Protokoll:
14150

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 150

  • date_rangeDatum: 9. Februar 2001

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:38 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 14671 A Tagesordnungspunkt 14: Abgabe einer Regierungserklärung: Die Bundeswehr der Zukunft, Feinauspla- nung und Stationierung . . . . . . . . . . . . . 14671 A Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg 14671 B Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 14676 B Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14680 B Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14680 D Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . . . . . . . 14683 A Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14685 C Ulrich Adam CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 14687 A Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14687 C Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . . . . 14688 A Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 14688 C Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14689 B Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 14689 D Peter Zumkley SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14691 C Wolfgang Dehnel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 14693 A Kurt J. Rossmanith CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 14693 C Peter Zumkley SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14694 B Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . . . . 14695 B Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . 14695 C Georg Pfannenstein SPD . . . . . . . . . . . . . 14697 B Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14698 B Dietrich Austermann CDU/CSU . . . . . . . . . . . 14699 D Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . 14700 C Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14701 A Ursula Mogg SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14701 D Paul Breuer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 14703 A Manfred Opel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14704 C Paul Breuer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 14706 C Tagesordnungspunkt 15: a) Große Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Die Ostsee- region – Chancen und Risiken einer Wachstumsregion von zunehmender weltweiter Bedeutung (Drucksachen 14/2293, 14/4460) . . . . . 14707 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- ten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Initiative zur Stärkung der Ostseeregion (Drucksachen 14/3293, 14/4573) . . . . . 14707 B c) Große Anfrage der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Ostsee-Politik der Bundes- regierung (Drucksachen 14/3424, 14/4026) . . . . 14707 B in Verbindung mit Plenarprotokoll 14/150 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 150. Sitzung Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 I n h a l t : Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Franz Thönnes, Dr. Margrit Wetzel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeord- neten Werner Schulz (Leipzig), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Entwicklung der Ostseeregion nach- haltig stärken (Drucksache 14/5226) . . . . . . . . . . . . . . . 14707 B Dr. Margrit Wetzel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 14707 C Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . 14708 C Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 14711 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 14712 C Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14714 C Rolf Kutzmutz PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14716 A Jürgen Koppelin F.D.P . . . . . . . . . . . . . . . . 14716 C Heide Simonis, Ministerpräsidentin (Schles- wig-Holstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14717 B Ulrich Adam CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 14719 B Franz Thönnes SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14720 D Dr. Christine Lucyga SPD . . . . . . . . . . . . . . . 14721 D Zusatztagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Fünf- zehnten Gesetz zur Änderung des Bun- deswahlgesetzes (Drucksachen 14/3764, 14/4265, 14/4647, 14/5238) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14723 A Zusatztagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde (Drucksachen 14/4451, 14/4920, 14/5052, 14/5239) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14723 B Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion F.D.P.: Innova- tionspotenzial moderner Technologien für mittelständische Pflanzenzüchter erhalten (Drucksache 14/2297) . . . . . . . . . . . . . 14723 C b) Große Anfrage der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Harmonisierung der Zulassungs- praxis von Pflanzenschutzmitteln auf europäischer Ebene (Drucksachen 14/3054, 14/4136) . . . . 14723 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Forsten – zu dem Antrag der Fraktion CDU/CSU: Zulassung von Pflan- zenschutzmitteln auf nationaler und EU-Ebene beschleunigen – zu dem Antrag der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Wettbewerbsnachteile durch unter- schiedliche Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen (Drucksachen 14/3096, 14/3298, 14/3713) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14723 C Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14723 D Heino Wiese (Hannover) SPD . . . . . . . . . . . . 14725 A Helmut Heiderich CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 14726 B Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14728 B Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 14728 D Helmut Heiderich CDU/CSU . . . . . . . . . . 14729 B Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . 14730 B Gustav Herzog SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 14731 A Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages (Drucksache 14/4938 [neu]) . . . . . . . . . . . 14732 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gerhard Schüßler, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergeset- zes (Abschaffung der Trinkgeldbesteue- rung) (Drucksache 14/5233) . . . . . . . . . . . . . . . 14732 B Klaus Brähmig CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 14732 C Simone Violka SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14734 B Klaus Brähmig CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 14735 A Ernst Burgbacher F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 14737 A Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14738 B Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14739 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001II Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes (Drucksachen 14/3381, 14/4695) . . . . . . . 14740 A Brigitte Lange SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14740 B Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 14740 D Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . . . . . . . 14743 B Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14744 B Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 14745 B Pia Maier PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14746 B Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14747 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14747 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 14749 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Berichts: Aufhebung des Asylbewerber- leistungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 19) Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 14749 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 III Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14747 (C)(A) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14749 (C) (D) (A) (B) Dr. Bartsch, Dietmar PDS 09.02.2001 Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 09.02.2001 Behrendt, Wolfgang SPD 09.02.2001* Dr. Berg, Axel SPD 09.02.2001 Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 09.02.2001 Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 09.02.2001 Bohl, Friedrich CDU/CSU 09.02.2001 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 09.02.2001 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 09.02.2001 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 09.02.2001* Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 09.02.2001 Peter H. Dr. Däubler-Gmelin, SPD 09.02.2001 Herta Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 09.02.2001 Fograscher, Gabriele SPD 09.02.2001 Formanski, Norbert SPD 09.02.2001 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 09.02.2001 Friedrich (Altenburg), SPD 09.02.2001 Peter Dr. Fuchs, Ruth PDS 09.02.2001 Dr. Gerhardt, Wolfgang F.D.P. 09.02.2001 Gloser, Günter SPD 09.02.2001 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 09.02.2001 DIE GRÜNEN Hempelmann, Rolf SPD 09.02.2001 Henke, Hans Jochen CDU/CSU 09.02.2001 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 09.02.2001 DIE GRÜNEN Hilsberg, Stephan SPD 09.02.2001 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 09.02.2001 DIE GRÜNEN Hollerith, Josef CDU/CSU 09.02.2001 Ibrügger, Lothar SPD 09.02.2001 Kampeter, Steffen CDU/CSU 09.02.2001 Klappert, Marianne SPD 09.02.2001 Labsch, Werner SPD 09.02.2001 Leidinger, Robert SPD 09.02.2001 Lohmann (Neubranden- SPD 09.02.2001 burg), Götz-Peter Mascher, Ulrike SPD 09.02.2001 Müller (Düsseldorf), SPD 09.02.2001 Michael Nolte, Claudia CDU/CSU 09.02.2001 Ost, Friedhelm CDU/CSU 09.02.2001 Otto (Frankfurt), F.D.P. 09.02.2001 Hans-Joachim Dr. Pfaff, Martin SPD 09.02.2001 Pieper, Cornelia F.D.P. 09.02.2001 Rühe, Volker CDU/CSU 09.02.2001 Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 09.02.2001 Schauerte, Hartmut CDU/CSU 09.02.2001 Schily, Otto SPD 09.02.2001 Schmidt (Aachen), Ulla SPD 09.02.2001 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 09.02.2001 Hans Peter Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 09.02.2001 Schultz (Everswinkel), SPD 09.02.2001 Reinhard Sebastian, Wilhelm-Josef CDU/CSU 09.02.2001 Dr. Spielmann, Margrit SPD 09.02.2001 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 09.02.2001 Tröscher, Adelheid SPD 09.02.2001 Türk, Jürgen F.D.P. 09.02.2001 Uldall, Gunnar CDU/CSU 09.02.2001 Vogt (Pforzheim), Ute SPD 09.02.2001 Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 09.02.2001 Dr. Westerwelle, Guido F.D.P. 09.02.2001 Wohlleben, Verena SPD 09.02.2001 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zurBeratung des Berichts: Aufhebung des Asylbe- werberleistungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 19) Peter Weiß (Emmendingen)(CDU/CSU): Im Jahre 1993 hat der Deutsche Bundestag das Asylbewerberleis- tungsgesetz beschlossen, mit welchem die Leistungen für entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Asylsuchende und andere Ausländerinnen und Ausländer ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht aus dem Bundessozial- hilfegesetz (BSHG) herausgelöst und in einem eigenstän- digen Gesetz geregelt wurden. Die Gründe, die zum da- maligen Asylkompromiss und zur Schaffung dieses neuen Gesetzes führten, haben weiterhin Geltung. Der im Jahr 1992 zustande gekommene Asylkompro- miss beinhaltete, außerhalb des Bundessozialhilfegeset- zes deutlich abgesenkte Leistungen für Asylbewerber ei- genständig zu regeln und den Vorrang von Sachleistungen festzulegen. Dadurch sollte der Anreiz für nicht politisch Verfolgte reduziert werden, Asyl in Deutschland zu su- chen. Die dringende Notwendigkeit für dieses neue Gesetz ergab sich vor allem aus der Zunahme der Tätigkeit kri- mineller, gut organisierter und international tätiger Schlepperorganisationen. Die Not wie die Zukunftshoff- nungen vieler Menschen, die aus ihrer angestammten Hei- mat auswandern oder fliehen wollen, wird bis zum heuti- gen Tag in schamloser Weise von Organisationen ausgenutzt, die eine der verwerflichsten Formen des mo- dernen Menschenhandels betreiben. Deshalb sollte mit dem neuen Gesetz das Risiko reduziert werden, dass Geldleistungen des Bundessozialhilfegesetzes letztlich zur Bezahlung dieser Schlepperorganisationen und ihrer kriminellen Hintermänner verwendet werden. Deshalb war und ist das Asylbewerberleistungsgesetz kein Gesetz, das sich etwa gegen die Asylsuchenden wendet, sondern zuallererst ein Gesetz, das den kriminellen Machenschaf- ten der Schlepperorganisationen das Handwerk legt. Diese Organisationen knöpfen Asylsuchenden das Geld ab, das eigentlich für den Lebensunterhalt dieser Men- schen gedacht ist. Dieses Programm besteht mit gleicher Dringlichkeit auch heute fort. Wegen des nur vorübergehenden Aufenthaltes der Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland konn- ten mit dem Asylbewerberleistungsgesetz die Leistungen zur Absicherung des Lebensunterhaltes geringer festge- setzt werden als die vergleichbaren Regelsätze des Bun- dessozialhilfegesetzes, da Integrationsleistungen zunächst nicht erforderlich sind. Dennoch sind die Leistungen exis- tenzsichernd angelegt. Die Reduzierung der Krankenhilfe und Krankenbehandlung auf das aus medizinischer Sicht unumgänglich Notwendige – vor allem die Behandlung von Akutkrankheiten und Schmerzzuständen – erfolgte ebenfalls wegen des nur vorübergehenden Aufenthalts der allermeisten Asylbewerber. Asylberechtigte erhalten dagegen vom Zeitpunkt der Anerkennung an die vollen Leistungen der Sozialhilfe wie auch die Inländer. Wer ein Bleiberecht in der Bundesrepublik erworben hat, der wird in keiner Weise gegenüber einem Inländer benach- teiligt. Auch die Gewährung von Sachleistungen ist so ange- legt, dass eine ausreichende Versorgung sichergestellt ist. So werden bei der Zuteilung von Lebensmitteln der unterschiedliche Bedarf von Kindern, Erwachsenen, Schwangeren etc. berücksichtigt. Die nach dem Asylbe- werberleistungsgesetz vorgesehene medizinische Versor- gung leistet das, was während eines nur vorübergehenden Aufenthaltes notwendig ist. Werdende Mütter und Wöch- nerinnen erhalten uneingeschränkte medizinische Hilfe. Dies zeigt, dass auch die Begründung des PDS-Antrags schlichtweg an der Realität vorbeigeht bzw. diese leugnet. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist in keiner Weise in- human. Weiterhin bestehen also die guten und sachlich zu rechtfertigenden Gründe dafür, das Asylbewerberleis- tungsgesetz beizubehalten und damit für Asylbewerber andere Leistungen vorzusehen, als jene, die für Bezieher von Sozialhilfe gelten. Zielsetzung der Politik muss viel- mehr sein, dass über den Status eines Asylbewerbers möglichst schneller entschieden wird. Denn sobald die Statusfragen geklärt sind, können Bleibeberechtigte die vollen Leistungen des Bundessozialhilfegesetzes erhal- ten und regelt sich auch die Frage des Arbeitsmarktzu- gangs. Für uns gilt weiterhin: Wer als Asylsuchender zu uns kommt, erhält das Lebensnotwendige. Wer ein Bleibe- recht erworben hat, erhält auch die vollen Leistungen zur Integration in unserer Gesellschaft. Und wer nur ab- zocken und andere Menschen ausbeuten will, dem schie- ben wir einen Riegel vor. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 200114750 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415000000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heu-
tige Tagesordnung um zwei Beschlussempfehlungen des
Vermittlungsausschusses auf den Drucksachen 14/5238
und 14/5239 erweitert werden. Die Punkte werden nach
der Debatte zur Ostseeregion aufgerufen. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Die Bundeswehr der Zukunft, Feinausplanung
und Stationierung

Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.


Rudolf Scharping (SPD):
Rede ID: ID1415000100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundes-
wehr hat gemeinsam mit verbündeten Streitkräften
Deutschland und seinen Partnern über Jahrzehnte Freiheit,
Frieden und Sicherheit gewährleistet. Sie hat Menschen ge-
dient, in Katastrophen geholfen und auch einen bedeuten-
den Beitrag zur inneren Einheit unseres Landes geleistet.

Die Bundeswehr ist, wie niemals zuvor deutsche Streit-
kräfte, fest verankert in Demokratie, Rechtsstaat und Be-
völkerung. Sie unterstützt die Beilegung von Krisen und
Konflikten. Dafür erfahren die Angehörigen unserer Bun-
deswehr Anerkennung, Dank und Respekt in der NATO,
in der Europäischen Union und zu Hause und sicher auch
hier im Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Seit 1990 haben sich die Bedingungen deutscher
Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend verändert und
in mancher Hinsicht verbessert. Unverändert gilt aber:
Nur die Solidarität der internationalen Staatengemein-
schaft ermöglicht es auch uns Deutschen, Frieden und
Freiheit gemeinsam und umfassend zu gewährleisten und
an der politischen Regelung internationaler Konflikte ak-
tiv mitzuwirken. Wirksame Einflussnahme setzt eigenes
Engagement voraus. Das verlangt auch die Übernahme
militärischer Verantwortung.

Die Bundeswehr dient unverändert der Sicherheit un-
seres Landes und unseres Bündnisses. Aus dem histori-
schen Gewinn überwundener Teilung Deutschlands und
Europas wurden jedoch in den 90er-Jahren kaum Konse-
quenzen gezogen. Ausrüstung, Fähigkeiten und Struktu-
ren unserer Streitkräfte wurden sträflich vernachlässigt.
Die Bestandsaufnahme vom Mai 1999 hat gezeigt: Der
Wandel zu modern ausgerüsteten und in großer Band-
breite einsetzbaren Streitkräften ist dringend erforderlich.

Diese Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf hat
begonnen. Das wird in NATO und Europäischer Union
ausdrücklich begrüßt und unterstützt. Die NATO hat auf
dem Gipfel in Washington im April 1999 ihr neues
strategisches Konzept beschlossen. Es beschreibt die
künftigen Anforderungen an Fähigkeiten der Streitkräfte:
Führungsfähigkeit, Mobilität, Wirksamkeit im Einsatz,
Durchhaltefähigkeit und Überlebensfähigkeit.

Die Europäische Union hat auf den Gipfeltreffen in Köln
und Helsinki 1999 und in Nizza im Dezember des letzten
Jahres die Grundlagen für die Ausgestaltung einer eigen-
ständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-
politik gelegt. Deutschland hat dazu durch Bundeskanzler
Schröder und Außenminister Fischer entscheidende An-
stöße gegeben. Diese Entscheidungen unserer Freunde und
Partner unter aktiver Mitwirkung Deutschlands waren die
Vorgaben für Umfang und Fähigkeitenprofil der Streit-
kräfte in Europa, also auch in Deutschland.

Die Reform der Bundeswehr ist eine Investition in drei
Säulen: in die Menschen, in die Ausrüstung – einschließ-
lich der Infrastruktur –, in die Effizienz von Beschaffung
und Betrieb. In allen drei Bereichen sind beachtliche Fort-
schritte erzielt worden. Nur siebeneinhalb Monate nach

14671


(C)



(D)



(A)



(B)


150. Sitzung

Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Beginn: 9.00 Uhr

den Grundsatzentscheidungen der Bundesregierung ste-
hen die Eckpfeiler der Reform. Dafür danke ich an dieser
Stelle allen Beteiligten, insbesondere den Inspekteuren
der Streitkräfte und ihren Stäben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erstens. Diese Leistung bestätigt: Die Menschen mit
ihren Fähigkeiten sind das größte Kapital in der Bundes-
wehr. Das hohe Leistungsniveau zu erhalten erfordert
fundierte Ausbildungsmöglichkeiten, attraktive Arbeits-
plätze, interessante berufliche Perspektiven und eine an-
gemessene Entlohnung. Daher wurde zum Beispiel die
besondere Vergütung für Grundwehrdienstleistende
angehoben.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Welche?)

Weitere gesetzliche Regelungen werden dem Deutschen
Bundestag vor Ostern vorgelegt werden. Sie sollten vor
dem Sommer 2001 in Kraft treten.

Damit wird unter anderem erreicht, dass die Eingangs-
besoldung in der Mannschaftslaufbahn auf A3 angehoben
wird oder dass Kompaniechefs grundsätzlich nach A 12
besoldet werden können. Im Übrigen bauen diese Ver-
änderungen auf den Veränderungen auf, die wir schon in
den Jahren 1999 und 2000 für die Menschen in der Bun-
deswehr erreicht haben.

Zweitens. Die Ausrüstung und die Leistungsfähigkeit
der Bundeswehr werden an das neue Fähigkeitenprofil
angepasst. Ende nächsten Monats wird das Material- und
Ausrüstungskonzept vorgelegt. Es wird also frühzeitig
mit den Entscheidungen zur organisatorischen Neuaus-
richtung der Streitkräfte synchronisiert. Aufbau- und Ab-
lauforganisation im Rüstungsbereich werden neu struktu-
riert. Das führt zu einer Halbierung der Entwicklungs-
und Beschaffungsabläufe für Wehrmaterial.

Ganzheitliche Systemlösungen sind wichtiger als op-
timierte Teilsysteme. Verbesserungen beim Zusammen-
wirken verbundener Waffensysteme haben Vorrang vor
der Perfektionierung einzelner Waffen und Geräte. Was
nutzt beispielsweise ein hochmodernes Flugzeug, wenn
es nicht überlebensfähig ist, weil es über eine nur unzu-
reichende Selbstschutzausstattung verfügt? Den Euro-
fighter zu beschaffen mag eine vernünftige Entscheidung
sein.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Diese fliegende Plattform allerdings nur mit einer Mau-
serkanone mit einem Kaliber von 27Millimeter auszurüs-
ten ist fahrlässig und hat dazu geführt, dass wir am Ende
des letzten Jahres Entscheidungen mit einem finanziellen
Umfang von rund 2,7 Milliarden DM für eine vernünftige
Selbstschutzausrüstung dieses neuen fliegenden Waffen-
systems der Bundeswehr treffen mussten.


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Drittens. Wirtschaftliches Denken und Handeln bei Be-

schaffung und Betrieb wird endgültig Führungsmaxime
auf allen Ebenen der Bundeswehr. Verbunden mit der
Nutzung moderner Managementmethoden und dank
der strategischen Partnerschaft mit der Wirtschaft führt

dies zu beträchtlichen Effektivitätssteigerungen und Kos-
tensenkungen. Die infolgedessen frei werdenden Mittel
stärken den Verteidigungshaushalt und seine Investitions-
kraft. Das ist eine deutliche, grundlegende Veränderung
gegenüber früher.

1994 bis 1998 wurden der Bundeswehr aus bereits be-
schlossenen, schon laufenden Haushalten rund 3,1 Milli-
arden DM entzogen. 1994 bis 1998 wurden im Jahres-
durchschnitt lediglich knapp 5,7 Milliarden DM in die
Ausrüstung investiert. 1997 und 1998 betrugen die durch-
schnittlichen Ausgaben des Einzelplanes 14 46,5 Milliar-
den DM. 1999 und 2000 lagen sie bei 47,8Milliarden DM.


(Peter Zumkley [SPD]: So ist die Realität!)

Über die allgemeine Steigerung des Haushaltes hinaus
sind die jährlichen Investitionen auf einen Schnitt von
7,4 Milliarden DM angewachsen, also um mehr als
1,7 Milliarden DM pro Jahr.

Das zeigt: Die Bundesregierung nimmt die Investitio-
nen in eine moderne, leistungs-, bündnis- und euro-
pafähige Bundeswehr ernst.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Genauso richtig ist, dass wir diesen Weg begonnener Ver-
besserungen konsequent fortsetzen müssen.

Mit den Stationierungsentscheidungen können die Be-
triebskosten um jährlich mindestens 200 Millionen DM
gesenkt werden. Allerdings verzichtet die Bundeswehr
auf ein zusätzliches Rationalisierungspotenzial von min-
destens 500 Millionen DM. Sie leistet auf diesem Wege
und unter Berücksichtigung regionaler, wirtschaftlicher
und insbesondere sozialer Erwägungen einen hohen Bei-
trag zu diesen Belangen – zugunsten von Menschen, Ge-
meinden und Regionen, zulasten des Einzelplans 14.

Angesichts dieser Argumente ist es an der Grenze der
Lächerlichkeit, zu behaupten, die Stationierungsentschei-
dungen folgten einer finanziellen Vorgabe.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wäre das der Fall, hätten wir nicht 39, sondern 100 bis
110 Standorte schließen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Übrigen wird den wirtschaftlichen und regionalen
Belangen auch dadurch Rechnung getragen, dass die Bun-
deswehr hilft, Liegenschaften für preiswertes Wohnen,
neue Stadtteile und die Erweiterung oder Ansiedlung von
Betrieben zu entwickeln. Das ist ein wirtschaftlich viel
versprechender Beitrag zur Konversion, der naturgemäß
in Ballungsräumen wie München, Hamburg oder Köln
leichter als in kleineren Städten oder ländlichen Gebieten
gelingt.

Die für 2001 erwarteten auch finanziellen Ergebnisse
sind erreichbar. So sehen es die Banken, die Wirtschafts-
verbände, die Handwerkskammern, die Industrie- und
Handelskammern und die Unternehmen. Nur die Opposi-
tion denkt, sie müsse das anders sehen, und bleibt damit




Bundesminister Rudolf Scharping
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nicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch wirtschafts-
politisch völlig isoliert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Quatsch! Sie haben wohl schlecht geschlafen? Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?)


Unser Land und unsere Soldaten haben aber nichts von
einer Opposition, die ihre schweren Versäumnisse der
Vergangenheit hinter Polemik verstecken will und glaubt,
dass diese Polemik Fantasie und Alternative ersetzen
könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit Verdächtigungen, mit haltlosen Behauptungen und
mit altem Denken ist eine neue und sichere Zukunft der
Bundeswehr jedenfalls nicht zu schaffen. Die Behaup-
tung, man müsse alles so lassen, wie es ist, und im Übri-
gen einfach mehr Geld hineinstecken, sichert keine
Zukunft, sondern konserviert alte, nicht mehr leistungs-
fähige Strukturen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Stationierungsentscheidungen sind die Konsequenz
aus der gerade skizzierten Reform. Diese Reform wird
von Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr der Zu-
kunft bestimmt. Es ist nicht die erste Aufgabe der Bun-
deswehr, stationiert zu sein. Es bleibt die erste Aufgabe
der Bundeswehr, gemeinsam mit Freunden und Partnern
für die Sicherheit und die friedliche Entwicklung des ei-
genen Landes und des eigenen Kontinents zu sorgen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Ergebnis werden modular aufgebaute, flexible und
zugleich straffe Streitkräftestrukturen sein, die eine effizi-
ente Wahrnehmung von Aufgaben ermöglichen. Das gilt
im Übrigen auch für die Bundeswehrverwaltung. Sie
wird umstrukturiert und zu einem modernen Dienstleis-
tungsunternehmen fortentwickelt. Ihre Unterstützungsleis-
tung für Streitkräfte und Bürger erbringt die Bundeswehr-
verwaltung in Zukunft in immer engerer Kooperation mit
der Wirtschaft.

Insgesamt wird die Bundeswehr kleiner, im Hinblick
auf die gewandelten Anforderungen jedoch zugleich mo-
derner und leistungsfähiger. Die Zahl der Soldatinnen und
Soldaten wird von derzeit rund 315 000 – planerisch sind
es 340 000, real 315 000 – auf künftig etwa 285 000 ver-
ringert. Davon sind circa 203 000 Berufs- und Zeitsolda-
ten. Zugleich kann die Zahl der Dienstposten für zivile
Mitarbeiter in der Bundeswehr sozialverträglich auf
80 000 bis 90 000 reduziert werden.

An dieser Stelle ist ein Vergleich angebracht: CDU und
CSU – zunächst nur die CDU – hatten im Frühjahr des ver-
gangenen Jahres ein scheinbar eigenständiges Konzept vor-
gestellt. Sie haben gefordert, die Bundeswehr solle langfris-
tig 100 000 Zivilbeschäftigte und rund 300 000 Soldaten,
davon 100 000 Wehrpflichtige, umfassen. Die Differenz

besteht also darin, dass die Koalition die Zahl der Berufs-
und Zeitsoldaten auf 203 000 festgelegt hat, während die
Opposition 200 000 fordert.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Brutto oder netto? – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt kommen Sie mit Ihren Zahlen etwas durcheinander!)


Die Differenz besteht weiterhin darin, dass die Koalition
82 000 Dienstplätze für Wehrdienstleistende zur Verfü-
gung stellen will, während die Opposition 100 000 Dienst-
plätze fordert.

Entscheidend ist: Soweit wir über die militärischen An-
gehörigen innerhalb der Streitkräfte reden, besteht der
Unterschied in den Auffassungen lediglich in Bezug auf
die Zahl der Grundwehrdienstleistenden.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)

Ob diese Differenz das Maß an Polemik rechtfertigt, das
Sie entfalten – ich vermute, das wird sich heute fortsetzen,
übrigens zulasten der Streitkräfte –, daran habe ich, und
nicht nur ich, begründete Zweifel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Zweifel werden nicht alleine durch die Zahlen
und die marginale Differenz zwischen Ihren und unseren
Zahlen genährt; sie werden auch dadurch genährt, dass die
Union in ihrem Papier ausdrücklich nicht einen für die
Streitkräfte gemeinsamen Ansatz verfolgt. Die Koalition
dagegen fördert die Konzentration der Streitkräfte auf den
Einsatz und die daraus resultierenden strafferen Struktu-
ren; diese erhöhen nämlich die Effizienz in der Aufga-
benwahrnehmung.

Wenn man die nominelle Differenz von knapp
15 000 Soldaten – und zwar hauptsächlich im Bereich der
Wehrpflichtigen – betrachtet, wird das noch ein Stück
deutlicher. Offenkundig haben Sie ein Bedürfnis danach,
angesichts einer fehlenden sicherheits- und außenpoliti-
schen Alternative die Chance einer breiten sicherheitspo-
litischen Übereinstimmung im Deutschen Bundestag aus
ausschließlich parteipolitischem Kalkül in Frage zu stel-
len.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Reduzierung beim militärischen Personal wird bis
zum Jahre 2006 abgeschlossen sein. Bei den zivilen Mit-
arbeitern wird dies bis circa 2010 dauern.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Schauen Sie auf die Regierungsbank, wie die alle vor sich hinschlafen!)


Ich sage bewusst: bis circa 2010, da dieser Prozess durch
den hoffentlich baldigen Abschluss von Tarifverträgen
und die Kooperation mit der Wirtschaft beeinflusst wird.

Die Einrichtung einer Streitkräftebasis ist die auffäl-
ligste Neuerung in der Streitkräftestruktur. Die Streitkräf-
tebasis wird die zentrale militärische Dienstleistung für die
Streitkräfte. Sie fasst Querschnittsaufgaben wie Führung,
Aufklärung, Unterstützung und Ausbildung zusammen.




Bundesminister Rudolf Scharping

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Allein in der Logistik können dadurch rund 8 000 Dienst-
posten für andere Aufgaben in der Bundeswehr freige-
macht werden.

In diesem Zusammenhang komme ich noch einmal auf
die Kollegen der CDU/CSU zu sprechen:


(Michael Glos [CDU/CSU]: Bleiben Sie doch einmal bei der Bibel! Machen Sie es wie Pontius Pilatus: Waschen Sie Ihre Hände in Unschuld! – Gegenruf des Abg. Peter Zumkley [SPD]: Ja, das ist unangenehm, wenn man sich das anhören muss!)


Wenn man die nominelle Differenz bei der Zahl der Be-
rufs- und Zeitsoldaten – Sie wollten 200 000, wir werden
uns für 203 000 entscheiden – um die schlichte, von den
Streitkräften und den Fachleuten errechnete Zahl von
8 000 Dienstposten, die man für andere Aufgaben durch
effizientere Wahrnehmung der Logistik freimachen kann,
ergänzt, dann übertrifft die Koalition die Opposition bei
der Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten nicht um 3 000,
sondern sogar um 11 000.

Ich sage Ihnen das auch vor dem Hintergrund der wirt-
schaftlichen Auswirkungen; denn an den Standorten wird
durch die innere Stärkung der Einheiten sowie durch die
Verbindung von Ausbildungs- und Übungserfordernissen
einerseits und Einsatzerfordernissen andererseits eine
Stärkung stattfinden, die Sie offenbar aus Ihrer Rechnung
herausholen wollen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Also haben wir am Ende mehr Soldaten als heute! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Brutto oder netto?)


Im Übrigen wird der zentrale Sanitätsdienst umge-
staltet und die vorher den Teilstreitkräften zugeordneten
Aufgaben der sanitätsdienstlichen Versorgung werden ge-
bündelt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ist das die Kavallerie? Im Heer werden die Kampfund Kampfunterstützungstruppe sowie die Kräfte der Führungsunterstützung um etwa ein Drittel, in Teilen um die Hälfte reduziert. Die Logistiktruppen des Heeres können aufgrund der Auslagerung der Aufgaben in die Streitkräftebasis und dank der Kooperation mit der Wirtschaft sogar um 60 Prozent verringert werden. In der Luftwaffe wird die Anzahl der fliegenden Einsatzverbände um ein Viertel, die der Flugabwehrraketenverbände um ein Drittel und die der Radarführungsdienstverbände um die Hälfte reduziert. Auch hier können mehr als die Hälfte der logistischen Verbände eingespart werden. Die Anzahl der Flottillen in der Marine wird auf fünf reduziert; die Marinesicherungstruppen werden um rund 70 Prozent vermindert. Dafür werden auf der anderen Seite Streitkräfte gemeinsam Aufgaben in der Streifkräftebasis effizienter und wirtschaftlicher wahrnehmen. Das drückt sich auch darin aus, dass die Zahl der bisherigen Krisenreaktionskräfte fast verdreifacht wird auf Einsatzkräfte in der Größenordnung von 150 000. In der territorialen Wehrverwaltung mit dem Bundesamt für Wehrverwaltung und den Wehrbereichsverwaltungen – es werden vier sein mit drei sicheren Außenstellen und einer reduzierten Zahl von Standortverwaltungen – wird es darauf ankommen, eine effizientere Führung und Verwaltung sicherzustellen. Das geschieht. Die Dienstleistungen für die Truppe selbst bleiben selbstverständlich vor Ort. Ich füge hinzu, dass sich auf der Grundlage dieser Feinausplanung noch ein geringfügiger Anpassungsbedarf durch laufende Detailuntersuchungen ergeben kann. Für die Stationierungsentscheidungen herrscht allerdings Klarheit in den organisatorischen Vorgaben. Die Standortentscheidungen selbst sind immer ein Kompromiss zwischen konkurrierenden Zielen. Den Entscheidungen zur Stationierung der Bundeswehr liegt ein ganzer Katalog von Kriterien zugrunde, den ich mehrfach öffentlich erläutert habe. Die Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr hat hohe Priorität. Jeder Ortswechsel bringt eine Vielzahl sozialer und finanzieller Belastungen mit sich. Die Zahl der Versetzungen wird daher im Interesse von Motivation und Berufszufriedenheit der Angehörigen der Bundeswehr so gering wie möglich gehalten. Die Präsenz der Streitkräfte in der Fläche ist eine wesentliche Voraussetzung auch für die Nachwuchsgewinnung. Das langfristige Aufkommen an Wehrpflichtigen und Freiwilligen in der Region ist daher eine wichtige Bestimmungsgröße. Die Bildungsund Qualifizierungsoffensive der Bundeswehr erfordert auch die räumliche Nähe der Truppe zu Lehrund Ausbildungseinrichtungen. Nur so ist eine die Dienstzeit begleitende Qualifizierung der Soldaten möglich. Auch die Akzeptanz von Standorten ist ein Kriterium. Maßgeblich sind insbesondere die schulischen und beruflichen Angebote, Freizeitund Wohnwert, Lebenshaltungskosten vor Ort. Effizienz in der Auftragserfüllung durch die Bundeswehr verlangt eine aufgabenorientierte und zweckmäßige Belegung der Liegenschaften. Das verlangt die Nähe von Stäben zur unterstellten Truppe, die räumliche Zusammenfassung militärisch aufeinander angewiesener Truppenteile, auch die Nähe der Truppe zu Übungsgebieten und Unterstützungseinrichtungen. Eine gute Verkehrsanbindung ist wichtiger Standortfaktor, weil sie weiträumige Verlegungen erleichtert. (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Da gucken wir uns mal Dülmen an!)


Die Stationierung von Bundesgrenzschutz und Streit-
kräften der Verbündeten wurde berücksichtigt.

Reduzierungen werden vor allem in größeren Gar-
nisonen und in Gebieten mit hoher militärischer Konzen-
tration vorgenommen. Wo möglich, ist auf die Vorstellun-
gen der Bundesländer, der Kreise und der Gemeinden
Rücksicht genommen worden.




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Die Bundeswehr wird im Jahre 2006 in 539 zivilen
Gemeinden vertreten sein. Damit bleiben über 90 Prozent
der heutigen Dienstorte erhalten. Gleichzeitig wird die
Zahl der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter aber um
etwa 17 Prozent reduziert. Einer Reduzierung des Um-
fangs der Bundeswehr um circa 17 Prozent steht eine
Schließung von Standorten in der Größenordnung von
6,5 Prozent gegenüber. Auch das zeigt, dass auf wirt-
schaftliche, regionale und soziale Belange sehr stark
Rücksicht genommen wurde.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der besonderen Verantwortung der Bundesregierung für
die neuen Länder wird das Ressortkonzept gerecht. Es
kommt nur vereinzelt zu Standortschließungen oder zu er-
heblichen Reduzierungen.

Vor diesem Hintergrund mache ich darauf aufmerk-
sam, dass zurzeit, und zwar wiederum anders als in der
Vergangenheit, intensive Gespräche mit den Minister-
präsidenten stattfinden. Ich treffe dabei auf eine Fülle
überlegenswerter Anregungen, vorrangig nicht zur Statio-
nierung der Streitkräfte, sondern insbesondere zu Fragen
eines Wandels, der wirtschaftlich förderlich gemacht wer-
den kann, wenn Bedürfnisse bzw. Absichten von Ge-
meinden oder von Ländern und Planungen der Bundes-
wehr sorgfältig aufeinander abgestimmt werden. Dazu
sind wir ausdrücklich bereit.

Mittlerweile habe ich mit der Mehrheit der Minister-
präsidenten gesprochen; mit insgesamt 15 Länderchefs
sind bis Mitte der nächsten Woche Termine vereinbart.
Die Entscheidung wird Ende der nächsten Woche zuver-
lässig getroffen. Ich hoffe, dass diejenigen, die in einer
vollkommen übertriebenen, alarmierenden Wortwahl von
einem „Kahlschlag“ oder von einem „parteipolitischen
Strafzug“ reden,


(Dr. Peter Struck [SPD]: Unerhört so etwas!)

doch wenigstens die Kraft aufbringen, ihren Kalender so
zu sortieren, dass man vernünftig miteinander reden kann.
Es geht darum, zu erörtern, dass die Zahl der Standorte,
die in dem betroffenen Bundesland aufwachsen, groß ist.
Zum Beispiel wird im Freistaat Bayern die Stationie-
rungsdichte, also das Verhältnis zwischen der Anzahl der
Dienstposten und der Gesamtheit der Einwohner, unter-
durchschnittlich reduziert.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Schönrechnerei!)


Man kann die Bedeutung der Bundeswehr in einem Land
nämlich nicht allein und nicht vorrangig an der Zahl von
Standorten messen; vielmehr ist insbesondere die Zahl der
zur Verfügung gestellten, zukunftssichernden Arbeits-
plätze entscheidend.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich fasse zusammen:

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Was? Was?)


–Mein lieber Herr Kollege Repnik, wir erleben gleich den
Versuch der Rehabilitation auf einem ungeeigneten Feld.


(Beifall bei der SPD)

Ich bin sehr gespannt, von Ihnen einmal zu hören, ob Sie
hinsichtlich der Reform der Streitkräfte eine Alternative
haben, die anders als nur quantitativ ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin sehr daran interessiert, von Ihnen einmal eine Be-
wertung darüber zu hören, wie die sträfliche Vernachläs-
sigung der Investitionen in die Ausrüstung der Bundes-
wehr in den 90er-Jahren in kürzester Zeit ausgeglichen
werden könnte. Ich bin sehr daran interessiert, von Ihnen
einmal zu hören, ob Sie nicht endlich zur Kenntnis neh-
men wollen, dass unsere Partner in der Europäischen
Union und in der NATO die Reform der Streitkräfte nicht
nur ausdrücklich begrüßen, sondern in einer gewissen
Zeit, in der wir nicht die Verantwortung hatten, auch an-
geregt und zum Teil sogar gefordert haben.

Glauben Sie wirklich, dass die erstmalige Wahl eines
deutschen Generals zum Chef des Militärstabes der Euro-
päischen Union und dass die kurz bevorstehende Ernen-
nung eines deutschen Generals zum Stellvertretenden
Oberbefehlshaber der NATO – gar nicht zu reden von dem
Wunsch, der eine oder andere möge noch dazukommen;
dieser Wunsch musste leider abgelehnt werden – Hin-
weise darauf sind – Sie haben das dümmlicherweise auch
in München behauptet –, dass die Bundeswehr innerhalb
der NATO schlecht angesehen sei und ihre Aufgaben nicht
erfüllen könne? Das Gegenteil ist der Fall.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Die Generäle flüchten!)


Keine Motivation rechtfertigt es, in der parteipoli-
tischen Auseinandersetzung das Ansehen der Streitkräfte
und die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutsch-
land in der Außen- und Sicherheitspolitik zu beschädigen.
Es gibt dafür keine innenpolitische Rechtfertigung!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die sorgsame und umfassende Prüfung aller relevanten
Faktoren hat zu einem gut abgewogenen Ergebnis ge-
führt: Kommandobehörden, zivile Dienststellen und
Truppe bleiben in der Fläche verteilt. Die Zahl der
Standortschließungen ist so gering wie möglich gehalten.
Das Gleichgewicht der ausgewogenen Stationierung lässt
Änderungen in der abschließenden Abstimmungsrunde
nur noch in gut begründeten Ausnahmefällen zu.

Mir ist bewusst, dass einige der nun getroffenen Ent-
scheidungen auch Härten mit sich bringen, vor allem dort,
wo Standorte geschlossen werden. Es ist aber für eine
sozialverträgliche Umgestaltung hilfreich, dass wir nun
planerische Sicherheit haben. Sie sollte bald durch einen
Tarifvertrag ergänzt werden. Im Wesentlichen werden
wir mit der Umsetzung der Stationierungsentscheidun-
gen in den Jahren 2002 bis 2004 beginnen und sie zum
größten Teil bis zum Jahre 2006 zum Abschluss gebracht




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haben. Es bleibt also genügend Zeit für die Entwicklung
von Maßnahmen, die jene Nachteile abfedern, von denen
Menschen oder Gemeinden unmittelbar betroffen sind.

Meine Damen und Herren, ich verbinde diese ab-
schließende Bemerkung mit einem ausdrücklichen Dank
an die Koalition und insbesondere an deren Mitglieder im
Verteidigungsausschuss dafür,


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Aufstehen! Klatschen!)


dass es in einem erstaunlich kurzen, aber auch außerge-
wöhnlich gründlichen Prozess gelungen ist, die kon-
zeptionellen Grundlagen für die Reform unserer Streit-
kräfte zu erarbeiten, sie planerisch umzusetzen und
Entscheidungen zu treffen, die in der Geschichte der Bun-
deswehr bisher nur mit ihrer Aufstellung zu vergleichen
sind.


(Widerspruch des Abg. Günther Friedrich Nolting [F.D.P.])


Hier geht es nämlich nicht um eine Reduzierung der
Streitkräfte, sondern um die Einführung eines komplett
neuen Aufgaben- und Fähigkeitsprofils, um komplett
neue Möglichkeiten der Erfüllung dieser Aufgaben und
im Übrigen auch darum, der unbestritten hohen Motiva-
tion und Leistungsfähigkeit der Angehörigen der Streit-
kräfte nun endlich auch die modernen Strukturen und
die moderne Ausrüstung zur Seite zu stellen, die die An-
gehörigen der Streitkräfte verdient haben und die sie jetzt
auch bekommen werden.


(Anhaltender Beifall bei der SPD sowie Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415000200
Bevor ich die Aus-
sprache eröffne, möchte ich, da es gerade Wortmeldungen
zu Zwischenfragen gegeben hat, an unsere Geschäfts-
ordnung erinnern: Danach sind während einer Regie-
rungserklärung keine Zwischenfragen und im Anschluss
an sie auch keine Kurzinterventionen zugelassen, da die
Aussprache erst danach beginnt, liebe Kolleginnen und
Kollegen.

Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.


(Gernot Erler [SPD]: Wieder ein Stück Leitkultur!)


Friedrich Merz (CDU/CSU) (von der CDU/CSU mit
Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-
men und Herren! Wir hatten ja alle etwas Mühe, bei die-
ser Regierungserklärung wach zu bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. –Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was können wir für Ihren Lebenswandel? – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das wird jetzt anders!)


Herr Scharping, Sie konnten das nicht sehen, aber bei den
anwesenden Mitgliedern der Bundesregierung war das
noch augenfälliger als bei uns;


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

sie sparen vielleicht ihre Kräfte.

Ich will zunächst zwei Fragen stellen, die mir spontan
in den Sinn gekommen sind, als ich Ihre Rede hörte:


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie Sponti! – Zurufe von der SPD: Spontan?)


– Ich habe nur zwei, aber dafür zwei konkrete.
Ich habe mich zum einen gefragt, warum eigentlich

vor gut einem Jahr der Generalinspekteur von Kirchbach
zurückgetreten ist,


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Ja!)

wenn Ihr Konzept so gut ist, wie Sie es hier dargelegt ha-
ben. Was war eigentlich der Grund für den Amtsverzicht
des Generalinspekteurs,


(Zuruf von der PDS: Er ist entlassen worden!)


den Sie ja auch beauftragt hatten, eine neue Konzeption
für die Bundeswehr vorzulegen?


(Gernot Erler [SPD]: Das nenne ich Spontaneität!)


Zum Zweiten stellt sich für mich ein logisches
Problem: Wenn die Zahlen – ich frage jetzt nicht nach
Brutto und Netto – alle stimmen, die Sie hier vor-
getragen haben, dann müssten Sie eigentlich auf der
Suche nach mindestens 50 neuen Standorten für die
Bundeswehr in der Bundesrepublik Deutschland sein.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


In Wahrheit hat noch nie ein Verteidigungsminister
hier im Parlament eine Konzeption für die zukünftige
Struktur der Bundeswehr vorgestellt, die so auf Sand ge-
baut ist wie die, die wir heute Morgen zum zweiten Mal
gehört haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Dr. Peter Stuck [SPD]: Lächerlich!)


Die Bundeswehr steht vor einem Umbauprozess ohne
Perspektive und voller neuer Unsicherheiten. Die „Re-
form der Bundeswehr von Grund auf“, wie Sie das nen-
nen, stellt die Fähigkeit der Bundeswehr, die ihr gestell-
ten Aufträge auch in Zukunft zu erfüllen, von Grund auf
in Frage. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU )

Schon die Art und Weise, wie Sie die Standortentschei-
dungen hier noch einmal präsentiert haben, zeigt das
ganze Ausmaß der Unseriosität, auch was Ihre Zahlen
angeht. Ich will Ihnen drei Beispiele nennen.

Sie haben vor, einen der größten Standorte in den
neuen Bundesländern zu verkleinern. In Ihrem Konzept
wird dieser Standort, Eggesin in Mecklenburg-Vorpom-
mern, von 1 800 Dienstposten auf jetzt 55 reduziert.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)

Da die Grenze zwischen Kleinstandorten und Großstand-
orten bei 50 eingezogen wurde, bleibt dieser Standort




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mit 55 auch in Zukunft ein Großstandort. Meine Damen
und Herren, so rechnet Scharping.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Lassen Sie mich ein zweites Beispiel nennen. In
Neumünster verbleiben von rund 800 Soldaten und zivi-
len Mitarbeitern jetzt noch zehn.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind zehn zu viel!)


Dort verbleibt das Truppendienstgericht

(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Teilweise!)

– ohne Truppe, meine Damen und Herren.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Teile!)


Kürzungen, die weniger als 500 Dienstposten ausmachen
und nicht mehr als die Hälfte des Personalbestandes be-
treffen, werden in Ihrem Konzept überhaupt nicht als
Standortverkleinerungen genannt.

Mit diesen Tricksereien täuscht die Bundesregierung,
täuscht der Bundesverteidigungsminister die Öffentlich-
keit. Schlimmer noch: Er täuscht die Betroffenen, die Sol-
daten und die zivilen Mitarbeiter an den Standorten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Welche seltsamen Wege Sie mit Ihrer Öffentlichkeits-

arbeit und Ihrer Informationspolitik gehen, Herr Bundes-
verteidigungsminister, das haben wir schon beim Umgang
mit dem Problem der so genannten DU-Munition und
auch bei der Gefährdung der Soldaten durch die Radarab-
strahlungen erlebt.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Was? Das ist eine Unverschämtheit! Unerhört, was Sie hier erzählen! Fragen Sie doch einmal Ihre Verteidigungspolitiker! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Sie früher nie interessiert!)


Darüber werden wir bei anderer Gelegenheit noch aus-
führlicher sprechen.

Ich will nur etwas Grundsätzliches sagen. Sie sind als
Verteidigungsminister, Herr Scharping, nicht nur Inhaber
der Befehls- und Kommandogewalt. Sie sind als oberster
Dienstherr auch zur Fürsorge den Soldaten gegenüber
verpflichtet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, und?)


Diese Fürsorgepflicht ernst zu nehmen gegenüber den
Soldaten der Bundeswehr erfordert Offenheit und Ehr-
lichkeit, und zwar nicht nur beim Einsatz der Soldaten,
sondern auch dann, wenn sie an ihren Standorten sind.
Von dem Vertrauen, das einmal ein ebenfalls sozialdemo-
kratischer Verteidigungsminister namens Georg Leber bei
den Soldaten der Bundeswehr gehabt hat


(Zuruf von der PDS)


– nein; ich weiß mich daran zu erinnern, weil ich in der
Zeit meinen Wehrdienst geleistet habe –, sind Sie meilen-
weit entfernt, Herr Scharping.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie den Abgeordneten der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: Ja, der Leber Schorsch, das war noch einer!)


Es ist ja nicht nur ein Konzept zur Reduzierung der
Standorte, sondern es muss ein sicherheitspolitisches
Konzept dahinter stehen. Darüber zu sprechen muss
heute Morgen auch Gelegenheit sein.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir jetzt gespannt!)


Nach der wiedergewonnenen deutschen Einheit haben die
Bundesverteidigungsminister Stoltenberg und Rühe aus
zwei feindlichen Armeen die Armee der Einheit ge-
schaffen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre lang die Anpassung verpennt!)


Aus Gegnern wurden Freunde in einer gemeinsamen
deutschen Bundeswehr. Nirgendwo sonst in der deut-
schen Gesellschaft ist die innere Einheit so schnell und so
erfolgreich Realität geworden wie in der Bundeswehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diese historische Leistung haben wir dem großartigen

Engagement der Soldaten und zivilen Mitarbeiter der
Bundeswehr, aber auch der übernommenen Soldaten und
zivilen Mitarbeiter der Nationalen Volksarmee zu verdan-
ken. Auch zehn Jahre nach der deutschen Einheit hat dies
unseren Respekt und unsere Anerkennung verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das heißt doch nicht Stillstand!)


Ich sage dies, weil seitdem die Bundeswehr in Umfang,
Struktur und Auftrag in sehr schwierigen Reformschritten
auf die neuen Aufgaben ausgerichtet worden ist. Es ent-
standen die Streitkräfte im vereinten Deutschland, die
Streitkräfte eines Landes, das auch in der Außen- und
Sicherheitspolitik eine größere internationale Verantwor-
tung übernehmen musste, übernehmen wollte und auch
übernehmen konnte.

Diese neue Bundeswehr hat ihre ersten internationa-
len Militäreinsätze bei Friedensmissionen und bei der
Krisenbekämpfung insbesondere in Kambodscha und So-
malia sowie – bis heute andauernd – in Bosnien und im
Kosovo professionell und sehr erfolgreich absolviert.
Diese Einsätze waren wichtig für den Frieden in den je-
weiligen Ländern. Sie waren von unschätzbarer Bedeu-
tung für das Ansehen unseres Landes nach der Wieder-
vereinigung. Es gehört eben auch zur historischen
Wahrheit: CDU und CSU haben diese Einsätze damals
zum Teil gegen den erbitterten Widerstand von Teilen der
Sozialdemokraten und insbesondere der Grünen durch-
setzen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)





Friedrich Merz

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Ich erwähne all dies, weil Sie, Herr Scharping, nach
diesem tief greifenden Umbauprozess in der Bundeswehr
ein gut bestelltes Haus übernommen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Zumkley [SPD]: Das ist der größte Witz! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da haben Sie aber nicht in den Keller geguckt!)


Ich will gar nicht bestreiten, dass es auch nach 1998 wei-
teren Reformbedarf in der Bundeswehr gegeben hat.
Aber der entscheidende Unterschied ist: Unsere Politik
hätte ihre Grundlage in einer Haushaltsplanung gehabt,
die nach Jahren des Sparens eine Trendumkehr für die
Bundeswehr eingeleitet hätte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Hätte! Hätte! Hätte! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Meine Damen und Herren, da Sie erwartungsgemäß
Zwischenrufe in größerer Anzahl machen, möchte ich an
dieser Stelle daran erinnern, dass es nach der Bundestags-
wahl 1998 einen Konsens gegeben hat, die Haushaltspla-
nung für die Bundeswehr, so wie ursprünglich vorgese-
hen, auf knapp 50 Milliarden DM im Jahr aufzustocken.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und nicht eingehalten! – Peter Zumkley [SPD]: Haben Sie doch nie eingehalten!)


Sie, Herr Scharping – wir alle haben dies noch gut in Er-
innerung –, haben den Posten als Vorsitzender der SPD-
Bundestagsfraktion nur aufgegeben und sind Verteidi-
gungsminister geworden, weil der Bundeskanzler und der
Bundesfinanzminister Ihnen genau diese Aufstockung zu-
gesagt und versprochen haben. Diese Zusage ist gebro-
chen worden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Unter Rot-Grün gibt es die größte Kürzungsaktion in
der Geschichte der Bundeswehr. Die Streitkräfte verlieren
in vier Jahren knapp 20 Milliarden DM gegenüber dem,
was Sie ihnen zu Beginn Ihrer Amtszeit zugesagt haben.


(Gernot Erler [SPD]: Eine Falschrechnung!)

Sie haben damit Ihre Versprechen gebrochen. Sie stehen
heute nicht als Gestalter einer Reform, sondern als Ge-
triebener des Bundesfinanzministers vor dem Deutschen
Bundestag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Ach du lieber Gott!)


Dies zeigt noch etwas anderes: Diese Bundesregierung
und insbesondere viele Regierungsmitglieder haben eine
tiefe innere Distanz zur Bundeswehr. Die Bundeswehr hat
keine Freunde mehr in dieser Regierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zurufe von der SPD: Oh! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat er gedient?)


Wer ein Unternehmen neu ausrichten will, der weiß,
dass im Zuge einer grundlegenden Reform neue Investi-
tionen erforderlich sind.


(Gernot Erler [SPD]: Man merkt, dass er nichts von der Sache versteht!)


Auf diesen Punkt hat auch die so genannte Weizsäcker-
Kommission in ihrem Bericht „Zukunft der Bundes-
wehr“ zu Recht hingewiesen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch die Kommission immer abgelehnt!)


Jenseits aller Punkte, die uns heute Morgen in der Bewer-
tung Ihrer Reform voneinander trennen, muss ich sagen:
Sie berufen sich bei Ihrer Reform doch auf den Bericht der
Weizsäcker-Kommission.


(Peter Zumkley [SPD]: Zu Recht!)

Aber die entscheidende Veränderung, die die Weizsäcker-
Kommission von Ihnen verlangt, Herr Scharping, nämlich
eine Anschubfinanzierung für die Reform der Bundes-
wehr, fehlt in jeder Haushaltsplanung für die nächsten Jahre.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will Ihnen ein paar weitere Fragen stellen, Herr

Scharping: Glauben Sie denn wirklich, dass im laufenden
Haushaltsjahr 2001 mehr als 1MilliardeDM durch den Ver-
kauf von Bundeswehreigentum eingestellt werden kann?

Glauben Sie wirklich, dass die Industrie bereit ist, bis-
herige Aufgaben der Bundeswehr zu übernehmen, wenn
es sich nicht rechnen wird? Woher nehmen Sie eigentlich
den Optimismus für die hohen Einsparungen, die Sie
durch Privatisierung und Rationalisierung erzielen
wollen?

Glauben Sie schließlich ernsthaft, dass die Soldaten
nicht sehr genau registriert hätten, dass die Höhe des Ver-
teidigungshaushaltes für dieses Jahr gegenüber den Pla-
nungen des Finanzministers nur deswegen relativ und
vordergründig freundlich ausfällt, weil Sie rechnerisch im
Verteidigungshaushalt rund 2 Milliarden DM zusätzlich
verbuchen konnten, nämlich für den Einsatz der Bundes-
wehr auf dem Balkan?

Dies alles ist auf Sand gebaut. Ihre Zahlen stimmen
nicht und Sie wissen das, Herr Scharping.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Nun lassen Sie mich, weil auch das in diesen Zusam-
menhang gehört, ein Wort zur Wehrpflicht sagen. Sie ha-
ben sich – gegen manche Widerstände, auch aus den ei-
genen Reihen – stets für die Beibehaltung der allgemeinen
Wehrpflicht in Deutschland ausgesprochen. Wir teilen
diese Einschätzung, weil auch wir der Überzeugung sind,
dass die Wehrpflicht gut begründet ist, nicht nur hinsicht-
lich der sicherheitspolitischen Lage, sondern auch in un-
serem Land und in unserer Gesellschaft. Die Wehrpflicht
bleibt als Bindeglied zwischen der Gesellschaft und den
Streitkräften auf längere Sicht unverzichtbar.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist doch dummes Zeug!)





Friedrich Merz
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(C)



(D)



(A)



(B)


Aber nun sind dramatische Einschnitte bei der Zahl der
Wehrpflichtigen geplant. Sie wissen doch, Herr Scharping,
dass die Zahlen, die Sie uns heute Morgen hier vorgetra-
gen haben – soweit man dem überhaupt folgen konnte –,
falsch sind.


(Lachen bei der SPD – Dr. Peter Struck [SPD]: Unsinn! Stuss!)


– Entschuldigung, Sie haben doch allein 30 000 so ge-
nannte Schülerstellen in die Zahlen einbezogen, die in der
Bundeswehr gar nicht ausgefüllt werden. – Die Zahl der
Wehrpflichtigen, die Sie vorsehen, und die Haushaltslage,
die damit verbunden ist, werden – das wissen Sie ganz ge-
nau – dazu führen, dass die Wehrgerechtigkeit im Kern
gefährdet ist. Damit wird die Wehrpflicht von innen aus-
gehöhlt. Dies wird auch die Fähigkeit der Bundeswehr,
Zeit- und Berufssoldaten zu rekrutieren, auf mittlere Sicht
im Kern gefährden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch und das wissen Sie!)


