendeckung gibt.Ich greife ein Stückchen voraus – denn Frau Lemkewird gleich in ihrer prophetischen Gabe erklären, dasskein Verbraucher die Produkte der grünen Gentechnikwill –: Frau Lemke, fragen Sie doch einmal den Verbrau-cher! Kein Mensch weiß, was das ist. Wir müssen docherst einmal mit dem Verbraucher in einen Dialog treten.Wir müssen erst einmal öffentlich klarmachen, was sie be-deutet und worum es hier geht. Wir können doch nicht aufder einen Seite, so wie Sie das tun, kategorisch Nein sa-gen, bevor wir überhaupt in die Anwendung und in diePrüfung gegangen sind. Auf der anderen Seite erklärt IhrBundeskanzler, wenn es um die gentechnische Entwick-lung und Forschung am menschlichen Embryo geht, mansolle das alles ohne Scheuklappen und etwas lockerer se-hen und sich nicht zu viele Gedanken machen.
Das passt nicht zusammen. Eine solch widersprüchlichePolitik kann man nicht vertreten, indem man auf der einenSeite sagt, nicht einmal Forschung und öffentliche Nut-zung dürften erlaubt sein, und auf der anderen Seite dieLeinen loslässt und erklärt: Lasst uns doch einmal sehen,was da auf uns zukommt!Es ist ganz wesentlich, dass wir die Möglichkeit habenmüssen, bundesweit mit der Öffentlichkeit zu kommuni-zieren. Dies hat der Kanzler mit seinem Umfallen, mit sei-ner 180-Grad-Kehrtwendung
– ja, im Grunde ist es ein Looping –, verspielt. Ich nehmedoch an, dass Sie nach der Absage des Kanzlers diegroßen deutschen Tageszeitungen gelesen haben. Sie ha-ben quer durch ganz Deutschland lesen können, dass derKanzler hier wieder eine Kehrtwende gemacht hat. Allehaben geschrieben, dass das wieder einmal Ausdruck destypisch schröderschen Politikstils gewesen sei, von einemTag auf den anderen die Karre um 180 Grad zu drehen.
Sie können nun wirklich nicht behaupten, dass Sie hiereine zielgerichtete Politik machen, verehrte Frau Lemke.
Ich bitte Sie einmal, zu bedenken – das ist Ihnen dochnicht unbekannt –, dass solche Pflanzen weltweit inzwi-schen auf rund 40Millionen Hektar angebaut werden. DerAnbau und die Verarbeitung dieser Produkte erfolgendoch nicht unter Inkaufnahme von Risiken. Vielmehrwurde über die Jahre hinweg festgestellt, dass darinChancen liegen.Wir haben gerade gehört, dass man durch den Einsatzdieser Pflanzen beispielsweise Pflanzenschutzmittel re-duzieren und auf diese Art und Weise der Umwelt dienenkann. Schauen Sie sich einmal die Situation in den USAan! Herr Heinrich kennt das aus eigener Anschauung.Dort sind Bodenerosionen verhindert worden, weil manjetzt ohne Pflug anbauen kann. Dadurch hat sich die Um-weltbilanz deutlich verbessert. Ich glaube also, hier gibtes große Chancen.Man sollte nicht immer diese unbewiesenen, plattenSprüche von sich geben, das alles diene nur der Großin-dustrie, den agrarindustriellen Komplexen oder wem auchimmer. Dann werden meist noch die einzelnen Firmenaufgezählt. Schließlich wird behauptet, Gentechnik nutzeausschließlich der Firma Monsanto und schon deswegendürfe man dies nicht machen.
Verehrte Frau Lemke, das ist genauso wenig haltbarwie Ihre Sprüche, die Sie in den letzten Tagen ständig zuder so genannten Agrarindustrie gemacht haben. Siesollten sich einmal die Mühe machen und sich, statt vonAgrarfabriken zu faseln, die Unterlagen ansehen, undzwar den Agrarbericht 2000, den Sie selbst veröffentlichthaben. Wenn Sie dort nachschauen, stellen Sie fest, dass95 Prozent der deutschen Agrarbetriebe in den alten Bun-desländern eine Fläche von weniger als 100 Hektar haben.Ich frage Sie, ob Betriebe mit weniger als 100 Hektar jetztvon Ihnen als Agrarfabriken angesehen werden.
Unter Ihrer Regierungszeit, nämlich seit 1999, hat dieAnzahl der Betriebe mit weniger als 50 Hektar abgenom-men. Sie haben diese Betriebe kaputtgemacht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Helmut Heiderich14727
Jetzt, da ich Ihnen Vorwürfe mache, schauen Sie aufdie Uhr, Frau Lemke. Sie haben die Landwirte dazu ge-bracht, ihre Betriebe zu vergrößern. Und dann faseln Sievon Agrarfabriken!Sie klopfen hier Sprüche und machen populistischeAussagen,
die die Bauern draußen in ein Licht stellen, das sie über-haupt nicht verdient haben. Die landwirtschaftlichen Fa-milienbetriebe werden von Ihnen zwischen die Mühl-steine gebracht. Sie brummen den Bauern neue Kostenauf und senken ihnen über Ihre Agenda-2000-Beschlüssedie Preise. Zwischen den steigenden Kosten und den sin-kenden Preisen sind die Bauern quasi wie zwischenMühlsteinen. Sie haben eigentlich nur noch zwei Chan-cen, um Ihrer falschen Politik zu entkommen: Entwedermüssen die Bauern aufhören – im vergangenen Jahr habenSie 5,4 Prozent der Bauern zum Aufhören gebracht, näm-lich die Familienbetriebe –
oder sie müssen mehr produzieren. Anders können sie Ih-rer Politik nicht entkommen. Wenn die Bauern aber mehrproduzieren, erklären Sie ihnen, sie hätten Agrarfabriken.Denken Sie doch einmal darüber nach, welche Wider-sprüche Ihre eigene Agrarpolitik aufweist. Damit helfenSie niemandem!Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Heiderich, ich freue mich, dass Sie mich in Ihrer Rede so
breit gewürdigt haben. Aber auf die Uhr habe ich ge-
schaut, weil ich gewährleisten wollte, dass ich die Rede-
zeit um genauso viel überziehen darf wie Sie.
Ich möchte mich zunächst allerdings mit dem Antrag
der F.D.P. – Herr Heinrich, ich werde Sie jetzt ausreichend
würdigen – befassen, der sich mit den mittelständischen
Pflanzenzüchtern beschäftigt oder zumindest vorgibt,
sich damit zu beschäftigen. Wenn man sich den Antrag an-
schaut, stellt man fest, dass er einfach nur eine Ansamm-
lung von Worthülsen ist. Herr Heinrich, Sie haben es nicht
geschafft, sich mit dieser Problematik ernsthaft auseinan-
der zu setzen. Ich werde das anhand einiger Beispiele be-
legen.
Zum ersten Stichwort, Gentechnik: In Ihrem Antrag
heißt es, der Bericht zur Technikfolgenabschätzung stelle
„eindeutig“ fest, dass die gentechnisch unterstützte Pflan-
zenzüchtung keinen nachweisbaren Einfluss auf die
Biodiversität, sprich: die biologische Vielfalt, habe. Das
steht zwar so im Bericht zur Technikfolgenabschätzung,
aber offensichtlich haben Sie nicht weitergelesen. Das
sind so die kleinen Nachlässigkeiten, Herr Heinrich: Sie
haben vergessen zu erwähnen, dass die Autoren des Be-
richts tatsächlich eindeutig feststellen, dass das gesamte
Wirkungsgefüge bei der Einführung von Sorten bisher
von der Wissenschaft überhaupt noch nicht verstanden
wurde. Daher ist die Aussage, es gebe keinen Einfluss auf
die biologische Vielfalt, einfach eine Nullaussage. Denn
wenn man nichts darüber weiß, kann man auch nicht eine
Aussage darüber treffen, ob dies einen positiven oder ne-
gativen Einfluss haben wird.
Aber Sie behaupten schon einmal in vorauseilendem Ge-
horsam, gentechnisch veränderte Sorten hätten keinen
Einfluss auf die Biodiversität.
In ähnlicher Manier zieht sich das durch Ihren gesam-
ten Antrag. Das mache ich Ihnen zum Vorwurf, womit ich
auch sage: Sie beschäftigen sich nicht ernsthaft mit der
mittelständischen Pflanzenzucht. „Gentechnisch verän-
derte Sorten sichern die Welternährung“, dieses morali-
sche Totschlagargument habe ich inzwischen wirklich
satt. In Ihren Forderungen verraten Sie sich dann aber sel-
ber. Im Abschnitt zu den nachwachsenden Rohstoffen
führen Sie aus, dass sich „mithilfe der Gen- und Biotech-
nologie ... für den Arznei- und Lebensmittelsektor ... maß-
geschneiderte Pflanzen mit den gewünschten Inhaltsstof-
fen“ herstellen ließen. Weiter heißt es: „Dadurch ergeben
sich neue Absatzchancen und -märkte und die Wettbe-
werbs- sowie Einkommenssituation der betroffenen Wirt-
schaftsbereiche wird deutlich verbessert.“
Das hat allerdings mit dem Welthunger nichts zu tun,
sondern ausschließlich mit wirtschaftlichen Interessen
von hier ansässigen Firmen.
Dies ist vollkommen legitim – ich finde es auch richtig,
dies in einem solchen Antrag anzuführen –, aber die mo-
ralische Legitimation der Bekämpfung des Welthungers
spreche ich Ihnen mit diesem Argument ab.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lemke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Sehr
gern.
Liebe Frau Kollegin, wür-
den Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass Sie den Welt-
hunger nur auf einer wirtschaftlichen Basis, wenn sich
nämlich die Produktion auch rentiert, überwinden kön-
nen? Die Produktion muss nicht nur hier in Europa, son-
dern auch in den Anbauländern selber rentabel sein. Das
ist der Ansatz, den Sie offensichtlich übersehen haben.
Ichdanke Ihnen für diese Zwischenfrage, Kollege Heinrich.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Helmut Heiderich14728
Zunächst stelle ich fest, dass Sie mich im Ausschuss als„Klugscheißer“ titulieren,
mich aber dann wiederholt im Parlament befragen. Aberdas nur nebenbei.Es ist eine Binsenweisheit, dass sich bestimmte Ent-wicklungen nur auf ökonomischer Basis verwirklichenlassen. Das ist zwar eine Binsenweisheit, aber eine Er-kenntnis, die die Landwirtschaft, wie wir es im Momentgerade erleben, vernachlässigt hat: Dort sind ökonomi-sche Interessen nicht über die Zeitschiene, sondern nurkurzfristig betrachtet worden.Wenn Sie darauf abzielen, den Welthunger mit ökono-mischen Instrumenten bekämpfen zu wollen, so ist dieGentechnik im Moment in keiner Weise ein geeignetes In-strument, weil sich diejenigen, die sich in Drittweltlän-dern, wo der Hunger herrscht, als Bauern betätigen, dortPflanzen anbauen und Tiere halten, das, was bei uns her-gestellt wird, überhaupt nicht leisten können. Sie wissen,dass dieses veränderte Saatgut teurer ist als konventionel-les Saatgut, das im eigenen Betrieb nachgebaut wird, unddass gerade die gentechnisch manipulierten Sorten dortnicht zu kaufen sind. Deshalb müssten die Ökonomie hierund die Ökonomie in den Drittweltländern voneinandergetrennt werden. Aber das ist nicht möglich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, es gibt
den Wunsch nach einer Frage des Kollegen Heiderich.
Da er
mich so intensiv in seiner Rede bedacht hat, gestatte ich
diese natürlich.
Sehr geehrte Frau
Kollegin, darf ich Sie darauf hinweisen, dass der an der
ETH Zürich entwickelte „Golden Rice“ jetzt kostenlos
abgegeben wird und dass diese Entwicklung insbesondere
in vielen asiatischen Ländern begrüßt wird?
IhreFrage finde ich prima. Wie lange, meinen Sie, wird dieserReis kostenlos abgegeben werden? Wie lange wird eineGarantie dafür übernommen werden, dass dieses Saatgutkostenlos ausgegeben wird, wenn sich die Bauern jetzt aufdiese Sorte einstellen, die Zucht ihrer einheimischen Sor-ten vernachlässigen und im eigenen Betrieb nicht mehranbauen?
– Ich würde Ihre Antwort gerne entgegennehmen.Sie machen es sich zu einfach. Wenn wir über Gen-technik in Lebensmitteln ernsthaft sprechen wollen, dannmüssen wir den Welthunger aus dem Spiel lassen. Sie be-nutzen dies ohnehin nur als moralisches Totschlagargu-ment.
– Nein, Herr Heinrich, es stört mich überhaupt nicht. Ichsetze mich damit ernsthaft auseinander. Aber ich sprecheIhnen bei diesem Thema die Legitimation ab.Sie lehnen in Ihrem Antrag ein Nachzulassungsmoni-toring ab und fordern die Deregulierung der Freiset-zungsrichtlinie. Wenn Sie sich verantwortlich um dieGentechnik bemühen wollen, dann können Sie nichtgleich zu Anfang die Sicherheitsstandards herabsetzen.Vielmehr muss innerhalb dieser strengen Sicherheitsstan-dards überprüft werden, was machbar ist. Zudem bleibtdie Frage, ob die Verbraucher diese Produkte wollen odernicht. Sie dürfen die Zustimmung der Verbraucher nichteinfach voraussetzen und, bloß um die Durchsetzbarkeitzu erreichen, gleich auf der ersten Stufe die Sicherheits-kriterien absenken.Weil Sie immer darauf pochen, die Partei der Wirt-schaft zu sein, sage ich Ihnen eines: Schauen Sie sich ein-mal um und Sie werden erkennen, dass Sie wahrlich vollim Trend liegen. Schauen Sie sich an, was die „Wirt-schaftswoche“ über die grüne Gentechnik schreibt, wie esan der Börse aussieht, was die Firmen Monsanto undAventis mit ihren Gentechniksparten machen.
