Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle zu unserer Plenarsitzung.Wir beginnen heute Morgen mit dem Zusatzpunkt 4:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines In-tegrationsgesetzesDrucksache 18/8615Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Dagegen gibtes offenkundig keine Einwände. Also können wir so ver-fahren .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst für die Bundesregierung dem Innenminister Tho-mas de Maizière .
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Un-ser Land steht beim Thema Integration vor einer gewal-tigen Aufgabe. Die Bewältigung dieser Aufgabe ist nichtgetan mit schönen Worten, sondern beginnt mit Einsich-ten über gelungene und misslungene Integration und mitEntscheidungen über den Weg, den wir als Gesellschaftgehen wollen.In Deutschland leben über 16 Millionen Menschen,die selbst oder ihre Eltern oder ihre Großeltern Wurzelnim Ausland haben. Zur Wahrheit gehört, wenn es um ge-lingende Integration geht, zwei Realitäten zu beschrei-ben .Erstens. Unter ihnen sind viele Menschen, die ihreChancen genutzt haben. Sie haben eine Ausbildung ge-macht oder ein Handwerk gelernt. Sie studieren oderhaben studiert . Sie haben Betriebe gegründet . Sie gebenMenschen Arbeit und bringen unser Land voran. VieleEltern, die als junge Menschen ihre Heimat verließen,erziehen ihre Kinder gut und ermöglichen ihnen eineAusbildung, oft eine bessere, als sie selbst genossen ha-ben. Alle diese Menschen sind Teil unseres Landes. Die-se Menschen bereichern unser Land, und das sollten wirauch immer klar aussprechen.
Zweitens. Es gibt aber auch eine andere Realität:An einigen Stellen in Deutschland leben Menschen mitausländischen Wurzeln, die sich kaum oder gar nicht inunser Land einbringen. Sie leben ein Leben unter sich,fast ohne Kontakte zu Deutschen und ohne Einbindun-gen in unsere Gesellschaft. Sie sprechen kaum Deutschoder wollen es nicht und haben auch keinen ordentlichenArbeitsplatz. Manche junge Männer unter ihnen begehenauffällig häufig Straftaten. Viele grenzen sich ab, mancheüber die Religion, andere über abwegige Vorstellungenvon Ehre oder über beides. Die Lehrer in den Schulender entsprechenden Gegenden schaffen es oft nicht, diefehlenden Deutschkenntnisse der Kinder aufzufangen,von Wertevermittlung und Bildungsperspektive ganz zuschweigen .Solche Einsichten über beide Realitäten in unseremLand tun weh, auch weil Teile dieser Entwicklung mitFehlern unserer eigenen Vergangenheit zu tun haben:verträumte Blicke auf schwierige Integrationsaufgaben,Ghettobildungen in Städten und Gemeinden, zu vielelose Wünsche und zu wenige klare Erwartungen. Tunwir gemeinsam alles dafür, dass sich solche Fehler nichtwiederholen.
Heute geht es nicht um die Zuwanderer der vergange-nen Jahrzehnte . Es geht übrigens auch nicht um Einwan-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617186
(C)
(D)
derer . Insofern geht die Debatte um ein Einwanderungs-gesetz – jedenfalls heute – am Thema vorbei.
Denn heute geht es um die Integration von Menschen, dieals Flüchtlinge zu uns gekommen sind, die hier Schutzsuchen und bleiben dürfen. Welchen Weg wollen wir alsGesellschaft gehen? Was erwarten wir von diesen Men-schen?Unsere Bevölkerung hat den Willen, diejenigen, dieSchutz brauchen und eine Bleibeperspektive haben, hierzu integrieren. Diesen Willen wollen wir bewahren. Da-für brauchen wir Integrationsmaßnahmen. Dafür brau-chen wir aber auch ihr Vertrauen, dass der Rechtsstaatdas bestehende Recht auch durchsetzt .
Das bedeutet Aufnahme und Integration der Menschenmit Bleibeperspektive einerseits, konsequente Ausreise,notfalls Abschiebung der Menschen ohne Bleiberechtandererseits .Ich lege heute zusammen mit meiner Kollegin AndreaNahles das erste Integrationsgesetz für Deutschland vor.Das ist eine entscheidende Zäsur für unser Land. FrauNahles und ich haben eine gemeinsame Federführung.Das ist kein Kompromiss, sondern sachgerecht. Aufent-haltsrecht, Unterbringung, Sprache, Werte und Arbeit,das sind die Maßstäbe für gelingende Integration, unddas geht nur gemeinsam .
Mit diesem Gesetzentwurf machen wir den Menschenmit Bleibeperspektive ein Angebot: Wir ermöglichen ih-nen Ausbildung, Spracherwerb und Einbindung in daswirtschaftliche, kulturelle und rechtliche Gefüge unseresLandes. Dafür erwarten wir Einsatzbereitschaft, Interes-se am Leben in Deutschland und Respekt für die gewach-senen Grundlagen unseres Miteinanders. Wer dazu bereitist, hat hier alle Chancen. Wer dazu nicht bereit ist, demwird es in Deutschland nicht gut gehen.
Wir wollen, dass die, die hierbleiben, Neubürger un-seres Landes werden, also Menschen, die sich für unserRecht, unsere Sprache und unsere Kultur öffnen – auchwenn sie nicht oder noch nicht deutsche Staatsbürgerwerden sollen. Mit dem Integrationsgesetz machen wirdie Erbringung von Integrationsleistungen für alle Men-schen mit Bleibeperspektive sozusagen zu einer Neu-bürgerpflicht. Wir verpflichten mehr als bisher zur Teil-nahme an Integrationskursen, bieten gleichzeitig mehrPlätze an. Wir erhöhen die Stundenzahl. Wir vertiefendie Wertevermittlung. Wir erhöhen die Vergütung fürIntegrationslehrkräfte, und wir sagen auch: Integrationbraucht Regeln, braucht Vorgaben. Das geht nicht vonselbst. Den Rechten stehen Pflichten gegenüber. Das istnicht hart, sondern das ist fair und ganz normal in unse-rer Gesellschaft. Das machen wir unbestritten auch sonstüberall.Wir wollen nicht, dass sich anerkannte Flüchtlingeausschließlich dort niederlassen, wo ihre Sprache, ihreHerkunft oder ihre Religion vorherrscht. Das schadeteher der Integration, als dass es ihr nützt.
Jeder muss seine Chance zum Aufstieg und zur Integra-tion dort suchen, wo sie sich bietet, nicht dort, wo er diemeisten Leute kennt. Mit dem Gesetz können – können,nicht müssen – die Länder anerkannten Flüchtlingen ei-nen Wohnort zuweisen oder ihnen den Zuzug in einenbestimmten Ort verwehren, solange sie keine feste Arbeithaben. Wenn sie eine feste Arbeit haben, dann können sieselbstverständlich dorthin gehen, wo ihr Arbeitsplatz ist.Aber wir wollen keine Ghettos für Menschen, die vonSozialleistungen abhängig sind, weil diese Integrationnicht oder jedenfalls nicht so leicht möglich machen.
Wir ändern außerdem die Voraussetzungen für ein un-befristetes Aufenthaltsrecht in Deutschland. Wer als an-erkannter Flüchtling ein solches Recht haben will, mussSprachkenntnisse vorweisen und seinen Lebensunterhaltüberwiegend sichern können, wie übrigens alle anderenAusländer auch, die hier dauerhaft leben wollen.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, all das hat auch zu Kritik geführt. Warumauch nicht? Einige behaupten, das Gesetz sei vom Geistdes Misstrauens geprägt, Integration gelinge nicht un-ter Druck. Richtig ist aber etwas anderes: Hinter diesenMaßnahmen steht ein Prinzip, das in unzähligen Berei-chen unseres Alltages selbstverständlich ist. Wir habenin Deutschland zum Beispiel die allgemeine Schulpflicht,auch mit Sanktionen bei Verstößen. Niemand würde aufdie Idee kommen, dieses System an Schulen führe zu ei-nem Geist des Misstrauens und nehme den Schülern dieFreude am Lernen. Wir haben die Pflicht zur elterlichenSorge in Deutschland. Niemand würde auf die Idee kom-men, das führe zu der Unterstellung, es gäbe überwie-gend schlechte Väter oder schlechte Mütter in Deutsch-land. „Fördern und Fordern“ ist das richtige Prinzip innahezu allen Bereichen unserer Gesellschaft. Auch fürdie Integration ist es deswegen ein richtiges Prinzip .
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluss noch ein Wort zur Atmosphäre in unserer Gesell-schaft sagen, die die Integration begleitet oder begleitensollte. Wir brauchen ein Klima der gegenseitigen Auf-geschlossenheit und anständiger Beziehungen zwischenden Menschen, die hier leben. Wenn wir uns unsererStärken bewusst sind, wenn wir an die Kraft der Freiheitglauben, dann brauchen wir keine Angst vor Überfrem-dung unserer Gesellschaft zu haben.Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17187
(C)
(D)
Wir müssen uns zusammen gegen jene stellen, dieoffene oder verdeckte Fremdenfeindlichkeit als sozialePolitik etablieren wollen.
Populisten haben unser Land noch nie auch nur einenZentimeter weitergebracht. Sie sind das Gegenteil vonder Kultur, auf der unsere politische und menschlicheOrientierung beruhen sollte. Die Integration der Men-schen, die bleiben dürfen, liegt in unserem eigenen, ichsage: in unserem nationalen Interesse.Am Rande zu stehen und Noten zu vergeben reichtnicht aus. Bei dieser gewaltigen Aufgabe müssen allemitmachen . Das tun wir nicht nur für die Menschen mitBleibeperspektive; das tun wir auch für uns, das tun wirfür Deutschland.
Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, möchte ich
auf der Besuchertribüne über 300 Stipendiatinnen und
Stipendiaten aus unserem Parlamentarischen Paten-
schafts-Programm begrüßen, die in diesen Tagen ihren
Berlin-Besuch absolvieren. Herzlich willkommen im
Wohn- und Arbeitszimmer des deutschen Parlamentaris-
mus .
Ich nutze die Gelegenheit gerne, um mich bei all den
Kolleginnen und Kollegen zu bedanken, die zum Teil seit
vielen Jahren als Patinnen und Paten die jungen Stipen-
diatinnen und Stipendiaten betreuen . Dies ist eines der
ehrgeizigsten, sicher aber auch eines der wirkungsvolls-
ten Programme, die der Deutsche Bundestag jemals auf-
gelegt hat.
Nun hat die Kollegin Dağdelen für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Herr Minister de Maizière! Frau MinisterinNahles! „Integration“ steht zwar auf Ihrem Gesetzent-wurf, aber in Ihrem Gesetzentwurf ist genau das Ge-genteil enthalten. Deshalb haben zu Recht beide großenKirchen, das Deutsche Institut für Menschenrechte, vieleverschiedene Flüchtlingsverbände, Organisationen undInitiativen Ihren Gesetzentwurf in der Luft zerrissen,weil es der Entwurf eines Integrationsverhinderungsge-setzes ist .
Integration soll ausgeschlossene soziale Gruppen indie Gesellschaft hereinholen, doch hier geschieht genaudas Gegenteil: Ausgeschlossene Gruppen sollen gegenei-nander ausgespielt werden. Denn zahlreiche Maßnahmenin diesem Gesetzentwurf sehen beispielsweise vor, hiereinen neuen Billiglohnsektor zu schaffen.
Unter dem Deckmantel der Menschenfreundlichkeit willSPD-Arbeitsministerin Nahles hier ein neues Werkzeugzum Lohndumping etablieren.
Allein für 100 000 Flüchtlinge soll Arbeit zu Stundenlöh-nen von 80 Cent geschaffen werden. Denn gegenüberden ohnehin schon miesen 1-Euro-Jobs wird der Lohnbei den Flüchtlingen noch um 20 Prozent gekürzt. DieBegründung ist, Flüchtlingen entstünden ja keine Mehr-aufwendungen für Arbeitskleidung oder Fahrtkosten,wenn sie in Sammelunterkünften tätig würden. Ich finde,das ist unerträglich, Frau Ministerin.
So geht die Lohnspirale nämlich nach unten, und Flücht-linge werden in Konkurrenz zu Einheimischen gesetzt.
Hier wird nicht integriert, sondern gespalten, meineDamen und Herren . Hier werden keine Menschen in-tegriert, sondern es wird direkt darauf gezielt, Armuts-löhner im Niedriglohnbereich auch noch gegeneinanderauszuspielen.
Das, meine Damen und Herren von der Union und vonder SPD, kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein. Das,was Sie da bauen, ist ein regelrechter Rassismusmotor.
– Wir brauchen in diesem Land eine soziale Offensive füralle und keine Spaltung gerade im Niedriglohnbereich,die diejenigen betrifft, welche sowieso zu wenig verdie-nen, meine Damen und Herren .
Sie fördern nicht die Solidarität der Beschäftigten, son-dern Sie etablieren eine Schmutzkonkurrenz auf dem Ar-beitsmarkt . Das hat nichts mehr mit Integration zu tun .
Genau das hat auch der Deutsche Gewerkschaftsbund inseiner Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf gesagt,meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie.Er hat den Gesetzentwurf in der Luft zerrissen – insbe-sondere die Regelungen zur Einführung von Arbeitsge-legenheiten, die vor allem von privatwirtschaftlich täti-gen Trägern von Erstaufnahmeeinrichtungen und auchGemeinschaftsunterkünften genutzt werden können. DieMöglichkeiten des Einsetzens von Asylbewerbern in derBundesminister Dr. Thomas de Maizière
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617188
(C)
(D)
Leiharbeit wurden vom DGB massiv kritisiert. Ich finde,diese Kritik des DGB ist mehr als berechtigt, meine Da-men und Herren .
Das müsste Ihnen doch wirklich zu denken geben. DieLinke fordert jedenfalls, dass dieses Lohndumpingpro-jekt sofort eingestellt wird. Wir brauchen das Prinzip„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“, mei-ne Damen und Herren .
Wir brauchen auch – das gilt eben auch für Flüchtlingeund alle anderen, die sich im Niedriglohnbereich befin-den – einen flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von12 Euro .
Denn nur dann stellen wir sicher, dass es nicht wiedereinen Armutslohn gibt, der dann auch noch von der Ge-sellschaft – ob im Arbeitsleben oder bei der Rente – sub-ventioniert wird .Eine weitere Maßnahme dieses Gesetzes setzt ebensoauf Desintegration, meine Damen und Herren . Mit derForderung nach einer Wohnsitzauflage wird eine Integra-tion nämlich regelrecht hintertrieben. Denn was bedeu-tet eigentlich eine Wohnsitzauflage? Sie bedeutet, dassFlüchtlinge in Regionen angesiedelt werden sollen, wel-che von den Menschen dort mangels Perspektive bzw.Arbeitsmöglichkeiten reihenweise verlassen werden. Soetwas kann doch wirklich nicht funktionieren. Durch sol-che absurden Forderungen verhindern Sie doch die För-derung dieser Menschen .
Dies bedeutet auch, dass Menschen private Netzwerkedort nicht benutzen können, wo sie Familie, Verwandteund Freunde haben, was für die Arbeitsuche und die För-derung von Arbeitsmöglichkeiten wichtig ist. Das behin-dern Sie eben mit dieser Wohnsitzauflage. Sie handelnhier ganz nach dem zaristischen Entwicklungsmodell fürSibirien, meine Damen und Herren .
Das hat nichts mehr mit Entwicklung und Arbeitsmarkt-förderung zu tun. Ich finde, Integration heißt doch nicht,Menschen lediglich in leerstehende Wohnblöcke zu pfer-chen. Was glauben Sie denn, was los ist? Sie und ich wür-den ja auch nicht irgendwohin ziehen, wo es vielleichtWohnungen, aber keine Arbeitsmöglichkeiten bzw. Per-spektiven für unsere Familien gibt. Deshalb sagen wir:Wir sind – wie auch viele Verbände – gegen eine Wohn-sitzauflage, die ganz nebenbei auch gegen ein DutzendMenschenrechtskonventionen verstößt.
Ein weiterer Punkt wurde von Herrn Minister deMaizière kurz angesprochen. Pro Asyl, Herr Minister deMaizière, hat gesagt, dass Ihr Gesetzentwurf rechte Stim-mung in Deutschland bedient, indem suggeriert wird,dass sich Flüchtlinge nicht integrieren wollen. Genau dasist seit Jahren auch die Beobachtung der Linksfraktionhier. Seit längerem schon agitieren Sie in der Öffentlich-keit bezüglich vermeintlicher Integrationsverweigerer.Auf beständiges Nachfragen meiner Fraktion aber habenSie selbst gesagt, dass Ihnen keine Daten beispielsweisedarüber vorliegen, wer aus welchem Grund Integrations-kurse verweigert und um wie viele Menschen es sich da-bei handelt. Sie können nicht sagen, ob die Menschenvielleicht eine Arbeit gefunden haben, krank gewordenoder umgezogen sind oder ob eine Frau ein Kind bekom-men hat . Sie wissen es nicht, und trotzdem propagierenSie hier ständig, dass sich Flüchtlinge weigern würden,die Kurse zu besuchen.Dabei hat der ehemalige Chef des Bundesamtes fürMigration und Flüchtlinge, Herr Schmidt, gesagt, dassIhnen Daten vorliegen, die besagen, dass nur 1 Prozentder Flüchtlinge die Kurse nicht besucht. Wegen 1 Prozentmachen Sie seit Jahren eine Stimmung gegen Flüchtlingeund sagen, diese würden sich den Kursen und anderenAngeboten verweigern. Dabei sieht die Realität dochganz anders aus .Die Wahrheit ist: Seit zehn Jahren gibt es diese Inte-grationskurse, und seit zehn Jahren werden es immerweniger Kurse, dabei steigen der Bedarf und die Nach-frage aufgrund der Flüchtlinge. Ich finde es schändlich,dass Sie immer noch Stimmung gegen vermeintliche In-tegrationsverweigerer machen. Schaffen Sie endlich dieKurse! Schaffen Sie so viele, wie verlangt werden! Dannsprechen wir über die Kurse.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz einen weite-ren Punkt ansprechen. Laut Deutschem Institut für Men-schenrechte ist der vorliegende Gesetzentwurf weder mitdem Recht auf Asyl gemäß Artikel 16a des Grundgeset-zes noch mit flüchtlings- und menschenrechtlichen Vor-gängen in Einklang zu bringen; denn Sie wollen versteckt§ 29 des Asylgesetzes ändern. Demnach sind Asylantrag-steller künftig abzuschieben, und zwar ohne inhaltlichePrüfung vor Ort, wenn ein Drittstaat sich bereit erklärt,diese Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist der größte An-griff auf das Grundrecht auf Asyl seit 1992. Das Grund-gesetz garantiert die ergebnisoffene Einzelfallprüfung.Mit Ihrem Gesetz können noch mehr Flüchtlinge ohneinhaltliche Prüfung in andere Staaten abgeschoben wer-den, in denen ihr Schutz vor Abschiebung in den Verfol-gerstaat und ihr Zugang zu einem fairen Asylverfahreneben nicht mehr garantiert sind .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das ist wirklich schäbig. Das ist ein Angriff auf unserGrundgesetz. Deshalb werden wir sowie die Verbände,Sevim Dağdelen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17189
(C)
(D)
die das massiv kritisiert haben, gegen diesen Gesetzent-wurf Widerstand leisten.
Hören Sie mit dem Unfug auf.
Frau Kollegin!
Machen Sie das Grundgesetz nicht noch einmal zum
Steinbruch .
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Bundesministerin für Arbeitund Soziales, Andrea Nahles.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und So-ziales:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Bitte Arbeit!“ – ich habe in den letzten Monaten auchpersönlich erleben dürfen, mit wie viel Energie, mit wieviel Willen die Menschen, die zu uns gekommen sind,versuchen, sich eine neue Zukunft aufzubauen, und dasnach einschneidenden Erlebnissen, nach Erfahrung vonGewalt, Krieg, langer Flucht und Verlust.„Bitte Arbeit!“ – das sind oft die ersten deutschenWorte, die viele lernen und auch lernen wollen, weil siegar nicht abhängig sein wollen, weil sie es hassen, nichtarbeiten zu können, weil ihnen vielleicht noch Vorausset-zungen wie Sprache oder zum Beispiel der Status fehlen,die sie brauchen, um arbeiten zu können. Vielleicht sinddie ersten Worte auch deswegen „Bitte Arbeit!“, weil siewissen, weil auch wir wissen: Der beste Weg zu Integra-tion ist der Weg in Arbeit .Der heute hier vorliegende Entwurf eines Integrati-onsgesetzes ist so wichtig, weil wir damit die klare Bot-schaft aussenden: Wir wollen es gemeinsam mit diesenMenschen schaffen, dass sie den Weg in den deutschenArbeitsmarkt erfolgreich gehen können, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
Kollege de Maizière hat es sehr deutlich gesagt: Dasist keine Kleinigkeit, das geht auch nicht mal eben sonebenher. Das wird eine große Anstrengung werden: fürdie, die zu uns kommen, genauso wie für uns, weil wirdie Bringschuld haben, Angebote zu machen.Umgekehrt stehe ich voll hinter dem Gesetz, wenn esum die Mitwirkungspflichten geht, die es geben muss.Angebote machen, Chancen geben, das heißt auf der an-deren Seite auch: Mitwirken. Ehrlich gesagt: Das halteich für einen fairen Deal. Ich kann nicht nachvollziehen,dass sich an dieser Stelle so viel Kritik entzündet hat.Wie sollten wir es denn anders machen als genau auf die-se Weise?
Die Menschen, die zu uns gekommen sind, habenHoffnungen, Fähigkeiten, Potenzial, Kreativität und Ehr-geiz. Und dass sie zu uns kommen, das war weiß Gottnicht so geplant, es war überhaupt nicht geplant. Aberwir können doch jetzt feststellen: Es ist auch eine Rie-senchance. Und es ist keine Alternative für Deutschland,diese Menschen auszugrenzen, zu diffamieren, anzu-greifen und zu verletzen. Es ist auch keine Alternativefür Deutschland, dass wir an dieser Stelle Vorurteile undÄngste schüren . Die einzige Sache, die wir machen müs-sen, ist Integration, Integration, Integration .
Die Situation ist sehr gut; denn 70 Prozent derjenigen,die zu uns gekommen sind, sind unter 30 Jahren. Dasheißt für mich, dass sie von Leistungsempfängern, die sievielleicht eine Weile sein werden, ohne Weiteres mit derHilfe, die wir ihnen hiermit geben, zu Leistungsträgernunserer Gesellschaft werden können, wenn die Integra-tion gelingt. Das ist eine gute Nachricht für unser Land.
Wir beginnen mit diesem Integrationsgesetz nicht beinull. Wir haben eine ganze Reihe gesetzlicher Verände-rungen schnell auf den Weg gebracht, um auf die neueSituation zu reagieren. Als Beispiel nenne ich, dass wirdafür gesorgt haben, dass schon nach drei Monaten, alsosehr schnell, ein Zugang zum Arbeitsmarkt besteht. DerEntwurf des Integrationsgesetzes, den Herr de Maizièreund ich heute hier vorlegen, geht aber einen Schritt wei-ter . Er nimmt den ganzen Prozess der Integration in denBlick, hat eine längere Perspektive – nicht Sprint, son-dern Langstrecke –, und die werden wir auch brauchen.Wir stecken Wegmarken für die Flüchtlinge. Das be-ginnt in der Erstaufnahmeeinrichtung, wo wir für dieMenschen, die bisher keinen Zugang zum Arbeitsmarkthaben – sie sind ausgeschlossen von jeder sinnvollen Be-tätigung, solange sie nicht den entsprechenden Status ha-ben und im SGB-II-Bezug sind –, Arbeitsgelegenheitenschaffen . Ich darf Ihnen versichern, dass es bei diesenMenschen hochwillkommen ist, dass sie sich endlich ein-bringen können in diese Gesellschaft.
Vielerorts helfen die Flüchtlinge in den Unterkünf-ten, in der Küche oder der Wäscherei. Aber wir wollen,dass sie auch rauskommen, dass sie erste Kontakte mitder Arbeitswelt machen können. In Tübingen beispiels-weise helfen sie in der Stadtbücherei oder kümmern sichbei der Feuerwehr um die Autos – das hilft im Übrigenauch den Kommunen –, und nachmittags geht es dannzum Deutschkurs. So kann man lernen und ankommen inSevim Dağdelen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617190
(C)
(D)
dieser Gesellschaft. Deshalb ist das, was wir hier heuteauf den Weg bringen, eine wichtige und gute Maßnahme.
Ich stehe im Übrigen zur Wohnsitzauflage. Auch alsArbeitsministerin stehe ich zur Wohnsitzauflage, um daseinmal ganz klar zu sagen; denn Ghettobildungen kannnun wirklich niemand wollen. Aber es gibt Tendenzenin diese Richtung . Man braucht eine Wohnung, aberman braucht auch einen Arbeitsplatz, und das ist nichtdasselbe. Deswegen brauchen wir diese Regulierungen.Deswegen stehe ich in vollem Umfang dazu. Wir habeneinen guten Kompromiss gefunden, der beide Aspek-te gleichrangig berücksichtigt. Warum nicht? Ich kannIhnen aus der Erfahrung der BA berichten: Im Sieger-land bieten wir Kurse mit 70 Plätzen an, aber über Nachtziehen die Teilnehmer nach Gelsenkirchen, weil sie dajemanden kennen. Dazu kann ich als Arbeitsministerinnur sagen: Schlechte Entscheidung! Deswegen machenwir die Wohnsitzauflage und passgenaue Angebote, umden Menschen eine Perspektive zu geben . Wer eine so-zialversicherungspflichtige Beschäftigung hat, der kannselbstverständlich umziehen. Wer woanders einen Aus-bildungsplatz hat, kann umziehen. Wir kasernieren dieLeute doch nicht, sondern wir wollen ihnen helfen, Ar-beit zu finden und nicht nur eine Wohnung, was am Endedes Tages eben nicht reicht .
Wir machen hier einen wirklich substanziellen Fort-schritt in Sachen Ausbildung. Es gab bisher eine Rege-lung, nach der man als Flüchtling bzw. Geduldeter nachdem 21. Lebensjahr nicht in eine Ausbildung gehen durf-te. Das ist eine mir nicht ganz verständliche Regel; diegab es aber. Diese Regel haben wir jetzt abgeschafft. Wirschaffen Planungssicherheit für die Betriebe und für dieBetroffenen, indem wir ihnen eine Duldung geben fürdie ganze Zeit der Ausbildung. Danach können sie einhalbes Jahr suchen, und dann bekommen sie für zweiJahre einen Aufenthaltstitel. Kurzum: Sie können sichhier auf eine Ausbildung einlassen; sie und die Betriebehaben Rechtssicherheit. Das ist der goldene Weg: Diese70 Prozent derjenigen, die zu uns gekommen sind, dieunter 30-Jährigen, sind in Ausbildung zu bringen. Hey,die Leute können wir in diesem Land gut gebrauchen.
Ich habe gestern mit Frau Wanka das Spitzentreffender Partner der Allianz für Aus- und Weiterbildung ge-leitet. Es gibt 41 000 offene Ausbildungsplätze. VieleHandwerker suchen Auszubildende. – Wunderbar, es gibtChancen in unserem Land. Lassen Sie uns diese Chancenzusammen ergreifen .