Die Kürzungen bei der Bundeswehr sind weder sicher-
heitspolitisch noch verteidigungspolitisch zu verantwor-
ten. Die Bundeswehr hat einen erheblichen Modernisie-
rungsbedarf:


(Susanne Kastner [SPD]: Woher kommt das denn, Herr Merz? – Weiterer Zuruf von der SPD: Natürlich, nach Ihrer Regierungszeit!)


bei der Aufklärung, bei der Kommunikation, beim Trans-
port und auch bei den persönlichen Ausrüstungen der Sol-
daten.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das „gut bestellte Haus“ hat Modernisierungsbedarf!)


Unsere Soldaten haben, gerade wenn wir sie in so
schwierige Einsätze wie im Kosovo schicken, einen An-
spruch auf die beste Ausrüstung und die beste Ausbildung.
Hierfür zu sorgen ist Verpflichtung und Verantwortung
der Politik,


(Gernot Erler [SPD]: Schön, dass Sie das mal merken!)


dieses Parlaments, das einen Einsatz der Streitkräfte allein
beschließen kann, und der Bundesregierung.

Wir fordern den Mut zu einer notwendigen Prioritäten-
setzung zugunsten der Bundeswehr so, wie ihn andere
Länder, insbesondere die USA, bereits aufgebracht haben.
Wir haben deshalb beantragt, zur Finanzplanung der
alten Bundesregierung zurückzukehren, das heißt kon-
kret – ich will es noch einmal sagen –, einen Anstieg der
Mittel auf circa 50 Milliarden DM vorzunehmen.


(Gernot Erler [SPD]: Wo sind denn die Deckungsvorschläge?)


Die Politik muss der Bundeswehr gerade in dieser
schweren Zeit klare und verlässliche Rahmenbedingun-
gen setzen. Nur dann kann die Bundeswehr ihren heraus-
ragenden Dienst weiterhin so erfolgreich leisten und nur
dann können die Soldaten, die zivilen Mitarbeiterinnen

und Mitarbeiter und ihre Familien endlich wieder eine
verlässliche Lebensplanung haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der frühere amerikanische Präsident George Bush hat

der Bundesrepublik Deutschland 1991 in einer weltweit
beachteten Rede, die er in der Stadt Mainz gehalten hat,
„partnership in leadership“ angeboten.


(Zuruf von der PDS: Schlimm genug!)

Wenn wir dies ernst nehmen, muss gerade Deutschland
die Streitkräfte in die Lage versetzen, die politisch vorge-
gebenen Aufgaben auch tatsächlich zu erfüllen.

Auf der Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik
am letzten Wochenende – Sie waren doch auch fast die
ganze Zeit anwesend, Herr Scharping – haben alle ameri-
kanischen Politiker, die aus der neuen Regierung und
die aus der früheren Regierung, diese Ansprüche an uns
in aller Deutlichkeit formuliert. Die Erwartungen an
Deutschland sind hoch. Deswegen sehen unsere
Bündnispartner mit großer Sorge, dass zwischen dem po-
litischen Anspruch und der Realität in der Bundeswehr
eine immer größere Lücke klafft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Diese Sorgen unserer Partner sind alles andere als un-
berechtigt. Wer will, dass die Bundeswehr neue Aufgaben
übernimmt – da befinden wir uns in einem Konsens, auch
und gerade was die Beschlüsse von Nizza betrifft –, wer
will, dass diese Aufgaben wirklich erfüllt werden können,


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verweigern sich doch immer!)


der muss auch bereit sein, die notwendigen Mittel für die
Modernisierung der Bundeswehr aufzubringen.

Ich will es noch einmal ganz konkret sagen: Weder die
Beschaffung des neuen Transportflugzeuges noch die
Finanzierung des gemeinsamen Aufklärungssatelliten fin-
den sich in Ihren Haushaltszahlen ausreichend wieder.
Was hier auf dem Spiel steht, meine Damen und Herren,
ist nicht mehr und nicht weniger als die unter der früheren
Regierung unter schwierigen Bedingungen, aber erfolg-
reich begonnene Ausrichtung auf eine neue sicherheits-
politische Lage nach dem Ende des Kalten Krieges. Frie-
den und Freiheit unseres Landes zu sichern, mitzuwirken
an internationalen Friedensmissionen und deutsche Inte-
ressen wirksam zu vertreten, das alles ist nicht zum Null-
tarif zu haben.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Ganz etwas Neues!)

Wer nicht zur Solidarität fähig ist, verliert an Einfluss.

Im Bündnis der NATO steht Deutschland mittlerweile an
vorletzter Stelle, was die Ausgaben für die Streitkräfte
betrifft, bezogen auf die Anteile am Bruttosozialprodukt,
noch hinter Luxemburg. Dies wird der Bedeutung und der
Verantwortung unseres Landes nicht gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Eine leidenschaftliche, aufrüttelnde Rede!)





Friedrich Merz

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(C)



(D)



(A)



(B)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab-
schluss deutlich machen: Deutschland ist, ob wir das wol-
len oder nicht, politisch und wirtschaftlich das bedeutends-
te Land in Europa. Als wiedervereintes Land in der
geopolitischen Mitte unseres zusammenwachsenden Kon-
tinents haben wir eine neue, größere außenpolitische Ver-
antwortung übernommen. Außen-, Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik stehen in einem inneren Zusammenhang.
Deutschland, Europa und die NATO sind aufeinander an-
gewiesen. Der Verteidigungsetat dieser Bundesregierung
gefährdet diesen inneren Zusammenhalt.

Wir wünschen uns eine deutsche Außen- und Sicher-
heitspolitik, die die gewachsene Verantwortung, die unser
Land trägt, auch aktiv wahrnimmt. Wir müssen eine stär-
kere Rolle im Bündnis der NATO, in den transatlantischen
Beziehungen und in der Europäischen Union spielen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Merz, aber mit Ihnen wird das nichts! Wirklich!)


Frieden und Freiheit zu sichern, die Menschenrechte
zu schützen, aber eben auch unsere Interessen zu vertre-
ten, dies muss Aufgabe der deutschen Außenpolitik, aber
auch Aufgabe der deutschen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik sein. Meine Damen und Herren, dieser Auf-
gabe wird die Bundesregierung mit der vorgelegten Re-
form der Bundeswehr nicht mehr gerecht.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415000300
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Jürgen Koppelin, F.D.P.-
Fraktion, das Wort.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Was ist denn nun los?)



Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1415000400
Herr Kollege Merz, ich
kann durchaus mit vielem, was Sie hier vorgetragen ha-
ben, einverstanden sein. Aber ich denke, eines sollten sich
die beiden Oppositionsfraktionen, CDU/CSU und F.D.P.,
in einer solchen Debatte nicht entgehen lassen, nämlich
auf das zurückzukommen, was der Bundesverteidigungs-
minister in der Haushaltsdebatte Ende November letzten
Jahres gesagt hat. Als wir damals sagten, es würden
50 Standorte geschlossen, hat er nämlich der CDU/CSU
und der F.D.P. in der Person des Kollegen Austermann
und in meiner Person vorgeworfen,


(Zuruf von der PDS: Zu Recht! – Heiterkeit bei der SPD)


dies sei völlig übertrieben, und hat uns aufgefordert, den
Beweis hierfür zu liefern. Es spricht heute nur noch von
39, hat aber tatsächlich mindestens 59 Standorte ge-
schlossen.


(Peter Zumkley [SPD]: Unterschiedlicher Qualität, Herr Koppelin! Nun sagen Sie es doch endlich!)


Sie haben das Beispiel Neumünster genannt.

Herr Kollege Merz, Sie haben es nicht gesagt. Dann tue
ich es: Herr Bundesverteidigungsminister, hier ist der Be-
weis, dass Sie über 50 Standorte schließen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Daneben fehlt mir sowohl bei Ihnen, Herr Kollege

Merz, als auch beim Bundesverteidigungsminister die
Aussage darüber, was dieses Konzept kosten wird. Eine
Standortreduzierung wird nämlich zunächst einmal viel
Geld kosten. Der Bundesverteidigungsminister hat es bis
heute nicht nötig gehabt – das ist der Unterschied zu un-
serer alten Koalition; auch wir haben Standorte geschlos-
sen –, in den Haushaltausschuss zu gehen, dort sein Kon-
zept vorzulegen und zu sagen: So viel wird es zunächst
kosten und so viel werde ich langfristig einsparen. Auch
das muss doch gesagt werden!


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Zum Abschluss: Herr Kollege Merz, der Bundesvertei-

digungsminister hat in vielen Teilen seiner Rede die Op-
position, also CDU/CSU und F.D.P., massiv kritisiert. Wir
befinden uns dabei, so meine ich, Herr Verteidigungs-
minister, in allerbester Gesellschaft. Ich habe nämlich ei-
nen Zeitungsartikel dabei und ich freue mich darüber, dass
die Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein
anwesend ist. Die Überschrift lautet: Simonis kritisiert
Scharping. Wahrscheinlich liegt der Unterschied darin,
dass Frau Simonis das schon seit zehn Jahren macht,
während wir es erst tun, seit er Verteidigungsminister ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Peter Struck [SPD]: Was soll der arme Merz denn darauf antworten?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415000500
Ich unterstelle, Kol-
lege Merz, dass Sie darauf nicht antworten wollen, denn
Sie waren gar nicht gemeint. Das, was Herr Koppelin ge-
macht hat, nennt man eine Dreiecksintervention.

Kollege Koppelin, die Regel lautet: Die Intervention
soll sich auf den vorherigen Redner beziehen. Daran
möchte ich nur erinnern.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Er hat ihn ja direkt angesprochen!)


Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion,
das Wort.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1415000600
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Aus Januar/Februar 2001 werden wir
zwei Erinnerungen mitnehmen:


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Ja, an die Rede des Ministers!)


eine daran, dass in diesen Tagen ein wichtiger Schritt zur
Umsetzung der Bundeswehrreform getan wurde, und zwar
mit dem Ziel, die Bundeswehr bündnisfähiger, aufgaben-
fähiger und zukunftsfähiger zu machen; eine andere da-
ran, dass die Opposition, vor allem die CDU/CSU, diesen
Schritt ausschließlich mit Geschrei und leer laufenden
Attacken begleitet hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Friedrich Merz
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(D)



(A)



(B)


Was hier abläuft, ist eine durchschaubare Inszenierung.
Herr Merz, erst haben Sie sich an der Kampagne beteiligt,
dem Verteidigungsminister bei der Uranmunition ir-
gendwas in die Schuhe zu schieben.


(Peter Zumkley [SPD]: Ja, so war es!)

Ich betone dabei „irgendwas“; denn die Vorwürfe waren
beliebig und wechselten täglich. Erst hieß es, es hätte zu
späte Informationen für die eingesetzten Soldaten gege-
ben, später hieß es, das Problem sei vernachlässigt wor-
den, und schließlich hieß es, es hätte eine schlechte Infor-
mation des Parlaments gegeben. Was ist heute davon
übrig geblieben? – Nichts, gar nichts!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie mussten anerkennen: Die eingesetzten Soldaten
sind rechtzeitig gewarnt und informiert worden, die Bun-
deswehr hat anders als andere Streitkräfte sogar eigene
Untersuchungen durchgeführt – das beweist das Gegen-
teil von Gefahrenunterschätzung –, und wir konnten
Ihnen nachweisen, dass der Bundestag über das Thema
früh, wiederholt und gründlich informiert wurde.


(Widerspruch bei der PDS)

Wir haben dabei gemerkt: Ihnen ist es überhaupt nicht

um die Sicherheit der Soldaten oder den Schutz von Um-
welt und Land gegangen; denn Sie haben uns, als wir ver-
sucht haben, in der NATO wenigstens einen Stopp der
Verwendung dieser Munition zu erreichen, im Stich ge-
lassen. Sie haben uns überhaupt nicht unterstützt. Das be-
weist, um was es Ihnen bei dieser Geschichte wirklich ge-
gangen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dann kamen die Standortentscheidungen. Wieder
ging das Geschrei vom Kahlschlag und von der Gefähr-
dung der Sicherheit der Bundesrepublik los. Eigentlich
hat nur noch gefehlt, dass Sie Ihre Familien in ein siche-
res Ausland verbracht hätten, so ein Geschrei haben Sie
angestellt.


(Heiterkeit bei der SPD)

Das waren absurde Vorwürfe. Das Echo in der Öffent-
lichkeit war verheerend,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und zwar für Sie, nicht für den Verteidigungsminister.


(Beifall bei der SPD)

Ich will Ihnen etwas aus der „Süddeutschen Zeitung“

vortragen. Sie schreibt:
Man kann mäkeln und meckern an dieser oder jener
Ecke seiner Reform: Rudolf Scharping kommt das
klare Verdienst zu, anders als seine Vorgänger von
der Union, gründlich Inventur bei der Bundeswehr
gemacht zu haben. Seine Standortliste schreckt nicht
vor harten Wahrheiten zurück und hat die Logik auf
ihrer Seite: Wer eine moderne und kleinere Bundes-
wehr will, muss sich damit abfinden, dass sie sich
dann aus manchem Stadtbild verabschiedet. Das eine
wollen und das andere nicht aufgeben, geht nicht.

Der Vorwurf des Kahlschlags ist nicht gerechtfertigt.
Auch die Unterstellung der parteipolitischen Aus-
wahl geht bei genauer Betrachtung der Streichliste
ins Leere.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das sind nicht wir, die das sagen, das ist die Öffentlich-
keit.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415000700
Kollege Erler, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1415000800
Nein, ich möchte gern im Zu-
sammenhang vortragen.

Im „Mannheimer Morgen“ stand:
Scharping hat die Erblast in nur zwei Jahren über-
wunden und die Bundeswehr so radikal und grundle-
gend umgekrempelt wie keiner seiner Vorgänger.

Das könnten wir gar nicht besser ausdrücken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die „Kölnische Rundschau“ schreibt:

Dabei versucht die Union wieder einmal, alte
Schlachten neu zu schlagen. Sie spricht von „Kahl-
schlag“

(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Unver schämtheit!)

und verlangt eine Bundeswehrstärke von 300 000
Soldaten. Im Grunde will die Unionsspitze also nur
kosmetische Veränderungen, aber keine Reformen.

So ist das; das hat die Öffentlichkeit gemerkt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es war also wieder nichts mit der Attacke. In Wirk-

lichkeit wissen Sie ganz genau, dass die Standortent-
scheidungen im Ganzen rational, in der Lastenverteilung
fair und von der Sache her unumgänglich sind. Von der
CSU haben wir das sogar schriftlich bekommen, freilich
verbunden mit der Aufforderung an die eigenen Funk-
tionäre, trotzdem nach Kräften vor Ort Rabatz zu machen.


(Peter Zumkley [SPD]: So ist das!)

Sie nutzen also die örtlichen Betroffenheiten, die es gibt,
die wir ernst nehmen und auf die wir vor Ort auch unsere
Antworten geben werden,


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das haben wir gemerkt!)


für Ihre billigen Attacken gegen die gesamte Bundes-
wehrreform aus, zu der Sie in 16 Jahren nicht die Kraft ge-
funden haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Merz, Sie haben noch etwas gemacht: Sie haben
in München auf der Sicherheitskonferenz – vielleicht




Gernot Erler

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(C)



(D)



(A)



(B)


sind Sie so nett und hören mir einmal zu, weil ich Sie per-
sönlich ansprechen möchte – vor Fachleuten aus der
ganzen Welt Ihr eigenes Land an den Pranger gestellt mit
den sachlich falschen Behauptungen, die Bundesrepublik
werde durch die Kürzung der Verteidigungsausgaben um
20 Millarden DM


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das hat doch Scharping selber gesagt, guter Mann! Hören Sie doch zu!)


ihre Bündnisverpflichtungen nicht erfüllen können, die
übrige Welt sei mit Deutschland unzufrieden. Das ist ein
unerhörter Regelverstoß; das gibt es in keinem anderen
Land. Das hat es in 36 Konferenzen vorher nicht gegeben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit haben Sie den Grundkonsens in der Sicherheitspo-
litik gebrochen, Herr Merz. Leute, die mehr Erfahrung ha-
ben als Sie, werden Ihnen noch oft sagen, dass diese Pre-
miere fehlgeschlagen ist. Sie werden Ihnen sagen, was sie
davon halten, nämlich gar nichts.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Wer schreit, hat Unrecht! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ihnen hört ja nicht mal mehr der Scharping zu!)


Ziehen wir also Bilanz: Ihr Versuch bezüglich der
Uranmunition ist gescheitert, ebenso der bezüglich der
Standortentscheidungen. Über die Provokation, die Sie
sich in München geleistet haben, haben alle geschwie-
gen, weil es allen nur peinlich war. Aber Sie brauchen ja
etwas, um schnell in die Offensive zu kommen. Sie müs-
sen ja ablenken von Ihrem internen Führungshakeln und
Führungsdebakel,


(Dr. Peter Struck [SPD]: „Debakel“ ist besser!)

von Ihrem geschmacklosen Plakatdesaster und all den an-
deren Pleiten der letzten Tage. Deswegen haben Sie jetzt
ein neues Thema gefunden, nämlich die Bundeswehrfi-
nanzen. Nach dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt
sich’s gänzlich ungeniert“ kann man jetzt natürlich mit
diesem Thema kommen, ohne irgendwelche Etatvor-
schläge, die gedeckt sind, zu machen. Die Methode ist:
Wieder rein in die Vollen, Horrorzahlen verbreiten, Unsi-
cherheit säen – alles wie gehabt. Die Öffentlichkeit er-
wartet in der Tat schon gar nichts anderes mehr von Ihnen.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Der Verteidigungsexperte Erler!)


Aber, Herr Kollege, die Zahlen sind nun einmal neu-
tral; die können Sie nicht anzweifeln. Nach den Zahlen ist
es nun einmal Tatsache, dass der Einzelplan 14 nicht in Ih-
rer Zeit, sondern in den nur drei Etats der neuen Bundes-
regierung angewachsen ist. Es ist nun einmal Tatsache,
dass Sie für die Materialerhaltung in den letzten vier Jah-
ren Ihrer Regierung im Schnitt 4 Milliarden DM aufge-
wendet haben.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist ja wirklich hanebüchen!)


Wann wurde denn von der Kannibalisierung ganzer Waf-
fensysteme gesprochen? Dieser Begriff ist doch zu Ihrer
Regierungszeit geprägt worden und nicht zu unserer.


(Beifall bei der SPD)

Diese Mittel sind jetzt aufgestockt worden. In Investi-
tionen in die militärische Beschaffung sind fast 2 Milli-
arden DM mehr als in Ihrer Regierungszeit geflossen.
Wir haben doch noch die vielen Klagen der Industrie im
Ohr, die in Ihrer Regierungszeit in Bezug auf die Arbeits-
plätze und die Fähigkeit, international mitzuhalten,
geäußert wurden. Das ist jetzt besser geworden.

Auch die Investitionsquote, eine magische Größe,
haben Sie von 26,9 Prozent im Jahre 1991 auf 23,7 Pro-
zent in Ihrem letzten Regierungsjahr heruntergefah-
ren – mit einem Tiefpunkt von 21,1 Prozent im Jahr
1994. Das ist damals international in der Tat ein Thema
gewesen. Jetzt liegt die Investitionsquote wieder bei
24,3 Prozent; wir wollen in diesem Jahr auf 25,4 Pro-
zent kommen.

An diesen Zahlen kommen Sie nicht vorbei. Ihre
Attacken in Bezug auf diese Etatfrage brechen schlicht
und einfach zusammen.

Tatsache ist: Die neue Bundesregierung hat die Mittel
im Einzelplan 14 erhöht.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wo waren Sie eigentlich in den letzten Wochen?)


Sie hat die Materialerhaltung verstärkt. Sie hat die Mit-
tel für Investitionen erhöht und vor allen Dingen die
Investitionsquote wieder heraufgesetzt. Das alles ist im
dritten Etatjahr der neuen Bundesregierung gelungen.
Das ist ein respektables, ein vorzeigbares Ergebnis, das
zudem unter den Zwängen der Haushaltskonsolidie-
rung erzielt worden ist, die von der Bevölkerung ak-
zeptiert wird und die auch für die Bundeswehr gelten
muss. Darüber gibt es in unserer Gesellschaft einen
Konsens.


(Beifall bei der SPD)

Deswegen kann ich von dieser Stelle aus abschließend

nur eines tun: Ich kann Sie, Herr Merz, und Ihre Fraktion
nur dazu auffordern, endlich einmal zur Kenntnis zu neh-
men, dass Sie mit Ihrer ständigen Aufforderung zur Aus-
weitung der Verteidigungsausgaben weder in der Fach-
welt noch in der Mehrheit der Bevölkerung Zustimmung
finden. Die Mehrheit hat die Unseriosität Ihrer Forde-
rungen, die ja gar nicht von irgendwelchen Deckungs-
vorschlägen begleitet werden, erkannt.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Sie sollten einmal in den Verteidigungsausschuss kommen, Herr Erler!)


Sie zielen mit Ihren haltlosen Zahlenspielen zwar auf die
Verunsicherung der Beschäftigten ab, werden damit
aber Schiffbruch erleiden. Denn die Menschen haben
längst bemerkt, dass es nicht um mehr Verteidigungs-
ausgaben geht, sondern darum, die Sicherheit und die
Zukunft der Bundeswehr auf der Basis einer Reform, ei-
ner realistischen Anpassung der Größenordnung, also
auf der Basis von Strukturveränderungen, zu gestalten.




Gernot Erler
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(C)



(D)



(A)



(B)


Dies ist der einzige Weg und den geht Rudolf Scharping
bzw. die Koalition.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich rufe Ihnen zu: Hören Sie auf mit Ihrem unverant-
wortlichen Gerede! Kehren Sie zur Sacharbeit zurück, die
noch genügend Platz für ein Ringen um die besseren Ant-
worten lässt! Herr Merz, kehren Sie zu dem in sicherheits-
politischen Fragen bewährten Grundkonsens zurück! Da-
von haben in der Vergangenheit alle profitiert: die
Gesellschaft, die Bundeswehr und das Ansehen Deutsch-
lands in der ganzen Welt.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415000900
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion.

Günther Friedrich Nolting (F.D.P.) (von Abgeordne-
ten der F.D.P. mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Kollege Erler, ich habe Sie in
den letzten Wochen nicht ein einziges Mal im Vertei-
digungsausschuss gesehen. Die gesamte Diskussion ist an
Ihnen vorbeigegangen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Da sind Sie falsch informiert!)


Sie haben sich an dieser Diskussion überhaupt nicht be-
teiligt. Nun greifen Sie hier die Opposition an. Das kann
es ja wohl nicht sein.


(Beifall bei der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Herr Merz war auch nicht im Verteidigungsausschuss!)


Sie reden hier das Konzept des Ministers schön. Sie
werden erleben, dass dieses Konzept nicht zukunftsfähig
ist.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch wir haben Herrn Koppelin und Herrn Merz nicht gesehen! – Zurufe von der SPD)


– Dazu komme ich gleich noch. Einen Moment! – Sie ha-
ben hier die Diskussion über die DU-, die Uranmunition
angesprochen. Dazu ist festzustellen: Wir nehmen die
Ängste der Soldaten ernst


(Gernot Erter [SPD]: Eben nicht!)

und vertuschen nicht, wie Sie es getan haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Angesichts dessen, dass Sie von Geschrei in den be-

troffenen Standorten gesprochen haben – auch ich schreie
jetzt, weil ich nicht anders kann und weil die Emotionen
hier hochkommen –,


(Peter Zumkley [SPD]: Herr Nolting, blasen Sie sich nicht so auf!)


ist zu fragen: Nehmen Sie eigentlich die Sorgen der Sol-
daten, der zivilen Mitarbeiter und der Kommunen ernst?


(Gernot Erler [SPD]: Mehr als Sie!)

Nein, Sie tun es nicht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ist denn die Kritik der Ministerpräsidentin aus Schleswig-
Holstein, die zu Recht vorgetragen wurde, Geschrei? In
welcher Welt befinden Sie sich? Beschäftigen Sie sich ei-
gentlich mit diesen Fragen?


(Zuruf von der SPD: Doch, er tut es!)

Sie sollten in sich gehen und noch einmal überprüfen, was
Sie hier vorgetragen haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege Merz, Sie haben ja Recht: Die so ge-
nannte Reform Scharping ist aus der sicherheitspoliti-
schen Analyse nicht ableitbar. Wir haben ja gemeinsam
mit dem früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker ei-
nen kompetenten Verbündeten; Sie haben darauf hinge-
wiesen. Er stammt aus Ihren Reihen. Aber ebenso wie die
Pläne von Hans-Peter von Kirchbach vom Minister nicht
berücksichtigt wurden, wurden auch die Pläne von Herrn
von Weizsäcker nicht berücksichtigt.

Allerdings suchen Sie sich aus den Plänen der
Weizsäcker-Kommission nur das heraus, was Sie gerade
brauchen. Auf die Personalreduzierungen, die Herr von
Weizsäcker vorgeschlagen hat, sind Sie überhaupt nicht
eingegangen. Auch das hätten Sie einmal tun sollen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich betone an dieser Stelle: Das vorgelegte Konzept

„Feinausplanung und Stationierung“ ist kein Genie-
streich. Aber, Herr Kollege Merz, angesichts Ihrer heuti-
gen Rede kommen bei mir nun doch einige Fragen auf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Bundeswehr ist seit Jahren drastisch unterfinan-

ziert und Sie wissen dies.

(Beifall des Abg. Hildebrecht Braun [Augs burg] [F.D.P.])

Das heißt, der Verteidigungshaushalt muss erhöht und das
Personal auf das sicherheitspolitisch erforderliche Maß
reduziert werden. Auch darauf sind Sie heute nicht einge-
gangen. Sie bewegen sich in realitätsfernen Gefilden,
Herr Kollege Merz.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Seit wann sind Sie in der Opposition, Herr Nolting?)


Sie erwecken den Eindruck, als sei mit der Union alles
besser. Ich frage mich, woher Sie eigentlich diesen Mut
nehmen.

Wo war der Mut der CDU/CSU-Fraktion in den ge-
meinsamen Regierungsjahren mit der F.D.P., als die F.D.P.




Gernot Erler

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(C)



(D)



(A)



(B)


die Öffnung der Bundeswehr für Frauen forderte? Die
Union hat abgelehnt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


– Die SPD hat auch abgelehnt. Klatschen Sie nicht!

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo war der Wille der CDU/CSU-Fraktion, sich für

die Menschen einzusetzen, als die F.D.P. gleiche Gehäl-
ter für die Bundeswehr in Ost und West durchsetzen
wollte?


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Union hat abgelehnt, die SPD hat abgelehnt, die Grü-
nen haben abgelehnt und die PDS hat abgelehnt.


(Zuruf von der PDS: Das stimmt doch gar nicht!)


Die F.D.P.-Fraktion hat der Öffentlichkeit bereits vor
zwei Jahren ihre Vorstellungen über die Zukunft der Bun-
deswehr mitgeteilt. Die von Ihnen geführte CDU/CSU-
Fraktion hat bis heute in dieser Frage kein abgestimmtes
Konzept. So kann es nicht gehen, Herr Kollege Merz.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Keine eigenen Vorstellungen, aber Kritik üben – das ist
mir schlicht und einfach zu wenig. So verstehen wir Frei-
demokraten unsere Oppositionsrolle nicht.

Meine Damen und Herren, der Mensch steht im Mit-
telpunkt. Die Politik muss sich immer daran messen, ob
sie nach diesem Grundsatz handelt. Selbstverständlich
gilt das auch für die Reform der Bundeswehr. Die An-
gehörigen der Bundeswehr haben Anspruch auf eine best-
mögliche Ausbildung, auf modernste Ausrüstung und auf
eine angemessene Bezahlung. Sie haben auch Anspruch
auf größtmögliche Planungssicherheit, auch in Zeiten
schneller Umbrüche wie in den vergangenen Jahren.
Selbstverständlich stehen die Angehörigen der Bundes-
wehr auch im Mittelpunkt, als Staatsbürger in Uniform.

Unsere Soldaten übernehmen viele und nicht immer
angenehme Pflichten. Ich verweise auf die gegenwärtigen
Einsätze auf dem Balkan. Ich verweise aber auch auf die
wichtige Arbeit zu Hause. Deshalb sage ich: Wir haben es
nicht mit einem abstrakten Gebilde zu tun, sondern mit
Menschen, mit Staatsdienern im wahrsten Sinne des Wor-
tes. Ich kann mir nicht helfen, aber genau hier sehe ich un-
geheure Defizite bei den Entscheidungen des Verteidi-
gungsministers, und zwar von Tag zu Tag zunehmend.

In jedem Standort, den ich in den letzten Tagen besucht
habe, bekomme ich von den Menschen gesagt, die Re-
form der Bundeswehr ginge an ihnen vorbei. Da werden
Hochglanzbroschüren ausgeteilt, die lücken- und fehler-
haft sind. Da werden Informationen so lange zurückge-
halten, bis die Gerüchteküche überquillt und Presseveröf-
fentlichungen den Minister zur Unterrichtung zwingen.
Da wird mit Zahlen getrickst, die keiner Überprüfung
standhalten. Ich verweise dabei auf das unhaltbare Papier
zur Wehrgerechtigkeit vom Herbst letzten Jahres. So kann

es niemanden wundern, dass von der vollmundig an-
gekündigten größten Reform in der Geschichte der Bun-
deswehr lediglich ein verunglücktes Reförmchen übrig
geblieben ist. Ganz offensichtlich hat Sie, Herr Minister
Scharping, der Mut verlassen. Das notwendige Geld war
vorher schon weg.


(Beifall bei der F.D.P.)

Herr Minister Scharping, Sie sind kein Visionär, wie

wir das heute wieder erlebt haben,

(Gernot Erler [SPD]: Aber Sie!)


Sie sind nicht einmal Realist.

(Peter Zumkley [SPD]: Ihre Berufsarmee wäre teurer gekommen, Herr Nolting!)

Sie sind ein mutloser Zauderer, zunehmend gepaart mit
träumerischen Zügen.

Herr Minister Scharping, der Kollege Koppelin hat
schon darauf hingewiesen: Sie haben hier im letzten
Herbst in der Haushaltsdebatte erklärt, es werde, abge-
sehen von Kleinststandorten, kein Standort geschlossen,


(Rudolf Scharping, Bundesminister: Das stimmt doch gar nicht!)


und in diesem Zusammenhang die Kollegen Austermann
und Koppelin der Lüge bezichtigt.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist doch Unsinn!)

Am 14. Dezember letzten Jahres konnten wir dann in der
Zeitung „Die Welt“ nachlesen, welche Standorte ge-
schlossen werden.

Haben Sie, Herr Minister Scharping, am 29. November
letzten Jahres wissentlich die Unwahrheit gesagt oder ar-
beitet Ihr Haus an Ihnen vorbei?


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie können einen Untersuchungsausschuss beantragen!)


Ich könnte auch sagen: Es begann mit einer Lüge.

(Peter Zumkley [SPD]: Großinquisitor Nolting!)

Herr Minister Scharping, Sie sollten sich endlich bei den
Kollegen Koppelin und Austermann genauso wie beim
Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbandes ent-
schuldigen.

Natürlich müssen Veränderungen bei Standorten
vorgenommen werden,


(Peter Zumkley [SPD]: Na also!)

wenn die Bundeswehr umstrukturiert wird. Daran besteht
kein Zweifel. Aber dann darf der verantwortliche Minis-
ter nicht noch zehn Wochen zuvor lediglich von zu
schließenden Kleinststandorten sprechen. Das ist der ei-
gentliche Skandal! Herr Minister, Ihre eigenen Partei-
freunde haben Ihnen diese Aussagen abgenommen und
dies auch in den Standorten verkündet. Sie stehen jetzt im
Regen.




Günther Friedrich Nolting
14684


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie stehen in dieser Frage auch aus Ihren eigenen Rei-
hen unter Druck, aber lassen nicht von diesem Wege ab,
wie Ihre Hochglanzbroschüre „Feinausplanung und Sta-
tionierung“ belegt. Sie ist eine standortpolitische Mogel-
packung allererster Güte. Das kann man an einigen weni-
gen Fakten belegen:

Es werden 59 Standorte geschlossen, davon 39 Groß-
standorte; das ist in diesem Papier nachzulesen. Zudem
wird der Personalbestand in 20 Standorten halbiert und in
18 Standorten bis zu 98 Prozent reduziert, was einer To-
talaufgabe gleichkommt. Ich nenne einige wenige Bei-
spiele: Dülmen wird von 1 969 Dienstposten auf unter 400
reduziert – dort wird es in Zukunft nur noch zivile Mitar-
beiter geben – aber der Standort, so der Minister, bleibt er-
halten. Eggesin wird von 1 792 auf 55 Dienstposten
gekürzt, aber, so der Minister, der Standort bleibt erhalten.
Neumünster wird von über 900 Dienstposten auf ganze
zehn reduziert, aber der Standort, so der Minister, bleibt
erhalten. – Die Liste ließe sich fortsetzen. Was haben Sie
sich eigentlich dabei gedacht, den Standort Schneeberg
ganz zu streichen? Auch dazu müssen Sie noch eine Er-
klärung abgeben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herr Minister Scharping, ich fordere Sie auf, endlich

Antworten auf folgende Fragen zu geben: Wie ernst neh-
men Sie eigentlich die Gespräche mit den Betroffenen?
Wie gedenken Sie den sozialverträglichen Umbau der
Bundeswehr zu finanzieren? Haben Sie Vorkehrungen ge-
troffen für die fällige Anpassung des Personalbestandes?
Wann erfahren die betroffenen Soldaten und zivilen Mit-
arbeiter, was mit ihnen passiert? Welche Verträge wird es
geben? Wie wollen Sie den erforderlichen umweltgerech-
ten Rückbau der Liegenschaften und die vielerorts über-
fällige Modernisierung der Kasernen finanzieren? Wie
wollen Sie den Gemeinden helfen, die ihre Kasernen
plötzlich ganz oder weitgehend eingebüßt haben? Sie
glauben doch selber nicht, dass diese Last allein den Län-
dern und Kommunen aufgebürdet werden kann.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich prophezeie Ihnen: Wenn Sie hier nicht in kürzester
Zeit tragfähige Konzepte vorlegen, werden Sie einen dra-
matischen Rückgang beim Unteroffiziersnachwuchs erle-
ben und von einer massiven Welle berechtigter Ent-
rüstung und innerer Kündigung überrollt. Das kann nun
wahrlich nicht im Interesse einer seriösen und zukunfts-
fähigen Bundeswehrplanung sein.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich werfe Ihnen vor, dass Sie die bei Amtsantritt groß

angekündigte Bundeswehrreform, die überfällig war
– darin sind wir uns ja einig –, zum Reförmchen haben
verkommen lassen. Ich werfe Ihnen vor, dass Ihr Werk
„Feinausplanung und Stationierung“ dieses Jahrzehnt
nicht überdauern wird. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie wi-
der besseres Wissen um die Zukunft der Wehrpflicht an
dieser festhalten. Die allgemeine Wehrpflicht wird wegen
der Wehrungerechtigkeit Ihres Strukturmodells in abseh-
barer Zeit ausgesetzt werden.

Ob nun mangelhaft ausgeprägte Weitsicht, Mutlosig-
keit oder parteipolitisches Kalkül dafür verantwortlich
zeichnen, ist für Soldaten wie zivile Bundeswehrbe-
schäftigte und deren Familien unbedeutend. Diese erken-
nen nur überdeutlich: Sie, die Menschen, stehen bei Ihren
Entscheidungen nicht im Mittelpunkt, Herr Minister, sie
werden nicht berücksichtigt. Das ist der größte Skandal.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ihre Amtszeit, Herr Minister, gleicht einem Drama in

vier Akten. Erster Akt: Vertrauensbildung durch Verspre-
chungen und große Ankündigungen. Zweiter Akt: Be-
schwichtigung durch Planungsaktivität, Vertuschung und
Täuschung. Dritter Akt: Versprechungen nicht eingehal-
ten, nur scheibchenweise Eingeständnisse. Vierter Akt:
Bundeswehr im Chaos, Scharping macht eine Reform und
keiner macht mit. Wir warten darauf, dass der Vorhang
fällt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415001000
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415001100

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die
CDU/CSU-Fraktion macht die Bundeswehrreform mit
der Rede ihres Fraktionsvorsitzenden heute zur Chefsa-
che. Angesichts der Bedeutung des Themas ist das anzu-
erkennen. Es geht immerhin um die größte und durch-
greifendste Reform der Bundeswehr seit ihrer Gründung.
Aber das Auswechseln der Spitzenredner der CDU/CSU-
Fraktion ändert nichts an der Beschränktheit und künstli-
chen Aufgeregtheit ihrer Attacke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ihre Verurteilung der laufenden Bundeswehrreform ist
total, die Urteilsbegründung aber ausgesprochen dünn.
Das ist auch in Ihrem heute eingebrachten Entschlie-
ßungsantrag deutlich nachzulesen.

Sie behaupten, die Bundeswehrreform basiere nicht
auf einer umfassenden Bedrohungsanalyse. Mir ist bisher
nicht aufgefallen, dass sich die Bedrohungswahrnehmung
der CDU/CSU sonderlich von der des Ministeriums
unterscheidet. Sie behaupten, mit der geplanten reduzier-
ten Umfangstärke werde die Bundesrepublik ihrer Rolle
in der Mitte Europas nicht mehr gerecht. Es bleibt mir un-
erfindlich, worauf dann der Vorschlag der CDU/CSU
zielt, in dem geringfügig mehr Soldaten gefordert werden,
nämlich insgesamt 300 000,


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Nicht „geringfügig“!)


in dem aber auf einen streitkräftegemeinsamen Ansatz,
somit Effizienzgewinne durch straffere Strukturen, ver-
zichtet wird.




Günther Friedrich Nolting

14685


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Merz, was erwarten Sie eigentlich von einer Bun-
deswehrreform? Dazu haben Sie gerade in Ihrer Rede gar
nichts gesagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ihre Kritik ist widersprüchlich, unehrlich, konzeptionslos
und kein produktiver Beitrag zur Bundeswehrreform.

Wir haben es nun mit der 7. Bundeswehrreform in den
45 Jahren ihres Bestehens der Bundeswehr zu tun. Die
Ausrichtung auf neue Aufgaben geschieht einerseits
durch eine grundlegende Umstrukturierung der Kräfte,
also Zusammenfassung von so genannten Querschnitts-
aufgaben in der Streitkräftebasis, verbunden mit einer Zu-
sammenfassung der Hauptverteidigungskräfte und Kri-
senreaktionskräfte zu den Einsatzkräften. Andererseits
reduzieren wir die Kräfte der Bundeswehr. Diese Redu-
zierung ist im Gesamtumfang maßvoll, für einzelne Trup-
pengattungen aber einschneidend. Bei den Kampftruppen
des Heeres zum Beispiel beträgt sie mehr als 40 Prozent,
bei den Logistikverbänden ungefähr 60 Prozent.

Mit dem Konzept „Feinausplanung und Stationierung“
kommt die Bundeswehrreform bei den Menschen vor Ort
an und erhitzt selbstverständlich etliche Gemüter. Unsi-
cherheiten sind in einer solchen Phase zunächst einmal
unvermeidlich. Deshalb ist es besonders wichtig, dass mit
diesen Unsicherheiten offen umgegangen wird und dass
sie vor allem nicht parteipolitisch geschürt oder durch das
Sankt-Florians-Prinzip künstlich angefacht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Denn nach aller Erfahrung besteht das große Risiko, dass
sich gerade ein fahrlässiger Umgang mit der Standort-
frage als Bremse für notwendige Reformen auswirkt.

Der Umfang der Standortreduzierungen ist ausge-
sprochen moderat ausgefallen, verglichen mit Rationali-
sierungs- und Einsparungspotenzialen eines strengen Mo-
dernisierungskurses oder vor allem mit den Vorschlägen
der Weizsäcker-Kommission, die bei einer Gesamtstärke
von 240 000 Soldaten eine Halbierung der Zahl der Stand-
orte und Liegenschaften empfohlen hat.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Und mehr Geld!)


Insgesamt betrachtet sind die Standortentscheidungen
sachgerecht und nachvollziehbar. Wir sehen keinerlei An-
haltspunkte für parteipolitisch motivierte Begünstigungen
oder Benachteiligungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wo in Einzelfällen die Entscheidungen bisher nicht nach-
vollziehbar sind, muss dies schnell nachgeholt werden.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Sind sie jetzt nachvollziehbar?)


– Herr Braun, Sie sollten ein bisschen genauer hinhören.
Dann brauchen Sie nicht dazwischenzurufen.

Die Reduzierungen sind – darin stimmen die Auffas-
sungen in diesem Haus, wenn man ein bisschen ehrlich

ist, überein – insgesamt unumgänglich. Deshalb sind
Überlegungen überfällig, wie dieser Prozess wirklich so-
zialverträglich gestaltet werden kann. Dabei geht es als
Erstes um die betroffenen Menschen, die Soldaten, ihre
Angehörigen und die Zivilbeschäftigten. Den Zivilbe-
schäftigten versprach die Bundesregierung, dass es keine
betriebsbedingten Kündigungen geben werde. Dieses
Versprechen muss jetzt in den laufenden Tarifverhandlun-
gen eingelöst werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Für etliche Kommunen bedeuten diese Standortredu-
zierungen und -schließungen einen einschneidenden und
gravierenden Vorgang. Allein in dem Regierungsbezirk
Münster, aus dem ich komme, sind mehr als 50 Prozent
der Standortreduzierungen von ganz Nordrhein-West-
falen vorgenommen worden. Das verunsichert natürlich.
Aber wenn wir einmal in die 90er-Jahre zurücksehen, als
enorme Truppenstärken reduziert werden mussten, dann
können wir feststellen, dass diese erheblichen Struktur-
brüche – zunächst einmal waren es Strukturbrüche – ins-
gesamt sehr gut bewältigt wurden, allerdings in den ver-
schiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Bayern zum
Beispiel war verhältnismäßig wenig betroffen. In
Bayern – das zeigt sich jetzt sehr deutlich – hat sich die
CSU niemals darum gekümmert, wie solche Prozesse
wirklich sozialverträglich abgefedert werden können, wie
also Konversion betrieben werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das ist aber eine absolute Ungezogenheit! Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, Herr Nachtwei! Kommen Sie mal in mein Büro! Ich erzähle Ihnen dann, wie das läuft! Das ist ja peinlich!)


Hier ist ein Unterschied zum Beispiel zum Land
Nordrhein-Westfalen, in dem es darum ging, insgesamt
120 000 so genannte Militärarbeitsplätze, davon mehr
als 20 000 Arbeitsplätze von Zivilbeschäftigten, und
300 Liegenschaften abzubauen. Es gelang, in diesen
Liegenschaften 10 000 neue Arbeitsplätze zu ent-
wickeln; 25 000 weitere sind in Aussicht. Voraussetzung
für diesen erfolgreichen Konversionsprozess war die
ausgezeichnete Zusammenarbeit der Kommunen, kom-
munaler Akteure, des Landes und der entsprechenden
Beratungseinrichtungen, vor allem des Internationalen
Bonner Konversionszentrums, sowie schließlich und
wesentlich auch der Europäischen Union. Diese Erfah-
rungen können wir jetzt bei dem weiteren Konversions-
prozess hervorragend nutzen. Das macht Hoffnung, die-
sen Prozess gut bewältigen zu können.

Ich nannte gerade das Stichwort Europäische Union.
Hier ergibt sich zugleich ein Problem: Die EU-Gelder, die
im vorigen Jahrzehnt zur Verfügung standen, werden jetzt
realistischerweise nicht mehr zur Verfügung stehen. In
diesem Falle geht es ja um eine nationale Militärreform
und nicht um eine europaweite Frage. Das heißt in der
Konsequenz, dass nun auch der Bund in der Pflicht ist,
Mitverantwortung für die Standortkonversion zu über-
nehmen. Das wird nicht einfach und einige Interessen-




Winfried Nachtwei
14686


(C)



(D)



(A)



(B)


konflikte, zum Beispiel beim Liegenschaftsverkauf, sind
vorprogrammiert. Aber mit der Koalitionsvereinbarung,
in der es hieß, „Rüstungskonversion wird auch als bun-
despolitische Aufgabe gesehen“, haben SPD und Grüne
dazu ihre Bereitschaft erklärt. Dazu stehen wir weiterhin.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415001200
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich Adam.


Ulrich Adam (CDU):
Rede ID: ID1415001300
Herr Präsident, ich habe
jetzt ein Problem. Ich hatte mich nämlich mit Blick auf
den Kollegen Erler gemeldet.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415001400
Dann beziehen Sie
sich auf den Kollegen Erler; er ist ja anwesend.


Ulrich Adam (CDU):
Rede ID: ID1415001500
Danke schön. – Herr Kol-
lege Erler, ich empfand vor allen Dingen zu Beginn Ihrer
Rede die Behauptung vermessen, wir seien in der Stand-
ortdiskussion lediglich polemisch. Oben auf der Besu-
chertribüne sitzen der Bürgermeister von Eggesin, F.D.P.,
und der Bürgermeister von Stavenhagen, CDU, mit Ver-
tretern aus der Region, die auch draußen mit Transparen-
ten sehr deutlich machen, wie betroffen sie von der
Schließung ihrer Standorte sind. Es ist ja schon wiederholt
dargestellt worden, dass die Entscheidung über Eggesin
faktisch einer Schließung gleichkomme. Insofern ist es
ein Ding, wenn Sie behaupten, es sei reine Polemik, wenn
die Bürger ihren Unmut deutlich machen.

Ich kann Ihnen dann nur bescheinigen, dass Sie nichts
über die neuen Bundesländer wissen. Der Landkreis
Demmin, in dem die Reuterstadt Stavenhagen liegt, hat
die höchste Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpom-
mern und in der Bundesrepublik Deutschland. Gleich da-
nach kommt der Landkreis Uecker-Randow, in dem die
Stadt Eggesin liegt. An dieser Stelle frage ich Sie: Wie
geht das mit den Kriterien überein, die der Verteidigungs-
minister aufgestellt hat? Das habe ich ihm selber auch
schon gesagt. Insofern ist es schon vermessen, wenn Sie
da von Polemik sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ein weiteres Argument: Wir hatten in diesem Haus ei-

nen breiten Konsens bei der Aufstellung des Nordost-
Korps. Ich bin sehr stolz darauf, dass das noch unter un-
serer Regierung stattgefunden hat; bevor Polen in der
NATO war, wurde die Absichtserklärung gegeben. Erklä-
ren Sie mir jetzt einmal, wie die Schließung gerade dieser
wichtigen Standorte im Nordosten Deutschlands mit der
internationalen Zusammenarbeit zusammengeht. Das
macht doch wohl keinen Sinn.

Was ich angesprochen habe, war zum Beispiel auch ei-
nes der Kriterien für den Erhalt einzelner Standorte, die
der Verteidigungsminister aufgestellt hat. Dass Sie in die-
sem Zusammenhang immer wieder von Polemik sprechen

und dabei noch den Beifall Ihrer Kollegen haben, halte ich
für ein Unding.

Insofern fordere ich Sie auf, angesichts der betroffenen
Bürger und Soldaten klar zu sagen, worum es hier geht:
Es geht hier nicht um Polemik, sondern um die Sorgen
von Menschen. Es kann nicht sein, dass in den Regionen
unseres Vaterlandes, in denen wir die größten wirtschaft-
lichen Schwierigkeiten und die höchste Arbeitslosigkeit
haben, Standorte in so radikaler Weise geschlossen wer-
den, dass nicht ein Einziger übrig bleibt.

Wenn Sie sich zum Beispiel den Landkreis Demmin
anschauen, werden Sie feststellen, dass dies in dieser Re-
gion der letzte Standort ist, den es dort gegeben hat. Auch
für mich ist das ein Schlag ins Gesicht. Unser Fraktions-
vorsitzender hat zu Recht gesagt: Die Bundeswehr ist die
Armee der deutschen Einheit. Wenn Sie zur Schließung
von Standorten in den ärmsten Regionen der neuen Bun-
desländer – ich schließe darin Schneeberg mit ein – Ihr
Wort geben und unsere Kritik als billige Polemik abtun,
halte ich das schlicht für einen Skandal.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415001600
Kollege Erler.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1415001700
Herr Kollege Adam, Sie haben
mir ganz offensichtlich nicht zugehört.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das war sehr schwer! Das gebe ich zu!)


Ich habe den Vorwurf der Polemik nicht den Bürgern ge-
macht, sondern Ihnen und Ihrer Partei – und dabei bleibe
ich.


(Beifall bei der SPD)

Ich habe in meiner Rede gesagt, dass es Betroffenheiten
vor Ort gibt, die wir in unserer Fraktion sehr ernst neh-
men, und dass wir auf den Einzelfall bezogene Antworten
geben werden – und dazu stehen wir.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wann denn? Was denn?)


Ich weiß zum Beispiel, dass es in dem von Ihnen an-
gesprochenen Fall, den wir sehr ernst nehmen, noch Ge-
spräche zwischen der Landesregierung und dem Ministe-
rium gibt. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

Ich wiederhole: Wer von Kahlschlag spricht, wer im
Zusammenhang mit den Standortentscheidungen, die bei
einer Bundeswehrreform notwendig sind, ein Horror-
gemälde zeichnet, ist polemisch, weil er versucht, die Sor-
gen der Leute vor Ort für einen Schlag gegen die Bun-
deswehrreform auszubeuten. Die Bundeswehrreform
insgesamt ist notwendig und dabei bleibe ich. Im Übrigen
war die Reaktion der Öffentlichkeit auf die unerhörten
Übertreibungen, die sich Ihr Fraktionsvorsitzender und
der Sprecher Ihrer Fraktion geleistet haben, entsprechend.


(Beifall bei der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wann haben Sie das letzte Mal einen Standort besucht?)





Winfried Nachtwei

14687


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415001800
Das Wort zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Hildebrecht Braun. Sagen Sie bitte, auf wen Sie sich be-
ziehen.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1415001900
Ich beziehe
mich in erster Linie auf den Kollegen Nachtwei, sage aber
auch etwas zu den Ausführungen des Kollegen Erler.

Herr Erler, Sie weisen den Vorwurf zurück, es habe ein
Kahlschlag stattgefunden. Herr Nachtwei dagegen hat
– in seinem für einen grünen Verteidigungspolitiker be-
merkenswerten Beitrag – ausgeführt, dass der Rückgang
der Kampftruppen beim Heer doch sehr beklagenswert sei.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn! Sie müssen sich angewöhnen zuzuhören!)


Das sind interessante Entwicklungen, die sich bei den
Grünen feststellen lassen.

Tatsache ist, Herr Nachtwei, dass Ihre ehrenwerte Kol-
legin Angelika Beer noch vor zweieinhalb Jahren ein bun-
deswehrfreies Schleswig-Holstein gefordert hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt haben Sie, wenn auch nicht in Schleswig-Holstein,
Erfolg. Wenn man sich vor Augen führt, dass das Gebiet
zwischen Donauwörth und Marienberg in Sachsen, zwi-
schen Aalen in Baden-Württemberg und Gera in Sachsen-
Anhalt bundeswehrfrei ist – ein Gebiet, deutlich größer
als Schleswig-Holstein – kann man nur von Kahlschlag
sprechen. Wenn die Menschen in diesem Gebiet mit einer
Ausdehnung von 200 mal 200 Kilometern die Bundes-
wehr in Zukunft nur noch vom Fernsehen her kennen wer-
den, dann entspricht das nicht dem, was Herr Scharping
angekündigt hat, nämlich dass die Bundeswehr in der
Fläche bleiben werde.

Einiges muss einfach angesprochen werden: Es ist ein
unglaublicher Vorgang, dass Bayern weit überpropor-
tional bluten muss und dass innerhalb Bayerns in Schwa-
ben überproportional ausgedünnt wird. So werden zum
Beispiel aus Sonthofen, einem Ort, der in den letzten
45 Jahren in besonderem Maße Opfer für die Bundeswehr
erbracht hat, nahezu 80 Prozent der vorhandenen Streit-
kräfte abgezogen. In Sonthofen soll die Schule für Feld-
jäger und Stabsdienst nicht etwa aufgelöst – dafür hätte
man vielleicht noch Verständnis, wenn Opfer gebracht
werden müssen –, sondern verlegt werden, und zwar, aus
nahe liegenden Gründen, nach Hannover.

Wenn darüber hinaus Memmingen dicht gemacht wird,
Dillingen dicht gemacht wird, Günzburg dicht gemacht
wird, in dieser Schiene auch noch Heidenheim dicht ge-
macht wird, dann ist das nichts anderes als ein Kahl-
schlag.

Unverständlich erscheint auf der anderen Seite, dass
der „Wall“ gegen das neutrale Österreich verstärkt wird,
nämlich die Südschiene: Mittenwald, Füssen, Reichen-
hall. Auf der einen Seite wird wirklich geklotzt – dahin
kommen zusätzliche Soldaten; die brauchen wir dort ja
auch aus strategischen Gründen ganz dringend – und auf
der anderen Seite wird Schneeberg dicht gemacht.

Und dann heißt es noch: Es werden den einzelnen Mit-
arbeitern keine betriebsbedingten Kündigungen aufs Auge
gedrückt. Das heißt, den Halbtagskräften dort wird ange-
boten, in Zukunft für eine Halbtagsstelle in einen 80 Kilo-
meter entfernten Standort zu fahren?


(Gernot Erler [SPD]: Das ist noch gar nicht entschieden, Herr Kollege!)


– Nein, Herr Erler, beschäftigten Sie sich mit den Aus-
wirkungen dessen, was Sie hier beredt verteidigen, und
Sie werden sehen: Was hier gemacht wird, entspricht
nicht sozialdemokratischen Grundsätzen und ist auch für
die Bundeswehr nicht in Ordnung.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415002000
Das Wort zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich Kollegin Hannelore
Rönsch.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darf ich nicht antworten?)


– Ich nehme an, diese Kurzintervention bezieht sich auch
auf Sie, sodass Sie zusammenhängend antworten können.
Nach dieser Kurzintervention hat dann endlich der
nächste Redner das Wort.


Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1415002100
Herz-
lichen Dank, Herr Präsident. Ich möchte mich auf den
Kollegen Erler beziehen, weil ich ihm einfach einmal
deutlich machen will, wie – –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415002200
Kollegin, es ist un-
üblich, dass als Antwort auf eine Kurzintervention nun
wiederum eine Kurzintervention folgt. Sie müssen sich
ausdrücklich auf die Rede beziehen.


Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1415002300
Herr
Präsident, ich werde mich ausdrücklich auf die Rede be-
ziehen, da ich ja vorhin schon einen Ansatz gemacht habe,
eine Zwischenfrage an den Minister zu stellen.

Ich will nur einmal deutlich machen, wie örtliche Ant-
worten aussehen: Meine Heimatstadt Wiesbaden hat mit
ihrer Wehrbereichsverwaltung von der Konzeptionslosig-
keit des Ministeriums partizipiert. Aus dem Ministerium
kam zunächst die Botschaft, dass dort 800 Arbeitsplätze
wegfallen würden. Durch Verhandlungen und viele Inter-
ventionen vorher ist offensichtlich dann doch erreicht
worden, dass 630 dieser Dienstposten in Wiesbaden ver-
bleiben. Das wurde in einer Nacht ausgehandelt und am
nächsten Morgen mitgeteilt.

Jetzt bekommen wir die Mitteilung, dass es sich hier-
bei um „einfache Verwaltungstätigkeiten“ handelt. Ich
hätte natürlich gerne vom Ministerium gewusst, wie lange
die Nebenstelle Wiesbaden erhalten bleibt. Denn das ist
die dringende Frage der Mitarbeiter dort. Der Minister
hatte seiner Kollegin Wieczorek angeblich schon im Juni
vergangenen Jahres gesagt – –






(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415002400
Kollegin Rönsch, ich
muss eine Zwischenbemerkung machen.