– Das ist eine Langzeitaufgabe. Ich weiß, dass bei gen-technisch veränderten Lebensmitteln auf die zweite unddritte Generation gezielt wird. Jetzt wird versucht, dieVerbraucher dadurch zu fangen, dass man ihnen ver-spricht: Wir machen gesunde Lebensmittel, sogar Fettkönnt ihr dann ohne Probleme verzehren.Ich lasse mit mir darüber reden, was es bei der grünenGentechnik in Zukunft für Entwicklungen geben kann.Ich werde mir das anschauen. Aber erst muss der Nach-weis bestimmter Leistungen der gentechnischen Manipu-lation erbracht werden, ehe man an die Markteinführungdenken kann. Ich bin dagegen, die Verbraucher über dieoffenen Fragen hinwegzutäuschen.
Zum zweiten Thema der heutigen Debatte, der Zulas-sung von Pestiziden. Sie haben von der neuen Verbrau-cherschutzministerin, Frau Künast, ein Bekenntnis zu derFrage gefordert, ob synthetische Pflanzenschutzmittel,auch Pestizide genannt, nach wie vor Bedeutung habenwerden. Sie haben es von unserer Fraktion gehört: Natür-lich haben sie auch in Zukunft für die konventionelleLandwirtschaft Bedeutung. Natürlich wird jetzt nicht dieKeule geschwungen und versucht, alle diese Mittel vomMarkt zu drängen. Das hat die Regierung bisher nicht ge-tan und wird sie auch in Zukunft nicht tun. Aber die Zulas-sung von Pestiziden muss sich unter dem Aspekt des vor-beugenden Verbraucherschutzes bewähren. Es kanndeshalb auch in diesem Bereich nicht darum gehen, die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Steffi Lemke14729
Sicherheitskriterien herabzusetzen. Auch hier gilt: keinRisiko für die Verbraucher! Das ist die Priorität beim Ein-satz von Pestiziden.Ihnen scheint es – so lese ich es aus Ihrem Antrag he-raus, aber ich vermute, dies ist insgesamt die Leitlinie Ih-rer Politik – ausschließlich darum zu gehen, möglichstviele Pestizide auf den Markt zu bringen bzw. möglichstviele dort zu halten. Für dieses Ziel wollen Sie möglichstniedrige Zulassungskriterien festlegen.
Eine verantwortungsbewusste Politik muss sich bei derZulassung von Pestiziden folgenden Anforderungen stel-len, und zwar in der Reihenfolge, in der ich sie vortrage:Erstens. Sie muss die Sicherheit für Verbraucher, Anwen-der und Umwelt garantieren. Die Sicherheit muss an ers-ter Stelle stehen. Zweitens. Sie muss transparent und über-prüfbar sein. Drittens. Sie muss den neuesten Stand derTechnik gewährleisten. Viertens. Sie muss anwendungs-bezogen und problemgerecht sein. Das ist das Ziel derBundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktio-nen beim Einsatz von Pestiziden.Die Vorwürfe, die Sie im Zusammenhang mit der Har-monisierung auf europäischer Ebene bei der Lückenindi-kation erheben, weise ich zurück. Wir haben dieHarmonisierungsbestrebungen auf europäischer Ebenevorangetrieben, um die im Übrigen auch von der OECDanerkannten Kriterien, die wir in Deutschland für dieZulassung haben, zu verankern. Auch haben wir dafürSorge getragen, dass dort, wo eine Lücke zu entstehendrohte, diese kurzfristig und sicherheitsorientiert ge-schlossen werden konnte.Das wird auch weiterhin die Prämisse unseres Han-delns sein, was aber nicht dazu führen darf, dass wir im-mer mehr Anträge auf vereinfachte Genehmigung nach§ 18 des Pflanzenschutzgesetzes mit der Begründung be-kommen, es liege eine Lückenindikation vor, und damitdas reguläre Zulassungsverfahren unterlaufen wird. DieseEntwicklung will ich nicht haben; das Ausnahmeverfah-ren darf nicht zur Regel werden. Wir werden uns auchweiterhin am vorsorgenden Verbraucherschutz orientie-ren.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Innovationspotenzialmoderner Technologien ... erhalten“ – und dann noch fürden Mittelstand! –, das klingt eigentlich sehr gut. Den-noch ist der Antrag der F.D.P. nur ein weiterer Baustein Ih-rer Lobbypolitik für die Gentechnik: eine Technik, dieweder dem Mittelstand noch den Landwirten etwas bietenkann, geschweige denn den Hunger in Teilen der Weltwirklich lindert. Sie ist auch alles andere als der Nach-haltigkeit verpflichtet, wie die F.D.P. vorgibt. Wir solltenuns irgendwann einmal wieder über Nachhaltigkeitsre-geln unterhalten; offensichtlich ist das schon zu lange her.Wer profitiert von der gentechnischen Pflanzenzüch-tung? Schauen wir in die USA: Diese Technologie imAgro-Business führt zu Kartellbildungen und Fusionen.
Sie führt zu einer immensen Beschleunigung der Ausbil-dung monokapitalistischer Strukturen und begünstigteben nicht den Mittelstand.
Saatguthersteller wie Monsanto verkaufen ihre eigenenHerbizide und Pestizide. Die Bauern sind nicht nur beimSaatgut, sondern auch bei den Giften von einem Konzernabhängig. Das soll marktwirtschaftlich sein? Herr Hirche,Sie fragen, wem es nützt? Zumindest bestimmt den Groß-konzernen.Doch wirklich entscheidend für die PDS sind die Risi-ken dieser Technologien, die im Gegensatz zu anderen inkürzester Zeit in alle Natur- und Lebensbereiche eingrei-fen.
Angesichts des BSE-Dilemmas sollten wir aufmerksamsein. Wir haben hier eine Verantwortung für die Verbrau-cher und auch für die Landwirte. Prozesse auf der Basisgentechnisch veränderter Organismen bzw. deren Trans-gene sind bei einer Freisetzung in die Umwelt in der Re-gel irreversibel, nicht rückholbar. Das kann man gar nichtoft genug sagen, auch wenn es immer wieder anders dar-gestellt wird.
Angesichts dessen ist es besonders erschreckend, dass beider Gentechnik weltweit gerade einmal 1 Prozent für dieRisikoforschung ausgegeben wird. Dazu habe ich vonIhnen leider nichts gehört.Die einseitig motivierte Pflanzen- und Tierzüchtungführt zu einer weiteren Sortenverarmung und baut, solltendie Länder des Südens überhaupt das Saatgut bezahlenkönnen, die Abhängigkeiten der Dritten Welt von den In-dustriestaaten aus. Was den Hunger angeht, so haben wirweltweit eine Überproduktion von Nahrungsmitteln undtrotzdem sterben täglich Kinder an Hunger. Vielleicht hatdies auch etwas mit Verteilung und nicht nur mit Techno-logie zu tun.Im Hinblick auf die Harmonisierung des Pflanzen-schutzrechtes in der EU kann ich für die PDS nur wie-derholen: F.D.P. und CDU/CSU tun so, als hänge vomEinsatz von Pflanzenschutzmitteln das Wohl und Weheder Landwirtschaft ab. Dabei ist es noch nicht so langeher, dass landwirtschaftliche Produktion auch ohne dieVielzahl dieser Mittel möglich war; in vielen Ländern istdies noch immer möglich.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Steffi Lemke14730
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHOerleiden jährlich Millionen Menschen schwere Pestizid-vergiftungen. Mindestens 40 000 Fälle verlaufen tödlich.
– Daran kommen Sie nicht vorbei. Noch heute verkaufenPharmakonzerne, zum Beispiel die Firma Bayer, Wirk-stoffe, die von der WHO als „extrem gefährlich“ bezeich-net werden.Eine Harmonisierung der entsprechenden Gesetzenach unten, wie es die Anträge fordern, kommt deshalbfür die PDS nicht in Frage.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Gustav Herzog für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Als die F.D.P. Anfang des ver-
gangenen Jahres ihre Anfrage eingereicht hat, war das
allgemeine Lamentieren über die ungleichen Wettbe-
werbsbedingungen, die schleppenden Zulassungen und
die angeblich und zum Teil auch tatsächlich vorhandene
Bedrohung durch fehlende Pflanzenschutzmittel noch
groß.
Es ist still geworden in diesem Bereich und das liegt
nicht nur daran – wie sicherlich gleich jemand einwenden
wird –, dass wir vor der viel größeren Herausforderung
BSE stehen, sondern auch daran, dass ein großer Teil des
Zulassungsstaus abgebaut werden konnte.
Die konzertierten Bemühungen der letzten zwei Jahre
haben Erfolg gezeigt. Daher von dieser Stelle aus ein
herzlicher Dank an die beteiligten Ministerien, den Be-
rufsstand, die Industrie, die Kolleginnen und Kollegen im
Ausschuss – auch wir haben Druck gemacht – und vor al-
len Dingen an die Bundesregierung.
Die Bundesregierung hat noch im Herbst 2000 ein Me-
morandum über die Gleichwertigkeit der Wettbewerbs-
bedingungen im Bereich Pflanzenschutzmittel in Brüssel
vorgelegt, da sich die Prüfung von Altwirkstoffen durch
die EU extrem verzögert hatte. Nicht zuletzt ging es auch
oft wegen von der Industrie unvollständig vorgelegter Un-
terlagen nicht voran. Das Memorandum ist bei allen an-
deren Mitgliedstaaten auf große Zustimmung gestoßen
und wir sind gespannt auf den Bericht, den die Kommis-
sion in wenigen Monaten vorlegen muss.
Im Grunde genommen könnte man die heutige Debatte
also weitestgehend als Schnee von gestern bezeichnen.
Sie bietet aber eine gute Gelegenheit für einen grundsätz-
lichen Gedankenaustausch über den Pflanzenschutz. Die
von CDU/CSU und F.D.P. getragene Bundesregierung
hatte Anfang der 90er-Jahre eine Studie über Nutzen und
Kosten des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln in Auf-
trag gegeben, die aber, nachdem sie 1997 vorgelegt wor-
den war, still und heimlich in der Schublade verschwun-
den ist. Ihre Ergebnisse waren nämlich für den
chemischen Pflanzenschutz so unerwartet heikel, dass
man eine Diskussion über den prinzipiellen volkswirt-
schaftlichen Nutzen von Pflanzenschutzmitteln befürch-
tete.
Professor Hermann Waibel musste damals Prügel ein-
stecken, weil er anregte, die deutsche Pflanzenschutzpo-
litik angesichts des zwar positiven, aber doch recht be-
grenzten volkswirtschaftlichen Nutzens des Einsatzes von
Pflanzenschutzmitteln grundsätzlich zu überdenken, weil
er ermittelt hatte, dass der Einsatz chemischer Pflanzen-
schutzmittel in den weltweit wichtigsten Kulturen über-
schätzt wird und weil er empfahl, den Einsatz ökonomischer
Instrumente wie einer Steuer auf Pflanzenschutzmittel zu
erwägen. Eine solche Abgabe wird bereits in Frankreich
und Dänemark erhoben und Großbritannien steht nach
meinen Erkenntnissen kurz vor einer Einführung.
Jetzt ist es Zeit, Studien wie diese hervorzuholen und
den Pflanzenschutz daraufhin abzuklopfen, wie Gedan-
ken an eine ganzheitliche Vorsorge, einen umfassenden
Verbraucherschutz und eine umweltfreundliche Wirt-
schaftsweise im gesamten Wirtschaften Eingang finden
können. Ich bin mir sicher, dass der Pflanzenschutz prin-
zipiell sinnvoll ist. Ich sehe allerdings die Notwendigkeit,
noch stärker als bisher die Bedeutung des chemischen
Pflanzenschutzes zurückzudrängen. Er ist ein Bestandteil
integrierten Wirtschaftens, sollte aber auf Dauer seine
führende Stellung verlieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Herzog,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Nein, es tut mir Leid. Es hatbereits einige Verzögerungen gegeben. Zudem wartetmein Flugzeug nicht, wohl aber zu Hause die Familie.