Ich denke, wir haben eine große Aufgabe vor uns,aber wir haben auch viele motivierte Leute, sowohl beider Bundesagentur für Arbeit als auch bei den einzelnenAnbietern, bei den Volkshochschulen, bei vielen anderenTrägern, die sich wirklich kümmern, und bei den Wohl-fahrtsverbänden.Wir haben diese Situation nicht nur am Anfang er-lebt, als so viele kamen, sondern es wird sich weiter mitgroßer Anstrengung und großer Offenherzigkeit geküm-mert und bemüht, und vor diesem Hintergrund bin ichzuversichtlich, dass wir mit diesem Gesetz die Grundlagelegen für passende Integration. Dass wir darüber hinausmehr brauchen, ein Einwanderungsgesetz, steht auf ei-nem anderen Blatt. Das ist auch wichtig, darüber debat-tieren wir ein anderes Mal.Heute haben wir das Integrationsgesetz auf dem Tisch .Und in diesem Sinne: Wir wollen es anpacken. Bitte, bit-te schauen Sie einfach auch mal in das Gesetz rein.
Dann wird man nämlich feststellen, dass vieles, was esin der Öffentlichkeit, mit Verlaub, an Diskussionen dazugegeben hat, haarscharf daneben geht .Vielen Dank.
Die Empfehlung, in Gesetzestexte reinzugucken, die
zur Beratung und Verabschiedung anstehen, empfiehlt
sich eigentlich fast immer, dieses Mal aber ganz beson-
ders .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr deMaizière, Frau Nahles, ja, Sie haben recht: Die Integra-tion Hunderttausender Flüchtlinge in den Arbeitsmarktist trotz guter Voraussetzungen eine riesige Herausforde-rung, die Jahre in Anspruch nehmen wird . Aber wenn dasgelingen soll, dann müssen wir wirklich konsequent aufIntegration setzen,
und genau das tut dieses Gesetz nicht. Ich will es ein-mal mit den Worten meines Ministerpräsidenten StephanWeil aus Niedersachsen – in Klammern: SPD – sagen –ich zitiere –: Mit diesem Gesetz wird die Integration inden Arbeitsmarkt Stückwerk bleiben.
Ich fürchte, dass mein Ministerpräsident wieder mehrrecht hat, als uns allen lieb sein kann.Ja, es gibt positive Elemente in diesem Gesetz. FrauNahles, Sie haben es gesagt, dass Flüchtlinge jetzt eineDuldung erhalten, die in Ausbildung sind. Das ist einFortschritt, aber, Frau Nahles, Sie wissen auch: Eine Dul-Bundesministerin Andrea Nahles
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17191
(C)
(D)
dung ist keine sichere Bleibeperspektive, sondern sie istlediglich die Aussetzung einer Abschiebung,
und bei Abbruch einer Ausbildung findet sofort diese Ab-schiebung statt. Dazu muss man allerdings wissen, dass25 Prozent der deutschen Auszubildenden ihre Ausbil-dung abbrechen und sich während der Ausbildung neuorientieren. Für die Flüchtlinge bedeutet das, dass dasDamoklesschwert der Abschiebung weiterhin über ihrenKöpfen hängt. Frau Nahles, das ist keine gute Entschei-dung .
Ich finde, auch die Aussetzung der Vorrangprüfung istein Schritt in die richtige Richtung, und positiv finde ichim Prinzip ebenfalls, dass die Ausbildungsförderung ge-öffnet werden soll. Aber, Frau Nahles, sagen Sie mir malehrlich: Für Geduldete gilt die Berufsausbildungshilfeerst nach sechs Jahren? Da ist das Kind doch längst inden Brunnen gefallen.
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass dieses Gesetznicht konsequent auf Integration setzt, sondern durchzo-gen ist von dem Geist der Ausgrenzung, und damit lässtsich wirklich keine konsistente Integrationspolitik betrei-ben .
Meine Damen und Herren, wenn Herr Gabriel dannvor die Presse tritt und sagt, das Gesetz sende die Bot-schaft aus: „Wer sich reinhängt, aus dem wird hier auchwas“, dann frage ich: Meint er die Afghanen? Meint erdie Somalier? Meint er die Sudanesen? Meint er diesevielen, vielen Menschen, die sich noch so reinhängenkönnen und noch nicht mal einen Integrationskurs krie-gen, von Arbeitsförderung ganz zu schweigen?
Das ist das Hauptproblem Ihres Gesetzentwurfes: Siebleiben bei der realitätsfernen Einteilung nach vermeint-lich guter oder schlechter Bleibeperspektive und schlie-ßen damit mehr als die Hälfte aller Asylbewerberinnenund Asylbewerber aus.
Wenn wir hier von Fördern und Fordern sprechen, dannsage ich: Das ist Integrationsverweigerung. Dafür solltees Sanktionen geben .
Mit dieser Ausgrenzung schaffen Sie genau die Pro-bleme, die die Rechtspopulisten mit ihren Äußerungenheraufbeschwören. Sie treiben damit die Spaltung in derGesellschaft voran. Liebe Frau Nahles, 100 000 1-Eu-ro-Jobs werden dieses Problem nun wirklich nicht lösen.
Sie wissen genau, dass 1-Euro-Jobs qua Definition ar-beitsmarktfern sind . Wie Sie damit die Integration in Ar-beit gestalten wollen, müssen Sie uns allen mal erklären.
Nein, die Flüchtlinge müssen in die Betriebe. Sie müs-sen den betrieblichen Alltag in Deutschland kennenler-nen. Deswegen fordern wir nicht 100 000 1-Euro-Jobs,sondern 100 000 Einstiegsqualifizierungen, die übrigensauch ein sehr gutes Konzept dafür sind, Flüchtlinge füreine duale Ausbildung zu interessieren.
Wir Grüne wollen Integration. Wir wollen, dass siegelingt. Dafür gibt es in diesem Gesetzentwurf noch ver-dammt viel Luft nach oben. Je länger Sie auf der Bremsestehen, liebe Ministerin, desto höher wird der Preis, undzwar in jeder Hinsicht, sowohl für die Flüchtlinge alsauch für uns. Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf in denBeratungen korrigieren .Ich danke Ihnen .
Daniela Kolbe ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Asyl ist ein humanitäres Grundrecht. Da gehtes erst einmal darum, ob jemand Schutz braucht odernicht, und nicht darum, ob er die deutsche Sprache kannoder was für eine Ausbildung er oder sie hat. Aber wenndiese vielen Menschen nun schon einmal hier sind undüberwiegend hier bleiben, dann wären wir doch mit demKlammerbeutel gepudert, wenn wir es ihnen nicht er-möglichen würden, sich möglichst schnell in diese Ge-sellschaft einzubringen und in ihr zurechtzufinden.
Das ist jedenfalls die Grundposition und Haltung der So-zialdemokraten.Wir haben jetzt die Chance, aus dieser gigantischenHerausforderung eine Win-win-Situation zu machen .Das tun wir mit diesem Integrationsgesetz . Ich schauenoch einmal zur Kollegin Dağdelen. Ich erwarte ja vonder Opposition Kritik – das ist auch richtig so; dafür sindSie Opposition –, ich erwarte aber genauso, dass Sie sichdas Gesetz einmal anschauen, durchlesen und sich genauansehen, was dort steht .
Brigitte Pothmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617192
(C)
(D)
In dem Gesetzentwurf schreiben wir, was wir erwar-ten, aber vor allem eröffnen wir Chancen auf Teilhabe,zum Beispiel am Arbeitsmarkt. Die bürokratische Vor-rangprüfung wird an vielen Stellen der Bundesrepublikausgesetzt werden. Wir öffnen die Ausbildungsförde-rungen, etwa die Berufsvorbereitung oder die Assistier-te Ausbildung und auch die Berufsausbildungsbeihilfe,weiter .Ich möchte vor allen Dingen noch einmal auf die so-genannte Drei-plus-zwei-Regelung eingehen. Viele Un-ternehmer, viele Unternehmerinnen wollen Flüchtlingengerne einen Ausbildungsplatz organisieren. Sie schre-cken dann aber zurück, weil sie nicht wissen können,was in einem halben Jahr ist, ob der Flüchtling dann nochda ist oder schon wieder abgeschoben worden ist . Demsetzen wir jetzt eine sehr sinnvolle Regelung entgegen.Wer eine Ausbildung beginnt, erhält eine Duldung für diegesamte Dauer der Ausbildung, und zwar nicht vielleichtoder unter Umständen, sondern er oder sie bekommt die-se Duldung. Das gibt Rechtssicherheit für die betroffe-nen jungen Leute, aber eben auch für die Unternehmen.
Danach gibt es die Möglichkeit, eine Aufenthalts-erlaubnis für zwei Jahre zu bekommen, um weiter zuarbeiten. Wenn keine Weiterbeschäftigung im Ausbil-dungsbetrieb erfolgt, wird die Duldung um sechs Mo-nate verlängert, um nach einem Arbeitsplatz suchen zukönnen. Das ist ein grandioser Schritt für die Unterneh-men und auch für die Menschen. 70 Prozent der zu unsGekommenen sind unter 30 Jahre alt. Das wird die dua-le Ausbildung in Deutschland weiter stärken. Das wün-schen wir uns doch alle.Es ist ein guter Gesetzentwurf, über den wir hier spre-chen. Aber es gibt sicherlich auch den einen oder ande-ren Punkt, an dem er noch besser werden kann. Viele inmeiner Fraktion fragen sich beispielsweise, warum einegute Bleibeperspektive bei einer strikten Schutzquoteab 50 Prozent festgemacht wird, sie also nicht für Men-schen zutrifft, die etwa aus Afghanistan kommen, wo dieSchutzquote derzeit bei knapp 50 Prozent liegt. Das isteine spannende Frage, über die wir sprechen sollten.
Aber auch bei der Ausbildungsförderung und derDrei-plus-zwei-Regelung sollten wir vielleicht nocheinmal ins Gespräch kommen. Ich verweise da, auch inRichtung des Koalitionspartners, auf eine Stellungnahmeder BDA,
die beispielsweise die Frage stellt, ob es denn wirklichsinnvoll ist, Ausbildungsbetrieben unter Androhung sehrhoher Bußgelder eine Meldepflicht aufzuerlegen, wennein Azubi eine Ausbildung abbricht. Sie spricht davon,dass dies das pädagogisch-kollegiale Verhältnis belas-ten und Betriebe abschrecken würde . Ich muss an dieserStelle sagen: Die BDA hat vollkommen recht. Lassen Sieuns darüber sprechen! Lassen Sie uns aus einem weg-weisenden Gesetzentwurf einen noch wegweisenderenGesetzentwurf machen!Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Inte-grationsgesetz wäre fürwahr nötig. Aber das, was hier aufdem Tisch des Hauses liegt, verdient diesen Namen nichtwirklich. Das ist im besten Fall Stückwerk, in vielen Ele-menten kontraproduktiv, in manchen Punkten schlichtsachfremd. Deshalb würde ich Ihnen raten, in den Aus-schussberatungen noch einmal sehr, sehr gründlich nach-zudenken .Viele Themenfelder und Probleme werden überhauptnicht angegangen. Was ist mit den Flüchtlingen, die hier-herkommen, die wegen der Flucht und des Bürgerkriegesjahrelang keine Schule besucht haben und aus der Schul-pflicht herausgefallen sind? Wie bringen wir diese Leutedahin, dass sie ausbildungsfähig sind? Die Handwerks-betriebe in Deutschland sind durchaus bereit, solcheMenschen aufzunehmen; aber sie fordern ein gewissesGrundwissen, das diese Menschen nicht mitbringen . Aufsolche Fragen, Frau Nahles, gibt Ihr Gesetzentwurf leiderüberhaupt keine Antwort .
Ganz merkwürdig ist meines Erachtens eine Rege-lung, die vor dem Kabinettsbeschluss unter Umgehungder Beratung mit dem Bundesrat und einer Verbändean-hörung über Nacht in den Gesetzentwurf aufgenommenwurde; sie macht mich hellhörig. Ist der neue § 29 Asyl-gesetz der Versuch, den Türkei-Deal in dieses Integra-tionsgesetz einzuführen, und zwar mit dem Effekt, dassMenschen in Deutschland in Zukunft keinen Anspruchmehr auf eine rechtliche Prüfung ihres Verfolgungsstatushaben? Sie haben hier hineingeschrieben, dass mit Blickauf Länder außerhalb der Europäischen Union, die wirfür sicher halten, ein Antrag bei uns unzulässig ist. Frü-her war er „unbeachtlich“. Was diese semantische Ver-änderung bedeutet, konnte uns zumindest Ihr Haus imGespräch mit dem Forum Menschenrechte nicht sagen.Vielleicht wissen ja Sie, Herr Minister, was gemeint ist.Und: Wohin ist der § 29 Absatz 2 des Asylgesetzesverschwunden? Auch das wussten Ihre Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter nicht. Versehen? Vorsatz? Unbeachtlich?Unzulässig? Wir wissen es nicht. Darin steht nämlich,dass dann, wenn ein Flüchtling aus einem solchen soge-nannten sicheren Drittstaat zu uns kommt und nach dreiMonaten immer noch nicht in diesen sicheren Drittstaatzurückgebracht werden konnte, in Deutschland das Ver-fahren über die Anerkennung als Flüchtling wiederauf-genommen werden muss. Diese Regelung finde ich inIhrem Gesetzentwurf nicht mehr; sie ist aber geltendesDaniela Kolbe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17193
(C)
(D)
Recht . Das ist eine massive Verkürzung des Rechts vonFlüchtlingen auf Anerkennung und Schutz nach der Gen-fer Flüchtlingskonvention.
Zweiter Punkt: Wohnsitzauflage.
Herr Kollege Beck, ich muss Sie darauf aufmerksam
machen, dass es – –
Doch .
Zwei Sekunden, ja. – Da Sie zum zweiten Punkt anset-
zen, wollte ich nur darauf aufmerksam machen, dass es
natürliche Grenzen für den weiteren Vortrag gibt.
Diese natürlichen Grenzen akzeptiere ich. – Noch
zwei Sätze. Wir alle sind gegen Ghettoisierungen. Aber
mit diesem administrativen Monster werden wir sie nicht
verhindern .
Ich finde, die heute-show hat es in einem Satz wunder-
bar zusammengefasst – für mehr reicht es jetzt aufgrund
der Redezeit nicht mehr –: Das neue Integrationsgesetz
mit seiner Wohnsitzauflage will:
Flüchtlinge sollen eine Sprache lernen, für die es
keine Kurse gibt, in Regionen leben, in denen keiner
Deutsch spricht, und Jobs finden, die es dort nicht
gibt .
Das ist der falsche Ansatz. Wir müssen angebotsorien-
tiert arbeiten und dürfen nicht versuchen, die Integra-
tionspolitik mit administrativen Monstern zu vergiften.
– Da ich eine so lebhafte Reaktion auf meine Rede er-
reicht habe, scheint es Sie ja getroffen zu haben. Dann
ist ja alles gut.
Vielen Dank.
Karl Schiewerling erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Frau Dağdelen, ich habe mirlange überlegt, ob ich überhaupt auf Ihre Rede reagierensoll, weil ich nicht wusste, ob ich lachen oder weinensollte. Wenn ich es gut mit Ihnen meine, dann sage ichIhnen: Sie können ganz schön Spaß machen.
Wenn ich Ihnen aber die Wahrheit sage, dann sage ichIhnen: Ich habe selten eine Rede gehört, in der die Le-benssituation der Menschen so menschenverachtend be-trachtet wird, wie Ihre .
Wie können Sie sagen, die Wohnsitzauflage und all dieanderen Dinge dürfe man nicht einführen? Wissen Sie,was das für meine Region im Kreis Coesfeld im Müns-terland – das ist ländliches Gebiet, und wir suchen hän-deringend Arbeitskräfte – bedeuten würde? Sie lassendie Flüchtlinge alleine, dann gehen sie zu Ihnen in denDuisburger Norden und damit in die Arbeitslosigkeit,während sie bei uns Arbeit finden würden. Wenn wir diesnicht regeln, haben sie keine Perspektive.
Wie können Sie sagen, wir würden hier Lohndumpingbetreiben? Wissen Sie denn überhaupt nicht, welche Be-dingungen die Unternehmen erfüllen müssen, damit dieMenschen arbeiten können? Sie tun dies mit großer Be-reitwilligkeit, aber dazu brauchen sie auch die entspre-chenden Rahmenbedingungen. Wollen Sie eigentlich,dass sie in Beschäftigung kommen, oder wollen Sie auf-grund Ihrer hohen und hehren Ziele, dass sie arbeitslosbleiben? Wir wollen, dass sie in Beschäftigung kommen.
Frau Kollegin Pothmer, einen Satz zu Ihnen: Wir ste-hen nicht auf der Bremse,
sondern wir stellen uns mit diesem Gesetzentwurf einerEntwicklung, die uns neu herausgefordert hat.
Wir leben in einer Situation, in der wir uns zunächsteinmal auf die neuen Herausforderungen einstellen müs-sen. Seit 2014 – das ist richtig – kommen in zunehmen-der Zahl Flüchtlinge zu uns. Aber die meisten sind voretwa zwölf Monaten gekommen, und in dieser Situationmussten sich die deutschen Behörden, die deutschen In-stitutionen, die Kommunen und alle, die dafür Verant-wortung tragen, ja zunächst einmal darauf einstellen.
Volker Beck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617194
(C)
(D)
Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie von einer Re-gierung, die vor diese völlig neuen Herausforderungengestellt wird, erwarten, dass sie über Nacht alle Problemelöst. Das hätten Sie nicht geschafft, das schafft Ihr HerrWeil nicht, und das schaffen andere auch nicht.
Deswegen sage ich Ihnen: Das vorgelegte Integra-tionsgesetz – und das gilt auch für dessen Bestandteilezur Arbeitsmarktpolitik – bietet eine vernünftige Heran-gehensweise; denn hier wird zunächst einmal das getan,was wir heute tun können. Kein Mensch in der Koalitionsagt: Danach passiert nichts Weiteres mehr. – Wenn sichdie Dinge anders entwickeln, werden wir darauf reagie-ren müssen . Dann werden wir das auch tun . Das ist sosicher wie nur irgendetwas .
Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein weltof-fenes Land. Viele Menschen aus fast allen Ländern derWelt sind zu uns gekommen. Sie leben, arbeiten undwohnen hier und tragen zum Wohlstand bei. 12 Prozentaller Mitglieder der Deutschen Rentenversicherung ha-ben einen ausländischen Pass. Sie tragen dazu bei, dassder Wohlstand erhalten bleibt. Das ist uns allen sehr wohlbewusst, und deswegen integrieren wir die Menschen .Wir sagen, sie sollen zu uns kommen und hier eine Hei-mat finden können. Zuwanderung ist ein Gewinn, wennIntegration denn gelingt.
Meine Damen und Herren, in der Vergangenheit wur-de dies nicht immer beachtet. Parallelgesellschaften sindentstanden; der Innenminister hat ausdrücklich und prä-zise darauf hingewiesen. Das darf sich nicht wiederholen.Der guten Ordnung halber will ich an dieser Stelle analle im Hohen Haus sagen: Angela Merkel war die ersteKanzlerin, die mit Maria Böhmer eine Integrationsminis-terin berufen hat, nämlich 2005,
und Jürgen Rüttgers war in Nordrhein-Westfalen der ersteMinisterpräsident, der einen Integrationsminister berufenhat. Diese Fragen zur Notwendigkeit der Integration sindfür uns nichts Neues. Da brauchen wir keine Nachhilfe,sondern wir sind dabei, unsere Aufgaben zu erfüllen.
Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelleeinmal einen riesigen Dank an die unglaublich vielenMenschen aussprechen, die sich in den Flüchtlingsiniti-ativen ehrenamtlich engagieren. Ohne diese Menschenhätten wir viele Aufgaben nicht lösen können. Diese vie-len Ehrenamtlichen sind auch heute noch notwendig. Siebegleiten viele Flüchtlinge. Sie helfen ihnen dabei, sichauf dem Arbeitsmarkt zu orientieren . Sie engagieren sichfür sie, indem sie Kinder begleiten, helfen damit, dass sieeine Wohnung finden. Ihnen gebührt ein riesiges Danke-schön für das, was sie heute für unser Land und in unse-rem Land leisten.
An dieser Stelle wird sehr deutlich: Es ist eine gesell-schaftliche Aufgabe, diese Menschen in unserem Landzu integrieren. Zu dieser wichtigen Aufgabe gehört inder Tat die Integration in den Arbeitsmarkt. Bildung,Sprache, Schule und Ausbildung gehören zusammen.Ich will Ihnen sehr deutlich sagen: Schulfragen sind Län-dersache. Wir wollen uns aber als Bund natürlich nichtverschließen, wenn neue Ideen kommen, wie man dasmachen kann. Aber ich bin nicht bereit, alle Zuständig-keiten nur dem Bund zuzuweisen. Kommunen, Länderund der Bund – lassen Sie mich an dieser Stelle der Voll-ständigkeit halber noch sagen: sowie Europa – müssenzusammenwirken . Deswegen haben wir in dieser Frageeine gemeinsame Aufgabe .Was wir nicht gebrauchen können, ist Kästchenden-ken, Schubladendenken und Abschottungsdenken. Werglaubt, er könnte sich die Decke über den Kopf zie-hen, sich dort hineinkuscheln und glauben, das sei dasDeutschland der Zukunft, der hat sich vertan. Wir liefernProdukte in alle Welt. Wir haben Internet. Wir haben di-verse Kommunikationsmittel. Ja glauben wir denn imErnst, wir könnten uns zurückziehen und könnten unseine heile Welt unter der schützenden Bettdecke aufbau-en? Wir sind ein weltoffenes Land. Die Menschen sollenzu uns kommen. Aber sie müssen wissen, unter welchenBedingungen und mit welchen Erwartungen.
Wir erwarten, meine Damen und Herren, dass sichdiese Menschen integrieren. Das tun sie. Ganz viele wol-len das; darauf ist zu Recht hingewiesen worden. Aberwir sagen auch: Wir wollen die Menschen fordern undfördern, wobei die Förderung an erster Stelle steht. Wirwollen den Menschen helfen: mit unseren arbeitsmarkt-politischen Möglichkeiten, die wir ihnen eröffnen, undmit dem breiten Instrumentarium, das im Gesetzentwurfsteht und das später gewiss noch einmal erweitert wird.Frau Nahles hat vorhin zu Recht auf die 100 000 Ar-beitsgelegenheiten verwiesen. Ich will an dieser Stelleder Vollständigkeit halber nur sagen, wie sie in den Ge-setzentwurf gekommen sind. Diese Arbeitsgelegenheitenmüssen nach dem Asylgesetz normalerweise von denKommunen angeboten werden. Die Kommunen habendafür aber kein Geld mehr.
Deswegen wird diese Aufgabe hilfsweise vom Bundübernommen. Sie wird nach den derzeitigen Plänen vonder Bundesagentur für Arbeit hilfsweise abgewickelt. Icherwarte aber, dass die Kommunen die Entscheidung da-rüber haben, wo die Mittel eingesetzt werden und für wensie dort eingesetzt werden – und nicht die Bundesagenturfür Arbeit . Sie wird diese Aufgabe zu administrieren ha-ben. Sollte es dann noch Unklarheiten im Gesetzentwurfgeben, werden wir diesen Punkt nachbessern müssen .Karl Schiewerling
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17195
(C)
(D)
Ich bin mir in dieser Frage nicht ganz sicher, aber das istkeine Grundsatzfrage. Es ist eine Abwicklungsfrage, wiewir an diese Dinge herangehen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, gezielte In-tegration in unser Land ist eine wichtige Aufgabe. Ichwill deutlich sagen, dass wir im Hinblick auf die Ar-beitsmarktpolitik noch lernen können. Ich habe in mei-ner Region, im Kreis Coesfeld, mit dem Kreis, mit denBerufsschulen und mit der Kreishandwerkerschaft einsehr innovatives Projekt entwickelt, bei dem es darumgeht, Jugendlichen Deutsch beizubringen und sie in Ar-beit zu bringen. Die Vermittlung ist mehr als erfolgreich:80 Prozent sind über diesen Weg mittlerweile in Betrie-ben untergekommen. Ich glaube, dass es gut ist, wennwir solche Initiativen betrachten, aufgreifen und schau-en, wie wir diese Instrumente nutzen und umsetzen undsie anderen verfügbar machen können.Ich halte es für geboten, dass wir das tun, was wir alsDeutsche können, nämlich nicht nur zu erwarten, dasssich die Menschen in unserem Land integrieren, sondernauch unsere eigene Kultur zu leben und für unsere eige-ne Kultur zu werben. Integration in unsere Gesellschaftheißt nicht nur das Erlernen der deutschen Sprache, son-dern es heißt auch ganz schlicht und einfach das Erlebenvon Heimat, das Erleben von Bräuchen, Festen und Fei-ern. Es heißt auch, dass diese Menschen erfahren, dass esGeborgenheit in Familien gibt. Viele von ihnen kommenaus geschützten familiären Strukturen. Das müssen wirihnen bei uns bieten, entweder über Familien oder überVerbände und Gemeinschaften. Sie müssen lernen, dasses zu unserer Kultur gehört, sich anzustrengen, Bildungzu erwerben und in die Erwerbsarbeit zu gehen . Ich binganz sicher, dass die allermeisten von ihnen das wollen.Frau Pothmer, Sie haben gesagt: Das ist ja ganz furcht-bar, wenn ihr da von Sanktionen redet . – Die Sanktionenstehen aber nicht im Mittelpunkt. Sanktionen sind dasletzte Mittel, das der Staat hat, um sich selbst zu schüt-zen . Die Sanktionen stehen dafür, dass wir den MenschenOrientierung geben und ihnen auf diese Art und Weisevermitteln, was wir erwarten.
Herr Kollege.
Aber in den allermeisten Fällen brauchen wir sie nicht.
Letztlich geht es um unsere gemeinsame Zukunft in
unserem Land, und mit diesem Integrationsgesetz schaf-
fen wir den Rahmen dazu .
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Kerstin Griese
für die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als ich heute Morgen die Reden der Opposition verfolgthabe, habe ich gedacht, es wäre gut, Sie einmal mit derechten Stimmungslage in unserem Land zu konfrontie-ren . Im ARD-Deutschlandtrend haben heute früh 82 Pro-zent gesagt: Das Integrationsgesetz geht in die richtigeRichtung. Es gibt eine große Zustimmung dazu. Bei denGrünen sind es sogar 86 Prozent. Bei den Linken sind esetwas weniger. Das heißt, die Gesellschaft will, dass wirjetzt endlich aktiv etwas für Integration machen. Das pa-cken wir an. Das Integrationsgesetz wird ein Meilensteinfür gelingende Integration.
Wir gestalten Integration aktiv. Wir ermöglichen einenbesseren Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Sprachkur-sen .Eines ist mir ganz wichtig: Integration ist ein Prozessauf Gegenseitigkeit . Wir erwarten die Bereitschaft zurIntegration; wir bieten aber auch Möglichkeiten zur Inte-gration an. Wer sich anstrengt, die Sprache lernt und denEinstieg in Arbeit schafft, der kann bei uns den Neustartschaffen, und wir wollen alles dafür tun, die Menschenzu unterstützen .Aber auch der Staat hat eine Bringschuld, nämlich die,Integration zu ermöglichen. Dazu gehört zum Beispiel,genügend Integrations- und Sprachkurse anzubieten, be-vor man über Sanktionen spricht. Der Staat will ebensowie die Gesellschaft dieses Integrationsangebot machen.Deshalb werden wir gemeinsam aktiv daran arbeiten.Der Gesetzentwurf beinhaltet das: Wir wollen eine of-fene Gesellschaft sein. Wir erwarten aber auch von denMenschen, die zu uns kommen, dass sie sich an unsereRegeln und an unser Grundgesetz halten. Dann geht esgut mit der Integration .