(Gernot Erler [SPD]: Zu Recht, Herr Präsident!)


Es handelt sich hier um das parlamentarische Instrument
der Kurzintervention. Sie sprechen jetzt das Ministerium
an. Das ist nicht der Sinn der Kurzintervention.


(Lothar Mark [SPD]: Setzen!)

Wir haben dieses Instrument ins Leben gerufen, damit un-
sere Debatten in der parlamentarischen Rede und Gegen-
rede lebendiger werden.

Sie können jetzt nicht auf Entscheidungen des Minis-
teriums ausführlich eingehen. Wer soll denn darauf ant-
worten?


Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1415002500
Viel-
leicht kann der Kollege Nachtwei darauf antworten,


(Lothar Mark [SPD]: Das ist doch nicht das Ministerium!)


sofern er denn in die Verhandlungen mit einbezogen
wurde, und mir mitteilen, was die 630 Mitarbeiter in der
Wehrbereichsverwaltung IV in Wiesbaden unter „einfa-
chen Verwaltungstätigkeiten“ zu verstehen haben, wer in
Wiesbaden verbleibt und wer aus Wiesbaden abgezogen
wird.


(Gernot Erler [SPD]: Das sagt gleich alles Kollege Nachtwei! – Lothar Mark [SPD]: Das kann doch der nicht beantworten! Das ist ein Missbrauch der Geschäftsordnung!)


Das ist die Frage, die die Wehrbereichsverwaltung IV und
die Mitarbeiter dort brennend interessiert. In der Vergan-
genheit konnte dies keiner beantworten, denn die Staats-
sekretäre aus dem Ministerium haben immer das Gegen-
teil von dem behauptet, was der Minister schriftlich
niedergelegt hat.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415002600
Kollege Nachtwei,
Sie haben Gelegenheit, sich dazu zu äußern.

Ich will noch einmal daran erinnern: Das Instrument
der Kurzintervention soll nicht die Fragestunde ersetzen,
in der man Minister und die Regierung befragen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415002700

In Respekt vor der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung
werde ich natürlich nicht für das Ministerium sprechen,
sondern nur zu den Punkten, in denen ich konkret ange-
sprochen wurde.

Kollege Braun, Sie haben sich offensichtlich vor kurzem
nicht – so zumindest mein Eindruck – an dem Hörtest be-
teiligt, der hier im Bundestag angeboten wurde. Sonst hät-
ten Sie hören können, dass ich die Reduzierung der Kampf-
truppen, der Logistikverbände – da könnte man noch
einiges andere, zum Beispiel Kampfunterstützung an-

führen – schlichtweg als Beleg dafür konstatiert habe, dass
bei einzelnen Truppenteilen die Reduzierungen viel größer
sind als die Reduzierung des Gesamtumfangs. Das war
ohne jede Wertung, das habe ich schlichtweg konstatiert.

Was Bayern angeht: Sie wissen selbst, dass die Stand-
ortdichte in Bayern erheblich ist, dass Bayern von frühe-
ren Reduzierungen unterproportional betroffen war und
dass Bayern auch von der jetzigen Standortreduzierung
im Vergleich zu etlichen anderen Ländern nicht überpro-
portional betroffen ist.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das gefällt den Kollegen der SPD aus Bayern aber nicht! Mehr davon!)


Was den Vorwurf eines „Kahlschlags“ angeht: Selbst-
verständlich – darum kann man gar nicht herumreden – ist
es für die Gegend, in der ein großer Standort aufgelöst
wird, ein Kahlschlag. Wenn allerdings Sie von der F.D.P.
laut über den Rückzug der Bundeswehr aus der Fläche
jammern, dann gebe ich Ihnen Folgendes zu bedenken:
Erstens. Schon bei den Bundeswehrreformen in den letz-
ten Jahren hat es erhebliche Teilrückzüge aus der Fläche
gegeben. Das dürften Sie nicht übersehen haben. Zwei-
tens. Wäre diese Bundeswehrreform rigide allein nach
militärischen und Effektivitätsgesichtspunkten durchge-
führt worden, dann wären die Rückzüge aus der Fläche er-
heblich größer gewesen. Die Wahrung der Präsenz in der
Fläche war gerade im Hinblick auf die Nachwuchsgewin-
nung weiterhin ein wichtiges Kriterium, und zwar wichti-
ger, als wir vorher erwartet haben.

Herr Braun, vergessen Sie bitte nicht, was die F.D.P.
zur Bundeswehrreform vorgeschlagen hat: erheblich ge-
ringere Kopfstärken.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Schauen Sie sich doch das Konzept einmal an! Das ist doch dummes Zeug, was Sie da erzählen!)


Wie wollen Sie diesen Vorschlag mit dem Ziel unvermin-
derter Präsenz in Einklang bringen? Es wäre interessant,
darauf von Ihnen einmal eine Antwort zu hören. Im Mo-
ment wollen wir das aber nicht mehr.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415002800
Ich erteile dem Kolle-
gen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415002900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn all das der Bundeswehr
drohen würde, was aus dem vom Kollegen Merz gezeich-
neten Bild hervorgeht, dann könnte ich mich vor Begeis-
terung überhaupt nicht mehr einkriegen.


(Beifall bei der PDS)

Natürlich weiß jeder, dass das – leider – Unsinn, schwarze
Magie war.

Ich habe aber Verständnis dafür, dass der Kollege Merz
persönlich und die CDU allgemein in einem Dilemma
stecken. Ihr Dilemma besteht darin, dass Sie im Prinzip






(C)



(D)



(A)



(B)


nichts anderes als das machen würden, was die Regie-
rungskoalition macht, wenn man Sie denn lassen würde.
Deswegen fallen die Reden so nölig aus, deswegen kann
nur am Rande herumgenörgelt und können keine echten
Alternativen aufgezeigt werden.


(Beifall bei der PDS)

In einer Regierungskoalition haben sich die Koalitions-
fraktionen den Partner teilweise ausgesucht. Eine Oppo-
sitionsfraktion kann sich nicht aussuchen, mit wem sie zu-
sammen die Oppositionsbänke drückt. Das hat man eben
hinzunehmen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Dann schleimen Sie sich nicht so ein!)


Die Reform der Bundeswehr ging in diesem Haus vor ei-
nem halben Jahr friedlich über die Bühne. In der Richtung
waren sich CDU/CSU, F.D.P., SPD und Grüne über das
qualitativ größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland einig. Sie waren sich in
der Richtung einig, dass aus der Bundeswehr, aus einer
Verteidigungsarmee, eine weltweite Interventionsarmee
werden sollte. Dass der Kollege Erler das jetzt als einen
Inhalt sozialdemokratischer Politik darstellt, wirft ein be-
zeichnendes Licht darauf, wo die SPD heute angekom-
men ist. Dort möchte zumindest ich nicht landen. Das ist
ein wirklich eindeutiger Kurswechsel.


(Beifall bei der PDS – Gernot Erler [SPD]: Die Gefahr besteht ja auch nicht!)


– Die Gefahr besteht wirklich nicht.
Allein die Fraktion der PDS war dagegen und hat ein

anderes Konzept vorgestellt. Die Sache ist doch so: Das
Verteidigungsministerium schlägt Standortschließungen
vor. Das klingt zunächst nach weniger Militär; so ist es
aber nicht. Das Programm heißt nicht Abrüstung, sondern
Umrüstung. Tatsächlich handelt es sich um Aufrüstung. Im
Hinblick auf das Standortkonzept der Regierung ist nicht
entscheidend, wie viel sie abbaut – das ist wenig genug –;
entscheidend ist, was sie abbaut: Es sind Verbände, die et-
was mit der Landesverteidigung zu tun haben. Als Inter-
ventionsarmee braucht die Bundeswehr hochmobile,
schnelle und flexible Kontingente. Darauf werden die
Standorte zugeschnitten und dafür ist auch fast jedes Mit-
tel heilig.

Sie müssen schon die Frage beantworten, wie Sie es
in Übereinstimmung mit Ihrem Konzept bringen, dass
Sie neben dem Abbau anderer Standorte gleichzeitig die
Garnison Wittstock – die es bisher noch gar nicht gibt –
und das dortige Bombodrom, also den Bombenabwurf-
platz, neu einrichten.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Was sind denn das für Begriffe? Hören Sie doch auf!)


– Bombodrom heißt das Ding, das sagt doch jeder in der
Region.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie wissen doch nicht, wovon Sie sprechen!)


– Dass Sie nicht wissen, wovon Sie sprechen, sieht man
schon daran, dass Sie uns unterstellt haben, dass wir nicht

für die Angleichung der Gehälter in der Bundeswehr in
Ost und West seien. Da haben Sie wirklich etwas ver-
wechselt.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie haben unseren Antrag abgelehnt!)


– Das ist doch Unsinn.

(Zuruf von der PDS: Wir haben namentliche Abstimmung beantragt!)

Wenn man 59 Standorte schließt und gleichzeitig für

den Aufbau eines solchen Standorts insgesamt 500 Milli-
onen DM aufwenden will, stellt sich die Frage, was der
Hintergrund dafür ist. Der Hintergrund dafür ist, dass die
Krisenreaktionskräfte hier Boden-Luft-Übungen durch-
führen sollen. Das ist das militärpolitische Konzept dieser
Regierung.


(Beifall bei der PDS)

Als Rudolf Scharping noch SPD-Vorsitzender war, hat

er übrigens der Bevölkerung dort versprochen: Das Bom-
bodrom kommt weg. Das war seine Aussage.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Über das Thema „Scharping und Wahrheit“ wird man
nach der gestrigen „Monitor“-Sendung hier im Bundestag
sowieso noch einmal diskutieren müssen.


(Beifall bei der PDS)

Das, was die SPD einmal versprochen hat, gilt anschei-
nend nicht mehr. Das zeigt: Es geht Ihnen nicht um Ab-
rüstung, Sie wollen nur umbauen und neue Waffensys-
teme einführen. Für neue Waffensysteme allerdings taugt
das Standortkonzept. Es wird reduziert, um Mittel freizu-
bekommen für die Modernisierung und Effektivierung
der Bundeswehr. Das ist ein grundfalsches Konzept, das
zu allem Überfluss auch noch schlecht umgesetzt wird:
Sie verordnen nämlich von oben, Sie reden nicht tatsäch-
lich mit den Betroffenen, Sie diktieren. Befehl und Ge-
horsam mögen beim Militär üblich sein, in der demokra-
tischen Gesellschaft sind sie nicht üblich. Kommunen
hören nicht auf Kommandos. Auch das sollten Sie einmal
lernen.


(Beifall bei der PDS)

Darüber hinaus stiehlt sich die Regierung aus der Ver-

antwortung. Die Kommunen haben sich nicht freiwillig
einseitig auf die Bundeswehr fixiert. Politische Interessen
haben sie dazu gebracht. Nach dem Verursacherprinzip
läge es jetzt beim Bund, den Kommunen ein Leben jen-
seits der Standorte zu eröffnen. Das tut die Bundesregie-
rung nicht. Sie verbindet die Schließungen nicht mit ge-
zielter regionaler Wirtschaftsförderung. Sie bietet keine
Perspektiven für einen wirtschaftlichen, sozialen und
ökologischen Strukturwandel.

Um aktuell den größten Schaden von den Gemeinden
abzuwenden, fordert die PDS-Fraktion die Bundesregie-
rung auf: Erlöse aus dem Verkauf von Liegenschaften
müssen den Kommunen zugute kommen. Sie dürfen nicht
in den Rüstungshaushalt fließen.


(Beifall bei der PDS)





Wolfgang Gehrcke
14690


(C)



(D)



(A)



(B)


Beim Verkauf der Liegenschaften müssen die Kommunen
ein Vorkaufsrecht erhalten. Das ist nicht gesichert. Die
Konversion bislang militärisch genutzter Gebäude und
Flächen ist aus dem Verteidigungsetat zu bezahlen. Das ist
eine wichtige Position.


(Beifall bei der PDS)

Den Zivilbeschäftigten und den Berufssoldaten, die das
wünschen, müssen sofort Beratung, Umschulung und
Qualifizierung angeboten und finanziert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

In den letzten Tagen haben wir Mahnwachen vor Stand-

orten erlebt, wo es oft nichts außer der Bundeswehr gibt.
Ich kann sehr gut verstehen, dass sich die Menschen dort
an den Strohhalm Bundeswehr klammern. Wir hatten in
unserer Fraktion diskutiert, von der Bundesregierung zu
fordern, wenigstens keine Standorte in Ostdeutschland
zu schließen. Dafür würde all das sprechen, was letztend-
lich Hoffnungslosigkeit heißt,


(Georg Pfannenstein [SPD]: Bundeswehr abschaffen wollen, aber keine Standorte schließen wollen!)


also Massenarbeitslosigkeit, Mangel an Ausbildungsplät-
zen, schwierigste Bedingungen für den Mittelstand, Ver-
armung des kulturellen Lebens. Wir haben uns trotzdem
gegen diese pauschale Forderung entschieden. Auch hier
lassen wir Ost und West nicht gegeneinander ausspielen.
Nicht Aufrüstung, sondern Konversion und Abrüstung in
Ost und West wollen wir. Das ist die Perspektive.


(Beifall bei der PDS)

Konversion und Schließung von Standorten müssen Hand
in Hand gehen, aber Schließungen mit dem Gestus „Nach
uns die Sintflut!“ und ohne Konversion sind unverant-
wortlich.


(Beifall bei der PDS)

Das trifft insbesondere auf die ostdeutschen Standorte zu,
deren Lage mehr als schlecht ist.

Wir als PDS haben ein Reformkonzept für die Bundes-
wehr vorgelegt. Das ist ein echtes Kontrastprogramm. Wir
setzen auf den Verzicht auf neue Waffensysteme, auf
strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Die Armee soll auf
100 000 Soldaten reduziert werden und sie soll sich auf
reine Verteidigung beschränken. Unsere Alternative
würde Standortschließungen in weit größerem Umfang
mit sich bringen. Das hier und heute zu sagen gebietet die
Redlichkeit.

Im Unterschied zu Ihnen haben wir in unsere Abrüs-
tungsvorschläge aber die soziale Verantwortung zum Auf-
bau ziviler Strukturen, ein Amt für Konversion und Ab-
rüstung sowie Konversionsfonds eingebaut. Wir wollen,
dass dieser Prozess sozial verläuft, dass er strukturell ge-
ordnet wird. All das fehlt in Ihrem Konzept. Deswegen
werden wir dieses Konzept ablehnen und, soweit wir es
können, dazu beitragen, dass es in der Praxis scheitert.


(Beifall bei der PDS – Georg Pfannenstein [SPD]: Das wird nie passieren!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415003000
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Zumkley, SPD-Fraktion.


Peter Zumkley (SPD):
Rede ID: ID1415003100
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Mit der Feinausplanung und den damit ver-
bundenen Stationierungsentscheidungen ist ein schlüssi-
ges und überzeugendes Konzept vorgelegt worden. Die
Reform der Bundeswehr ist vor dem Hintergrund der Si-
cherheitslage in Europa überfällig und dringend notwen-
dig. In diesem Punkt sind sich im Übrigen die Fachleute
einig.


(Beifall bei der SPD)

Sie von der CDU sind für 300 000 Soldaten. Wir pla-

nen die Zukunft der Bundeswehr mit circa 285 000 Sol-
daten. Der Unterschied – es ist gesagt worden – zwischen
den beiden Stärkezahlen ist so gering, dass Ihre überzo-
gene Kritik nicht begründet ist.

Im Übrigen vermissen wir ein Alternativkonzept von
CDU und CSU.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie müssen sich endlich einigen, ob Sie 300 000 oder
340 000 oder noch mehr Soldaten haben wollen. Sie müs-
sen sich auch einigen, welchen Inhalt Sie uns vorschla-
gen, damit man mit Ihnen auch einmal ernsthaft diskutie-
ren kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei unserer Reform geht es nicht allein um eine Redu-
zierung des Personals und der vorhandenen Standorte,
wie es in der Vergangenheit von Ihnen praktiziert wurde.
Unser Ziel ist es, die Bundeswehr für die neuen sicher-
heitspolitischen Herausforderungen Europas und der
NATO fit zu machen. Dazu erhält die Bundeswehr neue
Fähigkeitsprofile. Für die ihr gestellten Aufgaben im Rah-
men der Landes- und Bündnisverteidigung und bei inter-
nationalen Kriseneinsätzen ist dies unerlässlich.

Sie von der Union kritisieren, dass Deutschland seinen
international zugesagten Beiträgen nicht nachkommen
könne. Nur ein Beispiel hierzu. In Ihrer Regierungszeit lag
die Zahl der Krisenreaktionskräfte bei circa 50 000 Sol-
daten bei einer Gesamtstärke von 340 000. Ich gebe Ihnen
zu: Manchmal waren wir bei 320 000 – geschenkt! In der
neuen Konzeption werden 150 000 Soldaten bei einem
Stärkeumfang von circa 285 000 Soldaten zu den Einsatz-
kräften gehören. Es gibt also eine deutliche Verbesserung
hinsichtlich der Einsatz- und Durchhaltefähigkeit.

Die Feinausplanung verdeutlicht dies. Aufgaben wer-
den neu zugeordnet. Die Zusammenarbeit zwischen den
Teilstreitkräften wird ausgebaut. Die Verantwortungsebe-
nen werden gestrafft. Die logistischen und sanitätsdienst-
lichen Kräfte werden konzentriert. Die Zusammenarbeit
in multinationalen Verbänden wird gestärkt. Die Streit-
kräfte werden somit moderner und leistungsfähiger, aber
auch kleiner.

Wenn man den Personalumfang verringert, hat dies
zwangsläufig Auswirkungen auf die Standorte. Die




Wolfgang Gehrcke

14691


(C)



(D)



(A)



(B)


Schließung oder Reduzierung von Standorten ist für die
Betroffenen auch mit Härten verbunden. Dies bedeutet
oftmals für viele der betroffenen Städte und Gemeinden,
Herr Adam, einen schmerzlichen Einschnitt. Die An-
gehörigen der Bundeswehr sind als Bürger mit ihren Re-
gionen eng verbunden. Wir wissen um die gewachsenen
Strukturen und Traditionen in den Garnisonen. Auch in
meiner Heimatstadt sind die Menschen in der Bundes-
wehr und in den sie umgebenden Bereichen durch das
vorliegende Stationierungskonzept zum zweiten Mal
stark betroffen. Es muss ehrlicherweise aber auch gesagt
werden, dass die Bundeswehr nicht ausschließlich einem
strukturpolitischen Zweck dienen kann, so sehr dies im
Einzelfall auch wünschenswert wäre.

Die überwiegende Zahl der Standorte bleibt von der
jetzigen Entscheidung unberührt. Die Bundeswehr bleibt
in der Fläche erhalten. Darüber sind wir froh. Die Solda-
ten können grundsätzlich auch weiterhin heimatnah ein-
berufen werden und bleiben in die Bevölkerung integriert.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht hätte es auch zu drasti-
scheren Schließungen kommen können. Die Weizsäcker-
Kommission hat dies deutlich empfohlen.

Es ist aber äußerst unglaubwürdig, auf der einen Seite
die jetzt notwendigen Standortveränderungen überschäu-
mend zu kritisieren und auf der anderen Seite die von Ih-
nen zu verantwortenden und Mitte der 90er-Jahre erfolg-
ten Reduzierungen und Schließungen insbesondere in
Schleswig-Holstein und Niedersachsen nicht zu erwäh-
nen. Veränderungen an 46 Standorten aufgrund der dama-
ligen Entscheidung sind noch nicht vollzogen. Ich bitte
doch um ein wenig Sachlichkeit und Ausgewogenheit in
dieser Diskussion.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415003200
Kollege Zumkley, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?


Peter Zumkley (SPD):
Rede ID: ID1415003300
Ich bin heute stimmlich nicht
auf der Höhe. Deswegen bitte ich um Nachsicht, dass ich
bei meinem Text bleibe. Vielleicht können wir über die
Frage später reden.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Da lobe ich mir eine Zweitstimme! – Gegenruf des Abg. Gernot Erler [SPD]: Besser als eine Leihstimme!)


Die überwiegende Zahl der Standorte bleibt also erhal-
ten. Wir sind der Meinung, dass wir diese Diskussion auch
im Interesse der Bundeswehr versachlichen müssen. Den
Vorwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, es handele
sich um einen Kahlschlag und dieser sei darüber hinaus
parteipolitisch motiviert, nimmt in der Öffentlichkeit nie-
mand ernst. Auch Ihre Fachleute tun dies nicht.

In dem vorliegenden Ressortkonzept sind einige For-
derungen des Antrages der CDU/CSU bereits aufgenom-
men – wir sind froh, dass wir auch Gemeinsamkeiten her-
ausstellen können –; exemplarisch nenne ich an dieser
Stelle – das ist besonders wichtig – das Attraktivitätspro-

gramm für das Personal der Bundeswehr. Wir laden Sie
herzlich dazu ein, dieses Programm konstruktiv kritisch
zu begleiten.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wenn der Eichel Geld dafür gibt!)


Weitere Punkte sind die Sozialverträglichkeit der Perso-
nalmaßnahmen und die Beibehaltung der Wehrpflicht. Ich
möchte aber hier hinzufügen, dass ich Respekt vor all de-
nen habe, die eine andere Lösung bevorzugt haben.

Allerdings sind Ihre Finanzierungsvorschläge, die Sie
in Ihrem Antrag machen und die auf der überholten Grund-
lage von 340 000 Soldaten basieren, rückwärts gerichtet
und falsch dimensioniert. Sie haben Ihre Finanzplanung in
der Vergangenheit nie eingehalten. Sie haben häufig Kür-
zungen im jeweils laufenden Haushaltsjahr vorgenom-
men. Ein Großteil der Probleme in der Bundeswehr ist
noch heute darauf zurückzuführen – leider. Wir haben
keine Kürzungen vorgenommen und wir werden keine
Kürzungen im laufenden Haushaltsjahr vornehmen. Mit
dem vorgesehenen Plafond werden wir die Bundeswehr
kontinuierlich Schritt für Schritt modernisieren.

Im Übrigen, Herr Kollege Merz, möchte ich Ihnen Fol-
gendes sagen – ich mache diese Bemerkung mit weniger
Leidenschaft als mein Kollege Erler –: Neben bemer-
kenswerten Teilen Ihrer Rede in München – diese möchte
ich ausdrücklich erwähnen – gab es Teile, zu denen ich sa-
gen muss: Die Finanzierung der Bundeswehr auf einer in-
ternationalen Sicherheitskonferenz so zu thematisieren,
wie Sie es getan haben, entsprach nicht den Gepflogen-
heiten auf internationalem Parkett.


(Beifall bei der SPD)

So haben es viele empfunden.

Herr Kollege Merz, einem solch fachkundigen Publi-
kum wie in München können Sie durchaus zutrauen, dass
es die Positionen von Regierung und Opposition glei-
chermaßen kennt. Sie sollten diesen meinen Rat in Ihrem
Herzen bewegen, insbesondere wenn Sie den Weg zum
Kanzlerkandidaten beschreiten wollen.


(Beifall des Abg. Gernot Erler [SPD] – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


– Als älterer Kollege darf ich mir diesen Ratschlag erlauben.

(Beifall bei der SPD)


Herr Kollege Merz ist ja noch nicht allzu lange Mitglied
des Bundestages. Insofern ist mein Rat freundschaftlich
gemeint.


(Gernot Erler [SPD]: Er macht es kostenlos!)

Der Stellenabbau wird sozialverträglich und ohne be-

triebsbedingte Kündigung erfolgen. Die Umstrukturie-
rung der Bundeswehr wird mehrere Jahre dauern. Diesen
Zeitraum gilt es zu nutzen. Insbesondere die Personal be-
arbeitenden Dienststellen in der Bundeswehr und die be-
troffenen Gemeinden haben damit die Möglichkeit, sich
auf die Veränderung zeitlich einzustellen. Das wird oft-
mals nicht leicht sein.

Für die Bundeswehrreform sind mit den Eckwerten der
Grobausplanung und der Feinausplanung einschließlich




Peter Zumkley
14692


(C)



(D)



(A)



(B)


der Stationierungsentscheidung wichtige Meilensteine
gesetzt. Diese Reform verlangt eine große Kraftanstren-
gung und die Umsetzung des Kabinettsbeschlusses vom
14. Juni 2000.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Für das Gelingen brauchen wir vor allem die Mitwir-
kung der Soldaten und zivilen Mitarbeiter sowie ihre Be-
reitschaft, sich den neuen Herausforderungen mit Enga-
gement zu stellen. Dafür dankt meine Fraktion ihnen
bereits im Voraus.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415003400
Ich rufe
nun zunächst zwei Kurzinterventionen auf, nämlich die
des Kollegen Wolfgang Dehnel und die des Kollegen Kurt
Rossmanith, und gebe dann dem Kollegen Zumkley die
Gelegenheit zu erwidern. Anschließend setzen wir die De-
batte in der vorgesehenen Reihenfolge fort.

Herr Kollege Dehnel, bitte.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1415003500
Herr Kollege
Zumkley, Sie haben gerade das „schlüssige Konzept“ er-
wähnt und verteidigt. Seit heute früh 7.30 Uhr demons-
trieren Schneeberger Bürger vor dem Brandenburger Tor.
Sie haben sich heute Morgen um 3 Uhr auf den Weg ge-
macht, um für ihren Standort einzutreten.

Sie sprechen von einem „schlüssigen Konzept“. Der
Herr Bundesminister hat noch am 15. Dezember, nach-
dem die ersten Schließungspläne bekannt geworden sind,
angekündigt, dass letzten Endes keine großen Standorte
geschlossen werden und dass sowohl das wirtschaftliche
Umfeld als auch die Ausbildungssituation in diesen Re-
gionen entsprechend berücksichtigt werden.

In keinem Fall hätte danach der Standort Schneeberg
geschlossen werden dürfen. Die Schneeberger Bürger
werden sich heute wundern, dass hier im Plenum nicht ein
einziger SPD-Abgeordneter aus Sachsen vertreten ist und
dass der Minister für den Osten, Herr Schwanitz, nicht an-
wesend ist.


(Georg Pfannenstein [SPD]: Was soll das denn jetzt? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Was ist denn das für eine Dreckschleuderei, Herr Dehnel?)


Ich finde, es ist skandalös, dass diese Vertreter ihrer Re-
gion nicht da sind. Die Bürger der Region hätten das ver-
dient gehabt. Die ganze Region Südwestsachsen steht
nämlich zu diesem Standort, und zwar nicht erst seit den
Schließungsplänen, sondern die ganzen zehn Jahre seit
der deutschen Einheit. In diesen zehn Jahren sind dort
110 Millionen DM investiert worden, es ist modernisiert
worden. Jetzt kommen die Schließungspläne von Herrn
Bundesminister Scharping.

Ich glaube, das ist nicht gerecht gegenüber der Region
und den dort lebenden Menschen. Ich bitte da um mehr

Verständnis. Sie sollten Ihre sächsischen Kollegen auffor-
dern, Alternativen zu suchen. Meine Alternativen werde
ich Ihnen in der nächsten Woche in der Fragestunde vor-
stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415003600
Ich rufe
jetzt die Kurzintervention des Kollegen Kurt Rossmanith
auf. Herr Rossmanith, bitte.


(Horst Kubatschka [SPD]: Es geht noch nicht! Auch Sie müssen bei Rot sprechen, Herr Kollege! – Heiterkeit)



Kurt J. Rossmanith (CSU):
Rede ID: ID1415003700
Was das Sprechen
anbelangt, ist Rot ganz gut, für die Zukunft allerdings
nicht.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ich hätte den Kolleginnen und Kollegen diese Kurz-
intervention an sich gerne erspart.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Oh ja, das wäre gut gewesen!)


Aber, Kollege Zumkley, Sie haben leider eine Frage von
mir nicht zugelassen. Jetzt dürfen Sie dann trotz Ihrer be-
legten Stimme noch antworten.


(Peter Zumkley [SPD]: Ich versuche es!)

Ich möchte auf drei Punkte Ihrer Ausführungen einge-

hen. Sie haben es als bemerkenswert dargestellt, dass die
Zahl der Einsatzkräfte jetzt praktisch verdreifacht wird.
Ich möchte aber trotzdem darauf hinweisen, dass die
Hauptaufgabe unserer Streitkräfte, der Bundeswehr, nach
wie vor die Bündnis- und die Landesverteidigung ist.
Sie haben von einer Kraftanstrengung gesprochen, die Sie
jetzt unternehmen müssen. Das billige ich Ihnen persön-
lich zu, weil ich weiß, dass Sie diese so genannte Reform
nur sehr widerwillig verteidigen und vertreten. Aber wir
können jetzt nicht eine Einsatzarmee wollen; das wollen
auch Sie sicher nicht. Deshalb finde ich es nicht richtig,
wenn Sie diese so genannte Reform, wie ich noch einmal
betonen will, jetzt mit dieser Begründung als solche dar-
stellen.

Wenn Sie das schon tun, dann frage ich natürlich auch,
weshalb die fliegenden Verbände um 25 Prozent reduziert
werden müssen. Gerade die vergangenen Konflikte und
insbesondere die Beteiligung der Bundeswehr bei der
Beilegung des Konflikts im Kosovo haben gezeigt, dass
die Luftverbände im zukünftigen Verteidigungsfalle eine
wesentliche Rolle spielen.

Vor diesem Hintergrund ist es mir unverständlich,
weshalb Standorte, wie zum Beispiel Memmingerberg
mit über 2 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein-
schließlich Soldaten, ohne die Wehrpflichtigen, einfach
mit einem Federstrich verschwinden sollen. Gerade Mem-
mingerberg ist ein Standort, der im Leistungsvergleich
von der Einsatzbereitschaft und von der Einsatzfähigkeit
immer an erster Stelle gelegen hat, der auch meteorolo-
gisch mit die besten Einsatzmöglichkeiten bietet, weil
Nebel und schlechteWetterverhältnisse dort nur eine sehr




Peter Zumkley

14693


(C)



(D)



(A)



(B)


geringe Rolle spielen. Mir ist auch unverständlich, wes-
halb Sonthofen praktisch aufgelöst werden soll – im En-
deffekt wird auch der Standort Sonthofen geschlossen;
denn es verbleiben nur ein paar Soldaten – und weshalb
die Feldjägerschule gerade in den Ballungsraum Hanno-
ver verlegt werden soll. Auch eine Begründung hierfür
habe ich in Ihren Ausführungen, Herr Kollege Zumkley,
vermisst.

Als Letztes will ich Ihnen sagen: Sie haben davon ge-
sprochen, Sie müssten 46 Standorte schließen, deren
Schließung noch in der Regierungsverantwortung von
CDU/CSU und F.D.P. beschlossen worden sei. Lieber
Herr Kollege Zumkley, Sie, der Sie sich immer an der
Wahrheit orientieren und sich nie mit Halbwahrheiten be-
gnügen – das sage ich Ihnen anerkennend –, sollten sol-
che Argumentationen unterlassen. Diese Standorte wer-
den quasi nur noch abgewickelt. In diesen Standorten
befinden sich kaum mehr Soldaten. Die Schließung von
39 Standorten plus fast noch einmal der gleichen Anzahl,
bei der der beabsichtigte Abbau quasi einer Schließung
gleichkommt, haben Sie zu verantworten. Darüber wer-
den Sie den Bürgerinnen und Bürgern draußen Rede und
Antwort stehen müssen. Sie haben aber nicht einmal Ihren
eigenen Genossen Rede und Antwort gestanden.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das noch mit einer Kurzintervention zu tun? Das ist ein Redebeitrag! Nur, weil er nicht reden darf! Die Zeit ist jetzt vorbei!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415003800
Kommen
Sie bitte zum Schluss.


Kurt J. Rossmanith (CSU):
Rede ID: ID1415003900
Sie haben das ein-
fach mit einem Federstrich umgesetzt und erst im Nach-
hinein mit einer Beschwichtigungspolitik gegenüber
ihren eigenen Genossen, den Landtagskollegen oder den
jeweiligen Bürgermeistern reagiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415004000
Herr Kol-
lege Zumkley zur Erwiderung. – Bitte sehr.


Peter Zumkley (SPD):
Rede ID: ID1415004100
Herr Kollege Dehnel, ich ver-
stehe, dass die Schneeberger Bürger um ihren Standort
kämpfen. Es hätten auch meine Fischbeker draußen ste-
hen können. Ich kann sie gut verstehen und finde es auch
gut, dass sie dies tun. Das zeigt, dass sie eine besondere
Beziehung zur Bundeswehr haben, was wir als außeror-
dentlich positiv empfinden.

Aber wenn es nicht Schneeberg ist, muss es ja wohl
ein anderer Standort sein. Heute ist – ich will dieses
Kampfwort eigentlich gar nicht wiederholen – schon vom
Sankt-Florians-Prinzip gesprochen worden. Davon ist das
Ganze weit entfernt. Aber wenn man reduziert, muss es
leider auch Schließungen geben. Die Frage ist immer: Wo
ist die Alternative? Wenn der Minister den Standort in

Schneeberg beließe, müsste er einen Standort an anderer
Stelle schließen. Ich finde, dieses Wechselspiel kann man
so nicht treiben. Im Übrigen ist Ihr Ministerpräsident ja
noch in der Lage, in dieser Hinsicht Vorschläge zu ma-
chen.

Ich möchte mich nun dem Kollegen Kurt Rossmanith
zuwenden. Herr Kollege, Sie irren sich, wenn Sie glau-
ben, ich stünde nicht hinter dieser Reform. Ich habe dem
Inspekteur des Heeres auch aufgrund meiner beruflichen
Vergangenheit zu dem neuen deutschen Heer mit den fünf
plus zwei Divisionen gratuliert und zu der Art und Weise,
wie diese Divisionen anders als früher instandgehalten
und eingesetzt werden. Ich erinnere in diesem Zusam-
menhang an die vielfältigen europäischen Aufgaben unter
dem Stichwort „headline goal“ – aufgrund der Vereinba-
rungen von Helsinki müssten wir ja 60 000 Soldaten stel-
len – und an die Erfüllung von NATO-Aufgaben.

Ich stimme mit Ihnen überein, wenn Sie sagen, dass
unsere Einsatzkräfte von 150 000 Soldaten vornehmlich
der Landes- und der Bündnisverteidigung dienen.
Dafür sind sie in erster Linie da, dafür brauchen wir sie
und dafür werden Sie auch ausgebildet. Aus diesem Teil
nehmen wir diejenigen, die bei friedenserhaltenden
Maßnahmen benötigt werden. Darüber besteht bei uns
Konsens.

Dass Sie die Reduzierung der Zahl fliegender Ver-
bände in der Luftwaffe beklagen, verstehe ich. Im Heer
gibt es weit drastischere Reduzierungen bei den Kampf-
truppen, den Kampfunterstützungstruppen und den Füh-
rungstruppen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Auch
bei der Marine gibt es Reduzierungen. Das ist so auch ge-
wollt und hat zur Folge, dass wir die Streitkräftebasis ein-
führen, die viele Aufgaben der Teilstreitkräfte unterstüt-
zend übernimmt. Das halte ich für ein sinnvolles
wirtschaftliches und militärisches Konzept.

Sie beklagen die Entwicklungen – ich empfinde das ge-
nauso wie bei Schneeberg oder meinen eigenen Leuten –
in Memmingerberg. Auch dafür habe ich volles Verständ-
nis. Wenn ich aber die Anzahl der fliegenden Verbände re-
duziere, dann muss ein Fliegerhorst geschlossen werden.
Wenn es nicht Memmingerberg ist, muss es ein anderer
sein. Sollen wir Manching, Kaufbeuren oder Nörvenich
schließen?


(Zuruf des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])


– Es gibt genügend Möglichkeiten, Alternativen zu fin-
den.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das sind jetzt schon fünf Minuten! – Gegenruf des Abg. Lothar Mark [SPD]: Er hat auf zwei Kurzinterventionen zu antworten!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415004200
Herr Kol-
lege Zumkley, Ihre Redezeit ist abgelaufen.


Peter Zumkley (SPD):
Rede ID: ID1415004300
Herr Präsident, ich bin lange
gefragt worden. Es gab zwei Interventionen mit mehreren




Kurt J. Rossmanith
14694


(C)



(D)



(A)



(B)


Fragen. Es muss erlaubt sein, darauf in sachlicher Form
einzugehen.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wir haben eine Geschäftsordnung! – Michael Glos [CDU/ CSU]: Ihr habt noch nicht die totale Herrschaft übers Land! Es gelten noch parlamentarische Rechte! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Sechs Minuten hat er zum Reden!)


Ich glaube, es geht hier um einen ganz wichtigen
Punkt. Ich sage jetzt abschließend: Ich werfe Ihnen nicht
vor, dass 46 Standorte übrig geblieben sind. Sie haben mit
Ihrer Bemerkung völlig Recht, dass diese abgewickelt
werden müssen. Wir haben – damals in der Opposition –
die 94er-Entscheidung zwar kritisch, aber konstruktiv be-
gleitet,


(Beifall bei der SPD)

weil wir gesehen haben, dass die Bundeswehr von
370 000 auf 340 000 Mann reduziert werden musste.

Ich habe nur dafür plädiert, auch diese Seite zu be-
trachten, wenn man die jetzigen Maßnahmen und Ent-
scheidungen überschäumend kritisiert. Ich halte Ihre Po-
sition für unglaubwürdig und Sie sollten sie wirklich
ernsthaft überprüfen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415004400
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Christian
Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Georg Pfannenstein [SPD]: Jetzt wird es eng!)



Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415004500
Herr Präsi-
dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es wird jetzt in
der Tat eng – für die bayerische SPD. Denn sie hat sich
heute anhören müssen, dass Bayern abgestraft werden
muss, weil es dort zu viele Standorte gibt und man deshalb
zustimmt, dass in Bayern überproportional gekürzt wird.
Genauso ist es.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Georg Pfannenstein [SPD]: Wo ist Ihre Staatsregierung? Wo ist Stoiber?)


Der Bundesminister der Verteidigung hat sein Wort ge-
brochen. Er betreibt – ich möchte hier mit Genehmigung
des Präsidenten zitieren – „eine dumme Politik der Stand-
ortauflösung“. So hat er das am 7. Juni 2000 in diesem
Hause formuliert. In der gleichen Bundestagsdebatte, also
vor gerade acht Monaten, hat er den CSU-Kreisverbänden
– das sind diejenigen, die Ihnen, Herr Pfannenstein, Ärger
machen –, die sich für die Sicherung ihrer Bundeswehr-
standorte eingesetzt haben, einen donquichottehaften
Kampf gegen Windmühlen vorgeworfen. Er sagte damals,
die CSU kämpfe um etwas mit großer Kraft, was gar nicht
gefährdet sei.

Zwischenzeitlich habe ich den Eindruck, dass hier kein
Don Quichotte, sondern der Baron von Münchhausen un-
terwegs ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dessen Geschichte, man könne sich selbst am Schopf aus
dem Schlamassel ziehen, war bekanntermaßen nur ein
Märchen. Ein Märchen ist auch, dass diese Bundeswehr-
verkleinerung ohne Geld etwas mit Reform zu tun habe.
Sie verkleinern die Bundeswehr gerade so weit, wie Ihr
Geld reicht. Das ist das Problem, daran kommen Sie nicht
vorbei. Sie haben sich dafür entschieden, die Bundeswehr
drastisch zu verkleinern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415004600
Herr Kol-
lege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Braun?


(Horst Kubatschka [SPD]: Ist die bestellt?)



Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415004700
Bitte sehr.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1415004800
Herr Kol-
lege Schmidt, Sie beklagen natürlich zu Recht das
Schweigen der bayerischen SPD. Darf ich Sie aber fragen:
Wo ist heute die Bayerische Staatsregierung?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute geht es doch um ein Konzept, das praktisch ein
bundeswehrfreies Nordbayern vorsieht und das Schwa-
ben in einem Maße beschädigt, wie wir es bisher nicht er-
lebt haben.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist doch nicht Sache der Staatsregierung! Das müssten Sie doch wissen!)



Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415004900
Wissen Sie:
Ich bin schon etwas überrascht, Herr Kollege. Sie haben
sicherlich verfolgt, dass die Bayerische Staatsregierung
im Bayerischen Landtag eine sehr dezidierte Position zu
dieser Frage bezogen hat.


(Georg Pfannenstein [SPD]: Verweigert! – Weitere Zurufe von der SPD: Welche denn? – Nur ablehnen!)


Aus dieser Erklärung geht hervor, dass sie mit den Bür-
germeistern der 20 Kommunen, die betroffen sind und die
vorher nicht informiert waren, Gespräche führen muss.
Auch deswegen hat die Staatsregierung das Gespräch, das
gestern der Bundesverteidigungsminister mit dem Minis-
terpräsidenten führen wollte, abgesagt, weil sie der Auf-
fassung ist, das ist zu früh. Es kann doch nicht sein, dass
eine Reform zwei Jahre lang entwickelt wird und dass an-
schließend innerhalb von vier Werktagen entschieden
werden soll, wie es weitergeht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Damit eines ganz klar ist: Hier diskutieren wir über

Verantwortlichkeiten. Die Verantwortung liegt bei der
Bundesregierung und bei niemand anderem.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415005000
Herr Kol-
lege Schmidt, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Braun?




Peter Zumkley

14695


(C)



(D)



(A)



(B)



Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415005100
Wissen Sie,
Herr Kollege, wir haben ja keine eigene bayerische Armee
mehr und deswegen ist das Ganze Bundesangelegenheit.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Bayerische Armee! Der ist nicht bei Trost!)


Nachdem ich auch von SPD-Kollegen höre, dass sie bei
der Frage der Finanzierung der Folgen schon klamm-
heimlich auf die Länder verweisen, habe ich den Ein-
druck, dass da einiges schief läuft. Das muss heute dieser
Bundesregierung klar vor Augen geführt werden. Sie kön-
nen sicher sein, dass sich die Bayerische Staatsregierung
in bekannt klarer, dezidierter Weise zu diesen Fragen
äußern wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415005200
Herr Kol-
lege Schmidt, erlauben Sie trotzdem eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Braun? – Bitte, Herr Braun.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1415005300
Lieber Kol-
lege Schmidt, natürlich wissen wir sehr gut, dass es sich
hier um reine Bundespolitik handelt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber sollte man nicht die Bundesratsbank nutzen, um
auch hier Stellung zu nehmen, wenn es um so starke In-
teressen eines Bundeslandes, nämlich des Freistaates
Bayern, geht?


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415005400
Der bayeri-
sche Ministerpräsident und der Chef der Bayerischen
Staatskanzlei haben sich in dieser Sache geäußert.


(Georg Pfannenstein [SPD]: Der drückt sich! Der drückt sich immer!)


Sie sind im Gespräch mit den Betroffenen und haben es
dort nicht an Deutlichkeit fehlen lassen. Ich bin der An-
sicht, dass erst einmal die Fraktionen des Bundestages
diese Frage diskutieren müssen. Ich werde allerdings auch
an den Verteidigungsminister die Aufforderung richten,


(Johannes Kahrs [SPD]: Fragen Sie einmal Ihren Ministerpräsidenten!)


seinen Zeitplan zu revidieren, damit eine vernünftige Aus-
einandersetzung möglich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Verweigerungsstrategie!)


– Entschuldigung, ein solch dummes Gerede habe ich sel-
ten gehört, wenn Sie hier „Verweigerungsstrategie“ da-
zwischenrufen. Am Freitag letzter Woche kam aus dem
Ministerium zum ersten Mal ein Brief. Die Bürgermeister,
die hier auf der Tribüne sitzen, haben bis heute noch
nichts Offizielles bekommen. Dann stellt sich der Vertei-
digungsminister hier hin und sagt: Die waren leider noch
nicht alle bei mir. – Ja, wo sind wir denn? Entschuldigung,
wer trägt denn hier die Verantwortung?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es schwillt mir der Kamm bei dem, was ich von Ihnen,
Herr Kollege Erler, gehört habe.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist denn Ihr Konzept? Nur meckern!)


– Lassen Sie mich einmal ausreden, dann werden Sie
hören, was mein Konzept ist. Ich schicke es Ihnen zu.

Kollege Erler, Ihre Propagandarede war missglückt.
Uns zu unterstellen, wir hätten kein Konzept auf den Tisch
gelegt, ist ja nun völlig absurd. Sie haben wohl die Dis-
kussion des letzten Jahres nicht verfolgt.


(Johannes Kahrs [SPD]: Tragen Sie Ihr Konzept doch mal vor!)


Wenn Sie über die Wehrkundetagung letzte Woche in
München sprechen, dann sollten Sie einmal überlegen,
welchen Auftritt der Bundeskanzler dort hatte.


(Gernot Erler [SPD]: Einen sehr guten! Ohne jede Polemik!)


Er war schwierig, um nicht ein schärferes Wort zu ver-
wenden; ich will vorsichtig sein. Wissen Sie zum Bei-
spiel, dass der damalige amerikanische Verteidigungsmi-
nister Cohen vor einem halben Jahr in England die
Europäer aufgefordert hat, ihre Verteidigungshaushalte zu
erhöhen? Da liegt doch der Hase im Pfeffer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Haben wir doch gemacht!)


Mit dem Kollegen Zumkley setze ich mich gern sach-
lich auseinander, weil er ein sachlicher Mann ist.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ja, wo ist denn Ihr Konzept?)


Er hat gesagt, er sei dafür, zu reduzieren. Das ist eine acht-
bare Position.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist Ihr Konzept?)

Ich bin nicht dafür. Wieso bin ich nicht dafür? – Weil ich
der Meinung bin, dass angesichts der Anforderungen, die
im Bereich der Krisenreaktionskräfte und der Landesver-
teidigung auf uns zukommen, die Stärke der Bundeswehr
bei Beibehaltung der Wehrpflicht eine kritische Masse
nicht unterschreiten darf. Aus diesem Grunde halte ich die
Zahl von 250 000, 255 000, über die wir faktisch reden
– das müssen wir uns eingestehen, wenn wir ehrlich mit-
einander umgehen –, für zu wenig. Ihre Position mag eine
andere sein. Aber unsere, meine ich, ist sehr gut begrün-
det. Ich kann sogar den Bundesverteidigungsminister zum
Zeugen anrufen. Er sagt viel, wenn der Tag lang ist. Bun-
desverteidigungsminister Scharping hat nach einem Zei-
tungsbericht bei einem Truppenbesuch in Hohenmölsen
in Sachsen-Anhalt gesagt, er halte an der Personalstärke
der Bundeswehr fest. Immerhin sei die Truppenstärke von
rund 700 000 Bundeswehrangehörigen im Jahre 1991 auf
derzeit rund 330 000 Mann mehr als halbiert worden.

Also, der Bundesverteidigungsminister sagt, die Trup-
penstärke sei halbiert worden, das reiche aus und man
bleibe bei einer Truppenstärke von 330 000. Können Sie
mir bitte erklären, wieso sich die Sicherheitslage zwi-
schen dem 23. August 1999 und dem 9. Februar 2001 so






(C)



(D)



(A)



(B)


drastisch verändert hat, dass Sie die Bundeswehr um
80 000 Mann reduzieren wollen? Sie werden es nicht
können.

Nun zum Thema Glaubwürdigkeit. Wenn man als
SPD-Politiker in Goldene Bücher hineinschreibt, wie das
in Kötzting der Fall war, „Der Standort bleibt erhalten“
und ihn dann schließt, wenn man an der Regierung ist,
dann müssen doch die Wähler bzw. die Bürger an der
Glaubwürdigkeit der Politik zweifeln.


(Beifall des Abg. Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU])


Ihr Genosse Gantzer hat am 31. Januar 2001 im Bayeri-
schen Landtag im Rahmen einer Bundeswehrdebatte den
Truppenabbau als ein Geschenk für die Kommunen be-
zeichnet. Ich wünsche ihm für das Gespräch mit den
Bürgermeistern von Ebern, Heidenheim, Sonthofen,
Lenggries und Kötzting viel Vergnügen. Ihre Art und
Weise, mit diesem Problem umzugehen, ist absolut unak-
zeptabel.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415005500
Herr Kol-
lege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Pfannenstein?


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415005600
Aber immer.

(Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist Ihr Konzept?)


– Vorsicht, ich habe es dabei.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415005700
Bitte
schön.


Georg Pfannenstein (SPD):
Rede ID: ID1415005800
Verehrter Herr Kollege
Schmidt, was halten Sie von der Tatsache, dass Sie am
5. Januar dieses Jahres auf Ihrer Klausurtagung ein Papier
Ihrer Landesgruppe veröffentlicht haben, in dem steht,


(Gernot Erler [SPD]: Jetzt kommt es!)

diese Strukturveränderung mache Sinn, aber man müsse
vor Ort jede einzelne Standortschließung bekämpfen? In
diesem Papier wurde der Standort Kötzting aufgeführt.
Eine Schließung macht laut Ihrem Papier Sinn. Nun steht
Kötzting auf der Liste der zu schließenden Standorte; jetzt
macht eine Schließung keinen Sinn mehr. Können Sie mir
eine Antwort auf diese Widersprüche geben?


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415005900
Ich bin für
diese Zwischenfrage sehr dankbar, um endlich einmal die
hier herumgeisternde Unterstellung, es gebe bei der CSU
die Strategie, Scharping zu unterstützen, zu widerlegen.


(Gernot Erler [SPD]: Das gibt es doch schriftlich! – Lothar Mark [SPD]: Sind Ihre Papiere nicht mehr authentisch? – Weitere Zurufe von der SPD)


Das ist nämlich für Herrn Scharping ein Problem. Ich bin
schon von Journalisten gefragt worden, ob wir Scharping
gegen Schröder unterstützen würden, weil der einmal die
große Koalition gewollt habe. Ich kann Herrn Scharping

beruhigen: Wir unterstützen ihn nicht in dieser Position
und auch nicht in seiner Reform.

Das können Sie übrigens aus diesem Vermerk ersehen,
der nirgendwo beschlossen worden ist und der offensicht-
lich, wie ich zwischenzeitlich an der Art, wie er präsen-
tiert wird, festgestellt habe – Herr Erler, passen Sie bitte
auf –,


(Gernot Erler [SPD]: Ich habe ihn dabei!)

nicht ganz lupenrein an die interessierte Beschaffungsab-
teilung gegangen ist.

Wir werden noch über eine andere Angelegenheit spre-
chen müssen.


(Gernot Erler [SPD]: Das klären wir noch! – Georg Pfannenstein [SPD]: Das war aber jetzt ganz schön geeiert! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Herr Präsident, möchten die Kollegen von der SPD Auf-
klärung von mir haben oder wollen die mich nieder-
schreien? Sie sollten ruhig sein.


(Abg. Georg Pfannenstein [SPD] nimmt wieder seinen Platz ein)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415006000
Wenn Sie
die Zwischenfrage noch beantworten würden, dann würde
ich den Kollegen Pfannenstein bitten, sich noch einmal zu
erheben.


(Georg Pfannenstein [SPD]: Ich dachte, sie sei schon beantwortet!)



Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415006100
Nein, ich
habe sie noch nicht beantwortet.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415006200
Herr
Schmidt, Kollege Pfannenstein hat Ihnen auf Ihre Geneh-
migung hin eine Frage gestellt. Die beantworten Sie jetzt.
Ich bitte Herrn Pfannenstein, während dieser Zeit stehen
zu bleiben.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415006300
Kollege
Pfannenstein, die CSU hat kein Papier verabschiedet, in
dem sie das Konzept von Scharping in irgendeiner Weise
unterstützt. Sie hat Informationen weitergegeben. Das ist
mehr recht als billig in Zeiten, in denen SPD-Abgeordnete
beispielsweise in Günzburg gesagt haben, dass dieser
Standort sicher sei.

Wenn Sie diesen Vermerk eines Mitarbeiters – mehr ist
es nicht –


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aha! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Voll in der Wende! Klasse! – Gernot Erler [SPD]: Seit wann nehmen Sie Empfehlungen von Mitarbeitern an?)


genau lesen, dann stellen Sie fest, dass dort steht, –

(Georg Pfannenstein [SPD]: Herr Präsident, die Beine tun mir weh! Kann ich mich setzen?)





Christian Schmidt (Fürth)


14697


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415006400
Herr Kol-
lege Schmidt, eine Zwischenfrage sollte kurz und knapp
beantwortet werden. Ich bitte darum.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415006500
– dass, mein
lieber Kollege Pfannenstein, vor dem Hintergrund dieser
Reform eine Schließung Sinn macht. Wieso macht das
vor dem Hintergrund der Reform Sinn? – Weil Herr
Scharping ein Jahr vorher erzählt hat, es würden nur
Kleinststandorte geschlossen, weil er die Leute belogen
hat. Wir sind aber nicht für diese Reform. Deswegen
macht es nach unserer Meinung auch keinen Sinn; damit
das völlig klar ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/ CSU – Georg Pfannenstein [SPD]: Herr Präsident!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415006600
Jetzt ist
die Frage beantwortet. Danke schön.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415006700
Im Übrigen
wundert mich, mit welch eigenartiger Mischung aus Ar-
roganz, Uninteressiertheit, Spaß und Lust dieses Thema
offensichtlich in der Koalition behandelt wird. Dies ist ein
sehr ernst zu nehmendes Thema.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie gerade unterstrichen!)


Ich bin bereit, über die Inhalte zu diskutieren. Wir tun das
auch schon lange, aber da haben Sie nicht aufgepasst.

Im Übrigen kann ich nur appellieren, das, was jetzt
stattfinden soll, zu blockieren bzw. zu überdenken. Aber
selbst dann, wenn wir noch einmal darüber diskutieren,
wird es in Wahrheit so bleiben. Ihnen fehlt eines: Geld!


(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Weil Sie uns so viele Schulden hinterlassen haben!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415006800
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, witzige Zwischenrufe beleben
die Debatte und sind auch durchaus erwünscht. Wenn aber
dieselben Fragen zehnmal dazwischen gerufen werden,
kann dies zu einer Belastung der Debatte führen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich gebe nun der nächsten Rednerin, der Kollegin

Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415006900
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte
Frau Ministerpräsidentin Heide Simonis, ich freue mich,
dass Sie hier sind, um dieser Debatte trotz manchmal sin-
kender Qualität zu folgen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Jetzt erleben wir den Tiefpunkt!)


Ich glaube, der Stationierungsentwurf ist im Ergebnis
in sich ausgewogen und berücksichtigt die verschiedenen

Interessenlagen von Kommunen, Ländern, Soldaten, Zi-
vilisten und deren Familien. Ich bin der Meinung, dass die
Kriterien, die der Minister öffentlich gemacht hat und die
hätten korrigiert werden können, berechtigt sind und als
Grundlage dessen gedient haben, über was wir heute dis-
kutieren.

Ich finde es – hier nehme ich Bezug auf die Rede des
Kollegen Zumkley – verständlich, dass die Länder im
Dialog mit den Kommunen versuchen – ohne die kampa-
gnenartige Gestaltung der CDU –, noch über das eine oder
andere zu diskutieren. Ich sage aber als Schleswig-Hol-
steinerin und Neumünsteranerin, wo nun nur noch zehn
von 900 Soldaten übrig bleiben sollen:


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Aber der Standort bleibt erhalten!)


Wenn wir bei der Standortentscheidung nach Wirt-
schaftlichkeitskriterien und nach militärischen Kriterien
– das sind die Hauptkriterien bei dieser Reform – vorge-
hen, ist es einfach logisch, dass man Teile der Panzer-
brigade zusammenzieht und den Hauptstandort in Boo-
stedt lässt, so schlimm das für Neumünster ist. Wir
werden dort mit Fantasie nach vorne schauen, statt im-
mer nur zu schreien.

Heute Morgen hat im Fernsehen – Herr Kollege
Schmidt, Sie haben versucht, dies zu übertrumpfen, aber
es war einfach nicht zu übertrumpfen – der Kollege Huber
von einer „Strafexpedition der Bundesregierung gegen
Bayern“ gesprochen.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Recht hat er!)