Es gibt genügend praxisreife Ergebnisse, die beweisen,dass es sehr oft auch ohne Chemie geht.Ich bestreite nicht, Herr Heinrich, dass besonders dieHersteller von Pflanzenschutzmitteln eine Menge Arbeitund Geld in die Entwicklung von Wirkstoffen stecken, umdiese umweltschonender und anwenderfreundlicher zumachen. Ich sehe auch die Bemühungen vieler Landwirte,Winzer und Gärtner, wirklich nach den Prinzipien des in-tegrierten Anbaus zu arbeiten.Trotzdem werden noch heute 120 bis 180 Milli-onen DM pro Jahr aufgewendet, um Pflanzenschutzmit-telrückstände aus dem Trinkwasser zu entfernen. Nachdem Prinzip „Das Bessere ist der Feind des Guten“ wirdsich auch der Pflanzenschutz einer eingehenden Neube-wertung zu unterziehen haben.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Eva Bulling-Schröter14731
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu den Überweisungen und Abstimmun-
gen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/2297 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Drucksa-
che 14/3713. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3096 mit dem
Titel „Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf nationa-
ler und EU-Ebene beschleunigen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/3298 mit dem Titel „Wettbe-
werbsnachteile durch unterschiedliche Zulassungspraxis
von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie den Zu-
satzpunkt 9 auf:
17. Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Bartholomäus Kalb,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages
– Drucksache 14/4938 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gerhard Schüßler, Dr. Hermann Otto
Solms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
– Drucksache 14/5233 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die
CDU/CSU ist der Kollege Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! In der heutigen Sitzung bera-ten wir über den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages undden F.D.P.-Antrag zur Abschaffung der Trinkgeldbesteue-rung – ein Ziel, zwei Wege. Wenn man die Berichterstat-tung in der heutigen „BZ“ liest, stellt man fest: Offen-sichtlich handelt es sich um einen Sachverhalt mit kleinerUrsache, aber großer Wirkung.Zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen inDeutschland brauchen wir dringend eine Umorientierungzu einer Dienstleistungsmentalität und eine Qualitätsof-fensive im Bereich Tourismus. Als Tourismuspolitikerfreue ich mich besonders, dass Praktiker vor Ort wie derDEHOGA Lippe, der DEHOGA-Landesverband Baden-Württemberg und der Tourismusverband meines Wahl-kreises sich bereits seit zwei Jahren dem Thema Qua-litätssteigerung widmen.Eine Hürde auf diesem Weg zum DienstleistungslandDeutschland stellt die gegenwärtige Besteuerung vonTrinkgeldern dar, die alle im Dienstleistungssektor Täti-gen wie beispielsweise Kellner, Pagen, Taxifahrer,Krankenschwestern und Friseure gleichermaßen betrifft.Jeder, der die Situation im Pflegebereich und im Gaststät-tengewerbe kennt, weiß von den Schwierigkeiten,hochmotivierte und besonders freundliche dienstleis-tungsbereite Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden,die bereit sind, insbesondere außerhalb der üblichen Ge-schäftszeiten sowie an Wochenenden und Feiertagen zuarbeiten.
Eine wichtige Voraussetzung für die Motivation undFreundlichkeit des Personals sind Trinkgelder der Gästeals Anerkennung für besonders qualifizierten Service undals Ausdruck der Zufriedenheit mit der in Anspruch ge-nommenen Dienstleistung.Mit unserem Gesetzentwurf zur Anhebung des Freibe-trages für Trinkgelder von derzeit 2 400DM auf 4 200DMwollen wir in einem ersten Schritt die Rahmenbedingungenfür den Dienstleistungssektor verbessern. Die zu erwar-tenden Steuermindereinnahmen von schätzungsweise130Millionen DM werden durch die positiven Auswirkun-gen für den Tourismusstandort Deutschland mehr als wett-gemacht. Motivierte Mitarbeiter und zufriedene Gäste ausdem In- und Ausland sind das beste Marketingkonzept fürdas Urlaubs- und Reiseland Deutschland.Obwohl auch in anderen Dienstleistungsberufen Trink-gelder die Regel sind, werden sie in erster Linie im gas-tronomischen Bereich besteuert. Die Gastronomie ist aberwie kaum eine andere Branche zur Erbringung ihrer Leis-tung auf motiviertes, gut geschultes und freundliches Per-sonal angewiesen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 200114732
Diese Benachteiligung im Vergleich zu anderen Branchenhängt damit zusammen, dass es hier leichter ist, die Höhedes Trinkgeldes in Abhängigkeit vom Umsatz zu schät-zen.Mit unserem Antrag bewegen wir uns im Gegensatz zuder Forderung der F.D.P. nach einer völligen Abschaffungder Trinkgeldbesteuerung im derzeitig rechtlich gültigenRahmen.
Die CDU/CSU steht in dieser Frage für seriöse Politik innachvollziehbaren Schritten und für realistische Ziele mitAugenmaß.
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bun-desfinanzhofes sind Trinkgelder nun einmal Arbeitslohnund damit der Lohnsteuer unterworfen. Demnach handeltes sich hier nicht um eine vom Dienstverhältnis losgelösteund aus rein privaten Motiven erfolgte Schenkung, son-dern um ein zusätzliches Entgelt für die entgegengenom-mene Dienstleistung.
Außerdem hat meines Erachtens die Besteuerung vonTrinkgeldern möglicherweise auch eine Schutzfunktionfür die Arbeitnehmer im Gastgewerbe. Denn sonst wärezu befürchten, dass Arbeitgeber mit dem Hinweis auf dieSteuerfreiheit der Trinkgeldzahlungen ihre eigenen Lohn-zahlungen reduzieren.
Ich möchte aus der „Welt“ von heute Folgendes zitie-ren – die Überschrift des Artikels lautet „Trinkgeld-Ter-ror“ –:Es ist bekannt, dass gerade in den USA das Service-personal in erster Linie vom Trinkgeld lebt – derStundenlohn ist bescheiden, soziale Absicherung zu-dem oft ein Fremdwort.
Es darf nicht so kommen, dass die flexiblen Lohnbe-standteile die Tariflöhne ersetzen.Weiterhin gebe ich zu bedenken, dass nominale Wertevon Zeit zu Zeit der Realität angepasst werden müssen.Die Anpassung des seit 1990 unveränderten Freibetragesist angesichts des Anstiegs des allgemeinen Preisniveausmehr als überfällig. Schließlich und endlich könnte mitder Anhebung des Freibetrages ein Beitrag zur Verwal-tungsvereinfachung geleistet werden; denn damit würdeverhindert, dass auch bei geringen TrinkgeldbeträgenSteuerfestsetzungen notwendig werden. Trotz dieserschlüssigen Argumente für die Anhebung des Freibetra-ges wurden bisher alle Vorstöße in diese Richtung von derrot-grünen Koalition niedergestimmt.Wie stimmt diese Haltung mit Ihren Forderungen vomMai 1998 überein, sehr geehrte Kollegen der SPD? Nichtnur die SPD-Tourismuspolitiker, sondern auch der dama-lige Ministerpräsident Gerhard Schröder versprachen imletzten Bundestagswahlkampf vollmundig sogar die völ-lige Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung. Frau Kolle-gin Irber wiederholte diese Forderung erst heute in der„B.Z.“.
Ich habe in den letzten Wochen die 16 Finanzministeraller deutschen Bundesländer angeschrieben. Von keinemeinzigen Finanzminister habe ich die Zusage bekommen,sich dafür einsetzen zu wollen, die Trinkgeldbesteuerungvoll und ganz abzuschaffen.
– Herr Milbradt hat mir geantwortet, als er noch im Amtwar. Aber auch von den anderen Finanzministern, etwavon Herrn Aller aus Niedersachsen, habe ich Antwortenbekommen, die in dieselbe Richtung gingen.
Aber es ist wie so häufig bei rot-grüner Regierungspo-litik: Der Berg kreißt und gebiert nicht einmal eine Maus. –Wo waren Sie bei der Abstimmung über die beiden An-träge, die der Kollege Burgbacher hier für seine Fraktionim letzten Jahr eingebracht hat? Wir haben zu diesemThema schon zwei Debatten geführt, am 2. Dezember1999 und am 29. Juni 2000. Die heutige Debatte ist alsodie dritte. Lieber Kollege Burgbacher, ich gehe davon aus,dass diese Debatte bis zum Ende der Legislaturperiodegarantiert nicht die letzte sein wird.Jetzt ein Appell an meine Nachredner und die zu er-wartenden Zwischenrufer: Verschonen Sie mich mitIhren Hinweisen auf die angeblich so große Entlastungder Arbeitnehmer durch die Steuerreform. Nach Berech-nungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirt-schaftsforschung, RWI, haben die privaten Haushaltedurch die gestiegenen Energiekosten und die Ökosteuervom zweiten Quartal 1998 bis zum zweiten Quartal 2000einen Kaufkraftverlust von 37,3 Milliarden DM hinneh-men müssen. Die von der Bundesregierung genannteEntlastung der privaten Haushalte im Zuge der Steuerre-form 2000 von rund 33 Milliarden DM ist also bereitsmehr als verfrühstückt. Bei anhaltend hohen Energie-kosten wird die von der Bundesregierung angegebeneGesamtentlastung von 65 Milliarden DM im Zeitraumvon 1998 bis 2005 noch nicht einmal die höheren Ener-giekosten kompensieren.Neben dieser Problematik hat sich die Bundesregie-rung aber auch einige gezielte Belastungen für die Unter-nehmen des Gastgewerbes einfallen lassen. Erinnert seihier nur an die Neuregelung der geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnisse und an die Abschaffung des Vorsteuer-abzugs bei geschäftlich veranlasster Bewirtung und Be-herbergung. Die Auswirkungen dieser Politik sindoffensichtlich.Wir freuen uns mit der Branche über die positiveEntwicklung der Gäste- und Übernachtungszahlen im
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Klaus Brähmig14733
Deutschlandtourismus: Erstmals mehr als 300 Milli-onen Übernachtungen sind eine beeindruckende Leis-tung. Aber schlägt sich das auch auf die Umsatzentwick-lung und den Arbeitsmarkt nieder? Fehlanzeige! 1999sank der Umsatz im Gastgewerbe um 1,4 Prozent und imZeitraum von Januar bis Oktober 2000 stieg er lediglichum 1,1 Prozent. Durchgängig negativ sind die Werte fürdie Gastronomie, deren Umsatz 1999 um 2,7 Prozent undin den ersten Monaten des letzten Jahres um weitere1,8 Prozent sank. Es überrascht deshalb nicht, dass dieZahl der Beschäftigten im Gastgewerbe 1999 um 6,4 Pro-zent und von Januar bis Oktober 2000 noch einmal um2,7 Prozent zurückging.Das von der rot-grünen Bundesregierung suggerierteBild der Boombranche Tourismus steht also auf tönernenFüßen. Zu einer ehrlichen volkswirtschaftlichen Analysegehören eben alle Zahlen und nicht nur eine selektive Be-trachtung. Wenn die Bundesregierung, wie Bundeskanz-ler Gerhard Schröder formuliert hat, ihren Erfolg wirklichdaran messen lassen will, inwieweit die Arbeitslosigkeitabgebaut wird, dann können wir für den arbeitsplatzin-tensiven Tourismus feststellen: Durchgefallen – nicht ver-setzungsfähig!Meine Damen und Herren, die Unterstützung unseresGesetzentwurfes wäre ein kleiner, aber nicht zu unter-schätzender Baustein, ein auch psychologisch wichtigesSignal für einen Neuanfang in Ihrer bisher verfehlten Tou-rismuspolitik.
– Da schauen wir einmal.
Das von Ihnen auf unseren Vorschlag hin ausgerufeneJahr des Tourismus in Deutschland braucht – dieser Appellrichtet sich an die die Regierung tragenden Fraktionen –positive Impulse. Wir wollten keine Showveranstaltungfür Grüßonkel, sondern eine langfristige Umorientierungzu einer stärkeren Dienstleistungsmentalität.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Simone Violka.
Sehr geehrte Damen und Her-ren Abgeordnete! Sehr geehrte Frau Präsidentin! DieCDU/CSU fordert eine Erhöhung des Freibetrages von2 400 DM auf 4 200 DM und will damit unter dem Deck-mantel „Vereinfachung des Steuerrechts“ mal wiederAusnahmetatbestände schaffen. Die F.D.P. setzt sogarnoch einen drauf und fordert die komplette Abschaffungder Besteuerung von Trinkgeldern.
Doch solche Ausnahmetatbestände und Steuervergünsti-gungen für eine einzelne Gruppe müssen immer die an-deren Steuerzahler tragen. Was das heißt, haben die Men-schen in diesem Land vor 1998 deutlich gespürt, indemsie jährlich einen größeren Fehlbetrag in ihrer Geldbörsefeststellen mussten. Während der Klein- und Mittelver-diener ohne Kompromisse seine Steuern zahlen musste,erlaubten es in Ihrer Regierungszeit über 70 Sondertatbe-stände dem Großverdiener, seine Steuerschuld oftmals bisauf Null zu reduzieren. Das war eines der ersten Dinge,die wir nach der Regierungsübernahme abgeschafft ha-ben, und das war gut und richtig so.
Das hatten wir den Bürgerinnen und Bürger vor der Wahlversprochen und wir haben es auch gehalten, weil wir eswie die Menschen, die wir als Abgeordnete vertreten, alsungerecht empfinden, wenn sich nicht alle nach ihrerLeistungsfähigkeit an dem Steueraufkommen beteiligen.Natürlich wurde das dicke Paket der Steuervergünsti-gungen nicht auf einmal von Ihnen beschlossen. Da wares mal die eine Gruppe, für die eine Ausnahmeregelunggemacht wurde, mal die andere. Ich will nicht verneinen,dass einige dieser Regelungen den neuen Ländern zugutekommen sollten und auch einige Zeit zugute kamen. Aberirgendwann wurden aus Aufbauprogrammen nur nochSteuersparprogramme und Sie haben durch Ihr Nichts-da-gegen-Tun bestätigt, dass Sie darüber entweder denÜberblick verloren hatten oder aber dass diese Modelle,von denen nur Großverdiener profitierten, gewollt warenund geduldet wurden. Wir haben damit Schluss gemacht.Anstatt mal die eine, mal die andere Gruppe zu bedie-nen, haben wir eine Steuerreform auf den Weg gebracht,von der alle profitieren.