Wir schaffen neue Flüchtlingsintegrationsmaßnah-men. Der Kollege Karl Schiewerling hat schon daraufhingewiesen. Es ist sehr wichtig, dass man Flüchtlingendie Möglichkeit gibt, sich in unsere Gesellschaft ein-zubringen, zu arbeiten und soziale Kontakte zu haben,statt immer nur zu warten, zu warten, ohne zu wissen,was passiert. Deshalb vielen Dank an ArbeitsministerinAndrea Nahles für die gute Idee der 100 000 zusätzli-chen Arbeitsgelegenheiten. Das wird den Kommunenviel bringen, und es wird auch in der Bevölkerung wahr-genommen werden, dass Flüchtlinge sich engagieren unddass sie mitarbeiten . Auch das ist ein ganz wichtiger Ef-fekt .
Wir wollen die Vorrangprüfung aussetzen – das istarbeitsmarktpolitisch wichtig –, und zwar zunächst fürdrei Jahre. Die Länder sollen selber gucken, in welchenRegionen sie sie aussetzen. Denn sehr häufig endet dieVorrangprüfung, die feststellt, ob es einen Einheimi-schen gibt, der den Arbeitsplatz haben kann, so, dass derKarl Schiewerling
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617196
(C)
(D)
Flüchtling ihn bekommt. Das ist daher auch ein wichtigerSchritt zur Entbürokratisierung .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wünschen unsfür die Beratung noch ein paar Punkte, zum Beispiel beider Wohnsitzauflage auch die Belange von Menschenmit Behinderung zu berücksichtigen. Denn häufig gibt esÖrtlichkeiten, wo sie nicht barrierefrei leben können. Dassollten wir in der Beratung prüfen.Ich wünsche mir auch, dass wir im Bereich des eh-renamtlichen Engagements von Flüchtlingen darübernachdenken, was wir tun können. Uns hat ein Hilferufder großen Sportvereine erreicht, dass die Ehrenamtspau-schale auch für Flüchtlinge gelten soll. Denn häufig sindFlüchtlinge als Übungsleiter oder Trainer in Sportverei-nen tätig. Das ist ein Beispiel für gelungene Integration.Das sollten wir unterstützen und die Ehrenamtspauschalenicht von den Leistungen abziehen.
Ich freue mich auf die Beratungen, die wir im Arbeits-und Sozialausschuss ganz intensiv zusammen mit demInnenausschuss durchführen werden . Wir werden das gutzusammen hinbekommen .Es gibt sowohl Kritik als auch Zustimmung zum Ge-setzentwurf. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftun-gen für Integration und Migration hat ganz klar gesagt,das Gesetz sei – ich zitiere – „ein wichtiger Schritt hinzu Gleichbehandlung und früher Integration. Die hierfüraufgewandten erheblichen finanziellen Mittel sind einegute und notwendige Investition …“.Wenn viele Verbände, darunter die Wohlfahrtsverbän-de, noch mehr fordern, dann ist das ein Zeichen dafür,dass endlich Bewegung in die Integrationsdebatte ge-kommen ist, dass wir weiter vorangehen wollen und dasswir die Integration jetzt aktiv gestalten. Ich hoffe, dasswir alle daran mitwirken – zum Wohle unseres Landesund zum Wohle der Menschen, die aus Not und Gewaltzu uns geflohen sind.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege
Stephan Mayer das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Es wäre aus meiner Sichtverfehlt, anzunehmen, dass die Flüchtlingskrise beendetoder gemeistert ist. Ich glaube, es ist genauso naiv, anzu-nehmen, dass es schon jetzt Anlass gibt, Entwarnung zugeben . Wir stecken aus meiner Sicht nach wie vor mittenin der Flüchtlingskrise. Aber die Zahlen sind deutlich zu-rückgegangen. Die Westbalkanroute ist geschlossen. Dasist ein erfreuliches Signal.Eines aber muss uns bewusst sein: Selbst wenn dieZahlen auf diesem niedrigen Niveau bleiben, wird uns inden nächsten Monaten und Jahren eine epochale Heraus-forderung bevorstehen, wenn es um die Integration vonHunderttausenden von Migranten und Flüchtlingen indie deutsche Gesellschaft geht. Deswegen ist es gut, dassdieses Integrationsgesetz jetzt in erster Lesung beratenwird. Ich habe etwas Zweifel, ob ich wirklich von einemParadigmenwechsel sprechen möchte,
ich weiß auch nicht, ob es wirklich ein historischer Mei-lenstein ist, den wir mit diesem Gesetz setzen; aber ichbin mir sicher, dass wir mit diesem Integrationsgesetz –ich möchte es Integrationspflichtgesetz nennen – einendeutlichen Fortschritt machen, wenn es darum geht, Hun-derttausenden von Migranten und Flüchtlingen Angebotezu unterbreiten, sich aktiv in die deutsche Gesellschafteinzubringen, sich aktiv in die deutsche Gesellschaft zuintegrieren. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass der Staatdie Verpflichtung hat, ausreichende Angebote zu unter-breiten . Aber es gibt auch die berechtigte Erwartungs-haltung gegenüber den Flüchtlingen und den Migranten,von diesen Angeboten dann bitte schön auch Gebrauchzu machen .Ich möchte auch dem Eindruck entgegenwirken, dasswir erst heute mit Beratungen zum Thema Integrationbeginnen. Dieses Thema steht seit 2005 auf der Agendader Bundesregierung. Seit Angela Merkel Bundeskanzle-rin ist, seit die Union wieder in der Bundesregierung ist,hat das Thema Integration die Bedeutung in der Bundes-politik erhalten, die es verdient. Es gibt seit 2005 einenStaatsminister für Integration, einen Nationalen Integra-tionsplan, einen jährlichen Integrationsgipfel. Aber zurWahrheit gehört auch – das hat sich insbesondere in denletzten Monaten herausgestellt –, dass es aufgrund derdeutlichen Zunahme der Zahl an Flüchtlingen, die zu unsgekommen sind, einen deutlich weiteren Bedarf gibt.Der große Vorteil dieses Gesetzes, das uns im Entwurfvorliegt, ist der, dass erstmals das sehr weite Themen-feld der Integration auf die jeweiligen Gruppierungenspezifisch zugeschnitten wird. Es bedarf unterschiedli-cher Angebote, je nachdem, ob jemand eine dauerhafteBleibeperspektive hat oder ob er sich nur kurzfristig inunserem Land aufhält. Jemand, der eine langfristige bzw.dauerhafte Bleibeperspektive hat, muss Maßnahmen an-geboten bekommen, die es ihm ermöglichen, sich aktivin den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren .
Aber auch Personen, die kein Recht auf Asyl zugestan-den bekommen, denen kein Flüchtlingsstatus zuerkanntwerden kann, müssen in unserem Land human behandeltwerden. Sie haben aus meiner Sicht das Recht, solangesie sich in unserem Land aufhalten, Angebote unterbrei-tet zu bekommen, die es ihnen ermöglichen, zum einendie Zeit sinnvoll zu nutzen und zum anderen für ihr spä-teres Leben in ihrem Heimatland oder anderswo Fähig-keiten vermittelt zu bekommen, die ihnen die Chancebieten, in ihrem neuen Aufenthaltsland Fuß zu fassen.Diese spezifischen Angebote, die mit diesem Gesetz er-Kerstin Griese
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17197
(C)
(D)
möglicht werden, sind wirklich ein sehr erheblicher undauch erfreulicher Fortschritt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist aucheine deutliche Verbesserung, dass wir jetzt die klare Vor-gabe machen, dass, wenn Deutschkurse angeboten wer-den, diese auch innerhalb eines Jahres begonnen werdenmüssen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass viele, die einensolchen Anspruch hatten, innerhalb des ersten Jahreskeinen Gebrauch davon gemacht haben . Wir haben aberkeine Zeit zu verlieren. Wir sind hier als Bund unsererVerantwortung gerecht geworden und haben allein vomletzten Jahr auf dieses Jahr die Mittel für Integrations-und Deutschkurse von 269 Millionen Euro auf 558 Mil-lionen Euro mehr als verdoppelt. Allein in diesem Jahrgibt es 300 000 neue Teilnehmer an Integrations- undDeutschkursen. Es werden 5 000 zusätzliche Deutschleh-rer zertifiziert. Wir als Bund tun hier das Unsrige. Ichfüge ganz offen hinzu: Auch die Länder sind beim ThemaIntegration gefordert und können nicht einseitig auf uns,den Bund, verweisen .
Ein erheblicher Fortschritt ist, dass wir die Nie-derlassungserlaubnis neu regeln. In Zukunft werdenAsylbewerber und Flüchtlinge nicht automatisch vo-raussetzungs- und bedingungslos nach drei Jahren eindauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen. Ich möchte andieser Stelle ausdrücklich unserem bisherigen KollegenThomas Strobl, der heute sein Bundestagsmandat zu-rückgibt, danken .
Er war der Erste, der darauf hingewiesen hat, dass esnicht angehen kann, dass Flüchtlinge und Asylbewerbergegenüber anderen Ausländern privilegiert werden. Esist ein erheblicher Fortschritt, dass wir nun deutlich ma-chen: Ein dauerhaftes, unbefristetes Aufenthaltsrecht fürAsylbewerber und Flüchtlinge kann es nur geben, wennausreichende Deutschkenntnisse nachgewiesen werdenund wenn für den eigenen Lebensunterhalt überwiegendselbst gesorgt wird.
Zur Wohnsitzauflage ist schon einiges gesagt wor-den. Es gehört zur Wahrheit – das haben insbesonderedie letzten Monate gezeigt –, dass sich viele Flüchtlin-ge und Asylbewerber auf einige wenige Ballungszentrenund Großstädte konzentrieren, zum Beispiel die Afgha-nen schwerpunktmäßig auf Hamburg oder das Rhein-Main-Gebiet. Das ist vollkommen nachvollziehbar undmenschlich verständlich. Schließlich wohnen dort inder Regel viele afghanische Verwandte, Bekannte undFreunde. Aber dort sind leider Gottes nicht immer Ar-beitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden. Deshalbist es aus meiner Sicht richtig, dass wir den Ländern dieMöglichkeit geben – das ist keine Verpflichtung –, eineWohnsitzauflage für zumindest drei Jahre anzuordnen,wenn sie der Auffassung sind, dass das aufgrund inte-grationspolitischer Erwägungen sinnvoll und erforder-lich ist. Ich glaube, das wird den berechtigten Wünschender betroffenen Kommunen und Länder in ausreichen-dem Maß gerecht.
Ein insbesondere in der Wirtschaft langgehegterWunsch ist die sogenannte Drei-plus-zwei-Regelung.Sie wird nun in dieses Gesetz implementiert. Um denWirtschafts- und Handwerksbetrieben, aber auch denbetroffenen Flüchtlingen Rechts- und Planungssicherheitzu geben, wird nun klargestellt, dass zumindest für dreiJahre eine Duldung ausgesprochen werden kann, wenndie Ausbildung ernsthaft betrieben wird. Das ist im Sin-ne aller Beteiligten. Es ist auch richtig, dass dann, wenndie Ausbildung erfolgreich abgeschlossen wird – das istwohlgemerkt die Voraussetzung –, die Möglichkeit be-steht, sich in einem Zeitrahmen von sechs Monaten einenAnschlussarbeitsvertrag zu suchen, um dann eine An-schlussduldung für weitere zwei Jahre zu erhalten. Wirstehen zu dieser Regelung. Sie ist gut und ist insbesonde-re im Sinne junger, heranwachsender Flüchtlinge, die dieZeit in Deutschland nutzen sollen, um eine Berufsausbil-dung zu absolvieren.Wir müssen aber nun im parlamentarischen Verfahrendarauf achten, dass es insbesondere bei der Drei-plus-zwei-Regelung nicht zu missbräuchlichen Gestaltungenkommt. Wenn eine Überstellung in ein anderes EU-Landoder eine Abschiebung angeordnet und konkret erwogenwird, dann darf nicht schnell ein Anstellungs- oder Aus-bildungsvertrag vorgelegt werden, nur um die Überstel-lung oder die Abschiebung zu verhindern. Nach meinerAuffassung wird es eine Aufgabe im parlamentarischenVerfahren sein, insbesondere in § 60a des Aufenthalts-gesetzes darauf zu achten, dass es nicht zu einer miss-bräuchlichen Inanspruchnahme dieser an sich richtigenRegelung kommen kann.Ich glaube, dass dieser Gesetzentwurf einen erhebli-chen Fortschritt darstellt, wenn es darum geht, mit denepochalen Herausforderungen der Flüchtlingskrise undder Integration von Hunderttausenden Flüchtlingen inDeutschland zurechtzukommen. Deshalb sollten wir die-sen Gesetzentwurf positiv annehmen und die nun erfol-genden parlamentarischen Verhandlungen in der gebote-nen Seriosität, aber auch Zügigkeit führen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege
Sebastian Hartmann das Wort für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schoneiniges zur Einordnung des ersten Integrationsgesetzesin Deutschland gesagt worden. Ich halte mich mit derStephan Mayer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617198
(C)
(D)
historischen Einordnung zurück . Etwas kritisch ist dieOpposition. Ich sage Ihnen: Seien Sie nicht so kritisch!Schauen Sie sich das Gesetz zuerst genau an . Das ist diedringende Empfehlung, die ich nur unterstreichen kann.Es gibt zwei Vergleichsmöglichkeiten. Einerseits kannman ganz klar auf das Einwanderungsgesetz verweisen.Das ist in der Debatte geschehen . Der zweite ganz we-sentliche Punkt ist aber, dass wir, wenn wir den Zeitrah-men vergleichen, doch viel schneller sind als bei den Be-ratungen des Zuwanderungsgesetzes, die sich immerhinvon 2001 bis 2005 hingezogen haben. Mit dem Integra-tionsgesetz 2016 machen wir einen ganz großen Schritt,und das kann man nicht hoch genug einschätzen.
Herr Kollege Hartmann, lassen Sie eine Zwischenfra-
ge des Kollegen Beck zu?
Ja, gerne .
Sie haben die Opposition aufgefordert, ins Gesetz zu
schauen . Das habe ich mir zu Herzen genommen .
Ich möchte Sie fragen, weil das Bundesinnenminis-
terium uns das am Mittwoch nicht beantworten konnte:
Wo ist die Regelung des § 29 Absatz 2 Asylgesetz, nach
der ein Asylbewerber, der aus einem sicheren Drittstaat
kommt, nach drei Monaten den Anspruch hat, dass sein
Asylverfahren hier in Deutschland betrieben wird, wenn
er bis dahin nicht aus dem Land geschafft werden konn-
te? Ist die Regelung weg? Ist das gewollt?
Oder habe ich sie einfach nicht gefunden?
Lieber Herr Kollege Beck, vielen Dank für Ihre Fra-ge. Ich habe sehr lange an dem Forum Menschenrechteteilgenommen, an dem auch Sie zeitweilig teilgenommenhaben .
– Diese Bemerkung muss dann aber auch erlaubt sein. –Danke, dass Sie die Frage aufwerfen . So kann man dasin der parlamentarischen Beratung für alle Beteiligtendeutlich machen.Sie haben die Frage an die Bundesregierung gerichtet,weil Pro Asyl diese Frage aufgeworfen hatte. Die Bun-desregierung hat Ausführungen über die Unbeachtlich-keit eines Antrages, die Unzulässigkeit eines Antragesund über die rechtssystematische Gleichstellung gemachtund dargelegt, dass es aus Sicht der Bundesregierung –der Innenminister nickt an dieser Stelle – um eine Rechts-klarstellung geht. Das hat die Regierung deutlich gesagt.Ich habe mir eine Notiz gemacht. Wir beginnen heutemit den Beratungen des Integrationsgesetzes .
– Ich beantworte Ihre Frage. Sie müssen aber auch zuhö-ren, Herr Beck. Ich glaube, das ist die minimale Anfor-derung an jeden, der an der parlamentarischen Beratungteilnimmt.
Ich verlasse mich auf die Aussage – da spreche ichfür viele Kolleginnen und Kollegen –, dass es um eineRechtsklarstellung geht und nicht um einen Abbau vonRechten von Menschen, die in einem Asylverfahren aufden Rechtsstaat vertrauen .
Wir werden darauf achten, dass es eine Rechtsklarstel-lung ist. Messen Sie uns doch an der Aussage, die vomInnenministerium getroffen worden ist .
– Wieso kann das nicht sein, Herr Beck, wenn es eineAngleichung an andere Verfahren ist? – Sie haben das imZusammenhang mit dem EU-Türkei-Abkommen gesagt .Es geht uns darum, dass der Rechtsstand, den wir vor derEinbringung des Entwurfes hatten, erhalten bleibt. Dasist der Punkt . Das war der Diskussionsstand . Wir begin-nen heute mit den Beratungen. Ich schlage vor, dass wirdann, wenn wir den Gesetzentwurf abschließend beraten,genau diese Frage beantworten. Es wäre schön, wenn Siesich dann dem anschließen könnten, was wir hier geradegesagt haben. – Herzlichen Dank.
Die SPD hat sich erfolgreich in den Verhandlungendafür eingesetzt, dass Rechte und Pflichten miteinanderim Einklang stehen. Das eine bedingt untrennbar dasandere. Das Integrationsgesetz ist ein ganz wesentlicherSchritt, um für die Integration einen klaren rechtlichenRahmen zu schaffen . Aber wir wissen auch, dass eineerfolgreiche Integration eine klare Orientierung und einklares Leitbild braucht. Dieses Leitbild müssen wir ge-meinsam entwerfen . Das ist eine gemeinsame Aufgabevon Bund, Ländern und Kommunen. Deswegen gehtmein Dank insbesondere an die Kommunen, in denen eingroßes ehrenamtliches Engagement zu finden ist. Ich er-innere auch an die Katastrophenfälle durch die Unwetter,die wir jetzt in unserem Land haben. Auch da sehen wirSebastian Hartmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17199
(C)
(D)
das ehrenamtliche Engagement, das unser Land voran-gebracht hat .
Wir werden dem auf Bundesebene auch gerecht . Wirtragen unseren Teil bei, indem wir nationale und europä-ische Lösungen anbieten. Wir steuern die Verfahren überdas Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, und wirübernehmen die finanzielle Verantwortung für diese Auf-gabe. Einen ganz zentralen Schritt aber gehen wir heute,indem wir gute Rahmenbedingungen für die Integrationauf Bundesebene setzen, und zwar mit diesem Gesetz .
Einen Punkt möchte ich besonders herausstreichen.Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Kollegen der Lin-ken und der Grünen, da kann man nur klatschen, wennman aus NRW kommt.
– Danke, Herr Kollege Mahmut Özdemir. – Nord-rhein-Westfalen wurde von der Financial Times Deutsch-land zur Zukunftsregion Nummer 1 gewählt. In Nord-rhein-Westfalen gibt es mehr Investitionen – die Statistikder Bundesbank weist das aus – als in Baden-Württem-berg und Bayern zusammen. Nordrhein-Westfalen istauch ein beliebtes Ziel der EU-Binnenwanderung. Genaudarum nehmen wir eine Wohnsitzzuweisung auf Zeit vor .Wir wollen den Prozess steuern, damit in Metropolräu-men, zum Beispiel an Rhein und Ruhr, Luft geholt wer-den kann, um Wohnen und Arbeiten zusammenzubringen .Ich komme aus dem ländlichen Raum Nordrhein-Westfa-lens. Auch dort kann man gut leben und arbeiten. Darumbrauchen wir in Abstimmung mit den Ländern und denKommunen diese wichtige Wohnsitzauflage.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir schaffen einfaires Angebot . Wir gehen einen weiteren Schritt und set-zen die Rahmenbedingungen für gelingende Integration,indem wir Rechte und Pflichten im Integrationsprozessmiteinander in Einklang bringen. Wir bieten allen Inte-grationswilligen und Integrationsbegierigen in unseremLand ein faires und gerechtes Verfahren im Integrations-prozess und schaffen so ein gemeinsames Fundamentfür Erfolg – nicht nur für die integrationswilligen undintegrationsbegierigen Flüchtlinge, sondern auch für unsDeutsche .Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 18/8615 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann stel-
le ich Ihr Einverständnis fest, und die Überweisung ist so
beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Eine Menschheit, gemeinsame Verantwor-
tung – Für eine flexible, wirksame und zuver-
lässige humanitäre Hilfe
Drucksache 18/8619
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Auch zu dieser Debatte ist nach einer interfraktionel-
len Vereinbarung eine 60-minütige Aussprache vorgese-
hen. – Offenkundig ist das einvernehmlich. Dann verfah-
ren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Tom Koenigs für die Antragstellerin.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die Herausforderungen an die humanitäre Hilfe sindexponentiell gestiegen. Der weltweite Bedarf an humani-tären Hilfsleistungen ist zwischen 2005 und 2016 um dasVierfache gestiegen. Die Summe aller koordinierten Ap-pelle der Vereinten Nationen in diesem Jahr für 88 Mil-lionen Menschen in 38 Ländern ist auf 20,1 MilliardenDollar gestiegen. Gleichzeitig gibt es für 2015 die größteFinanzierungslücke mit 8,7 Milliarden Dollar. 42 Pro-zent der ärmsten Menschen leben heute in konfliktbe-troffenen, fragilen Staaten. 80 Prozent aller Krisen, dieinternationale Hilfe erfordern, sind bewaffnete Konflikteoder komplexe Notlagen. Das heißt, wir können nichtmit denselben Antworten auf diese immens gewachsenenProbleme reagieren.
Dem haben sich die Vereinten Nationen gestellt. DerHumanitäre Weltgipfel kam genau im richtigen Moment.9 000 Teilnehmer aus 173 Staaten, 55 Staats- und Regie-rungschefs waren dort; es gab Tausende von Teilnehmernaus der Zivilgesellschaft. Das war das größte Zusammen-treffen von Staaten und NGOs in den 70 Jahren des Be-stehens der Vereinten Nationen. Die Debatte wurde eröff-net durch das vorbereitende Papier des Generalsekretärs„One Humanity: Shared Responsibility“. Schon diesesPapier hat Zeichen gesetzt. Humanitäre Hilfe heißt heu-te nicht nur humanitäre Nothilfe; es heißt immer mehrFührung, Gestaltung, Initiative und Investitionen in dieMenschen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationenhat Fortschritte in fünf Bereichen angemahnt: Krisenprä-vention, humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte,Flüchtlingspolitik, Wirksamkeit der Hilfe und finanziel-les Engagement.Sebastian Hartmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617200
(C)
(D)
Die humanitären Katastrophen sind heute in der Regelmenschengemacht: durch Kriege und Konflikte, krasseMissachtung von humanitärem Völkerrecht, direkte undgeplante Angriffe auf Zivilisten, fehlende Einigkeit derinternationalen Gemeinschaft in der Flüchtlingsfrage –nicht solche Petitessen wie der Streit zwischen Bayernund der Kanzlerin – und Maßnahmen gegen den Klima-wandel. Im Zentrum der Bemühungen dürfen nicht Orga-nisationen und Staaten, sondern müssen die Betroffenen,die Notleidenden stehen.
Es zeigt sich, dass Zelte und Nahrungsmittel zwar imersten Moment notwendig sind, Flüchtlinge bleibenaber im Durchschnitt 17 Jahre in den Ländern, wo siedann landen. Das heißt, diese allererste, sicher wichtigeNothilfe reicht nicht aus. Es muss eine Verzahnung gebenzwischen schneller Nothilfe und nachhaltigen Rehabili-tations- und Entwicklungsmaßnahmen.
Die Erkenntnis, dass die Aufnahme größerer Flücht-lingskontingente ein „common public good“ ist, das An-erkennung sowie politische und finanzielle Unterstützungverdient, wächst nur langsam. Wir lernen das beim Liba-non, bei Jordanien, aber auch bei Pakistan, Kenia, Tansa-nia. Das sind die Länder, die die meisten Flüchtlinge auf-nehmen . Wir machen gerade unsere Erfahrungen mit derTürkei, ebenfalls einem der größten Aufnahmeländer vonFlüchtlingen. Was wir in Europa machen, wird natürlichvon diesen Ländern ganz genau beobachtet. Und wennein kleines oder großes Land die Grenzen schließt, mussman sich überlegen, was das dann als Symbol für Länder,die Millionen von Flüchtlingen aufnehmen, heißt.
Das wird Nachahmer finden. Deshalb muss Deutschlandmehr als ein verlässlicher Geber sein. Wir müssen die in-ternationale humanitäre Politik aktiv mitgestalten, Refor-men anstoßen und auch voranbringen. Der HumanitäreWeltgipfel hat Anstöße gegeben durch Anregungen, Ver-sprechungen und Initiativen. Aber es braucht die Lang-fristigkeit, die Nachhaltigkeit und den Gestaltungswillenführender Staaten und führender Politikerinnen und Po-litiker.
Bei diesem Gipfel war Deutschland prominent ver-treten . Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusseshat teilgenommen, die Bundeskanzlerin, der Bundesau-ßenminister und der Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung.
Das ist bemerkt und auch gelobt worden, bis hin zur NewYork Times. Wir dürfen aber nicht nur einer der größtenZahler sein. Vielmehr müssen wir immer mehr auch zueinem der Gestalter werden. Das ist noch nicht so richtigangekommen .
Die Botschaften des Humanitären Gipfels waren: Hu-manitäre Hilfe darf nicht länger Antwort auf weltweitepolitische Passivität und Substitut für fehlende politischeEntscheidungen sein. Die notleidenden Menschen müs-sen im Mittelpunkt stehen; die Instrumente zur Behebungder Not müssen verzahnt werden, man muss auf gemein-same Ziele hinweisen. Die Weltgemeinschaft steht dies-bezüglich erst am Beginn. Das heißt, auch die Debattebraucht Nachhaltigkeit.
42 Prozent aller Menschen in Not leben in fragilenStaaten. Das heißt, die Konfliktprävention bedarf einesviel größeren Impulses. Wir müssen mehr auf die lokalenSysteme setzen, statt sie zu ersetzen .
Ich glaube, es ist richtig, wenn die Vereinten Nationenanfangen und ihre acht größten Organisationen in einergemeinsamen Anstrengung zusammenbringen, um diePlanung, die Umsetzung und die Instrumente gemeinsamzu diskutieren .
Diese Reformen müssen auch in den Mitgliedsländernerfolgen. Auch wir müssen besser planen und eine ge-meinsame kohärente, mehrjährige, ressortübergreifendeNutzung der Instrumente finden.Die Einhaltung des internationalen humanitären Völ-kerrechts ist keine Selbstverständlichkeit. Allein in Syri-en sind in der letzten Zeit 370 Angriffe auf Krankenhäu-ser und Gesundheitsstationen erfolgt. 650 medizinischeHelfer sind dem zum Opfer gefallen. Aber wir müssenauch dieses Recht weiter gestalten. Einige Staaten, ge-führt von Österreich, haben auf dem Gipfel eine Initiativelanciert, um die Verwendung von explosiven Waffen indichtbesiedelten Gebieten zu stoppen. Diese Waffen sinddie Pest in Aleppo bzw. in Syrien insgesamt. Das mussaufhören.
Es gab eine Initiative dazu. Deutschland hat sie nichtunterstützt. Ich frage, warum. Das wäre ein Beitrag zumhumanitären Völkerrecht gewesen.Ein Follow-up – und wir haben viele Follow-ups inunserem Antrag – könnte auch sein, dass wir im institu-tionellen Bereich unsere Expertise, unsere Kapazität imHinblick auf Diskussion, Innovation und Reform verbes-sern. Business as usual kann es nicht sein. Im Bereichder Menschenrechte haben wir das Deutsche Institut fürMenschenrechte, eine sehr segensreiche, unabhängigeInstitution .