Dazu kann ich nur sagen: Gute Nacht! Bleiben Sie in Bay-
ern und wir machen unsere Reform.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Nun komme ich zu den Vorwürfen, mit denen Sie uns
im Hinblick auf Niedersachsen bzw. – etwas konkreter –
auf Hannover parteipolitische Interessen unterstellen und
behaupten, wir würden bei der Zusammenziehung der
Wehrbereichsverwaltungen einen Kanzlerbonus ein-
bauen.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Chaostage brauchen mehr Sicherheit durch Feldjäger!)


Dazu kann ich nur sagen – so sehr ich den Kanzler
schätze –: Mir ist die Strukturreform der Bundeswehr und
insofern auch die Zusammenlegung der Wehrbereichsver-
waltung in Hannover wichtiger. Diese werde ich auch
weiterhin verteidigen.

Ich will nicht verhehlen, dass die Vorschläge der
Weizsäcker-Kommission und unsere Vorstellungen von
einer weiteren Reduzierung der Bundeswehr auf 200 000
Mann im Rahmen einer Freiwilligenarmee nicht weit aus-
einander lagen. Wir hätten Farbe bekannt: Nach unserem
Konzept wären noch mehr Standorte geschlossen worden,
mit der Zielsetzung, Kosten zu sparen, wo dies möglich
ist, und mehr Geld für Investitionen freizumachen. Aber
dies sei nun erst einmal zurückgestellt.






(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Kollege Nolting, ich kann Ihrer fundierten Kritik
an Ihrem früheren Koalitionspartner und an Herrn Merz
weitgehend folgen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das glaube ich nicht! Sie haben unsere Anträge auch abgelehnt!)


Aber dass Sie jetzt nur noch populistisch auf das Konzept
von Herrn von Weizsäcker aufspringen, das Sie früher
bekämpft haben, ist doch etwas zu kurzsichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Dummes Zeug!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bevorzuge Of-
fenheit in den Aussagen und will anstehende Probleme
nicht populistisch kleinreden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415007000
Frau Kol-
legin Beer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Börnsen?


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415007100
Nein,
danke.

Wer das tut, nützt weder der Bundeswehr noch der
Außen- und Sicherheitspolitik. Dieser Bereich ist in die-
ser Debatte leider etwas zu kurz gekommen.

Aber ich sage Ihnen noch einmal ganz klar: Wenn man
eine Außen- und Sicherheitspolitik gestalten will und
akzeptiert, dass wir eine handlungsfähige Bundeswehr
brauchen, die ihren Auftrag hat, muss diese Bundeswehr
entsprechend angepasst werden. Das heißt, dass wir sie
reduzieren müssen, und das heißt, dass wir Stationie-
rungsveränderungen vornehmen müssen. Alles andere
ist keine Unterstützung der Außen- und Sicherheitspoli-
tik, es wäre kontraproduktiv.

Herr Merz, ich habe nicht die Zeit, Ihre einzelnen Aus-
sagen von heute Morgen zu analysieren. Aber ich habe
das Gefühl, dass die frühere Regierungsfraktion der
CDU/CSU einem Trauma verhaftet ist, weil Sie sich heute
noch irgendwo innerlich gezwungen sehen, die jahrelan-
gen Fehler in Ihrer Regierungsverantwortung heute noch
zu rechtfertigen. Diesem Trauma verhaftet, sind Sie poli-
tisch völlig handlungsunfähig geworden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Sie sind nicht einmal in der Lage, über Ihre eigene Ver-
gangenheitsbewältigung hinaus zu denken.

In Ihrem Antrag – der heute abgestimmt und natürlich
abgelehnt werden wird – lautet die Kernaussage: Sie leh-
nen den Entwurf des Ressortkonzepts „Feinausplanung
und Stationierung der Bundeswehr“ ab. Sie fordern: Ers-
tens. Alles bleibt, wie es war. Zweitens – das muss man
sich wirklich einmal reinziehen – „den Umbau der Bun-
deswehr für Soldaten und Zivilpersonal, an den Modellen
der ehemaligen Bundesregierung orientiert, sozialver-
träglich zu gestalten“. Sie haben doch dafür gesorgt, dass
die Bundeswehr nur noch ein Ersatzteillager ist. Sie haben

dafür gesorgt, dass alle Reformen vorher nicht umgesetzt
worden sind. Und jetzt sagen Sie: „Weiter so!“ und for-
dern noch mehr Geld. Ja, wo bin ich denn hier?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Im Bundestag! – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Können Sie sich an Ihre Anträge erinnern? – Paul Breuer [CDU/CSU]: Das ist doch für Sie nur der erste Schritt, haben Sie gesagt. Nennen Sie doch einmal den nächsten Schritt!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden das
Reformkonzept weiter unterstützen. Ich sage Ihnen auch,
wie wir Reform verstehen, nicht als Schieben, Strecken,
Streichen, sondern als Wandel. Wandel heißt Bewegung.
Das heißt, die Bundeswehrreform ist auch so etwas wie
ein „work in progress“. Dieser Prozess ist nicht statisch,
ist nicht festgeschrieben bis auf den letzten Tag. Aber wir
wollen ihn zügig umsetzen. Wenn es sein muss, werden
wir auch bereit sein, im Rahmen dieser Reform Nachbes-
serungen vorzunehmen, um allen Interessen gerecht zu
werden.

Wir haben uns vorgenommen und sind dabei – der
Minister hat das heute deutlich gemacht –, als rot-grüne
Koalition nicht nur die Defizite, die Versäumnisse, vor al-
lem die politischen Versäumnisse, der letzten zehn Jahre
aufzuholen, sondern wir wollen auch gemeinsam mit un-
seren europäischen Partnern nach vorne gehen. Ich
glaube, es ist richtig – das möchte ich hier noch einmal un-
terstreichen –, dass wir die Reform der Bundeswehr in ein
Finanzierungskonzept der Bundesregierung eingepasst
haben, das mit der gesamten Haushaltskonsolidierung
kompatibel ist. Dass sich an dieser Konsolidierung auch
das Verteidigungsressort beteiligt, ist eine Selbstverständ-
lichkeit.

Das ist schwierig, aber diesen Weg gehen wir. Sie ha-
ben sich heute aus dem Dialog verabschiedet. Das ist be-
dauerlich, aber es passt in die Planlosigkeit der Opposi-
tion, wofür ich mich eigentlich zu bedanken habe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415007200
Zu einer
Kurzintervention erteile ich nacheinander dem Kollegen
Austermann und dem Kollegen Börnsen das Wort.

Zunächst Herr Kollege Austermann.


Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1415007300
Herr Präsident!
Die Kollegin Beer hat behauptet, sie treffe gelegentlich
klare Aussagen. Das mag in der Vergangenheit gegolten
haben.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für Schleswig-Holstein!)


– Natürlich Schleswig-Holstein. – Sie hat heute sehr ver-
schwommene Aussagen gemacht,


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, die waren sehr klar!)





Angelika Beer

14699


(C)



(D)



(A)



(B)


entgegen der Aussage kurz nach Veröffentlichung des
Strukturkonzepts des Verteidigungsministers, als sie da-
von sprach, dass noch viel zu wenig Standorte geschlos-
sen werden. Jetzt frage ich Sie, Frau Kollegin: Ist es wirk-
lich viel zu wenig – der Minister sprach von „nur
vereinzelten Standortschließungen und -reduzierun-
gen“ –, wenn Glückstadt, Großenbrode, Hohenlockstedt,
Leck, List, Pinneberg und Westerland mit 4 000 Soldaten
geschlossen werden? In meinem Wahlkreis sind
2 000 Soldaten betroffen. Die ganze Westküste mit ihren
Bundeswehrstandorten wird ausgedünnt. Hinzu kommen
Neumünster, Eckernförde, Schleswig und Rendsburg, wo
drastisch reduziert wird. Aus diesen Städten sollen
4 000 Soldaten abgezogen werden. Wenn man die zivilen
Mitarbeiter einrechnet, sind es mehr als 10 000 Bundes-
wehrbeschäftigte. Wenn man den Anteil Schleswig-Hol-
steins an Bundeswehrfachschulen berücksichtigt, der
3 Prozent beträgt, haben wir am Ende eine Kürzung von
17 Prozent. Halten Sie das für eine bescheidene Kürzung?
Halten Sie das für vertretbar?


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Sie wollte ein bundeswehrfreies Schleswig-Holstein!)


– Es ist völlig richtig, was der Kollege Braun sagt. Sie hat
in der Vergangenheit ein bundeswehrfreies Schleswig-
Holstein gefordert.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das stimmt nicht! Nicht nur Schleswig-Holstein! Wenn, dann genau!)


Wie passt das zu der Position, die jetzt von den Grünen
vertreten wird? – Ich kann Ihnen das Zitat aus dem
Jahr 1995 vorlegen. Sie haben von einem „bun-
deswehrfreien Schleswig-Holstein“ gesprochen. Sie wol-
len jetzt die Westküste bundeswehrfrei machen. Auch bei
den Heeresfliegern in Schleswig-Holstein soll reduziert
werden. Es gibt in absehbarer Zeit nördlich der Elbe bei
der Bundeswehr keine Hubschrauber mehr. Dies ist ein
unverantwortliches Vorgehen.

Jetzt komme ich zur Präsenz der Landesregierung,
weil dies vorhin ein Thema gewesen ist. Ich habe gedacht,
der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, Herr
Buß, der heute anwesend ist – er ist der Beauftragte der
Ministerpräsidentin für Bundeswehrfragen –, würde Ge-
legenheit nehmen, hier zu reden. Nachdem die Minister-
präsidentin eingetroffen ist, bin ich davon ausgegangen,
dass sie sprechen wird. Aber auf der Rednerliste stehen sie
beide nicht. Ihre Namen erscheinen erst bei dem nachfol-
genden Tagesordnungspunkt. Ich erinnere in diesem Zu-
sammenhang daran, dass wir bereits im Herbst des letzten
Jahres – Kollege Koppelin hat darauf hingewiesen – ge-
sagt haben, dass die Existenz des Heeresfliegers „Hungri-
ger Wolf“ und mit ihm andere Standorte gefährdet sind.


(Zuruf von der SPD: Er redet viel zu lange!)

Wir wurden in diesem Punkt aber nicht unterstützt.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Meine Güte!)


– Ich weiß nicht, warum der ehemalige Polizistentreter dau-
ernd dazwischenreden muss. Das war bisher nicht üblich.

Es werden nicht vereinzelt Standorte geschlossen, son-
dern es kommt zu drastischen Einschnitten. Das muss
deutlich gesagt werden.

Der letzte Punkt, den ich erwähnen möchte, ist die Fi-
nanzsituation.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415007400
Herr Kol-
lege Austermann, Ihre Redezeit ist abgelaufen.


Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1415007500
Mein letzter
Satz, Herr Präsident.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415007600
Nein, kei-
nen Satz mehr.


Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1415007700
Okay.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415007800
Herr Kol-
lege Börnsen, bitte schön.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1415007900
Frau
Kollegin Beer, Sie haben sich für die Stärkung von Han-
nover ausgesprochen und deutlich gemacht, dass nicht
parteipolitisch vorgegangen wurde. Damit haben Sie sich
aber gegen Kiel ausgesprochen. Ihre eigene Landtags-
fraktion in Kiel hat sich vehement für die Stärkung und
nicht für die Schwächung von Kiel eingesetzt. Ihre Land-
tagsfraktion hat sich auch für die Beibehaltung des Stand-
ortes Neumünster eingesetzt.

Sie halten es für gut, dass der Standort der Bundeswehr
dort geschlossen wurde. Sie haben deutlich gemacht, dass
Sie sich weder für Hohenlockstedt noch für andere Stand-
orte einsetzen. Ist es immer noch Ihre Auffassung, dass in
Schleswig-Holstein keinerlei Bundeswehrstandorte mehr
sein sollen? Von Ihnen gibt es mehrere Belege dafür, dass
Sie für ein bundeswehrfreies Schleswig-Holstein sind.

Sie haben unterstrichen, dass Sie zu dem Konzept des
Bundesverteidigungsministers stehen. Die Kommunen
vor Ort haben nur die nackten Zahlen darüber bekom-
men, wie viel reduziert und was geschlossen werden soll –
keine Begründung. Halten Sie das für ein vernünftiges
Konzept? In drei Wochen müssen Stellungnahmen er-
stellt werden. Niemand weiß, wofür oder wogegen eine
Stellungnahme erstellt werden soll. Ist das Ihre Bereit-
schaft zum Dialog, Frau Beer? Ist das vertretbar? Alle un-
sere Bürger sind in Unruhe und Sorge. Man muss ihnen
doch Argumente dafür geben, warum Soldaten aus
Schleswig, aus Tarp, aus Flensburg, aus Hohenlockstedt
und aus vielen anderen Städten und Kreisen unserer Re-
publik abgezogen werden sollen. Es reicht nicht aus, Zah-
len zu nennen.

Halten Sie es für richtig, dass vor Ort der Eindruck er-
weckt wird, der Bundesverteidigungsminister sei bereit,
über jedes Problem mit Bürgermeistern zu sprechen,
während sie in Wirklichkeit vor Ort abgefertigt werden?
Die Hohenlockstedter sind hier gewesen, aber sie haben
mit dem Bundesverteidigungsminister nicht sprechen




Dietrich Austermann
14700


(C)



(D)



(A)



(B)


können. Auch die Schleswiger sind hier gewesen, aber der
Bundesverteidigungsminister war nicht da. Die Staatsse-
kretäre haben sich große Mühe gegeben, aber vor Ort wird
der Eindruck erweckt, der Bundesverteidigungsminister
selbst werde den Dialog führen. Dann muss er auch Ter-
mine nennen.

Ich hoffe sehr, dass er einen Termin für die Standorte
nennt, auf deren Rückzug wir ihn angesprochen haben.
Bisher haben wir von seiner Seite nicht einmal eine Ant-
wort bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415008000
Frau Kol-
legin Beer, Sie haben das Wort zur Erwiderung.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415008100
Ver-
ehrte Kollegen aus Schleswig-Holstein! Worum geht es
hier eigentlich? Wir diskutieren heute die Feinplanung.
Es geht um eine Vorlage des Bundesministers der Vertei-
digung, die in den Ländern und Kommunen sowie im Par-
lament zur Debatte gestellt wird. Der Minister hat signa-
lisiert, dass bis zum 15. Februar Gespräche stattfinden
und dass er die endgültige Entscheidung am 16. treffen
wird. Der Verteidigungsminister setzt damit eine Koaliti-
onsvereinbarung zwischen Rot und Grün um, die besagt,
dass wir die Bundeswehr reformieren wollen. Wir haben
beschlossen, dass wir das Personal der Bundeswehr redu-
zieren wollen. Das bedeutet – das ist die Logik dieses Re-
formprozesses –, dass Standorte geschlossen werden.

Nun ist es – das habe ich vorhin bereits gesagt – durch-
aus verständlich, dass alle Gemeinden quer durch die Re-
publik – von Ost nach West, von Nord nach Süd – erst ein-
mal aufschreien und sagen: Okay, eigentlich ja, aber nicht
bei uns! Als verteidigungspolitische Sprecherin unter-
stütze ich das Konzept des Bundesministers der Verteidi-
gung, jedenfalls weitestgehend. Insofern vertrete ich auch
die Strukturmaßnahmen, die notwendig sind. Ich habe
vorhin gesagt – ich vertrete das auch zu Hause, obwohl
ich Neumünsteraner bin –: Wenn man Geld sparen muss
und die Bundeswehr wirtschaftlich gestalten will, damit
sie für die Zukunft fit ist, dann muss man Strukturverän-
derungen vornehmen. Deswegen ist es erstens sinnvoll,
Teile der 18. Panzerbrigade von Neumünster nach Boo-
stedt zu verlegen, wo die Kaserne, wie Wirtschaftlich-
keitsprüfungen erwiesen haben, sehr viel günstiger als der
Standort in Neumünster arbeitet. Zweitens ist es im Rah-
men dieser Umstrukturierung – das betrifft ja nicht nur
Schleswig-Holstein – sinnvoll, die Wehrbereichsverwal-
tungen in der geplanten Form zusammenzulegen.

Ich nehme durchaus zur Kenntnis – ich habe das übri-
gens auch mit den Grünen diskutiert –, dass man das vor
Ort etwas anders sieht. Das geht Ihnen ja in Ihren Parteien
genau so; wir wissen das aus allen Diskussionen. Diese
Koalition hat aber noch ein zweites Vorhaben klar defi-
niert: Wir sehen Konversion und die Reform als Schritt
nach vorne. Das heißt – da stimme ich mit dem Sprecher
des Konversionsinstituts in Bonn überein –, dass es gut
ist, wenn die Kommunen nicht in den Fehler verfallen, Ih-

rer Kampagne gegen die Regierung zu folgen und immer
nur Nein zu schreien, sondern die Chancen einer langfris-
tigen Konversion wahrnehmen. Wir wissen aus der ersten
Konversionsphase in Schleswig-Holstein, dass dies man-
chen inzwischen geschlossenen Standorten durchaus gut
getan hat.

Wir werden uns bemühen – das ist die Verantwortung
einer Bundespolitikerin; ich hoffe, Sie kommen bald wie-
der ins gemeinsame Boot zurück –, mit den Kommunen
konzeptionelle Vorschläge zu erörtern und da, wo es mög-
lich ist, mit regionaler Strukturunterstützung auch umzu-
setzen. Wir haben das Dilemma, dass – das ist nicht nur in
Schleswig-Holstein so, aber bei uns ganz besonders – die
Bundeswehr aus struktur- und wirtschaftspolitischen
Aspekten überproportional ins Land geholt worden ist.
Die Bundeswehr ist aber ein sicherheitspolitisches Instru-
ment. Da die letzte Regierung die Reform verschlafen
hat – ich habe das vorhin ausgeführt –,


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Das ist bis jetzt nicht wahrer geworden!)


sind wir jetzt in der schwierigen, aber handhabbaren Si-
tuation, diesen Reformprozess regional, kommunal, lan-
despolitisch und bundesweit umzusetzen. Ich glaube, dass
die Kriterien, die der Verteidigungsminister zugrunde ge-
legt hat, weitestgehend berücksichtigt worden sind. Des-
wegen kann ich mich Ihrem Geschrei, das wirklich nur
parteipolitisch motiviert ist und nichts mit dem Interesse
der Bundeswehr zu tun hat, nicht anschließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415008200
Wegen
des Zeitablaufs werde ich in dieser Debatte keine Kurzin-
terventionen mehr zulassen.


(Gernot Erler [SPD]: Danke, Herr Präsident!)

Die nächste Rednerin ist jetzt die Kollegin Ursula

Mogg von der SPD-Fraktion.


Ursula Mogg (SPD):
Rede ID: ID1415008300
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Ich werde versuchen, die Debatte in
aller Sachlichkeit auf den Kern zurückzuführen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Würfel sind gefallen. Nach der Erarbeitung aller
Grundlagen für die Vorlage einer Konzeption für die Bun-
deswehr der Zukunft herrscht jetzt bei allen am Prozess
Beteiligten Klarheit: bei den Soldaten, bei den Zivilbe-
schäftigten, bei den Kommunen und Regionen. Wir wis-
sen jetzt, wohin die Reise gehen wird.

Minister Scharping unterstreicht zu Recht, dass Ände-
rungen nur noch in gut begründeten Einzelfällen möglich
sein werden. Für die sozialverträgliche Umgestaltung ist
es hilfreich, dass jetzt eine weitgehende planerische Si-
cherheit besteht. Seit damit begonnen wurde, Überlegun-
gen über die sicherheits- und außenpolitisch unbestritten
notwendige Reduzierung der Bundeswehr anzustellen, ist




Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


14701


(C)



(D)



(A)



(B)


klar: Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Überlegun-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNSISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie uns also dem Vorschlag des Ministers fol-
gen und mehr über Arbeitsplätze, aber weniger über
Standorte diskutieren. Ich kenne kein Unternehmen, das
eine Reduzierung und Modernisierung mit einem solchen
Anspruch – betriebsbedingte Kündigungen sind ausge-
schlossen, der Umbau erfolgt sozialverträglich – einge-
läutet hätte, wie es der Verteidigungsminister, wie es diese
Bundesregierung, getan hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415008400
Frau Kol-
legin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dehnel?


Ursula Mogg (SPD):
Rede ID: ID1415008500
Nein, das erlaube ich jetzt nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es gilt jetzt, diesen Anspruch zu konkretisieren. Die
Koalitionsfraktionen bekennen sich ausdrücklich zu ihrer
sozialen Verantwortung bei der Umgestaltung der Bun-
deswehr. Ich bin mir ganz sicher, die betroffenen Men-
schen werden erkennen, dass Sie, meine Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, zurzeit nicht dieses Inte-
resse im Auge haben, sondern eine kurzatmige parteipoli-
tische Effekthascherei betreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist festzuhalten, dass genügend Zeit vorhanden ist,
um geeignete Maßnahmen für die betroffenen Menschen
zu entwickeln. Sowohl beim militärischen als auch beim
zivilen Personal sind Übergangszeiten von mehreren
Jahren eingeplant. Viele werden in dieser Zeitspanne aus
Altersgründen den Arbeitgeber Bundeswehr verlassen
und in den regulären Ruhestand eintreten. Darüber hinaus
wird jetzt selbstverständlich darüber nachgedacht, in wel-
chem Umfang und unter welchen Bedingungen Formen
der Altersteilzeit und des Vorruhestands erwünscht, not-
wendig und realisierbar sind.

Es wird Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben,
die den Arbeitsplatz innerhalb der Bundeswehr wechseln
oder bei einer anderen Verwaltung neu beginnen werden.
Es wird Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die
zu anderen Arbeitgebern wechseln werden. Kalte Über-
nahmen werden dabei ausgeschlossen. Niemand muss be-
fürchten, dass die Zusage der Sozialverträglichkeit un-
terlaufen wird.


(Beifall bei der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das sagt kein Mensch!)


Wir werden dabei auch nicht vergessen, Herr Kollege
Nolting, dass es Festlegungen bezüglich der Zusage von
Versorgungsleistungen geben muss. In einigen Fällen
gibt es heute schon nicht nur die Zusage eines privaten Ar-
beitgebers, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu

übernehmen, sondern dies auch zu günstigeren Konditio-
nen zu tun, als dies bei der Bundeswehr der Fall ist.

Auf jeden Fall aber muss gelten: Die erforderliche Be-
endigung des Arbeits- oder Dienstverhältnisses bei der
Bundeswehr bedarf der Zustimmung des betroffenen Mit-
arbeiters.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415008600
Frau Kol-
legin, galt Ihre Ablehnung von Zwischenfragen grund-
sätzlich oder gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des
Kollegen Adam?


Ursula Mogg (SPD):
Rede ID: ID1415008700
Ich möchte grundsätzlich keine
Zwischenfrage zulassen.

Bei der Bundeswehr entstehen neue, moderne und at-
traktive Arbeitsplätze. Die Reform der Bundeswehr wird
vielen verbesserte Perspektiven bringen. Sie wird auf
mittlere Sicht neue Aufstiegs- und Beförderungsmög-
lichkeiten eröffnen. Das ist selbstverständlich auch eine
Herausforderung für die Bereitschaft der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, sich auf Neues einzulassen. Auch
dazu stehen die Angebote: gute Ausbildung, Fort- und
Weiterbildung und zivilberufliche Qualifizierung; in Ko-
operation mit den Kammern.

Ich bin mir sicher: Diese Reform wird bei den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr einen
neuen Motivationsschub erzeugen, da wir alle wissen,
dass der Prozess der Erneuerung unumkehrbar ist. Die Zu-
sage der Sozialverträglichkeit gilt in jeder Konsequenz.
Jeder und jede wird die Chance haben, eine Antwort auf
die ganz persönliche Lebens- und Berufsplanung zu fin-
den.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Überall protestieren die Gewerkschaften vor Ort! Überall laufen sie Sturm! Das ist doch doppelzüngig! Zynisch ist das!)


– Herr Kollege, ich gehöre zu der kleinen Zahl privile-
gierter Abgeordneter, die ein hartes Jahr der Diskussion
vor Ort hinter sich haben. Ich sehe an dem Standort in Ko-
blenz viele strahlende Gesichter, weil klar ist, welche Per-
spektiven diese Bundeswehr bietet.


(Beifall bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: Die Zivilbeschäftigten wissen seit zwei Wochen Bescheid!)


Der Blick zurück macht Mut. In der Vergangenheit ist
es gelungen, Erneuerungsprozesse sozialverträglich zu
gestalten. Das wird auch in der Zukunft gelingen.

Eine herausfordernde Aufgabe zur Gestaltung der Bun-
deswehr der Zukunft liegt vor uns. Das ist ganz unbestrit-
ten. Ich fordere Sie alle auf: Arbeiten wir gemeinsam da-
ran!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415008800
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Paul Breuer von
der CDU/CSU-Fraktion.




Ursula Mogg
14702


(C)



(D)



(A)



(B)



Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1415008900
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Wenn man die Debatte hier verfolgt,
auch gerade den letzten Redebeitrag von Frau Mogg, hat
man den Eindruck, die Bundeswehr sei ein Feld für
Betriebswirtschaftler oder Sozialpolitiker. Ich sage Ihnen
eines: Die Bundeswehr ist ein wichtiges verteidigungs-
und sicherheitspolitisches Instrument.


(Zustimmung bei der SPD)

Wir werden niemanden in Deutschland und darüber hi-
naus überzeugen können, wofür wir diese Bundeswehr
brauchen und haben, wenn wir nicht primär eine sicher-
heits- und verteidigungspolitische Debatte darüber
führen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Das müssen Sie mal Herrn Merz sagen!)


Diese sicherheits- und verteidigungspolitische Debatte,
meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ist nicht hinreichend geführt worden. Das ist auch das
Hauptproblem, das Verteidigungsminister Scharping hat.
Sein Hauptproblem ist, dass er sagt, er wolle eine große
Reform machen. Schaut man aber genau hin, stellt man
fest: Er hat nicht das Geld dafür, die Reform nach vorne
zu bringen, keine Anschubinvestition, keine Möglichkeit
zu modernisieren, weder inhaltlich noch personell.

Ich sage Ihnen, warum er es nicht hat: Er hat die Frak-
tionen in der Regierung, SPD und Grüne, nicht davon
überzeugen können, dass es wichtig ist, das zu tun, weil
sie die sicherheitspolitische Debatte unterlassen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Wir machen es doch gerade!)


Den Vorwurf, wir hätten die Bundeswehr in den 90er-
Jahren nicht modernisiert,


(Lothar Mark [SPD]: Das trifft zu!)

muss man sich einmal genau anschauen. Die Entwicklung
in den 90er-Jahren, in den letzten zehn Jahren,


(Lothar Mark [SPD]: Da war alles noch viel schlimmer! Schauen Sie sich mal die Geländewagen an!)


war insbesondere natürlich zunächst dadurch geprägt,
dass der Warschauer Pakt zusammenbrach und die Sow-
jetunion von der Bildfläche verschwand. Das hat uns ei-
nen Sicherheitszugewinn hier in Mitteleuropa gebracht.
Auf der anderen Seite hatten wir die Entwicklung, dass
eine diffuse Sicherheitslage in Europa selbst – siehe Bal-
kan – entstanden ist und dass Konflikte am Rande Euro-
pas – Kaukasus, Nordafrika, Naher Osten – aufgetre-
ten sind, die uns in Europa nicht ruhig lassen können.


(Gernot Erler [SPD]: Und was habt ihr gemacht?)


Wir müssen Sicherheit exportieren, wir müssen Stabili-
tätspolitik betreiben.

Als diese Debatte in der Sicherheitspolitik in den 90er-
Jahren in Deutschland geführt wurde, haben Sie, SPD und
Grüne, zunächst jämmerlich versagt, weil Sie glaubten,
dass eine deutsche Verantwortungskultur, zusammen mit

unseren Partnern mit Streitkräften ins Ausland zu gehen,
ungefähr mit dem Imperialismus zu vergleichen war.


(Zuruf von der SPD: Machen Sie Vergangenheitsbewältigung?)


Das war doch Ihre Position in der damaligen Zeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Die alten Schlachten müssen nochmals geschlagen werden!)


Wir haben begonnen, im Übrigen gegen Ihren Willen,
die Bundeswehr zu reformieren.


(Gernot Erler [SPD]: Wann denn, um Gottes willen?)


Wir haben zunächst einmal zahlenmäßig eine große An-
passung vorgenommen. Die Bundeswehr ist fast halbiert
worden. Wir haben die Krisenreaktionskräfte aufge-
baut. Jetzt geht es darum, diesen Reformprozess fortzu-
setzen.


(Zuruf von der SPD: Das tun wir doch!)

Wir wissen sehr genau, dass dieser Reformprozess fort-
gesetzt werden muss, weil zwischen die Vereinigten Staa-
ten von Amerika und Europa eine Lücke gekommen ist,
eine Lücke der Investition, eine Lücke der Technologie.
Wer nicht bereit ist, in Deutschland diese Verantwortung
zu erkennen und als wesentliches Land in Europa und in
der NATO hier etwas zu tun, der versagt in diesem Pro-
zess.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Deswegen: Machen Sie doch einfach mit!)


Dieses Versagen, Herr Kollege Erler, werfe ich Ihnen und
Ihrem Minister Scharping vor. Scharping ist ein Reform-
versager.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Sie haben gar keine Reformen gemacht!)


Das, was Sie hier als größte Reform aller Zeiten für die
Bundeswehr vorgeben, ist in meinen Augen eine Mogel-
packung.


(Zuruf von der SPD: Der Mann fürs Grobe!)

Es ist auch in der Art, wie es präsentiert wird, eine Mo-
gelpackung. Heute soll über Standorte diskutiert werden.
Wir kennen die Realität.


(Gernot Erler [SPD]: Was machen Sie denn? – Weiterer Zuruf von der SPD: Wo ist Ihr Konzept?)


60 Standorte werden komplett geschlossen, an die 100 ins-
gesamt massiv betroffen. Wie hat der Verteidigungsmi-
nister Scharping die deutsche Öffentlichkeit, die Soldaten
und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr auf diese Dis-
kussion vorbereitet? In der „Süddeutschen Zeitung“ vom
18. April des letzten Jahres – das ist noch kein Jahr her –
wird Herr Scharping mit folgender Aussage zitiert:






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich glaube nicht, dass wir mit Standortschließungen
wirklich weiterkommen, denn das heißt ja immer
auch, in die Lebens- und Arbeitsbedingungen der An-
gehörigen der Bundeswehr einzugreifen ...

Das hat er damals gesagt und heute sind 100 Standorte in
Deutschland von Schließungen betroffen. Sie machen
sich unglaubwürdig.


(Zuruf von der SPD: Wo denn?)

Gemessen an dem Anspruch, der vertreten worden ist,
sind die vorgelegten Pläne eine Mogelpackung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist die Scharping-Lüge! – Zuruf von der SPD: Wer mogelt? – Peter Zumkley [SPD]: Ich dachte, wir wollten über Sicherheitspolitik diskutieren! Das ist die sicherheitspolitische Diskussion!)


– Sparen Sie Ihre Luft! Sie brauchen sie noch.
Eggesin in Mecklenburg-Vorpommern wurde hier als

Beispiel genannt. Ministerpräsident Ringstorff, SPD,
wird im „Nordkurier“ der letzten Tage zitiert: „Scharping
hat falsche Hoffnungen geweckt.“ Der „Wiesbadener Ku-
rier“ aus Hessen schreibt am 30. Januar – es ist also nur
ein paar Tage her –:

Ringen um den Standort Wiesbaden
Das Bundesverteidigungsministerium hat gestern
der Darstellung von Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul widersprochen.

Der Hintergrund war, dass Frau Wieczorek-Zeul – sie ist
hier anwesend und sitzt im Übrigen auf der Regierungs-
bank; Herr Scharping hat sich wieder irgendwohin ver-
dünnisiert;


(Zuruf von der SPD: Das ist eine Frechheit!)

ich weiß nicht, wo er gerade ist – in Wiesbaden gesagt hat,
sie habe die Zusage, die Wehrbereichsverwaltung Wies-
baden bleibe erhalten. Die Realität heute sieht so aus, dass
die Wehrbereichsverwaltung Wiesbaden geschlossen
wird, nur die Außenstelle bleibt. So sieht die Glaubwür-
digkeit von Verteidigungsminister Scharping und dieser
Bundesregierung aus.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Blubber, blubber, blubber!)


Die Art, wie dieses Standortkonzept präsentiert wird,

(Johannes Kahrs [SPD]: Haben Sie eins?)


ist stellvertretend für das gesamte Reformkonzept. Sie er-
heben hier den Anspruch, die Ausrüstung der Bundes-
wehr zu modernisieren. Die Rede ist von großen Investi-
tionen. Die Realität in der Bundeswehr ist völlig klar. Ich
sage Ihnen eines: Die Rechnungen für die Reparaturen der
Luftfahrzeuge und für andere Fahrzeuge der Bundeswehr
aus dem vergangenen Jahr sind heute, Anfang Februar,
noch nicht bezahlt.


(Zuruf von der SPD: 16 Jahre Misswirtschaft!)

Die Realität hinsichtlich der Planungen im Bundesvertei-
digungsministerium über die Abwicklung des Haushal-

tes 2001 – nennen Sie mich einen Lügner, wenn es nicht
stimmt – sieht derzeit so aus, dass die Planer dazu aufge-
fordert werden, dieses Haushaltsjahr mit Tricksereien zu
gestalten. Sie müssen schon jetzt zugeben, dass sie die Re-
paraturen des laufenden Jahres in diesem Jahr nicht be-
zahlen können. Die Planer fordern die Industrie dazu auf,
die Rechnungen im November zu stellen, damit man sie im
März oder im April des kommenden Jahres bezahlen kann.

Ich sage Ihnen voraus: Der Haushalt ist so knapp, dass
Sie in diesem Jahr nicht dazu in der Lage sind, ein einzi-
ges größeres Beschaffungsprojekt auf den Weg zu brin-
gen. Der Anspruch, den Sie hier erheben, hat mit der
Wirklichkeit einer echten Reform zum Zwecke der Mo-
dernisierung der Bundeswehr nichts zu tun. Der Schaden
für Deutschland in Bezug auf seinen Beitrag zur europä-
ischen und zur nordatlantischen Sicherheit wird leider
massiv werden.


(Gernot Erler [SPD]: Anderen hat Herr Merz angerichtet!)


Ändern Sie diese Politik! Es ist dringend notwendig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist Ihr Konzept? Was wollen Sie inhaltlicht?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415009000
Als letz-
ter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Manfred
Opel von der SPD-Fraktion das Wort.

Manfred Opel (SPD) (von der SPD mit Beifall be-
grüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich freue mich darüber, dass diese Debatte
im Hohen Hause so viel Aufmerksamkeit findet. Ich be-
grüße die sehr zahlreich vertretene Delegation aus
Schleswig-Holstein ganz besonders. Das ist mustergültig
für die Landesregierungen. Ich begrüße ausdrücklich
Heide Simonis und Klaus Buß.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Gernot Erler [SPD]: Wo ist Bayern? – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bayern hat den Verteidigungsfall in den Schweineställen!)


Der Kollege Schmidt hat versucht, sachlich zu bleiben.
Er sagte, die Bürgermeister hätten nichts Offizielles be-
kommen.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!)

– Jetzt warten Sie eine Sekunde; dann kommt das alles
schon noch im Detail. – Sämtliche Bürgermeister und
sämtliche Landräte sind zum Beispiel am Mittwoch, dem
31. Januar, von der Ministerpräsidentin des Landes
Schleswig-Holstein – übrigens zum wiederholten Male –
zu einer Konferenz eingeladen worden.

Dort haben wir die Stellungnahme, die wir dem Bun-
desminister der Verteidigung geben werden – übrigens
eine sehr konstruktive –, besprochen. Wir haben dort ein-
vernehmlich beschlossen, was zu tun ist.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Was wird das Ergebnis sein?)





Paul Breuer
14704


(C)



(D)



(A)



(B)


Außerdem sind die Bürgermeister in Schleswig-Hol-
stein moderner Technik gegenüber aufgeschlossen:


(Heidi Lippmann [PDS]: Im Gegensatz zum Verteidigungsministerium!)


Sie haben Zugang zum Internet und konnten sich von
dort das gesamte Konzept des Verteidigungsministers
besorgen. – Verehrte Kollegin Lippmann, Sie verwech-
seln im Moment Intranet und Internet. Da Sie für Ihre
Technologiefeindlichkeit bekannt sind, ist das auch nicht
verwunderlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will, weil der Kollege Austermann meinte, er könne

die Anwesenheit hochrangiger Vertreter der Landes-
regierung herunterspielen, ein wenig zur Aufklärung
beitragen. Im Moment finden Protestkundgebungen und
-versammlungen statt. Zum Beispiel wurde die Minister-
präsidentin wie auch ich eingeladen, aus diesem Grunde
nach List auf Sylt, der nördlichsten Gemeinde Deutsch-
lands, zu kommen. Wir haben es vorgezogen, hier zu sein
und uns hier für unsere Standortgemeinden einzusetzen.
Betroffen sind zum Beispiel auch Schleswig oder Hohen-
lockstedt. Gemeinsam werden wir für Schleswig-Holstein
Forderungen stellen. Das verstehen wir unter einer ver-
nünftigen Politik im Sinne des Ganzen.

Herr Breuer hat gesagt, man würde jetzt so unglaublich
viel abbauen und alles sei doch so schlimm. Ich möchte
daran erinnern, dass beispielsweise für die Dasa ein
Konzept mit dem Namen Dolores erstellt wurde. Dem-
nach sollten die Arbeitsplätze von 60 000 Beschäftigten
dieser Firma auf einmal abgebaut werden, um ein einziges
Ziel zu verfolgen. Dieses Ziel hieß Shareholder-Value.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Um die Firma überhaupt zu erhalten!)


Hinterher wurden aufgrund der Konjunkturlage nur
40 000 Arbeitsplätze abgebaut. Es ist aber so, dass Sie hier
im Hause überhaupt kein Wort des Bedauerns für diese
Menschen, die sofort entlassen wurden, geäußert haben.
Hier sprechen Sie angesichts der Tatsache, dass der Bun-
desminister der Verteidigung den zivilen Bereich bis 2010
insgesamt an die Notwendigkeiten angleichen will, von
unsozialen Maßnahmen. Dies ist nicht der Fall.


(Beifall bei der SPD – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Es gibt eine besondere Fürsorgepflicht!)


Herr Breuer, Sie haben zu Recht gesagt, dass die De-
batte der sicherheitspolitischen Grundlage entbehre. Ich
möchte Sie aber daran erinnern, dass Sie eine Debatte
darüber nie geführt haben. Wir waren immer dazu bereit,
diese Debatte zu führen. Sie haben es jahrelang versäumt.
Seitdem es eine rot-grüne Regierung gibt, wurde wenigs-
tens versucht, hier im Hause – wie heute – und auch in den
Ausschüssen diese Debatte zu führen. Das werden wir
auch weiterhin tun.

Deutsche Sicherheitspolitik ist zugleich immer eu-
ropäische und atlantische Sicherheitspolitik. Das darf
man nie aus dem Auge verlieren. Wenn wir die Bun-
deswehr der Zukunft schaffen wollen, dann muss sie folg-
lich auch ihren europäischen und atlantischen Aufgaben

uneingeschränkt nachkommen können. Nationale Sicher-
heitspolitik, wie sie manchmal gefordert wird – und auch
heute gefordert wurde –, hat sich überlebt. Die Bun-
deswehr muss in das Bemühen eingebunden werden, Eu-
ropa zu einigen, und zugleich gegenüber den USA ein
ebenso eigenständiger wie verlässlicher Partner sein.
Weiterhin muss sie in die Bemühungen um Rüstungskon-
trolle und Abrüstung eingebunden werden. Das muss ge-
rade heute deutlich gesagt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist unsere politische Hauptaufgabe, unser Land
durch eine Reduzierung der Bedrohung sicherer zu
machen und nicht über Aufrüstung. Auch das muss man
sehr deutlich sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen eine Welt frei von Massenvernichtungswaf-
fen – das hat jüngst auch der Bundeskanzler deutlich ge-
macht – und frei von ihren Trägern. Dann erübrigen sich
nämlich teure Abwehrsysteme, die viel Geld verschlingen
und deren Nutzen zumindest zweifelhaft ist.

Hier möchte ich dem Kollegen Gehrcke auch etwas
sagen, was ich kürzlich schon Frau Lippmann gesagt
habe. Wenn er behauptet, die Bundeswehr werde zu einer
weltweiten Interventionsarmee umgebaut,


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das sagt Scharping!)


dann entgegne ich ihm darauf, dass er entweder nicht
weiß, was eine weltweite Interventionsarmee ist – das
nehme ich einmal an –, oder er behauptet etwas wider bes-
seres Wissen. Die Bundeswehr beschränkt sich auf das,
was sie ist, nämlich eine Stütze der gemeinsamen Vertei-
digung des Bündnisses – sonst nichts.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])


Unsere Bundeswehr muss zusammen mit den Armeen
der europäischen Partner die Fähigkeit besitzen, eigen-
ständig auf krisenhafte Entwicklungen aller Art zu rea-
gieren. Deswegen muss sie umgebaut werden.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das sage ich doch!)


Das haben die Regierungschefs in Nizza beschlossen. Die
Struktur der Bundeswehr muss selbstverständlich auf
diese Aufgaben ausgerichtet werden.

Der Kollege Merz – er war gerade noch da –

(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Der ist auf Sand gebaut!)

hat heute den dritten Versuch unternommen, sich als Si-
cherheitspolitiker zu profilieren. Es ist, um es vornehm
auszudrücken, bei dem Versuch geblieben.


(Peter Zumkley [SPD]: Allerhöchstens! – Johannes Kahrs [SPD]: Blamiert hat er sich!)


Er hat sich zum Beispiel über Neumünster geäußert. Er
hat bloß eines vergessen – die Kollegin Beer hat darauf




Manfred Opel

14705


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(D)



(A)



(B)


hingewiesen –: Neben Neumünster liegt Boostedt. Wenn
man das nicht als Einheit sieht, dann kommt man natür-
lich zu den Fehlschlüssen, die er hier vorgetragen hat –
übrigens auch der Kollege Börnsen; aber ihm sehe ich das
nach. So viel Ahnung von den Interna der Bundeswehr hat
er nicht.


(Johannes Kahrs [SPD]: Er hat kein Konzept!)

Dann hat Herr Merz noch gesagt, der rot-grünen Koali-

tion sei ein gut bestelltes Haus übergeben worden. Jetzt
möchte ich aus einer Zeitung zitieren. Dort heißt es:

Vor diesem Hintergrund warnte der verteidi-
gungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion,
Paul Breuer ... davor, daß Deutschland nur noch
„eine Sicherheitspolitik nach Kassenlage“ betreibe ...
Als Folgen einer solchen Sparpolitik befürchtet
Breuer: Der ... festgelegte Bundeswehr-Umfang
wäre „nicht zu finanzieren“. Eine weitere Absenkung
des Personalumfangs dürfte nicht zu umgehen sein.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Das, was die Grü nen fordern!)

Eine „erneute Standortdebatte mit Standortauflö-
sung“ würde notwendig.

Das hat der Kollege Breuer am 30. Juni 1996 in der „Welt
am Sonntag“ gesagt.


(Heiterkeit bei der SPD – Lothar Mark [SPD]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Wenn Herr Merz dann sagt, Sie hätten ein gut bestelltes
Haus übergeben, dann leidet er entweder unter Wahr-
nehmungsstörungen oder er hört nicht auf Sie, Herr
Breuer.


(Gernot Erler [SPD]: Ich fürchte, das ist der Fall!)


Da müssen Sie sich schon entscheiden.
Dann hat Herr Merz – das muss ich hier einfach sagen,

weil das auch qualifiziert – davon gesprochen, dass
30 000 Schülerstellen mitgezählt worden sind. Er weiß
wahrscheinlich gar nicht, was das ist. Die Schülerstellen
sind derzeit in die Dienstposten integriert, die im Haushalt
ausgewiesen sind; das können Sie jederzeit nachlesen.
Wir machen endlich das, was die Truppe und übrigens
auch der Bundeswehr-Verband seit langem fordern: Wir
weisen die 22 000 Schülerstellen gesondert aus. Das ist
eine vernünftige Maßnahme.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415009100
Herr Kol-
lege Opel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Breuer?


Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1415009200
Herr Präsident, mit größtem
Vergnügen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415009300
Bitte
schön, Herr Breuer.


Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1415009400
Herr Kollege Opel, könnte
der Unterschied zwischen der Zeit Ende der 90er-Jahre
und heute möglicherweise erstens darin liegen, dass die
Kassenlage wirklich besser geworden ist? Das ist, glaube
ich, eindeutig.


(Lothar Mark [SPD]: Wie kommt denn das?)

Könnte der Unterschied in der verteidigungspoliti-

schen Debatte, was die Finanzen angeht, zweitens
möglicherweise darin liegen, dass es damals innerhalb der
Koalition von CDU/CSU und F.D.P. Politiker gab, die
gesagt haben: „Wir müssen in der Finanzpolitik Verant-
wortung zeigen“, und es heute möglicherweise in Ihren
Reihen niemanden gibt, der Verantwortung zeigt? Das ist
der Vorwurf, den ich Ihnen mache.


(Lachen bei der SPD)



Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1415009500
Verehrter Herr Kollege Breuer,
es hat niemand behauptet, dass wir im Geld schwimmen;
am wenigsten der Bundesminister der Verteidigung. Er
hat die tatsächliche Lage immer sehr deutlich gemacht.

Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass wir jedes Jahr
82 Milliarden DM nur für Zinszahlungen für die Schul-
den, die Sie uns hinterlassen haben, ausgeben. Das ist fast
das Doppelte des Verteidigungshaushalts.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist Ihre Erblast, die wir heute auch zusammen mit der
Bundeswehr abarbeiten müssen. Ich bin stolz darauf, dass
die Bundeswehr das mitmacht und darunter nicht zu sehr
zu leiden hat.

Ich möchte schließen mit drei Bitten. Erstens. Ich bitte
die Landesregierungen und die Kolleginnen und Kolle-
gen, die Stellungnahmen, die Minister Scharping erbeten
hat, mit Augenmaß abzugeben und nicht öffentlich großen
Wind zu machen. Es sollte tatsächlich versucht werden,
einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Der Bundesminis-
ter der Verteidigung hat angeboten, dass er konstruktive
Vorschläge entsprechend aufnimmt.

Zweitens habe ich die Bitte, nicht etwas zu fordern,
was ganz offensichtlich unsinnig ist. Das ist hier heute
mehrfach geschehen. Herr Breuer, ich habe Sie zitiert; Sie
haben es in Ihrer Zwischenfrage sogar verteidigt. Sie
haben sehr deutlich gemacht, dass die Bundeswehr den
neuen Gegebenheiten angepasst werden muss. Helfen Sie
also mit, sie anzupassen.


(Beifall bei der SPD)

Die dritte Bitte richte ich an den Bundesminister der

Verteidigung, Rudolf Scharping. Ich bitte ihn, die Stel-
lungnahmen, die zum Teil mit viel Herzblut geschrieben
worden sind, ernst zu nehmen – auch in Ihrem Stab – und
sie in das Konzept einzuarbeiten. Ich gehe davon aus – das
haben Sie zugesagt, Herr Bundesminister der Verteidi-
gung –, dass Verbesserungsvorschläge aufgenommen
werden und Verbesserungen auch möglich sind. Darauf
vertrauen wir; darauf vertraut die Bundeswehr.

Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir einen Minister
haben, der in der Lage ist, die Gefühle der Menschen, der




Manfred Opel
14706


(C)



(D)



(A)



(B)


Familien und auch der Standortgemeinden aufzunehmen.
Das hat er immer wieder bewiesen. Darauf sind wir stolz.
Wir hoffen, dass diese Reform über diesen Weg zu einem
guten Ende kommt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lothar Mark [SPD]: Sehr guter Beitrag!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415009600
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Entschlie-
ßungsanträge auf Drucksachen 14/5220 und 14/5236 zur
federführenden Beratung an den Verteidigungsausschuss
und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den
Haushaltsausschuss und den Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c sowie
Zusatzpunkt 8 auf:
15 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten

Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar Uldall,
Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Die Ostseeregion – Chancen und Risiken ei-
ner Wachstumsregion von zunehmender
weltweiter Bedeutung
– Drucksachen 14/2293, 14/4460 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar
Uldall, Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der CDU/CSU
Initiative zur Stärkung der Ostseeregion
– Drucksachen 14/3293, 14/4573 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Margareta Wolf (Frankfurt)


c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Jürgen Koppelin, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich
Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Ostseepolitik der Bundesregierung
– Drucksachen 14/3424, 14/4026 –

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz
Thönnes, Dr. Margrit Wetzel, Dr. Ditmar
Staffelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz

(Leipzig), Kerstin Müller (Köln), Rezzo

Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Die Entwicklung der Ostseeregion nachhaltig
stärken
– Drucksache 14/5226 –

Zu der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU
liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Weiterhin liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. zu ihrer eigenen Großen Anfrage vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Margrit Wetzel von der SPD-Fraktion das Wort.


Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1415009700
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Debatte
über die Ostseeregion. Ich denke, es ist wichtig, zunächst
einen Schwerpunkt bei der wirtschaftlichen Entwicklung
zu setzen. Handel und wirtschaftliche Entwicklung sind
nämlich eine der wichtigsten Grundlagen auch für Frie-
den und Sicherheit, für soziale und kulturelle Achtung so-
wie für politische Stabilität. Deutschland ist für einige
Länder der wichtigste Handelspartner im Netzwerk der
Ostseeanrainerländer. Damit sind wir auch Motor in den
anderen uns verbindenden Sektoren; denn in Länder, mit
denen wir handeln, reisen wir. Das fördert nicht nur den
beidseitigen Tourismus mit seinen positiven wirtschaftli-
chen Begleiterscheinungen, sondern auch das Verstehen
der vielfältigen Kulturen und Sprachen, die sich rund um
die Ostsee begegnen. Frieden und Sicherheit, kulturelle
Beziehungen und soziale Entwicklung aber sind wesent-
liche Voraussetzungen für die Verfestigung der regionalen
Identität, die wir gemeinsam als Wachstumsregion Ostsee
entwickeln wollen.

Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU – ich darf in diesem Zusammenhang an die
Einbringung Ihrer Große Anfrage erinnern –, nicht um
eine deutsche Strategie für die Ostseeregion, sondern
darum, gemeinsam in guter Kooperation eine europäische
Politik der aktiven Gestaltung des Nordens mit unseren
Partnerländern voranzutreiben. Das ist es, wozu unsere
Regierung den Vorsitz im Ostseerat aktiv nutzt; das ist es,
woran die nördlichen Bundesländer – Frau Simonis wird
uns noch Beispiele dafür geben – in täglicher Praxis ar-
beiten. Wir wollen die Ostsee selbst als das pulsierende
Herz der Region begreifen.

Lebensader der Wirtschaft sind die Verkehrswege.Die
Straßenverbindungen sind durch die großen Brücken-
bauwerke erheblich verbessert worden. Aber wir
brauchen Straßen und vor allem Schienenwege rund um
die ganze Ostsee als leistungsfähiges Verkehrsnetz, das
die Schnitt- und Umschlagsstellen der Ostseehäfen
verbindet und schnelle Anschlüsse der Verkehrswege ins
Hinterland ermöglicht. Übrigens nicht nur das Hinterland,
auch der Nord-Ostsee-Kanal verdient hier Erwähnung, ist
er doch schließlich eine der Hauptschlagadern des Han-
dels zwischen der Ostseeregion und Übersee.

Die Ostsee hat nichts Trennendes mehr. Sie ist ein
verbindendes Meer, das der ökologisch unbedenklichste
und sicherste Verkehrsweg überhaupt ist. Für Handel und
Tourismus quer über die Ostsee und an den Küsten sind
und bleiben die Schiffe mit ihren vielfältigen Mög-
lichkeiten des Massentransports, der Spezialtransporte,




Manfred Opel

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(C)



(D)



(A)



(B)


der High-Speed-Beförderung, der Fähren, aber auch der
komfortablen Kreuzfahrt im touristischen Bereich un-
verzichtbar. Deshalb sind wir froh darüber, dass die
Regierung erfolgreich beim Einsatz für mehr Schiffs-
sicherheit war. Wir unterstützen sie energisch darin, die
weitere Förderung des europäischen Schiffbaus vo-
ranzutreiben. Dies ist für die gesamten Ostseeanrainer-
länder wichtig.

Es läuft schon so viel anderes: beispielsweise der Aus-
tausch von Studenten und die Kooperation von Forschungs-
einrichtungen als Teil der Wissensgesellschaft. Im Zeital-
ter der elektronischen Kommunikation geht es um
internationale Kompatibilität von Geodaten und um die
Erfassung hydrographischer Daten. Wir freuen uns über
die Unterstützung der Institutionen der Wirtschaft beim
Aufbau der kleinen und mittelständischen Unternehmen in
Osteuropa und Kaliningrad.

Aber das reicht noch nicht. Die Unternehmen der ver-
schiedensten Ostseenationen können untereinander auch
jungen Berufstätigen die Chance geben, für eine gewisse
Zeit in den Nachbarländern zu arbeiten. Das erweitert
ihren Horizont, fördert das Verständnis für verschiedene
Kulturen, Arbeits- und Lebensweisen sowie für soziale
Zusammenhänge und ist auch Inbegriff des lebenslangen
Lernens.

An der Stelle fällt mir ein: Haben wir uns eigentlich
schon einmal über gemeinsame Frauenförderung in der
Ostseeregion unterhalten? Ich glaube, nicht wirklich.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Darauf warten wir!)

– Schön, dass Sie darauf warten, Herr Koppelin; das habe
ich mir gedacht.

Die Ostseeregion bietet Chancen über Chancen. Wir
sollten sie annehmen und täglich weiter ausbauen.

Umweltschäden halten sich nicht an nationale Gren-
zen. Hier bestehen ebenfalls Chancen, sie zu bewältigen.
Ich denke, die Ostseeregion ist das beste Beispiel für ein
echtes gemeinsames Küstenzonenmanagement – nicht
so, wie es auf EU-Ebene diskutiert wird, sondern wirklich
im Hinblick auf ein gemeinsames Verstehen und Be-
greifen der Zusammenhänge von Natur-, Umwelt-,
Küsten- und Klimaschutz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Nutzung gemeinsam vorangebrachter umwelt-
schützender Technologien, die auch den in ihrer wirt-
schaftlichen und technischen Entwicklung hinterher-
hinkenden Ländern sofort zur Verfügung stehen müssen,
kann den Begriff der nachhaltigen wirtschaftlichen Ent-
wicklung zur Leitidee der großen europäischen Wachs-
tumsregion Ostsee machen, sozial, ökonomisch und öko-
logisch stark.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb danken wir – wenn ich das an dieser Stelle
sagen darf – Franz Thönnes als dem unheimlich aktiven
Vorsitzenden der Deutsch-Skandinavischen Parlamen-

tariergruppe für seine Aktivitäten in diesem Zusammen-
hang.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Walter Hirche [F.D.P])

eigentlich „unheimlich“?)

Regierung und Koalitionsfraktionen sagen Ja zur
Wachstumsregion Ostsee.

Ich bedanke mich fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415009800
Als
nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Börnsen von
der CDU/CSU-Fraktion hat das Wort.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1415009900
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich aner-
kenne, dass heute, bei der dritten Debatte um die Ostsee-
region, zum ersten Mal der Vorsitzende des Ostseerates,
der Außenminister, persönlich anwesend ist. Ich habe
zweimal seine Abwesenheit kritisiert und will deshalb
ausdrücklich anerkennen, dass er heute mit dabei ist, was
mich aber nicht daran hindern wird, zu der bisherigen Ost-
seepolitik kritisch Stellung zu nehmen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Dann kann er es ja hören! Das ist gut!)


– Das ist prima; er wird auch darauf antworten.
Die augenblickliche Ostseepolitik gleicht, ob man will

oder nicht – wir kennen uns ja beide aus in dem Bereich,
Franz Thönnes –, eher einem kastrierten Kater: Der wird
immer dicker und was ihm fehlt, ist die Potenz.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Seit dem 1. Juni 2000 hat Deutschland die Präsi-

dentschaft im Ostseerat. Ich wünschte, ich könnte sagen,
Herr Außenminister, Sie hätten die Aufgabe mit Kraft und
Kreativität angetreten.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Hat er doch!)