Wir haben den Eingangssteuersatz für das Jahr 2001 auf19,9 Prozent gesenkt. Nur einmal zur Erinnerung: Im Jahr1998 lag er noch bei 25,9 Prozent. Das ist eine Absenkungum 6 Prozentpunkte. Bis zum Jahr 2005 wird der Ein-gangssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt.
Damit entlasten wir vor allem die kleinen Einkommen uminsgesamt 10,9 Prozentpunkte. Das ist eine Leistung, diedie Menschen spürbar entlastet. Das haben Sie währendIhrer Regierungszeit nie fertig gebracht,
im Gegenteil: Sie haben hier im Bundestag auch noch ge-gen diese Steuerreform gestimmt. Zum Glück haben ei-nige Ihrer Parteifreunde in den Ländern die politischeBrille abgesetzt und im Bundesrat für diese Steuerreformgestimmt, weil sie erkannt haben, wie richtig und wichtigsie für unser Land ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Klaus Brähmig14734
Aber die Senkung der Steuern ist ja nicht unsere ein-zige Leistung. Zusätzlich steigt noch der Steuerfreibetragauf gut 14 000 DM in diesem Jahr und auf gut 15 000 DMim Jahr 2005. Das bringt auch den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern im Gastronomiegewerbe mehr Geldins Portemonnaie.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Violka,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Simone Violka [SPD]: Ja.
– Ich muss nicht zum Flieger.
Ich auch nicht, ich fahre
mit der Bahn.
– Dafür bin ich nicht auch noch zuständig, Kollege
Ramsauer.
Frau Kollegin Violka, sehe ich die Sache richtig, dass
es in der SPD-Fraktion zwischen der Arbeitsgruppe
Finanzen – Sie halten ja hier ein leidenschaftliches Plä-
doyer dafür, den Freibetrag bei 2 400 DM zu belassen –
und der Arbeitsgruppe Tourismus möglicherweise noch
Abstimmungsbedarf gibt? Ihre Kollegin und meine ge-
schätzte Mitstreiterin im Tourismusausschuss hat sich
nämlich heute in der „B. Z.“ – ich habe darauf hingewie-
sen – ganz klar und eindeutig für die Abschaffung der
Trinkgeldbesteuerung ausgesprochen. Könnten Sie viel-
leicht dazu ganz kurz Stellung beziehen?
Selbstverständlich kann ichIhnen dazu etwas sagen. Ich kann zwar nicht die Aussageeines Mitglieds unserer Fraktion bewerten und ich kenneauch nicht das Originalinterview. Wir alle wissen, wie diePresse mit so etwas umgeht. Aber ich kann Ihnen eines sa-gen: Wenn Sie uns nicht so riesengroße Haushaltslöcherhinterlassen hätten, dann hätten wir in der Steuerfragenatürlich einen größeren Spielraum.
– Das meine ich ganz ernst.
Die Steuerreform, die wir verabschiedet haben, wurdeerst möglich, weil wir die Basis der Steuerzahler verbrei-tert haben und insbesondere Steuervergünstigungen weit-gehend abgeschafft haben. Genau das Gegenteil wollenSie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen. Aber von diesemWeg der politischen Vernunft werden wir nicht abwei-chen. Darin stimmen uns im Übrigen auch die Wirt-schaftssachverständigen zu. Wenn Sie uns aus parteipo-litischen Gründen nicht glauben, dann glauben Siewenigstens den Sachverständigen. Auf diese beziehen Siesich doch sonst so gern, wenn deren Aussage in IhremSinne ist.Übrigens bin ich bei der Vorbereitung meiner Rede aufeinen interessanten Ausspruch gestoßen, den ich Ihnennicht vorenthalten will. Unter der Überschrift „Anforde-rungen an eine moderne Steuerreform“ konnte ich lesen:Gleichbehandlung aller EinkunftsartenEin modernes Steuerrecht basiert auf einem synthe-tischen Einkommensbegriff: Alle Einkünfte werdenin einer Summe zusammengefasst und auf dieses Ge-samteinkommen ein einheitlicher Tarif angewendet.
– Ein Trinkgeld ist keine Schenkung. Das haben wir unsin mehreren Debatten eigentlich schon angehört. Im Übri-gen ist dieses Zitat nachzulesen bei: www.cdu.de.Das widerspricht nun völlig dem von Ihnen heute ein-gebrachten Gesetzentwurf. Im Übrigen haben auch diePetersberger Beschlüsse den Abbau von Steuervergüns-tigungen verlangt. Aber daran können Sie sich anschei-nend nicht mehr erinnern. Das ist eigentlich nicht ver-wunderlich, wenn man die in Ihren Reihen grassierendenErinnerungslücken bedenkt, die vor allem immer dannvorhanden sind, wenn es um Geld geht.Nun wieder zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Sieführen in der Begründung aus, die nicht gerade hoch ent-lohnten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus demGastronomiegewerbe sollen nicht durch eine zu rigideBesteuerung geschwächt werden. Ich gebe Ihnen natür-lich Recht, dass die Entlohnung dort nicht üppig ist, unteranderem auch deshalb, weil sich der Arbeitgeber auf dieTrinkgelder beruft, die den Lohn ergänzen.Aber ich verstehe nicht, weshalb man dieses Phäno-men über Steuervergünstigungen lösen soll. Erklären Siedoch bitte einmal einer Angestellten, die an einer Tank-stelle in Schichten arbeitet, auch am Wochenende arbei-ten muss, auch den ganzen Tag auf den Beinen ist, auchfreundlich sein muss und dafür 12 DM die Stunde be-kommt, warum sie ihren Lohn voll versteuern muss undjemand anderes, der ähnliche Arbeitsbedingungen in derGastronomie hat, für einen Teil seines Einkommens keineSteuern zahlen soll.Ein weiterer Grund, den Sie für Ihre Gesetzesinitiativeangegeben haben, ist die Motivation für gute Leistungendes Personals. Ich frage Sie: Wollen Sie allen Ernstes Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch einzelne Steu-erentlastungen motivieren? In meinen Augen ist das völ-lig absurd; denn dann müssen Sie auch meiner als Beispiel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Simone Violka14735
dienenden Tankstellenangestellten eine Steuerbefreiungeinräumen. Auch sie hat keine angemessene Entlohnungund seit mindestens drei Jahren keinen Pfennig Lohn-erhöhung gehabt. Oder wollen Sie vielleicht sagen, dassdiese Angestellte nicht motiviert ist, nicht freundlich ist?
Aber das ist nur ein Beispiel. Es ist richtig, die Bezah-lung im Dienstleistungsgewerbe ist größtenteils ziemlichgering. Aber für eine angemessene Bezahlung sind immernoch die Tarifpartner verantwortlich. Wer wie Sie dieSteuerpolitik zur Nachbesserung magerer Tarifab-schlüsse einsetzen will, bürdet dem Steuerzahler eineLast auf, die eigentlich die Branche bzw. der Arbeitgeberzu tragen hat.Mir ist im Übrigen auch nicht klar, wie die CDU mitihrer Begründung ausgerechnet auf eine Erhöhung desFreibetrages von 75 Prozent kommt. In meinen Augen istdas eine völlig willkürliche Festlegung, der jeglicheGrundlage fehlt. 1990 wurde der bis dahin geltende Frei-betrag auf 2 400 DM angehoben. Jetzt, zehn Jahre später,soll er um 75 Prozent erhöht werden. Als Begründungführen Sie an, aufgrund des zwischenzeitlich angestiege-nen Preisniveaus sei eine Anpassung vernünftig. WollenSie damit ausdrücken, dass die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer jetzt 75 Prozent mehr Trinkgeld als 1990bekommen? Aber wäre es, wenn Sie der Meinung sind,das Preisniveau sei so stark gestiegen, nicht logischer, da-von auszugehen, dass weniger Trinkgelder gezahlt wer-den, weil die Gäste weniger Geld zur Verfügung haben?In diesem Fall wäre die bisherige Freigrenze mehr als aus-reichend.
– Die Realität ist so, dass ich sehr lange gekellnert habe.Ich weiß, was an Trinkgeldern gezahlt wird. Ich habe dasTrinkgeld übrigens versteuert; denn ich habe das meinemArbeitgeber vorher mitgeteilt.
– Das können Sie nachprüfen. Ich habe das sogar nachSteuerklasse 6 versteuert.Es tut mir Leid, aber ich kann Ihre Argumente über-haupt nicht nachvollziehen und erst recht nicht teilen. ImGegenteil: Die jetzige Regelung der Besteuerung hatdurchaus auch problematische Seiten. Sie ist nämlich des-halb problematisch, weil diese Gruppe von Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmern gegenüber anderen Beschäf-tigten bei der Versteuerung des Einkommens schon jetztbevorzugt wird. Ein Freibetrag von 2 400 DM ist fürviele Menschen in meiner Region schon ein Monatslohn.Allerdings kann ich diese Bevorzugung vertreten, weilmit der Abschaffung des Freibetrages der bürokratischeAufwand natürlich immens ansteigen würde. Das ist aberauch das einzige Argument, das ich gelten lasse.Ein weiteres gewichtiges Argument steht Ihrem Ent-wurf entgegen. Unsere Aufgabe ist es auch, den Steuer-zahler gesetzlich vor steuerlichen Missbräuchen zu schüt-zen. Bei einem sehr großen Freibetrag oder bei überhauptkeiner Besteuerung besteht nämlich die Gefahr, dassLohnbestandteile plötzlich in Trinkgelder umgewandeltwerden. Die gegenwärtige Freigrenze von 2 400DM dientauch als Barriere gegen nicht mehr zu kontrollierendeSteueroasen.
Auch wenn Sie es anders sehen: Wir nehmen die Belangedes Gastgewerbes sehr ernst.
Ihre Zwischenrufe und Ihre Unruhe zeigen mir, dass ichden Nerv getroffen habe.
Wir haben die Tourismusbranche und das Gastrono-miegewerbe mit mehr Haushaltsmitteln ausgestattet, alsSie das je gewollt haben. Im Bundeshaushalt 2000 stiegendie Zuwendungen an die deutsche Zentrale für Tourismusauf rund 42 Millionen DM. Das ist ein Anstieg um 6 Pro-zent.
Ich komme zu dem Wachstum, das Sie angesprochenhaben. Ich erkenne nicht, wo das geltende Recht demWachstum der Branche im Weg stehen soll. Gestern standin der Zeitung ein interessanter Artikel mit der Überschrift„Gastronomie fordert die Green Card für Kellner“. Tatsa-che ist aber, dass es nicht zu wenig Stellen, sondern zu we-nig Kellner gibt. Da fragt man sich natürlich, woran dasliegt.
In diesem Artikel äußert sich ein Kellner, der einen Jobsucht – ich zitiere –:Vor zehn Jahren waren die Arbeitsbedingungen bes-ser. Da wurde gut gezahlt, Festanstellung statt Sai-sonarbeit. Heute werden wegen der Billiglöhne lie-ber zehn schlechte Leute als eine gute Fachkrafteingestellt.Genau das ist der Kern des Problems; denn auch vorzehn Jahren wurde das Trinkgeld schon besteuert.
Man ist in der Gastronomie davon abgekommen, seineMitarbeiter zu halten. Man ist zu 630-Mark-Jobs und zurScheinselbstständigkeit übergegangen. Wir wissen dochselbst, welche seltsamen Blüten dieses Vorgehen getrie-ben hat: Ein Kellner wurde nicht mehr als Kellner be-schäftigt, sondern als Selbstständiger. Er musste dasEssen an der Theke kaufen und an den Gast weiterver-kaufen. Er hatte keinen Handlungsspielraum. Wenn derUmsatz nicht stimmte, bekam er den Vertrag nicht ver-längert. Wo, bitte schön, ist das sozial? Dieser Zustand istnicht hinzunehmen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Simone Violka14736
Solche Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, entspre-chende gesetzliche Regelungen zu haben. Wenn wir diesegesetzlichen Regelungen nicht mehr hätten, würde esviele Ausnahmetatbestände geben, sodass jeder Zweite– unabhängig von dem Dienstleistungsgewerbe – zurHälfte vom Trinkgeld leben müsste, egal, woher eskommt, und nur noch die Hälfte seines Einkommens ver-steuert.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Zunächst einmal möchte ich feststel-len, dass es schon seltsam ist, dass bei dieser Debatte we-der ein Vertreter des BMF noch ein Vertreter des BMI an-wesend ist. Diese Tatsache mag jeder werten, wie er will.
Die F.D.P.-Fraktion hat im Oktober 1999 einen erstenGesetzentwurf zur Abschaffung der Trinkgeldbe-steuerung eingebracht. Er wurde im Juni 2000 ab-gelehnt. Wir sind an der Sache weiter drangeblieben,weil es um die kleinen Leute geht – es geht nicht umGroßverdiener, wie Sie gerade gesagt haben –, für diedies ein Problem ist.
Wir begrüßen es deshalb, dass dieses Thema heute wiederzur Sprache kommt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,Sie fordern die Erhöhung des Freibetrags. Sie bezifferndie Steuermindereinnahmen auf 130 Millionen DM. Ichbitte Sie sehr, das zu begründen. Ich bin der Sache nach-gegangen: Diese Zahl ist wirklich durch nichts zu be-gründen. Wir gehen von einem Nettoaufkommen der ge-samten Trinkgeldbesteuerung in Höhe von 3 Millionenbis 4 Millionen DM aus. Woher Sie die Zahl von 130 Mil-lionen DM haben, weiß ich nicht.Sie verfolgen einen falschen Ansatz in dieser Sache.