Im Bereich der humanitären Hilfe haben wir nichts Ver-gleichbares. Wir sollten darüber nachdenken, ob hiernicht ein Thinktank, ein Laboratorium der Ideen, das diehumanitäre Hilfe inspiriert, evaluiert und verstärkt, ander Zeit ist. Ob es nun Institut für humanitäre Hilfe oderTom Koenigs
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17201
(C)
(D)
Institut für humanitäre Angelegenheiten – also weiter ge-dacht – heißen soll, kann man diskutieren. Aber es mussin europäische Strukturen eingebunden sein, Debatten indie Öffentlichkeit tragen, aber auch Debatten aus der Öf-fentlichkeit aufnehmen, wie es das Deutsche Institut fürMenschenrechte tut .
Ich glaube, auch die deutsche humanitäre Hilfe verträgteine regelmäßige Evaluation und eine intensive und dau-ernde hochrangige Diskussion im Menschenrechtsaus-schuss .
Es ist an der Zeit, über ein solches Institut, eine Institutio-nalisierung der Innovation, der Innovationsfähigkeit undauch der Einmischung, in der Folge des HumanitärenWeltgipfels ernsthaft nachzudenken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vordrei Jahren waren 40 Millionen Menschen weltweit aufder Flucht oder als Migranten unterwegs. Vor zwei Jah-ren waren es schon 50 Millionen Menschen. Heute sindes bereits 60 Millionen, manche sprechen sogar schonvon 70 Millionen. Die Zahl der bedrängten Menschen,die ihre Heimat aus den unterschiedlichsten Gründenverlassen mussten oder in existenzbedrohenden Situati-onen in der Heimat leben, steigt und steigt deutlich er-kennbar weiter an. Der Bedarf an humanitärer Hilfe, umüberhaupt die ärgste Not zu lindern – da geht es nicht umLuxushilfe, sondern um Überlebenshilfe –, hat sich von2012 bis 2015 auf 20 Milliarden US-Dollar verdoppelt.Immer wieder erleben wir aber, dass die nötigen Mit-tel, die zur Hilfe gebraucht werden, nicht rechtzeitig oderauch nicht ausreichend zur Verfügung gestellt werden.Darum war es gut – ich glaube, es war sogar überfällig;aber die Vorbereitung dauerte drei Jahre –, dass der Hu-manitäre Weltgipfel stattgefunden hat in einer Zeit, in derjeder die Probleme sehen kann – wie auch wir tagtäglichauf den Bildschirmen. Angesichts der Vielzahl an Krisenund Konflikten und angesichts der Tatsache, dass überdie Flüchtlinge hinaus weitere Menschen in ihrer Heimatdringend auf Hilfe der Vereinten Nationen angewiesensind, war die Initiative des Weltgipfels dringend erforder-lich. Man geht insgesamt von 125 Millionen Menschenaus, die zum nackten Überleben Hilfe benötigen. Staatenund Zivilgesellschaften sind bei diesem ersten Huma-nitären Weltgipfel zusammengekommen, um Wege undMöglichkeiten zu finden, den humanitären Bedürfnissenin einer sich rasch verändernden Welt besser und auchschneller gerecht zu werden.Unsere Bundesregierung – das war sehr erfreulich –war im Gegensatz zu den fünf Vetomächten des Sicher-heitsrates der Vereinten Nationen hochrangigst vertreten:Die Bundeskanzlerin war da, ebenso der Bundesaußen-minister, der Bundesminister für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung, und Kollegen waren auchdabei. Das war ein deutliches Signal, zu zeigen, für wiebrisant wir aus deutscher Perspektive dieses Thema hal-ten . Es war gut, dass wir so hervorragend vertreten wa-ren .
Dieser Gipfel war keine Geberkonferenz, in der aus-schließlich über finanzielle Hilfen verhandelt wurde.Es ging um ganz Grundsätzliches. Aber Deutschlandhat dennoch zugesagt, seinen Beitrag für den Nothilfe-fonds der Vereinten Nationen um 10 Millionen Euro auf50 Millionen Euro anzuheben. Der Fonds soll, ja er musssogar – das betrifft alle Staaten – dringend auf insgesamt1 Milliarde Dollar verdoppelt werden, um überhaupt al-len Menschen helfen zu können.Deutschland ist in diesem Jahr mit einem Beitrag vonrund 1,3 Milliarden Euro der drittgrößte internationaleGeber und hat als Vorreiter für innovative humanitäreHilfe den Weltgipfel von Beginn an auch inhaltlich mit-geprägt. Obgleich die Summe der international bereitge-stellten und zugesagten Hilfen seit Jahren steigt, deckendie Mittel bei weitem nicht den Bedarf; denn im Schnittkommen jährlich nur rund zwei Drittel der von den Ver-einten Nationen benötigten Gelder tatsächlich zusammenund herein. Viele der Länder, die zugesagt haben, etwaszu leisten, zahlen ganz einfach nicht. Noch nie war dieFinanzierungslücke für Nothilfe so groß wie im vergan-genen Jahr. 2015 kamen nur 55 Prozent des benötigtenund seitens der Staaten auch zugesagten Geldes zusam-men . Auch in den ersten fünf Monaten dieses Jahres gingerst ein Fünftel des Budgets ein.Für die Bedürftigen bedeutet weniger Geld im Ge-samttopf ganz konkret natürlich auch weniger Hilfe. Somussten 2015 die Lebensmittelhilfen für syrische Flücht-linge im Nahen Osten deutlich gekürzt werden. Am Endeblieben Flüchtlingen zum Beispiel in Jordanien zeitwei-se umgerechnet nur etwa 50 Cent pro Tag für Nahrung.50 Cent pro Tag! Dies war eine wesentliche Ursachedafür, dass sich im vergangenen Jahr über 1 MillionMenschen auf den Weg nach Deutschland und Europagemacht haben. Das darf sich so nicht wiederholen.Deutschland stellt sich seiner internationalen Verant-wortung und geht mit gutem Beispiel voran. Aber wirmüssen erreichen, dass auch die anderen Staaten ihreVerpflichtungen am Ende erfüllen. Diese Zusagen müs-sen eingehalten werden.
Das ist letztendlich auch im Interesse aller – der Betroffe-nen, die Hilfe brauchen, aber auch der Länder, die Hilfegeben; denn man kann von vornherein Flüchtlingsströmevermeiden und den Menschen die Heimatnähe besser er-halten.Tom Koenigs
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617202
(C)
(D)
Deutschland setzt sich ja seit langem für einen Para-digmenwechsel in der humanitären Hilfe ein. Wir wolleneine vorausschauende Hilfe, die Betroffenen, wo immermöglich, in den Krisengebieten stärken, damit sie dortverbleiben können und es ihnen möglich ist, in der Näheihrer Heimat zu bleiben, und dass sie sich eben nicht auflebensgefährliche Fluchtwege begeben müssen. Wir se-hen ja Tag für Tag, dass im Mittelmeer Menschen ertrin-ken – auch in den letzten Tagen wieder.Wie das große Engagement der Bundesregierung zurBewältigung der humanitären Krise infolge der Gewaltin Syrien und im Irak zeigt, findet bereits heute eine engeVerzahnung von humanitärer Hilfe mit Maßnahmen derEntwicklungszusammenarbeit statt. Die Ministerien ar-beiten sehr gut zusammen. Grundsätzlich muss es, liebeKolleginnen und Kollegen, unser Ziel sein, den Opfernvon Flucht und Vertreibung und den Migranten mög-lichst heimatnah zu helfen. Das ist der richtige Weg so-wohl für die betroffenen Menschen als auch für unserenKontinent.Denn eines wissen wir auch: Die weltweiten Migra-tionsströme, die Flüchtlingsbewegungen können wederin der Europäischen Union noch in ganz Europa nochin Deutschland geheilt werden. Vor diesem Hintergrundwar es eine hervorragende Sache, dass der HumanitäreWeltgipfel gerade jetzt, in dieser Zeit, mit einem intensi-ven deutschen Engagement stattgefunden hat . Dass sichDeutschland so hochrangig dort hinbegeben hat, ist einZeichen, dass wir dieses Thema auch ernst nehmen .
Inge Höger ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1 500 Zu-sagen und Selbstverpflichtungen präsentierte UN-Ge-neralsekretär Ban Ki-moon am Ende des HumanitärenWeltgipfels in Istanbul vor gut einer Woche. Nebenzahlreichen finanziellen Versprechungen kündeten dieunterzeichnenden Staaten und Organisationen an, zu-künftig der Achtung des humanitären Völkerrechts mehrAufmerksamkeit zu schenken. Das klingt gut und istdringend notwendig. Doch kein einziger dieser zahllosenMerkposten wurde verbindlich beschlossen. Es handeltsich bei allem um Absichtserklärungen, um Papier, umteures Papier .Der Gipfel in Istanbul war eine Chance, den aktuel-len humanitären Krisen entschieden zu begegnen. DieseChance wurde jedoch weitgehend verspielt. Angesichtsder Notlagen in den Flüchtlingscamps, des Sterbens anden Grenzen Europas, der andauernden Kriege und derzunehmend dramatischeren Folgen des Klimawandelssind die Antworten des Gipfels beschämend unkonkret.
Das Wichtigste wären verbindliche Absprachen darüber,dass humanitäre Hilfe in Notlagen unparteiisch und neu-tral bei all den Menschen ankommt, die Hilfe brauchen.Doch bereits der Ort des Gipfels, Istanbul, war einpolitisches Problem. Präsident Erdogan setzt seine au-toritäre Politik immer ungenierter durch. Er bekämpftseine politischen Gegner mit aller Brutalität. In den kur-dischen Gebieten sind schon Tausende Menschen umsLeben gekommen, überwiegend Angehörige der Zivil-bevölkerung; genaue Angaben haben wir nicht, da auchdie Presse mit aller Härte bekämpft wird. In zwei Wah-len hat Erdogan versucht, die linke Opposition aus demParlament zu drängen. Da dies nicht funktionierte, hat erwenige Tage vor dem Gipfel die Immunität der HDP-Ab-geordneten aufheben lassen. Nun kann er sie mit will-kürlichen Verfahren ebenso ins Gefängnis schicken wiebereits zahllose Journalistinnen und Journalisten sowieweitere Oppositionelle.Erdogan lässt an den Grenzen auf Flüchtlinge schie-ßen und zerstört die Demokratie im eigenen Land. Erschafft fortwährend neue Fluchtgründe. Und was machtdie deutsche Regierung? Sie versucht, den Streit in derKoalition über die Flüchtlingspolitik dadurch zu lösen,dass sie Erdogan für die Abschottung der Außengrenzender EU Milliarden in den Rachen wirft. Diese Politik isteine Schande .
Ein glaubwürdiger Gastgeber für ehrlich gemeinte hu-manitäre Politik ist Erdogan, der Flüchtlinge zwischen-zeitlich sogar ins Kriegsgebiet zurückschicken lässt, be-stimmt nicht .Doch zurück zu den weltweiten humanitären He-rausforderungen. Laut Angaben des Gipfelsprechersstammen 92 Prozent aller Kriegsopfer aus der Zivilbe-völkerung und sind mindestens 125 Millionen Menschenweltweit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Wenn nichtbald die Weichen hin zu zivilen Ansätzen für Konfliktbe-arbeitung, für eine verantwortungsvolle Klimapolitikund für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung gestelltwerden, dann könnte die Zahl der Hilfsbedürftigen nochdeutlich größer werden. Das ist keine Zeit für unverbind-liche Ankündigungen.
37 Millionen Kinder aus Konfliktgebieten haben kei-nen Zugang zu Bildung. Nimmt man die Kinder dazu, dienur sporadisch Bildungsangebote erhalten, kommt manzu dem Ergebnis, dass etwa 75 Millionen keinen aus-reichenden Zugang zu Bildung haben. Nicht einmal dieHälfte der Flüchtlingskinder in den Lagern rund um Syri-en erhalten Schulunterricht. Es ist wichtig, diesen jungenMenschen, die eine unerträgliche Gegenwart durchleben,wenigstens eine Chance für die Zukunft zu geben .
Zum Glück wurde das in Istanbul diskutiert. Auf demGipfel wurde ein Bildungsfonds mit dem passenden Ti-tel „Bildung kann nicht warten“ beschlossen. Er soll miteiner Summe von 3,8 Milliarden Dollar in den kommen-den fünf Jahren etwa 13 Millionen Kindern helfen. DasErika Steinbach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17203
(C)
(D)
ist ein Anfang, aber es reicht bei weitem nicht . Wenn esdabei bleibt, dann muss der größte Teil der betroffenenKinder nach wie vor auf Bildung warten. Das ist nichtzufriedenstellend.
Es sind etwa 2 Milliarden Dollar pro Jahr für Bildungs-programme notwendig. Für den Bildungsfonds ist nurein Drittel dieser Summe zugesagt, aber nicht eingezahltworden. Verschiedene Länder verquicken diese Zusagemit privaten Spendengeldern. So gibt etwa die britischeRegierung eine Anschubfinanzierung von 30 MillionenPfund. Weitere 100 Millionen Pfund sollen durch privateSpenden kommen .Private Spendenbereitschaft ist schön, Hilfe darf abernicht von dieser Bereitschaft abhängig sein.
Die reichen Staaten sind in der Pflicht, die Strukturender Hilfe so zu gestalten, dass sie zuverlässig und auchlängerfristig zur Verfügung steht. Es geht hier tatsächlichum ein grundlegendes Problem der humanitären Hilfe.Es gibt zwar private Spendenbereitschaft, aber sie istmeistens nur kurzfristig für Themen und Regionen mobi-lisierbar, die gerade besonders im Fokus der Öffentlich-keit stehen. Ein zuverlässiges Hilfesystem lässt sich sokaum organisieren .Ein anderes Thema: Kanzlerin Merkel lobte es alsgutes Zeichen, dass viele Unternehmen an dem Gipfelteilnahmen. Die Bilder von dem Gipfel wirkten teilweisewie die einer großen Messe, auf der unterschiedlichsteUnternehmen ihre Dienstleistungen auf dem wachsendenMarkt der organisierten Hilfe anboten. Aus humanitärerSicht kann dies jedoch problematisch sein. Wenn Hilfezum Geschäft wird, dann kann es schnell passieren, dassnicht mehr die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunktstehen, sondern die Rentabilität die Entscheidung beein-flusst.
Unser Fokus muss auf der Menschlichkeit und demRecht der Menschen auf ein würdiges Leben und Über-leben liegen. Lassen Sie mich angesichts der unsäglichenÄußerungen aus dem rechten Lager in diesem Land auchFolgendes sagen: Wir sehen Kinderaugen nicht als Er-pressung, sondern als Verpflichtung.
Auch Vereinbarungen zum Schutz von Helferinnenund Helfern sind dringend notwendig. Die Hilfsorgani-sation „Ärzte ohne Grenzen“ blieb dem Gipfel fern, weildieses Thema nicht genügend ernst genommen wird . Eshilft auch nicht, wie Frau Merkel in ihrer Rede in Istanbulsagte, nur auf verschiedene Bürgerkriegsfraktionen zuzeigen, wenn gleichzeitig NATO-Verbündete, zum Bei-spiel in Afghanistan, Kliniken bombardieren. Vergleich-bares passierte auch im Jemen, wo saudische Streitkräfte,gut ausgestattet mit westlichen Waffen, wiederholt Kran-kenhäuser bombardiert haben. Notwendig sind also klareAbsprachen, das Völkerrecht einzuhalten und keine hu-manitären oder UN-Einrichtungen anzugreifen.
Die Kriegspolitik der NATO-Staaten muss beendet wer-den. Sie sind lange genug mit schlechtem Beispiel vo-rangegangen .Wichtig ist auch ein Stopp von Waffenlieferungen inKrisen- und Konfliktregionen. Waffenlieferungen sindkeine Lösung, sondern Teil des Problems. Jede Waffe fin-det ihren Krieg. Notwendig sind ernsthafte Bemühungenum politische Lösungen zur Beendigung von Kriegenund Konflikten. Notwendig ist zivile Krisenprävention.
Wie bereits erwähnt, sind weltweit etwa 129 MillionenMenschen auf die Hilfe der UN und ihrer Partner ange-wiesen. Von denen für humanitäre Hilfe nötigen 20 Mil-liarden Dollar für dieses Jahr ist höchstens ein Fünftel beiden UN angekommen. Es darf nicht sein, dass bis Endedes Jahres 2015 nur etwa die Hälfte der benötigten Gel-der eintrifft. Es darf nicht sein, dass das Welternährungs-programm kein Geld für die Hungernden im Jemen oderin Somalia hat, dass der Weltgesundheitsorganisation dieMittel zur rechtzeitigen Hilfe bei Gelbfieberepidemienin Zentralafrika fehlen oder die Lebensmittelrationen fürdie Flüchtlinge aus Syrien reduziert werden. All dies istim wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis .Der Hinweis, dass Deutschland bereits zu den Län-dern gehört, die sehr viel Geld für humanitäre Hilfe zurVerfügung stellen, lenkt da nur ein wenig ab. Gemessenam Bruttoinlandsprodukt lag Deutschland im letzten Jahrhinter den skandinavischen Ländern. Schweden und Nor-wegen haben 0,13 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktsgegeben und damit viermal so viel wie die Bundesrepu-blik, die etwa 0,03 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung ge-geben hat .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich stelle mir vor, dass man sich auf dem nächsten Hu-
manitären Weltgipfel eindeutig darauf verpflichtet, dass
die Weltgemeinschaft alle Ressourcen zur Verfügung
stellt, die nötig sind, um die Not aller Menschen zu lin-
dern, die Hilfe brauchen, ausnahmslos.
Für die Bundesregierung erhält nun der Staatsminister
Michael Roth das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! 1,5 Milliarden Menschen leben in Krisenge-bieten. 125 Millionen Menschen sind auf akute NothilfeInge Höger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617204
(C)
(D)
angewiesen, und mehr als 60 Millionen Menschen sindauf der Flucht. Das sind erschreckende Zahlen. Sie er-schrecken nicht nur uns hier im Bundestag, sie erschre-cken viele Menschen, aber es darf nicht beim Erschre-cken bleiben.Deshalb danke ich Ihnen allen auch dafür, dass es unsnicht zuletzt mit Ihrer Unterstützung gelungen ist, demThema Menschenrechte und humanitäre Hilfe mehr Be-deutung beizumessen . Sie haben dazu beigetragen, dassDeutschland zwischenzeitlich zum drittgrößten Geberim Bereich der humanitären Hilfe zählt. Wir werden indiesem Jahr 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung stellen.Und wir alle wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, esreicht am Ende des Tages nicht .Die beschämende Situation des vergangenen Jahres istschon beschrieben worden. Meine Zahlen, Herr KollegeKoenigs, sind noch schlimmer als die Ihrigen. Wir hattenim vergangenen Jahr eine Unterdeckung im Bereich derhumanitären Hilfe von 15 Milliarden US-Dollar.Aber trotz aller Krisen, nicht nur der von Menschengemachten Krisen, wie das Herr Koenigs eben sagte,sondern auch der Naturkatastrophen und des Klimawan-dels, von dem wir heute noch gar nicht wissen, was dieserfür Menschen wirklich bedeutet, die in noch stärkeremMaße von Naturkatastrophen betroffen sein werden, istmir wichtig, eines noch einmal zu unterstreichen: UnsereMenschenrechts- und Entwicklungspolitiker, diejenigen,die sich der internationalen Arbeit verpflichtet fühlen, diesich der Humanität verpflichtet fühlen, hatten in den ver-gangenen Jahren oftmals ein Akzeptanzproblem. Abernicht zuletzt seitdem die Tragödien der Welt ein Gesichtbekommen haben und die Menschen zu uns kommen unduns an ihren tragischen Geschichten teilhaben lassen, istdas Bewusstsein der einen Welt gewachsen.Das Geld, die Hilfe, die Kreativität, der Mut und dieLeistung, die wir außerhalb Europas investieren im Mitt-leren und Nahen Osten, in Afrika, in vielen leidgeplagtenRegionen der Welt, sind gut angelegt. Deshalb freue ichmich, dass wir nicht nur hier im Bundestag eine politi-sche Mehrheit für diese Politik haben. Nein, wir habeneine breite gesellschaftliche Mehrheit. Ich darf hinzufü-gen: Wenn das nur in anderen Politikbereichen genausoder Fall wäre.
Als jemand, der selbst an einer Reihe von Geberkon-ferenzen teilgenommen hat, kann ich den Eindruck derKolleginnen und Kollegen nur bestätigen: Auf Gipfelnetwas zuzusagen, ist relativ einfach. Es dann aber auchwirklich umzusetzen und die Mittel zur Verfügung zustellen, ist ungleich schwieriger. Ich darf Ihnen aber auchversichern – ich bin mir ziemlich sicher, die meisten vonIhnen werden das bestätigen –, dass Deutschland als einzuverlässiger Partner in der Welt gilt.
Unser Wort hat Gewicht, weil wir zu unseren Zusagenstehen .Eben ist deutlich gemacht worden, dass wir mehr tunmüssen für Bildung. Genau darum geht es doch bei demAbkommen mit der Türkei. Darum geht es im Libanon,wo wir in diesem Jahr etwa 330 Millionen Euro zur Ver-fügung stellen wollen. Wir haben uns nicht nur in Istan-bul, sondern bereits auf der Geberkonferenz in Londondarauf verpflichtet, dass ab dem Schuljahr 2016/2017jedes Flüchtlingskind die Chance auf ein Schulangeboterhält. Dafür wird das Geld investiert, und es ist deshalbauch dort gut angelegtes Geld, ob in der Türkei, im Liba-non, in Jordanien oder auch in vielen anderen Ländern.
Die Botschaft dieses Gipfels in Istanbul ist: Wir müs-sen raus aus dem permanenten Krisenmodus, bei demwir immer nur von einer Katastrophe zur nächsten eilen.Unser Ziel für die Zukunft ist ein System, das auf länger-fristiger Planung, vorausschauendem Handeln und soli-der Finanzierung beruht. Zur soliden Finanzierung habeich schon etwas gesagt, und zur längerfristigen Planungvermag ich auch etwas zu sagen .Wir haben den gesamten Bereich der humanitären Hil-fe auf Mehrjährigkeit ausgelegt.
Wir ergänzen das auch im Bereich der Stabilisierung. Wirhaben vor allem die Mittel für Gemeinschaftsfonds aus-geweitet, um auch den Initiativen vor Ort die Planungssi-cherheit zu geben, die sie dringend brauchen. Also auchhier, finde ich, haben wir in Istanbul durchaus über die170 Selbstverpflichtungen hinaus deutlich gemacht: Mandarf nicht nur reden, sondern man kann auch konkret et-was tun .
Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt benennen,der mich vermutlich am meisten umtreibt; auch da steheich nicht alleine. Istanbul hat auch ein klares Signal dafürgesetzt, dass es absolut inakzeptabel ist, die humanitärenPrinzipien des Völkerrechts weiter mit Füßen zu treten.Es ist grauenhaft, zu erleben, dass – in Syrien und an-dern orts – Hilfsorganisationen nicht den Zugang haben,um Menschen mit dem Lebensnotwendigsten zu versor-gen, dass Krankenhäuser und Schulen beschossen wer-den, dass Menschen, Kinder verhungern müssen, weildem Deutschen Roten Kreuz, dem Roten Halbmond undvielen anderen Organisationen das Geld zwar zur Verfü-gung steht, aber das Geld eben nicht dort ankommt, woes dringend gebraucht wird .Deshalb muss es uns tagtäglich darum gehen, das kla-re Signal von Istanbul immer wieder zu realisieren. Derhumanitäre Zugang von Vertretern von Hilfsorganisatio-nen in zivile Einrichtungen muss von allen gewährleistetund garantiert werden. So viel Grundverantwortung undso viel Mindestkonsens muss in dieser Welt doch mög-lich sein, um dafür zu sorgen, dass nicht am Ende nochdie Kranken, die Kinder, die Schwachen, die, die sowiesoschon den größten Preis zu zahlen haben, sterben und dieStaatsminister Michael Roth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17205
(C)
(D)
Belasteten sind. Ich hoffe, dass in Istanbul wirklich allediese Signale verstanden haben.
Zum Schluss: Ja, es geht nicht nur um humanitäreHilfe. Sie kann die politischen Lösungen nicht ersetzen.Aber auch hier stelle ich mich sehr selbstbewusst vor sie.Denn ob es nun Syrien ist, ob es die Ukraine ist, ob esLibyen ist, wir bemühen uns überall – nicht nur aus derFerne, sondern in aktiver Teilnahme an den Verhandlun-gen – darum, dass Frieden und Stabilität nicht nur ein ab-straktes Hoffnungsversprechen, sondern baldmöglichstwieder eine konkrete Zusage für viele Menschen auf demGlobus sein werden.Ich danke Ihnen dafür, dass Sie uns in dieser Politikentschieden und auch mit mancher konstruktiven Kritikunterstützen .
Michael Brand erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist mir heute bei dieser Debatte ein Anliegen, meineRede anders zu beginnen und einen Mann zu würdigen,der es verdient hat, der nicht bloß von humanitärer Hil-fe gesprochen, sondern konkret geholfen hat, und zwarden Bedürftigsten, denjenigen, die ums nackte Überlebenkämpfen mussten.Er war unabhängig, er war unbequem. Er war auchumstritten, rastlos, oft unkonventionell und kompro-misslos, aber immer hatte er den einzelnen Menschen imBlick. Es waren vermutlich gerade diese Eigenschaften,die auch notwendig waren, dass er dort helfen konnte,wo noch niemand oder nie ein Helfer war. Es waren seinCharakter und seine Haltung, die es tatsächlich geschaffthaben, den öffentlichen Fokus auf weggeblendete Ortezu werfen und – das ist das Wichtigste – Menschenlebenzu retten .Rupert Neudeck, der vor drei Tagen gestorben ist, warein humanitärer Kämpfer. Er war ein Kämpfer für dieSchwachen, ein kompromissloser Menschenfreund, einÜberzeugungstäter der guten Taten. Ich erinnere mich gutdaran, als ich ihn mit Anfang 20 kennenlernte. Ich wardamals bei einer Menschenrechtsorganisation in Bosni-en-Herzegowina engagiert. Ich lernte ihn in Flüchtlings-lagern in Albanien und in Mazedonien kennen. Ich erin-nere mich an ein Ereignis. Es muss kurz vor Ostern 1999in der Grenzstadt Blace in Mazedonien gewesen sein, alsHunderttausende von Flüchtlingen aus dem Kosovo dort-hin vertrieben wurden. Der UNHCR hatte gesagt: Wir le-gen nach Ostern richtig los, weil jetzt die Feiertage sind.Rupert Neudeck stand dort fassungslos im Schlamm undsagte: Das darf alles nicht wahr sein. – Das war gleich-zeitig der Antrieb, zu sagen: Wir packen jetzt hier an. Wirkönnen es uns doch nicht ernsthaft leisten, jetzt in Urlaubzu gehen, wenn die Not am größten ist. Rupert Neudeckhat auf konkrete Vorschläge, wenn zum Beispiel, wasoft geschieht, gesagt wurde: „Man müsste mal dies tun“oder: „Man sollte mal jenes tun“, meist geantwortet: Wa-rum fangen wir nicht einfach damit an?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, er hat sich auch indie aktuelle Flüchtlingsdebatte eingemischt, manchmalauch alle politischen Lager überrascht. Das war auch derFall, als er kürzlich sagte:Ich möchte nicht, dass Menschen für die Reinheitmeines pazifistischen Gewissens sterben.Auch das hat manche irritiert. Sicher hätte er auch zu derheutigen Debatte manches zu sagen – wahrscheinlichauch manches Kopfschütteln. Lieber Rupert: Für alles,was du getan hast, ein herzliches „Vergelts Gott“!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der HumanitäreWeltgipfel war – ich zitiere – „irgendwie doch mehr alsBlabla“. So hat das Ereignis ein deutscher Journalist inIstanbul kommentiert. Er hat recht: Man darf den Gip-fel nicht überhöhen, aber man darf ihn eben auch nichtkleinreden. Über 170 Staaten und rund 600 NGOs sinddem Ruf des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon in derletzten Woche gefolgt. Auch ich durfte als Vorsitzenderdes für humanitäre Hilfe zuständigen Bundestagsaus-schusses der deutschen Delegation angehören.