Aber Fehlanzeige. Es gibt keine Ostseekooperation mit
einem Konzept.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es gibt wenig Pläne, viel Lyrik und keine genaue Aus-
richtung der Ostseepolitik.

Jetzt, acht Monate später, kann man das feststellen. Die
Administration hat gewollt, doch der politische Wille hat
gefehlt. Es ist klargeworden, dass man keine Vision hat,
diesen geteilten Musterraum in Europa in eine Vorzeige-
region umzuwandeln.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das ist selektive Wahrnehmung!)


Fünf Punkte hat Außenminister Fischer den Parlamen-
tariern der 9. Ostseekonferenz in Malmö vortragen lassen.
Er selber hat absagen müssen, war nicht anwesend – das
erste Mal, dass der Vorsitzende des Ostseerates nicht an-




Dr. Margrit Wetzel
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wesend war. Das war ein Affront gegenüber elf Parla-
menten. Darüber kann ich nicht lachen. Meine Freunde in
Dänemark, Schweden und Norwegen haben das als aus-
gesprochen unpassend empfunden. Deren Außenminister
waren da.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West, so

hat er mitteilen lassen, wolle man abbauen. Das war die
Ankündigung. Tatsächlich ist die Schere zwischen Reich
und Arm im Ostseeraum weiter aufgegangen. Das Brut-
toinlandsprodukt steigt im Westen und stagniert im Osten.
In Lettland verdient ein Arbeitnehmer im Jahr durch-
schnittlich 3 800 DM, in Finnland 40 000 DM. Das ist
mehr als zehnmal so viel.


(Franz Thönnes [SPD]: Das soll man in einem Jahr im Ostseerat ändern? Das ist ja toll!)


Das bedeutet, dass wir mit der Wirtschaftsförderung im
Osten ansetzen müssen. Es gibt von uns kein Direktpro-
gramm zur Förderung des Ostseeraumes. Schweden inves-
tiert dafür 1 Milliarde DM im Jahr.


(Franz Thönnes [SPD]: Die haben auch nicht so viele Haushaltsschulden!)


Bei uns: Fehlanzeige. In der Antwort auf unsere Große An-
frage sagt die Bundesregierung sogar, sie erwäge derzeit
nicht, ein eigenes Regionalprogramm für die Ostseeko-
operation aufzulegen. Franz Thönnes, Sie und viele andere
haben das gewollt und gewünscht. Wir sind Haupt-
handelspartner aller Länder. Aber um es auch in Zukunft
zu bleiben, wird derzeit nichts getan. Das ist kurzsichtig.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Richtig!)

Die überwiegende Zahl der Programme zur Stärkung

der jungen Demokratien in diesem Raum – von INTER-
REG bis TACIS – kommt aus Brüssel, nicht aus Deutsch-
land. Aber die östlichen Ostseeanrainer kommen damit
nicht aus. Wir müssen selbst etwas tun.

Aber es geht nicht nur um die finanzielle Förderung.
Wir sind leider auch bei der strukturellen Förderung
passiv. Der Ausbau der Verkehrswege rund um die Ostsee
stagniert: bei der Straße, bei der Schiene, beim
Flugverkehr. Dies gilt auch für unsere gemeinsame
Forderung, mehr Verkehr von der Straße auf das Wasser
zu bringen, „From Road to Sea“ umzusetzen.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Machen wir doch!)

Bei der Fehmarnbelt-Querung gilt das Gleiche. Unser

nördlicher Nachbar Dänemark schafft in einem Jahrzehnt
den Bau zweier großer Brückenprojekte, über den Großen
Belt und über den Oeresund. Wir schaffen Sprechblasen.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Thönnes [SPD]: Was habt ihr in 16 Jahren ge-
macht? Wo sind die Brücken der 16 Jahre? –
Lothar Mark [SPD]: Sag mir, wo die Brücken
sind, wo sind sie geblieben? – Dr. Uwe Küster
[SPD]: Seid still, er muss doch sein Programm
abspulen!)

Von der jetzigen Regierung ist nicht einmal die
Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans in die Tat
umgesetzt worden und es kommt auch nicht dazu. Der
Bundesverkehrswegeplan wäre wirtschaftlich und
rechtlich notwendig und international geboten. Der Plan
wird bis nach der Bundestagswahl ausgesetzt und damit
herrscht auch Stillstand bei dringenden Strukturmaßnah-
men für die Ostseeregion. Oder wird es noch zu einem
Bundesverkehrswegeplan kommen? Alle Informationen
sagen: Nein. Stillstand herrscht in der Ostseeregion hin-
sichtlich dringender Strukturmaßnahmen. Das ist das
eigentliche Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein weiteres Beispiel für eine Ostseepolitik im Rück-

wärtsgang ist, Herr Außenminister – auch wenn Sie sich
darüber amüsieren –, Ihr Programm „Zwei Stunden in
2000“, das Sie zur Grenzabfertigung aufgelegt haben.
Damit soll die Grenzproblematik – an den östlichen
Grenzen gibt es lange Staus – gelöst werden. Was hat
man jetzt gemacht? Das Programm ist geblieben, aber
statt „Zwei Stunden in 2000“ hat man es nunmehr „Zwei
Stunden in 2001“ genannt. Es wurde zwar das Datum
geändert, damit aber nicht die Bürokratie bei der Grenz-
abfertigung abgebaut. 40 Stunden stehen Brummis an
der Grenze.


(Lothar Mark [SPD]: Das haben wir so übernommen!)


Das ist für Menschen und Wirtschaft eine Zumutung.
Nicht das Datum ist zu ändern, sondern die Grenzbüro-
kratie gilt es abzubauen. Da ist mehr zu tun, als nur da-
rüber zu reden.


(Lothar Mark [SPD]: Ja, das tun wir!)

Ich spreche in diesem Zusammenhang auch die Hilfs-

organisationen an. Viele, die hier sitzen, sind selbst en-
gagiert, den baltischen Staaten wirklich Hilfe zukommen
zu lassen. Weder Kirchen noch Jugendverbände haben
zurzeit Chancen, ihre Hilfsgüter über die Ostsee zu brin-
gen. Es wird ihnen immer schwerer gemacht, die Büro-
kratie zu überwinden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Damit wird Hilfsbereitschaft unterbunden. Wir appellie-
ren, das Gegenteil umzusetzen, nämlich die gute Tat Tau-
sender von Menschen zu fördern, damit Hilfsmaßnah-
men auch an ihrem Ziel ankommen.

Gut 160Milliarden DM umfasst der durchschnittliche
jährliche Handel Deutschlands mit dem Ostseeraum. Er
hat den gleichen Umfang wie der Handel mit den Ver-
einigten Staaten und Japan zusammen. Dies ist ein
Riesenpotenzial.


(Franz Thönnes [SPD]: Dann kann es ja mit den Grenzen nicht so schlimm sein!)


Das Entwicklungspotenzial wird von den Experten für
die nächsten zehn Jahre auf 100 Prozent bis 250 Prozent
geschätzt. Das heißt, es ergeben sich große Chancen für
Betriebe in unserem Land und damit auch für unsere
Arbeitsplätze.




Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


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(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Ich denke, es ist alles so schlimm! Was denn nun? Das ist doch ein Widerspruch! Sollen wir denn mehr als 250 Prozent erreichen?)


Deutschland muss als Drehscheibe zwischen Nordost-
und Mitteleuropa eine aktive Rolle in der Ostseeinfra-
strukturpolitik einnehmen. Ich will Ihnen zeigen, wie ak-
tiv Ihre Rolle dagegen ist: Sie lassen es zu, dass ein Güter-
transport per Bahn von Kopenhagen nach Berlin
18 Stunden und per LKW 8,5 Stunden dauert.


(Lothar Mark [SPD]: Wie lange hat es vorher gedauert? – Franz Thönnes [SPD]: Wer war eigentlich für die Bahn verantwortlich?)


Das ist ökonomisch und ökologisch unvertretbar. Da muss
man ansetzen. Sie wollten das umsetzen, haben das bisher
aber nicht erreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Anerkennung sollte man den IHK rund um die Ostsee

zollen,

(Franz Thönnes [SPD]: Den Gewerkschaften auch!)

die in Eigeninitiative einen Wirtschaftsring um die Ostsee
errichten. Die IHK Kiel ist wesentlicher Motor im Rah-
men dieser Initiative.

Der Außenminister hat versprechen lassen, die Wis-
sensgesellschaft in der Ostseeregion zu stärken. Es hat in
den letzten acht Monaten keine wirkliche Initiative dazu
gegeben. Nicht einmal die Eurofakultät in Kaliningrad ist
zu nennen, deren Grundstock bereits 1992 gelegt worden
ist. Nein, wir fordern eine wirkliche Bildungsoffensive
für den Ostseeraum, für die Universitäten im Ostseeraum.
Dort gibt es über 100 Hochschuleinrichtungen, deren Ver-
netzung ebenso notwendig ist wie ein Ostseehoch-
schulgipfel. Die Anerkennung von privaten Initiativen
wie der Professor-Petersen-Stiftung, die junge Wis-
senschaftler in die Lage versetzen, im Ostseeraum aktiv
zu sein, ist wichtig.

Der Außenminister hat im Ostseerat versprechen
lassen, die Ostseeländer zu stärken. Er hat auf der Kon-
ferenz mitteilen lassen, er hoffe, dass der EU-Beitritt der
ersten Gruppe der Kandidaten am 1. Januar 2005 vollzo-
gen werde. Das kann man wörtlich nachlesen. Er soll
nicht hoffen, er soll handeln. Vielleicht wird er es heute
korrigieren und sagen, wie er sich das Konzept für alle
Ostseeanrainer vorstellt. Nach unserer Auffassung, Herr
Außenminister, gehören die baltischen Staaten gemein-
sam in die Europäische Union und nicht, wie es Ihr
Vertreter gesagt hat, in unterschiedlichem Tempo. Wir
sind auf jeden Fall dafür, dass die Ostseeländer gemein-
sam Mitglieder der Europäischen Union werden.

Sie haben mitteilen lassen, dass der Ostseeraum zu
einer Modellregion der Nachhaltigkeit werden soll. In
Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage steht das Gegen-
teil. Die Ostsee ist leider fern davon, ein ökologischer
Modellraum zu sein. Zunehmende Planktondichte, ein
sinkendes Artenspektrum und hohe Schadstoff- und
Nährstoffeinträge sind nur ein paar der Probleme, die in

der Ostsee wieder mehr und nicht weniger werden. So
steht es in der Antwort auf unsere Anfrage. Wir sind der
Auffassung, dass man nicht von dem Ziel, eine saubere
Ostsee zu erreichen, abrücken darf. Darum müssen wir
uns gemeinsam bemühen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür sind wir auch!)


Der Außenminister hat in Malmö versprechen lassen,
dass es zu einer Stärkung der Zivilgesellschaft kommen
wird. Er hat ausdrücklich betonen lassen, es müsse eine
Beteiligung der Parlamente geben. Die Wirklichkeit
sieht anders aus. Bis auf die jährliche Ostseeparlamen-
tarierkonferenz gibt es für die 100 Parlamentarier aus elf
Ländern wenig zu sagen im Ostseeraum. Während die Eu-
ropäische Kommission am Tisch des Ostseerates sitzt, ist
die Parlamentarierkonferenz ausgeklammert.

Ich habe den Eindruck, dass es alle Beteiligten – dazu
gehört auch Franz Thönnes –


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Loben Sie ihn mal!)

für nötig halten, dass die Ostseekonferenz auch Sitz und
Stimme im Ostseerat erhält. Wenn es nicht nach zehn Jah-
ren zu einer Reform kommen kann, dann frage ich: Wann
denn sonst? Es ist jetzt an der Zeit, das umzusetzen, was
der Außenminister selbst wünscht.

Die Regierung lässt sich bei der Ostseepolitik leider
vertreten: in der Finanzierung durch Programme der Eu-
ropäischen Union; ferner verlegt sie eine Reihe von Auf-
gaben auf Nichtregierungsorganisationen, ohne selbst zu
gestalten, und sie delegiert die Ostseearbeit mehr und
mehr auf die norddeutschen Bundesländer.

Die norddeutschen Bundesländer waren zwar schon
immer aktiv – hier möchte ich den Kollegen Walter ganz
besonders nennen –, doch die Kompetenz der Länder
reicht nach unserer Verfassungslage dafür nicht aus.
Schleswig-Holstein ist nun wirklich kein gleichberech-
tigter Partner von Russland, Polen und Schweden. Die
Bundesrepublik ist es. Deswegen ist es hier nicht möglich,
Aufgaben zu delegieren. Es ist falsch, dass die Bun-
desregierung außen- und wirtschaftspolitische Belange
auf die Schultern der Bundesländer abwälzt. Das ist zwar
vor Ort eine prima Sache, aber es geht nicht an, dass man
die Aufgaben trennt.

Die Ostseepolitik bleibt eine nationale Aufgabe. So
wird sie von allen Ostseeanrainern praktiziert. Sie alle
wissen, dass die existenziellen Herausforderungen wie
Sicherheitspolitik, Ökologie, Demokratieförderung, Auf-
bau von Verkehrsinfrastruktur, Bekämpfung organisierter
Kriminalität und Menschen- und Minderheitenrechte für
alle Staaten Themen sind, die von den nationalen
Regierungen und ihren Parlamenten angepackt werden
müssen, aber nicht von Landesregierungen.

Auch der Sachverhalt, dass die Lebenserwartung in
Skandinavien durchschnittlich bei 80 Jahren liegt – in
Russland liegt sie bei 57–, muss uns einen Anstoß geben,
darüber nachzudenken, weil dieser Unterschied auch
Wanderungsbewegungen auslösen könnte. Wer das nicht
will, muss zu einer aktiven Ostseepolitik kommen, muss
dazu beitragen, dass die Probleme gerade bei den östli-




Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

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chen Ostseeanrainern abgebaut werden, dass die jungen
Demokratien gefördert werden.

Die Bundesregierung ist dabei, der Ostseepolitik den
Rang einer Regionalpolitik zuzuweisen.


(Lothar Mark [SPD]: Nein! Das stimmt nicht! Ganz im Gegenteil!)


Das geht nicht; sie darf nicht degradiert werden. Damit
verfährt die rot-grüne Bundesregierung nach der Devise,
Schecks auf eine Bank zu ziehen, bei der sie kein Konto
hat.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Christine Lucyga [SPD]: Anhaltender starker Beifall!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415010000
Für die
Bundesregierung hat jetzt der Bundesminister Joseph
Fischer das Wort.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415010100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Börnsen,
wir haben es heute und auch in den vergangenen Tagen
mehrfach erlebt, dass Opposition weiß Gott ein schwieri-
ges Geschäft ist, dass man verzweifeln kann und das Ge-
dächtnis ausschalten muss.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben es schon lange ausgeschaltet! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], zur CDU/CSU gewandt: Wo sind die Brücken, die Sie gebaut haben?)


Denn Sie haben ja sehr lange regiert.
Man könnte geradezu meinen, Sie hätten an die rot-

grüne Bundesregierung den Vorwurf gerichtet, dass es uns
in zwei Jahren nicht gelungen sei, im Norden ein europä-
isches Brückenbauprojekt hinzubekommen. Wenn ich
mich richtig entsinne – es tut mir Leid, dass ich Ihnen die-
ses banale Argument entgegenhalten muss –, hat Ihre Par-
tei 16 Jahre regiert. Sie haben gesagt, die Dänen hätten es
in zehn Jahren geschafft, zwei herausragende Projekte
von europäischem Rang – ich selbst hatte die Gelegenheit,
über eines, die Oeresund-Brücke, zu laufen – hinzube-
kommen.


(Franz Thönnes [SPD], zur CDU/CSU gewandt: Wenn Sie weiter regiert hätten, hätte er schwimmen müssen!)


Wenn ich mich richtig entsinne, haben Sie, Herr Börnsen,
das nicht geschafft.

Sie haben das Problem der Verkehrsanbindung Schles-
wig-Holsteins erwähnt. Wir alle haben das ja erlebt, dass
wir in Hamburg-Altona umsteigen mussten, weil Strecken
nicht elektrifiziert waren; ich selber habe das x-mal auf
dem Weg in den Wahlkampf, zu politischen Veranstaltun-
gen, bei privaten Besuchen oder Urlaubsfahrten erlebt.
Das liegt doch nicht an der rot-grünen Bundesregierung.
Vielmehr stellen Sie sich hier mit einem Wunschkatalog
hin und vergessen, dass Sie die Verantwortung in den ver-

gangenen 16 Jahren hatten. Dieser Verantwortung müssen
Sie sich stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lothar Mark [SPD]: 16 Jahre nichts getan, überhaupt nichts!)


Im Übrigen finde ich, Sie machen einen Riesenfehler.
Sie tun gerade so, als wenn es sich bei der Ostseeregion –
ich meine nicht nur die deutschen Bundesländer; ich
meine nicht nur Ihr eigenes wunderbares Bundesland
Schleswig-Holstein; ich meine auch unsere skandinavi-
schen Nachbarn – um die Problemregion in der EU han-
deln würde. Das ist doch nicht der Fall.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Vielmehr ist es eine Region mit enormen Chancen und mit
einem enormen Wachstumspotenzial. Es ist eine der zu-
kunftsfähigsten und wird in Zukunft auch eine der reichs-
ten Regionen in der Europäischen Union sein. Ich wollte,
wir hätten in den anderen Regionen die Probleme, die wir
im Ostseeraum haben – mit einigen Ausnahmen; darauf
komme ich gleich zu sprechen –,


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Siehst du! – Ulrich Adam [CDU/CSU]: Sie kennen Mecklenburg-Vorpommern nicht!)


dann hätten wir wenig Probleme.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Herr Kollege Börnsen, Sie haben auch dem Kollegen
Scharping vorgehalten – ich sage Ihnen, ich weiß, wie
schwer das Oppositionsgeschäft ist; ich fordere Sie aber
auf: Seien Sie nicht so ministerfixiert –, dass die Parla-
mentarische Staatssekretärin die Bürgermeister empfan-
gen habe; mir werfen Sie vor, dass ich bei der von Ihnen
erwähnten Konferenz nicht gewesen bin. Sie sagen, das
sei eine Missachtung gewesen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Natürlich!)


– Das war es natürlich nicht. Ich habe doch nicht zu Hause
gelegen und war der Meinung: Ich muss mir den Börnsen
nicht anhören. – Vielmehr hatte ich dringende andere Ver-
pflichtungen. Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen:
Die Parlamentarischen Staatssekretäre sind ja Kollegin-
nen und Kollegen von Ihnen. Es wird ja immer so getan,
als wären sie Vertreter minderen Ranges. Diese Institution
ist aus der Mitte dieses Hauses eingerichtet worden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Es handelt sich dabei um Kolleginnen und Kollegen, die
selbstverständlich die Politik des Hauses vertreten. Das
hat doch mit Missachtung nichts zu tun. Der Staatsminis-
ter muss mich ja auch an anderer Stelle vertreten.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Peinlich war das Ganze! – Gegenruf des Abg. Lothar Mark [SPD]: Jeder Termin kann nur einmal vom Minister wahrgenommen werden!)





Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


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– Ich bekenne offen, Herr Kollege Börnsen: Es ist mir in
den zwei Jahren bisher nicht gelungen, das alte theologi-
sche Problem der Ubiquität zu lösen. Deswegen werde ich
auch in Zukunft dann und wann vertreten werden müssen.

Zur Sache: Ich warne davor, die Ostseeraumpolitik zu
überladen. Wir werden die bestehenden Probleme, zum
Beispiel das Sozialgefälle und das Gefälle im Hinblick
auf die Lebenserwartung der Bevölkerung von Russland
und der Bevölkerung der skandinavischen Länder, nicht
zuerst über die Ostseeraumpolitik lösen können.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Das wäre eine völlige Überfrachtung dessen, was ein sol-
cher regionaler Ansatz leisten kann.

Wir sind sehr der Meinung, dass dieser Ansatz eine
große Zukunft hat. Allerdings sollten wir dabei, Herr Kol-
lege Börnsen, nicht als Erstes nach neuen Regionalpro-
grammen rufen. Wenn ich mich richtig entsinne, hat die
neue Bundesregierung kein nationales Regionalpro-
gramm vorgefunden und dann eingestellt. Mitnichten!
Nachdem Sie jetzt in der Opposition sind, fordern Sie
plötzlich nach dem Motto „Opponieren kostet nichts“ ein
zusätzliches Regionalprogramm, wobei Sie genau wissen,
dass die dazu erforderlichen nationalen Mittel angesichts
der von uns zu leistenden Haushaltssanierung nicht vor-
handen sind. Das ist eine Form von, wie ich finde, sehr
billiger Oppositionspolitik.

Bei der Bundeswehr, die man zum Ersatzteillager de-
naturiert hat, ruft man jetzt nach mehr Geld. Gleichzeitig
fordert man, für den Ostseeraum und die Landwirtschaft
sollten nationale Zusatzmittel zur Verfügung gestellt wer-
den, das Wunder Steuersenkung sollte finanziert werden
und am Ende sollte auch noch eine Sanierung der Staats-
finanzen herauskommen. Das kann man im Parlament
von Wolkenkuckucksheim realisieren, aber nicht in die-
sem irdischen Jammertal. Auch wenn man der CDU/CSU
angehört, wird man das nicht schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Aber dann macht man keine Ankündigungen!)


Ich will Ihnen sagen, warum ich nicht auf dieser Ost-
seekonferenz war. Ich habe mir die Termine heraussuchen
lassen. Gleichzeitig war die erste Botschafterkonferenz
– sie war seit langem festgelegt –, die die Bundesrepublik
Deutschland abgehalten hat. Sie hat am 4. und 5. Septem-
ber 2000 stattgefunden. Es war unverzichtbar, dass der
Bundesaußenminister in Person an dieser Botschafter-
konferenz teilgenommen hat. Das wollte ich hier nur ein-
mal betonen. Daran kann man sehen, wie haltlos Ihre Vor-
würfe sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415010200
Herr
Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Börnsen?


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415010300

Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415010400
Bitte
schön, Herr Börnsen.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1415010500
Ich be-
danke mich, dass ich dazu eine Zwischenfrage stellen
kann.

Herr Minister, ist Ihnen anhand Ihres Terminkalenders
auch deutlich geworden, dass Sie der Landtagspräsident
von Schleswig-Holstein bereits neun Monate vor Beginn
dieser Konferenz angeschrieben und gebeten hat teilzu-
nehmen? Er hat sechs Monate auf die Antwort gewartet.
Auch in der ersten Antwort hat er keinen Hinweis auf die
Botschafterkonferenz bekommen. Erst nachdem er noch
einmal nachgefragt hat – Herr Arens ist ein engagierter
Ostseevertreter –, hat er den Bescheid bekommen, dass
Sie sich vertreten lassen würden. Das ist, so finde ich, ein
Zeichen dafür, dass Sie sich als Vorsitzender nicht um die
Belange dieser Konferenz gekümmert haben.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist richtig!)



Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415010600

Herr Kollege Börnsen, Sie interessiert wohl die Botschaf-
terkonferenz nicht sonderlich. Ich will Ihnen die Gründe
nennen, warum ich an der Ostseekonferenz nicht teilge-
nommen habe:


(Walter Hirche [F.D.P.]: Die Botschafterkonferenz hätte auch zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden können!)


– Nein, hätte sie nicht. Sie war langfristig geplant. Das ist
keine Kleinigkeit. – Angesichts der geplanten umfassen-
den Reform des Auswärtigen Dienstes war es erstens un-
verzichtbar, diese Konferenz durchzuführen, und zwei-
tens unverzichtbar, dass ich anwesend war. Also,
akzeptieren Sie das doch einfach! Lassen Sie uns an die-
sem Punkt keinen Scheinkonflikt führen oder eine Herab-
stufung vornehmen! Das Gegenteil davon ist richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die EU-Osterweiterung bietet eine gewaltige
Chance. Es wird jetzt zu einer Zwischenphase kommen;
danach wird die Ostsee faktisch zu einem EU-Binnen-
meer werden. Ganz entscheidend wird es dabei darauf an-
kommen, dass wir Russland in seinen regionalen Interes-
sen, und zwar vor allen Dingen unter den Gesichtspunkten
der Wirtschafts-, Wissenschafts- und Infrastrukturförde-
rung, aber auch der Sicherheitspolitik – dies ist für mich
ein sehr wichtiger Gesichtspunkt; Rüstungsfragen, Abrüs-
tungsfragen und regionale Stabilitätsfragen spielen dabei
eine große Rolle –, unterstützen.

Wie vorsichtig wir dabei allerdings sein müssen, zeigt
sich daran, dass die in der britischen Presse erschienene
Zeitungsente, Deutschland wolle die Region Kalinin-
grad/Königsberg zurückhaben, dazu führte, dass mich
verschiedene Kollegen am Rande des Allgemeinen Rates




Bundesminister Joseph Fischer
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sofort darauf angesprochen haben, nach der Devise: Ist
denn da was dran? Das heißt, gerade die Region Kalinin-
grad/Königsberg müssen wir bei unseren Nachbarn mit
der notwendigen historischen Sensibilität behandeln,
ohne uns gleichzeitig zurückzuhalten, wenn es um ge-
meinsame Entwicklungschancen und um die Integration
dieser Region in den Ostseeraum geht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Für uns ist aber folgender Punkt ganz entscheidend

– ich möchte die Kollegen darauf hinweisen –: Wir erle-
ben natürlich gegenwärtig, dass die nordischen EU-Mit-
gliedstaaten gleichzeitig mit der Frage der nördlichen Di-
mension ernst machen. Das sind im Grunde genommen
zwei parallele Ansätze. Das heißt, wir müssen verhindern,
dass hier Doppelstrukturen entstehen, die sich dann ge-
genseitig blockieren, und dass es zu einer Überfrachtung
kommt. Aus meiner Sicht wird die Ostseekooperation erst
dann wirklich anlaufen, wenn die Ostsee faktisch ein EU-
Binnenmeer sein wird. Dies wird im Zusammenhang mit
dem Beitritt von noch größerer Bedeutung sein.

Eine EU der 27 wird natürlich für die regionale Ko-
operation eine ganz andere Bedeutung haben. Herr Kol-
lege Börnsen, ohne dass wir uns als Bund verabschieden
wollen, sehe ich den Regionalansatz der Bundesländer als
ganz entscheidend an. Das heißt nicht, dass wir uns aus
der Verantwortung zurückziehen, im Gegenteil. Aber es
ist doch unsere Stärke, dass wir Bundesländer mit höchst
unterschiedlichen Interessenausrichtungen haben. Bayern
interessiert sich dafür weniger als Schleswig-Holstein,
Mecklenburg-Vorpommern und andere nördliche Bun-
desländer. Dies ist ein großer Vorteil, weil wir dadurch bei
der Kooperation flexibler sind und gleichzeitig im EU-
Verbund in Verkehrsfragen, Bildungsfragen, Fragen der
Wissenschaftskooperation, der Wirtschaftsförderung und
Wirtschaftskooperation eine ganz andere Flexibilität ha-
ben als etwa Berlin oder – wenn Sie noch höher gehen –
Brüssel. Ich finde, hierin liegt eine große Chance.

Im Übrigen geht es auch um Organisationsgrößen.
Sie haben die baltischen Staaten und Dänemark erwähnt.
Dies sind Staaten, die von der Größenordnung her durch-
aus in der Lage sind – auch was die Wirtschaftskraft be-
trifft –, mit unseren Bundesländern zu kooperieren. Ich
sehe hierin keine Alternative, sondern eine hervorragende
Ergänzung. Ich kann nur nochmals betonen, dass die Bun-
desregierung hierin einen ganz entscheidenden Punkt für
unsere Außen- und vor allen Dingen für unsere Europa-
politik sieht.

Hinsichtlich der Erweiterung um die baltischen Staaten
stimme ich Ihnen zu. Entscheidend wird aber sein, dass
sie die Kriterien von Stockholm erfüllen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Aber es geht um alle drei!)


Jetzt geht es aber weiter: Es gibt einen noch wichtigeren
Ostseeanrainer, den Sie nicht erwähnt haben, und zwar Po-
len, der auch wirtschaftlich und politisch für uns von über-
ragender Bedeutung ist. Das dürfen wir nicht vergessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])


Damit ich nicht missverstanden werde: Für mich ist das
kein Entweder-oder zwischen baltischen Staaten und Po-
len. Ich möchte hier wirklich nicht missverstanden wer-
den.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Es geht um alle vier!)


– Ja, da kann ich Ihnen nur zustimmen. Es geht um alle
vier.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Und gemeinsam!)


– Gemeinsam, wenn sie die Kriterien, die wir in Helsinki
festgelegt haben, erfüllen. Es darf keine politische Ku-
lanzentscheidung geben. Daran arbeitet die Bundesregie-
rung.

Gegenwärtig liegt unser eigentlicher Schwerpunkt auf
der EU-Osterweiterung. Die EU-Osterweiterung wird
der wichtigste Beitrag auch für Schleswig-Holstein, für
Mecklenburg-Vorpommern und die anderen ostdeut-
schen Bundesländer sein. Hierin liegt für unsere neuen
Bundesländer und übrigens auch für die Grenzregionen
in Bayern und für Schleswig-Holstein die große Chance.
Dies wird eine erhebliche Entwicklungsdynamik auslö-
sen.

In diesem Zusammenhang brauchen wir dann nicht
mehr groß über neue Strukturfonds, regionale Fördermit-
tel oder Ähnliches zu diskutieren. Diese brauchen wir im
Zusammenhang mit den Grenzgebieten. Hier hat es diese
Bundesregierung durchgesetzt, dass im Zusammenhang
mit der Erweiterung für die neuen Bundesländer und Bay-
ern als Beitrittsgrenzland ein neuer Fonds aufgelegt wird,
um eine regionale Strukturanpassung und um für einen
bestimmten Zeitraum eine, was die regionale Wirtschaft
betrifft, nicht konfrontative, sondern kooperative Lösung
zu ermöglichen. Die Bundesregierung ist bereit, diese
Chancen umfassend zu nutzen. Aber ich sage auch ganz
offen: Schwerpunkt ist für uns jetzt wirklich, im Interesse
aller Beteiligten die Erweiterung zu einem erfolgreichen
Abschluss zu bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dennoch ist die Stärkung der wirtschaftlichen Zusam-
menarbeit in dieser Region die große Zukunftschance. Zu
den Infrastrukturprojekten hat auch gerade der Bundes-
kanzler klargemacht, dass wir ein Interesse daran haben,
die Verkehrsanbindung und hier vor allen Dingen die
Nord-Süd-Anbindung zu verbessern. Dagegen wird man
wenig sagen können.

Sie fordern, es solle mehr Verkehr auf die Schiene
kommen. Meine Güte! Wir haben die Bundesbahn nun
einmal so vorgefunden, wie sie ist. Wenn das jemand be-
dauert, dann diese Bundesregierung. Das können Sie
glauben. Aber wir können die Dinge nicht schönzeichnen.
Sie sind lange genug schöngerechnet worden. Uns sind
doch allen die Augen übergegangen, als wir von den De-
fiziten erfahren haben.

Zu Großprojekten: Dort, wo ich zu Hause bin, in
Frankfurt am Main, wurde ein milliardenschweres




Bundesminister Joseph Fischer

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Großprojekt geplant. Es hieß „Frankfurt 21“. Diese gab es
auch noch woanders.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: „Stuttgart 21“!)

Dies war alles nicht bezahlbar.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Die Schwaben können es zahlen!)


Dies ist alles nicht bezahlbar, wenn Sie gleichzeitig die
Verschuldung betrachten und auch noch die Dinge geleis-
tet werden sollen, von denen Sie gesprochen haben. Auch
ich würde mir wünschen, dass die Schiene als Verkehrs-
träger beim Gütertransport heute schon wettbewerbsfähig
wäre und nicht erst wettbewerbsfähig gemacht werden
müsste. All das sind Dinge, die wir vorgefunden haben;
die können Sie uns nicht anlasten.

Die „Wissensregion Ostsee“ ist ein weiterer ganz ent-
scheidender Punkt, an dem wir arbeiten wollen. Dazu
wird es an der Humboldt-Universität in Berlin und an der
Universität in Kiel im Mai entsprechende Tagungen ge-
ben. Die Intensivierung der Kooperation spielt dabei
ebenfalls eine Rolle. Dasselbe gilt für die Zusammenar-
beit der Nichtregierungsorganisationen. Auch hier liegt
eine große Chance.

In Bezug auf praktische Fortschritte in der Umwelt-
politik, hier vor allem in Verbindung mit den skandina-
vischen Staaten würde ich mir wünschen, dass Sie als
Angehörige der Unionsfraktion einmal Ihre Position be-
zogen auf die Ökosteuer etwas „skandinavisieren“ wür-
den. Dann wäre die Kooperation wesentlich einfacher.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn Sie Dänemark diesbezüglich als Beispiel nehmen,
kann ich Ihnen nur sagen: Nähern wir uns doch den Dä-
nen und ihren entsprechenden Vorstellungen an! Das ist
etwas, was ich ausdrücklich begrüßen würde.


(Walter Hirche [F.D.P.]: In Dänemark steigt der CO2-Ausstoß ständig!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415010700
Herr
Minister, Sie haben natürlich unbegrenztes Rederecht;
aber Sie haben bereits vier Minuten auf Kosten der Frak-
tion der SPD geredet.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415010800

Das tut mir Leid. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.

Ich möchte hier nochmals versichern, dass die Bun-
desregierung alles tun wird, um die Kooperation im Ost-
seeraum, aber in enger Einbindung in die sich ent-
wickelnde nördliche Dimension, voranzubringen. Ich
glaube, Frau Ministerpräsidentin Simonis, die nördliche
Dimension in der EU wird immer wichtiger werden. Der
Ostseeraum ist gegenwärtig sozusagen das Forum. Bei
der schwedischen EU-Präsidentschaft werden wir wie-
der sehen, was wir bei der finnischen Präsidentschaft da-
mals festgestellt haben und was wir vermutlich auch fest-
stellen werden, wenn wir neue Mitglieder haben: dass, vor
allem wenn die Balten noch hinzukommen werden, die
nördliche Dimension innerhalb der Europäischen Union

immer wichtiger werden wird. Das heißt, die Integration
dieser Staaten wird von großer Bedeutung sein. Ich
glaube, das Regionalinstrument der Ostseekooperation
wird in der Außen- und Sicherheitspolitik und in all den
anderen Fragen immer wichtiger. Die Bundesregierung
wird das Ihre dazu beitragen, aus der Präsidentschaft ei-
nen Erfolg zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415010900
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen
Koppelin von der F.D.P.-Fraktion.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1415011000
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Deutschland ist wie kaum ein an-
derer Anrainerstaat von der Entwicklung im Ostseeraum
unmittelbar betroffen. Stabilität und Sicherheit in der ge-
samten Region liegen vorrangig im deutschen Interesse.
Insofern wäre es mir lieber – das sage ich ganz offen –,
wenn wir versuchten, Vergangenes etwas weiter nach hin-
ten zu schieben, mehr die Gemeinsamkeiten zu suchen
und auch in dieser Diskussion herauszufinden, wo wir uns
gemeinsam engagieren können. Ich werde nachher noch
auf einen Punkt zurückkommen, bei dem wir vielleicht
sogar als Deutscher Bundestag eine Vorbildwirkung hät-
ten.

Die seit nunmehr zehn Jahren unternommenen
Bemühungen um die Ostseekooperation haben – so mei-
nen wir als Freie Demokraten – leider zu einem kaum
übersehbaren Gestrüpp von Gremien und Organisationen
auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene sowie auf
staatlicher und nichtstaatlicher Ebene geführt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die einzelnen Aktivitäten sind sicher positiv; aber ich
meine, hier fehlt die Koordinierung. Eine britische Zeit-
schrift hat vor einiger Zeit geschrieben, das Ganze sei Ak-
tionismus, der nur Papierberge und heiße Luft hervor-
bringe. Ich meine, diesen Spiegel müssen wir uns schon
vorhalten lassen.

Das einzige politische Gremium, in dem alle Ostsee-
Anrainerstaaten sowie Norwegen, Island und die EU zu-
sammenarbeiten und das in der Lage wäre, eine vernünf-
tige Struktur in das heillose Durcheinander der diversen
Kooperationsbemühungen zu bringen, ist der Ostseerat.
Aber auch acht Jahre nach der Gründung ist der Ostseerat
trotz aller Bemühungen heute immer noch weit davon ent-
fernt, seine Koordinierungsrolle effektiv wahrzunehmen.
Das kreide ich nicht unbedingt der Bundesregierung al-
lein an; es sind ja noch mehr Partner dabei. Aber eines
steht fest: Seit Juli letzten Jahres haben wir den Vorsitz,
Herr Bundesaußenminister. Da wäre es mir schon lieber
gewesen, wenn Sie, statt noch ein bisschen auf die alte
Koalition zu schimpfen – aber das ist selbstverständlich
Ihr gutes Recht – und statt uns zu sagen, was Sie alles
noch tun wollen, einmal konkret benannt hätten, was Sie
bisher in diesen acht Monaten bewegt haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Bundesminister Joseph Fischer
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Ich habe nicht erkennen können, dass Sie gesagt hätten:
Hier und da und dort haben wir Aktivitäten entfaltet. Viel-
leicht lag es an der Kürze der Zeit, dass Sie nicht in der
Lage waren, diese Punkte zu nennen. Wir als Freie De-
mokraten sind jedenfalls daran interessiert, dass in der
Zeit, in der wir den Vorsitz noch innehaben, massiv etwas
getan wird.

Herr Bundesaußenminister, Sie müssen sich schon den
Vorwurf gefallen lassen, dass Ihre Bilanz bisher – ich
drücke es einmal vorsichtig aus – mager ausfällt. Ich habe
das vor Ihrer Rede schon geahnt und habe mich hinterher
bestätigt gefühlt. Sie haben zwar – ich möchte es einmal
so formulieren – so manchen Stein in die Ostsee gewor-
fen. Diese haben mir mehr als die früheren Steine gefal-
len. Aber ich kann nicht erkennen, dass man auf diese
Steine bauen kann.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ein schönes Bild!)


Mein Vorschlag ist, dass Sie wirklich einmal darüber
nachdenken: Was können wir in der kommenden Zeit un-
ternehmen, damit der Ostseerat wirklich der Ort wird, in
dem wir für diese Region alle gemeinsam an einem Strang
ziehen?

Es ist schon angesprochen worden: Es gibt ein Projekt,
das man als durchaus positiv ansehen kann, die Euro-Fa-
kultät in Königsberg. Aber das allein reicht nicht. Kürz-
lich hat der „Focus“ zur Kooperation im Ostseerat ge-
schrieben: „Deutschland muss aus seiner Mitläuferrolle
herausfinden.“ Auch das kann ich nur unterschreiben. Die
Perspektiven für diese Region sind glänzend. Es ist auch
von anderen Rednern darauf hingewiesen worden: Nir-
gendwo in Europa gibt es bessere Voraussetzungen für
eine positive Zukunft als dort.

Doch die politische Bedeutung dieser Region fällt im
Augenblick, wie ich finde, eher dürftig aus. Ich will die-
sen Vorwurf nicht nur an die Bundesregierung richten.
Mein Eindruck ist, dass das Thema Ostseeregion bisher in
Brüssel leider nicht die Rolle gespielt hat, die diese Re-
gion verdient hätte.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Der Mittelmeerraum ist wichtiger!)


Wenn wir mit Vertretern in Brüssel – egal, ob das die Re-
gierung oder das Parlament ist – in den entsprechenden
Gremien Gespräche führen, dann sollten wir etwas mehr
Dampf machen und dafür sorgen, dass diese Region in
Brüssel ernst genommen wird.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es wird immer gerne aus Zeitungen zitiert. Erlauben

Sie mir, dass auch ich zitiere, nämlich aus der „Neuen
Zürcher Zeitung“. Sie hat sich vor einiger Zeit intensiv
mit dem Ostseeraum beschäftigt. Dazu hat sie geschrie-
ben:

In deutschen Städten und Regionen, bei Wirtschafts-
und Kulturkreisen mag der Ostseeraum ein gewisses
partnerschaftliches Interesse wecken. In der Berliner
Außenpolitik hingegen existiert er nicht, zumindest

nicht als Teil der europäischen Idee. Das könnte sich
später einmal bitter rächen.

Ich finde, das ist sehr sachlich dargestellt. Aber über die-
ses Thema sollten wir uns alle Gedanken machen.

Ich sage noch einmal: Ich will nicht allein der Bundes-
regierung diesen Vorwurf machen. Wir alle sind hier zum
Handeln aufgefordert. Ich weiß, dass wir viele Partner ha-
ben. Kaum eine Region in Europa hat sich in der letzten
Zeit zu einem so dynamischen Handelsraum entwickelt
wie die Ostseeregion. Aber innerhalb dieses Konglome-
rats aus EU- und Nicht-EU-Staaten, aus beitrittswilligen
Staaten und einer kontinentalen Macht wie Russland sind
die Unterschiede in Bezug auf Wirtschaftspotenzial, tech-
nische Entwicklung, Infrastruktur und Umweltstandards
dramatisch. Diese Unterschiede sind einfach zu groß.
Hier liegt die große Herausforderung für den Ostseerat.
Deswegen sage ich: Bis zu unserer nächsten Sitzung – ich
glaube, sie ist in Hamburg – im Juni sollten sich die
Außenminister wirklich überlegen, was sie für diesen Be-
reich tun können und wie die ganzen Probleme zu meis-
tern sind oder wie zumindest einiges auf den Weg ge-
bracht werden kann.

Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat verschiedene Initia-
tiven ergriffen. Ihnen liegt heute ein Antrag von uns vor.
Weil wir wissen, wie wichtig diese Region ist, haben wir
entsprechende Anträge eingebracht.

Ich will einen Punkt nennen, bei dem sich die deutsche
Seite in positiver Weise engagiert. Ich sage dies als Mit-
glied des Aufsichtsrats der GTZ. Auch in anderen Frak-
tionen gibt es Mitglieder, die im Aufsichtsrat der Gesell-
schaft für Technische Zusammenarbeit sind. Ich will
ein ganz großes Lob für die Arbeit der GTZ aussprechen,
die sich in dieser Region unglaublich engagiert. Ich weiß,
Frau Ministerpräsidentin Simonis, dass Sie mit Vertretern
der GTZ gesprochen haben. Dazu können wir nur sagen:
Hut ab.

Ich will noch etwas zu den politischen Stiftungen sa-
gen, die sich in diesem Bereich ebenfalls engagieren. Ich
denke, auch sie haben ein Lob verdient.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie der Abg. Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In diesem Zusammenhang will ich ein Vorbild nennen.
Ich finde es ausgesprochen positiv, dass sich alle Fraktio-
nen des Schleswig-Holsteinischen Landtages einschließ-
lich der Landesregierung – erlauben Sie mir, Frau Minis-
terpräsidentin Simonis, dass ich meinen Parteifreund und
Ihren Staatssekretär Klaus Gärtner besonders her-
vorhebe – in diesem Bereich besonders engagieren. Da-
von könnte sich der Bundestag noch so manche Scheibe
abschneiden. Hier ist dieser Landtag wirklich ein Vorbild.


(Beifall des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ostseeraum hat

es verdient, dass wir uns für ihn engagieren. Wir sollten
– über Parteigrenzen hinweg – nicht bei diesem Klein-
Klein bleiben, sondern wir sollten alle zusammen das Ziel
im Auge behalten. Wenn sich der Deutsche Bundestag zu-
sammen mit der Bundesregierung den Landtag und die




Jürgen Koppelin

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Landesregierung von Schleswig-Holstein – bei allen Un-
terschieden, die man bei einzelnen Punkten haben kann –
zum Vorbild nehmen, dann bin ich sicher, dass wir in die-
ser Sache sehr erfolgreich sein werden.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen ein schönes Wochenende, falls wir uns nicht
mehr sehen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415011100
Als
nächster Redner hat der Kollege Rolf Kutzmutz von der
PDS-Fraktion das Wort.


Rolf Kutzmutz (PDS):
Rede ID: ID1415011200
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Der Ostseeraum ist von enormer
wirtschaftlicher und politischer Bedeutung: Hier wurde
und wird Kulturgeschichte geschrieben und hier treffen
sich West- und Osteuropa. Darin besteht große Überein-
stimmung, übrigens auch in der Einschätzung der Lage.
Daher begrüßt meine Fraktion das Bekenntnis zur nach-
haltigen Stärkung der Entwicklung in dieser Region. Wir
erwarten, dass dies über den zu Ende gehenden Vorsitz im
Ostseerat hinaus andauert. Wir erwarten auch, dass den
wohlwollenden Worten noch mehr als bisher konkrete Ta-
ten folgen.


(Beifall bei der PDS)

Der CDU/CSU gebührt das Verdienst, mit einem eige-

nen Antrag als Erste in diesem Haus frühzeitig die Dis-
kussion angestoßen zu haben. Deshalb, aber auch wegen
vieler inhaltlicher Übereinstimmungen werden wir nach-
her einer Ablehnung Ihres Antrags nicht zustimmen. Wir
werden ihn also durchaus unterstützen.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das war jetzt aber kompliziert!)


– Das lag daran, dass ich mich schon auf Sie konzentriert
habe.

Auch die F.D.P. unterbreitet heute viele bedenkens-
werte Vorschläge, insbesondere zur Qualifizierung der
Arbeit des Ostseerats. Nur eines, verehrte Kollegen Libe-
rale, scheinen Sie übersehen zu haben: Russland grenzt
nicht nur in Kaliningrad, sondern auch um Sankt Peters-
burg an die Ostsee. Auch dort sollen in einigen Jahren
künftige EU-Außengrenzen – neben der von Finnland die
von Estland – nicht ausgrenzen, sondern verbinden. Eine
von Ihnen hoffentlich unbeabsichtigte Fokussierung aus-
gerechnet der Bundesrepublik auf das frühere Königsberg
könnte allzu leicht jahrzehntelang durchaus berechtigte
Ängste von neuem schüren.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415011300
Herr Kol-
lege Kutzmutz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Koppelin?


Rolf Kutzmutz (PDS):
Rede ID: ID1415011400
Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415011500
Bitte
schön.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1415011600
Herr Kollege Kutzmutz,
ich nehme durchaus ernst, was Sie hier vortragen. Aber
darf ich Ihnen einmal unsere Sorge nennen? Unsere Sorge
ist, dass Königsberg allein schon durch seine Lage eine
Armutsregion an der Ostsee werden könnte. Deswegen
haben wir Königsberg besonders herausgestellt. Es ist
nicht das, was Sie hineininterpretieren.


Rolf Kutzmutz (PDS):
Rede ID: ID1415011700
Nein, Herr Kollege Koppelin,
ich habe ausdrücklich von „unbeabsichtigt“ gesprochen.
Ich habe auch den Artikel Ihres Kollegen Kinkel in der
„Welt“ gelesen; ich bereite mich also durchaus auf solche
Diskussionen vor.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das habe ich erwartet!)


Ich sehe Ihre Sorge. Aber ich sage zugleich: Mich bewegt
die Sorge, dass es auch passieren kann, dass sich Russ-
land, das wir bei der EU-Erweiterung gedanklich einbe-
ziehen müssen, gerade angesichts der Fokussierung da-
rauf vor den Kopf gestoßen fühlt. Nur deshalb habe ich
das angesprochen, nicht, um Ihnen irgendetwas zu unter-
stellen. Gerade in diesem sensiblen Punkt dürfen sich
Deutsche aber auch nicht der Spur eines Verdachtes aus-
setzen.

Am Antrag der Koalition verblüfft mich zweierlei: Ers-
tens scheint Abrüstung kein Thema zu sein; denn mit
„Ausbau der Sicherheitskooperation“, wie es in den For-
derungen der Koalition heißt, wird dieses wichtige Anlie-
gen, wenn es denn eines ist, wohl arg verschleiert. Zwei-
tens beginnt Hilfe bei regionaler Kooperation offenbar
erst außerhalb der Bundesgrenzen. Ich zitiere auch dazu:
„enge Zusammenarbeit und Abstimmung mit den nord-
deutschen Ländern“. Das ist das eine. Aber wie steht es
mit aktiver Unterstützung, beispielsweise bei der Vorbe-
reitung angrenzender Staaten auf den EU-Beitritt?

Ich will an dieser Stelle nicht erneut das leidige Thema
der Haltung der Bundesregierung zu Mecklenburg-Vor-
pommern beim neuen Airbus 380 thematisieren; wir
haben oft genug darüber gesprochen. Der Bundeskanzler
hat aber mehrfach, beispielsweise auf seiner Sommer-
reise, die Hoffnung auf eine besondere Förderung der
Regionen an der heutigen EU-Außengrenze genährt. Nun
enttäuscht schon, dass sich die Koalition dazu nach wie
vor keine Aussage entlocken lässt, zumal diese Frage mit
der absehbaren stärkeren Ausrichtung Vorpommerns auf
Szczecin gerade auch an der Ostsee akut wird.


( V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss)

In diesem Zusammenhang stelle ich – besonders nach

der einhelligen Ablehnung durch die anderen Fraktionen
im Wirtschaftsausschuss – noch einmal unsere Haltung
zum so genannten integrierten Küstenzonenmanage-
ment klar. Natürlich kann es nicht um zusätzliches Be-
richtsunwesen Richtung Brüssel und muss es auch um
Geld für eine neue Politik gehen. Wir befürchten aber,
dass über die Ablehnung der Berichte auch der zugrunde




Jürgen Koppelin
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(D)



(A)



(B)


liegende Ansatz gleich mit beerdigt wird. Aber ohne eine
ganzheitliche Analyse der Situation und der Potenziale
sowie eine Entwicklung darauf aufbauender Strategien,
wie von der Kommission vorgeschlagen, können keine
tragfähigen politischen Leitbilder für die Region geschaf-
fen werden.


(Beifall bei der PDS)

An dieser Stelle sind wir nicht so weit auseinander; je-
denfalls habe ich Sie so verstanden, Frau Kollegin Wetzel.

Ohne solche Leitbilder, an deren Umsetzung dann auch
alle Politikbereiche miteinander und nicht gegeneinander
arbeiten, lassen sich aber weder Investoren locken noch
qualifizierte und mobile junge Menschen halten.

Deshalb ist ein solcher Ansatz überall im Land – auch
in Schleswig-Holstein, besonders aber in Mecklenburg-
Vorpommern – wichtig, da die übrige Republik an einer
sich dort sonst zwangsläufig weiter vollziehenden Ab-
wanderung junger und der Zuwanderung älterer Men-
schen kein ernsthaftes Interesse haben kann.

Kurzum: Auch wenn das Thema Ostsee zum politi-
schen Blick auf ferne Gestade geradezu einlädt, darf das
eigene Ufer nicht vergessen werden. Zu beidem legt die
PDS-Fraktion mit ihrem Antrag nicht nur eine politische
Willensbekundung vor, sondern unterbreitet auch ergeb-
nisorientierte Vorschläge.

Wie schon im Vorjahr bekennt sich die Koalition zum
Ostseeraum als einem Modell für wirtschaftlichen Wohl-
stand, nachhaltigen Umgang mit der Natur, kulturellen
Reichtum und soziale Verantwortung.

Wir hoffen sehr, dass in der Region wirklich spürbar
Aktivitäten in diesem Sinne ausgelöst werden. Gerade
Mecklenburg-Vorpommern hängt sehr direkt und unmit-
telbar von der Ostseeregion ab. Damit ist die Entwicklung
dieser Region nicht allein ein Gebot des europäischen Ei-
nigungsprozesses, sondern zugleich ein wichtiger Beitrag
zur Vollendung der inneren Einheit der Bundesrepublik
Deutschland.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415011800
Das Wort hat die Mi-
nisterpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, Heide
Simonis.


(Schleswig-Holstein)

tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordne-
ten! Herr Kollege Börnsen, ich habe mich über einige
Passagen Ihrer Ausführungen wirklich gewundert. Wenn
man den Regionen, von denen Sie gesprochen haben,
Hilfe geben will, weiß man, was Bürokratie bedeutet. Wir
haben uns im Namen der Nördlichen Dimension bereit er-
klärt, zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern in Kali-
ningrad und Sankt Petersburg vor allem humanitäre Auf-
gaben zu übernehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)


Wir wissen, dass die betroffenen Helfer teilweise acht
Stunden an der Grenze warten. Das ist aber doch keine
Folge der deutschen Bürokratie, sondern diese Bürokratie
geht von der anderen Seite aus. Was soll die Bundesre-
gierung in diesem Fall tun? Soll sie mit einem Panzer vor-
neweg fahren und eine Schneise schlagen? Man kann das
Problem doch nur auf diplomatischem Wege lösen. Mit
dem Anklageton, den Sie angeschlagen haben, als Sie for-
derten, die Bundesregierung solle etwas unternehmen,
kommt man nicht weiter. Ich habe das Gefühl, da haben
Sie auf dem falschen Bein Hurra geschrien.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aus der Sicht der schleswig-holsteinischen Landes-
regierung – die anderen norddeutschen Länder sehen das
genauso – können wir jedenfalls feststellen: Wir werden
von der Bundesregierung in unseren Aufgaben für die
Ostseeregion so unterstützt wie noch nie zuvor.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es war Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zum ersten
Mal die drei Staaten im Baltikum besuchte und ihnen so-
mit das Gefühl gab, dass sie zu Europa gehören und von
uns wahrgenommen werden. Diese Staaten haben durch
diesen Besuch zum ersten Mal eine Antwort auf ihre
großen Hoffnungen bekommen. Einen solchen Schritt hat
es vorher noch nicht gegeben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es hat sehr viele Entschließungsanträge gegeben, für
die ich mich ausdrücklich bedanke. Die heutige Debatte
zeigt, dass sich auch der Bundestag für diese Region in-
teressiert. Die Norddeutschen sind Ihnen für dieses Inte-
resse dankbar, da wir in der Tat Hilfen benötigen, und
zwar sowohl im Kleinen als auch im Großen.

Wir wollen gerne, dass die Ergänzung und die Erwei-
terung der Europäischen Union von uns mitbegleitet
wird, weil wir darin eine Chance sehen und bereit sind,
dafür gewisse Investitionen vorzunehmen. Es gibt aller-
dings Probleme, die wir selbst dann, wenn wir die Neben-
außenpolitik bis zum Gehtnichtmehr ausdehnen, alleine
nicht lösen können. Dazu gehört, dass das, was unter Re-
gion Building – als neudeutsches Wort – eingeführt wor-
den ist, stärker durch die Bundesregierung unterstützt
wird.

Neben den wesentlichen Elementen, die Außenminis-
ter Fischer in seiner Rede in der Humboldt-Universität
angesprochen hat, braucht Europa auch Bildung von
handlungsfähigen Großregionen, die sich nicht im
Klein-Klein vertrödeln, sondern mit großen, nachvoll-
ziehbaren Projekten in Brüssel als Ansprechpartner stär-
ker wahrgenommen werden als Einzelne.

Wir brauchen in diesen neuen territorialen Gruppie-
rungen Bindungen und Formen, die über die alten Gren-
zen hinausgehen und neue Elemente von Bindung, Wie-
dererkennung und Sichwohlfühlen in einer Region
ermöglichen. Dazu brauchen wir Flechtwerke, die diese
Zusammenarbeit tragen.




Rolf Kutzmutz

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(D)



(A)



(B)


Eine dieser Großregionen ist die Ostseeregion, die
schon jetzt sehr erfolgreich ist und in der Zukunft noch
erfolgreicher werden wird. Es ist eine Region, die ein
Musterbeispiel an Nachhaltigkeit abgeben kann, weil sie
durch die neuen Wege in die Informationsgesellschaft ei-
nige der Fehler, die wir in unserer Entwicklung gemacht
haben, überspringen kann und offensichtlich auch bereit
ist, sie zu überspringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Länder um die Ostsee haben es sich zur Aufgabe

gesetzt, den Aufbau der Zivilgesellschaften in den Bei-
trittsländern und in Russland – nicht nur in Kalinin-
grad, sondern zum Teil auch in Sankt Petersburg; mehr
können wir nicht schaffen – mit zu unterstützen. Wir wol-
len, dass sich Bürgerinnen und Bürger treffen. Wir wol-
len, dass die Universitäten und Technikzentren sowie die
Kammern noch stärker zusammenarbeiten, und haben
deshalb Vertreter vor Ort.