Trinkgelder sind für den Dienstleistenden nicht einkalku-lierbar. Er hat keinen Anspruch darauf; sie kommen nichtvom Arbeitgeber. Deshalb handelt es sich nicht um Ein-kommen aus unselbstständiger Tätigkeit, sondern um eineSchenkung des Gastes an den Dienstleistenden. Das soll-ten wir alle hier begreifen.
Wenn Sie jetzt den Freibetrag erhöhen würden, würdenSie überhaupt nichts an dem bürokratischen Aufwand derAufzeichnungspflicht ändern. Sie würden nichts daranändern, dass Trinkgelder geschätzt werden. So läuft es inder Praxis. Das Finanzamt schätzt, ob das Trinkgeld2 Prozent, 3 Prozent oder mehr des Umsatzes ausmacht;das geht bis 3,8 Prozent. Dementsprechend fällt der Steu-erbescheid aus.Dann geht es weiter. Das Finanzamt gibt dieses Ergeb-nis der Betriebsprüfung an die BfA weiter. Die BfAschickt einen Bescheid über die Sozialbeiträge an denWirt. Ich sage Ihnen: Das geht in Dimensionen – ich kannIhnen das gerne zeigen – bis 40 000 oder 50 000 DM. Daskann doch nicht sein. Dass diese Zahlen auf Schätzungenberuhen, ist doch kein System, das die Menschen über-haupt noch nachvollziehen können.
Außerdem geht das gegen die Gleichmäßigkeit derBesteuerung, weil nur ein Bereich herausgegriffen wird,nämlich Hotels und Gastronomie. In den meisten anderenBereichen werden die Trinkgelder überhaupt nicht be-steuert. Auch aus dem Grunde geht das nicht.Konsequenz daraus: Dann müssen wir halt – zu denEinwürfen vorhin kann ich nur sagen: wir sind doch derGesetzgeber – Gesetze ändern.
Deshalb haben wir unseren Gesetzentwurf eingebracht, indem steht: Freiwillig gezahlte Trinkgelder gehören nichtzu den Einkünften aus nicht selbstständiger Arbeit. –Dann ist alles klar.
Das können wir als Gesetzgeber natürlich machen.Jetzt lassen Sie mich noch zu der rot-grünen Mehrheitim Hause kommen. Sie haben das Jahr des Tourismusausgerufen. Sie haben versprochen, gerade die Träger desTourismus, Hotels und Gastronomie, zu unterstützen. Washaben Sie gemacht?
Sie haben die 0,5-Promille-Grenze eingeführt, ein Schlagfür die Gastronomie.
– Sie haben halt keine Ahnung, um was es geht, das ist dasProblem; deshalb lachen Sie.
Sie haben eine Änderung des Gaststättengesetzes vorge-legt. Wir haben das diskutiert. Danach gehen Jugendlichemit einem Taschenrechner in die Kneipe und rechnen aus,welches Getränk billiger ist. Das ist völlig realitätsfremd.Außerdem novellieren Sie das Betriebsverfassungsgesetzusw. In der Summe sind das Benachteiligungen von Ho-tels und Gastronomie.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Simone Violka14737
Deshalb sage ich: Überwinden Sie sich doch endlich,an dieser Stelle etwas Positives zu tun.
Frau Irber hat es gefordert, Herr Hilsberg hat es gefor-dert, andere haben es öffentlich gefordert und Sie hattenes in Ihrem Wahlprogramm.
– Aber Sie hatten es in einem Parteiprogramm. – Derheutige Bundeskanzler hat dem DEHOGA nachweis-lich – ich kann Ihnen das mit Datum sagen – verspro-chen: Wenn wir an die Regierung kommen, schaffen wirdie Trinkgeldbesteuerung ab.Halten Sie endlich Ihre Versprechen!
Ich verspreche Ihnen: Wir lassen nicht locker und wirwerden erreichen, dass ein Beitrag dazu geleistet wird,dass das Lächeln im Service zurückkommt.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Christine Scheel für die Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist schon überraschend, welche neuen Erkenntnisse manan einem Freitagmittag noch gewinnen kann, zum Bei-spiel dass die F.D.P.-Fraktion zur Rettung der gastrono-mischen Wirtschaft mit der Forderung nach der Aufhe-bung der Promillegrenze einen Appell für Alkohol amSteuer formuliert. Das ist unglaublich.
Wenn das soziale Gewissen der Nation hier meint, dieKoalition auffordern zu müssen, eine Aufhebung der Be-steuerung vorzunehmen, dann frage ich mich, warum Siedas eigentlich nicht in den 29 Jahren Ihrer Regierungstä-tigkeit und auch nicht im Zusammenhang mit der Er-höhung der Freigrenze 1990 getan haben. Sie haben sichanscheinend bei Ihrem Koalitionspartner zum Glücknicht durchsetzen können.
Auch das haben wir heute eindeutig feststellen kön-nen.Es ist vollkommen klar, dass man sich als Oppositionhinstellen und, damit es nicht langweilig wird, hartnäckigzwei Varianten fahren kann.
Die eine Variante ist die der F.D.P. – darauf komme ichnoch zurück –: generelle Freistellung. Auch die Varianteder CDU/CSU-Fraktion ist interessant. Der letzte Antraghat sich auf einen Trinkgeldfreibetrag von 3 600 DM be-zogen, mittlerweile ist sie bei 4 200 DM gelandet. Dasging relativ schnell, nämlich innerhalb eines halben Jah-res.
Wir wollen dem Hotel- und Gaststättengewerbe un-ter die Arme greifen.
Das nehmen wir sehr Ernst. Deshalb sage ich dies ganzbewusst. Das ist sehr sinnvoll. Wir wissen, dass gerade inGebieten, in denen andere Unternehmen wenig Chancenhaben, durch das Hotel- und Gaststättengewerbe Arbeits-plätze und Einkommen gesichert sind und dass wir es hiermit einer sehr arbeitsintensiven Branche zu tun haben, dieauch ausbildet. Das muss man an dieser Stelle auch ein-mal erwähnen. Nach Angaben des DEHOGA waren indiesem Bereich im Jahre 1999 gut 10 Prozent mehr Aus-zubildende beschäftigt als 1998.
Es lohnt sich also, diese Branche, die – das muss man auchklar sehen – immer wichtiger wird, zu unterstützen.
Frau Violka hat angesprochen, wie sich der Haushaltentwickelt hat. Wenn man die jetzigen Zahlen mit denenvergleicht, die im Haushalt verankert waren, als wir dieRegierung übernommen haben, so zeigt sich, dass wir denBundeshaushalt im Bereich des Fremdenverkehrs mit45,5 Milliarden DM unterstützen. Im Vergleich von 1998mit dem Jahr 2001 ergibt sich somit eine 8-prozentigehöhere Unterstützung für die Tourismusbranche gegen-über Ihrer Regierungszeit – und dies trotz des Sparpro-gramms, das wir fahren. Dies ist eine ganz klare und gutepolitische Entscheidung gewesen.
Die Frage, die sich heute stellt, lautet: Ist die Steuer-befreiung für Trinkgelder oder ein höherer Freibeitrag einsinnvoller Weg? Bei der Beantwortung des ersten Teilsder Frage ist interessant zu wissen, was Bayern flankie-rend zum Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion in denBundesrat eingebracht hat. Dort hat StaatsministerBockelt am 1. Dezember gesagt, warum die Steuerfreiheitfür Trinkgelder kein guter Weg ist. Er hat ausgeführt, der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Ernst Burgbacher14738
Fantasie, neue Direktentlohnungssysteme durch den Kun-den zu schaffen, wären dann keine Grenzen gesetzt. Daswürde im Endeffekt auch für die dort beschäftigten Ar-beitnehmer mehr Unsicherheit schaffen und noch mehrDruck auf die ohnehin niedrigen Löhne ausüben.Ich kann nur sagen: Da hat er Recht. Auch die CSU hatmanchmal Recht.
Ich frage mich, ob auch den Antragstellern der F.D.P.bewusst ist, was sie tun, wenn sie, was die Steuerbefrei-ung betrifft, ein Scheunentor aufmachen. Wir werdenAuswirkungen auf die Steuereinnahmen zu verzeichnenhaben.Sie haben es ja gerade selbst angesprochen, HerrBurgbacher. Man kann nicht sagen, welche Zahlen zu-grunde gelegt werden müssen. Es gibt nur spekulativeÜberlegungen. Es liegen keine konkreten Berechnungenvor. Das heißt, Sie gehen damit ein Wagnis ein,
und zwar nicht nur, was die Steuereinnahmen betrifft, son-dern auch im Hinblick auf die Sozialversicherungssys-teme. Denn wenn das Ganze ausufert, sodass in allenmöglichen Berichten Steuerfreistellung gewährt wird,dann führt dies natürlich auch dazu, dass die Bereitschaft,in die Sozialkasse einzuzahlen, nicht mehr gegeben ist.
Somit bekämen wir nicht nur bei der Steuer ein Problem,sondern auch bei der Sozialkasse, was sich zulasten derAllgemeinheit durch höhere Sozialversicherungsbeiträgebemerkbar machen würde.
Auch das wollen wir nicht.Diese Regierung hat einen ganz klaren Weg beschrit-ten. Dieser klare Weg heißt: Senkung der Steuersätze, Ver-breiterung der Bemessungsgrundlage, Senkung der Sozi-alversicherungsbeiträge und damit höhere Nettolöhne.Diesen Weg wollen wir weitergehen. Wir haben einen sta-bilen Haushalt. Wir werden ihn auch weiterhin stabil hal-ten. Deswegen ist es auch gut, dass der Weg in dieserForm gegangen wird. Dabei können wir mit Ihren Lobby-ismus-Forderungen relativ wenig anfangen.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist für die PDS-Franktion die Kollegin
Dr. Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich möchte mich der Kritik an derRegierung durchaus anschließen. Auch ich finde, dassman freitags um 15 Uhr noch Verantwortung auf der Re-gierungsbank wahrnehmen könnte, sollte und müsste.
Nach meiner Auffassung lag Herr Brähmig mit seinerBegründung des Gesetzesentwurfes nicht ganz richtig.Herr Brähmig, Sie haben festgestellt, dass in bestimmtenDienstleistungssektoren vielfach hoch motivierte Leutefehlen. Beispiel Pizzadienst in Leipzig: Dieser sucht stän-dig Leute. 10 DM brutto Stundenlohn, Einsatz des eige-nen Autos mit eigenem Benzin. Sie können sich vorstel-len, was dabei netto herauskommt.Dies bezeichnet ganz klar, worin das Hauptproblemliegt: Dies sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse, vielzu niedrig bezahlt und zumeist noch mit sehr belastendenArbeitszeiten verbunden.
Daran hat sich leider in den letzten Jahren nichts geändert,auch unter Ihrer Regierung nicht. Das Ganze fällt zwar un-ter die Tarifautonomie, trotzdem liegt es in der Verantwor-tung der Politik, hier Druck auszuüben, zumindest Zeichenzu setzten. Die Vorschläge in Richtung Steuerpolitik sinddurchaus angebracht.Vor diesem Hintergrund möchte ich betonen, dass wirals PDS-Fraktion beiden Initiativen sehr positiv gegen-überstehen. Wir werden uns in den Ausschussberatungenpositionieren und entscheiden, ob wir dem F.D.P.-Vor-schlag zur Steuerfreiheit oder dem CDU/CSU-Vorschlagzur Anhebung der Freigrenzen zustimmen.
Ich will es ganz klar sagen: Beides wird nicht das Problemlösen, aber beides sind steuerpolitische Maßnahmen, diezumindest eine gewisse Entlastung für die Beschäftigtenbringen können.Der Regierungskoalition möchte ich eine Frage stellen:Steuersystematisch ist es sicher richtig – das meinen auchwir –, dass jede Mark Einkommen besteuert werden muss,wenn ich dann aber Ihre Reform zur Einkommens- undUnternehmensbesteuerung heranziehe, frage ich mich:Wo ist die Logik geblieben? Was ist denn mit den Ver-äußerungsgewinnen, wenn man Beteiligungen verkauftund dabei Gewinne erzielt? Diese besteuern Sie nicht. Siehaben in der Unternehmensteuerreform Steuergeschenkein Höhe von 14 Milliarden DM jährlich verteilt. Ich fragemich wirklich, warum wir ausgerechnet wieder bei denNiedriglohnbezieherinnen und -beziehern mit einer kon-sequenten Umsetzung der Steuersystematik anfangensollten. Das findet nicht unsere Zustimmung.