Der Humanitäre Weltgipfel war eine Premiere. Und:Ja, er war auch bitter nötig. Nie gab es mehr Menschen,die Hilfe zum Überleben brauchen, nämlich 125 Millio-nen Menschen, davon 60 Millionen, die auf der Fluchtsind. Das ist die größte Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg.Angesichts zahlreicher und vor allen Dingen – lieberHerr Koenigs, Sie haben das gesagt – langandauernderKrisen und Katastrophen verzeichnen wir einen starkanwachsenden Bedarf bei der Finanzierung humanitärerHilfe.Beim Umgang mit dieser Katastrophe geht es umnicht weniger als um einen Paradigmenwechsel. DiePerspektive der humanitären Hilfe muss sich künftignoch viel stärker verändern: von einer rein reaktiven Hil-feleistung nach einer Krise zu einem vorausschauendenHandeln zur Vermeidung von Krisen. Wir begrüßen sehr,dass die Bundesregierung hier wichtige Schritte getanhat, um sich auf diese Zäsur einzustellen. Der Ausschussfür Menschenrechte und humanitäre Hilfe hat in dieserWahlperiode vielfache Initiativen ergriffen – in öffentli-chen Anhörungen und Expertengesprächen, national undinternational –, zu den Qualitätsstandards für die huma-nitäre Hilfe und auch jetzt zum Humanitären Weltgipfelund seinen Folgen.Staatsminister Michael Roth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617206
(C)
(D)
Dass Deutschland in Istanbul mit der Bundeskanzle-rin, dem Außenminister und dem Entwicklungsministerhochrangig vertreten war, unterstreicht, dass die Dring-lichkeit der Herausforderungen jedenfalls dort inzwi-schen angekommen ist . Dass aber die erste Reihe deranderen europäischen Regierungen durch Abwesenheitgeglänzt hat – und das, obwohl wir in Europa eigentlichalle gemeinsam das größte Interesse haben sollten, zugemeinsamen Lösungen zu kommen –, genauso wie dieVetomächte, kann ich nur als kurzsichtig und ignorantbezeichnen .Die Initiative für diesen Gipfel war und ist richtig,weil er bereits in der Vorbereitung einen dringend not-wendigen Prozess der Veränderung in einer sich dyna-misch verändernden Welt angestoßen hat.Gelöst ist nichts. Umso mehr kommt es jetzt, nachIstanbul, darauf an, gemeinsam konkrete Schritt umzu-setzen. VENRO, der Verband Entwicklungspolitik undHumanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisa-tionen, hat recht: Das humanitäre System ist in seinerderzeitigen Struktur den gewaltigen Herausforderungennicht gewachsen. Es ist unterfinanziert, agiert zu schwer-fällig und zentralisiert. Wir brauchen deshalb – da stim-me ich mit dem Kollegen Koenigs wieder überein – einestärkere Dezentralisierung und Lokalisierung humanitä-rer Hilfe.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was muss eigentlichnoch passieren, dass nach großspurigen Ankündigungenauf internationalen Geberkonferenzen das zugesagteGeld auch dort ankommt, wo es am nötigsten gebrauchtwird? Ich glaube, der Humanitäre Weltgipfel muss alsAusgangspunkt für eine konkrete und umfassende Re-form des humanitären Systems genutzt werden. Wir allemüssen die Krise zum Wendepunkt machen und sie auchals Chance sehen, die Ursachen nicht länger und konse-quent zu ignorieren.Niemand sollte sich einbilden, dass sich die Krisenvon allein erledigen, dass man sie aussitzen könnte undes möglich wäre, so weiterzumachen wie bisher. Dass esso weit kommen konnte, zeigt auch, wo die Versäumnis-se liegen. Jeder erinnert sich an den Dezember 2014 –der frühere UN-Flüchtlingskommissar Guterres hat es jaerwähnt –: Die Einstellung des World-Food-Programmsfür 1,7 Millionen Flüchtlinge war der eigentliche Auslö-ser für die Fluchtwelle. Wahr ist doch: Massenhaft Chan-cen, gnadenlos vergeigt! Viel zu lange haben wir alle ak-zeptiert, dass man Fakten einfach ignoriert .Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand sollte heu-te – das ist eine andere Seite – unterschätzen, wie großauch die Chancen sind, etwas zu bewirken, wenn dieseUrsachen für Armut, Perspektivlosigkeit und Flucht ak-tiv, rechtzeitig und mit den richtigen Mitteln bekämpftwerden. Der globale Bildungsfonds für Kinderflüchtlin-ge ist ein wichtiger Start. Eine verlorene Generation dür-fen wir einfach nicht akzeptieren. Das hieße, sich an denjungen Menschen zu versündigen. Auch das wird eineRiesenherausforderung werden .Wir dürfen die Augen vor den Realitäten nicht ver-schließen, und wir müssen nach Istanbul zäh, aber auchmit Tempo für Veränderungen arbeiten. Ich nenne hiernur drei Punkte:Erstens. Es braucht mehr Geld, eine bessere Organisa-tion, Qualität und Effizienz.Zweitens . Wir müssen raus aus dem permanentenKrisenmodus und zu einer vorausschauenden Hilfe kom-men, die auch neue Akteure, wie die Privatwirtschaft,einbindet .Drittens. Gerade diejenigen, die die Hilfe am nötigs-ten brauchen, erreicht sie oftmals nicht – ich denke andie Menschen in Syrien, im Jemen und im Südsudan –,weil es keinen sicheren Zugang gibt. Das darf bei allerGipfelrhetorik nicht verdrängt werden.Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisen-management, Christos Stylianides, hat mir gestern imGespräch hier im Deutschen Bundestag gesagt, dass es inIstanbul über 1 000 Selbstverpflichtungen gegeben hat.Versprochen wurde in der Vergangenheit genug . Jetztist endlich Umsetzung angesagt. Auch deshalb wäre esrichtig und notwendig, dass es einen Überprüfungsme-chanismus gibt, zum Beispiel ein internationales Monito-ring-System mit Berichtspflichten. Auch das ist für micheine Konsequenz aus diesem Gipfel in Istanbul. Jedermuss erfahren, wer seine Zusagen eben nicht eingehaltenund gebrochen hat, und jeder muss es wissen, wenn außerWorten nichts geblieben ist und die nächste Katastrophemit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn aus WortenTaten werden, dann wird der Humanitäre Weltgipfel eingroßer Erfolg. Um es mit Rupert Neudeck zu sagen: Wa-rum fangen wir nicht einfach damit an?
Der Kollege Frank Schwabe spricht als Nächster für
die SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Damen und Herren! Ich glaube in der Tat, manmuss zunächst einmal mit einem Lob anfangen. Ichkann nämlich die Kritik daran, wer alles aus Deutsch-land nach Istanbul gereist ist, nicht nachvollziehen. Eswurde gesagt, das wäre zu viel der Würde. Wie wäre esdenn eigentlich andersherum gewesen? Was wäre denngewesen, wenn die Bundeskanzlerin, der Außenministerund der Entwicklungsminister bei einem solch zentralenThema nicht nach Istanbul gefahren wären? Dann wäredie Kritik wahrscheinlich genau andersherum gewesen.Sie wissen ganz genau: Die Vorbereitung begann vordrei Jahren und mehr. Damals war nicht absehbar, welcheDebatten wir heute rund um die Türkei und um Istan-bul führen werden. Insofern war es richtig – das ist auchMichael Brand
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17207
(C)
(D)
wahrgenommen worden –, dass Deutschland dort hoch-rangig vertreten war .
Darauf können wir uns nicht ausruhen, aber es ist gut,dass Deutschland weltweit der drittgrößte Geber ist, undwir werden uns bemühen – Frau Steinbach und ich habendarüber schon geredet –, dass wir das Ganze auch haus-halterisch entsprechend absichern.
Es ist auch gut, dass Deutschland – so nehme ich das je-denfalls wahr; das ist ja gerade auch gewürdigt worden –im internationalen Konzert der Impulsgeber dafür war,das humanitäre Hilfssystem auf eine andere Grundlage,eine qualifizierte Basis, zu stellen.Es war keine Geberkonferenz, über die wir hier reden .Trotzdem muss man über Finanzen sprechen. Das willich gleich auch noch tun.Vorab will ich aber das unterstreichen, was vieleKolleginnen und Kollegen hier gesagt haben: In allemSchlechten – gemeint ist die schwierige weltweite huma-nitäre Lage – liegt auch etwas Gutes. Es ist die Chance –wir haben ein neues Momentum –, ganz anders über diehumanitäre Hilfe für die 60 Millionen Flüchtlinge, vondenen Sie gesprochen haben, und für die 100 bis 200 Mil-lionen Menschen – je nachdem, wie man das sieht –, dieauf humanitäre Hilfe angewiesen sind, zu reden.Sich um die humanitäre Hilfe zu kümmern, ist ebennicht „Nice to have“, also irgendetwas, was man auchnoch einmal machen kann, sondern es geht um das Le-ben und die Würde von Menschen. Das allein wäre schonGrund genug. Es geht aber eben auch um knallharte Au-ßen- und Sicherheitspolitik. Es geht darum, ob bestimmteRegionen der Welt dauerhaft stabilisiert oder destabili-siert werden. Darüber reden wir bei der humanitären Hil-fe im Kern.Wir reden auch über Fluchtbewegungen, die ausgelöstwerden, wenn es keine ausreichende humanitäre Hilfegibt, und wir reden darüber, was eigentlich mit den Kin-dern passiert, die zur Schule gehen müssen, das zurzeitaber nicht können. Sie sind doch wirklich das Futter fürdiejenigen, die sich terroristische Vorhaben auf der gan-zen Welt vorgenommen haben. Auch das muss mit huma-nitärer Hilfe unterbunden werden.
Der Humanitäre Weltgipfel kann nur ein erster Auftaktfür eine solche intensivierte Debatte sein. Er funktionierteben nicht wie Klimakonferenzen, bei denen wir amEnde einen Mechanismus haben und Dinge völkerrecht-lich verbindlich verabredet werden, sondern der Gipfelfunktioniert im Moment nur über Einzelverabredungen,die hier aufgezählt worden sind, und darüber, dass mansich eine Liste von Themen vornimmt, über die man re-den will. Dazu ist auch ein Papier verabschiedet worden,das sogenannte Grand Bargain, also der große Deal oderwie auch immer man das übersetzen will, in dem die Din-ge, die Sie gerade benannt haben, stehen .Die Fragen sind: Wie kann man humanitäre Hilfemit Entwicklungszusammenarbeit verzahnen, nicht ver-schmelzen? Verschmelzen funktioniert nicht, weil diePrinzipien unterschiedlich sind. Wie kann man dabei hel-fen, dass Akteure, zum Beispiel die Geflüchteten, in dieEntscheidungsstrukturen eines Systems humanitärer Hil-fe hineingenommen werden? Wie können wir lokale Or-ganisationen stärken? Wie können wir eine mehrjährigeFinanzierung organisieren? Wie können wir Konfliktprä-vention entsprechend stärken? Das Entscheidende wirdsein, dass auf diesen Gipfel etwas folgt und es entspre-chend weitergeht. Die Struktur, wie das weitergehen soll,ist noch nicht klar. Das muss aber im Laufe dieses Jahresklar werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mich immerwieder fassungslos macht, ist die Tatsache, wie stark die-ses humanitäre Hilfssystem unterfinanziert ist. Trotz allenLobs über die London-Konferenz haben wir im Rahmender Hilfe für Flüchtlinge und für geflüchtete Menschenaus Syrien eine Unterfinanzierung. Wir haben eine dra-matische Unterfinanzierung bei der humanitären Hilfe imSüdsudan, im Jemen und bei dem El-Niño-Phänomen.Wir haben bei der Finanzierung ein Loch von mindestens15 Milliarden US-Dollar. Das ist mehr als die Hälfte des-sen, was wir in der humanitären Hilfe brauchen.Ich will die letzten Sekunden meiner Redezeit, die ichnoch habe, dafür nutzen, klarzumachen, wie wenig Gelddas am Ende ist. Man muss wirklich mit dem Begriff „Pe-anuts“ aufpassen, aber das sind Peanuts. Dieses Geld istein Zwanzigstel von dem, was die weltweit 100 größtenRüstungsfirmen jedes Jahr mit Waffenverkäufen umset-zen. Es ist weniger als das, was Großbritannien und dieTürkei für den Bau eines neuen Atomkraftwerks planen.Es ist nur die Hälfte dessen, was zum Beispiel Herr Zu-ckerberg besitzt, der sich immer wieder wohltätig geriert.Es ist eben – das müssen wir uns klarmachen – beiallem Lob über die deutsche Rolle weniger als die Hälftedessen, was für den Verteidigungsetat dieses Landes zurVerfügung steht. Deswegen haben wir als Bundestag dieAufgabe, uns zum einen für das zu loben, was wir in dieHaushalte eingestellt haben, aber zum anderen bei denHaushaltsberatungen darauf zu achten, dass es zumindestdabei bleibt und dass wir weitere Impulse finanzieller Artin das internationale System geben können, damit wirden unerträglichen Zustand der Unterfinanzierung been-den und dafür sorgen, dass Terroristen die Nahrung ent-zogen wird . Das ist unsere gemeinsame Verantwortung .Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Volker Ullrich spricht als Nächster fürdie CDU/CSU .
Frank Schwabe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617208
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Kriegerische Auseinandersetzungen und Natur-katastrophen verursachen großes menschliches Leid. DerKonflikt in Syrien und im Nord-Irak hat Millionen vonMenschen zu heimatlosen Flüchtlingen gemacht. Natur-katastrophen wie Erdbeben in Haiti und Nepal verlangennach schneller Hilfe. Hungernde Menschen in der Sa-helzone benötigen Nahrung und sauberes Wasser. Über130 Millionen Menschen sind derzeit unmittelbar auf hu-manitäre Hilfe angewiesen.Das Leid und die Verzweiflung dieser Menschen sinddurch die Bilder spürbar, die uns täglich erreichen. DieAntwort darauf, wie wir mit dieser Situation umzugehenhaben, hat uns der in dieser Woche verstorbene RupertNeudeck gegeben, an den auch ich im Rahmen dieserRede erinnern möchte. Er sagte:... wir dürfen uns keine Verzweiflung leisten. Ver-zweiflung ist eine Luxushaltung für einen Humani-tären. Wir müssen immer überlegen, wie wir Wegezu den Menschen finden.Diese Wege zu Menschen in der Not ist die humanitäreHilfe. Wir leisten sie, weil unser Menschenbild uns ver-pflichtet, solidarisch zu sein. Wir leisten sie gerne, weilwir überzeugt sind, dass Mitmenschlichkeit ein Schlüsselzu einer besseren Welt ist.Der Bedarf an humanitärer Hilfe beträgt derzeit etwa20 Milliarden Euro pro Jahr. Dieses Geld wird dringendbenötigt: für Nahrung, sauberes Wasser, ein Dach überdem Kopf, Babynahrung und Medikamente. Es steht abernicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Allein 2015blieb ein Betrag von 7 Milliarden Euro ungedeckt. Mei-ne Damen und Herren, es ist nicht hinnehmbar, wie Leidnoch vergrößert wird, weil die Finanzierung der elemen-taren humanitären Hilfe nicht sichergestellt werden kann.
Wir blicken auf die Flüchtlingslage in Jordanien. DieMenschen dort haben erfahren, was es bedeutet, wennGelder für Essensrationen drastisch gekürzt werden. Ichformuliere klar und deutlich: Dieses Beispiel muss unsvor Augen führen: So etwas darf und soll nicht mehr vor-kommen .Die Frage, die sich die wohlhabenden Staaten dieserWelt stellen müssen, ist eine ganz einfache: Wie kann essein, dass für viele Dinge Geld vorhanden ist, sich aberoftmals der Eindruck erschließt, dass die Not von Men-schen nicht die oberste Priorität hat?
Wie kann es sein, dass Hilfsgelder erst zugesagt unddann entgegen der Abrede nicht ausgezahlt werden?Meine Damen und Herren, welchen Eindruck macht dasauf Hilfsorganisationen, die sich mit ihren Freiwilligenin die Krisengebiete der Welt bewegen und dann feststel-len, dass ihre elementare Finanzierung nicht sicherge-stellt werden kann?Wir brauchen deswegen eine Reform der humanitärenHilfe mit folgenden Eckpunkten:Erstens. Die Gelder müssen deutlich erhöht und imvollen zugesagten Umfang unmittelbar zur Verfügungstehen .Zweitens . Wir brauchen funktionierende Mechanis-men der humanitären Hilfe, welche eng mit langfristigenProjekten der Entwicklungszusammenarbeit verknüpftsind .Unser Land geht, wie ich meine, mit gutem Beispielvoran. Auf der Geberkonferenz in London sind bis 2018 2,3 Milliarden Euro anvisiert worden. Für das Welter-nährungsprogramm werden wir über 500 Millionen Eurobeisteuern. Auf dem Gipfel in Istanbul hat Deutschlandeinen Betrag von 50 Millionen Euro für den UN-Nothil-fefonds zugesagt .Es gab noch keinen Bundesminister für wirtschaftli-che Zusammenarbeit und Entwicklung wie Gerd Müller,der so intensiv und nachhaltig für die Erhöhung der Mit-tel für die Entwicklungszusammenarbeit geworben hat.
Das ist gelebte Verantwortung. Dafür sagen wir herzli-chen Dank .
Wir brauchen neben der Stärkung der humanitärenHilfe auch eine Stärkung des Rechts. Wir erleben derzeiteinen Zustand der Krise des humanitären Völkerrechts.Ein elementarer Grundsatz des humanitären Völker-rechts besteht darin, dass jedem geholfen werden mussund kann, unabhängig von Kultur, Religion, Herkunftoder einer etwaigen Angehörigkeit zu einer Konfliktpar-tei, und dass die Helfer ungefährdet ihre Arbeit verrich-ten können.Leider wird dieses Prinzip zunehmend gebrochen. Wirmüssen erleben, dass Krankenhäuser bombardiert undÄrzte und Pflegepersonal angegriffen und verletzt wer-den oder gar ihr Leben verlieren. Wir müssen erleben,dass Kriegsflüchtlinge zur Zielscheibe werden und selbstihre Zufluchtsorte nicht verschont bleiben.Am 28. April dieses Jahres sind mindestens 30 Men-schen bei der Bombardierung einer Klinik im syrischenAleppo ums Leben gekommen. Am 5. Mai ist ein Flücht-lingslager in der Provinz Idlib bombardiert worden.Mehr als 28 Menschen verloren dabei ihr Leben. DieseAngriffe sind als das zu bezeichnen, was sie sind: Es sindKriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit.Die Täter müssen der Rechenschaft zugeführt wer-den. Es wäre auch notwendig gewesen, dass die Welt-gemeinschaft auf diesen Verstoß gegen das humanitäreVölkerrecht eine noch deutlichere Antwort gefunden hät-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17209
(C)
(D)
te. Diese Antwort wäre notwendig, um eine Geltung undWiederherstellung des Rechts zu ermöglichen.Meine Damen und Herren, wir werden die Ergebnissevon Istanbul wohlwollend und konstruktiv begleiten. Wirwissen, dass dieser Gipfel nicht das Ende oder das Ergeb-nis einer langen Wegstrecke ist. Er ist vielmehr der An-fang, um durch unsere Generation Menschlichkeit undHilfe für die Schwachen zu erreichen.Ich darf zum Schluss dieser Debatte noch einmal anRupert Neudeck erinnern, der unlängst gefragt wurde,wie er denn die Kraft aufbringe, zu helfen. Da antworteteer – ich zitiere ihn –:Es ist ein Geschenk, in einer so freien Gesellschaftzu leben. Ich will den Menschen etwas zurückge-ben .Inspiriert habe ihn dabei das Gleichnis vom barmherzi-gen Samariter . Diese Geschichte – so sagte er – trete ihmimmer wieder in den Bauch, und sagt: Du bist zuständigfür die Not anderer Menschen, jetzt und sofort.In diesem Sinne, meine Damen und Herren, lassen Sieuns das Bewusstsein schaffen, und lassen Sie uns han-deln!Herzlichen Dank.
Zum Abschluss dieser Aussprache spricht die Kolle-
gin Dr. Ute Finckh-Krämer für die SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribü-nen! Die letzte Rednerin in der Debatte hat immer dieChance, auf das einzugehen, was die Vorrednerinnen undVorredner gesagt haben, und hat die Möglichkeit, auf dashinzuweisen, was jetzt nach der Debatte kommt. Das willich gerne tun .Das eine ist – das muss hier, glaube ich, noch einmalgesagt werden –, dass ein so großer Gipfel mit einem solangen Vorlauf, wie er in Istanbul stattgefunden hat, nichtaufgrund aktueller politischer Entwicklungen in eine an-dere Stadt umgelegt werden kann. Das heißt, die Alterna-tive wäre gewesen, den Humanitären Weltgipfel abzusa-gen. Ich glaube, wir sind alle froh, dass er stattgefundenhat: wegen der vielen Tausend Menschen, die sich da-rauf vorbereitet haben, wegen der Vereinbarungen, diedort getroffen wurden, wegen der 170 Verpflichtungen,die Deutschland eingegangen ist, von denen uns vorges-tern der Vertreter des Auswärtigen Amtes im Menschen-rechtsausschuss berichtet hat und die wir im Menschen-rechtsausschuss zusammen mit dem Antrag, der heutevorgelegt und diskutiert worden ist, natürlich analysierenund diskutieren werden .Insofern ist es richtig und wichtig, dass der Gipfelstattgefunden hat, auch wenn man rückblickend sagenwürde, angesichts der aktuellen Entwicklungen wärevielleicht ein anderer Ort besser gewesen. Es kommt abernoch der Flüchtlingsgipfel in New York am 19. Septem-ber. Ich hoffe, dass bis dahin in New York nichts pas-siert, was dann diesen Tagungsort auch irgendwie infragestellt. Insofern: Es geht weiter.Es geht auch hier im Bundestag weiter . Es wurdeschon gesagt, dass wir sehen müssen, dass wir weiterhinso viel Geld für humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen,wie wir es in diesem Jahr getan haben. Darauf können wirin den Beratungen des Ausschusses für Menschenrechteund humanitäre Hilfe achten, und da sind vor allem auchunsere Haushälter gefragt. Wir werden als Bundestag na-türlich darauf achten, dass die Milliarden Euro, die vonder EU der Türkei zugesagt wurden, nicht irgendwo vonder türkischen Regierung vereinnahmt werden, sonderndass diese Milliarden Euro in konkrete Projekte für die2,7 Millionen Flüchtlinge, die in der Türkei sind, einge-setzt werden .
Wir können auch weiterhin, wie wir das bisher zumTeil schon getan haben, die Arbeit des Koordinierungs-ausschusses Humanitäre Hilfe begleiten, der ja eine fasteinmalige Organisation ist, in der staatliche und nicht-staatliche Akteure der humanitären Hilfe in Deutschlandzusammenarbeiten. Wir können natürlich immer wiederdie Bundesregierung befragen, was denn aus den Ver-pflichtungen, die sie in Istanbul und auf anderen Kon-ferenzen eingegangen ist, geworden ist. Und wir könnenden einen Punkt weiterverfolgen, der im Chair’s Sum-mary des Humanitären Weltgipfels vorkommt und dermich sehr gefreut hat, nämlich: Wie können eigentlichKonflikte, die zu Not, zu Bedarf an humanitärer Hilfeführen, friedlich beigelegt werden? Wie kann die Eskala-tion von Konflikten zu Krieg und Bürgerkrieg verhindertwerden? Wie können Friedensprozesse in Ländern, wo esschon bewaffnete Konflikte gibt, unterstützt werden mitdiplomatischen Mitteln, aber auch mit Mitteln der Me-diation? Wie können die Vereinten Nationen unterstütztwerden, die über eine nicht übermäßig gut ausgestatteteMediation Support Unit verfügen? Wie können die Frie-densprozesse unterstützt werden, an denen Deutschlandim Augenblick beteiligt ist, etwa in Libyen oder in Syri-en? Wie können lokale Organisationen einbezogen wer-den, um Friedensprozesse zu unterstützen?In diesem Jahr haben wir im Rahmen der OSZE-Prä-sidentschaft die Chance, ein Land zu unterstützen, dasnoch gar nicht genannt wurde, nämlich die Ukraine, woes insgesamt 1,7 Millionen Flüchtlinge und Binnenver-triebene gibt, die zwar nicht alle, aber teilweise auf hu-manitäre Hilfe, Mittel der Übergangshilfe oder Mittelder Entwicklungszusammenarbeit angewiesen sind. Wirkönnen zudem versuchen, langanhaltende Konflikte zubeenden, bei denen noch immer Menschen als Vertriebe-ne oder Flüchtlinge gelten, etwa den in Berg-Karabach.Wir haben also noch eine Menge zu tun und umzuset-zen . Die Arbeit hat erst begonnen . Wir werden uns ihrstellen.
Dr. Volker Ullrich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617210
(C)
(D)
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/8619 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Kein Widerspruch erhebt sich. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf:Vereinbarte DebatteWeiterentwicklung der Exzellenzinitiative und Förderung des wissenschaftlichen Nach-wuchsesNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Widerspruchhöre ich keinen. Dann ist diese Redezeit so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort für die Bundesregierung Bundesministe-rin Dr . Johanna Wanka .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir diskutieren in Deutschland über viele Dinge,zum Beispiel sehr oft über das Thema Rente. Wie wirdsie sich entwickeln? In welchem Alter kann man in Ren-te gehen? Wie sieht es in 10 oder 15 Jahren aus? Kön-nen wir uns toll positionieren? Können wir Beschlüssefassen? Aber das alles ist Makulatur, wenn wir es nichtschaffen, zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich leistungs-fähig zu sein; denn es handelt sich um eine umlageori-entierte Rente . Momentan sind wir in einer sehr gutenSituation. Wir sind die viertstärkste Industrienation derWelt. Aber das bleibt nicht automatisch so. Deswegenmuss man vorausschauend denken .Was bzw. wer sind die Basis für unsere wirtschaftli-che Leistungsfähigkeit? Das sind Innovationskraft undFachkräfte. Die Hochschulen, das Herzstück des Wis-senschaftssystems, sind für akademische Fachkräfte undInnovationen in herausragendem Maße verantwortlich.Man kann nicht einfach sagen: Es läuft gut, und das las-sen wir so. – Vielmehr müssen wir überlegen, welchesdie Herausforderungen der Zukunft sind und was manändern und strategisch bedenken muss. Genau das habenwir getan . Unsere Ergebnisse, über die wir heute disku-tieren, liegen Ihnen als Gesamtpaket vor.Da ist zum einen die Exzellenzinitiative. Wir hat-ten schon vor 20 Jahren, als viele Wirtschaftsführerdas anders gesehen haben, eine starke, leistungsfähigeHochschullandschaft. Aber wir brauchten und braucheninternationale Spitzenforschung; denn eine sichtbareSpitzenforschung ist für die Wettbewerbsfähigkeit unse-res Landes entscheidend. Wir brauchen nicht nur Breite,sondern auch Spitze .