Wir wollen, dass unsere Universitäten sich das zunutze
machen, was man unter einer virtuellen Hochschule ver-
steht. Wir haben zum Beispiel mit Polen einen Windener-
giepark für die EXPO konzipiert, wir haben in Estland
eine Kläranlage mitfinanziert, wir machen Stadtentwick-
lungsprojekte in Estland, Litauen und Kaliningrad. Wir
arbeiten bei der inneren Sicherheit zusammen mit den bal-
tischen Staaten – dahin darf der Bund übrigens keine Po-
lizei schicken, das möchten die Länder schon gerne al-
leine machen, darauf bestehen wir –, wir haben ein
Molkereiprojekt in Estland für die EXPO mit entwickelt.
Wir tun also schon eine ganze Menge.

Unter anderem wird die Landesregierung in diesem
Mai mit rund 60 Jugendlichen aus Schleswig-Holstein
über Krakau und Auschwitz nach Danzig fahren, wo diese
jungen Leute mit polnischen Jugendlichen einen großen
Kongress über die Zukunft Europas gestalten werden
und – das ist bemerkenswert – privat in polnischen Fami-
lien untergebracht sein werden. Das ist das Neue an die-
sem Projekt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Wir tun alles, bis wir an unsere äußerste Grenze kom-
men.

Nun habe ich drei Wünsche an Sie: Ich verstehe ja, dass
die südlichen Mitgliedstaaten jedes Mal, wenn die Ost-
seeregion auf die Tagesordnung der Europäischen Union
kommt, die Ohren dicht machen und anfangen zu rech-
nen, was das wohl kosten könnte. Hier brauchen wir Ihre
Hilfe, zum Beispiel bei der Integration von Verkehrs-
projekten in die großen europäischen Netze.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir brauchen zunächst einmal den Bundesverkehrswegeplan!)


– Wir bestreiten gar nicht, dass da großer Bedarf besteht.
Wir brauchen eine ganze Menge. Ich wäre schon froh ge-
wesen, Herr Kollege Börnsen, wenn Sie das früher einmal

gesagt hätten, als wir das gefordert haben, als wir das drin-
gend brauchten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt kriege ich langsam einen Adrenalinstoß! Was haben
Sie uns durch den Kakao gezogen, als wir von der festen
Fehmarn-Belt-Querung gesprochen haben! Wer hat denn
in Fehmarn angefangen zu zündeln und von den Arbeits-
plätzen zu sprechen?


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die wolltet ihr doch gar nicht!)


– Doch, die wollten wir.

(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die schleswig-hol steinische SPD!)

Wir waren schon viel weiter als ihr.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Da passiert doch gar nichts!)


– Alles Unsinn. Ich erinnere mich ziemlich genau daran,
wer vor Ort den Fehmeranern erzählt hat, dass jetzt das
Ende der Insel Fehmarn eingeläutet werde, weil wir eine
feste Beltquerung haben wollten.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das sehen die aber so!)


Das ist nicht fair, was Sie uns jetzt vorwerfen. Aber ich
will mich wieder abregen, man soll ja Parlamentarier an-
ständig behandeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Leider fällt Ihnen das ein bisschen spät ein!)


Wenn wir von Ihnen und durch Ihren Beitrag eine Zusi-
cherung bekommen, dass Sie uns dabei helfen, dass diese
Netze ausgebaut werden – es ist vor allem europäisches
Geld, was dort gefordert ist, gar nicht so sehr bundes-
republikanisches Geld –, dann kann man über Parteigren-
zen hinweg zusammenarbeiten.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Es ist trotzdem unser Geld!)


– Auf die Diskussion will ich mich jetzt nicht einlassen.
Wir hätten gerne von Ihnen Unterstützung für einen

„Baltic Sea Desk“ in Europa, an den sich die einzelnen
Regionen sofort wenden können. Wir hätten gerne, dass
Sie die vier Staaten, die beitreten wollen, unterstützen. Sie
können Polen nicht von Litauen abspalten und Sie können
auch die beiden anderen baltischen Staaten nicht von Li-
tauen abspalten. Sie müssen also für alle vier reden, damit
sie, wenn sie die Kriterien erfüllt haben, in die Europä-
ische Union aufgenommen werden als die guten Nach-
barn, als die sie sich in der Vergangenheit für uns erwie-
sen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)





Ministerpräsidentin Heide Simonis (Schleswig-Holstein)

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Wir sind der Meinung, dass der Vorsitz des Ostseerates
bei der Bundesrepublik Deutschland gut aufgehoben war.
Wir bedanken uns dafür, dass wir nicht ans Gängelband
gelegt worden sind, sondern weiter das machen durften,
was wir für richtig empfunden haben. Wenn Herr Fischer
da gewesen wäre, hätten wir uns gefreut. Wir haben aber
auch ohne ihn gute Politik gemacht. Das ist überhaupt
nicht unser Problem. Herr Bundesaußenminister, wir
schaffen es ganz allein, uns dort für die Interessen der Re-
gion, unserer Länder und der Bundesregierung einzuset-
zen.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Was will uns der Dichter damit sagen? – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ersetzt Simonis den Fischer? Konkurrenz ist da!)


Wir sind auch durchaus in der Lage, egal welcher Partei
diese Bundesregierung angehört, sie zu loben, wenn sie
Gutes tut, und sie zu tadeln, wenn sie nichts Gutes tut. Wir
haben das Gefühl, ihre Arbeit im Ostseerat war sehr hilf-
reich für die Region.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken, auch im
Namen meiner norddeutschen Ministerpräsidentenkolle-
gen, die gestern mit mir zusammen über dieses Thema ge-
sprochen haben.

Für alles Weitere, was Ihnen noch einfällt, sind wir
dankbar und offen. Zeigen Sie ein bisschen Kreativität
auch für die nördliche Region. Sie ist eine wunderschöne,
eine spannende Region.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!)

Sie ist es immer wert, eine Reise dorthin zu machen, Herr
Bundesaußenminister.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Schön verpackte Kritik!)


Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415011900
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Ulrich Adam.


Ulrich Adam (CDU):
Rede ID: ID1415012000
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir
haben es von vielen heute schon gehört: Die Ostseeregion
entwickelt sich mehr und mehr zu einem Gebiet von
wachsender Bedeutung, und dies im ökonomischen, aber
auch im politischen und kulturellen Sinne. Ich möchte an
dieser Stelle speziell auf einige Beispiele für Chancen,
aber auch für Chancenverwertung meines Heimatlandes
Mecklenburg-Vorpommern eingehen. Bisher haben wir
sehr viele Beispiele der anderen Anlieger, zum Beispiel
Schleswig-Holsteins, gehört.

Wie bei allen Ostseeanliegerstaaten ist die Tourismus-
branche ein wichtiges Standbein. Wir sind deswegen be-

sonders stolz, dass wir in Mecklenburg-Vorpommern auf
diesem Gebiet sehr hohe Steigerungsraten erreicht haben.
Die Antwort der Bundesregierung zeigt uns aber, dass
große Chancen bestehen, gerade den Anteil ausländischer
Touristen am Übernachtungsaufkommen noch zu stei-
gern. Ich fordere meine Landesregierung auf, insbeson-
dere im Hinblick auf die Außenwirkung mehr zu unter-
nehmen. Es wäre schön, wenn der Bund mein Land dabei
unterstützte. Insofern begrüße ich natürlich, dass auf der
Bundesratsbank die zuständige Referentin der Landesver-
tretung sitzt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass unser
Land bei dieser wichtigen Debatte, wie Schleswig-Hol-
stein, auch durch den Ministerpräsidenten vertreten wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben bei Tourismus diese Steigerungsraten des-

wegen erreicht, weil wir an die Bäderarchitektur der
20er-Jahre angeknüpft haben. Damit wurde den Gästen
ein sehr willkommenes Angebot gemacht. Rostock-War-
nemünde gilt zudem als ein attraktives Ziel für Kreuz-
fahrten, mit wachsender Tendenz. Daraus lässt sich die
Idee entwickeln, dort einen zweiten Standort anzubieten.
Aus historischer Sicht, liegt der Vorschlag nahe – das
wurde auch schon in den Gemeinden überlegt –, in Zu-
sammenarbeit mit der Entwicklung der Museumsland-
schaft die Region Peenemünde als neues, interessantes
Ziel gerade für Kreuzfahrer aus Übersee anzubieten. Der
Flughafen Peenemünde würde zudem die Chance einer
guten Anbindung für Auflüge in große Zentren Deutsch-
lands, zum Beispiel Berlin, bieten.

Meine Vorredner haben schon die wichtige Rolle von
Verkehrsverbindungen hervorgehoben. Dabei spielen
die Fährhäfen eine besondere Rolle. Bei uns sind das im
Speziellen Rostock und Mukran. Deswegen ist es mir un-
verständlich – das geht an die Adresse der jetzigen Regie-
rung –, dass die Deutsche Bahn AG als hundertprozentige
Tochter des Bundes eine erhebliche Ausdünnung bei den
Interregioverbindungen vornimmt, wodurch es zu einer
starken Beeinträchtigung der Anbindung von Mecklen-
burg-Vorpommern und damit auch der Universitäts- und
Hansestadt Greifswald zu den anderen Ostseeanrainern
kommt. Dem muss dringend Einhalt geboten werden.


(Zuruf vom BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN: Da hat er Recht!)


Ich möchte auf die Antwort der Bundesregierung
zurückkommen. Dort wurde festgestellt, dass gerade die
Transrapidtechnik für den Industriestandort Deutsch-
land einen hohen Stellenwert hat. Deshalb ist mir die
Streichung der Transrapidstrecke Hamburg–Schwerin–
Berlin unerklärlich.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ein großer Fehler!)


Es ist für mich, gelinde gesagt, erstaunlich, dass sich der
Ministerpräsident Ringstorff für dieses Projekt nicht ein-
gesetzt hat, sondern sich dagegen ausgesprochen hat. Dem
Land hätte es viele Arbeitsplätze, vor allen Dingen im Bau-
wesen – laut IHK Schwerin rund 4 000 –, gesichert.

Was die sicherheitspolitische Situation in der Ostsee-
region angeht, so ist vor allem die Rolle des trinationa-
len Korps zwischen Dänemark, Deutschland und Polen




Ministerpräsidentin Heide Simonis (Schleswig-Holstein)


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hervorzuheben. Mit der Unterzeichnung einer Absichtser-
klärung zum Aufbau dieses Korps am 28. Oktober 1997,
bereits vor dem Eintritt Polens in die NATO, wurde unter
dem damaligen Minister Rühe sehr vorausschauend ge-
handelt. Das dann 1999 in Dienst gestellte multinationale
Korps Nordost mit Sitz in Stettin ist derzeit der einzige
multinationale Großverband von Heereskräften in dieser
Region. Dort leistet er einen großen Beitrag zu Sicherheit
und Stabilität.

In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage betont die
Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Arbeit
des Stabes bei Rettungs- und humanitären Einsätzen,
einschließlich der Katastrophenhilfe. Gerade dies ist eine
Besonderheit dieses multinationalen Korps; schließlich
ist die Katastrophenhilfe in der Regel eine rein nationale
Angelegenheit. Umso unverständlicher ist für mich daher
die geplante enorme Reduzierung des angrenzenden Bun-
deswehrstandortes Eggesin. Minister Scharping hat sich
bei seinen Plänen offensichtlich ohnehin nicht von seinen
selbst vorgegebenen Kriterien leiten lassen. Schließlich
hat er im Vorfeld die internationale Einbindung als wich-
tigen Faktor für seine Entscheidungen benannt. Nun
schließt er Eggesin beinahe komplett. Das passt nicht zu-
sammen, Herr Scharping. Ich fordere Sie daher eindring-
lich auf, Ihre Entscheidung noch einmal gründlich zu
überprüfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Nun zu Ihnen, Herr Bundesaußenminister: Durch das
schon eben beschriebene trinationale Korps wurde gerade
auch aus unserer Sicht die Stellung von Stettin aufgewer-
tet. Umso unverständlicher ist von daher die Schließung
des dortigen Generalkonsulates.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Apenrade ist viel schlimmer!)


Bislang gibt es zudem auch keinerlei Maßnahmen, die
diesen Wegfall kompensieren würden, was Sie ja eigent-
lich zugesagt haben. Ich fordere Sie daher auf, endlich in
diesem Sinne zu handeln, damit der Prozess der Erweite-
rung der Europäischen Union auch zukünftig entspre-
chend begleitet wird. Vorbilder in diesem Zusammen-
hang – das sollten Sie sich einmal genau anschauen – sind
die IHK Neubrandenburg und der Unternehmerverband
Vorpommern, die beide bereits Kontaktbüros in Stettin
eingerichtet haben.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Genau das wollten wir! Warum soll der Staat das zahlen?)


Damit haben sie nämlich genau das Gegenteil von dem
getan, was Sie getan haben.

Meine Damen und Herren, es ist hervorzuheben, dass
im Bereich der Bildungspolitik durch die CDU/CSU-ge-
führte Bundesregierung die Ständige Konferenz der
Historiker des Ostseeraumes ins Leben gerufen wurde.
Ganz besonders freue ich mich, dass das Koordinierungs-
büro an meiner Heimatuniversität Greifswald angesiedelt
wurde. Es wurde ja schon die Bedeutung der Universitä-
ten Berlin und Kiel hervorgehoben. Ich denke, hier reiht
sich Greifswald besonders gut ein. Bislang gibt es für die-

ses Projekt nationale Förderung der zehn beteiligten Ost-
seeanrainerstaaten. Der zuständige Leiter der Konferenz,
Professor Wernicke, hat vorgeschlagen, sich nun auch in-
ternational auf eine Förderung zu verständigen. Ich halte
dies für eine ausgesprochen gute Idee. Damit könnte das
weitere Bestehen des Begegnungs- und Diskussionsfo-
rums auf eine neue Grundlage gestellt werden.

Es muss in unser aller Interesse liegen, die Ostsee-
region auch zukünftig weiter zu unterstützen und zu för-
dern, damit sie sich zu einem europäischen und globalen
Motor für Wachstum und Wohlstand entwickelt. Es
wurde ja hier schon der Vergleich zum Mittelmeer gezo-
gen. Gerade vor diesem Hintergrund ist die stark ange-
spannte wirtschaftliche Situation in Mecklenburg-Vor-
pommern von besonders großer Bedeutung. Hier sind
sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregie-
rung gefordert.

Abschließend möchte ich festhalten: Ich sehe für alle
Anrainer der Ostsee große Entwicklungspotenziale. Des-
halb muss es vor allem darum gehen, die bisherige Zu-
sammenarbeit fortzuführen, um gerade auch die Staaten
Osteuropas weiter einzubinden. Der Transformationspro-
zess der osteuropäischen Staaten bietet auch für uns
enorme wirtschaftliche Chancen. Das Beispiel der Kom-
munalgemeinschaft Europaregion Pomerania im Be-
reich Pommern dies- und jenseits der deutsch-polnischen
Grenze ist ein gutes Vorbild dafür, wie multinationale Zu-
sammenarbeit gefördert werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415012100
Nächster Redner ist
der Kollege Franz Thönnes für die SPD-Fraktion.


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1415012200
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Das Mare Balticum, die Ostsee,
als Region einer aufblühenden wirtschaftlichen und kul-
turellen Begegnung ist eine unserer großen Visionen – so
1988 der ehemalige Ministerpräsident Schleswig-Hol-
steins Björn Engholm. Die Anwesenheit der heutigen Mi-
nisterpräsidentin des nördlichsten Bundeslandes, Heide
Simonis, unterstreicht die gute Kontinuität dieser Auffas-
sung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist 13 Jahre her!)


Aus der Vision ist inzwischen ein vielfältiges Netz
praktischer Zusammenarbeit entstanden. Insgesamt ist die
Ostseekooperation eine faszinierende Erfolgsge-
schichte. Vor 50 Jahren herrschten Krieg und Zerstörung,
vor 10 Jahren gab es noch eine Konfrontation der Blöcke,
heute gibt es Zusammenarbeit und Verständigung. Die
Ostsee trennt nicht mehr, die Ostsee verbindet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Keine andere Region hat den Übergang aus den Zeiten
der Konfrontation in die Gegenwart so gut und so fried-
lich bewältigt. Alte Verbindungen lebten wieder auf, neue




Ulrich Adam
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(A)



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Demokratien entstanden, Handel und Verkehr ent-
wickelten sich enorm. Mit Russland entsteht ein neues
nachbarschaftliches Verhältnis, ebenso mit Polen, und die
baltischen Staaten sind wie Polen auf dem Weg in die EU.
Kein Zweifel: Diese Region gehört zu den Zukunfts-
regionen eines größeren Europas.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage aber auch: Alle Regierungen sollten die sich da-
raus ergebenden Chancen noch viel stärker als bisher nut-
zen.


(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Von der Bundesregierung erwarten wir – das ist die Ab-
sicht unseres Antrages –, dass sie gegenüber der EU für
die weitere Ausgestaltung einer eigenständigen EU-Ost-
seepolitik eintritt. Darunter fallen sowohl eine bessere
Koordinierung der EU-Förderinstrumente im Ostseeraum
als auch die Vereinheitlichung der Zuständigkeiten inner-
halb der Kommission.

Die Kooperation zwischen der EU und Russland und
die regionale Zusammenarbeit mit den Regionen Nord-
westrusslands unter Einbeziehung von Kaliningrad sind
weiter zu fördern.

Mit den Partnern des Ostseerates gemeinsam sollte
über den EU-Gipfel in Göteborg hinaus an den Projekten
zur weiteren Umsetzung des Aktionsplans zur Nördlichen
Dimension gearbeitet werden. Dabei geht es insbesondere
um die Weiterentwicklung der transeuropäischen Netze
für Transport, Energie, Verkehr und Kommunikation, den
Ausbau der Sicherheitskooperation in der Ostseeregion,
die Entwicklung zur Wissensgesellschaft und den Ausbau
der Zivilgesellschaft mit kultureller Zusammenarbeit, mit
Jugendbegegnungen und der Kooperation von und mit
Nichtregierungsorganisationen.

Gerade am Komplex der Jugendbegegnungen will ich
mit einem besonderen Anliegen anknüpfen. In der Schluss-
resolution der 9. Ostseeparlamentarierkonferenz haben
116 Parlamentarier der Ostseeanrainerstaaten im Septem-
ber 2000 einstimmig angeregt, zur Förderung des Austau-
sches und des Tourismus in der Ostseeregion eine Ost-
seejugendstiftung zu bilden. Sie sollte auf den guten
Erfahrungen des Ostseejugendsekretariats in Kiel auf-
bauen. Das Ostseejugendforum, die Plattform der natio-
nalen bzw. regionalen Jugendringe in der Region, hat den
Bedarf für die Ostseejugendstiftung bestätigt. Unterstüt-
zung hat man von der Konferenz über die Ostseejugend-
zusammenarbeit erhalten. Gleiches gilt für die Konferenz
der Subregionen.

In einer Studie zu Finanzierungsmöglichkeiten von Ju-
gendprojekten im Ostseeraum haben die nationalen Ju-
gendministerien und Jugendringe sowie die Subregionen
im Ostseeraum festgestellt, dass gerade Förderpro-
gramme für Langzeit- und für Folgeprojekte fehlen. Ich
glaube, dass es notwendig ist, diese Stiftung bald auf den
Weg zu bringen; denn sie wäre eine gute Hilfe, Hinder-
nisse für Jugendmobilität im Ostseeraum zu beseitigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Ostsee verbindet. Brücken verbinden. Brücken brau-
chen Pfeiler. Eine Ostseejugendstiftung könnte einer der
tragenden Pfeiler für eine gute und friedliche Zukunft im
Norden Europas sein.

Was den zweiten wichtigen Pfeiler angeht, so sollten
wir Parlamentarier uns aus meiner persönlichen Sicht die
Frage stellen: Wie halten wir es mit der Stärkung der par-
lamentarischen Demokratie in der Ostseeregion? Sollten
wir angesichts der Herausforderungen und der Chancen in
dieser Region nicht auch der jährlich und diesmal in
Greifswald stattfindenden Ostseeparlamentarierkonfe-
renz mehr Kontinuität, mehr Verantwortung und mehr
Verbindlichkeit zubilligen als bisher? Wenn sich das Eu-
ropa der Regionen entwickelt, dann wäre auch die Frage
nach regionalen parlamentarischen Strukturen, vielleicht
mit dem Fernziel einer parlamentarischen Versammlung,
zu stellen.

Ich meine, wir sollten in den Parlamentariergruppen
dieses Hauses darüber diskutieren und die Einladung der
finnisch-deutschen Parlamentariergruppe in Helsinki
dazu nutzen, mit den Freundinnen und Freunden dort zu
sprechen. Wir sollten dies auch mit der erstmals gebilde-
ten schwedisch-deutschen Abgeordnetengruppe aus dem
Riksdag in Stockholm erörtern.

Eine engagiert aktive Bundesregierung in Ostseefra-
gen, eine Initiative für die Ausweitung der Jugendkon-
takte in der Region und eine Stärkung des Parlamentaris-
mus im Mare Balticum, das wären drei starke Pfeiler für
Brücken, die verbinden, Brücken zur nachhaltigen Ge-
staltung einer friedlichen Zukunft in der Ostseeregion.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415012300
Letzte Rednerin in der
Debatte ist die Kollegin Dr. Christine Lucyga für die
SPD-Fraktion.


Dr. Christine Lucyga (SPD):
Rede ID: ID1415012400
Frau Präsidentin!
Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerpräsi-
dentin! Die politische und wirtschaftliche Bedeutung des
Ostseeraums als Wachstumsregion der Zukunft haben alle
Vorredner übereinstimmend hervorgehoben. Sie haben
Chancen deutlich gemacht, aber auch einige Risiken auf-
gezeigt.

Der Ostseeraum ist über die wirtschaftliche Dimension
hinaus jedoch auch ein Stück Gemeinsamkeit in Kultur,
Geschichte und Tradition mit einem starken verbinden-
den Element; das ist der maritime Charakter. Deshalb
wird der Ostseeraum eine gemeinsame maritime Zukunft
haben.

Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den
zusammenwachsenden EU-Mitgliedsländern, aber auch
in den künftigen Beitrittsländern macht deutlich, dass die
Chancen der Region unser aller Chancen sind, dass aber
die Probleme, die in der Region zu lösen sind, auch unsere
gemeinsamen Probleme sind, an die wir gemeinsam he-
rangehen müssen. Daher ist es eine lohnende gesamteu-
ropäische Aufgabe, diesen Prozess durch eine langfristige




Franz Thönnes

14721


(C)



(D)



(A)



(B)


Orientierung, wie im Aktionsprogramm „Zur nördlichen
Dimension“ vorgegeben, aktiv zu gestalten. Dieses Kon-
zept zielt auf die Weiterentwicklung des gesamten
nordeuropäischen Raumes mit besonderer Zielrichtung
auf die EU-Beitrittskandidaten und Russland. Dies nützt
letztlich auch ganz Europa.

Für die Zusammenarbeit im Ostseeraum bieten sich ge-
rade im Hinblick auf die bevorstehende EU-Osterweite-
rung umfangreiche gemeinsame Handlungsfelder an, ob
es nun die Umwelt-, Gesundheits- und Bildungspolitik,
eine gemeinsame Energiepolitik oder Fragen der inneren
Sicherheit, aber auch der nuklearen Sicherheit betrifft.
Das ökologische Gleichgewicht der Ostsee muss wieder
hergestellt werden. Es gilt, gemeinsame Strategien der
Kriminalitätsbekämpfung zu entwickeln und Engpässe im
Verkehrsbereich zu überwinden. Ein wichtiges verkehrs-
politisches Anliegen ist die Erhöhung der Sicherheit auf
See.

Herr Börnsen, die von Ihnen aufgeführten Defizite ha-
ben sich während Ihrer Regierungszeit angesammelt. Wir
haben sie erkannt und benannt. Deutschland hat sie im
Ostseerat zum Thema gemacht. Wir entwickeln dazu ge-
meinsame Handlungsstrategien. So weit zu Ihrem Vor-
wurf, den Sie uns eingangs gemacht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unverzichtbar ist auch die weitere Entwicklung der
Infrastruktur. Das bedeutet auch die Neuerschließung
oder Wiederbelebung von Verkehrskorridoren über die
Ostsee. Nachdem die Oeresundquerung Skandinavien ein
Stück weiter nach Zentraleuropa bringt, bietet es sich an,
bei der anstehenden Neubewertung der Transeuropä-
ischen Netze auch im Interesse des südeuropäischen Hin-
terlandes die Nord-Süd-Achse über die deutschen Ost-
seehäfen zu stärken. Denkbar wäre für mich zum Beispiel
eine Achse Kopenhagen–Berlin–Prag über den Seeha-
fen Rostock, die kürzeste und schnellste Verbindung;
denn bewährte Verkehrswege über die Ostsee müssen
ihren Stellenwert zurückerhalten. Während Ihrer Regie-
rungszeit, Herr Börnsen, ist vieles zurückgefahren wor-
den, was nun wieder in Gang gesetzt werden muss.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Was denn?)


Natürlich brauchen wir auch neue und innovative Ver-
kehrslösungen, über die anderenorts, zum Beispiel in
Schleswig-Holstein, nachgedacht wird. Die logistischen
Stärken der Regionen können sich nämlich nicht im
Selbstlauf durchsetzen. Daher gilt es, ihre jeweiligen Vor-
züge beweisfähig zu machen.

Das Land Mecklenburg-Vorpommern, für das ich
hier spreche, wird im Prozess der EU-Osterweiterung eine
besondere Funktion haben. Bereits jetzt gibt es exempla-
rische Formen der Zusammenarbeit mit Skandinavien,
aber auch insbesondere mit den osteuropäischen Nach-
barn, besonders mit Polen. Beispielhaft ist hier die Mo-
dellregion Pomerania zu nennen.

Wichtige Ergebnisse wurden unter dem gegenwärtigen
deutschen Ostseeratsvorsitz erreicht. Da der Herr Außen-

minister selbst die Ergebnisse schon ausgiebig dargestellt
hat,


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Es gibt doch keine Ergebnisse!)


kann ich mich kurz fassen und kann ihn außerdem nicht
ganz so ausführlich loben, wie ich es sonst getan hätte.


(Zuruf von der CDU/CSU: er ist sowieso nicht mehr da!)


Aber immerhin möchte ich erwähnen, dass das Problem
der Schiffssicherheit und der maritimen Notfallvorsorge,
das aufgrund des zunehmenden Schiffsverkehrs auf der
Ostsee an Bedeutung gewinnt, ebenso wie Überlegungen
zur Harmonisierung der EU-Förderprogramme und nicht
zuletzt auch Fragen der Sicherheitskooperation im Ost-
seeraum zu Themen des Ostseerats wurden. Das geschah
unter deutscher Präsidentschaft. Deutschland bekennt
sich zum Ostseeraum. Es gilt nun, dieses Engagement
fortzusetzen und finanziell wie personell zu untersetzen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Nicht Reden, sondern Handeln ist angesagt!)


Handlungsfelder sind reichlich vorgegeben; Instrumente
sind vorhanden. Worauf es jetzt ankommt und wofür wir
uns einsetzen müssen, ist, sie flexibel und insbesondere
für die lokale Ebene handhabbar zu machen, sie besser zu
verzahnen und zu flexibilisieren.

Eine letzte Bemerkung. Die Übernahme der EU-Rats-
präsidentschaft durch Schweden im ersten Halbjahr 2001
wie auch der ab Juli anstehende russische Vorsitz im Ost-
seerat werden das gesamteuropäische Bewusstsein für
den nordeuropäischen Raum weiter schärfen. Sie werden
dazu beitragen, die Ergebnisse der deutschen Ostseerats-
präsidentschaft wie auch die Bekenntnisse des Europä-
ischen Rates zur Ostseeregion nachhaltig zu untersetzen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415012500
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Ab-
stimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion
der PDS auf Drucksache 14/5235. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion abgelehnt.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU „Initiative zur Stärkung der Ost-
seeregion“ auf Drucksache 14/4573. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3293 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS an-
genommen.




Dr. Christine Lucyga
14722


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache
14/5231. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsan-
trag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Ent-
haltung der CDU/CSU abgelehnt.

Nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 14/5226 mit dem Titel „Die Entwicklung der Ost-
seeregion nachhaltig stärken“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Antrag ist
gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der
PDS- und der F.D.P.-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-

(Vermittlungsausschuss)

derung des Bundeswahlgesetzes
– Drucksachen 14/3764, 14/4265, 14/4647,
14/5238 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler

Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Wird
das Wort zu einer Erklärung gewünscht? – Das ist nicht der
Fall.

Dann kommen wir gleich zur Abstimmung. Der Ver-
mittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner
Geschäftsordnung beschlossen, dass im Bundestag über
die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschus-
ses auf Drucksache 14/5238? – Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der
PDS-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-

(Vermittlungsausschuss)

fährlicher Hunde
– Drucksachen 14/4451, 14/4920, 14/5052,
14/5239 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler

Wird das Wort zur Berichterstattung oder zu einer Er-
klärung gewünscht? – Das ist nicht der Fall.

Deshalb kommen wir auch hier gleich zur Abstim-
mung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam
abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
lung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache
14/5239? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.-
Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a bis 16 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich

Heinrich, Ulrike Flach, Marita Sehn, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der F.D.P.
Innovationspotenzial moderner Technologien
für mittelständische Pflanzenzüchter erhalten
– Drucksache 14/2297 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit

b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Marita Sehn, Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Harmonisierung der Zulassungspraxis von
Pflanzenschutzmitteln auf europäischer Ebene
– Drucksachen 14/3054, 14/4136 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Forsten (10. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf na-
tionaler und EU-Ebene beschleunigen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Marita Sehn,
Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wettbewerbsnachteile durch unterschiedli-
che Zulassungspraxis von Pflanzenschutz-
mitteln in Europa zügig abbauen

– Drucksachen 14/3096, 14/3298, 14/3713 –
Berichterstattung:
Abgeordnete. Ulrike Höfken

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Für die F.D.P. spricht der
Kollege Ulrich Heinrich.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1415012600
Frau Präsidentin! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die reizvolle
Aufgabe, innerhalb weniger Minuten über die Große An-
frage der F.D.P.-Bundestagsfraktion zum Pflanzenschutz,
zur Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln und zur
Gentechnik zu sprechen. Ich werde versuchen, das ei-
nigermaßen hinzubekommen.

In der Bundesrepublik Deutschland ist die F.D.P. ei-
gentlich die einzige Partei, die klare Position


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen den Verbraucherschutz!)


gegenüber der grünen Gentechnik bezogen hat.

(Beifall bei der F.D.P.)





Vizepräsidentin Petra Bläss

14723


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir sind der Meinung, dass die grüne Gentechnik eine
Technik der Zukunft ist. Die Biotechnik und die Gentech-
nik sind in der Zukunft Wachstumsmotoren in der Welt.
Deshalb müssen wir uns – da gibt es gar keine andere
Möglichkeit – daran beteiligen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wir werden uns insbesondere mit der zweiten und drit-

ten Generation der grünen Gentechnik, also den maßge-
schneiderten Pflanzen mit entsprechenden Inhaltsstoffen,
verstärkt auseinander setzen müssen; denn diese gentech-
nisch veränderten Pflanzen werden dem Verbraucher den
tatsächlichen Nutzen deutlicher machen. Das ist dringend
nötig; denn die Bevölkerung ist derzeit noch nicht beson-
ders davon überzeugt, dass die grüne Gentechnik not-
wendig ist und den Menschen Nutzen bringt. In diesem
Sinne müssen wir mehr Aufklärungsarbeit leisten. Wir
müssen die berechtigten Bedenken abwägen, aber wir
dürfen auf keinen Fall die Chancen, die in dieser Gen-
technik stecken, verschlafen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Insoweit ist es ganz sicher kontraproduktiv, wenn der

Bundeskanzler zwar zu Kamingesprächen einlädt, dann
aber ganz schnell wieder Ausladungen verschickt, weil er
merkt, dass sich die Windrichtung verändert hat und er
aufgrund der BSE-Krise in der Bevölkerung derzeit kein
geeignetes Klima vorfindet, um diese Gespräche weiter-
zuführen. Meine Damen und Herren, so kann man keine
Politik machen,


(Beifall bei der F.D.P.)

erst recht keine Politik, die sich künftig auf diese wichtige
Technologie praktisch auswirkt. Hier kritisieren wir die
Bundesregierung nachdrücklich. Sie hat wohl dem grünen
Koalitionspartner gegenüber nachgegeben.


(Gustav Herzog [SPD]: Das ist auch meine Überzeugung!)


Ich halte das nicht für akzeptabel.
Ich halte es auch unserer Wirtschaft gegenüber nicht

für akzeptabel. Die Forschung ist das eine, das Umsetzen
in die Praxis ist das andere. Beides gehört zusammen. Wir
können nicht erwarten, dass die Wirtschaft forscht, wenn
sie nicht gleichzeitig Nutzen hieraus ziehen kann. Des-
halb muss die Entwicklung weitergehen und deshalb wol-
len wir auch, nicht zuletzt, um den mittelständischen
Pflanzenzuchtunternehmen in der Bundesrepublik klare
Rahmenbedingungen vorzugeben, dass die Perspektive
klar wird.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn Sie die grüne Gentechnik nicht wollen, dann sa-

gen Sie das klar und deutlich. Dann wissen die Firmen,
was sie von dieser Regierung in Zukunft zu erwarten ha-
ben. Aber diese Zickzack-Politik, diese Schaukelpolitik,
ist nicht akzeptabel. Hierdurch wird der Standort Bundes-
republik Deutschland in einer Art und Weise beschädigt,
die nicht verantwortbar ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe zu der Großen Anfrage noch einige Anmer-
kungen zu machen. Einleitend möchte ich sagen: Ich
hoffe, dass sich die neue Ministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft an das erinnert,
was in der Antwort auf unsere Große Anfrage steht, dass
nämlich der chemische Pflanzenschutz auf absehbare
Zeit unverzichtbar ist und zur Produktion qualitativ hoch-
wertiger Nahrungsmittel auch künftig erforderlich sein
wird. Wir werden die künftige Politik an dieser Aussage
messen. Denn in der Tat gibt es derzeit keine Alternative,
die wirtschaftlich vertretbar wäre und die man auch erfolg-
reich praktizieren könnte.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach wie vor

besteht ein großes Problem im Bereich der Lückenindika-
tion. Nach wie vor besteht ein großes Problem bei der Er-
haltung von Kleinkulturen im Gartenbaubereich, im Baum-
schulenbereich. In den letzten Jahren sind wir hierbei
wirklich an die Grenze des Zumutbaren gestoßen. Wir ha-
ben letztes Jahr einiges geschafft; einige Lücken wurden
geschlossen.


(Gustav Herzog [SPD]: Jetzt müssen Sie die Regierung loben!)


Aber ich bitte doch, dass die Bundesregierung und die sie
tragenden Fraktionen auf diesem Wege weitergehen und
alles unternehmen, damit die Lückenindikation entspre-
chend weitergeführt wird.

Wir brauchen ein vereinfachtes Zulassungsverfahren
und eine Lösung hinsichtlich der Altwirkstoffe. Die dies-
bezüglichen Regelungen laufen ja im Jahre 2003 aus.
Wenn dieser Zeitpunkt erreicht ist, sollten wir nicht im
Regen stehen, sondern nach wie vor die notwendigen
Pflanzenschutzmittel zur Verfügung haben, um die Kul-
turpflanzen gesund erhalten zu können.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Hinweis ge-
ben. Mich hat stutzig gemacht, dass es eine der ersten Re-
aktionen der Bundesregierung in diesem Bereich war, den
Einsatz von Plantomycin zu verbieten. Plantomycin ist
notwendig, um den gefährlichen Feuerbrand zu bekämp-
fen. Der Feuerbrand vernichtet die Bäume ganzer Regio-
nen und es gibt kein Mittel, das so dagegen wirkt wie das
Plantomycin. Dieses wird nur sehr vorsichtig verwandt.
Der Einsatz erfolgt nur auf Sondergenehmigung und ist
auf einen Zeitraum von zwei Jahren begrenzt. Bislang gibt
es kein Mittel, das dieses Plantomycin tatsächlich erset-
zen könnte. Wir haben gedacht, wir hätten mit ihm ein
Mittel, das wir wirklich zwei Jahre lang einsetzen könn-
ten. Nachdem es in zwei oder drei Proben von Honig ge-
funden wurde, hat man es schlagartig verboten. Das halte
ich nicht für akzeptabel; denn das gefährdet unsere Kul-
turlandschaft und die Existenz unserer Obstbauern. Dies
hat eine viel größere Dimension, als man im ersten Au-
genblick denken mag. Die Streuobstwiesen und die wich-
tigen ökologischen Nischen, die auch Sie erhalten wollen,
werden damit gefährdet. Ich bitte die Bundesregierung
eindringlich, den Stopp des Einsatzes von Plantomycin
wieder rückgängig zu machen. Denken Sie über Ihre
falsche Entscheidung nach! Spätestens bei der Baum-
blüte, wenn dieses Mittel eingesetzt werden soll, brau-




Ulrich Heinrich
14724


(C)



(D)



(A)



(B)


chen die Landwirte dieses Mittel, zu dem es keinerlei Al-
ternative gibt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415012700
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Heino Wiese.


Heino Wiese (SPD):
Rede ID: ID1415012800
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Heinrich, die Bundes-
regierung hat eine ganz klare Meinung zur grünen Gen-
technik und die hat sie auch deutlich formuliert.


(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


– Das ist wohl wahr, Herr Heiderich, auf Sie komme ich
gleich auch noch zu sprechen.

Herr Heinrich, Sie sind für mich der unglaubwürdigste
Politiker, den ich in diesem Bundestag bislang kennen ge-
lernt habe.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gibt es noch mehr!)


Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die man dafür an-
führen kann. Auf der einen Seite fordern Sie freien Markt
und freien Handel, auf der anderen Seite aber machen Sie
den größten Aufstand, wenn Subventionen für die
Landwirtschaft gestrichen werden. Daneben sind Sie auch
bei BSE nicht ganz ehrlich gewesen. Heute tun Sie fast so,
als wären Sie der Mahner in der Wüste gewesen, der ge-
sagt hat: Wir kennen alle die BSE-Gefahren.

Ich kann mich noch sehr gut an die Sitzung im Juni des
letzten Jahres erinnern.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wir reden heute über etwas ganz anderes!)


– Ja, aber ich möchte deutlich machen, wie Sie agieren. –
Im Juni haben Sie die Bundesregierung noch schärfstens
verurteilt und gesagt, sie würde die Bauern in Brüssel
nicht entsprechend vertreten, weil sie den BSE-freien Sta-
tus Deutschlands nicht durchgesetzt hat.

Damals sind Sie nur noch vom Kollegen Heiderich ge-
toppt worden. Herr Heiderich, vielleicht wissen Sie noch,
was Sie gesagt haben. Sie warfen der Gesundheitsminis-
terin vor, sie falle der deutschen Landwirtschaft in den
Rücken. Heute ist das alles vergessen und Sie tun so, als
ob das Thema für Sie schon immer auf der Tagesordnung
stand.

Herr Heinrich, ich habe in der letzten Woche mit Land-
wirten aus Ihrer Heimat gesprochen. Diese haben mir
doch tatsächlich glaubhaft versichert, Sie hätten dort ver-
kündet, dass Sie gegen die bestehende Nachbauregelung
und auch gegen die Patentierung von Pflanzen seien.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Hört! – Gustav Herzog [SPD]: Das sagt er den Bauern! Der Industrie erzählt er etwas anderes!)


Ob das tatsächlich stimmt? Ich habe von Ihnen bisher im-
mer etwas anderes gehört.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Fragen Sie besser gleich mich!)


– Ja, das sagte der Bauer, aber vielleicht reden Sie in der
Heimat anders als hier.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Nein!)

– Vielleicht werden Sie auch nur falsch verstanden. Dann
drücken Sie sich aber wahrscheinlich nicht richtig aus.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wahrscheinlich!)

Die grüne Gentechnik birgt Risiken; das wissen wir

alle. Wir haben noch keine Langzeiterfahrung und wissen
nicht, ob nicht zum Beispiel die grüne Gentechnik dazu
führen kann, dass bei der Nahrungsaufnahme Allergien
entstehen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ihr lasst ja keinen Anbau zu!)


– Ich rede jetzt erst einmal davon, wo die Risiken liegen. –
Ein zweites Risiko ist: Kann die Artenvielfalt erhalten blei-
ben? Auch das wissen wir nicht. Wenn man die Risiken
aber kennt, dann kann man nicht sagen: Wir fangen erst ein-
mal mit dem Anbau an. Wir werden schon sehen, was da-
bei herauskommt.

Auf der anderen Seite will ich die Chancen nicht ver-
kennen. Natürlich birgt die Gentechnik Chancen, einerseits
ökonomische – nämlich für die Saatgutunternehmen –, an-
dererseits aber auch ökologische. So braucht man bei-
spielsweise weniger Düngemittel oder weniger Pflanzen-
schutz; auch das wäre eine gute Sache.

Sie führen immer wieder an, die Entwicklungshilfe-
länder in der Dritten Welt müssten gefördert werden. Dort
müsste die Nahrungsmittelknappheit bekämpft werden.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sehr gut!)

– Ja, das ist ein sehr gutes Ziel. – Bisher habe ich immer
gesagt: Die Entwicklungshilfeländer können sich das
Saatgut von Monsanto und anderen Saatgutunternehmen
ohnehin nicht leisten.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Kennen Sie das neue Abkommen?)


– Hören Sie erst einmal weiter zu! – Ich habe jetzt etwas
anderes gesehen. Es gibt ein Entwicklungshilfeprojekt bei
Herrn Professor Jacobsen in Hannover, wo junge Nach-
wuchsforscher aus Entwicklungshilfeländern Praktika
machen. Sie könnten die Ergebnisse dann in ihrem Hei-
matland selbst umsetzen. Das würde ich tatsächlich für
eine weitere Chance ansehen.

Nur, wir müssen eben beides sehen, die Risiken und die
Chancen. Man kann nicht, wie die F.D.P. es tut, sagen:
„Wir starten dieses Projekt und alle, die das verhindern
wollen, sind Fortschrittsverhinderer“


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sind sie auch!)

– das werfen Sie uns ja immer gern vor –, aber wenn das
Kind in den Brunnen gefallen ist, erklären: Damit haben
wir nichts zu tun.




Ulrich Heinrich

14725


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Bundesregierung sagt: Wir wollen die Chancen
nutzen, aber die Risiken vermeiden. Das ist die richtige
Strategie. Um herauszufinden, wie groß die Risiken sind
und welche Chancen wir haben, muss man Forschung be-
treiben. Das tun wir in verstärktem Maße. Frau Bulmahn,
die Bildungs- und Forschungsministerin, hat 30 Milli-
onen DM jährlich für das GABI-Projekt zur Verfügung
gestellt und damit die Fortführung der Grundlagenfor-
schung ermöglicht.

Ich sage Ihnen jetzt etwas zu dem runden Tisch beim
Bundeskanzler. Dieser runde Tisch ist jetzt erst einmal im
Einvernehmen ausgesetzt worden.


(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Einen Eilbrief hat der Bundeskanzler verschickt! – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: „Im Einvernehmen“!)


– Aber es hat vorher Telefonate gegeben.

(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ein Eilbrief im Einvernehmen!)


Sie wollen angeblich einen Erfolg. Wenn Sie das wol-
len, dann ist es doch sehr fahrlässig, dieses Thema in ei-
ner emotional aufgeladenen Situation, wie wir sie im Mo-
ment haben, in den Vordergrund zu stellen. Stattdessen
sollten Sie konstruktiv mitarbeiten.

Zum Schluss will ich Ihnen noch eines sagen: Nur
wenn die Landwirte, die Bürger und Verbraucher davon
überzeugt sind, dass diese Technologie einen wirklichen
Nutzen für sie bringt, werden sie diese Technologie auch
anwenden wollen.

Ich weise auf Folgendes hin, da ich gerade Herrn
Ramsauer sehe: Die CSU hat an dieser Stelle ein ethisches
Problem ausgemacht. Ich meine, die ethischen Probleme
sind noch nicht zu Ende diskutiert. Wir sollten uns daher
an dieser Stelle Zeit nehmen, bis die Bürger und Verbrau-
cher davon überzeugt sind, dass das etwas Gutes ist. Dann
werden wir die grüne Gentechnik auch umsetzen.

Den Antrag der F.D.P. können wir aber nur ablehnen.
Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415012900
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Helmut Heiderich.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Herr Heiderich hat viel Zeit! Er kann langsam gehen!)



Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1415013000
Frau Präsidentin!
Meine verehrten verbliebenen Kolleginnen und Kollegen!
Gern will ich die Zeit nutzen, Frau Kollegin Wolff, um auf
die Themen ein Stück tiefer einzugehen.

Es liegt uns ein Antrag zum Pflanzenschutz vor. Ich
will festhalten, dass für mich die Möglichkeiten des Pflan-
zenschutzes ein wesentlicher Bestandteil einer hygieni-
schen, einwandfreien, umweltschonenden und lokal opti-
mierten Erzeugung von hoher Qualität im Pflanzenbau

sind. Für dieses Ziel haben wir innerhalb der Europäischen
Union bereits vor zehn Jahren den Beschluss gefasst, eine
EU-weite Harmonisierung mit einer gleichzeitigen Ver-
schärfung der Zulassungsbedingungen und der Kontrollen
herbeizuführen. Hintergrund war damals die Überlegung,
gleiche Chancen für alle Bauern in Europa zu bieten. Das
war und ist der entscheidende Gesichtspunkt.

Deutschland hat in dieser Frage einen nationalen Al-
leingang unternommen, hat das längst umgesetzt und wei-
tergeführt. Aber auf der europäischen Ebene hinken wir
dieser Entwicklung immer noch hinterher. Obendrein
kommt es zu Engpässen und Wettbewerbsverzerrungen
gerade beim integrierten Pflanzenbau; darauf ist eben be-
reits hingewiesen worden. Ich denke, es muss an dieser
Stelle dafür gesorgt werden, dass es Übergangslösungen
gibt und dass die Möglichkeiten, die hier vorgesehen sind,
von uns umgesetzt werden.

Der zweite Schwerpunkt, der heute zur Debatte steht,
betrifft die gentechnische Verbesserung von Pflanzen
und den Einsatz dieser Pflanzen in der Landwirtschaft.
Wir alle wissen, dass dazu auf europäischer und auch auf
deutscher Ebene seit vielen Jahren zahlreiche Versuche
stattgefunden haben. Es gibt Hunderte von Freisetzungs-
versuchen der deutschen Institute. Es gibt vielfältige Ver-
suchsanwendungen der verschiedenen Pflanzenzuchtfir-
men und Pflanzenzuchtunternehmen.

Wir haben im letzten Jahr einen Schritt nach vorne ge-
macht, indem sich alle Beteiligten zu einer Initiative ver-
abredet haben. Mit dieser Initiative sollte dafür Sorge ge-
tragen werden, dass genau die Aspekte bearbeitet werden,
die soeben von Ihnen, Herr Kollege Wiese, angesprochen
worden sind: die intensive Prüfung dieser neuen Techno-
logie, die Kommunikation mit der Öffentlichkeit und die
Beantwortung der Fragen, was diese neuen Methoden
leisten können, wo Chancen liegen, die wir nutzen kön-
nen, wo noch Probleme und Punkte sind, die nicht ent-
sprechend ausgeschöpft worden sind, und wo noch For-
schung und Beobachtungen nachgeschoben werden
müssen. Diese Initiative war deswegen sinnvoll, weil sie
alle in ein Boot gebracht hat. Man hat über Monate hin-
weg eine Lösung ausgearbeitet. Diese Lösung stand kurz
vor der Verabschiedung.

Nun kann man wirklich nicht sagen, dass die Bundes-
regierung eine geradlinige und zielgerichtete Politik be-
treiben würde.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn wenige Tage vor der Unterschrift unter dieses ge-
meinsame Vertragswerk, wenige Tage, bevor man an die
Öffentlichkeit gehen wollte, hat das Kanzleramt den so-
eben von mir in einem Zuruf genannten Eilbrief an alle
Beteiligten abgeschickt. Keiner von den Beteiligten wuss-
te vorher, was da auf ihn zukommt. Wir alle hatten wenige
Tage vorher auf der Grünen Woche die Gelegenheit, mit
den Betroffenen über diese Thematik zu sprechen. Alle
sind davon ausgegangen, dass es zu einem Ergebnis kom-
men wird. Umso überraschender ist es gewesen, dass der
Kanzler diese Initiative kurzfristig abgesagt und auf den
Kopf gestellt hat. Ich glaube, damit hat er ihr einen Bären-
dienst erwiesen. Ebenso problematisch ist die nachge-
schobene Begründung für dieses Vorgehen. Es wurde er-




Heino Wiese (Hannover)

14726


(C)



(D)



(A)



(B)


klärt, diese Initiative habe man abgesagt, weil die Situation
in der Landwirtschaft im Moment sehr schwierig sei.

Dieser möglichen neuen Technologie erweist man ei-
nen Bärendienst. Denn wir haben im Hinblick auf den
gentechnischen Pflanzenbau – das muss man einmal fest-
halten – seit vielen Jahren eine intensive Forschung be-
trieben. Sie haben soeben selbst auf das Projekt GABI
hingewiesen, das allerdings nur in indirektem Zusam-
menhang mit dieser Thematik steht. Wir haben auf euro-
päischer und deutscher Ebene eine intensive Forschung
betrieben. Wir haben das berühmte Schritt-für-Schritt-
Prinzip entwickelt, indem wir gesagt haben: Erst dann,
wenn wir auf der einen Stufe sicher sind, gehen wir die
nächste Stufe an und gehen aus dem Labor ins Freiland.
Dann erfolgt der nächste Schritt.

Der Vorteil dieser Initiative war doch, sagen zu kön-
nen: Wir gehen jetzt großflächig über das gesamte Land
hinweg auf den flächenweiten Anbau über. Wir geben der
Bevölkerung, jedem Interessenten und der Wissenschaft
die Möglichkeit, diese Technologie unter normalen An-
baubedingungen in der Landwirtschaft zu testen und zu
sehen, ob es Probleme oder ob es keine Probleme gibt,
und zu überprüfen, ob die Ressentiments, die auf den
verschiedenen Seiten bestehen, zutreffen oder nicht zu-
treffen. Es gibt doch niemanden, der sagen würde: Wir
wollen diese Technologie auf jeden Fall, auch dann, wenn
es keine wissenschaftliche Rückendeckung gibt.

Ich greife ein Stückchen voraus – denn Frau Lemke
wird gleich in ihrer prophetischen Gabe erklären, dass
kein Verbraucher die Produkte der grünen Gentechnik
will –: Frau Lemke, fragen Sie doch einmal den Verbrau-
cher! Kein Mensch weiß, was das ist. Wir müssen doch
erst einmal mit dem Verbraucher in einen Dialog treten.
Wir müssen erst einmal öffentlich klarmachen, was sie be-
deutet und worum es hier geht. Wir können doch nicht auf
der einen Seite, so wie Sie das tun, kategorisch Nein sa-
gen, bevor wir überhaupt in die Anwendung und in die
Prüfung gegangen sind. Auf der anderen Seite erklärt Ihr
Bundeskanzler, wenn es um die gentechnische Entwick-
lung und Forschung am menschlichen Embryo geht, man
solle das alles ohne Scheuklappen und etwas lockerer se-
hen und sich nicht zu viele Gedanken machen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Da muss der auch wieder zurückrudern!)


Das passt nicht zusammen. Eine solch widersprüchliche
Politik kann man nicht vertreten, indem man auf der einen
Seite sagt, nicht einmal Forschung und öffentliche Nut-
zung dürften erlaubt sein, und auf der anderen Seite die
Leinen loslässt und erklärt: Lasst uns doch einmal sehen,
was da auf uns zukommt!

Es ist ganz wesentlich, dass wir die Möglichkeit haben
müssen, bundesweit mit der Öffentlichkeit zu kommuni-
zieren. Dies hat der Kanzler mit seinem Umfallen, mit sei-
ner 180-Grad-Kehrtwendung


(Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU]: Looping!)


– ja, im Grunde ist es ein Looping –, verspielt. Ich nehme
doch an, dass Sie nach der Absage des Kanzlers die
großen deutschen Tageszeitungen gelesen haben. Sie ha-

ben quer durch ganz Deutschland lesen können, dass der
Kanzler hier wieder eine Kehrtwende gemacht hat. Alle
haben geschrieben, dass das wieder einmal Ausdruck des
typisch schröderschen Politikstils gewesen sei, von einem
Tag auf den anderen die Karre um 180 Grad zu drehen.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU sollte dazu im Moment nur schweigen!)


Sie können nun wirklich nicht behaupten, dass Sie hier
eine zielgerichtete Politik machen, verehrte Frau Lemke.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist keine Behauptung! Das sind Tatsachen!)


Ich bitte Sie einmal, zu bedenken – das ist Ihnen doch
nicht unbekannt –, dass solche Pflanzen weltweit inzwi-
schen auf rund 40Millionen Hektar angebaut werden. Der
Anbau und die Verarbeitung dieser Produkte erfolgen
doch nicht unter Inkaufnahme von Risiken. Vielmehr
wurde über die Jahre hinweg festgestellt, dass darin
Chancen liegen.

Wir haben gerade gehört, dass man durch den Einsatz
dieser Pflanzen beispielsweise Pflanzenschutzmittel re-
duzieren und auf diese Art und Weise der Umwelt dienen
kann. Schauen Sie sich einmal die Situation in den USA
an! Herr Heinrich kennt das aus eigener Anschauung.
Dort sind Bodenerosionen verhindert worden, weil man
jetzt ohne Pflug anbauen kann. Dadurch hat sich die Um-
weltbilanz deutlich verbessert. Ich glaube also, hier gibt
es große Chancen.

Man sollte nicht immer diese unbewiesenen, platten
Sprüche von sich geben, das alles diene nur der Großin-
dustrie, den agrarindustriellen Komplexen oder wem auch
immer. Dann werden meist noch die einzelnen Firmen
aufgezählt. Schließlich wird behauptet, Gentechnik nutze
ausschließlich der Firma Monsanto und schon deswegen
dürfe man dies nicht machen.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die steigt doch gerade aus der Gentechnik aus!)


Verehrte Frau Lemke, das ist genauso wenig haltbar
wie Ihre Sprüche, die Sie in den letzten Tagen ständig zu
der so genannten Agrarindustrie gemacht haben. Sie
sollten sich einmal die Mühe machen und sich, statt von
Agrarfabriken zu faseln, die Unterlagen ansehen, und
zwar den Agrarbericht 2000, den Sie selbst veröffentlicht
haben. Wenn Sie dort nachschauen, stellen Sie fest, dass
95 Prozent der deutschen Agrarbetriebe in den alten Bun-
desländern eine Fläche von weniger als 100 Hektar haben.
Ich frage Sie, ob Betriebe mit weniger als 100 Hektar jetzt
von Ihnen als Agrarfabriken angesehen werden.


(Gustav Herzog [SPD]: Das ist ein Strukturproblem!)


Unter Ihrer Regierungszeit, nämlich seit 1999, hat die
Anzahl der Betriebe mit weniger als 50 Hektar abgenom-
men. Sie haben diese Betriebe kaputtgemacht.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die Zahl derer nimmt schon seit zehn Jahren ab! Das kriegen Sie in jeder Debatte gesagt! Das wissen Sie auch! Schämen Sie sich, das hier anzubringen!)





Helmut Heiderich

14727


(C)



(D)



(A)



(B)


Jetzt, da ich Ihnen Vorwürfe mache, schauen Sie auf
die Uhr, Frau Lemke. Sie haben die Landwirte dazu ge-
bracht, ihre Betriebe zu vergrößern. Und dann faseln Sie
von Agrarfabriken!