Unter steuersystematischem Aspekt kommt noch eineshinzu: Das BVG hat bereits 1991 festgestellt, dasseine Steuerbelastung, wenn sie offensichtlich nur mehrden erklärungsbereiten Steuerbürger betrifft, weil dieErhebungsregelungen für Steuern auf Trinkgelder die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Christine Scheel14739
Kontrolle der Steuererklärung weitgehend ausschließen– hier ist es ja so, weil man die Höhe der Trinkgelder frei-willig angibt bzw. sie nach dem Umsatz geschätzt wer-den –, das Gebot der steuerlichen Lastengleichheit ver-letzt. Ich denke, das ist ein hinreichendes Argument dafür,dass wir über den Vorschlag der F.D.P. sehr gründlichnachdenken müssen.In diesem Sinne ist es notwendig, dass wir als Politi-kerinnen und Politiker zeigen, dass uns das bestehendeProblem nicht gleichgültig ist. Sie hatten schon bei derSteuerreform nicht den Mut, das steuerfreie Existenzmi-nimum wenigstens in notwendiger Höhe anzuheben – daswären mindestens 17 000 DM pro Jahr –, deshalb ist esnotwendig, jetzt über die vorgelegten Initiativen positivzu diskutieren. Wir als PDS sind aufgeschlossen und hof-fen, dass die Ausschussberatungen etwas bringen werden.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/4938 und 14/5233 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Klaus Grehn, Petra Bläss, Dr. Ruth
Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
– Drucksachen 14/3381, 14/4695 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Lange
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
SPD-Fraktion ist die Kollegin Brigitte Lange.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Bevor wir in die Debatte selbst ein-
steigen, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung. Pro Asyl
hat es für richtig gehalten, ein Fax in die Welt zu schicken,
auf dem die Tatsache, dass die Reden heute möglicher-
weise zu Protokoll gegeben werden, so charakterisiert
wird, als seien wir zu feige, hier Stellung zu beziehen.
Ich schätze die Arbeit von Pro Asyl wie die Arbeit aller
Organisationen, die in diesem und anderen sozialen Be-
reichen arbeiten, sehr hoch ein. Sie tragen eine Menge
dazu bei, um Flüchtlingen durch den Alltag zu helfen.
Trotzdem bitte ich Herrn Classen, seine Bemerkung, die
mich verletzt, noch einmal zu überdenken. Ich will auch
erklären, warum. Das ist nämlich etwas, was Herr Classen
möglicherweise nicht gewusst hat.
Der Ältestenrat hat die Diskussion dieses Tagesord-
nungspunktes für Donnerstag, 19 Uhr, angesetzt. Zu dieser
Zeit geben wir normalerweise keine Reden zu Protokoll.
Frau Maier hat mir erklärt, dass am Donnerstagabend um
19 Uhr das Fernsehen nicht mehr übertragen würde, aber
am Freitagnachmittag. Das heißt, nicht wir haben diesen
Tagesordnungspunkt an das Ende einer Plenarwoche ge-
setzt, sondern es geschah auf Wunsch der PDS.
Bevor Sie jetzt rufen: „Sehr richtig“, erlauben Sie mir,
dass ich darauf aufmerksam mache, dass zumindest die
Mitglieder großer Fraktionen am Freitagabend sehr oft in
ihrem Wahlkreis erwartet werden. Wir gehen zu wesent-
lich mehr Veranstaltungen hin, als Sie es müssen.
Deswegen ist die Unterstellung, wir wären zu feige, hier-
her zu gehen, einfach dreist, zumal man unsere Stellung-
nahmen ja auch nachlesen kann. So viel zu dieser Thema-
tik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lange,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Ja.
Frau Kollegin, würden Siebitte zur Kenntnis nehmen, dass wir, die PDS – auchseitdem wir Fraktionsstatus haben – seit Beginn dieserLegislaturperiode noch nicht einen einzigen Tages-ordnungspunkt bestimmen konnten, der nicht donners-tags der letzte oder vorletzte oder freitags der letzte war?
Würden Sie bitte weiter zur Kenntnis nehmen, dass sichin den letzten Sitzungswochen alle anderen Fraktionendieses Hauses der Diskussion unserer Anträge nicht ge-stellt haben, egal ob dieser letzte oder vorletzte Tagesord-nungspunkt am Donnerstag um 23 Uhr oder um 21 Uhr,wie in der letzten Sitzungswoche, stattfand? Das heißt,dass wir nichts anderes zu erwarten haben, sondern dasses bei Ihnen tatsächlich Usus geworden ist, dass man sichder Diskussion nicht mehr stellt.Würden Sie bitte als Drittes zur Kenntnis nehmen, dassnur aufgrund der Presseerklärung von Frau Maier – dasglaube ich schon sehr stark –, wonach Sie nicht bereitsind, sich der Diskussion zu stellen, es heute überhaupt zueiner Debatte kommt? Davon zeugt auch, dass im Verlaufder letzten halben Stunde sich ein Kollege der F.D.P. es
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Dr. Barbara Höll14740
überlegt hat und seine Rede doch nicht zu Protokoll ge-geben hat, vielmehr jetzt sprechen will.
Viertens verwahre ich mich dagegen, dass Sie unsereArbeit beurteilen und Vermutungen darüber anstellen,inwiefern wir im Wahlkreis tätig sind. Es verhält sichnämlich genau umgekehrt: Sie als eine große Fraktionkönnen sich das scheinbar leisten. Bei der Behandlungdes vorherigen Tagesordnungspunktes waren Sie ange-wiesen, Ihre Regierungsmehrheit zu sichern. Sie habenvorher gefragt, ob wir tatsächlich mit Ihnen stimmen.Denn von uns waren wesentlich mehr Abgeordnete da.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Höll,
ich bitte Sie, eine Frage zu stellen.
Würden Sie mir Recht ge-
ben, dass es Ihnen nicht zusteht, zu bewerten, wie oft wir
im Wahlkreis sind? Dadurch dass wir weniger Abgeord-
nete sind, wird jeder Einzelne von uns wahrscheinlich
wesentlich häufiger zu Wahlkreisterminen gebeten.
Ich danke Ihnen.
Sie können sich gern hinset-zen; kein Problem.
Zu Ihrer letzten Einschätzung: Ich habe es nicht be-wertet, sondern habe etwas berichtet, was einfach so ist.
Ob das gut oder schlecht ist, habe ich nicht gesagt.Zu dem ersten Punkt, den Sie, Frau Dr. Höll, ange-führt haben: Ich habe zu denen gehört, die gesagt haben:Ich bin nicht einverstanden damit, dass dann, wenn die-ser Punkt von uns an das Ende der Tagesordnung gelegtwird, die Reden zu Protokoll gegeben werden sollen.Was ich nicht wusste, war, dass dieser Tagesordnungs-punkt auf Ihren Wunsch mit der Begründung „Das Fern-sehen ist dann da“ auf diesen Zeitpunkt gelegt wordenist.Ich sage Ihnen auch Folgendes: Wenn alle Kollegin-nen und Kollegen nach dem Prinzip „Wir reden nur nochdann, wenn das Fernsehen da ist“ verfahren würden,dann wäre die Tagesordnung nicht mehr zu gestalten.
– Das haben wir nicht nötig, weil genügend Material vonuns dazu vorliegt.Nun zum Thema. Der Vorschlag der PDS, das Asyl-bewerberleistungsgesetz abzuschaffen und die Leistun-gen aus der Sozialhilfe zu bezahlen, mag sympathischklingen, ist aber – wie Sie wissen und wie wir wissen –unrealistisch.
Die PDS weiß es und provoziert damit die Frage nach derSeriosität ihrer Absicht.
Knapp 4 Milliarden DM gaben 1999 die Länder fürrund 429 000 Flüchtlinge aus, die für eine begrenzte Zeithier leben. Übertrüge man diese Leistungen in die Sozial-hilfe, wären es circa 20 Prozent mehr, also ungefähr4,8 Milliarden DM, die nach dem Vorschlag der PDS vomBund übernommen werden sollten.Die Fraktion weiß, dass weder der Bundeshaushaltnoch der Haushalt der Bundesländer diese Mehrbelas-tung verkraften könnten, auf absehbare Zeit selbst dannnicht, wenn sich der seit 1996 abzeichnende Trend ab-nehmender Empfängerzahlen und Ausgaben fortsetzensollte.
Waren es 1996 noch fast 490 000 Menschen, die Leis-tungen in Höhe von 5,45 Milliarden DM bezogen, sankdie Anzahl der Empfänger 1999 um rund 61 000 und dieAusgaben um 1,5 Milliarden DM. Die Zahl der insgesamtbei uns lebenden Flüchtlinge ist seit 1993 kontinuierlichzurückgegangen. So auch die Zahl der Asylbewerber: ImJahr 2000 haben wir 78 564 Personen in Deutschland ge-habt, die Asyl beantragten. Das sind 17,4 Prozent wenigerals 1999. Das ist der geringste Stand seit 1987.Auf die Einwohnerzahl der Länder bezogen, hat Berlindie höchsten Ausgaben zu verkraften. Bei den absolutenAusgaben steht Nordrhein-Westfalen an der Spitze.
– Ich denke, dass es ganz wichtig ist, eine Vorstellung vonden genauen Zahlen und auch von den bestehenden Pro-blemen zu haben.Deutschland war bisher das Hauptzielland in Europa.Im ersten Halbjahr 2000 löste Großbritannien Deutsch-land ab. Setzt man hingegen die Zahl der Asylanträge inRelation zur Bevölkerungszahl, nimmt Deutschland unter14 europäischen Ländern den zehnten Platz ein.
Von 1998 bis 1999 haben in Deutschland, in den Nieder-landen und in Schweden die Asylbewerberzugänge inabsoluten Zahlen abgenommen, in allen übrigen europä-ischen Staaten jedoch zugenommen. Der prozentuale An-teil an der Gesamtzahl aller in den Staaten gestellten An-träge sank jedoch 1999 in Dänemark, Deutschland, in denNiederlanden und der Schweiz.Sie werden jetzt vielleicht verstehen, dass ich einfacheinmal darstellen wollte, zu welcher unterschiedlichenEntwicklung in den einzelnen europäischen Ländern es
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Dr. Barbara Höll14741
trotz sehr differenzierter sozialer Leistungen kommt. Manmuss sich fragen, ob man die ab- oder zunehmende Zahlder Asylanträge von der Höhe des Geldbetrages für deneinzelnen Asylbewerber abhängig machen kann. Offen-sichtlich nicht.Mit dem Ziel der Abschreckung wurden 1993 zweiExistenzminima etabliert. Das war damals sehr umstrit-ten und das bleibt umstritten. Die Entscheidung fiel un-ter dem Druck hoher Asylbewerberzahlen und der damitwachsenden Belastung der Kommunen. Trotzdem, someinen wir, bleibt sie problematisch.Leider hat sich aber die Belastung der Kommunennoch nicht so reduziert, dass wir eine Änderung mit Aus-sicht auf Erfolg herbeiführen könnten. Der im Bundesratmit knapper Mehrheit abgelehnte Antrag Hessens, die imVerhältnis zur Sozialhilfe nach dem Asylbewerberleis-tungsgesetz geringeren Leistungen nicht mehr auf dreiJahre zu begrenzen, sondern auf Dauer beizubehalten,macht den Widerstand deutlich. Das heißt, man wolltedauerhaft, also für die ganze Zeit, geringere Leistungenzahlen.Wir merken, dass die Bundesregierung mit dem Vor-schlag, die monatlichen Grundleistungsbeträge zu er-höhen, nicht gerade offene Türen – dies gilt auch für dieLänder – einrennt. Der monatliche Grundleistungsbe-trag für den Haushaltsvorstand in Höhe von 360 DM istseit Einführung des Gesetzes im Jahre 1993 unverändertgeblieben. Von diesem Betrag muss der Bedarf an Er-nährung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege undGebrauchsgütern des Haushalts bestritten werden.
Hierzu kommen 80 DM Taschengeld. Einen Ausgleich fürPreissteigerungen hat es bisher nicht gegeben.Die Differenz zu den Sozialhilfeleistungen, die 1993auf 20 Prozent festgelegt wurde, hat sich damit deutlichvergrößert. Eine Anhebung der Leistungssätze ist deshalbdringend notwendig. Ein Verordnungsentwurf des Bun-desarbeitsministeriums liegt nun auf dem Tisch. Er befin-det sich aber noch in der Abstimmung. Ich hoffe, dassdiese bald abgeschlossen ist und die Erhöhung in Krafttreten kann.
Die Gewährung von Sachleistungen – etwa in Formvon Essenspaketen oder in Form des Einkaufes mit Chip-karten in ausgewählten Läden – ist von vielen Seiten alsentwürdigend kritisiert worden. Dem stimme ich zu. EineVersorgung mit Essenspaketen ist nicht zumutbar und beidezentraler Unterbringung, die möglich ist, überflüssig.Problematisch ist es auch, wenn Flüchtlinge durch dieseGutscheine gezwungen werden, in ausgewählten Lädenzum Teil teurer als woanders einzukaufen. Es ist auchnicht mit der Würde des Menschen vereinbar, Leute indieser Weise zu degradieren. Dies ist auch nicht notwen-dig.Ich begrüße es deshalb, dass viele Städte und Kreise in-zwischen wieder von der Sach- zur Geldleistung überge-gangen sind. In Berlin macht man dies übrigens nicht.Aber daran, dass die genannten Probleme in anderen Län-dern nicht auftreten, können Sie sehen, dass dies nicht andem Leistungsgesetz selber, sondern an der Handhabungdurch die Länder liegt. Ich hoffe, dass die anderen Länderhier nachziehen. Das Gesetz lässt ihnen diesen Spielraum.Sie können Geldleistungen gewähren und damit den Leis-tungsempfängern eine größere Selbstbestimmung ermög-lichen. Außerdem ist dies nach Erfahrung der Kommunendas kostengünstigere Verfahren.