Damals, als wir vor rund zehn Jahren zum ersten Malüber eine Exzellenzinitiative geredet haben, war ich einintensiver Verfechter in der KMK, Herr Rossmann, nichtnur aufzulisten, welche Universitäten gut und spitze sind,sondern auch wissenschaftsadäquat zu entscheiden. Wiralle wissen, dass es eine Hochschule geben kann, die ineinem Bereich spitze ist, aber nicht in allen. Deswegensind Exzellenzcluster für uns – damit haben wir uns da-mals auch durchgesetzt – das Wissenschaftsadäquate;man kann ihre Ergebnisse gut messen . Man kann sehr guteinschätzen, ob die Hochschule zum Beispiel im Bereichder Biotechnologie Weltspitze ist oder etwas anderes.Deswegen ist es für mich folgerichtig, dass wir in derNachfolge der Exzellenzinitiative jetzt den Exzellenz-clustern den größten finanziellen Betrag einräumen. Vonden 533 Millionen Euro jährlich gehen 385 MillionenEuro an die Exzellenzcluster. Es wird 45 bis 50 Exzel-lenzcluster geben. Man kann sich fragen: Sind das nichtzu viel? Wir haben eine unwahrscheinliche Breite in vie-len Fächern. Deswegen glaube ich, dass das eine gut Zahlist, auch was die Finanzen betrifft .Wir haben eine Empfehlung der Imboden-Kommis-sion, für die ich große Sympathie hatte, umgesetzt. Dasheißt, wenn eine Hochschule einen Cluster einwirbt,dann bekommt die Hochschulleitung 1 Million Eurojährlich, für das zweite 750 000 Euro und für das dritte500 000 Euro. Die Hochschulleitung kann diese Mittelzur strategischen Profilierung nicht nur des Clusters, son-dern der Hochschule insgesamt einsetzen. Wir wollen de-zidiert auch kleine Cluster. Das war auch bisher möglich.Das betrifft zum Beispiel die Geisteswissenschaften. Esmüssen nicht immer die großen Klopper sein. Der uni-versitäre Zuschlag ist völlig unabhängig vom Finanzvo-lumen des Clusters, das man einwirbt.Das Besondere ist, dass wir nicht nur für sieben Jah-re, sondern dauerhaft Spitzenforschung in Deutschlandfördern.
Das heißt, dass es nach sieben Jahren einen neuen Wett-bewerb gibt. Alle Cluster müssen sich neu orientierenund neu bewerben .Die Exzellenzuniversitäten müssen als notwendigeVoraussetzung zwei Exzellenzcluster haben, im Verbund,der möglich ist, drei. Wir haben neue Möglichkeiten ge-schaffen und sind bereit, als Bund dauerhaft institutionellzu fördern. Wir binden diese Förderung aber an strikteVoraussetzungen . Eine Voraussetzung ist, dass man wie-der zwei Cluster einwirbt. Wenn man dieses nicht tut, istman klar aus der Riege heraus. Wenn man es aber schafftund zwei Cluster einwirbt, ist man nicht automatischweiter im Geschäft, sondern dann wird evaluiert, ob das,was die Hochschule in den letzten Jahren geleistet hat,wirklich höchste wissenschaftliche Exzellenz ist.Das ist das Prinzip, nach dem wir bei der Max-Planck-Gesellschaft vorgehen. Die deutsche Wissenschaftsinsti-tution, die im Ranking am höchsten steht – zweiter Platznach Harvard –, ist die Max-Planck-Gesellschaft. Wirwollen aber erreichen, dass es nicht nur als Qualitätskri-terium gilt, aus den USA oder anderen Teilen der Welt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17211
(C)
(D)
zur Max-Planck-Gesellschaft zu gehen, sondern auch zueinigen deutschen Universitäten.
Man kann noch so viele Programme auflegen, aberwenn es keine Wissenschaftler, gerade junge Leute, gibt,die sich engagieren, die Ideen haben und gerne in demSystem arbeiten, dann wird unsere Strategie nicht effek-tiv umgesetzt werden . Deswegen ist es wichtig, gute Ar-beitsbedingungen und gute Karrierechancen im Wissen-schaftssystem zu bieten . Wir haben einen ersten Schrittdazu getan, indem wir die BAföG-Mittel zu 100 Prozentübernommen haben. Das sind 1,17 Milliarden Euro jähr-lich, die jetzt den Ländern zur Verfügung stehen.Daraus kann man mehr als 10 000 Stellen finanzieren,je nachdem, wie man sie ausstattet. Der Wissenschaftsrathat seinerzeit gefordert, bis 2023 einige Tausend Stellenzu schaffen. Wir haben Mittel zur Verfügung gestellt, mitdenen wesentlich mehr Stellen geschaffen werden kön-nen .
Die Mittel werden unterschiedlich genutzt, aber mankann beruhigt sein: Das Geld gibt es unbefristet. Wennein Land in dieser Richtung noch nicht gut entschiedenhat, kann es sich noch im nächsten Jahr oder in zwei Jah-ren entscheiden. Das ist ohne Weiteres möglich.
Dieser Part ist von uns geleistet worden. Jetzt kommtein nächster Schritt, um Planungssicherheit zu schaffenund Karrierechancen berechenbar zu machen. Das ist dasTenure-Track-Programm .Ich bin den Koalitionären sehr dankbar
– genau –, dass sie sich entschieden haben, das mit einemKoalitionsbeschluss zu bekräftigen. Wir kommen daraufzurück, wenn es ums Geld geht. Aber ich bin sehr froh,dass wir da an einem Strang ziehen .Als damals die Juniorprofessur eingeführt wurde, gabes viele Widerstände, gerade auch aus der Parteirichtung,aus der ich komme . Ich war von Anfang an ein Verfechterder Juniorprofessur. Die hat sich auch bewährt. Geradejunge Frauen haben bei der Juniorprofessur bessere Chan-cen als anderswo. Aber das Tenure-Track-Programm istetwas anderes . Bei einer Juniorprofessur hat man sechsJahre Zeit, um unabhängig und selbstständig zu forschenund damit alle Voraussetzungen zu erwerben, um sich aufeine Professorenstelle zu bewerben. Man hat zwar besteVoraussetzungen, aber ansonsten keine Sicherheit .Bei Tenure Track ist es so: Es gibt ein Ausschrei-bungsverfahren. Man bewirbt sich. Nach sechs Jahrenhat man Rechtssicherheit; da hat man eine unbefristeteStelle, falls man die nötige Leistung erbringt. Das ist alsoein anderes System. Weil es planbar ist, wird das dazuführen, dass junge Leute, die jetzt woanders sind, zumTeil auf schlechter dotierten, aber unbefristeten Stellen,zurückkommen .
Das ist ein wichtiger Schritt .Wir haben daran eine Bedingung geknüpft . Das warzwingend notwendig; denn keiner hier im Saal hat Lust,1 Milliarde Euro für die Finanzierung eines Vorhabensauszugeben, wenn am Ende der Stand wie zuvor ist . Des-wegen unsere klare Forderung – berechenbar und genauquantifiziert –: Durch Tenure Track muss es zusätzlich1 000 Stellen geben. Berücksichtigt wurde dabei, dassdie Situation zum Beispiel in Sachsen und in Thüringenetwas schwieriger ist. Trotzdem: Es muss 1 000 zusätzli-che Stellen geben.Nachhaltigkeit kommt darin zum Ausdruck, dass esnicht reicht, eine Tenure-Track-Stelle auszuschreiben,das nötige Geld für sechs plus zwei Jahre zu nehmen unddann alles wie vorher laufen zu lassen; vielmehr müssendiese 1 000 Stellen immer wieder ausgeschrieben werden,sodass wir flächendeckend in das Tenure-Track-Systemhereinkommen . Damit werden wir einen Strukturwan-del – wieder ist der Bund der Impulsgeber – auslösen.Das, glaube ich, ist wichtig.
Wenn die Forschungsergebnisse in den Hochschulengut sind und etwas Anwendungsorientiertes entstandenist, dann gelingt es auch, diese Ergebnisse in die Praxiszu transferieren. Aber es gelingt nicht immer, und wirverlieren noch an dieser Stelle. Deswegen ist es wichtig,den Transfergedanken in den Hochschulen zu fördern.Das Programm „Innovative Hochschule“ setzt genau da-rauf. Da geht es um technologische, aber auch um ge-sellschaftliche Innovationen. Da geht es nicht darum,einen Transferbeauftragten zu haben – einen solchenBeauftragten haben mittlerweile alle; und die machenihre Arbeit auch gut –, sondern es geht um neue Ideen,ganzheitliche Konzepte, strategische Partnerschaften.Wir wollen die Besten im innovativen Bereich. DiesesProgramm richtet sich insbesondere an Fachhochschulenund an kleinere Universitäten. Auch diese Zielstellung istwichtig. Wir haben ja Hochschulen mit unterschiedlichenAufgaben .Ich glaube, dass das Gesamtpaket, das wir vorgelegthaben, kohärent ist. Es ist ein Paket, über das wir na-turgemäß intensiv, das wir aber auch schnell diskutierthaben, ein Paket, dem kein Wissenschaftsminister undkeine Wissenschaftsministerin widersprochen haben . Esliegt jetzt auf dem Tisch der Ministerpräsidenten und derBundeskanzlerin, und dann, falls sie so entscheiden, wiewir es uns wünschen, dann geht es los. Dann gibt es zweiMonate später eine Ausschreibung für das Projekt „Inno-vative Hochschule“, dann stehen für alle, die jetzt in derExzellenzinitiative erfolgreich waren, Übergangsfinan-zierungen für zwei Jahre zur Verfügung; das gilt auch fürdie Graduiertenschulen. Und Ende 2019 startet dann dieFörderung der Exzellenzuniversitäten.Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617212
(C)
(D)
Ich denke, es ist insgesamt ein Signal, dass wir nichtnur die außeruniversitären Einrichtungen und vieles an-dere schätzen, sondern dass wir auch den Hochschulenwirklich ganz andere Möglichkeiten geben. Ich hoffe aufErfolg.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Gohlke,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Heutegeht es also um die Pakte, die Bund und Länder zur Fi-nanzierung von Vorhaben an den Hochschulen geplanthaben. Die Opposition hätte sich gerne einzeln und in-tensiver mit den verschiedenen Ansätzen auseinanderge-setzt; denn diese Wissenschaftspakte sind ja keine Fuß-noten und auch keine Kleinigkeit, sondern es geht umMilliardenbeträge und darum, wie sie verteilt werden.Wenn wir jetzt aber über alles zusammen diskutieren,dann möchte ich gerne mit der Frage der Verhältnismä-ßigkeit beginnen; denn da hat die Bundesregierung ausunserer Sicht wirklich den größten Nachholbedarf. Manhat das Gefühl, die Regierung hat jedes Gespür für dasVerhältnis von Spitzen- und Breitenförderung verloren.
Sie macht Milliarden für die Elitenförderung locker, undder große Rest wird am Katzentisch mit ein paar Almo-sen abgespeist .
Sie nennen das dann Elite und Exzellenz. Ich nenne dasverantwortungslos; denn es wird den Herausforderungen,vor denen die Hochschulen stehen, einfach nicht gerecht.Das ist das große Problem dieser Regierung.
Das große und ungelöste Problem an den Hochschu-len heißt Unterfinanzierung, chronische und dauerhafteUnterfinanzierung.
Ich gebe Ihnen gerne auch noch einmal einen Einblick indie Situation vor Ort, falls die Regierung das jetzt geradeaus den Augen verloren haben sollte.Da ist zum einen die völlig prekäre soziale Infrastruk-tur. Der BAföG-Satz, der zum Oktober endlich einmalerhöht wird, ist bereits zum Zeitpunkt seiner Erhöhungwieder überholt und unzureichend.
Die Studierenden lernen in völlig überfüllten Seminaren,Bibliotheken müssen ihre Öffnungszeiten einschränken,und die Mensen sind so unterfinanziert, dass sie das Es-sen verteuern .
Das ist doch die Situation vor Ort.
Das zweite, seit Jahren ungelöste Problem ist dieschlechte Situation für die Beschäftigten und für dieWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ändern wirdsich daran erst etwas, wenn wirklich Geld in die Handgenommen wird, um verlässliche Karrierewege und Dau-erstellen in der Wissenschaft zu schaffen
durch die Einrichtung von zusätzlichen Professuren, abervor allem doch durch dauerhafte Stellen im Mittelbau.
Und was macht die Bundesregierung? Ehrlich gesagt,Ihre Taktik ist: Scheuklappen an und weiter so, ein einfa-ches Weiter-so mit der Politik der befristeten Pakte stattendlich ein Einstieg in eine verlässliche Grundfinanzie-rung .
Jetzt gibt es also drei Pakte: die Exzellenzinitiativezur Förderung von wenigen Spitzenunis, einen Pakt zurFörderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an Uni-versitäten und das Programm „Innovative Hochschule“unter anderem für Fachhochschulen. Wenn Sie sich auchnoch so sehr bemühen, das jetzt als ausgewogenes Ge-samtpaket zu verkaufen: Es ist das Gegenteil von ausge-wogen. Es ist völlig aus dem Lot geraten.
5,4 Milliarden Euro für die Spitze, davon 30 Prozent fürnur zehn Eliteunis, und gerade einmal ein Fünftel dessen,was Sie für die Spitzenförderung mobilisieren, für dieFörderung des wissenschaftlichen Nachwuchses:
Weniger als ein Zehntel der Summe bleibt dann für dieForschung an Fachhochschulen.
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17213
(C)
(D)
Wer das als ausgewogen bezeichnet, der hat wirklich denSchuss nicht gehört.
Ihre Milliarden, die Sie für die Exzellenzinitiative aus-geben, gehen auf Kosten der Breite, und das ist das Pro-blem.
Der Bericht der Imboden-Kommission hat gerade sehrdifferenziert deutlich gemacht, was so ein einseitigesFörderprogramm wie die Exzellenzinitiative bedeutet.Es wäre schön, wenn man sich mit den Befunden aucheinmal etwas detaillierter auseinandersetzen würde.
Es bedeutet nämlich – das steht alles in diesem Bericht –eine Zunahme von befristeten Beschäftigungsverhält-nissen. Es bedeutet eine Verschlechterung von Studien-bedingungen, und das übrigens auch und gerade an densogenannten Exzellenzstandorten. Daneben hat der Be-richt auch aufgezeigt, dass es nie eine Chancengleichheitfür Hochschulen im Bewerbungsverfahren gegeben hat.Dieses Prinzip treiben Sie jetzt noch auf die Spitze, wennSie die kleinen und mittleren Universitäten gleich ganzvom Wettbewerb ausschließen. Das ist wirklich der völ-lig falsche Weg.
Auch das ohnehin sehr krude Argument, das Sie im-mer bemüht haben, dass durch die wettbewerbliche Spit-zenförderung auch die Breite gestärkt würde, wurde vonder Imboden-Kommission als reine Chimäre entlarvt.Noch einmal zum Mitschreiben: Eine Breitenförderungist durch die Exzellenzinitiative nicht eingetreten.
Stattdessen hat sich die Spaltung in der Hochschulland-schaft vertieft. Das politische Verständnis dieser Regie-rung, dass sich Exzellenz immer nur auf besonders weni-ge beziehen soll, ist, ehrlich gesagt, weder fortschrittlichnoch besonders ambitioniert .
Ich sage Ihnen, was wirklich exzellent wäre: Exzellentwäre es, wenn man von guten Studienbedingungen undhervorragenden wissenschaftlichen Bedingungen in derBreite und für alle sprechen könnte. Das muss doch dasZiel von Wissenschaftspolitik sein.
Kolleginnen und Kollegen, wenn es so weit ist, dassWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichten,dass die Antragstellung für das Einwerben von Drittmit-teln den größten Teil ihrer Tätigkeit ausmacht,
wenn um des Publizierens willen publiziert wird, weildie entsprechende Kennzahl für das Einwerben von Ex-zellenzmitteln wichtig ist, oder wenn es so weit ist, dassForschungsfragen eher danach ausgesucht werden, wasförderfähig ist,
als danach, was die größte wissenschaftliche Erkenntnisbringt, dann kann man ja wohl behaupten, dass da etwasaus dem Lot geraten ist.
Das ist eine Meinung, die gerade aus den Reihen derWissenschaft selbst kommt. Das zeigt doch die Petition,die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, vonProfessorinnen und Professoren gestartet wurde und dieden Stopp der Exzellenzinitiative fordert.
Auch beim Pakt für den wissenschaftlichen Nach-wuchs fehlt der Bundesregierung der Blick für die Pro-bleme vor Ort. Wir reden davon, dass sich 90 Prozentder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von ei-nem prekären Kurzzeitvertrag zum nächsten hangeln.Wir reden von 160 000 wissenschaftlichen Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern im Mittelbau, und wir redenvon einer Betreuungssituation, in der auf einen Profes-sor 70 Studierende kommen. Da kann man nur zu demSchluss kommen, dass die von der Regierung geplanten1 000 Tenure-Track-Stellen an den Bedarfen vorbeige-hen .
Heruntergebrochen auf die einzelne Hochschule bedeu-tet das gerade einmal zwei bis drei neue Stellen. Damitist doch an eine tatsächliche Verbesserung des Betreu-ungsverhältnisses für die Studierenden wirklich nicht zudenken .Die Idee, sich an den Hochschulen endlich einmal umdie Entwicklung neuer Personalstrukturen, neuer Perso-nalkategorien zu kümmern, taucht in Ihrem Konzept ei-gentlich gar nicht mehr auf.
Dabei wäre das doch der entscheidende Punkt, wenn manwirklich von einem Kulturwandel an den Hochschulensprechen möchte.
Nicole Gohlke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617214
(C)
(D)
Denn nicht alle, die in der Wissenschaft arbeiten, wollenoder müssen das auf einer Professur tun. Es ist höchsteZeit, auch in Deutschland im 21. Jahrhundert anzukom-men und anzuerkennen, dass es nicht nur die Professurund darunter den Nachwuchs gibt,
sondern dass selbstständige Wissenschaft schon die gan-ze Zeit von den vielen Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftlern geleistet wird und dass dieser Bereich endlicheinmal als dauerhafte Personalkategorie gefördert undhonoriert gehört.
Frau Kollegin Gohlke, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Schipanski?
Ja .
Frau Gohlke, ganz herzlichen Dank, dass Sie die Zwi-
schenfrage zulassen. – Bei den drei Pakten, die Sie dar-
gestellt haben, geht es ja jetzt um eine Vereinbarung, die
in der GWK beschlossen wurde. Jetzt wundere ich mich,
wenn das alles so furchtbar ist, dass sogar die rot-rot-grü-
ne Landesregierung in Thüringen, sprich die Linke, da
zustimmt, wenn es so schlimm ist,
wie Sie es hier erzählen. Wie kommt es denn dazu?
Das kann ich Ihnen erklären. Wir haben Rückspra-
che gehalten. Ich habe im Übrigen auch gerade mit den
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Profes-
sorinnen und Professoren gesprochen, die den Stopp der
Exzellenzinitiative fordern.
– Nein, aber sie haben sozusagen auf einen Mechanismus
hingewiesen: Es gibt eine derart gravierende Unterfinan-
zierung, dass sich viele Leute nicht trauen, sich öffentlich
gegen die Exzellenzinitiative auszusprechen.
Und auch die Länder sagen bei aller Kritik in der Tat:
Wir können in der jetzigen Situation nicht auf Gelder
verzichten .
Das ist die Situation .
Trotzdem würden sich viele einen Einstieg in eine an-
dere Finanzierung wünschen. Ich glaube, es wäre höchste
Zeit, dass man einmal eine Debatte darüber ermöglichen
würde. Aber sie kann offenbar selten transparent geführt
werden, nicht einmal hier im Deutschen Bundestag.
Einigermaßen vorsintflutlich finde ich, ehrlich gesagt,
auch, dass Gleichstellung in Ihren Pakten gar nicht auf-
taucht. Auch hier sage ich: Von Kulturwandel dürfte die
Regierung erst reden, wenn aktive Gleichstellungspoli-
tik und Familienfreundlichkeit in ihren Konzepten ein-
mal eine wirkliche Rolle spielen würden. 50 Prozent der
Tenure-Track-Stellen müssten eigentlich mit qualifizier-
ten Frauen besetzt werden. Alles andere ist wirklich ein
schlechter Witz.
Kolleginnen und Kollegen, für die Linke stellt sich
die Situation so dar: Die Hochschulen, und zwar alle,
brauchen zwei Dinge, nämlich eine Finanzierung nach
Bedarfen sowie Planungssicherheit. Wir brauchen nicht
noch einen Wettbewerb und noch einen Pakt und noch
ein Programm .
Die Hochschulen brauchen eine solide Grundfinanzie-
rung, verlässliche Studienplätze, unbefristete Stellen für
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und eine neue
Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau. Das wären die
richtigen Prioritäten und die richtigen politischen Bot-
schaften in dieser Zeit .
Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann spricht jetzt
für die SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Gohlke, Sie haben eine gewisse Zweiweltenlehreaufgemacht. Ich will mich nur mit einem kleinen Satzdarauf einlassen: Dass der Kollege Ramelow, der Minis-terpräsident von Thüringen, sich nichts traut, das werdenSie ihm erklären müssen.
Nicole Gohlke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17215
(C)
(D)
Ich möchte gerne auf das zurückkommen, was hier re-levant ist und was von der Ministerin in Bezug auf eineWeiterentwicklung und große Verbesserung der Hoch-schul-, der Wissenschafts- und der Forschungslandschaftin Deutschland vorgestellt worden ist.Nachdem ich eben ein bisschen bärbeißig war, willich jetzt ganz charmant etwas zu bedenken geben – HerrRiesenhuber, ich habe Sie im Blick; aber ich muss estrotzdem so sagen –: Das, was jetzt von Frau Wankafortgesetzt wird, hat eine Vorgeschichte, aus der her-vorgeht, dass die Wissenschafts- und Forschungspolitikder letzten 20 Jahre im Wesentlichen von Frauen – FrauBulmahn, Frau Schavan, Frau Wanka, jede auf ihre Art,aber immer aufeinander aufbauend – sehr hervorragendgestaltet worden ist. Vielleicht darf man das auch ein-mal hier feststellen. Die vier anderen Minister zwischenHerrn Riesenhuber und Frau Bulmahn sind leider wenigin Erinnerung geblieben.
Frau Bulmahn hat damals mit folgenden Fragen eineneue Dimension aufgemacht: Wie erfüllen wir den Auf-trag, den Wissenschaft hat, nämlich Wahrheitssuche undErkenntnisvermittlung? Und wie bekommen wir daseinerseits in die Welt hinein, damit es angewendet wer-den kann, um ein besseres Leben für die Menschen zuermöglichen bzw. eine bessere und nachhaltige Umweltzu schaffen, und wie bekommen wir das andererseitsauch wieder an die Hochschulen? Denn die Hochschu-len sind ja die eigentlichen Träger der Vermittlung, dieHochschulen sind die Breitenorganisationen, bei denensich Exzellenz in der Breite und in der Spitze entwickelt,und die Hochschulen sind auch das Pfund, auf das wir inDeutschland – neben den guten Wissenschaftsorganisati-onen – zentral setzen können.Dass dieser breite Horizont, der von Frau Bulmahnaufgemacht und von Frau Schavan fortgesetzt wurde –Frau Wanka führt das mit neuen Akzenten jetzt erfolg-reich weiter –, auch weiterhin in einem größeren Zusam-menhang gesehen wird, zeigt sich auch bei dem, washeute zur Diskussion gestellt worden ist in Form einesneuen Dreiklangs. Dieser beinhaltet das Programm „In-novative Hochschule“, den Nachwuchspakt und die Ex-zellenzinitiative.Nur eine kleine Bemerkung zum Programm „Innova-tive Hochschule“: Ja, Frau Wanka, wir finden es gut, dassSie sich zusammen mit den Ländern entschieden haben,das nicht in einer Exzellenzinitiative aufgehen zu lassen,sondern dass sie ihm als ein besonderes Programm einenbesonderen Stellenwert gegeben haben. Denn darüberwird auch einem ganz wichtigen Träger von Wissenschaftund Forschung, nämlich den Fachhochschulen, vermit-telt, dass sie ein eigenes Gewicht haben und dass sie indiesem Rahmen auch weiter auszugestalten sind. Daraufwollen wir gerne – auch über die 50-Prozent-Quote hi-naus – weiter hinarbeiten .
Aber das darf ja Zukunftsmusik sein.Wenn es um den Nachwuchspakt geht, wird hier je-der verstehen, dass die SPD besonders stolz darauf ist.Aber auch die Fraktionen können es sein; denn das hat janoch nicht einmal im Koalitionsvertrag gestanden, HerrRupprecht .
Wir haben außerhalb des Koalitionsvertrages währendder glorreichen Tage von Göttingen mit den geschäfts-führenden Fraktionsvorständen vielmehr noch etwas Gu-tes darüber hinaus angestoßen. Deshalb sage ich einenausdrücklichen Dank an den Kollegen Kretschmer. AuchHubertus Heil, der heute erkrankt ist, soll hören, dass ichihm Dank dafür übermittle, was er da mit den geschäfts-führenden Fraktionsvorständen zusammengebracht hat.Dass 1 Milliarde Euro für den wissenschaftlichenNachwuchs zur Verfügung gestellt werden, zeigt, dasswir nicht nur von der Gesetzgebung her – mit dem Wis-senschaftszeitvertragsgesetz –, sondern auch im Hinblickauf die Aufstiegs- und Karriereperspektiven – dabei gehtes um die Lebensplanung junger Wissenschaftler – demGedanken der Exzellenz und der Vermittlung gefolgtsind und ihn in eine größere Personalausstattung habenmünden lassen. Wir haben auch aufgenommen, dass sichdieses inhaltlich weiterentwickeln muss. Denn über dieDetails der Beschlüsse zum Hochschulpakt für den wis-senschaftlichen Nachwuchs hinaus können wir schonjetzt sagen, dass sich auch hier noch einige Zukunftsfra-gen – auch als Aufgaben für die nächste Legislaturperi-ode – stellen.Dabei geht es einmal darum, dass alle wissen, dasssich an den Hochschulen nicht nur die Qualitäten, son-dern auch die Aufgaben differenzieren, weshalb wir neuePersonalkategorien brauchen. Hier ist ein Einstieg gefun-den, dass sich dieses mitentwickeln kann.Zweitens geht es darum, dass wir grundsätzlich aner-kennen müssen, dass es auch bei den Fachhochschuleneine explizite Exzellenz gibt. Frau Kollegin De Ridder,es ist auch einmal darüber zu diskutieren, ob es auch dortTenure-Track-Systeme oder andere Personalaufbausyste-me gehen sollte. Auch das ist uns mit dem jetzigen Nach-wuchspakt aufgegeben .Die dritte und wichtigste Dimension betrifft die Exzel-lenzinitiative, die jetzt über die Hochschulen als Motorunseres Innovationssystems ausgebaut wird . Es war füruns immer selbstverständlich, dass wir Spitzenforschungbrauchen, dass wir sie an den Hochschulen brauchen unddass sich diese über die Jahre hinweg entwickeln darf,es aber klar strukturierte Linien geben muss, die sichjetzt mit den Exzellenzclustern bzw. Exzellenzuniversi-täten abbilden, und dass diese Linien nicht nur auf dreibis fünf Exzellenzuniversitäten reduziert werden können.Vielmehr fühlen wir uns durch die verdienstvolle Arbeitder Imboden-Kommission bestätigt, dass es mehr Poten-zial in Bezug auf Exzellenz in Deutschland gibt und dassdieses in eine Kontinuität hineinkommen muss. Dabeigeht es nicht um Kontinuität in Form von immer neu-en und aufwendigen Wettbewerben, sondern es muss umKontinuität in den Grundgedanken bzw. in Bezug auf dieAbsicherung über das Grundgesetz gehen, also Verläss-Dr. Ernst Dieter Rossmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617216
(C)
(D)
lichkeit hinsichtlich der Fortschreibung in Richtung aufeine unbestimmte Dauer .An der Stelle – vielleicht ist das nur Semantik; aberwir glauben, dass das mehr ist –: Wir haben bisher immervon Exzellenzinitiative gesprochen. Das klingt ein biss-chen nach Projekt. Stattdessen können wir jetzt sagen,nachdem es in Deutschland schon eine Hightech-Strate-gie gibt, dass es mit dem, was jetzt zwischen Bund undLändern offensichtlich verhandelt worden ist, auch eineExzellenzstrategie geben wird.