Sie klopfen hier Sprüche und machen populistische
Aussagen,


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gucken Sie sich einmal Ihre Politik an!)


die die Bauern draußen in ein Licht stellen, das sie über-
haupt nicht verdient haben. Die landwirtschaftlichen Fa-
milienbetriebe werden von Ihnen zwischen die Mühl-
steine gebracht. Sie brummen den Bauern neue Kosten
auf und senken ihnen über Ihre Agenda-2000-Beschlüsse
die Preise. Zwischen den steigenden Kosten und den sin-
kenden Preisen sind die Bauern quasi wie zwischen
Mühlsteinen. Sie haben eigentlich nur noch zwei Chan-
cen, um Ihrer falschen Politik zu entkommen: Entweder
müssen die Bauern aufhören – im vergangenen Jahr haben
Sie 5,4 Prozent der Bauern zum Aufhören gebracht, näm-
lich die Familienbetriebe –


(Heino Wiese [Hannover] [SPD]: Wie viele waren es denn zwischen 1982 und 1998?)


oder sie müssen mehr produzieren. Anders können sie Ih-
rer Politik nicht entkommen. Wenn die Bauern aber mehr
produzieren, erklären Sie ihnen, sie hätten Agrarfabriken.
Denken Sie doch einmal darüber nach, welche Wider-
sprüche Ihre eigene Agrarpolitik aufweist. Damit helfen
Sie niemandem!

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415013100
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415013200
Frau
Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Heiderich, ich freue mich, dass Sie mich in Ihrer Rede so
breit gewürdigt haben. Aber auf die Uhr habe ich ge-
schaut, weil ich gewährleisten wollte, dass ich die Rede-
zeit um genauso viel überziehen darf wie Sie.

Ich möchte mich zunächst allerdings mit dem Antrag
der F.D.P. – Herr Heinrich, ich werde Sie jetzt ausreichend
würdigen – befassen, der sich mit den mittelständischen
Pflanzenzüchtern beschäftigt oder zumindest vorgibt,
sich damit zu beschäftigen. Wenn man sich den Antrag an-
schaut, stellt man fest, dass er einfach nur eine Ansamm-
lung von Worthülsen ist. Herr Heinrich, Sie haben es nicht
geschafft, sich mit dieser Problematik ernsthaft auseinan-
der zu setzen. Ich werde das anhand einiger Beispiele be-
legen.

Zum ersten Stichwort, Gentechnik: In Ihrem Antrag
heißt es, der Bericht zur Technikfolgenabschätzung stelle
„eindeutig“ fest, dass die gentechnisch unterstützte Pflan-
zenzüchtung keinen nachweisbaren Einfluss auf die
Biodiversität, sprich: die biologische Vielfalt, habe. Das
steht zwar so im Bericht zur Technikfolgenabschätzung,

aber offensichtlich haben Sie nicht weitergelesen. Das
sind so die kleinen Nachlässigkeiten, Herr Heinrich: Sie
haben vergessen zu erwähnen, dass die Autoren des Be-
richts tatsächlich eindeutig feststellen, dass das gesamte
Wirkungsgefüge bei der Einführung von Sorten bisher
von der Wissenschaft überhaupt noch nicht verstanden
wurde. Daher ist die Aussage, es gebe keinen Einfluss auf
die biologische Vielfalt, einfach eine Nullaussage. Denn
wenn man nichts darüber weiß, kann man auch nicht eine
Aussage darüber treffen, ob dies einen positiven oder ne-
gativen Einfluss haben wird.


(Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])

Aber Sie behaupten schon einmal in vorauseilendem Ge-
horsam, gentechnisch veränderte Sorten hätten keinen
Einfluss auf die Biodiversität.

In ähnlicher Manier zieht sich das durch Ihren gesam-
ten Antrag. Das mache ich Ihnen zum Vorwurf, womit ich
auch sage: Sie beschäftigen sich nicht ernsthaft mit der
mittelständischen Pflanzenzucht. „Gentechnisch verän-
derte Sorten sichern die Welternährung“, dieses morali-
sche Totschlagargument habe ich inzwischen wirklich
satt. In Ihren Forderungen verraten Sie sich dann aber sel-
ber. Im Abschnitt zu den nachwachsenden Rohstoffen
führen Sie aus, dass sich „mithilfe der Gen- und Biotech-
nologie ... für den Arznei- und Lebensmittelsektor ... maß-
geschneiderte Pflanzen mit den gewünschten Inhaltsstof-
fen“ herstellen ließen. Weiter heißt es: „Dadurch ergeben
sich neue Absatzchancen und -märkte und die Wettbe-
werbs- sowie Einkommenssituation der betroffenen Wirt-
schaftsbereiche wird deutlich verbessert.“

Das hat allerdings mit dem Welthunger nichts zu tun,
sondern ausschließlich mit wirtschaftlichen Interessen
von hier ansässigen Firmen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Doch, es geht nur auf wirtschaftlicher Basis!)


Dies ist vollkommen legitim – ich finde es auch richtig,
dies in einem solchen Antrag anzuführen –, aber die mo-
ralische Legitimation der Bekämpfung des Welthungers
spreche ich Ihnen mit diesem Argument ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415013300
Frau Kollegin Lemke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415013400
Sehr
gern.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1415013500
Liebe Frau Kollegin, wür-
den Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass Sie den Welt-
hunger nur auf einer wirtschaftlichen Basis, wenn sich
nämlich die Produktion auch rentiert, überwinden kön-
nen? Die Produktion muss nicht nur hier in Europa, son-
dern auch in den Anbauländern selber rentabel sein. Das
ist der Ansatz, den Sie offensichtlich übersehen haben.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415013600
Ich
danke Ihnen für diese Zwischenfrage, Kollege Heinrich.




Helmut Heiderich
14728


(C)



(D)



(A)



(B)


Zunächst stelle ich fest, dass Sie mich im Ausschuss als
„Klugscheißer“ titulieren,


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Unparlamentarischer Ausdruck!)


mich aber dann wiederholt im Parlament befragen. Aber
das nur nebenbei.

Es ist eine Binsenweisheit, dass sich bestimmte Ent-
wicklungen nur auf ökonomischer Basis verwirklichen
lassen. Das ist zwar eine Binsenweisheit, aber eine Er-
kenntnis, die die Landwirtschaft, wie wir es im Moment
gerade erleben, vernachlässigt hat: Dort sind ökonomi-
sche Interessen nicht über die Zeitschiene, sondern nur
kurzfristig betrachtet worden.

Wenn Sie darauf abzielen, den Welthunger mit ökono-
mischen Instrumenten bekämpfen zu wollen, so ist die
Gentechnik im Moment in keiner Weise ein geeignetes In-
strument, weil sich diejenigen, die sich in Drittweltlän-
dern, wo der Hunger herrscht, als Bauern betätigen, dort
Pflanzen anbauen und Tiere halten, das, was bei uns her-
gestellt wird, überhaupt nicht leisten können. Sie wissen,
dass dieses veränderte Saatgut teurer ist als konventionel-
les Saatgut, das im eigenen Betrieb nachgebaut wird, und
dass gerade die gentechnisch manipulierten Sorten dort
nicht zu kaufen sind. Deshalb müssten die Ökonomie hier
und die Ökonomie in den Drittweltländern voneinander
getrennt werden. Aber das ist nicht möglich.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415013700
Frau Kollegin, es gibt
den Wunsch nach einer Frage des Kollegen Heiderich.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415013800
Da er
mich so intensiv in seiner Rede bedacht hat, gestatte ich
diese natürlich.


Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1415013900
Sehr geehrte Frau
Kollegin, darf ich Sie darauf hinweisen, dass der an der
ETH Zürich entwickelte „Golden Rice“ jetzt kostenlos
abgegeben wird und dass diese Entwicklung insbesondere
in vielen asiatischen Ländern begrüßt wird?


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415014000
Ihre
Frage finde ich prima. Wie lange, meinen Sie, wird dieser
Reis kostenlos abgegeben werden? Wie lange wird eine
Garantie dafür übernommen werden, dass dieses Saatgut
kostenlos ausgegeben wird, wenn sich die Bauern jetzt auf
diese Sorte einstellen, die Zucht ihrer einheimischen Sor-
ten vernachlässigen und im eigenen Betrieb nicht mehr
anbauen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Gustav Herzog [SPD]: So macht es ein Dealer! – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Ich darf Ihnen leider nicht antworten!)


– Ich würde Ihre Antwort gerne entgegennehmen.
Sie machen es sich zu einfach. Wenn wir über Gen-

technik in Lebensmitteln ernsthaft sprechen wollen, dann
müssen wir den Welthunger aus dem Spiel lassen. Sie be-

nutzen dies ohnehin nur als moralisches Totschlagargu-
ment.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das Argument stört Sie!)


– Nein, Herr Heinrich, es stört mich überhaupt nicht. Ich
setze mich damit ernsthaft auseinander. Aber ich spreche
Ihnen bei diesem Thema die Legitimation ab.

Sie lehnen in Ihrem Antrag ein Nachzulassungsmoni-
toring ab und fordern die Deregulierung der Freiset-
zungsrichtlinie. Wenn Sie sich verantwortlich um die
Gentechnik bemühen wollen, dann können Sie nicht
gleich zu Anfang die Sicherheitsstandards herabsetzen.
Vielmehr muss innerhalb dieser strengen Sicherheitsstan-
dards überprüft werden, was machbar ist. Zudem bleibt
die Frage, ob die Verbraucher diese Produkte wollen oder
nicht. Sie dürfen die Zustimmung der Verbraucher nicht
einfach voraussetzen und, bloß um die Durchsetzbarkeit
zu erreichen, gleich auf der ersten Stufe die Sicherheits-
kriterien absenken.

Weil Sie immer darauf pochen, die Partei der Wirt-
schaft zu sein, sage ich Ihnen eines: Schauen Sie sich ein-
mal um und Sie werden erkennen, dass Sie wahrlich voll
im Trend liegen. Schauen Sie sich an, was die „Wirt-
schaftswoche“ über die grüne Gentechnik schreibt, wie es
an der Börse aussieht, was die Firmen Monsanto und
Aventis mit ihren Gentechniksparten machen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist eine Langzeitaufgabe!)


– Das ist eine Langzeitaufgabe. Ich weiß, dass bei gen-
technisch veränderten Lebensmitteln auf die zweite und
dritte Generation gezielt wird. Jetzt wird versucht, die
Verbraucher dadurch zu fangen, dass man ihnen ver-
spricht: Wir machen gesunde Lebensmittel, sogar Fett
könnt ihr dann ohne Probleme verzehren.

Ich lasse mit mir darüber reden, was es bei der grünen
Gentechnik in Zukunft für Entwicklungen geben kann.
Ich werde mir das anschauen. Aber erst muss der Nach-
weis bestimmter Leistungen der gentechnischen Manipu-
lation erbracht werden, ehe man an die Markteinführung
denken kann. Ich bin dagegen, die Verbraucher über die
offenen Fragen hinwegzutäuschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Der Zug ist längst abgefahren!)


Zum zweiten Thema der heutigen Debatte, der Zulas-
sung von Pestiziden. Sie haben von der neuen Verbrau-
cherschutzministerin, Frau Künast, ein Bekenntnis zu der
Frage gefordert, ob synthetische Pflanzenschutzmittel,
auch Pestizide genannt, nach wie vor Bedeutung haben
werden. Sie haben es von unserer Fraktion gehört: Natür-
lich haben sie auch in Zukunft für die konventionelle
Landwirtschaft Bedeutung. Natürlich wird jetzt nicht die
Keule geschwungen und versucht, alle diese Mittel vom
Markt zu drängen. Das hat die Regierung bisher nicht ge-
tan und wird sie auch in Zukunft nicht tun. Aber die Zulas-
sung von Pestiziden muss sich unter dem Aspekt des vor-
beugenden Verbraucherschutzes bewähren. Es kann
deshalb auch in diesem Bereich nicht darum gehen, die




Steffi Lemke

14729


(C)



(D)



(A)



(B)


Sicherheitskriterien herabzusetzen. Auch hier gilt: kein
Risiko für die Verbraucher! Das ist die Priorität beim Ein-
satz von Pestiziden.

Ihnen scheint es – so lese ich es aus Ihrem Antrag he-
raus, aber ich vermute, dies ist insgesamt die Leitlinie Ih-
rer Politik – ausschließlich darum zu gehen, möglichst
viele Pestizide auf den Markt zu bringen bzw. möglichst
viele dort zu halten. Für dieses Ziel wollen Sie möglichst
niedrige Zulassungskriterien festlegen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: So ein Quatsch!)

Eine verantwortungsbewusste Politik muss sich bei der

Zulassung von Pestiziden folgenden Anforderungen stel-
len, und zwar in der Reihenfolge, in der ich sie vortrage:
Erstens. Sie muss die Sicherheit für Verbraucher, Anwen-
der und Umwelt garantieren. Die Sicherheit muss an ers-
ter Stelle stehen. Zweitens. Sie muss transparent und über-
prüfbar sein. Drittens. Sie muss den neuesten Stand der
Technik gewährleisten. Viertens. Sie muss anwendungs-
bezogen und problemgerecht sein. Das ist das Ziel der
Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktio-
nen beim Einsatz von Pestiziden.

Die Vorwürfe, die Sie im Zusammenhang mit der Har-
monisierung auf europäischer Ebene bei der Lückenindi-
kation erheben, weise ich zurück. Wir haben die
Harmonisierungsbestrebungen auf europäischer Ebene
vorangetrieben, um die im Übrigen auch von der OECD
anerkannten Kriterien, die wir in Deutschland für die
Zulassung haben, zu verankern. Auch haben wir dafür
Sorge getragen, dass dort, wo eine Lücke zu entstehen
drohte, diese kurzfristig und sicherheitsorientiert ge-
schlossen werden konnte.

Das wird auch weiterhin die Prämisse unseres Han-
delns sein, was aber nicht dazu führen darf, dass wir im-
mer mehr Anträge auf vereinfachte Genehmigung nach
§ 18 des Pflanzenschutzgesetzes mit der Begründung be-
kommen, es liege eine Lückenindikation vor, und damit
das reguläre Zulassungsverfahren unterlaufen wird. Diese
Entwicklung will ich nicht haben; das Ausnahmeverfah-
ren darf nicht zur Regel werden. Wir werden uns auch
weiterhin am vorsorgenden Verbraucherschutz orientie-
ren.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415014100
Jetzt spricht die Kol-
legin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415014200
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Innovationspotenzial
moderner Technologien ... erhalten“ – und dann noch für
den Mittelstand! –, das klingt eigentlich sehr gut. Den-
noch ist der Antrag der F.D.P. nur ein weiterer Baustein Ih-
rer Lobbypolitik für die Gentechnik: eine Technik, die
weder dem Mittelstand noch den Landwirten etwas bieten
kann, geschweige denn den Hunger in Teilen der Welt
wirklich lindert. Sie ist auch alles andere als der Nach-

haltigkeit verpflichtet, wie die F.D.P. vorgibt. Wir sollten
uns irgendwann einmal wieder über Nachhaltigkeitsre-
geln unterhalten; offensichtlich ist das schon zu lange her.

Wer profitiert von der gentechnischen Pflanzenzüch-
tung? Schauen wir in die USA: Diese Technologie im
Agro-Business führt zu Kartellbildungen und Fusionen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Wichtiger ist, wem sie nützt!)


Sie führt zu einer immensen Beschleunigung der Ausbil-
dung monokapitalistischer Strukturen und begünstigt
eben nicht den Mittelstand.


(Beifall bei der PDS – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Oh Gott, oh Gott, haben Sie noch nichts gelernt? „Monokapitalistische Strukturen“!)


Saatguthersteller wie Monsanto verkaufen ihre eigenen
Herbizide und Pestizide. Die Bauern sind nicht nur beim
Saatgut, sondern auch bei den Giften von einem Konzern
abhängig. Das soll marktwirtschaftlich sein? Herr Hirche,
Sie fragen, wem es nützt? Zumindest bestimmt den Groß-
konzernen.

Doch wirklich entscheidend für die PDS sind die Risi-
ken dieser Technologien, die im Gegensatz zu anderen in
kürzester Zeit in alle Natur- und Lebensbereiche eingrei-
fen.


(Beifall bei der PDS)

Angesichts des BSE-Dilemmas sollten wir aufmerksam
sein. Wir haben hier eine Verantwortung für die Verbrau-
cher und auch für die Landwirte. Prozesse auf der Basis
gentechnisch veränderter Organismen bzw. deren Trans-
gene sind bei einer Freisetzung in die Umwelt in der Re-
gel irreversibel, nicht rückholbar. Das kann man gar nicht
oft genug sagen, auch wenn es immer wieder anders dar-
gestellt wird.


(Beifall bei der PDS)

Angesichts dessen ist es besonders erschreckend, dass bei
der Gentechnik weltweit gerade einmal 1 Prozent für die
Risikoforschung ausgegeben wird. Dazu habe ich von
Ihnen leider nichts gehört.

Die einseitig motivierte Pflanzen- und Tierzüchtung
führt zu einer weiteren Sortenverarmung und baut, sollten
die Länder des Südens überhaupt das Saatgut bezahlen
können, die Abhängigkeiten der Dritten Welt von den In-
dustriestaaten aus. Was den Hunger angeht, so haben wir
weltweit eine Überproduktion von Nahrungsmitteln und
trotzdem sterben täglich Kinder an Hunger. Vielleicht hat
dies auch etwas mit Verteilung und nicht nur mit Techno-
logie zu tun.

Im Hinblick auf die Harmonisierung des Pflanzen-
schutzrechtes in der EU kann ich für die PDS nur wie-
derholen: F.D.P. und CDU/CSU tun so, als hänge vom
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln das Wohl und Wehe
der Landwirtschaft ab. Dabei ist es noch nicht so lange
her, dass landwirtschaftliche Produktion auch ohne die
Vielzahl dieser Mittel möglich war; in vielen Ländern ist
dies noch immer möglich.




Steffi Lemke
14730


(C)



(D)



(A)



(B)


Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO
erleiden jährlich Millionen Menschen schwere Pestizid-
vergiftungen. Mindestens 40 000 Fälle verlaufen tödlich.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Aber nicht aufgrund des Einsatzes transgener Pflanzen! Das Gegenteil ist der Fall!)


– Daran kommen Sie nicht vorbei. Noch heute verkaufen
Pharmakonzerne, zum Beispiel die Firma Bayer, Wirk-
stoffe, die von der WHO als „extrem gefährlich“ bezeich-
net werden.

Eine Harmonisierung der entsprechenden Gesetze
nach unten, wie es die Anträge fordern, kommt deshalb
für die PDS nicht in Frage.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415014300
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Gustav Herzog für die SPD-
Fraktion.


Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1415014400
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Als die F.D.P. Anfang des ver-
gangenen Jahres ihre Anfrage eingereicht hat, war das
allgemeine Lamentieren über die ungleichen Wettbe-
werbsbedingungen, die schleppenden Zulassungen und
die angeblich und zum Teil auch tatsächlich vorhandene
Bedrohung durch fehlende Pflanzenschutzmittel noch
groß.

Es ist still geworden in diesem Bereich und das liegt
nicht nur daran – wie sicherlich gleich jemand einwenden
wird –, dass wir vor der viel größeren Herausforderung
BSE stehen, sondern auch daran, dass ein großer Teil des
Zulassungsstaus abgebaut werden konnte.

Die konzertierten Bemühungen der letzten zwei Jahre
haben Erfolg gezeigt. Daher von dieser Stelle aus ein
herzlicher Dank an die beteiligten Ministerien, den Be-
rufsstand, die Industrie, die Kolleginnen und Kollegen im
Ausschuss – auch wir haben Druck gemacht – und vor al-
len Dingen an die Bundesregierung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Bundesregierung hat noch im Herbst 2000 ein Me-

morandum über die Gleichwertigkeit der Wettbewerbs-
bedingungen im Bereich Pflanzenschutzmittel in Brüssel
vorgelegt, da sich die Prüfung von Altwirkstoffen durch
die EU extrem verzögert hatte. Nicht zuletzt ging es auch
oft wegen von der Industrie unvollständig vorgelegter Un-
terlagen nicht voran. Das Memorandum ist bei allen an-
deren Mitgliedstaaten auf große Zustimmung gestoßen
und wir sind gespannt auf den Bericht, den die Kommis-
sion in wenigen Monaten vorlegen muss.

Im Grunde genommen könnte man die heutige Debatte
also weitestgehend als Schnee von gestern bezeichnen.
Sie bietet aber eine gute Gelegenheit für einen grundsätz-
lichen Gedankenaustausch über den Pflanzenschutz. Die
von CDU/CSU und F.D.P. getragene Bundesregierung
hatte Anfang der 90er-Jahre eine Studie über Nutzen und

Kosten des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln in Auf-
trag gegeben, die aber, nachdem sie 1997 vorgelegt wor-
den war, still und heimlich in der Schublade verschwun-
den ist. Ihre Ergebnisse waren nämlich für den
chemischen Pflanzenschutz so unerwartet heikel, dass
man eine Diskussion über den prinzipiellen volkswirt-
schaftlichen Nutzen von Pflanzenschutzmitteln befürch-
tete.

Professor Hermann Waibel musste damals Prügel ein-
stecken, weil er anregte, die deutsche Pflanzenschutzpo-
litik angesichts des zwar positiven, aber doch recht be-
grenzten volkswirtschaftlichen Nutzens des Einsatzes von
Pflanzenschutzmitteln grundsätzlich zu überdenken, weil
er ermittelt hatte, dass der Einsatz chemischer Pflanzen-
schutzmittel in den weltweit wichtigsten Kulturen über-
schätzt wird und weil er empfahl, den Einsatz ökonomischer
Instrumente wie einer Steuer auf Pflanzenschutzmittel zu
erwägen. Eine solche Abgabe wird bereits in Frankreich
und Dänemark erhoben und Großbritannien steht nach
meinen Erkenntnissen kurz vor einer Einführung.

Jetzt ist es Zeit, Studien wie diese hervorzuholen und
den Pflanzenschutz daraufhin abzuklopfen, wie Gedan-
ken an eine ganzheitliche Vorsorge, einen umfassenden
Verbraucherschutz und eine umweltfreundliche Wirt-
schaftsweise im gesamten Wirtschaften Eingang finden
können. Ich bin mir sicher, dass der Pflanzenschutz prin-
zipiell sinnvoll ist. Ich sehe allerdings die Notwendigkeit,
noch stärker als bisher die Bedeutung des chemischen
Pflanzenschutzes zurückzudrängen. Er ist ein Bestandteil
integrierten Wirtschaftens, sollte aber auf Dauer seine
führende Stellung verlieren.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415014500
Herr Kollege Herzog,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?


Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1415014600
Nein, es tut mir Leid. Es hat
bereits einige Verzögerungen gegeben. Zudem wartet
mein Flugzeug nicht, wohl aber zu Hause die Familie.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es gibt genügend praxisreife Ergebnisse, die beweisen,

dass es sehr oft auch ohne Chemie geht.
Ich bestreite nicht, Herr Heinrich, dass besonders die

Hersteller von Pflanzenschutzmitteln eine Menge Arbeit
und Geld in die Entwicklung von Wirkstoffen stecken, um
diese umweltschonender und anwenderfreundlicher zu
machen. Ich sehe auch die Bemühungen vieler Landwirte,
Winzer und Gärtner, wirklich nach den Prinzipien des in-
tegrierten Anbaus zu arbeiten.

Trotzdem werden noch heute 120 bis 180 Milli-
onen DM pro Jahr aufgewendet, um Pflanzenschutzmit-
telrückstände aus dem Trinkwasser zu entfernen. Nach
dem Prinzip „Das Bessere ist der Feind des Guten“ wird
sich auch der Pflanzenschutz einer eingehenden Neube-
wertung zu unterziehen haben.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)





Eva Bulling-Schröter

14731


(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415014700
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zu den Überweisungen und Abstimmun-
gen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/2297 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Drucksa-
che 14/3713. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3096 mit dem
Titel „Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf nationa-
ler und EU-Ebene beschleunigen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/3298 mit dem Titel „Wettbe-
werbsnachteile durch unterschiedliche Zulassungspraxis
von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie den Zu-
satzpunkt 9 auf:
17. Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerda

Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Bartholomäus Kalb,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages
– Drucksache 14/4938 (neu)
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gerhard Schüßler, Dr. Hermann Otto
Solms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes

(Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung)

– Drucksache 14/5233 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die
CDU/CSU ist der Kollege Klaus Brähmig.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1415014800
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Sitzung bera-
ten wir über den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages und
den F.D.P.-Antrag zur Abschaffung der Trinkgeldbesteue-
rung – ein Ziel, zwei Wege. Wenn man die Berichterstat-
tung in der heutigen „BZ“ liest, stellt man fest: Offen-
sichtlich handelt es sich um einen Sachverhalt mit kleiner
Ursache, aber großer Wirkung.

Zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen in
Deutschland brauchen wir dringend eine Umorientierung
zu einer Dienstleistungsmentalität und eine Qualitätsof-
fensive im Bereich Tourismus. Als Tourismuspolitiker
freue ich mich besonders, dass Praktiker vor Ort wie der
DEHOGA Lippe, der DEHOGA-Landesverband Baden-
Württemberg und der Tourismusverband meines Wahl-
kreises sich bereits seit zwei Jahren dem Thema Qua-
litätssteigerung widmen.

Eine Hürde auf diesem Weg zum Dienstleistungsland
Deutschland stellt die gegenwärtige Besteuerung von
Trinkgeldern dar, die alle im Dienstleistungssektor Täti-
gen wie beispielsweise Kellner, Pagen, Taxifahrer,
Krankenschwestern und Friseure gleichermaßen betrifft.
Jeder, der die Situation im Pflegebereich und im Gaststät-
tengewerbe kennt, weiß von den Schwierigkeiten,
hochmotivierte und besonders freundliche dienstleis-
tungsbereite Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden,
die bereit sind, insbesondere außerhalb der üblichen Ge-
schäftszeiten sowie an Wochenenden und Feiertagen zu
arbeiten.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Alles noch richtig!)


Eine wichtige Voraussetzung für die Motivation und
Freundlichkeit des Personals sind Trinkgelder der Gäste
als Anerkennung für besonders qualifizierten Service und
als Ausdruck der Zufriedenheit mit der in Anspruch ge-
nommenen Dienstleistung.

Mit unserem Gesetzentwurf zur Anhebung des Freibe-
trages für Trinkgelder von derzeit 2 400DM auf 4 200DM
wollen wir in einem ersten Schritt die Rahmenbedingungen
für den Dienstleistungssektor verbessern. Die zu erwar-
tenden Steuermindereinnahmen von schätzungsweise
130Millionen DM werden durch die positiven Auswirkun-
gen für den Tourismusstandort Deutschland mehr als wett-
gemacht. Motivierte Mitarbeiter und zufriedene Gäste aus
dem In- und Ausland sind das beste Marketingkonzept für
das Urlaubs- und Reiseland Deutschland.

Obwohl auch in anderen Dienstleistungsberufen Trink-
gelder die Regel sind, werden sie in erster Linie im gas-
tronomischen Bereich besteuert. Die Gastronomie ist aber
wie kaum eine andere Branche zur Erbringung ihrer Leis-
tung auf motiviertes, gut geschultes und freundliches Per-
sonal angewiesen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagten Sie schon einmal!)







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Diese Benachteiligung im Vergleich zu anderen Branchen
hängt damit zusammen, dass es hier leichter ist, die Höhe
des Trinkgeldes in Abhängigkeit vom Umsatz zu schät-
zen.

Mit unserem Antrag bewegen wir uns im Gegensatz zu
der Forderung der F.D.P. nach einer völligen Abschaffung
der Trinkgeldbesteuerung im derzeitig rechtlich gültigen
Rahmen.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Deshalb müssen wir das ändern!)


Die CDU/CSU steht in dieser Frage für seriöse Politik in
nachvollziehbaren Schritten und für realistische Ziele mit
Augenmaß.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bun-
desfinanzhofes sind Trinkgelder nun einmal Arbeitslohn
und damit der Lohnsteuer unterworfen. Demnach handelt
es sich hier nicht um eine vom Dienstverhältnis losgelöste
und aus rein privaten Motiven erfolgte Schenkung, son-
dern um ein zusätzliches Entgelt für die entgegengenom-
mene Dienstleistung.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohl wahr!)


Außerdem hat meines Erachtens die Besteuerung von
Trinkgeldern möglicherweise auch eine Schutzfunktion
für die Arbeitnehmer im Gastgewerbe. Denn sonst wäre
zu befürchten, dass Arbeitgeber mit dem Hinweis auf die
Steuerfreiheit der Trinkgeldzahlungen ihre eigenen Lohn-
zahlungen reduzieren.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Das geht schon fast kaum noch!)


Ich möchte aus der „Welt“ von heute Folgendes zitie-
ren – die Überschrift des Artikels lautet „Trinkgeld-Ter-
ror“ –:

Es ist bekannt, dass gerade in den USA das Service-
personal in erster Linie vom Trinkgeld lebt – der
Stundenlohn ist bescheiden, soziale Absicherung zu-
dem oft ein Fremdwort.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die liegen teilweise unter 2 DM!)


Es darf nicht so kommen, dass die flexiblen Lohnbe-
standteile die Tariflöhne ersetzen.

Weiterhin gebe ich zu bedenken, dass nominale Werte
von Zeit zu Zeit der Realität angepasst werden müssen.
Die Anpassung des seit 1990 unveränderten Freibetrages
ist angesichts des Anstiegs des allgemeinen Preisniveaus
mehr als überfällig. Schließlich und endlich könnte mit
der Anhebung des Freibetrages ein Beitrag zur Verwal-
tungsvereinfachung geleistet werden; denn damit würde
verhindert, dass auch bei geringen Trinkgeldbeträgen
Steuerfestsetzungen notwendig werden. Trotz dieser
schlüssigen Argumente für die Anhebung des Freibetra-
ges wurden bisher alle Vorstöße in diese Richtung von der
rot-grünen Koalition niedergestimmt.

Wie stimmt diese Haltung mit Ihren Forderungen vom
Mai 1998 überein, sehr geehrte Kollegen der SPD? Nicht

nur die SPD-Tourismuspolitiker, sondern auch der dama-
lige Ministerpräsident Gerhard Schröder versprachen im
letzten Bundestagswahlkampf vollmundig sogar die völ-
lige Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung. Frau Kolle-
gin Irber wiederholte diese Forderung erst heute in der
„B.Z.“.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Gut!)

Ich habe in den letzten Wochen die 16 Finanzminister

aller deutschen Bundesländer angeschrieben. Von keinem
einzigen Finanzminister habe ich die Zusage bekommen,
sich dafür einsetzen zu wollen, die Trinkgeldbesteuerung
voll und ganz abzuschaffen.


(Simone Violka [SPD]: Herr Milbradt kann ja nicht mehr!)


– Herr Milbradt hat mir geantwortet, als er noch im Amt
war. Aber auch von den anderen Finanzministern, etwa
von Herrn Aller aus Niedersachsen, habe ich Antworten
bekommen, die in dieselbe Richtung gingen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Sie müssen ja nicht unbedingt die Finanzminister fragen, sondern Sie könnten mal die Wirtschaftsminister fragen!)


Aber es ist wie so häufig bei rot-grüner Regierungspo-
litik: Der Berg kreißt und gebiert nicht einmal eine Maus. –
Wo waren Sie bei der Abstimmung über die beiden An-
träge, die der Kollege Burgbacher hier für seine Fraktion
im letzten Jahr eingebracht hat? Wir haben zu diesem
Thema schon zwei Debatten geführt, am 2. Dezember
1999 und am 29. Juni 2000. Die heutige Debatte ist also
die dritte. Lieber Kollege Burgbacher, ich gehe davon aus,
dass diese Debatte bis zum Ende der Legislaturperiode
garantiert nicht die letzte sein wird.

Jetzt ein Appell an meine Nachredner und die zu er-
wartenden Zwischenrufer: Verschonen Sie mich mit
Ihren Hinweisen auf die angeblich so große Entlastung
der Arbeitnehmer durch die Steuerreform. Nach Berech-
nungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirt-
schaftsforschung, RWI, haben die privaten Haushalte
durch die gestiegenen Energiekosten und die Ökosteuer
vom zweiten Quartal 1998 bis zum zweiten Quartal 2000
einen Kaufkraftverlust von 37,3 Milliarden DM hinneh-
men müssen. Die von der Bundesregierung genannte
Entlastung der privaten Haushalte im Zuge der Steuerre-
form 2000 von rund 33 Milliarden DM ist also bereits
mehr als verfrühstückt. Bei anhaltend hohen Energie-
kosten wird die von der Bundesregierung angegebene
Gesamtentlastung von 65 Milliarden DM im Zeitraum
von 1998 bis 2005 noch nicht einmal die höheren Ener-
giekosten kompensieren.

Neben dieser Problematik hat sich die Bundesregie-
rung aber auch einige gezielte Belastungen für die Unter-
nehmen des Gastgewerbes einfallen lassen. Erinnert sei
hier nur an die Neuregelung der geringfügigen Beschäfti-
gungsverhältnisse und an die Abschaffung des Vorsteuer-
abzugs bei geschäftlich veranlasster Bewirtung und Be-
herbergung. Die Auswirkungen dieser Politik sind
offensichtlich.

Wir freuen uns mit der Branche über die positive
Entwicklung der Gäste- und Übernachtungszahlen im




Klaus Brähmig

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Deutschlandtourismus: Erstmals mehr als 300 Milli-
onen Übernachtungen sind eine beeindruckende Leis-
tung. Aber schlägt sich das auch auf die Umsatzentwick-
lung und den Arbeitsmarkt nieder? Fehlanzeige! 1999
sank der Umsatz im Gastgewerbe um 1,4 Prozent und im
Zeitraum von Januar bis Oktober 2000 stieg er lediglich
um 1,1 Prozent. Durchgängig negativ sind die Werte für
die Gastronomie, deren Umsatz 1999 um 2,7 Prozent und
in den ersten Monaten des letzten Jahres um weitere
1,8 Prozent sank. Es überrascht deshalb nicht, dass die
Zahl der Beschäftigten im Gastgewerbe 1999 um 6,4 Pro-
zent und von Januar bis Oktober 2000 noch einmal um
2,7 Prozent zurückging.

Das von der rot-grünen Bundesregierung suggerierte
Bild der Boombranche Tourismus steht also auf tönernen
Füßen. Zu einer ehrlichen volkswirtschaftlichen Analyse
gehören eben alle Zahlen und nicht nur eine selektive Be-
trachtung. Wenn die Bundesregierung, wie Bundeskanz-
ler Gerhard Schröder formuliert hat, ihren Erfolg wirklich
daran messen lassen will, inwieweit die Arbeitslosigkeit
abgebaut wird, dann können wir für den arbeitsplatzin-
tensiven Tourismus feststellen: Durchgefallen – nicht ver-
setzungsfähig!

Meine Damen und Herren, die Unterstützung unseres
Gesetzentwurfes wäre ein kleiner, aber nicht zu unter-
schätzender Baustein, ein auch psychologisch wichtiges
Signal für einen Neuanfang in Ihrer bisher verfehlten Tou-
rismuspolitik.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das gilt erst recht für unseren Gesetzentwurf!)


– Da schauen wir einmal.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen wird er auch nicht besser!)


Das von Ihnen auf unseren Vorschlag hin ausgerufene
Jahr des Tourismus in Deutschland braucht – dieser Appell
richtet sich an die die Regierung tragenden Fraktionen –
positive Impulse. Wir wollten keine Showveranstaltung
für Grüßonkel, sondern eine langfristige Umorientierung
zu einer stärkeren Dienstleistungsmentalität.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415014900
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Simone Violka.


Simone Violka (SPD):
Rede ID: ID1415015000
Sehr geehrte Damen und Her-
ren Abgeordnete! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die
CDU/CSU fordert eine Erhöhung des Freibetrages von
2 400 DM auf 4 200 DM und will damit unter dem Deck-
mantel „Vereinfachung des Steuerrechts“ mal wieder
Ausnahmetatbestände schaffen. Die F.D.P. setzt sogar
noch einen drauf und fordert die komplette Abschaffung
der Besteuerung von Trinkgeldern.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Richtig!)

Doch solche Ausnahmetatbestände und Steuervergünsti-
gungen für eine einzelne Gruppe müssen immer die an-

deren Steuerzahler tragen. Was das heißt, haben die Men-
schen in diesem Land vor 1998 deutlich gespürt, indem
sie jährlich einen größeren Fehlbetrag in ihrer Geldbörse
feststellen mussten. Während der Klein- und Mittelver-
diener ohne Kompromisse seine Steuern zahlen musste,
erlaubten es in Ihrer Regierungszeit über 70 Sondertatbe-
stände dem Großverdiener, seine Steuerschuld oftmals bis
auf Null zu reduzieren. Das war eines der ersten Dinge,
die wir nach der Regierungsübernahme abgeschafft ha-
ben, und das war gut und richtig so.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das hatten wir den Bürgerinnen und Bürger vor der Wahl
versprochen und wir haben es auch gehalten, weil wir es
wie die Menschen, die wir als Abgeordnete vertreten, als
ungerecht empfinden, wenn sich nicht alle nach ihrer
Leistungsfähigkeit an dem Steueraufkommen beteiligen.

Natürlich wurde das dicke Paket der Steuervergünsti-
gungen nicht auf einmal von Ihnen beschlossen. Da war
es mal die eine Gruppe, für die eine Ausnahmeregelung
gemacht wurde, mal die andere. Ich will nicht verneinen,
dass einige dieser Regelungen den neuen Ländern zugute
kommen sollten und auch einige Zeit zugute kamen. Aber
irgendwann wurden aus Aufbauprogrammen nur noch
Steuersparprogramme und Sie haben durch Ihr Nichts-da-
gegen-Tun bestätigt, dass Sie darüber entweder den
Überblick verloren hatten oder aber dass diese Modelle,
von denen nur Großverdiener profitierten, gewollt waren
und geduldet wurden. Wir haben damit Schluss gemacht.

Anstatt mal die eine, mal die andere Gruppe zu bedie-
nen, haben wir eine Steuerreform auf den Weg gebracht,
von der alle profitieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben den Eingangssteuersatz für das Jahr 2001 auf
19,9 Prozent gesenkt. Nur einmal zur Erinnerung: Im Jahr
1998 lag er noch bei 25,9 Prozent. Das ist eine Absenkung
um 6 Prozentpunkte. Bis zum Jahr 2005 wird der Ein-
gangssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ich dachte, wir reden über Trinkgeldbesteuerung!)


Damit entlasten wir vor allem die kleinen Einkommen um
insgesamt 10,9 Prozentpunkte. Das ist eine Leistung, die
die Menschen spürbar entlastet. Das haben Sie während
Ihrer Regierungszeit nie fertig gebracht,


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wir hatten eine Steuerreform beschlossen! Die haben Sie im Bundesrat verhindert!)


im Gegenteil: Sie haben hier im Bundestag auch noch ge-
gen diese Steuerreform gestimmt. Zum Glück haben ei-
nige Ihrer Parteifreunde in den Ländern die politische
Brille abgesetzt und im Bundesrat für diese Steuerreform
gestimmt, weil sie erkannt haben, wie richtig und wichtig
sie für unser Land ist.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Weil wir einiges verbessert haben!)





Klaus Brähmig
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Aber die Senkung der Steuern ist ja nicht unsere ein-
zige Leistung. Zusätzlich steigt noch der Steuerfreibetrag
auf gut 14 000 DM in diesem Jahr und auf gut 15 000 DM
im Jahr 2005. Das bringt auch den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern im Gastronomiegewerbe mehr Geld
ins Portemonnaie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das brauchen sie, um Ihre Steuerreform zu bezahlen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415015100
Frau Kollegin Violka,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Simone Violka [SPD]: Ja.

(Dr. Barbara Höll [PDS]: Du musst bestimmt zum Flieger!)

– Ich muss nicht zum Flieger.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1415015200
Ich auch nicht, ich fahre
mit der Bahn.


(Zuruf des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU])


– Dafür bin ich nicht auch noch zuständig, Kollege
Ramsauer.

Frau Kollegin Violka, sehe ich die Sache richtig, dass
es in der SPD-Fraktion zwischen der Arbeitsgruppe
Finanzen – Sie halten ja hier ein leidenschaftliches Plä-
doyer dafür, den Freibetrag bei 2 400 DM zu belassen –


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Sie ist noch gar nicht soweit!)


und der Arbeitsgruppe Tourismus möglicherweise noch
Abstimmungsbedarf gibt? Ihre Kollegin und meine ge-
schätzte Mitstreiterin im Tourismusausschuss hat sich
nämlich heute in der „B. Z.“ – ich habe darauf hingewie-
sen – ganz klar und eindeutig für die Abschaffung der
Trinkgeldbesteuerung ausgesprochen. Könnten Sie viel-
leicht dazu ganz kurz Stellung beziehen?


Simone Violka (SPD):
Rede ID: ID1415015300
Selbstverständlich kann ich
Ihnen dazu etwas sagen. Ich kann zwar nicht die Aussage
eines Mitglieds unserer Fraktion bewerten und ich kenne
auch nicht das Originalinterview. Wir alle wissen, wie die
Presse mit so etwas umgeht. Aber ich kann Ihnen eines sa-
gen: Wenn Sie uns nicht so riesengroße Haushaltslöcher
hinterlassen hätten, dann hätten wir in der Steuerfrage
natürlich einen größeren Spielraum.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das meinen Sie aber nicht ernst!)


– Das meine ich ganz ernst.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Reden Sie mal über Trinkgeldbesteuerung, irgendwann! Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das interessiert die Leute!)


Die Steuerreform, die wir verabschiedet haben, wurde
erst möglich, weil wir die Basis der Steuerzahler verbrei-
tert haben und insbesondere Steuervergünstigungen weit-
gehend abgeschafft haben. Genau das Gegenteil wollen
Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen. Aber von diesem
Weg der politischen Vernunft werden wir nicht abwei-
chen. Darin stimmen uns im Übrigen auch die Wirt-
schaftssachverständigen zu. Wenn Sie uns aus parteipo-
litischen Gründen nicht glauben, dann glauben Sie
wenigstens den Sachverständigen. Auf diese beziehen Sie
sich doch sonst so gern, wenn deren Aussage in Ihrem
Sinne ist.

Übrigens bin ich bei der Vorbereitung meiner Rede auf
einen interessanten Ausspruch gestoßen, den ich Ihnen
nicht vorenthalten will. Unter der Überschrift „Anforde-
rungen an eine moderne Steuerreform“ konnte ich lesen:

Gleichbehandlung aller Einkunftsarten
Ein modernes Steuerrecht basiert auf einem synthe-
tischen Einkommensbegriff: Alle Einkünfte werden
in einer Summe zusammengefasst und auf dieses Ge-
samteinkommen ein einheitlicher Tarif angewendet.

(Walter Hirche [F.D.P.]: Aber Schenkungen sind keine Einkünfte in dem Sinne!)

– Ein Trinkgeld ist keine Schenkung. Das haben wir uns
in mehreren Debatten eigentlich schon angehört. Im Übri-
gen ist dieses Zitat nachzulesen bei: www.cdu.de.

Das widerspricht nun völlig dem von Ihnen heute ein-
gebrachten Gesetzentwurf. Im Übrigen haben auch die
Petersberger Beschlüsse den Abbau von Steuervergüns-
tigungen verlangt. Aber daran können Sie sich anschei-
nend nicht mehr erinnern. Das ist eigentlich nicht ver-
wunderlich, wenn man die in Ihren Reihen grassierenden
Erinnerungslücken bedenkt, die vor allem immer dann
vorhanden sind, wenn es um Geld geht.

Nun wieder zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Sie
führen in der Begründung aus, die nicht gerade hoch ent-
lohnten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem
Gastronomiegewerbe sollen nicht durch eine zu rigide
Besteuerung geschwächt werden. Ich gebe Ihnen natür-
lich Recht, dass die Entlohnung dort nicht üppig ist, unter
anderem auch deshalb, weil sich der Arbeitgeber auf die
Trinkgelder beruft, die den Lohn ergänzen.

Aber ich verstehe nicht, weshalb man dieses Phäno-
men über Steuervergünstigungen lösen soll. Erklären Sie
doch bitte einmal einer Angestellten, die an einer Tank-
stelle in Schichten arbeitet, auch am Wochenende arbei-
ten muss, auch den ganzen Tag auf den Beinen ist, auch
freundlich sein muss und dafür 12 DM die Stunde be-
kommt, warum sie ihren Lohn voll versteuern muss und
jemand anderes, der ähnliche Arbeitsbedingungen in der
Gastronomie hat, für einen Teil seines Einkommens keine
Steuern zahlen soll.

Ein weiterer Grund, den Sie für Ihre Gesetzesinitiative
angegeben haben, ist die Motivation für gute Leistungen
des Personals. Ich frage Sie: Wollen Sie allen Ernstes Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch einzelne Steu-
erentlastungen motivieren? In meinen Augen ist das völ-
lig absurd; denn dann müssen Sie auch meiner als Beispiel




Simone Violka

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dienenden Tankstellenangestellten eine Steuerbefreiung
einräumen. Auch sie hat keine angemessene Entlohnung
und seit mindestens drei Jahren keinen Pfennig Lohn-
erhöhung gehabt. Oder wollen Sie vielleicht sagen, dass
diese Angestellte nicht motiviert ist, nicht freundlich ist?


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Völlig am Problem vorbei!)


Aber das ist nur ein Beispiel. Es ist richtig, die Bezah-
lung im Dienstleistungsgewerbe ist größtenteils ziemlich
gering. Aber für eine angemessene Bezahlung sind immer
noch die Tarifpartner verantwortlich. Wer wie Sie die
Steuerpolitik zur Nachbesserung magerer Tarifab-
schlüsse einsetzen will, bürdet dem Steuerzahler eine
Last auf, die eigentlich die Branche bzw. der Arbeitgeber
zu tragen hat.

Mir ist im Übrigen auch nicht klar, wie die CDU mit
ihrer Begründung ausgerechnet auf eine Erhöhung des
Freibetrages von 75 Prozent kommt. In meinen Augen ist
das eine völlig willkürliche Festlegung, der jegliche
Grundlage fehlt. 1990 wurde der bis dahin geltende Frei-
betrag auf 2 400 DM angehoben. Jetzt, zehn Jahre später,
soll er um 75 Prozent erhöht werden. Als Begründung
führen Sie an, aufgrund des zwischenzeitlich angestiege-
nen Preisniveaus sei eine Anpassung vernünftig. Wollen
Sie damit ausdrücken, dass die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer jetzt 75 Prozent mehr Trinkgeld als 1990
bekommen? Aber wäre es, wenn Sie der Meinung sind,
das Preisniveau sei so stark gestiegen, nicht logischer, da-
von auszugehen, dass weniger Trinkgelder gezahlt wer-
den, weil die Gäste weniger Geld zur Verfügung haben?
In diesem Fall wäre die bisherige Freigrenze mehr als aus-
reichend.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist SPDDenken, fern der Realität!)


– Die Realität ist so, dass ich sehr lange gekellnert habe.
Ich weiß, was an Trinkgeldern gezahlt wird. Ich habe das
Trinkgeld übrigens versteuert; denn ich habe das meinem
Arbeitgeber vorher mitgeteilt.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Hoffentlich!)

– Das können Sie nachprüfen. Ich habe das sogar nach
Steuerklasse 6 versteuert.

Es tut mir Leid, aber ich kann Ihre Argumente über-
haupt nicht nachvollziehen und erst recht nicht teilen. Im
Gegenteil: Die jetzige Regelung der Besteuerung hat
durchaus auch problematische Seiten. Sie ist nämlich des-
halb problematisch, weil diese Gruppe von Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern gegenüber anderen Beschäf-
tigten bei der Versteuerung des Einkommens schon jetzt
bevorzugt wird. Ein Freibetrag von 2 400 DM ist für
viele Menschen in meiner Region schon ein Monatslohn.
Allerdings kann ich diese Bevorzugung vertreten, weil
mit der Abschaffung des Freibetrages der bürokratische
Aufwand natürlich immens ansteigen würde. Das ist aber
auch das einzige Argument, das ich gelten lasse.

Ein weiteres gewichtiges Argument steht Ihrem Ent-
wurf entgegen. Unsere Aufgabe ist es auch, den Steuer-
zahler gesetzlich vor steuerlichen Missbräuchen zu schüt-
zen. Bei einem sehr großen Freibetrag oder bei überhaupt

keiner Besteuerung besteht nämlich die Gefahr, dass
Lohnbestandteile plötzlich in Trinkgelder umgewandelt
werden. Die gegenwärtige Freigrenze von 2 400DM dient
auch als Barriere gegen nicht mehr zu kontrollierende
Steueroasen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Können Sie Ihre Redezeit nicht an Frau Irber abtreten?)


Auch wenn Sie es anders sehen: Wir nehmen die Belange
des Gastgewerbes sehr ernst.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Aber nur in Worten!)


Ihre Zwischenrufe und Ihre Unruhe zeigen mir, dass ich
den Nerv getroffen habe.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Oh nein!)

Wir haben die Tourismusbranche und das Gastrono-

miegewerbe mit mehr Haushaltsmitteln ausgestattet, als
Sie das je gewollt haben. Im Bundeshaushalt 2000 stiegen
die Zuwendungen an die deutsche Zentrale für Tourismus
auf rund 42 Millionen DM. Das ist ein Anstieg um 6 Pro-
zent.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das kriegt doch nicht die Gastronomie! Das ist doch Quark!)


Ich komme zu dem Wachstum, das Sie angesprochen
haben. Ich erkenne nicht, wo das geltende Recht dem
Wachstum der Branche im Weg stehen soll. Gestern stand
in der Zeitung ein interessanter Artikel mit der Überschrift
„Gastronomie fordert die Green Card für Kellner“. Tatsa-
che ist aber, dass es nicht zu wenig Stellen, sondern zu we-
nig Kellner gibt. Da fragt man sich natürlich, woran das
liegt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Weil sie ihr Trinkgeld versteuern müssen! Das ist doch klar!)


In diesem Artikel äußert sich ein Kellner, der einen Job
sucht – ich zitiere –:

Vor zehn Jahren waren die Arbeitsbedingungen bes-
ser. Da wurde gut gezahlt, Festanstellung statt Sai-
sonarbeit. Heute werden wegen der Billiglöhne lie-
ber zehn schlechte Leute als eine gute Fachkraft
eingestellt.

Genau das ist der Kern des Problems; denn auch vor
zehn Jahren wurde das Trinkgeld schon besteuert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man ist in der Gastronomie davon abgekommen, seine
Mitarbeiter zu halten. Man ist zu 630-Mark-Jobs und zur
Scheinselbstständigkeit übergegangen. Wir wissen doch
selbst, welche seltsamen Blüten dieses Vorgehen getrie-
ben hat: Ein Kellner wurde nicht mehr als Kellner be-
schäftigt, sondern als Selbstständiger. Er musste das
Essen an der Theke kaufen und an den Gast weiterver-
kaufen. Er hatte keinen Handlungsspielraum. Wenn der
Umsatz nicht stimmte, bekam er den Vertrag nicht ver-
längert. Wo, bitte schön, ist das sozial? Dieser Zustand ist
nicht hinzunehmen.




Simone Violka
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Solche Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, entspre-
chende gesetzliche Regelungen zu haben. Wenn wir diese
gesetzlichen Regelungen nicht mehr hätten, würde es
viele Ausnahmetatbestände geben, sodass jeder Zweite
– unabhängig von dem Dienstleistungsgewerbe – zur
Hälfte vom Trinkgeld leben müsste, egal, woher es
kommt, und nur noch die Hälfte seines Einkommens ver-
steuert.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415015400
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1415015500
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich feststel-
len, dass es schon seltsam ist, dass bei dieser Debatte we-
der ein Vertreter des BMF noch ein Vertreter des BMI an-
wesend ist. Diese Tatsache mag jeder werten, wie er will.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Debatte führen wir schon zum dritten Mal! Es reicht! – Gegenruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]: Ein bisschen Respekt vor dem Parlament gehört sich!)


Die F.D.P.-Fraktion hat im Oktober 1999 einen ersten
Gesetzentwurf zur Abschaffung der Trinkgeldbe-
steuerung eingebracht. Er wurde im Juni 2000 ab-
gelehnt. Wir sind an der Sache weiter drangeblieben,
weil es um die kleinen Leute geht – es geht nicht um
Großverdiener, wie Sie gerade gesagt haben –, für die
dies ein Problem ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir begrüßen es deshalb, dass dieses Thema heute wieder
zur Sprache kommt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Sie fordern die Erhöhung des Freibetrags. Sie beziffern
die Steuermindereinnahmen auf 130 Millionen DM. Ich
bitte Sie sehr, das zu begründen. Ich bin der Sache nach-
gegangen: Diese Zahl ist wirklich durch nichts zu be-
gründen. Wir gehen von einem Nettoaufkommen der ge-
samten Trinkgeldbesteuerung in Höhe von 3 Millionen
bis 4 Millionen DM aus. Woher Sie die Zahl von 130 Mil-
lionen DM haben, weiß ich nicht.

Sie verfolgen einen falschen Ansatz in dieser Sache.

(Beifall bei der F.D.P.)


Trinkgelder sind für den Dienstleistenden nicht einkalku-
lierbar. Er hat keinen Anspruch darauf; sie kommen nicht
vom Arbeitgeber. Deshalb handelt es sich nicht um Ein-
kommen aus unselbstständiger Tätigkeit, sondern um eine
Schenkung des Gastes an den Dienstleistenden. Das soll-
ten wir alle hier begreifen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn Sie jetzt den Freibetrag erhöhen würden, würden

Sie überhaupt nichts an dem bürokratischen Aufwand der
Aufzeichnungspflicht ändern. Sie würden nichts daran

ändern, dass Trinkgelder geschätzt werden. So läuft es in
der Praxis. Das Finanzamt schätzt, ob das Trinkgeld
2 Prozent, 3 Prozent oder mehr des Umsatzes ausmacht;
das geht bis 3,8 Prozent. Dementsprechend fällt der Steu-
erbescheid aus.

Dann geht es weiter. Das Finanzamt gibt dieses Ergeb-
nis der Betriebsprüfung an die BfA weiter. Die BfA
schickt einen Bescheid über die Sozialbeiträge an den
Wirt. Ich sage Ihnen: Das geht in Dimensionen – ich kann
Ihnen das gerne zeigen – bis 40 000 oder 50 000 DM. Das
kann doch nicht sein. Dass diese Zahlen auf Schätzungen
beruhen, ist doch kein System, das die Menschen über-
haupt noch nachvollziehen können.


(Beifall bei der F.D.P. – Walter Hirche [F.D.P.]: Aber immer den Kleinen ans Leder! Wie bei den 630-Mark-Jobs! – Gegenruf der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das soziale Gewissen der Nation!)


Außerdem geht das gegen die Gleichmäßigkeit der
Besteuerung, weil nur ein Bereich herausgegriffen wird,
nämlich Hotels und Gastronomie. In den meisten anderen
Bereichen werden die Trinkgelder überhaupt nicht be-
steuert. Auch aus dem Grunde geht das nicht.

Konsequenz daraus: Dann müssen wir halt – zu den
Einwürfen vorhin kann ich nur sagen: wir sind doch der
Gesetzgeber – Gesetze ändern.


(Beifall bei der F.D.P.)

Deshalb haben wir unseren Gesetzentwurf eingebracht, in
dem steht: Freiwillig gezahlte Trinkgelder gehören nicht
zu den Einkünften aus nicht selbstständiger Arbeit. –
Dann ist alles klar.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Richtig!)

Das können wir als Gesetzgeber natürlich machen.

Jetzt lassen Sie mich noch zu der rot-grünen Mehrheit
im Hause kommen. Sie haben das Jahr des Tourismus
ausgerufen. Sie haben versprochen, gerade die Träger des
Tourismus, Hotels und Gastronomie, zu unterstützen. Was
haben Sie gemacht?


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Nichts!)

Sie haben die 0,5-Promille-Grenze eingeführt, ein Schlag
für die Gastronomie.