Probleme bereitet die medizinische Versorgung.Schon bei der Einführung des Asylbewerberleistungsge-setzes 1993 war die Beschränkung der medizinischenBehandlung auf akute Erkrankungen und Schmerzzu-stände ein wesentlicher Kritikpunkt vor allen Dingen derÄrzte, die einen anderen Eid geschworen haben als den,nicht zu behandeln. Arznei- und Verbandmittel sowiesonstige zur Genesung, zur Besserung oder Linderungvon Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlicheLeistungen sind zu gewähren. Es besteht ein Rechtsan-spruch auf Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfun-gen.Dennoch führt die Regelung im Asylbewerberleis-tungsgesetz in der Praxis oft dazu, dass chronisch Krankendie Behandlung versagt wird oder zunächst vor Gericht ge-klärt werden muss, ob eine Leistung zur Sicherung der Ge-sundheit unerlässlich ist, obwohl die Verweigerung vonLeistungen bei chronischen Erkrankungen durch den Ge-setzeswortlaut in der Regel nicht gedeckt ist. Grundsätzlichhaben Flüchtlinge wie jeder andere das Recht auf eine an-gemessene gesundheitliche Versorgung. Ich glaube, dassmüssen wir noch eindeutiger regeln.
Eine entscheidende Verbesserung der Lebenssituationerwarten wir von der Aufhebung des Arbeitsverbots,das die Vorgängerregierung zu verantworten hat.
Zu Jahresbeginn wurde es per Rechtsverordnung aufge-hoben. Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge habennun nach einer Wartezeit von 12 Monaten Zugang zumArbeitsmarkt.
Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge können ohne War-tezeit erwerbstätig sein. Als Voraussetzung für die Ge-währung einer Arbeitserlaubnis wird geprüft, ob keindeutscher Arbeitnehmer und kein Arbeitnehmer aus derEU für den Arbeitsplatz zur Verfügung steht.Traumatisierte Flüchtlinge erhalten eine Arbeitserlaub-nis ohne eine solche Vorrangprüfung. Diese sinnvolle,bisher nur für Bosnier geltende Regelung wurde auf trau-matisierte Flüchtlinge unabhängig von ihrem Herkunfts-land ausgeweitet. Damit bekommen Asylbewerber, Ge-duldete und Bürgerkriegsflüchtlinge die Möglichkeit,ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.Auf diesem Weg der Verbesserungen wollen wir wei-tergehen und wenn es nicht anders durchsetzbar ist, auchin kleinsten Schritten. Sozialpolitiker haben nie Probleme
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Brigitte Lange14742
damit, etwas zu verbessern. Aber Sozialpolitiker könnensich auch nicht den Himmel blau malen, sondern müssenmit dem umgehen, was vorhanden ist. Sie dürfen nur nichtin ihrem Bemühen nachlassen. Aber radikale Forderun-gen haben noch nie weitergeführt.
Im Vergleich zu den anderen europäischen Ländernliegen wir mit unseren Sozialleistungen weder soschlecht, dass wir in Panik verfallen müssten,
noch für unser Selbstverständnis so gut, dass nichts zuverbessern wäre:
im Leistungsrecht, aber auch im Ausländerrecht, das im-mer undurchschaubarer geregelt worden ist.Ein Sozialrecht kann klare Regelungen im Ausländer-recht nicht ersetzen. Ergänzend brauchen wir verständli-che und handhabbare Regelungen, die Möglichkeiten derZuwanderung außerhalb des Asylrechts eröffnen. DieZuwanderungskommission wird hierzu Vorschläge ma-chen.Unabdingbare Voraussetzung für alle Vorhaben ist,dass wir so viele Menschen wie möglich in unserem Landauf diesem Weg mitnehmen und begleiten können. Eswäre erfreulich, wenn es uns allen gemeinsam, abseitsvom Wahlkampfgetöse, mit Herz und Verstand, gelingenkönnte.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Im Jahre 1993 hatder Deutsche Bundestag das jetzige Asylbewerberleis-tungsgesetz beschlossen. Es war im Grunde ein Teil desAsylkompromisses aus dem Jahre 1992,
bei dem wir uns darauf verständigt haben, in einem eige-nen, aus der Sozialhilfe ausgegliederten LeistungsgesetzAsylbewerbern, die keinen dauerhaften Aufenthalt in derBundesrepublik Deutschland haben, eine gegenüber derSozialhilfe abgesenkte Unterstützung zukommen zu las-sen.Aus damaliger Sicht – die Gründe gelten heute auchnoch – war das deswegen notwendig, weil wir die Attrak-tivität Deutschlands für politisch oder religiös nicht ver-folgte Menschen ein Stück weit abschwächen wollten.Ein weiterer Grund war – und auch diesen Grund gibt esheute noch –, dass in den Ländern, aus denen Menschengern flüchten möchten und Hoffnungen damit verbinden,in Europa oder speziell in Deutschland leben zu können,unsägliche Schlepperorganisationen tätig sind, die denMenschen die Möglichkeit eröffnen, nach Deutschland zukommen, und anschließend die Sozialhilfe, die sie erhal-ten, abzocken, um damit schließlich die Kosten für neuenMenschenhandel zu finanzieren.
Ein Großteil der Unterstützungsleistungen, die wir anAsylbewerber ausgezahlt haben, ist am Ende in die Händedieser kriminellen Banden gelangt.
So habe ich – ich bin seit vielen Jahren kommunalpoli-tisch tätig – oft gedacht: Warum sind diese Unterstützun-gen eigentlich nicht bei den Kindern der Asylbewerberangekommen, sondern in ganz anderen Kanälen gelan-det? Auch aus diesen Gedanken heraus ist das Prinzip derSachleistungen entwickelt worden: weil diese Bandeneben auf diese Sachleistungen keinen Zugriff haben.
Deswegen bin ich durchaus der Meinung, dass der Vor-rang von Sachleistungen vor Geldleistungen seine Be-gründung haben kann.Ein weiterer Bereich im Asylbewerberleistungsgesetzist die Einschränkung der Krankenbehandlung auf dasmedizinisch Notwendige und Unumgängliche. Auf deranderen Seite muss man auch sehen, dass damit nicht nurakute Schmerzbehandlungen gemeint sind. Sie wissen,dass Schwangere, Mütter und Kinder alle Leistungen, diezu diesem Bereich gehören, in vollem Umfang erhalten.Ich glaube auch, dass die örtlichen Sozialämter und dieörtlichen Ärzte ganz gut und verantwortungsbewusst mitdieser Einschränkung umgehen können. Aber ich seheauch nicht ein, dass über die Steuergelder unserer Bür-gerinnen und Bürger ein Mensch, der vorübergehend indie Bundesrepublik Deutschland gekommen ist und fürden sehr oft die Tatbestände des Asylrechts nicht zutref-fen – nach wie vor sind die Ablehnungsquoten nach denVerfahren relativ hoch –, hier eine vollständige Zahner-satzbehandlung bekommt, für die andere Menschen inDeutschland 10 000 DM oder mehr auf den Tisch legenmüssen.
Ich finde, dass diese Eingrenzungen verantwortbarsind und dass sie nichts Inhumanes an sich haben. Zurzeiterfahre ich – das mag Rot-Grün nicht gern hören –, dassviele Ärzte im Übrigen viel lieber Sozialhilfeempfängerbehandeln als gesetzlich Versicherte, weil die Leistungenfür Sozialhilfebewerber nicht, aber die Leistungen für diegesetzlich Versicherten sehr wohl im Budget sind. Alsomeine ich, dass wir diesen Bereich weiterhin gut verant-worten können.Man sollte als letzten Punkt nicht vergessen, dass fürMenschen, die noch kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Brigitte Lange14743
Deutschland haben, auch keine Integrationsleistungenbezahlt werden. Der Integration müssen wir uns erst dannstellen, wenn feststeht, dass diese Menschen ein dauer-haftes Aufenthaltsrecht bei uns haben. Deswegen würdenwir, so finde ich, Asylbewerbern viel mehr helfen, wennwir den Zeitraum, in dem wir feststellen, ob sie dauerhaftin der Bundesrepublik Deutschland bleiben können, we-sentlich verkürzen könnten.
Es liegt nicht nur an unseren Behörden, sondern auchdaran, dass in der Praxis viele Menschen, die zu unskommen, diese Verfahren aufhalten, indem sie alles tun,damit ihre Identität möglichst lange für unsere Behördennicht nachvollziehbar bleibt. Wir würden für die Asylbe-werber am meisten erreichen, wenn wir diese Verfahren be-schleunigen. Dann könnten sie früher höhere Sozialleistun-gen sowie Integrationsleistungen beziehen, bei uns arbei-ten und damit selber für ihren Lebensunterhalt sorgen undsich in Deutschland frei bewegen.Die Position der Union bleibt in der Asylpolitik die-selbe, wie sie seit vielen Jahren ist und wie sie sich aus un-serem Menschenbild heraus darstellt: Wir haben vor je-dem Menschen Respekt. Jeden Menschen muss manvernünftig behandeln, egal welche Hautfarbe er hat, wel-cher Religion er angehört oder welche politische Über-zeugung er vertritt. Jeder Mensch soll hier ein normalesLeben führen können. Aber wir müssen diejenigen, dieohne Notwendigkeit zu uns kommen, in ihre Heimatlän-der zurückführen, um letzten Endes für die Integrationwirklich verfolgter Menschen eine positive Stimmung inunserem Land zu erhalten.Wenn wir über die Integration von politisch Verfolgtenhinaus in der Bundesrepublik Deutschland Einwande-rung haben wollen, dann ist das Asylgesetz dafür dasfalsche Gesetz. Dafür muss man andere Kriterien zu-grunde legen.
Diese müssen sich danach richten, was unser Arbeits-markt an Zuwanderung braucht. Diese dürfen aber nichtmit den Problemen, die mit dem Asylgesetz zusammen-hängen, wie der Verschleierung der Identität, verbundenwerden. Deswegen steht meine Partei nach wie vor zudem Asylbewerberleistungsgesetz, wie es damals von unsmitentwickelt worden ist und das ein Bestandteil desAsylkompromisses von 1992 im Deutschen Bundestagwar. Ich glaube, wir sind gut beraten, daran festzuhalten.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt die KolleginMarieluise Beck.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Laumann, wenn Sie dieGeschichte bemühen, erzählen Sie bitte die ganze Wahr-heit. Ein Teil des Asylkompromisses war zwar dasAsylbewerberleistungsgesetz, aber ein anderer Teil wardie Festlegung im Asylverfahrensgesetz, dass den Asyl-bewerbern nach drei Monaten der Arbeitsmarkt offen ste-hen sollte. Von diesem Teil des Asylkompromisses habenSie sich mit dem Clever-Erlass verabschiedet. Sie habenalso mit dieser Überschreitung der gesetzlich eigentlichvorgesehenen Vorgabe das, was nach dem Asylkompro-miss möglich sein sollte – dass sich auch ein Asylbewer-ber um Arbeit bemüht –, zunichte gemacht. Ich möchteSie bitten, dies auch zu nennen.
Sie haben die Verfahrensdauer angesprochen. Ichteile Ihre Auffassung, dass wir vor allen Dingen genauhinschauen sollten, wer auf Dauer hier ist, also integriertwerden und damit Zugang zum Arbeitsmarkt und allenSozialleistungen haben sollte, und wer nicht. Aber derEindruck, der in der politischen Debatte im Augenblickimmer erweckt wird, die Verfahren seien so unendlichlang, ist falsch. Die Verfahren beim Bundesamt fürFlüchtlinge dauern im Schnitt nicht länger als sechs Mo-nate. Das Problem liegt bei den Verwaltungsgerichten.Das allerdings ist Ländersache. Wenn es Länder gibt, beidenen die Verfahren im Schnitt 29 Monate dauern, weildie Verwaltungsgerichte nicht ausreichend mit Richternbestückt sind, dann ist das ein Problem, das sich die Jus-tizminister der Länder zu Herzen nehmen müssen. Das istaber keine Frage des Verfahrens. Auch das sollten Sie sichnoch einmal genau anschauen.