Damit hätten wir eine dauerhafte Perspektive für diebeiden großen Gewichte der außeruniversitären und deruniversitären exzellenten Spitzenangebote, die Deutsch-land strategisch in eine gute Zukunftsposition bringen.Dies führt mich zu zwei Schlussgedanken.Zunächst möchte ich auf Frau Gohlke zurückkommen,die am Anfang ihrer Rede mit Zahlen herumgewirbelthat; Kollege Rupprecht, Sie werden das gleich sicherlichmit Schmackes klarstellen.
Man darf nicht vergessen, dass wir 20 Milliarden Euroin die Exzellenz der Breite – Hochschulpakt, Programm-pauschalen, gute Lehre und anderes – gegeben haben.Sie, Frau Gohlke, tun das so ab, als wären diese 20 Mil-liarden Euro „nothing“. Auch da halten wir eine Balancezwischen der Breitenförderung und der Spitzenförde-rung .
Mit Blick auf die nächste Legislaturperiode stellen wirfest: Es stehen große Entscheidungen an, da faktisch Jahrfür Jahr Mittel in Höhe von 3 bis 5 Milliarden Euro freiwerden. Ich will zumindest für die SPD sagen: Sie dürfensicher sein – in der Tradition der großen Forschungsmi-nisterinnen werden wir dafür kämpfen müssen –, dassdie Mittel im System bleiben. Es kann nicht sein, dass2019/2020 auf einmal eine Reduzierung stattfindet, son-dern die Mittel müssen im System bleiben. Aber dasssie im System bleiben, setzt voraus, dass wir die Dinge,die wir jetzt machen, gut machen. Sie müssen jetzt gutumgesetzt werden; denn nur wenn sie gut und wirksamsind, wird die breite Öffentlichkeit es akzeptieren, wenndie zusätzlichen Mittel weiter verstetigt und ausgebautwerden .Mein zweiter Schlussgedanke – Herr Präsident, erlau-ben Sie das noch? –
Ich erlaube es, wenn Sie noch im Rahmen der Rede-
zeit zum Ende kommen .
– richtet sich nach außen. Ich beziehe mich auf das, was
heute von der Hochschulrektorenkonferenz, auf der man
sich mit dem Brexit, Europas Zukunft und anderen The-
men auseinandergesetzt hat, verlautbart wurde. Wir glau-
ben, dass diese Exzellenzinitiative, das gute Entwickeln
von bester Wissenschaft in Deutschland, ein Bindeglied
sein kann, das wir erhalten müssen, wenn wir gute Per-
spektiven für Europa schaffen wollen. Die europäische
Zusammenarbeit, die Struktur von besten Hochschulen
in Europa wird nämlich durch diese Exzellenzinitiative
mitbefördert. Professor Kleiner, der Präsident der Leib-
niz-Gemeinschaft, sagte einmal: Das ist die beste Ant-
wort auf diesen unseligen Populismus, auf diese unselige
Denkungsart, es gäbe keine Wahrheit, es gäbe neben der
Lügenpresse auch noch eine Lügenwissenschaft. Wenn
wir unsere Vorhaben entsprechend umsetzen können, –
Herr Kollege Rossmann, jetzt ist die Redezeit schon
sehr großzügig bemessen.
– dann machen wir nicht nur Wissenschaftspolitik,
sondern auch Gesellschaftspolitik.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Fakt ist, der Bund bewegt für die Hochschulen und dieaußeruniversitären Forschungseinrichtungen in dieserRepublik Milliarden: durch den Pakt für Forschung undInnovation, durch den Hochschulpakt und durch denQualitätspakt Lehre.Heute debattieren wir über zwei weitere zentrale Wei-chenstellungen für unsere Universitäten in den nächstenJahren und Jahrzehnten. Ob neue Exzellenzinitiative oderdas Nachwuchsprogramm: Beide Bund-Länder-Verein-barungen sind klassische politische Kompromisse. WederJubelarien noch Meckerecke sind daher heute adäquat.
Der Beschluss der Gemeinsamen Wissenschaftskon-ferenz zur Exzellenzinitiative ist ambivalent und ambiti-oniert zugleich. Gut ist, dass es auch künftig ein Förder-programm für Spitzenforschung an Universitäten gibt.
Die bisherigen Runden haben an den Universitäten neueKooperationen initiiert und eine Vielzahl innovativerProjekte hervorgebracht. Davon ist jeder überzeugt, der,wie ich, Exzellenzcluster besichtigt und sich mit Spit-Dr. Ernst Dieter Rossmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17217
(C)
(D)
zenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern über ihrefaszinierende Forschung austauscht .
Ich freue mich daher, dass die Überbrückungsfinanzie-rung für laufende Exzellenzprojekte endlich beschlosse-ne Sache ist. Damit können Cluster weiter wirken. DieseVerlässlichkeit war überfällig. Sie ist ein wichtiges Sig-nal an die Spitzenforschung in Deutschland.
Es macht Sinn, die Spitzenförderung auf die beidenSäulen Exzellenzcluster und Exzellenzuniversitäten zufokussieren; denn Graduiertenkollegs gehören künftigzum professionellen Selbstverständnis jeder Universität.
Es macht auch Sinn, mehr Mittel in die 45 bis 50 Clusterzu investieren als in die Spitzenstandorte. Und es machtSinn, die Förderhöhe pro Cluster zu variieren, da auchdie Kosten variieren. Allerdings ist die Voraussetzung,zwei Cluster vorweisen zu müssen, um sich als Exzel-lenzuniversität überhaupt bewerben zu können, eine zuhohe Hürde .
Für viele kleine, mittelgroße und aufholende Universi-täten wird sich die Bedingung, zwei Cluster vorweisenzu müssen, als Knock-out-Kriterium entpuppen, und dashalten wir für falsch.
Erfreulich ist, dass von der zweiten Förderlinie künf-tig – das ist einer der zentralen Verhandlungserfolgeunserer drei grünen Wissenschaftsministerinnen in derGWK – acht bis elf sogenannte Förderfälle profitierenkönnen, also mehr Universitäten als bisher; denn daspasst viel besser zu unserer vielfältigen und facettenrei-chen Universitätsstruktur und erhöht die Chancen für ex-zellente Verbundanträge. Die Förderfantasien der Unionvon drei deutschen Harvards sind damit vom Tisch, unddas ist auch gut so;
denn eine breite Spitze an Unileuchttürmen strahlt welt-weit heller als ein einsames Licht.An einer Stelle hakt es jedoch gewaltig. Exzellenzu-niversitäten in eine Dauerförderung gemäß Artikel 91bGrundgesetz zu überführen, sehen wir sehr, sehr kri-tisch. Eine exklusive Bundesliga mit Ewigkeitsperspek-tive nimmt der Exzellenzinitiative den wettbewerblichenCharakter und raubt ihre Dynamik . Das ist geradezu wi-dersinnig .
Diese Kritik ist keine exklusive der Grünen im Bun-destag, sondern sie wird von mehreren Wissenschaftsmi-nisterinnen und -ministern der Länder geteilt. Hamburghat sich deswegen in der GWK bei der Verabschiedungder Exzellenzinitiative enthalten. Ich habe den Eindruck,dass Ministerin Wanka diese Kritik nicht hinreichendernst genommen hat. Dabei wissen wir doch alle mitei-nander: Dem Wissenschaftspakt müssen am Ende alleMinisterpräsidentinnen und Ministerpräsidenten einstim-mig zustimmen,
von Kretschmann über Kraft bis Ramelow und Scholz.
Beim Nachverhandeln ist jetzt Eile geboten, damit derenge Zeitplan nicht ins Wanken gerät. Eine Lösung mussher. Derzeit werden ja auch Kompromisse ausgelotet.Eine Lösung könnte aus meiner Sicht sein, die Exzel-lenzuniversitäten nach sieben Jahren neu auszuschrei-ben . Das motiviert und honoriert dann auch in Zukunftdie Spitzenleistungen aller Universitäten und erhöhtdie Chancen, überhaupt reinzukommen. Das hält dasSystem offener und durchlässiger. Wir brauchen keinengeschlossenen Uniklub, sondern Auf- und Abstiege plusdauerhaft mehr Engagement für Exzellenz in Forschungund in Lehre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, inwieweit die Exzel-lenzinitiative und das neue Nachwuchsprogramm unsereUniversitätslandschaft bereichern und weiterentwickelnwerden, werden wir wahrscheinlich erst in 10 bis 20Jahren reflektieren können. Entscheidend für den Erfolgist, wie weit ein solcher Impuls wirklich trägt. Das giltvor allem für das neue Nachwuchsprogramm. Gemes-sen an dem, was auf dem Papier vereinbart ist, droht dasnur ein kurzer Kick zu werden; denn die 1 000 Tenu-re-Track-Professuren, die das Programm bundesweitan Universitäten bringen soll, sind angesichts von rund24 000 Professuren einfach eine kleine Hausnummer. FürNordrhein-Westfalen sind das etwas mehr als 200 Tenu-re-Track-Professuren, für Bremen 10, für das Saarland,glaube ich, 1,7. Der Bedarf bleibt dank der Rekorde beiden Studierendenzahlen weiter groß, übrigens nicht nuran Universitäten, sondern auch an Fachhochschulen, diebeim Programm leider außen vor bleiben. Ich erinne-re exemplarisch an den Wissenschaftsrat, der unlängst7 500 zusätzliche Professuren bundesweit gefordert hat.Vom Umfang her hat das Programm also keine Wucht,und das bedauern wir .
Das Nachwuchsprogramm bringt auch insgesamt zuwenig für Modernisierungen bei Personalstrukturen undbei Personalentwicklung. Es gibt zwar einen 15-prozen-tigen Strategieaufschlag, den Universitäten auch – Zi-tat – zur „Weiterentwicklung der Personalstruktur deswissenschaftlichen Personals“ nutzen können, von einemgroßen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs mitverbindlichen und klaren Karriereperspektiven für deut-lich mehr kann aber keine Rede sein. Unklare Perspekti-Kai Gehring
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617218
(C)
(D)
ven und wenig Planbarkeit bleiben für viel zu viele leiderAlltag. Das ist problematisch.
Es wird jetzt übrigens sehr darauf ankommen, dieTenure-Track-Professuren gut auszustatten. Sie sollen janicht auf einem Klappstühlchen sitzen; vielmehr sollensie entsprechende wissenschaftliche Mitarbeiter habenund ihre wissenschaftlichen Leistungen entfalten kön-nen. Da müssen die Länder mit ran, sonst zahlen die Uniszu viel drauf.Schade ist, dass dem Programm eine explizite Förde-rung von Frauen fehlt. In Gesamtkonzepten darzulegen,was eine Uni für die Verbesserung der Chancengleich-heit zu tun gedenkt, ist im Vergleich zu harten Gleich-stellungszielen und -kriterien an anderen Stellen einfachzu schwammig .
Trotz dieser kritischen Punkte kann das Nachwuch-sprogramm eine nachhaltige Weichenstellung bringen,wenn es einen auf Dauer planbaren Pfad in RichtungProfessur etabliert; denn die Mechanismen in der Verein-barung sind ganz klug, und das Kriterium der Zusätzlich-keit, auf das wir auch immer gepocht haben, überzeugt .Es geht uns ja nicht nur um eine neue Personalkategorie.Es müssen auch deutlich mehr Stellen on top vor Ort da-bei herausspringen, und darauf werden wir gemeinsamachten müssen .Genau in diesem Sinne lohnt es sich weiterzudenken.Ich meine, das Nachwuchsprogramm wird noch nach-haltiger wirken, wenn wir es mit einer besseren Grundfi-nanzierung der Hochschulen insgesamt verbinden; dennauch nach 2020 werden mehr Erstsemester kommen, dienicht nur einen Studienplatz, sondern auch Personalauf-wüchse brauchen. Die Betreuungsrelationen in Deutsch-land sind jetzt schon alles andere als ein Ruhmesblatt,und das müssen wir dringend verbessern . Wir brauchenbessere Betreuungsrelationen.
Mehr Studienplätze und mehr Professuren durch einehöhere Grundfinanzierung unserer Hochschulen durchLänder und Bund – beides wollen und müssen wir an-gehen. Nur so lässt der Tenure-Track-Plan sich zu einemechten Strukturimpuls entwickeln. Die Wissenschafts-pakte entfalten nur dann ihre volle Wirkung, wenn end-lich die mangelnde Grundfinanzierung aller Hochschulengesteigert wird, um mehr Chancen, mehr Personal undbessere Wissenschaft für alle zu erreichen.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Albert
Rupprecht .
Liebe Kollegin Gohlke, Sie sind schnell im Denken,schnell im Reden. Es macht eigentlich Spaß, mit Ihnenzu diskutieren. Nur manchmal diskutieren Sie dramatischideologisch verbohrt.
– Doch, das ist leider so. – Dieses penetrante Gleichma-chen, Nivellieren, mit der Gießkanne in die Breite gehenund jeglichen Ansatz von Leistung, Exzellenz und Eli-te ablehnen: Das ist einfach schrecklich. Wenn es nachIhnen gehen würde, dann würden Sie auch die Fußbal-leuropameisterschaft und die Fußballweltmeisterschaftabschaffen, weil Sie Spitzenleistung schlichtweg nichtertragen können.
Da haben wir eine vollkommen andere Position. Wirglauben, dass man in Deutschland auch Spitzenleistungbraucht, um bei Wohlstand und sozialer Sicherheit auchzukünftig in der Spitze mit dabei zu sein .Frau Ministerin Wanka, Sie haben drei Pakete verhan-delt. Diese drei Pakete sind ein Meilenstein für die Wis-senschaftsarchitektur in Deutschland. Ich würde sagen:Sie sind ein großer Wurf. Ich gratuliere Ihnen dazu.Die Rede des Kollegen Gehring ist als Oppositionsre-de durchaus beachtlich gewesen. Es gab andere Einschät-zungen bei einzelnen Details; das ist bei einer Debatte zuso komplexen Themen durchaus normal und üblich. Aberich glaube, insgesamt ist die Stimmung im Haus so, dassdas, was Sie, Frau Ministerin, hier vorgelegt haben, inder Tat ein großer Wurf ist.
Aus der zeitlich befristeten Exzellenzinitiative wirdeine dauerhafte unbefristete Exzellenzstrategie. HerrRossmann, diesen Begriff hat Frau Wanka im Vorfeldschon eingeführt. Darauf hat man sich geeinigt, weil eswirklich eine neue Qualität hat, statt kurzfristiger Pro-jekteritis eine langfristige und dauerhafte Exzellenzkul-tur in unserem Land aufzubauen. Dazu braucht es auchdie dauerhafte, langfristige Finanzierung auf Basis desArtikels 91b unserer Verfassung. Wieder einmal ist derBund – wie auch schon in den letzten zehn Jahren – Ar-chitekt, Impulsgeber, Verhandlungsführer und letztend-lich Hauptfinanzier dieser immens wichtigen Weiterent-wicklung des deutschen Wissenschaftssystems.
Die Unionsfraktion hat von Anfang an – und ich sage:als einzige Fraktion – ein klares und deutliches Bekennt-nis zur Exzellenz abgegeben. Herr Rossmann, unsereAussage war stets: Wo Exzellenz draufsteht, muss auchExzellenz drin sein. Exzellenz draufzuschreiben, umdann mit dem Paket das Prinzip Gießkanne anzuwenden,war nicht das, was wir wollten. Dagegen haben wir unsKai Gehring
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17219
(C)
(D)
auch gewehrt. Das, was vorliegt, ist die Umsetzung des-sen, was wir wollten.Wenn man vergleicht, was wir uns vorgenommen ha-ben und was jetzt im Endergebnis bei den Verhandlungenherausgekommen ist, dann würde ich sagen: Zu 98 Pro-zent sind unsere Punkte umgesetzt . Einen Punkt gibt esin der Tat, der nicht dazu gehört: Wir hätten uns durchausvorstellen können, nicht acht bis elf Spitzenuniversitätenzu haben, sondern vier bis fünf, weil wir glauben, dasswir dadurch dem Ziel, international mehr wettbewerbs-fähig zu werden, eher ein Stück näher gekommen wären.Nichtsdestotrotz sagen wir: Wir sind insgesamt mit die-sem Paket sehr zufrieden . Es ist zu 98 Prozent Unions-politik.
– Vergleichen Sie unsere Positionen mit dem, was her-ausgekommen ist . Dann werden Sie es sehen .Wir brauchen eine gesunde Breite, aber wir brauchenauch die absolute Spitze. Frau Gohlke, noch einmal: Dermit Abstand größte Teil der Mittel aus dem Bundeshaus-halt geht in die Breitenförderung. Über die gesamte Lauf-zeit werden 22 Milliarden Euro für den Hochschulpakt,den Qualitätspakt Lehre und viele weitere Maßnahmenaufgewendet. Der Gesamthaushalt beträgt 17 MilliardenEuro. Da können Sie doch nicht ernsthaft glauben oderden Eindruck erwecken wollen, dass der überwiegendeTeil der 17 Milliarden Euro für die Exzellenz zur Ver-fügung gestellt wird. Der überwiegende Teil geht in dieBreitenförderung.
Nichtsdestotrotz sind wir der Überzeugung, dass wirwissenschaftliche Elite in Deutschland brauchen. Wir ha-ben zum Glück die Max-Planck-Gesellschaft, die in derinternationalen Liga vorne dabei ist. Aber die Realitätist, dass es an den Universitäten, und zwar trotz der letz-ten zehn Jahre Exzellenzinitiative, immer noch einigeszu tun gibt. Vor zehn Jahren lag die beste deutsche Unibeim Shanghai-Ranking auf Platz 51. Nach zehn Jahrengroßer Kraftanstrengungen ist die beste Uni, die Uni Hei-delberg, auf Platz 46. Die anderen Länder schlafen nicht,während wir hier in Deutschland große Anstrengungenunternehmen .Wir können uns damit nicht zufriedengeben. Stattkurzfristiger Projektdenke brauchen wir den Aufbau ei-ner langfristigen Exzellenzkultur, die in die Hochschulenhineingetragen wird. Dazu braucht es strukturelle Ände-rungen. Dazu braucht es natürlich eine kräftige Finanz-ausstattung. Aber es braucht vor allem eine Kulturände-rung. Die Kulturänderung wird in Deutschland natürlicheinen anderen Weg nehmen als in Harvard oder in Stan-ford . Wir werden unseren deutschen, unseren eigenenWeg gehen, weil wir spezifische Gegebenheiten habenund weil wir in der Breite sehr gut und gesund aufgestelltsind .Entscheidend für den Erfolg sind Menschen, Men-schen im Wissenschaftssystem. Seit 2005, seit wir inBerlin regieren, hat sich die Zahl der wissenschaftlichenMitarbeiter an den Hochschulen um 60 Prozent gestei-gert .
Das wurde im Wesentlichen durch Gelder des Bundesmitfinanziert. Das Problem ist aber, dass mehr Geld undmehr Personal nicht dazu führen, dass die Mitarbeiterausreichende Karriereperspektiven haben.Deswegen haben wir im ersten Schritt das Wissen-schaftszeitvertragsgesetz geändert. Wir haben im zwei-ten Schritt die Länder beim BAföG um 1,2 MilliardenEuro entlastet, damit sie sich stärker in der Grundfinan-zierung engagieren können.
Frau Ministerin Wanka hat es gesagt: Über 10 000 Stel-len für Mitarbeiter im Mittelbau des Wissenschaftssys-tems können damit finanziert werden. Deswegen hatMinisterin Wanka das Tenure-Track-Programm vorge-schlagen, initiiert und verhandelt. Es umfasst 1 MilliardeEuro für 1 000 zusätzliche Tenure-Track-Professuren fürdie besten Köpfe in unserem Land. In der Tat, auch diesist ein Meilenstein. Jahrelang wurde darüber geredet. Wirmachen es jetzt. Ich finde, das ist großartig.
Der letzte Punkt in aller Kürze; meine Redezeit ist vor-bei. Die Fachhochschulen – das ist der dritte Bereich –haben aus unserer Sicht eine eigenständige, eine wert-volle Rolle für das Wissenschaftssystem, insbesondere inder regionalen Vernetzung und im Wissenschaftstransfer.Deswegen ist das Programm „Innovative Hochschule“,von dem vor allem die Fachhochschulen profitieren sol-len, ein weiterer Meilenstein. Auch da können wir sagen:550 Millionen Euro in zehn Jahren sind kein Pappenstiel.So etwas gab es bis dato noch nie . So etwas hat es vonsei-ten des Bundes bis dato noch nicht gegeben .Wir geben in den nächsten zehn Jahren für diese dreiPakete vonseiten des Bundes insgesamt 5 MilliardenEuro aus. Die Länder ergänzen dies um weitere 1,4 Mil-liarden Euro.
Lieber Kollege Rupprecht, auch bei einer großzügigen
Auslegung der Redezeit ist sie jetzt schon sehr stark zum
Ende gekommen .
Frau Ministerin Wanka, das ist ein großzügiger Auf-schlag. Gratulation! Frau Ministerin, ich erhebe das Glasauf Sie .
Albert Rupprecht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617220
(C)
(D)
Nächste Rednerin ist für die SPD die Kollegin
Dr . Simone Raatz .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zwischenzeitlich habe ich mich über die Wor-te von Herrn Rupprecht gefreut . Ich hatte in den Diskus-sionen, die wir immer wieder geführt haben, zwar nichtden Eindruck, dass in den Projekten, die insbesonderewir favorisiert haben, zu 98 Prozent die Politik der Unionzum Ausdruck kommt .
Aber ich freue mich, dass wir uns in der Koalition mitt-lerweile so nahe sind, dass Sie derart auf SPD-Linie ein-schwenken . Wenn Sie von 98 Prozent sprechen, muss ichsagen: Hut ab! Das hätte ich nicht gedacht.Herr Gehring, Sie haben heute sehr staatstragend ge-sprochen . Man merkt, die Verantwortung in Baden-Würt-temberg geht auch an Ihnen nicht spurlos vorbei; das fin-de ich gut .
Klar, die Projekte sind Kompromisse; das ist einfach so.Aber es sind ja nicht nur Kompromisse zwischen denKoalitionsfraktionen, sondern auch Kompromisse zwi-schen dem Bund bzw. der Regierung und den Ländern.Ich muss sagen: Das macht es im Wissenschaftsbereichnicht in jedem Fall leichter. Aber ich denke, das Ergebniskann sich sehen lassen.Darum, Frau Gohlke, finde ich die Zusammenfassungaller Kritikpunkte der letzten zweieinhalb Jahre in Ihremheutigen Beitrag ein bisschen unangemessen . Sicher-lich, viele Dinge sind noch zu tun; wir wollen sie auchin Angriff nehmen. Aber es wäre schön gewesen, wennSie ein bisschen näher auf die GWK-Beschlüsse einge-gangen wären und zur Kenntnis genommen hätten, wasErnst Dieter Rossmann gesagt hat. Heute ist nämlich einbemerkenswerter Tag . Denn beim Pakt für den wissen-schaftlichen Nachwuchs reden wir über ein Projekt, dasnicht im Koalitionsvertrag enthalten ist.
Dass wir ihn gemeinsam auf den Weg gebracht haben,finde ich gut. Es wäre schön gewesen, wenn Sie auchdas eingestreut und somit auch ein positives Wort gesagthätten. Kritik zu üben, ist nun einmal Aufgabe der Op-position. Es ist sicherlich auch sinnvoll, den einen oderanderen Aspekt entsprechend zu thematisieren .Auch bei uns, den Mitgliedern der Regierungsfrakti-onen, kommt es ab und zu vor, dass wir ganz tolle Ideenhaben und diese in den parlamentarischen Prozess ein-bringen wollen. Dann wird häufig gesagt: Nein, das stehtnicht im Koalitionsvertrag. – Diese Ideen sind dann nurganz schwer umzusetzen. Darum sage ich noch einmal:Es ist wirklich toll, dass wir die Bund-Länder-Vereinba-rung zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchsesgemeinsam auf den Weg gebracht haben und sie hier undheute debattieren .Dieser Nachwuchspakt wurde erstmalig im Janu-ar 2015 von unserem stellvertretenden Fraktionsvorsit-zenden Hubertus Heil öffentlich gefordert. Sie habenzwar die Themen, die CDU und CSU wichtig sind,eingebracht. Aber ich glaube, was diesen Pakt betrifft,waren wir diejenigen, die ihn als Erste gefordert haben.Hubertus Heil hat ihn, wie gesagt, in die öffentliche De-batte eingebracht .
Bei diesem Pakt war es nicht schwer, gemeinsam ei-nen Weg zu finden. Auch unser Koalitionspartner warrelativ schnell von seiner Sinnhaftigkeit überzeugt. Denndem wissenschaftlichen Nachwuchs kommt in unseremInnovationssystem eine Schlüsselrolle zu. Ich denke,dass wir unseren Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftlern attraktive Karriereoptionen bieten müssen, umsie im Land zu halten. Das ist natürlich auch im Interesseder Koalitionsfraktionen.So gab es im April 2015 einen Beschluss der Frakti-onsvorstände von Union und SPD. Der Betrag von 1 Mil-liarde Euro, den wir für den wissenschaftlichen Nach-wuchs zur Verfügung gestellt bekommen haben, wardamals schon im Gespräch. An dieser Stelle möchte ichden Dank, den Frau Wanka den Fraktionen ausgespro-chen hat, gerne an Frau Wissenschaftsministerin Wankazurückgeben . Danke, dass Sie die Anregungen unsererFraktion aufgegriffen und den Beschluss der Koalitions-fraktionen letztendlich umgesetzt haben! Das ist nichtselbstverständlich; aber da waren Sie offen. Vielen Dankdafür, dass wir das gemeinsam hinbekommen haben!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis kannsich, wie ich schon sagte, sehen lassen. Es gibt 1 000 zu-sätzliche Tenure-Track-Professuren und immerhin eineBezahlung nach W 2. Das macht die Stellen für Män-ner und Frauen attraktiv . Ich denke, dass wir den soge-nannten Flaschenhals beim Übergang auf eine Professurdamit etwas geweitet haben. Es braucht dazu natürlichnoch mehr . Aber ich denke, das ist ein guter Schritt in dierichtige Richtung, der jungen Wissenschaftlern frühzei-tig planbarere und verlässlichere Karriereperspektivenermöglicht.Und: Wir haben eine familienpolitische Komponenteeingeführt . Herr Gehring, Sie sagten, Sie würden sichmehr Gleichstellung wünschen. Aber ich denke, dass wirden Vertrag bei Tenure-Track-Professuren im Falle derGeburt oder Adoption eines Kindes um zwei Jahre ver-längern, ist schon eine gute Option. Wir hoffen, dadurchinsbesondere junge Frauen im Wissenschaftssystem zuhalten. Denn es sind Frauen, die in überdurchschnittli-chem Maße aus unserem Wissenschaftssystem ausstei-gen, weil sie feststellen: Familie und Beruf sind schwerzu vereinbaren. – Darum denke ich, die familienpoliti-sche Komponente ist ein wichtiges Zeichen in die rich-tige Richtung .