(Lachen bei der SPD – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, jetzt geht‘s los!)


– Sie haben halt keine Ahnung, um was es geht, das ist das
Problem; deshalb lachen Sie.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sie haben eine Änderung des Gaststättengesetzes vorge-
legt. Wir haben das diskutiert. Danach gehen Jugendliche
mit einem Taschenrechner in die Kneipe und rechnen aus,
welches Getränk billiger ist. Das ist völlig realitätsfremd.
Außerdem novellieren Sie das Betriebsverfassungsgesetz
usw. In der Summe sind das Benachteiligungen von Ho-
tels und Gastronomie.




Simone Violka

14737


(C)



(D)



(A)



(B)


Deshalb sage ich: Überwinden Sie sich doch endlich,
an dieser Stelle etwas Positives zu tun.


(Beifall bei der F.D.P.)

Frau Irber hat es gefordert, Herr Hilsberg hat es gefor-
dert, andere haben es öffentlich gefordert und Sie hatten
es in Ihrem Wahlprogramm.


(Simone Violka [SPD]: Wir hatten es nicht im Wahlprogramm!)


– Aber Sie hatten es in einem Parteiprogramm. – Der
heutige Bundeskanzler hat dem DEHOGA nachweis-
lich – ich kann Ihnen das mit Datum sagen – verspro-
chen: Wenn wir an die Regierung kommen, schaffen wir
die Trinkgeldbesteuerung ab.

Halten Sie endlich Ihre Versprechen!

(Beifall bei der F.D.P.)


Ich verspreche Ihnen: Wir lassen nicht locker und wir
werden erreichen, dass ein Beitrag dazu geleistet wird,
dass das Lächeln im Service zurückkommt.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Was sind denn die Leitlinien? Das ist doch das Wahlprogramm! Hier steht es doch! – Gegenruf der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Parteiprogramm und Wahlprogramm, das ist ein Unterschied! – Simone Violka [SPD]: Jedenfalls bei uns!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415015600
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Christine Scheel für die Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415015700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon überraschend, welche neuen Erkenntnisse man
an einem Freitagmittag noch gewinnen kann, zum Bei-
spiel dass die F.D.P.-Fraktion zur Rettung der gastrono-
mischen Wirtschaft mit der Forderung nach der Aufhe-
bung der Promillegrenze einen Appell für Alkohol am
Steuer formuliert. Das ist unglaublich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Aber das nehmen Sie zurück, Frau Scheel!)


Wenn das soziale Gewissen der Nation hier meint, die
Koalition auffordern zu müssen, eine Aufhebung der Be-
steuerung vorzunehmen, dann frage ich mich, warum Sie
das eigentlich nicht in den 29 Jahren Ihrer Regierungstä-
tigkeit und auch nicht im Zusammenhang mit der Er-
höhung der Freigrenze 1990 getan haben. Sie haben sich
anscheinend bei Ihrem Koalitionspartner zum Glück
nicht durchsetzen können.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: „Zum Glück“?)

Auch das haben wir heute eindeutig feststellen kön-
nen.

Es ist vollkommen klar, dass man sich als Opposition
hinstellen und, damit es nicht langweilig wird, hartnäckig
zwei Varianten fahren kann.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Wir fahren nur eine Variante!)


Die eine Variante ist die der F.D.P. – darauf komme ich
noch zurück –: generelle Freistellung. Auch die Variante
der CDU/CSU-Fraktion ist interessant. Der letzte Antrag
hat sich auf einen Trinkgeldfreibetrag von 3 600 DM be-
zogen, mittlerweile ist sie bei 4 200 DM gelandet. Das
ging relativ schnell, nämlich innerhalb eines halben Jah-
res.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Es hat etwas länger gedauert!)


Wir wollen dem Hotel- und Gaststättengewerbe un-
ter die Arme greifen.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Sie machen aber das Gegenteil!)


Das nehmen wir sehr Ernst. Deshalb sage ich dies ganz
bewusst. Das ist sehr sinnvoll. Wir wissen, dass gerade in
Gebieten, in denen andere Unternehmen wenig Chancen
haben, durch das Hotel- und Gaststättengewerbe Arbeits-
plätze und Einkommen gesichert sind und dass wir es hier
mit einer sehr arbeitsintensiven Branche zu tun haben, die
auch ausbildet. Das muss man an dieser Stelle auch ein-
mal erwähnen. Nach Angaben des DEHOGA waren in
diesem Bereich im Jahre 1999 gut 10 Prozent mehr Aus-
zubildende beschäftigt als 1998.


(Dr. Heinrich L. Kolb Leistung! Das muss man doch honorieren!)


Es lohnt sich also, diese Branche, die – das muss man auch
klar sehen – immer wichtiger wird, zu unterstützen.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Sehr gut!)

Frau Violka hat angesprochen, wie sich der Haushalt

entwickelt hat. Wenn man die jetzigen Zahlen mit denen
vergleicht, die im Haushalt verankert waren, als wir die
Regierung übernommen haben, so zeigt sich, dass wir den
Bundeshaushalt im Bereich des Fremdenverkehrs mit
45,5 Milliarden DM unterstützen. Im Vergleich von 1998
mit dem Jahr 2001 ergibt sich somit eine 8-prozentige
höhere Unterstützung für die Tourismusbranche gegen-
über Ihrer Regierungszeit – und dies trotz des Sparpro-
gramms, das wir fahren. Dies ist eine ganz klare und gute
politische Entscheidung gewesen.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das hat aber mit dem Thema gar nichts zu tun! – Zuruf von der CDU/CSU: Es ist auch im Gesamtkomplex nicht ganz richtig!)


Die Frage, die sich heute stellt, lautet: Ist die Steuer-
befreiung für Trinkgelder oder ein höherer Freibeitrag ein
sinnvoller Weg? Bei der Beantwortung des ersten Teils
der Frage ist interessant zu wissen, was Bayern flankie-
rend zum Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion in den
Bundesrat eingebracht hat. Dort hat Staatsminister
Bockelt am 1. Dezember gesagt, warum die Steuerfreiheit
für Trinkgelder kein guter Weg ist. Er hat ausgeführt, der




Ernst Burgbacher
14738


(C)



(D)



(A)



(B)


Fantasie, neue Direktentlohnungssysteme durch den Kun-
den zu schaffen, wären dann keine Grenzen gesetzt. Das
würde im Endeffekt auch für die dort beschäftigten Ar-
beitnehmer mehr Unsicherheit schaffen und noch mehr
Druck auf die ohnehin niedrigen Löhne ausüben.

Ich kann nur sagen: Da hat er Recht. Auch die CSU hat
manchmal Recht.


(Dr. Heinrich L. Kolb nicht!)


Ich frage mich, ob auch den Antragstellern der F.D.P.
bewusst ist, was sie tun, wenn sie, was die Steuerbefrei-
ung betrifft, ein Scheunentor aufmachen. Wir werden
Auswirkungen auf die Steuereinnahmen zu verzeichnen
haben.

Sie haben es ja gerade selbst angesprochen, Herr
Burgbacher. Man kann nicht sagen, welche Zahlen zu-
grunde gelegt werden müssen. Es gibt nur spekulative
Überlegungen. Es liegen keine konkreten Berechnungen
vor. Das heißt, Sie gehen damit ein Wagnis ein,


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Nein!)

und zwar nicht nur, was die Steuereinnahmen betrifft, son-
dern auch im Hinblick auf die Sozialversicherungssys-
teme. Denn wenn das Ganze ausufert, sodass in allen
möglichen Berichten Steuerfreistellung gewährt wird,
dann führt dies natürlich auch dazu, dass die Bereitschaft,
in die Sozialkasse einzuzahlen, nicht mehr gegeben ist.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie misstrauen den Menschen, Frau Scheel! Das ist Ihr Problem!)


Somit bekämen wir nicht nur bei der Steuer ein Problem,
sondern auch bei der Sozialkasse, was sich zulasten der
Allgemeinheit durch höhere Sozialversicherungsbeiträge
bemerkbar machen würde.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie kriegen auch bei den Wahlen ein Problem! – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Sie kriegen das größte Problem bei den Wahlen!)


Auch das wollen wir nicht.
Diese Regierung hat einen ganz klaren Weg beschrit-

ten. Dieser klare Weg heißt: Senkung der Steuersätze, Ver-
breiterung der Bemessungsgrundlage, Senkung der Sozi-
alversicherungsbeiträge und damit höhere Nettolöhne.
Diesen Weg wollen wir weitergehen. Wir haben einen sta-
bilen Haushalt. Wir werden ihn auch weiterhin stabil hal-
ten. Deswegen ist es auch gut, dass der Weg in dieser
Form gegangen wird. Dabei können wir mit Ihren Lobby-
ismus-Forderungen relativ wenig anfangen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Zum Schluss war es billig!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415015800
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist für die PDS-Franktion die Kollegin
Dr. Barbara Höll.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415015900
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich möchte mich der Kritik an der
Regierung durchaus anschließen. Auch ich finde, dass
man freitags um 15 Uhr noch Verantwortung auf der Re-
gierungsbank wahrnehmen könnte, sollte und müsste.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das zeigt den Respekt vor dem Parlament!)


Nach meiner Auffassung lag Herr Brähmig mit seiner
Begründung des Gesetzesentwurfes nicht ganz richtig.
Herr Brähmig, Sie haben festgestellt, dass in bestimmten
Dienstleistungssektoren vielfach hoch motivierte Leute
fehlen. Beispiel Pizzadienst in Leipzig: Dieser sucht stän-
dig Leute. 10 DM brutto Stundenlohn, Einsatz des eige-
nen Autos mit eigenem Benzin. Sie können sich vorstel-
len, was dabei netto herauskommt.

Dies bezeichnet ganz klar, worin das Hauptproblem
liegt: Dies sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse, viel
zu niedrig bezahlt und zumeist noch mit sehr belastenden
Arbeitszeiten verbunden.


(Beifall bei der PDS)

Daran hat sich leider in den letzten Jahren nichts geändert,
auch unter Ihrer Regierung nicht. Das Ganze fällt zwar un-
ter die Tarifautonomie, trotzdem liegt es in der Verantwor-
tung der Politik, hier Druck auszuüben, zumindest Zeichen
zu setzten. Die Vorschläge in Richtung Steuerpolitik sind
durchaus angebracht.

Vor diesem Hintergrund möchte ich betonen, dass wir
als PDS-Fraktion beiden Initiativen sehr positiv gegen-
überstehen. Wir werden uns in den Ausschussberatungen
positionieren und entscheiden, ob wir dem F.D.P.-Vor-
schlag zur Steuerfreiheit oder dem CDU/CSU-Vorschlag
zur Anhebung der Freigrenzen zustimmen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Klingt gut!)

Ich will es ganz klar sagen: Beides wird nicht das Problem
lösen, aber beides sind steuerpolitische Maßnahmen, die
zumindest eine gewisse Entlastung für die Beschäftigten
bringen können.

Der Regierungskoalition möchte ich eine Frage stellen:
Steuersystematisch ist es sicher richtig – das meinen auch
wir –, dass jede Mark Einkommen besteuert werden muss,
wenn ich dann aber Ihre Reform zur Einkommens- und
Unternehmensbesteuerung heranziehe, frage ich mich:
Wo ist die Logik geblieben? Was ist denn mit den Ver-
äußerungsgewinnen, wenn man Beteiligungen verkauft
und dabei Gewinne erzielt? Diese besteuern Sie nicht. Sie
haben in der Unternehmensteuerreform Steuergeschenke
in Höhe von 14 Milliarden DM jährlich verteilt. Ich frage
mich wirklich, warum wir ausgerechnet wieder bei den
Niedriglohnbezieherinnen und -beziehern mit einer kon-
sequenten Umsetzung der Steuersystematik anfangen
sollten. Das findet nicht unsere Zustimmung.


(Beifall bei der PDS)

Unter steuersystematischem Aspekt kommt noch eines

hinzu: Das BVG hat bereits 1991 festgestellt, dass
eine Steuerbelastung, wenn sie offensichtlich nur mehr
den erklärungsbereiten Steuerbürger betrifft, weil die
Erhebungsregelungen für Steuern auf Trinkgelder die




Christine Scheel

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(C)



(D)



(A)



(B)


Kontrolle der Steuererklärung weitgehend ausschließen
– hier ist es ja so, weil man die Höhe der Trinkgelder frei-
willig angibt bzw. sie nach dem Umsatz geschätzt wer-
den –, das Gebot der steuerlichen Lastengleichheit ver-
letzt. Ich denke, das ist ein hinreichendes Argument dafür,
dass wir über den Vorschlag der F.D.P. sehr gründlich
nachdenken müssen.

In diesem Sinne ist es notwendig, dass wir als Politi-
kerinnen und Politiker zeigen, dass uns das bestehende
Problem nicht gleichgültig ist. Sie hatten schon bei der
Steuerreform nicht den Mut, das steuerfreie Existenzmi-
nimum wenigstens in notwendiger Höhe anzuheben – das
wären mindestens 17 000 DM pro Jahr –, deshalb ist es
notwendig, jetzt über die vorgelegten Initiativen positiv
zu diskutieren. Wir als PDS sind aufgeschlossen und hof-
fen, dass die Ausschussberatungen etwas bringen werden.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415016000
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/4938 (neu) und 14/5233 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Klaus Grehn, Petra Bläss, Dr. Ruth
Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
– Drucksachen 14/3381, 14/4695 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Lange

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
SPD-Fraktion ist die Kollegin Brigitte Lange.


Brigitte Lange (SPD):
Rede ID: ID1415016100
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Bevor wir in die Debatte selbst ein-
steigen, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung. Pro Asyl
hat es für richtig gehalten, ein Fax in die Welt zu schicken,
auf dem die Tatsache, dass die Reden heute möglicher-
weise zu Protokoll gegeben werden, so charakterisiert
wird, als seien wir zu feige, hier Stellung zu beziehen.


(Ulla Jelpke [PDS]: Schön war es nicht, oder?)

Ich schätze die Arbeit von Pro Asyl wie die Arbeit aller

Organisationen, die in diesem und anderen sozialen Be-
reichen arbeiten, sehr hoch ein. Sie tragen eine Menge

dazu bei, um Flüchtlingen durch den Alltag zu helfen.
Trotzdem bitte ich Herrn Classen, seine Bemerkung, die
mich verletzt, noch einmal zu überdenken. Ich will auch
erklären, warum. Das ist nämlich etwas, was Herr Classen
möglicherweise nicht gewusst hat.

Der Ältestenrat hat die Diskussion dieses Tagesord-
nungspunktes für Donnerstag, 19 Uhr, angesetzt. Zu dieser
Zeit geben wir normalerweise keine Reden zu Protokoll.
Frau Maier hat mir erklärt, dass am Donnerstagabend um
19 Uhr das Fernsehen nicht mehr übertragen würde, aber
am Freitagnachmittag. Das heißt, nicht wir haben diesen
Tagesordnungspunkt an das Ende einer Plenarwoche ge-
setzt, sondern es geschah auf Wunsch der PDS.

Bevor Sie jetzt rufen: „Sehr richtig“, erlauben Sie mir,
dass ich darauf aufmerksam mache, dass zumindest die
Mitglieder großer Fraktionen am Freitagabend sehr oft in
ihrem Wahlkreis erwartet werden. Wir gehen zu wesent-
lich mehr Veranstaltungen hin, als Sie es müssen.


(Lachen bei der PDS – Angela Marquardt [PDS]: Das ist das Allerletzte!)


Deswegen ist die Unterstellung, wir wären zu feige, hier-
her zu gehen, einfach dreist, zumal man unsere Stellung-
nahmen ja auch nachlesen kann. So viel zu dieser Thema-
tik.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415016200
Frau Kollegin Lange,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?


(Franz Thönnes [SPD]: Zwischenfrage für das Fernsehen!)



Brigitte Lange (SPD):
Rede ID: ID1415016300
Ja.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415016400
Frau Kollegin, würden Sie
bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir, die PDS – auch
seitdem wir Fraktionsstatus haben – seit Beginn dieser
Legislaturperiode noch nicht einen einzigen Tages-
ordnungspunkt bestimmen konnten, der nicht donners-
tags der letzte oder vorletzte oder freitags der letzte war?


(Franz Thönnes [SPD]: Reden Sie jetzt über das Asylbewerberleistungsgesetz?)


Würden Sie bitte weiter zur Kenntnis nehmen, dass sich
in den letzten Sitzungswochen alle anderen Fraktionen
dieses Hauses der Diskussion unserer Anträge nicht ge-
stellt haben, egal ob dieser letzte oder vorletzte Tagesord-
nungspunkt am Donnerstag um 23 Uhr oder um 21 Uhr,
wie in der letzten Sitzungswoche, stattfand? Das heißt,
dass wir nichts anderes zu erwarten haben, sondern dass
es bei Ihnen tatsächlich Usus geworden ist, dass man sich
der Diskussion nicht mehr stellt.

Würden Sie bitte als Drittes zur Kenntnis nehmen, dass
nur aufgrund der Presseerklärung von Frau Maier – das
glaube ich schon sehr stark –, wonach Sie nicht bereit
sind, sich der Diskussion zu stellen, es heute überhaupt zu
einer Debatte kommt? Davon zeugt auch, dass im Verlauf
der letzten halben Stunde sich ein Kollege der F.D.P. es




Dr. Barbara Höll
14740


(C)



(D)



(A)



(B)


überlegt hat und seine Rede doch nicht zu Protokoll ge-
geben hat, vielmehr jetzt sprechen will.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sehen Sie! Genau!)


Viertens verwahre ich mich dagegen, dass Sie unsere
Arbeit beurteilen und Vermutungen darüber anstellen,
inwiefern wir im Wahlkreis tätig sind. Es verhält sich
nämlich genau umgekehrt: Sie als eine große Fraktion
können sich das scheinbar leisten. Bei der Behandlung
des vorherigen Tagesordnungspunktes waren Sie ange-
wiesen, Ihre Regierungsmehrheit zu sichern. Sie haben
vorher gefragt, ob wir tatsächlich mit Ihnen stimmen.
Denn von uns waren wesentlich mehr Abgeordnete da.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415016500
Frau Kollegin Höll,
ich bitte Sie, eine Frage zu stellen.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415016600
Würden Sie mir Recht ge-
ben, dass es Ihnen nicht zusteht, zu bewerten, wie oft wir
im Wahlkreis sind? Dadurch dass wir weniger Abgeord-
nete sind, wird jeder Einzelne von uns wahrscheinlich
wesentlich häufiger zu Wahlkreisterminen gebeten.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben doch bloß zwei Wahlkreise!!)


Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Brigitte Lange (SPD):
Rede ID: ID1415016700
Sie können sich gern hinset-
zen; kein Problem.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Nein!)

Zu Ihrer letzten Einschätzung: Ich habe es nicht be-

wertet, sondern habe etwas berichtet, was einfach so ist.

(Dr. Barbara Höll [PDS]: Das können Sie überhaupt nicht! Haben Sie unseren Kalender?)


Ob das gut oder schlecht ist, habe ich nicht gesagt.
Zu dem ersten Punkt, den Sie, Frau Dr. Höll, ange-

führt haben: Ich habe zu denen gehört, die gesagt haben:
Ich bin nicht einverstanden damit, dass dann, wenn die-
ser Punkt von uns an das Ende der Tagesordnung gelegt
wird, die Reden zu Protokoll gegeben werden sollen.
Was ich nicht wusste, war, dass dieser Tagesordnungs-
punkt auf Ihren Wunsch mit der Begründung „Das Fern-
sehen ist dann da“ auf diesen Zeitpunkt gelegt worden
ist.

Ich sage Ihnen auch Folgendes: Wenn alle Kollegin-
nen und Kollegen nach dem Prinzip „Wir reden nur noch
dann, wenn das Fernsehen da ist“ verfahren würden,
dann wäre die Tagesordnung nicht mehr zu gestalten.


(Zuruf von der PDS: Ablenkungsmanöver!)

– Das haben wir nicht nötig, weil genügend Material von
uns dazu vorliegt.

Nun zum Thema. Der Vorschlag der PDS, das Asyl-
bewerberleistungsgesetz abzuschaffen und die Leistun-

gen aus der Sozialhilfe zu bezahlen, mag sympathisch
klingen, ist aber – wie Sie wissen und wie wir wissen –
unrealistisch.


(Dr. Klaus Grehn [PDS]: Warum?)

Die PDS weiß es und provoziert damit die Frage nach der
Seriosität ihrer Absicht.


(Dr. Klaus Grehn [PDS]: Warum unrealistisch?)


Knapp 4 Milliarden DM gaben 1999 die Länder für
rund 429 000 Flüchtlinge aus, die für eine begrenzte Zeit
hier leben. Übertrüge man diese Leistungen in die Sozial-
hilfe, wären es circa 20 Prozent mehr, also ungefähr
4,8 Milliarden DM, die nach dem Vorschlag der PDS vom
Bund übernommen werden sollten.

Die Fraktion weiß, dass weder der Bundeshaushalt
noch der Haushalt der Bundesländer diese Mehrbelas-
tung verkraften könnten, auf absehbare Zeit selbst dann
nicht, wenn sich der seit 1996 abzeichnende Trend ab-
nehmender Empfängerzahlen und Ausgaben fortsetzen
sollte.


(Dr. Klaus Grehn [PDS]: Aber die Betroffenen können es verkraften!)


Waren es 1996 noch fast 490 000 Menschen, die Leis-
tungen in Höhe von 5,45 Milliarden DM bezogen, sank
die Anzahl der Empfänger 1999 um rund 61 000 und die
Ausgaben um 1,5 Milliarden DM. Die Zahl der insgesamt
bei uns lebenden Flüchtlinge ist seit 1993 kontinuierlich
zurückgegangen. So auch die Zahl der Asylbewerber: Im
Jahr 2000 haben wir 78 564 Personen in Deutschland ge-
habt, die Asyl beantragten. Das sind 17,4 Prozent weniger
als 1999. Das ist der geringste Stand seit 1987.

Auf die Einwohnerzahl der Länder bezogen, hat Berlin
die höchsten Ausgaben zu verkraften. Bei den absoluten
Ausgaben steht Nordrhein-Westfalen an der Spitze.


(Carsten Hübner [PDS]: Ist das hier der Statistikgrundkurs?)


– Ich denke, dass es ganz wichtig ist, eine Vorstellung von
den genauen Zahlen und auch von den bestehenden Pro-
blemen zu haben.

Deutschland war bisher das Hauptzielland in Europa.
Im ersten Halbjahr 2000 löste Großbritannien Deutsch-
land ab. Setzt man hingegen die Zahl der Asylanträge in
Relation zur Bevölkerungszahl, nimmt Deutschland unter
14 europäischen Ländern den zehnten Platz ein.


(Ulla Jelpke [PDS]: Schlimm genug!)

Von 1998 bis 1999 haben in Deutschland, in den Nieder-
landen und in Schweden die Asylbewerberzugänge in
absoluten Zahlen abgenommen, in allen übrigen europä-
ischen Staaten jedoch zugenommen. Der prozentuale An-
teil an der Gesamtzahl aller in den Staaten gestellten An-
träge sank jedoch 1999 in Dänemark, Deutschland, in den
Niederlanden und der Schweiz.

Sie werden jetzt vielleicht verstehen, dass ich einfach
einmal darstellen wollte, zu welcher unterschiedlichen
Entwicklung in den einzelnen europäischen Ländern es




Dr. Barbara Höll

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(C)



(D)



(A)



(B)


trotz sehr differenzierter sozialer Leistungen kommt. Man
muss sich fragen, ob man die ab- oder zunehmende Zahl
der Asylanträge von der Höhe des Geldbetrages für den
einzelnen Asylbewerber abhängig machen kann. Offen-
sichtlich nicht.

Mit dem Ziel der Abschreckung wurden 1993 zwei
Existenzminima etabliert. Das war damals sehr umstrit-
ten und das bleibt umstritten. Die Entscheidung fiel un-
ter dem Druck hoher Asylbewerberzahlen und der damit
wachsenden Belastung der Kommunen. Trotzdem, so
meinen wir, bleibt sie problematisch.

Leider hat sich aber die Belastung der Kommunen
noch nicht so reduziert, dass wir eine Änderung mit Aus-
sicht auf Erfolg herbeiführen könnten. Der im Bundesrat
mit knapper Mehrheit abgelehnte Antrag Hessens, die im
Verhältnis zur Sozialhilfe nach dem Asylbewerberleis-
tungsgesetz geringeren Leistungen nicht mehr auf drei
Jahre zu begrenzen, sondern auf Dauer beizubehalten,
macht den Widerstand deutlich. Das heißt, man wollte
dauerhaft, also für die ganze Zeit, geringere Leistungen
zahlen.

Wir merken, dass die Bundesregierung mit dem Vor-
schlag, die monatlichen Grundleistungsbeträge zu er-
höhen, nicht gerade offene Türen – dies gilt auch für die
Länder – einrennt. Der monatliche Grundleistungsbe-
trag für den Haushaltsvorstand in Höhe von 360 DM ist
seit Einführung des Gesetzes im Jahre 1993 unverändert
geblieben. Von diesem Betrag muss der Bedarf an Er-
nährung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und
Gebrauchsgütern des Haushalts bestritten werden.


(Dr. Klaus Grehn [PDS]: Schlimm genug!)

Hierzu kommen 80 DM Taschengeld. Einen Ausgleich für
Preissteigerungen hat es bisher nicht gegeben.

Die Differenz zu den Sozialhilfeleistungen, die 1993
auf 20 Prozent festgelegt wurde, hat sich damit deutlich
vergrößert. Eine Anhebung der Leistungssätze ist deshalb
dringend notwendig. Ein Verordnungsentwurf des Bun-
desarbeitsministeriums liegt nun auf dem Tisch. Er befin-
det sich aber noch in der Abstimmung. Ich hoffe, dass
diese bald abgeschlossen ist und die Erhöhung in Kraft
treten kann.


(Dr. Klaus Grehn [PDS]: 5 Mark!)

Die Gewährung von Sachleistungen – etwa in Form

von Essenspaketen oder in Form des Einkaufes mit Chip-
karten in ausgewählten Läden – ist von vielen Seiten als
entwürdigend kritisiert worden. Dem stimme ich zu. Eine
Versorgung mit Essenspaketen ist nicht zumutbar und bei
dezentraler Unterbringung, die möglich ist, überflüssig.
Problematisch ist es auch, wenn Flüchtlinge durch diese
Gutscheine gezwungen werden, in ausgewählten Läden
zum Teil teurer als woanders einzukaufen. Es ist auch
nicht mit der Würde des Menschen vereinbar, Leute in
dieser Weise zu degradieren. Dies ist auch nicht notwen-
dig.

Ich begrüße es deshalb, dass viele Städte und Kreise in-
zwischen wieder von der Sach- zur Geldleistung überge-
gangen sind. In Berlin macht man dies übrigens nicht.
Aber daran, dass die genannten Probleme in anderen Län-

dern nicht auftreten, können Sie sehen, dass dies nicht an
dem Leistungsgesetz selber, sondern an der Handhabung
durch die Länder liegt. Ich hoffe, dass die anderen Länder
hier nachziehen. Das Gesetz lässt ihnen diesen Spielraum.
Sie können Geldleistungen gewähren und damit den Leis-
tungsempfängern eine größere Selbstbestimmung ermög-
lichen. Außerdem ist dies nach Erfahrung der Kommunen
das kostengünstigere Verfahren.


(Rüdiger Veit [SPD]: Sehr richtig!)

Probleme bereitet die medizinische Versorgung.

Schon bei der Einführung des Asylbewerberleistungsge-
setzes 1993 war die Beschränkung der medizinischen
Behandlung auf akute Erkrankungen und Schmerzzu-
stände ein wesentlicher Kritikpunkt vor allen Dingen der
Ärzte, die einen anderen Eid geschworen haben als den,
nicht zu behandeln. Arznei- und Verbandmittel sowie
sonstige zur Genesung, zur Besserung oder Linderung
von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderliche
Leistungen sind zu gewähren. Es besteht ein Rechtsan-
spruch auf Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfun-
gen.

Dennoch führt die Regelung im Asylbewerberleis-
tungsgesetz in der Praxis oft dazu, dass chronisch Kranken
die Behandlung versagt wird oder zunächst vor Gericht ge-
klärt werden muss, ob eine Leistung zur Sicherung der Ge-
sundheit unerlässlich ist, obwohl die Verweigerung von
Leistungen bei chronischen Erkrankungen durch den Ge-
setzeswortlaut in der Regel nicht gedeckt ist. Grundsätzlich
haben Flüchtlinge wie jeder andere das Recht auf eine an-
gemessene gesundheitliche Versorgung. Ich glaube, dass
müssen wir noch eindeutiger regeln.


(Ulla Jelpke [PDS]: Ach!)

Eine entscheidende Verbesserung der Lebenssituation

erwarten wir von der Aufhebung des Arbeitsverbots,
das die Vorgängerregierung zu verantworten hat.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Was?)

Zu Jahresbeginn wurde es per Rechtsverordnung aufge-
hoben. Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge haben
nun nach einer Wartezeit von 12 Monaten Zugang zum
Arbeitsmarkt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wir haben viel weiter gehende Vorschläge!)


Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge können ohne War-
tezeit erwerbstätig sein. Als Voraussetzung für die Ge-
währung einer Arbeitserlaubnis wird geprüft, ob kein
deutscher Arbeitnehmer und kein Arbeitnehmer aus der
EU für den Arbeitsplatz zur Verfügung steht.

Traumatisierte Flüchtlinge erhalten eine Arbeitserlaub-
nis ohne eine solche Vorrangprüfung. Diese sinnvolle,
bisher nur für Bosnier geltende Regelung wurde auf trau-
matisierte Flüchtlinge unabhängig von ihrem Herkunfts-
land ausgeweitet. Damit bekommen Asylbewerber, Ge-
duldete und Bürgerkriegsflüchtlinge die Möglichkeit,
ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Auf diesem Weg der Verbesserungen wollen wir wei-
tergehen und wenn es nicht anders durchsetzbar ist, auch
in kleinsten Schritten. Sozialpolitiker haben nie Probleme




Brigitte Lange
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damit, etwas zu verbessern. Aber Sozialpolitiker können
sich auch nicht den Himmel blau malen, sondern müssen
mit dem umgehen, was vorhanden ist. Sie dürfen nur nicht
in ihrem Bemühen nachlassen. Aber radikale Forderun-
gen haben noch nie weitergeführt.


(Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Das darf nicht wahr sein!)


Im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern
liegen wir mit unseren Sozialleistungen weder so
schlecht, dass wir in Panik verfallen müssten,


(Ulla Jelpke [PDS]: Unverschämt, was Sie sagen!)


noch für unser Selbstverständnis so gut, dass nichts zu
verbessern wäre:


(Ulla Jelpke [PDS]: Glauben Sie eigentlich selber, was Sie da erzählen?)


im Leistungsrecht, aber auch im Ausländerrecht, das im-
mer undurchschaubarer geregelt worden ist.

Ein Sozialrecht kann klare Regelungen im Ausländer-
recht nicht ersetzen. Ergänzend brauchen wir verständli-
che und handhabbare Regelungen, die Möglichkeiten der
Zuwanderung außerhalb des Asylrechts eröffnen. Die
Zuwanderungskommission wird hierzu Vorschläge ma-
chen.

Unabdingbare Voraussetzung für alle Vorhaben ist,
dass wir so viele Menschen wie möglich in unserem Land
auf diesem Weg mitnehmen und begleiten können. Es
wäre erfreulich, wenn es uns allen gemeinsam, abseits
vom Wahlkampfgetöse, mit Herz und Verstand, gelingen
könnte.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415016800
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann.


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1415016900
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Jahre 1993 hat
der Deutsche Bundestag das jetzige Asylbewerberleis-
tungsgesetz beschlossen. Es war im Grunde ein Teil des
Asylkompromisses aus dem Jahre 1992,


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Richtig!)

bei dem wir uns darauf verständigt haben, in einem eige-
nen, aus der Sozialhilfe ausgegliederten Leistungsgesetz
Asylbewerbern, die keinen dauerhaften Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland haben, eine gegenüber der
Sozialhilfe abgesenkte Unterstützung zukommen zu las-
sen.

Aus damaliger Sicht – die Gründe gelten heute auch
noch – war das deswegen notwendig, weil wir die Attrak-
tivität Deutschlands für politisch oder religiös nicht ver-
folgte Menschen ein Stück weit abschwächen wollten.
Ein weiterer Grund war – und auch diesen Grund gibt es
heute noch –, dass in den Ländern, aus denen Menschen

gern flüchten möchten und Hoffnungen damit verbinden,
in Europa oder speziell in Deutschland leben zu können,
unsägliche Schlepperorganisationen tätig sind, die den
Menschen die Möglichkeit eröffnen, nach Deutschland zu
kommen, und anschließend die Sozialhilfe, die sie erhal-
ten, abzocken, um damit schließlich die Kosten für neuen
Menschenhandel zu finanzieren.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Leider wahr!)

Ein Großteil der Unterstützungsleistungen, die wir an
Asylbewerber ausgezahlt haben, ist am Ende in die Hände
dieser kriminellen Banden gelangt.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist Unsinn!)


So habe ich – ich bin seit vielen Jahren kommunalpoli-
tisch tätig – oft gedacht: Warum sind diese Unterstützun-
gen eigentlich nicht bei den Kindern der Asylbewerber
angekommen, sondern in ganz anderen Kanälen gelan-
det? Auch aus diesen Gedanken heraus ist das Prinzip der
Sachleistungen entwickelt worden: weil diese Banden
eben auf diese Sachleistungen keinen Zugriff haben.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Na klar! Sie reden auch davon, dass Menschen „gern flüchten“!)


Deswegen bin ich durchaus der Meinung, dass der Vor-
rang von Sachleistungen vor Geldleistungen seine Be-
gründung haben kann.

Ein weiterer Bereich im Asylbewerberleistungsgesetz
ist die Einschränkung der Krankenbehandlung auf das
medizinisch Notwendige und Unumgängliche. Auf der
anderen Seite muss man auch sehen, dass damit nicht nur
akute Schmerzbehandlungen gemeint sind. Sie wissen,
dass Schwangere, Mütter und Kinder alle Leistungen, die
zu diesem Bereich gehören, in vollem Umfang erhalten.
Ich glaube auch, dass die örtlichen Sozialämter und die
örtlichen Ärzte ganz gut und verantwortungsbewusst mit
dieser Einschränkung umgehen können. Aber ich sehe
auch nicht ein, dass über die Steuergelder unserer Bür-
gerinnen und Bürger ein Mensch, der vorübergehend in
die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist und für
den sehr oft die Tatbestände des Asylrechts nicht zutref-
fen – nach wie vor sind die Ablehnungsquoten nach den
Verfahren relativ hoch –, hier eine vollständige Zahner-
satzbehandlung bekommt, für die andere Menschen in
Deutschland 10 000 DM oder mehr auf den Tisch legen
müssen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das sind Ammenmärchen!)


Ich finde, dass diese Eingrenzungen verantwortbar
sind und dass sie nichts Inhumanes an sich haben. Zurzeit
erfahre ich – das mag Rot-Grün nicht gern hören –, dass
viele Ärzte im Übrigen viel lieber Sozialhilfeempfänger
behandeln als gesetzlich Versicherte, weil die Leistungen
für Sozialhilfebewerber nicht, aber die Leistungen für die
gesetzlich Versicherten sehr wohl im Budget sind. Also
meine ich, dass wir diesen Bereich weiterhin gut verant-
worten können.

Man sollte als letzten Punkt nicht vergessen, dass für
Menschen, die noch kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in




Brigitte Lange

14743


(C)



(D)



(A)



(B)


Deutschland haben, auch keine Integrationsleistungen
bezahlt werden. Der Integration müssen wir uns erst dann
stellen, wenn feststeht, dass diese Menschen ein dauer-
haftes Aufenthaltsrecht bei uns haben. Deswegen würden
wir, so finde ich, Asylbewerbern viel mehr helfen, wenn
wir den Zeitraum, in dem wir feststellen, ob sie dauerhaft
in der Bundesrepublik Deutschland bleiben können, we-
sentlich verkürzen könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es liegt nicht nur an unseren Behörden, sondern auch

daran, dass in der Praxis viele Menschen, die zu uns
kommen, diese Verfahren aufhalten, indem sie alles tun,
damit ihre Identität möglichst lange für unsere Behörden
nicht nachvollziehbar bleibt. Wir würden für die Asylbe-
werber am meisten erreichen, wenn wir diese Verfahren be-
schleunigen. Dann könnten sie früher höhere Sozialleistun-
gen sowie Integrationsleistungen beziehen, bei uns arbei-
ten und damit selber für ihren Lebensunterhalt sorgen und
sich in Deutschland frei bewegen.

Die Position der Union bleibt in der Asylpolitik die-
selbe, wie sie seit vielen Jahren ist und wie sie sich aus un-
serem Menschenbild heraus darstellt: Wir haben vor je-
dem Menschen Respekt. Jeden Menschen muss man
vernünftig behandeln, egal welche Hautfarbe er hat, wel-
cher Religion er angehört oder welche politische Über-
zeugung er vertritt. Jeder Mensch soll hier ein normales
Leben führen können. Aber wir müssen diejenigen, die
ohne Notwendigkeit zu uns kommen, in ihre Heimatlän-
der zurückführen, um letzten Endes für die Integration
wirklich verfolgter Menschen eine positive Stimmung in
unserem Land zu erhalten.

Wenn wir über die Integration von politisch Verfolgten
hinaus in der Bundesrepublik Deutschland Einwande-
rung haben wollen, dann ist das Asylgesetz dafür das
falsche Gesetz. Dafür muss man andere Kriterien zu-
grunde legen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: So wie es die F.D.P. vorschlägt!)


Diese müssen sich danach richten, was unser Arbeits-
markt an Zuwanderung braucht. Diese dürfen aber nicht
mit den Problemen, die mit dem Asylgesetz zusammen-
hängen, wie der Verschleierung der Identität, verbunden
werden. Deswegen steht meine Partei nach wie vor zu
dem Asylbewerberleistungsgesetz, wie es damals von uns
mitentwickelt worden ist und das ein Bestandteil des
Asylkompromisses von 1992 im Deutschen Bundestag
war. Ich glaube, wir sind gut beraten, daran festzuhalten.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Rückwärts gewandt wie immer!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415017000
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Marieluise Beck.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolle-

ginnen und Kollegen! Herr Laumann, wenn Sie die
Geschichte bemühen, erzählen Sie bitte die ganze Wahr-
heit. Ein Teil des Asylkompromisses war zwar das
Asylbewerberleistungsgesetz, aber ein anderer Teil war
die Festlegung im Asylverfahrensgesetz, dass den Asyl-
bewerbern nach drei Monaten der Arbeitsmarkt offen ste-
hen sollte. Von diesem Teil des Asylkompromisses haben
Sie sich mit dem Clever-Erlass verabschiedet. Sie haben
also mit dieser Überschreitung der gesetzlich eigentlich
vorgesehenen Vorgabe das, was nach dem Asylkompro-
miss möglich sein sollte – dass sich auch ein Asylbewer-
ber um Arbeit bemüht –, zunichte gemacht. Ich möchte
Sie bitten, dies auch zu nennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS – Dr. Heinrich Kolb [F.P.D.]: Das können Sie jetzt machen!)


Sie haben die Verfahrensdauer angesprochen. Ich
teile Ihre Auffassung, dass wir vor allen Dingen genau
hinschauen sollten, wer auf Dauer hier ist, also integriert
werden und damit Zugang zum Arbeitsmarkt und allen
Sozialleistungen haben sollte, und wer nicht. Aber der
Eindruck, der in der politischen Debatte im Augenblick
immer erweckt wird, die Verfahren seien so unendlich
lang, ist falsch. Die Verfahren beim Bundesamt für
Flüchtlinge dauern im Schnitt nicht länger als sechs Mo-
nate. Das Problem liegt bei den Verwaltungsgerichten.
Das allerdings ist Ländersache. Wenn es Länder gibt, bei
denen die Verfahren im Schnitt 29 Monate dauern, weil
die Verwaltungsgerichte nicht ausreichend mit Richtern
bestückt sind, dann ist das ein Problem, das sich die Jus-
tizminister der Länder zu Herzen nehmen müssen. Das ist
aber keine Frage des Verfahrens. Auch das sollten Sie sich
noch einmal genau anschauen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das stimmt!)

Nun zum Thema von heute. Es gibt Anträge der Oppo-

sition, denen man ihre Berechtigung kaum absprechen
kann. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es in der Frage
der Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes
beim Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen Diffe-
renzen gab. Wir wissen aber, dass wir für eine Abschaf-
fung des Asylbewerberleistungsgesetzes keine parla-
mentarische Mehrheit haben und dafür auch im
Bundesrat keine Mehrheit finden. Insofern agieren wir in
einem ersten Schritt sehr vorsichtig und versuchen, die
lange überfällige Anhebung der Sätze nach dem Asylbe-
werberleistungsgesetz, bei dem sieben Jahre lang nichts
passiert ist, voranzutreiben. Es liegt jetzt ein Referenten-
entwurf vor; er ist an die Länder verschickt. Ich hoffe,
dass wir auch die Rückwirkung zum Januar 2001 hinbe-
kommen. Das wäre dann ein winzig kleiner Schritt nach
vorne.

Es gibt immer zwei Fronten, an denen wir kämpfen.
Das ist von der Kollegin Lange schon angesprochen
worden. Es gibt von den Ländern Druck, die Bedingun-
gen sogar noch zu verschlechtern. Eine große Ausei-
nandersetzung wurde um die Frage geführt, ob der Drei-
jahreszeitraum, nach dem die Asylbewerber regulär
Sozialhilfe bekommen, gestrichen werden könnte. Wir
waren froh, dass wir mit der rot-grünen Ländermehrheit
diesen Angriff abwehren konnten. Oftmals besteht ja




Karl-Josef Laumann
14744


(C)



(D)



(A)



(B)


der Erfolg der Mühsal darin, Verschlechterungen ab-
gewehrt zu haben. Dies ist uns im letzten Jahr gelungen.

Für mich ist der zentrale Punkt, dass wir jenseits der
Frage der Abschaffung oder Beibehaltung des Asylbewer-
berleistungsgesetzes Öffnungen herbeiführen, die Flücht-
lingen die Chance bieten, überhaupt aus dem Geltungsbe-
reich dieses Gesetzes herauszukommen. Dazu gehören die
Lockerung des Arbeitsverbots – das ist nicht einfach und
hart umkämpft – und die Erweiterung des Rechtes für
Traumatisierte, Zugang zum Arbeitsmarkt zu haben. Ein
solches Recht bestand bisher nur für traumatisierte Bosnier
und soll jetzt für traumatisierte Menschen aus allen Län-
dern gelten. Dazu gehört auch die Altfallregelung und ein
gewisses Drücken und Schieben, damit bei der Umsetzung
durch die Länder möglichst alle Spielräume genutzt wer-
den, damit so viele Menschen wie möglich ihre Existenz
mit eigener Hände Arbeit sichern können.

Insgesamt gehört dazu eine Neuformulierung der Inte-
grationspolitik, die die Frage klärt, wer vorübergehend
und wer auf Dauer hier ist. Die große Auseinandersetzung
um § 53 Ausländergesetz müssen wir politisch angehen.
Dabei geht es darum, dass Flüchtlinge, denen aufgrund
der Europäischen Menschenrechtskonvention Schutz ge-
währt werden muss, die in der Regel auf Dauer hier blei-
ben, ausländerrechtlich aber trotzdem nur die Duldung
bekommen und ihnen damit der Zugang zum Arbeits-
markt und zu Ausbildungsgängen weitgehend versperrt
ist. Ich hoffe hier auf Unterstützung durch die Zuwande-
rungskommission. Das Urteil des Bundesverfassungsge-
richts vom August hat uns da heftig auf die Finger ge-
klopft.

Die Strategie, die wir politisch verfolgen, geht also in
Richtung Vereinheitlichung des Flüchtlingsstatus für
diejenigen, die nach Art. 16 a des Grundgesetzes sowie
§§ 51 und 53 Ausländergesetz als schutzwürdig und daher
auf Dauer hier lebend angesehen werden müssen. Wenn
wir diese Perspektive verfolgen und sie mit der Öffnung
des Arbeitsmarkts und anderen sozialen Zugängen zur
Gesellschaft verknüpfen, minimieren wir das Problem des
Asylbewerberleistungsgesetzes, auch wenn wir es damit
nicht beseitigen.

Ich habe Ihnen das dargestellt, damit Sie sehen, entlang
welcher Vorstellungen und Paradigmen wir unsere
Schritte setzen. Man muss sich ja politisch weiterbewe-
gen, auch wenn man nicht ganz durchsetzen kann, was
man sich sonst wünscht.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415017100
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1415017200
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Art. 1 unseres Grundgesetzes
besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“


(Angela Marquardt [PDS]: Das ist wohl wahr!)


Dies gilt für alle Menschen, die sich in unserem Land
aufhalten, egal ob Deutsche oder Nichtdeutsche. Darin
sind wir uns alle hier einig.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


Alle Gesetze und Regelungen müssen sich an diesem
Grundsatz messen lassen. Man kann wohl so weit gehen
und sagen, dass dies auch für unsere Gesetze insgesamt
zutrifft, also auch, meine Damen und Herren, für das
Asylbewerberleistungsgesetz.

Der für ein menschenwürdiges Leben notwendige
Grundbedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Klei-
dung, Gesundheits- und Körperpflege sowie Haushalts-
gegenständen ist gewährleistet. Von einer Kürzung auf
null kann daher nicht die Rede sein.

Dass die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs-
gesetz geringer als die Sozialhilfe nach dem Bundesso-
zialhilfegesetz ausfallen, hat aber gute Gründe. Herr Kol-
lege Laumann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
durch die Verringerung materiellerAnreize die bei Ver-
abschiedung des Gesetzes im Jahre 1993 das Land über-
flutende Welle der Asylbewerber etwas eingedämmt wer-
den sollte. Darin war man sich in diesem Hause im
Großen und Ganzen auch einig.

Dass sich die Situation nun völlig geändert haben soll,
vermag zumindest ich nicht zu erkennen. Nach den neues-
ten Meldungen des Bundesamtes für die Anerkennung aus-
ländischer Flüchtlinge wurden für Januar 2001 7 583 An-
träge gestellt. Das sind 27 Prozent mehr als im Dezember
2000 und knapp 15 Prozent mehr als im Januar letzten Jah-
res.

Die im Gesetz vorgesehenen weiteren Absenkungen
betreffen unseres Erachtens zu Recht nur solche Men-
schen, die unser Sozialsystem missbrauchen, indem sie
sich einer bestehenden Leistungspflicht beispielsweise
dadurch entziehen, dass sie ihre Identität leugnen oder
ihre Papiere bewusst vernichten. Aber auch diesen Men-
schen werden die Leistungen nicht auf null gekürzt. Der
Staat stellt auf jeden Fall das Existenzminimum sicher. Es
ist im Übrigen besonders der F.D.P. zu verdanken, dass
bei der letzten Novelle des Asylbewerberleistungsgeset-
zes im Jahre 1998 nach langwierigen und schwierigen
Verhandlungen der jetzige Gesetzestext verabschiedet
werden konnte und die vom Bundesrat angeregten res-
triktiveren Regelungen verhindert werden konnten. Das
betraf damals besonders Kriegsflüchtlinge und geduldete
Ausländer.

Ich möchte nicht bestreiten, dass es bei der Umsetzung
dieses Gesetzes die eine oder andere Unzulänglichkeit ge-
geben hat und auch heute noch gibt. Auch ich habe von
Lebensmittelunverträglichkeiten, besonders bei kleinen
Kindern, gehört. Diese Fälle müssen natürlich dringend
überprüft werden. Wir sträuben uns nicht gänzlich dage-
gen, zu prüfen, ob das Sachleistungsprinzip, zumindest
teilweise, gelockert werden kann.

Im Wesentlichen ließen sich die Probleme, die meist
mit der Umsetzung des Gesetzes auf Länderebene zu
tun haben, durch eine wesentlich geringere Dauer des




Marieluise Beck (Bremen)


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(A)



(B)


Asylverfahrens und insbesondere durch eine sofortige Er-
laubnis zur Arbeitsaufnahme für Asylbewerber vom ers-
ten Tag des Aufenthalts an nahezu ausschließlich lösen.

In diesem Zusammenhang will ich Ihnen, Frau Beck,
sagen: Die F.D.P. hat sich schon seit langem dafür einge-
setzt, dass auch Asylbewerber eine Arbeitserlaubnis er-
halten. Es ist nicht einzusehen, warum Asylbewerber
nicht in die Lage versetzt werden sollen, ihren Bedarf
durch eigenen Verdienst oder Hinzuverdienst zu decken,
um nicht an dem Tropf der Sozialleistungen hängen zu
müssen. In der Tat stellt sich die Frage, ob ein solches Vor-
gehen mit der Menschenwürde zu vereinbaren ist.

Die Regierung – das muss ich leider feststellen – hat
das nur zum Teil eingesehen. Sie hat zwar das seit 1997
geltende generelle Arbeitsverbot für Asylbewerber ge-
lockert, aber es gilt immer noch eine zwölfmonatige so
genannte Wartefrist. Die muss endlich weg.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist doch unter Ihrer Regierung eingeführt worden!)


Das wäre der richtige Ansatz, Asylbewerbern, die sich
hier legal aufhalten, wirklich zu helfen und Ihnen einen
menschenwürdigen Aufenthalt zu ermöglichen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415017300
Als letzte Rednerin in
dieser Debatte spricht die Kollegin Pia Maier für die PDS-
Fraktion.


Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1415017400
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Trotz der ungewöhnlichen
Eröffnung der Debatte möchte ich an meinem ursprüngli-
chen Plan festhalten und Ihnen über die aktuelle Situation
einer zwanzigjährigen schwangeren Frau berichten, die in
Berlin in dem Flüchtlingsheim in der Fürstenwalder Allee
untergebracht ist. Ich denke, niemand wird bestreiten,
dass eine schwangere Frau ärztliche Versorgung – erst
recht, wenn sie eine Fehlgeburt hatte – benötigt.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Bekommt sie doch auch!)


– Sie bekommt keine ärztliche Versorgung. Das Bezirks-
amt Wedding verweigert ihr die Ausstellung eines Kran-
kenscheins und damit jegliche ärztliche Betreuung. Auch
wenn Sie, Herr Laumann, den Kopf schütteln und auch
Sie, Herr Kolb, sich bisher nicht mit der Realität in Berlin
auseinander gesetzt haben, sind solche Fälle möglich und
durch die Umsetzung des Asylbewerberleistungsgesetzes
in den Ländern gedeckt. Das hat mit Menschenwürde
nichts mehr zu tun. Auch Sie, Frau Lange, kennen solche
Fälle.

Ich weiß, dass der Text des Asylbewerberleistungsge-
setzes, wenn man sich ihn durchliest, noch sehr freundlich
klingt. Aber in Berlin wird der Passus „unabweisbare
Leistungen“ im Zweifelsfall dahin gehend interpretiert,
dass darunter nur das Rückflugticket und das Reisegeld
verstanden werden. Wenn die betroffenen Menschen die

Rückreise nicht antreten, müssen sie sich wohl als Ob-
dachlose irgendwie am Leben erhalten, bekommen aber
keinerlei Leistungen mehr. Das ist leider bittere Realität.

Mir ist durchaus bewusst, dass die Praxis in den Län-
dern unterschiedlich gehandhabt wird. Aber das Asylbe-
werberleistungsgesetz bietet den Ländern die Möglich-
keit, in der geschilderten Weise zu verfahren.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das liegt doch an der Senatsverwaltung und nicht am Gesetz!)


Solange das so ist, ist die Menschenwürde in diesem
Lande leider sehr gefährdet.


(Beifall bei der PDS)

Auch wenn nur einige Länder so verfahren, kann das
nicht als Maßstab gelten. Das Asylbewerberleistungs-
gesetz ermöglicht dieses Verfahren. Man kann sich
selbst gegenüber nur ehrlich sein, wenn man zugibt,
dass die Menschenwürde allein durch eine Abschaffung
des Asylbewerberleistungsgesetzes gerettet werden
kann.

Frau Lange, Sie haben bis vor drei Jahren in Marburg
immer die Auffassung vertreten, das Asylbewerberleis-
tungsgesetz müsse abgeschafft werden.


(Zuruf von der PDS: Hört! Hört!)

Sie haben in Ihrer heutigen Rede viele gute Gründe dafür
genannt, warum dieses Gesetz die Würde eines Menschen
verletzt, sind aber am Ende zu dem Schluss gekommen:
Abschaffen können wir es leider nicht, weil – dieses Ar-
gument klingt mir noch in den Ohren – die Kommunalfi-
nanzen das leider nicht hergeben und sich die Länder des-
wegen weigern.


(Zuruf von der SPD: Das ist leider wahr!)

Frau Beck hat die politischen Zwänge, in denen Sie

sich hier befinden, wesentlich klarer und differenzierter
dargestellt. Dafür bin ich ihr auch sehr dankbar. Ich sehe
durchaus, dass Sie sich bemühen. Aber Sie haben hier ei-
nen Zusammenhang hergestellt, indem Sie sagten: Ich
würde ja gerne das Asylbewerberleistungsgesetz abschaf-
fen, wenn es die Kommunalfinanzen zuließen. Sie haben
die Möglichkeit, die Kommunalfinanzen entsprechend zu
ändern und damit die Voraussetzungen für eine Zustim-
mung der Länder zu schaffen.


(Beifall bei der PDS)

Den Einwand kann ich als Argument gegen ein solch un-
würdiges Gesetz wirklich nicht gelten lassen.

Sie waren so freundlich, die Regelsätze und die unter-
schiedlichen Existenzminima schon zu benennen, die be-
weisen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz ein diskri-
minierendes Sondergesetz ist. Es schafft Menschenwürde
auf Rabatt. In Berlin wird es wirklich restriktiv ausgelegt.
Sie kennen die Meldungen, die von den hiesigen Verbän-
den dazu veröffentlicht werden. Ich habe keinen Grund,
an diesen Zuständen zu zweifeln.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415017500
Frau Kollegin Maier,
es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage der Abge-
ordneten Beck.




Dr. Heinrich L. Kolb
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(D)



(A)



(B)



Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1415017600
Ja.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Kollegin, helfen Sie mir doch bitte einmal mit
meinem Gedächtnis – ich weiß es jetzt nicht genau –: Gibt
es eigentlich aus dem rot-rot regierten Land Mecklen-
burg-Vorpommern eine Bundesratsinitiative, das Asylbe-
werberleistungsgesetz zu streichen?


Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1415017700
Nein, soweit ich weiß, nicht. Auch
Mecklenburg-Vorpommern mit einer rot-roten Regierung
konnte sich dazu bislang nicht durchringen. An dieser
Entscheidung sind aber sicherlich beide Koalitionspartner
beteiligt.


(Waltraud Wolff eben auch Sie! – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das Sein bestimmt offensichtlich das Bewusstsein!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415017800
Frau Kollegin, Sie
müssen dann bitte zum Schluss kommen.


Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1415017900
Ich komme zum Schluss. Ich
möchte Sie noch einmal daran erinnern, dass im Novem-
ber hier in Berlin über 100 000 Menschen auf der Straße
waren, um für Toleranz und Menschlichkeit zu de-
monstrieren. Auch viele Mitglieder dieses Hauses waren
bei dieser Demonstration, die sich gegen die aktuellen
Ausschreitungen richtete, anwesend. Mit der Kriminali-

sierung, die das Asylbewerberleistungsgesetz voran-
treibt, schaffen Sie weitere Argumente für die Menschen,
gegen Ausländer und für rassistische Diskriminierung zu
sein. Die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgeset-
zes, das heißt deutliche Schritte in diese Richtung wären
sicherlich ein Zeichen, das wirksamer wäre als 100 000
Menschen auf der Straße, die Sie offensichtlich alle
schon wieder vergessen haben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415018000
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der
Fraktion der PDS zur Aufhebung des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes, Drucksache 14/4695. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3381 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 14. Februar 2001, 13 Uhr ein.

Die Sitzung ist geschlossen.