Nun zum Thema von heute. Es gibt Anträge der Oppo-sition, denen man ihre Berechtigung kaum absprechenkann. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es in der Frageder Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzesbeim Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen Diffe-renzen gab. Wir wissen aber, dass wir für eine Abschaf-fung des Asylbewerberleistungsgesetzes keine parla-mentarische Mehrheit haben und dafür auch imBundesrat keine Mehrheit finden. Insofern agieren wir ineinem ersten Schritt sehr vorsichtig und versuchen, dielange überfällige Anhebung der Sätze nach dem Asylbe-werberleistungsgesetz, bei dem sieben Jahre lang nichtspassiert ist, voranzutreiben. Es liegt jetzt ein Referenten-entwurf vor; er ist an die Länder verschickt. Ich hoffe,dass wir auch die Rückwirkung zum Januar 2001 hinbe-kommen. Das wäre dann ein winzig kleiner Schritt nachvorne.Es gibt immer zwei Fronten, an denen wir kämpfen.Das ist von der Kollegin Lange schon angesprochenworden. Es gibt von den Ländern Druck, die Bedingun-gen sogar noch zu verschlechtern. Eine große Ausei-nandersetzung wurde um die Frage geführt, ob der Drei-jahreszeitraum, nach dem die Asylbewerber regulärSozialhilfe bekommen, gestrichen werden könnte. Wirwaren froh, dass wir mit der rot-grünen Ländermehrheitdiesen Angriff abwehren konnten. Oftmals besteht ja
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Karl-Josef Laumann14744
der Erfolg der Mühsal darin, Verschlechterungen ab-gewehrt zu haben. Dies ist uns im letzten Jahr gelungen.Für mich ist der zentrale Punkt, dass wir jenseits derFrage der Abschaffung oder Beibehaltung des Asylbewer-berleistungsgesetzes Öffnungen herbeiführen, die Flücht-lingen die Chance bieten, überhaupt aus dem Geltungsbe-reich dieses Gesetzes herauszukommen. Dazu gehören dieLockerung des Arbeitsverbots – das ist nicht einfach undhart umkämpft – und die Erweiterung des Rechtes fürTraumatisierte, Zugang zum Arbeitsmarkt zu haben. Einsolches Recht bestand bisher nur für traumatisierte Bosnierund soll jetzt für traumatisierte Menschen aus allen Län-dern gelten. Dazu gehört auch die Altfallregelung und eingewisses Drücken und Schieben, damit bei der Umsetzungdurch die Länder möglichst alle Spielräume genutzt wer-den, damit so viele Menschen wie möglich ihre Existenzmit eigener Hände Arbeit sichern können.Insgesamt gehört dazu eine Neuformulierung der Inte-grationspolitik, die die Frage klärt, wer vorübergehendund wer auf Dauer hier ist. Die große Auseinandersetzungum § 53 Ausländergesetz müssen wir politisch angehen.Dabei geht es darum, dass Flüchtlinge, denen aufgrundder Europäischen Menschenrechtskonvention Schutz ge-währt werden muss, die in der Regel auf Dauer hier blei-ben, ausländerrechtlich aber trotzdem nur die Duldungbekommen und ihnen damit der Zugang zum Arbeits-markt und zu Ausbildungsgängen weitgehend versperrtist. Ich hoffe hier auf Unterstützung durch die Zuwande-rungskommission. Das Urteil des Bundesverfassungsge-richts vom August hat uns da heftig auf die Finger ge-klopft.Die Strategie, die wir politisch verfolgen, geht also inRichtung Vereinheitlichung des Flüchtlingsstatus fürdiejenigen, die nach Art. 16 a des Grundgesetzes sowie§§ 51 und 53 Ausländergesetz als schutzwürdig und daherauf Dauer hier lebend angesehen werden müssen. Wennwir diese Perspektive verfolgen und sie mit der Öffnungdes Arbeitsmarkts und anderen sozialen Zugängen zurGesellschaft verknüpfen, minimieren wir das Problem desAsylbewerberleistungsgesetzes, auch wenn wir es damitnicht beseitigen.Ich habe Ihnen das dargestellt, damit Sie sehen, entlangwelcher Vorstellungen und Paradigmen wir unsereSchritte setzen. Man muss sich ja politisch weiterbewe-gen, auch wenn man nicht ganz durchsetzen kann, wasman sich sonst wünscht.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Art. 1 unseres Grundgesetzesbesagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Dies gilt für alle Menschen, die sich in unserem Landaufhalten, egal ob Deutsche oder Nichtdeutsche. Darinsind wir uns alle hier einig.
Alle Gesetze und Regelungen müssen sich an diesemGrundsatz messen lassen. Man kann wohl so weit gehenund sagen, dass dies auch für unsere Gesetze insgesamtzutrifft, also auch, meine Damen und Herren, für dasAsylbewerberleistungsgesetz.Der für ein menschenwürdiges Leben notwendigeGrundbedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Klei-dung, Gesundheits- und Körperpflege sowie Haushalts-gegenständen ist gewährleistet. Von einer Kürzung aufnull kann daher nicht die Rede sein.Dass die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs-gesetz geringer als die Sozialhilfe nach dem Bundesso-zialhilfegesetz ausfallen, hat aber gute Gründe. Herr Kol-lege Laumann hat zu Recht darauf hingewiesen, dassdurch die Verringerung materiellerAnreize die bei Ver-abschiedung des Gesetzes im Jahre 1993 das Land über-flutende Welle der Asylbewerber etwas eingedämmt wer-den sollte. Darin war man sich in diesem Hause imGroßen und Ganzen auch einig.Dass sich die Situation nun völlig geändert haben soll,vermag zumindest ich nicht zu erkennen. Nach den neues-ten Meldungen des Bundesamtes für die Anerkennung aus-ländischer Flüchtlinge wurden für Januar 2001 7 583 An-träge gestellt. Das sind 27 Prozent mehr als im Dezember2000 und knapp 15 Prozent mehr als im Januar letzten Jah-res.Die im Gesetz vorgesehenen weiteren Absenkungenbetreffen unseres Erachtens zu Recht nur solche Men-schen, die unser Sozialsystem missbrauchen, indem siesich einer bestehenden Leistungspflicht beispielsweisedadurch entziehen, dass sie ihre Identität leugnen oderihre Papiere bewusst vernichten. Aber auch diesen Men-schen werden die Leistungen nicht auf null gekürzt. DerStaat stellt auf jeden Fall das Existenzminimum sicher. Esist im Übrigen besonders der F.D.P. zu verdanken, dassbei der letzten Novelle des Asylbewerberleistungsgeset-zes im Jahre 1998 nach langwierigen und schwierigenVerhandlungen der jetzige Gesetzestext verabschiedetwerden konnte und die vom Bundesrat angeregten res-triktiveren Regelungen verhindert werden konnten. Dasbetraf damals besonders Kriegsflüchtlinge und geduldeteAusländer.Ich möchte nicht bestreiten, dass es bei der Umsetzungdieses Gesetzes die eine oder andere Unzulänglichkeit ge-geben hat und auch heute noch gibt. Auch ich habe vonLebensmittelunverträglichkeiten, besonders bei kleinenKindern, gehört. Diese Fälle müssen natürlich dringendüberprüft werden. Wir sträuben uns nicht gänzlich dage-gen, zu prüfen, ob das Sachleistungsprinzip, zumindestteilweise, gelockert werden kann.Im Wesentlichen ließen sich die Probleme, die meistmit der Umsetzung des Gesetzes auf Länderebene zutun haben, durch eine wesentlich geringere Dauer des
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Marieluise Beck
14745
Asylverfahrens und insbesondere durch eine sofortige Er-laubnis zur Arbeitsaufnahme für Asylbewerber vom ers-ten Tag des Aufenthalts an nahezu ausschließlich lösen.In diesem Zusammenhang will ich Ihnen, Frau Beck,sagen: Die F.D.P. hat sich schon seit langem dafür einge-setzt, dass auch Asylbewerber eine Arbeitserlaubnis er-halten. Es ist nicht einzusehen, warum Asylbewerbernicht in die Lage versetzt werden sollen, ihren Bedarfdurch eigenen Verdienst oder Hinzuverdienst zu decken,um nicht an dem Tropf der Sozialleistungen hängen zumüssen. In der Tat stellt sich die Frage, ob ein solches Vor-gehen mit der Menschenwürde zu vereinbaren ist.Die Regierung – das muss ich leider feststellen – hatdas nur zum Teil eingesehen. Sie hat zwar das seit 1997geltende generelle Arbeitsverbot für Asylbewerber ge-lockert, aber es gilt immer noch eine zwölfmonatige sogenannte Wartefrist. Die muss endlich weg.
Das wäre der richtige Ansatz, Asylbewerbern, die sichhier legal aufhalten, wirklich zu helfen und Ihnen einenmenschenwürdigen Aufenthalt zu ermöglichen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Als letzte Rednerin in
dieser Debatte spricht die Kollegin Pia Maier für die PDS-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Trotz der ungewöhnlichen
Eröffnung der Debatte möchte ich an meinem ursprüngli-
chen Plan festhalten und Ihnen über die aktuelle Situation
einer zwanzigjährigen schwangeren Frau berichten, die in
Berlin in dem Flüchtlingsheim in der Fürstenwalder Allee
untergebracht ist. Ich denke, niemand wird bestreiten,
dass eine schwangere Frau ärztliche Versorgung – erst
recht, wenn sie eine Fehlgeburt hatte – benötigt.
– Sie bekommt keine ärztliche Versorgung. Das Bezirks-
amt Wedding verweigert ihr die Ausstellung eines Kran-
kenscheins und damit jegliche ärztliche Betreuung. Auch
wenn Sie, Herr Laumann, den Kopf schütteln und auch
Sie, Herr Kolb, sich bisher nicht mit der Realität in Berlin
auseinander gesetzt haben, sind solche Fälle möglich und
durch die Umsetzung des Asylbewerberleistungsgesetzes
in den Ländern gedeckt. Das hat mit Menschenwürde
nichts mehr zu tun. Auch Sie, Frau Lange, kennen solche
Fälle.
Ich weiß, dass der Text des Asylbewerberleistungsge-
setzes, wenn man sich ihn durchliest, noch sehr freundlich
klingt. Aber in Berlin wird der Passus „unabweisbare
Leistungen“ im Zweifelsfall dahin gehend interpretiert,
dass darunter nur das Rückflugticket und das Reisegeld
verstanden werden. Wenn die betroffenen Menschen die
Rückreise nicht antreten, müssen sie sich wohl als Ob-
dachlose irgendwie am Leben erhalten, bekommen aber
keinerlei Leistungen mehr. Das ist leider bittere Realität.
Mir ist durchaus bewusst, dass die Praxis in den Län-
dern unterschiedlich gehandhabt wird. Aber das Asylbe-
werberleistungsgesetz bietet den Ländern die Möglich-
keit, in der geschilderten Weise zu verfahren.
Solange das so ist, ist die Menschenwürde in diesem
Lande leider sehr gefährdet.
Auch wenn nur einige Länder so verfahren, kann das
nicht als Maßstab gelten. Das Asylbewerberleistungs-
gesetz ermöglicht dieses Verfahren. Man kann sich
selbst gegenüber nur ehrlich sein, wenn man zugibt,
dass die Menschenwürde allein durch eine Abschaffung
des Asylbewerberleistungsgesetzes gerettet werden
kann.
Frau Lange, Sie haben bis vor drei Jahren in Marburg
immer die Auffassung vertreten, das Asylbewerberleis-
tungsgesetz müsse abgeschafft werden.
Sie haben in Ihrer heutigen Rede viele gute Gründe dafür
genannt, warum dieses Gesetz die Würde eines Menschen
verletzt, sind aber am Ende zu dem Schluss gekommen:
Abschaffen können wir es leider nicht, weil – dieses Ar-
gument klingt mir noch in den Ohren – die Kommunalfi-
nanzen das leider nicht hergeben und sich die Länder des-
wegen weigern.
Frau Beck hat die politischen Zwänge, in denen Sie
sich hier befinden, wesentlich klarer und differenzierter
dargestellt. Dafür bin ich ihr auch sehr dankbar. Ich sehe
durchaus, dass Sie sich bemühen. Aber Sie haben hier ei-
nen Zusammenhang hergestellt, indem Sie sagten: Ich
würde ja gerne das Asylbewerberleistungsgesetz abschaf-
fen, wenn es die Kommunalfinanzen zuließen. Sie haben
die Möglichkeit, die Kommunalfinanzen entsprechend zu
ändern und damit die Voraussetzungen für eine Zustim-
mung der Länder zu schaffen.
Den Einwand kann ich als Argument gegen ein solch un-
würdiges Gesetz wirklich nicht gelten lassen.
Sie waren so freundlich, die Regelsätze und die unter-
schiedlichen Existenzminima schon zu benennen, die be-
weisen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz ein diskri-
minierendes Sondergesetz ist. Es schafft Menschenwürde
auf Rabatt. In Berlin wird es wirklich restriktiv ausgelegt.
Sie kennen die Meldungen, die von den hiesigen Verbän-
den dazu veröffentlicht werden. Ich habe keinen Grund,
an diesen Zuständen zu zweifeln.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Maier,es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage der Abge-ordneten Beck.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
Dr. Heinrich L. Kolb14746
Ja.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Kollegin, helfen Sie mir doch bitte einmal mit
meinem Gedächtnis – ich weiß es jetzt nicht genau –: Gibt
es eigentlich aus dem rot-rot regierten Land Mecklen-
burg-Vorpommern eine Bundesratsinitiative, das Asylbe-
werberleistungsgesetz zu streichen?
Nein, soweit ich weiß, nicht. Auch
Mecklenburg-Vorpommern mit einer rot-roten Regierung
konnte sich dazu bislang nicht durchringen. An dieser
Entscheidung sind aber sicherlich beide Koalitionspartner
beteiligt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen dann bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Ich
möchte Sie noch einmal daran erinnern, dass im Novem-
ber hier in Berlin über 100 000 Menschen auf der Straße
waren, um für Toleranz und Menschlichkeit zu de-
monstrieren. Auch viele Mitglieder dieses Hauses waren
bei dieser Demonstration, die sich gegen die aktuellen
Ausschreitungen richtete, anwesend. Mit der Kriminali-
sierung, die das Asylbewerberleistungsgesetz voran-
treibt, schaffen Sie weitere Argumente für die Menschen,
gegen Ausländer und für rassistische Diskriminierung zu
sein. Die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgeset-
zes, das heißt deutliche Schritte in diese Richtung wären
sicherlich ein Zeichen, das wirksamer wäre als 100 000
Menschen auf der Straße, die Sie offensichtlich alle
schon wieder vergessen haben.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der
Fraktion der PDS zur Aufhebung des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes, Drucksache 14/4695. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3381 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 14. Februar 2001, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.