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17221
(C)
(D)
Über die familienfreundlichen Tenure-Track-Profes-suren hinaus konnten wir, die SPD, gemeinsam mit denLändern einen Strategieaufschlag von 15 Prozent durch-setzen. Ich hoffe natürlich sehr, dass dieser Strategiezu-schlag wirklich genutzt wird, um moderne Personalstruk-turkonzepte an unseren Universitäten zu etablieren. Daes in den Bund-Länder-Verhandlungen zwischenzeitlichso aussah, als würde der Strategieaufschlag nicht kom-men, freue ich mich, dass wir ihn als wichtiges Elementim Hinblick auf die Nachhaltigkeit des Programms aufden Weg gebracht haben .
Sie sehen also: Es ist ein gutes Programm, das Bund undLänder am 20. Mai 2016 in der GWK vereinbart haben.Nein, es wird nicht so sein – ich greife kurz einenBeitrag von Ihnen, Frau Gohlke, auf; Sie haben das nurindirekt erwähnt –, dass die zusätzlichen Stellen nachvielleicht zehn Jahren von den Ländern gestrichen wer-den. Die Länder haben hier eine Verstetigungszusage ge-macht, und diese Zusage dient dazu, dass das Programmhoffentlich wirklich nachhaltig ist, im Gegensatz zu demJuniorprofessuren-Programm, das heute hier schon be-sprochen wurde. Nur 50 Prozent der Juniorprofessurenbefinden sich heute nämlich noch im System. Ich denkeund hoffe, dass wir mit dem Pakt für den wissenschaftli-chen Nachwuchs hier etwas Nachhaltigeres schaffen.Eines sei noch bemerkt: Wenn selbst die GEW denNachwuchspakt als weiteren Teilerfolg würdigt, könnenwir, so denke ich, nicht alles falsch, sondern vieles richtiggemacht haben. Ich denke, hier können wir uns gegensei-tig auch ein bisschen auf die Schultern klopfen.
Für die SPD-Bundestagsfraktion kann ich sagen, dassgute Arbeitsbedingungen und planbare Karriereperspek-tiven eine Herzensangelegenheit für uns sind. Die vonuns auf den Weg gebrachte Novellierung des Wissen-schaftszeitvertragsgesetzes, der Nachwuchspakt und dieSelbstverpflichtungen vieler Wissenschaftsorganisatio-nen sind wichtige Bausteine für das Thema „Gute Arbeitin der Wissenschaft“.Lassen Sie uns gemeinsam an diesem Thema dran-bleiben. Ich bin nach den Worten von Herrn Rupprechtganz optimistisch, dass wir in dieser Legislaturperiodenoch weitere Bausteine hinzufügen können.In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksam-keit .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf einmal den
Hinweis geben, dass es sich bei den Redezeiten nicht um
ungefähre Richtwerte und Trendanzeigen handelt, son-
dern um zwischen den Geschäftsführern präzise verein-
barte Redeminuten .
Ich bitte, das zu beachten .
Jetzt hat die Kollegin Alexandra Dinges-Dierig für die
CDU/CSU das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen!Es gibt auf Dauer keinen wirtschaftlichen Fort-schritt, ohne dass die Wissenschaft auch gepflegtwird .Diesen Satz sagte Konrad Adenauer vor sehr vielen Jahr-zehnten, und er ist für uns heute noch genauso aktuell,wie er damals erschien.
Wir wollen darauf achten – das werde ich gleich anvielen Beispielen zeigen können –, dass wir nicht nur för-dern und fordern – diese Wortpaarung haben wir heuteschon in mehreren Debatten gehört –, sondern dass dieMaßnahmen in unserem Bereich auch nachhaltig sind.Dieser Begriff „Nachhaltigkeit“ ist manchmal vielleichtein bisschen abgegriffen, aber ich möchte jetzt auf deneigentlichen Wortsinn zurückkommen.
Der eigentliche Wortsinn ist: Wir wollen etwas schaffen,das auch in Zukunft Wirkung entfaltet, und zwar überdie heutige direkte finanzielle Förderung hinaus. Das istganz wichtig. Nur dann entsteht das, was wir alle wollen,nämlich eine Dynamik im Wissenschaftssystem.In den vorgelegten Programmen und auch in denBund-Länder-Vereinbarungen der Gemeinsamen Wis-senschaftskonferenz finden wir eine ganze Reihe dieserNachhaltigkeitsmerkmale. Ich möchte das an drei Punk-ten zeigen .Erstens. Im Rahmen der neuen Exzellenzstrategiefördern wir die Exzellenzuniversitäten auf der Grundla-ge von Artikel 91 Grundgesetz langfristiger. Mit dieserlangfristigen Planungssicherheit werden natürlich auchlangfristig wirkende Veränderungen ermöglicht.Zweitens. Schauen Sie sich die Exzellenzcluster an. InBezug auf die Exzellenzcluster haben wir eine zusätzli-che Strategiepauschale eingeführt, die heute auch schonerwähnt wurde. Was können wir dadurch erreichen? Die-se Strategiepauschale ermöglicht es den Universitätenzum Beispiel, strategische Veränderungen vorzunehmen.Sie können Profilbildungen finanzieren, Schwerpunktesetzen und etwas schaffen, was der gesamten Universitätnicht nur heute, sondern vor allem morgen zugutekommt.Ich denke, auch das ist ein ganz wesentlicher Punkt undweist auf die Nachhaltigkeit der Förderung der Exzel-lenzcluster hin.Dr. Simone Raatz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617222
(C)
(D)
Drittens. Nehmen wir schließlich das Tenure- Track-Programm, das Kernstück der Förderung des wissen-schaftlichen Nachwuchses in der jetzt vorliegendenBund-Länder-Vereinbarung. Es geht über die bloßeSchaffung der zusätzlichen Stellen hinaus, die für sich jaschon langfristig wirken. Wie geschieht das? Bund undLänder werden im Gegenzug dafür, dass es hier zusätz-liche Stellen gibt, von den Universitäten auch etwas for-dern. Das müsste Frau Gohlke eigentlich besonders gutgefallen. Leider hat sie allerdings gemeint, dies fehle.
Wir verlangen nämlich ganz klar eine Personalentwick-lungsplanung.
Eine Personalentwicklungsplanung ist der übergeordneteBegriff für eine Personalstrukturplanung, und das, wasSie an Gleichstellung einfordern, ist Teil ebendieser Per-sonalstrukturplanung.
Genau das ist eine Eingangsvoraussetzung für die Förde-rung, und das wollen wir.Wir alle – ob wir über Mentoring, Coaching, fachlicheWeiterbildung oder Gleichstellungsziele, die wir haben,sprechen – wissen: Mit einer guten Personalentwick-lungsplanung kann man langfristig viel mehr erreichenals mit irgendeinem Gesetz oder irgendeinem Sonder-programm. Erst diese Planung erzeugt nämlich einenBewusstseinswandel in den Einrichtungen. Diesen brau-chen wir dringend. Das gehen wir jetzt an.
Wir setzen gleichzeitig mit den neuen Bedingungendas klare Signal, dass Kinder eben kein Hinderungsgrundfür die Karriere sind; Simone Raatz hat es eben schonausgeführt. Mit diesem Signal sagen wir: Die Karrierekann zusammen mit einer Familiengründung erfolgreichsein. Die persönliche Lebensplanung kann so gemeinsammit dem Beruf vereinbart werden. Das ist ein klares Be-kenntnis zu der Lebensplanung der Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler, aber auch ein klares Bekenntnis,dass eine Gesellschaft Kinder braucht. Auch das ist einSignal von Nachhaltigkeit, möchte ich sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir als Wirt-schaftsnation auch in Zukunft Bestand haben wollen,dann müssen wir – das zeigen auch diese drei Programmeund Vereinbarungen ganz deutlich – unsere Wissenschaftnachhaltig pflegen. Die vorgelegten Programme, die wirheute debattiert haben – diese Debatte wird sicherlich nurein Zwischenschritt sein –, sind auf jeden Fall aus meinerSicht ein weiterer, extrem wichtiger Meilenstein auf un-serem Weg zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung desHochschulsystems und damit gleichzeitig zur Sicherungeiner dynamischen Wirtschaftsentwicklung.Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksam-keit .
Danke auch für die präzise Einhaltung der Redezeit. –
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Kaczmarek für
die SPD .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchteeinige Punkte der Debatte über Exzellenzförderung undüber das entsprechende Paket, wie sie öffentlich hier imPlenarsaal geführt worden ist, aufgreifen, weil ich finde,dass an einigen Stellen ideologisch ein bisschen verengtargumentiert wurde. Die einen sagen: „Exzellenzförde-rung lehnen wir im Grunde ganz ab“, und andere sagen:„Wir möchten diese Förderung noch stärker konzentrie-ren.“ Deswegen möchte ich dazu drei Anmerkungen ma-chen .Erste Anmerkung. Es ist nicht in Ordnung, wenn einGegensatz zwischen Exzellenzförderung und guter Leh-re oder Breitenförderung aufgemacht wird. Wer sicheinmal ganz konkret Cluster und Spitzenstandorte ange-guckt und mit den Hochschulleitungen gesprochen hat,der weiß, dass gerade die Einbindung forschungsorien-tierter Lehre ein wichtiger Punkt in der gesamten Hoch-schul-Governance ist, sowohl bei den Hochschulen mitClustern als auch bei den Spitzenstandorten.Genau deshalb haben Bund und Länder in der Ver-waltungsvereinbarung, die jetzt zur Beschlussfassungvorliegt, den Aspekt der forschungsorientierten Lehre ge-stärkt. Die Lehre ist eine Fördervoraussetzung und mussin den Anträgen nachgewiesen werden. Sie ist eine Be-wertungsgrundlage für das Expertengremium. Ich sagedaher nicht, dass wir bei der Qualität der Lehre nichtnoch mehr tun müssen .Wir dürfen auch nicht so tun, als würde der Bundnichts machen. Immerhin nehmen 156 Hochschulen ander zweiten Phase des Qualitätspakts Lehre teil. Das istnun nicht gerade nichts. Das ist ein schöner Bestandteilin der Förderung der Qualität der Lehre.
Unsere Bitte an die Bundesregierung ist, wenn der Be-schluss durch die Ministerpräsidenten und die Bundes-kanzlerin gefasst worden ist, klarzumachen: Das ist einwichtiger Teil. – Aber in der Exzellenzinitiative mussnoch mehr aufscheinen: Wer eine exzellente Universi-tät werden will, der muss auch eine exzellente und for-schungsorientierte Lehre anbieten. Ohne das geht es ausunserer Sicht nicht .
Alexandra Dinges-Dierig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17223
(C)
(D)
Zweite Anmerkung. Es ist und bleibt richtig, in derSpitze breit zu fördern. Ich will jetzt gar nicht auf denDissens zwischen drei bis fünf bzw. acht bis elf Spit-zenstandorten im Detail zu sprechen kommen. Es hatauch in der Community wenig Widerhall gefunden, dieZahl der Spitzenstandorte zu verringern. Aber ich willeinfach sagen – das ist unser Bekenntnis zur Exzellenz-förderung –: Wir verstehen das Wissenschaftssystem inDeutschland anders.
Wir haben mehr als Harvard zu bieten. Wir wollen dieStärken dieses Wissenschaftssystems weiterentwickelnund fördern die Vielfalt. All das ist ein einzigartigerSchwerpunkt der deutschen Wissenschaftslandschaft iminternationalen Konzert. Deswegen wäre es für die SPDnicht akzeptabel, auf weniger als diese acht bis elf Spit-zenstandorte zu gehen; denn dies würde unserem Wis-senschaftssystem und seiner internationalen Sichtbarkeitnicht gerecht werden .
Dritte Anmerkung. Wir glauben, dass die „InnovativeHochschule“ das Portfolio der Wissenschaftsfinanzierungsinnvoll ergänzt. Die „Innovative Hochschule“ ist keinTrostpflaster für Fachhochschulen und kleine Universi-täten, und sie ist auch keine Exzellenzstrategie für sie.Sie konzentriert sich vielmehr auf zwei besondere För-derdimensionen, die auch besondere Schwerpunkte undmarkante Merkmale insbesondere von Fachhochschulenin unserem Wissenschaftssystem sind. Deswegen sollenjeweils 50 Prozent der Förderfälle und der Fördersum-me auf Fachhochschulen entfallen. Es geht um Transferund um die Vernetzung in der Region. Deswegen glaubenwir, dass es auch an dieser Stelle ein gutes, richtiges undwichtiges Förderprogramm ist.Aber wir räumen gerne ein: Trotz vieler Anstrengun-gen, die wir unternommen haben, um die Forschung anFachhochschulen zu stärken und mit diesem Programmvoranzukommen, halten wir den Mitteleinsatz für dieFörderung und Stärkung der Fachhochschulen insgesamtnoch nicht für zufriedenstellend. Deshalb würden wirgerne in dieser Wahlperiode, aber auch in den folgendenWahlperioden noch eine Schippe drauflegen.
Meine Damen und Herren, wenn wir zum jetzigenZeitpunkt der Wahlperiode in der Wissenschaftsfinan-zierung einen Strich ziehen, dann muss man sagen: Esist viel erreicht worden. Stichworte dazu wurden bereitsgenannt. Der Hochschulpakt ist ausfinanziert. Der Auf-wuchs für den Pakt für Forschung und Innovation istbundesseitig finanziert worden. Beim Qualitätspakt Leh-re ist die zweite Phase gesichert. Die Exzellenzinitiativewird zur Strategie. Die Forschung an Fachhochschulenwird gestärkt. Das ganze Paket wird jetzt um den Pakt fürden wissenschaftlichen Nachwuchs und um die „Innova-tive Hochschule“ ergänzt.Das ist eine stolze Leistung. Wir haben schon eineMenge erreicht . Aber wenn wir einen Strich ziehen, dannmuss man auch sagen: Wir haben viel erreicht, aber esgibt noch viel zu tun. Der Kollege Rossmann hat geradeauf die nächste Wahlperiode hingewiesen. Dann laufeneinige Pakte aus. Wir müssen sie dann einer Überprüfungunterziehen und überlegen, wie wir mit diesen Paktenumgehen .Die SPD will die Vielfalt der deutschen Wissen-schaftslandschaft weiter fördern, und zwar in der Spitzewie in der Breite .
Wir wollen die Universität im Zentrum sehen. Wir wol-len Sicherheit für die außeruniversitäre Forschung, undwir wollen den besonderen Beitrag, den die Fachhoch-schulen in unserem Wissenschaftssystem leisten, nochdeutlicher zur Geltung kommen lassen. Deswegen ist es,glauben wir, richtig, die Mittel im System zu halten, ziel-gerichtet zu überprüfen, die Pakte weiterzuentwickelnund einen wirksamen Beitrag zur Grundfinanzierung zuleisten. Auch das gehört in diese Debatte; es spielt kei-ne Nebenrolle. Wenn wir die Exzellenzförderung für guthalten und fortsetzen wollen, dann gehört dazu auch,dass wir die Grundfinanzierung in den Blick nehmen undin der nächsten Wahlperiode die Mittel für den Hoch-schulpakt verstetigen.Herzlichen Dank.
Zum Schluss dieser Vereinbarten Debatte spricht die
Kollegin Patricia Lips für die CDU/CSU.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Vor allemin den letzten zehn Jahren hat der WissenschaftsstandortDeutschland einen großen Sprung nach vorne gemacht.Unsere Hochschulen – die Ministerin hat darauf hinge-wiesen – bilden hierbei zu Recht mit ihren Forschungs-einrichtungen die Herzkammer des Systems .Darauf wollen wir uns nicht ausruhen. Wir schreitenweiter voran, und wir sind der Überzeugung, dass wir mitdem, was heute bereits vorgestellt wurde, weitere wich-tige Meilensteine setzen, um unseren Standort an dieserStelle zu stärken.Die Exzellenzinitiative war und ist eine Erfolgsge-schichte . Sie hat die Wissenschafts- und Forschungs-landschaft bereits in weiten Teilen nachhaltig zum Vor-teil verändert und einen dynamischen Prozess eingeleitet.Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir sind alle stolzdarauf, dass Deutschland auf dieser Basis seine wichti-Oliver Kaczmarek
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617224
(C)
(D)
ge Rolle in der Forschungslandschaft weiter ausbauenkonnte .
Wichtigste Grundlage hierfür war und ist – das wurdebereits mehrfach erwähnt –, die Grundsätzlichkeit, dieFörderung von Spitzenforschung als schlichte Notwen-digkeit anzuerkennen. Ja, es ist ein wissenschaftsgelei-teter Wettbewerb. Es ist ein Ringen um Leistung. Es istaber vor allem auch ein Bekenntnis, Exzellenz in Verant-wortung für das Ganze zuzulassen, weil sie sich am Endefür das Ganze als erfolgreich erweist.Es geht ja nicht nur um einen Prozess im Inneren odereinen Wettbewerb der hiesigen Einrichtungen . Deutsch-land steht in einem globalen Wettbewerb, und hierfür istes wichtig, dass wir uns diesem Wettbewerb zunehmendstellen und die geeigneten Instrumente einsetzen. DurchSpitzenforschung und die Förderung der Exzellenz wer-den wir an dieser Stelle sichtbar.Umso mehr begrüßen wir das Ergebnis zur neuen Ex-zellenzstrategie aus der Gemeinsamen Wissenschafts-konferenz. Auch ich möchte mich heute ganz herzlich beider Bundesforschungsministerin Johanna Wanka für ihreerfolgreiche Verhandlungsführung bedanken.
Neben den Förderlinien – sie wurden ja zu den jewei-ligen Einzelmaßnahmen im Detail genannt – liegt jedochdiesmal, bei dieser Neuauflage, die ganz große Chancein der erhöhten Planungssicherheit – deshalb möchte ichdas an dieser Stelle auch noch einmal hervorheben –, dieeinen dauerhaften Aufwuchs zulässt. Es ist die ganz neueQualität mitsamt dieser ganzen Förderlinien und Einzele-lemente, die diese neue Exzellenzstrategie auszeichnetund damit die Erfolgsgeschichte ganz sicher fortschrei-ben lässt. Sie ist das Kernstück dieser drei Elemente.Aber auch ich möchte hier erwähnen, dass das ganzePaket, dass das stabile Gerüst erst aus dem Zusammen-spiel der drei Elemente entsteht und dass sich daraus dieStärkung des Wissenschaftsstandorts entfaltet: Das istzum einen das Thema Exzellenzstrategie, zum anderendie Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses undzum Dritten das Thema „Innovative Hochschule“.Es wird zu Recht an verschiedenen Stellen darauf auf-merksam gemacht, dass Größe natürlich nicht immer au-tomatisch mit Qualität gleichzusetzen ist. Die besondereStärke in diesem Land ist die Vielfalt der Hochschulland-schaft, ausgestattet mit jeweils spezifischen Aufgabenoder – besser – Verantwortung in diesem System . Diesgilt insbesondere für die Fachhochschulen und kleinerenHochschulen, deren Vorteil sowohl in einer hohen Inno-vationsfähigkeit wie auch in einem schnelleren Wissens-transfer besteht .
Hinzu kommen – ich glaube, der Herr KollegeKaczmarek hat das schon erwähnt – eine flächendecken-de und enge Anbindung an die Region, beispielsweise inForm von Kooperationen mit mittelständisch geprägterWirtschaft . Sie decken damit ein wichtiges Spektrum ab,sie sind bei weitem nicht nur ein Ableger oder ein An-hängsel anderer Einrichtungen. Diese Fähigkeiten wol-len wir parallel ebenfalls mit einem ganz neuen Element,dem Programm „Innovative Hochschule“, aufwerten undunterstützen .
Lassen Sie mich auch noch etwas anderes erwähnen –die Steilvorlage war an dieser Stelle einfach zu verlo-ckend; dabei komme ich sogar noch zu höheren Zahlenals Herr Rossmann –: Wenn ich zusammenrechne, was inden Hochschulpakt geflossen ist und fließt, in den Qua-litätspakt Lehre, in die Übernahme des BAföG-Anteilsder Länder durch den Bund – damit wären Tausende vonStellen dauerhaft zu finanzieren –, in die Förderung vonProgrammpauschalen und in die bereits vorhandenenFördermittel für Fachhochschulen, komme ich da aufmehr als 25 Milliarden Euro allein vonseiten des Bundesund stelle fest: Das geht in die Breite.
Insofern kann man auch nicht davon sprechen, dass wiruns einseitig auf etwas konzentrieren . Ich hoffe doch,dass Sie Ihre kritische Haltung gegenüber dem Auswahl-charakter auch einer Exzellenzinitiative hier noch einmalüberdenken können.Das zweite Element zusätzlich zur Exzellenzstrate-gie – wir hörten es bereits – bildet ein weiteres Programmzur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Esgeht um die klugen, es geht um die klügsten Köpfe in un-serem Land wie auch darüber hinaus. Es geht nicht alleindarum, sie zu gewinnen, es geht vor allen Dingen darum,sie auch perspektivisch zu halten.In Verbindung mit den Maßnahmen aus früheren Ge-setzen geben wir dem wissenschaftlichen NachwuchsPlanungssicherheit, eröffnen auch nachfolgenden Gene-rationen immer wieder Chancen, bieten jetzt den Univer-sitäten auch einmal ganz neue Wege bei ihrer Personal-planung und erhalten gleichzeitig die Dynamik und dieFlexibilität in unseren Einrichtungen.Kolleginnen und Kollegen, wir sind davon überzeugt,dass wir mit den nun drei neuen Programmen, diesemGesamtpaket, weitere wichtige Weichen gestellt habenund stellen werden, um das Wissenschaftssystem voran-zubringen, Deutschland an der Spitze zu halten, und zwarsichtbar und auf Dauer .Vielen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.Abstimmungen oder Überweisungen sind für diesenTagesordnungspunkt nicht vorgesehen .Deshalb kann ich sofort den Tagesordnungspunkt 29aufrufen:Patricia Lips
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17225
(C)
(D)
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maß-nahmen zur Förderung des deutschen Films
Drucksachen 18/8592, 18/8627Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und EnergieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Dagegen er-hebt sich kein Widerspruch. Dann ist das somit beschlos-sen .Ich eröffne die Aussprache und erteile zuerst für dieBundesregierung der Frau Staatsministerin ProfessorMonika Grütters das Wort .M
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Mit dem Entwurf unseres neuen Filmför-derungsgesetzes rollen wir quasi künftigen Filmerfolgenden roten Teppich aus. Qualitative Spitzenförderung zuermöglichen und dazu die deutsche Filmwirtschaft im in-ternationalen Wettbewerb zu stärken, das sind die Zieleder Gesetzesnovelle, über die wir heute in erster Lesungberaten. Sie soll dem deutschen Film, den man als eineArt Aushängeschild unserer Kulturnation bezeichnenkann – im Ausland wird er sehr viel gesehen –, nationaleund internationale Strahlkraft verleihen. An Strahlkrafthat es zumindest in den vergangenen Wochen und Mo-naten nicht gefehlt. Mit ihrem Film Toni Erdmann, übri-gens gefördert mit Mitteln der Filmförderungsanstalt, desDFFF und der kulturellen Filmförderung meines Hauses,war Maren Ade bei den diesjährigen Filmfestspielen inCannes der echte Liebling der Filmkritik, und zwar derinternationalen. Manche haben sie auch als „Siegerin derHerzen“ bezeichnet. Mit 27,5 Prozent Marktanteil hat derdeutsche Film 2015 das beste Ergebnis seit Erfassung derBesucherzahlen erzielt. Solche Erfolge zeigen immerhin:Wir sind mit unserer Filmförderung auf dem richtigenWeg .Damit künstlerische und wirtschaftliche Wagnisseauch in Zukunft möglich bleiben, sieht der Regierungs-entwurf des Filmförderungsgesetzes unter anderem vor,ein hohes Niveau des Abgabeaufkommens zu sichern,die Filmförderung effizienter zu machen, die Drehbuch-förderung deutlich auszubauen, die Leistung der Produ-zenten noch stärker zu honorieren, Kinos als Kulturortevor allem in der Fläche, also jenseits der Metropolen, zustärken und – daran hänge ich sehr – Kurzfilme mehr alsbisher zu fördern. Wir wollen zudem die Entscheidungs-strukturen effizienter gestalten und dabei nicht zuletzt –ich glaube, das ist die Voraussetzung für ein gutes Ergeb-nis – den Frauenanteil in den FFA-Gremien signifikanterhöhen.Lassen Sie mich ganz kurz auf diese Punkte einge-hen, zuerst auf das Abgabeaufkommen . Wenn das neueFFG qualitative Spitzenförderung ermöglichen soll, dannbrauchen wir deutlich mehr Mittel aus der Branche selbst.Insbesondere die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstaltenwerden deshalb künftig zu einem Abgabesatz von 3 Pro-zent verpflichtet. Aber ARD und ZDF haben darüber hi-naus sogar ihre Bereitschaft erklärt, freiwillig 4 Prozentzu leisten, also aufzustocken; das war nicht immer so.Das ist ein echter Erfolg.
Auch die Abgaben der anderen Einzahler werden mo-derat angepasst, sodass wir eine gute Balance zwischenden Abgabezahlern erreichen. An der Abgabepflicht derausländischen VoD-Anbieter halten wir natürlich fest.Ich habe am Dienstag an der Kulturministerratssitzungin Brüssel teilgenommen. Dort hat die Kommission ih-ren ersten Entwurf einer AVMD-Richtlinie vorgelegt, inder erstmals dieses Prinzip implementiert wird. So weitwaren wir noch nie. Ich habe Kommissar Oettinger, derdaran maßgeblich mitgewirkt hat, gedankt. Es ist nichtnur für den deutschen Filmstandort wichtig, dass es keineAbgabeoasen mehr gibt .
Gleichzeitig wollen wir die Förderung effizienter ge-stalten, indem wir uns bei der Vergabe der Fördermittelauf wenige, aber vielversprechendere Projekte konzen-trieren, um diese mit höheren Summen zu fördern. DerGesetzentwurf sieht deshalb für die Auswahl der Pro-jekte im Rahmen der Projektfilmförderung detailliertereVorgaben als bisher und eine gesetzliche Mindestförder-quote vor. Außerdem sollen durch die Abschaffung dersogenannten Erfolgsdarlehen künftig mehr Mittel für dieerneute Vergabe durch die jeweiligen Kommissionen zurVerfügung stehen. Es gibt also künftig auch mehr Be-günstigte .Um Spitzenqualität geht es auch beim Ausbau derDrehbuchförderung. Mit der neuen Drehbuchfortent-wicklungsförderung, die nicht nur am Anfang greift, son-dern auch dann, wenn ein Stoff weiterentwickelt wird,und der Erhöhung der Mittel wollen wir dafür sorgen,dass gute Stoffe tatsächlich bis zur Filmreife gelangen.Das ist leider nicht immer so. Wir glauben, dass wir mitdiesem mittleren Förderschritt deutlich mehr Drehbü-chern dazu verhelfen, zum echten Film zu werden. DieDrehbücher gelten zu Recht als DNA eines hohen deut-schen Marktanteils. So haben es zumindest die Dreh-buchautoren selber einmal formuliert.Stärker honorieren wollen wir künftig auch die Leis-tung der Produzenten, wie ich eingangs gesagt habe, zumBeispiel mit Erleichterungen beim vom Produzenten zuerbringenden Eigenanteil und mit der Einführung des25-Prozent-Bonus, der wirksam wird, wenn der Filmerfolgreich ist und die Einnahmen an der Kinokasse dieHerstellungskosten übersteigen.Ein weiterer Punkt ist die Förderung des Kurzfilms.Von seiner kompositionellen Raffinesse, von den an-spruchsvollen Dramaturgien, von der knappen, präzisenErzählweise – das sind die Charakteristika eines Kurz-films – profitiert die Filmkunst insgesamt. Deshalb siehtdie FFG-Novelle vor, dass künftig auch Kurzfilme vonunter einer Minute und bis zu 30 Minuten – das war bis-Vizepräsident Johannes Singhammer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617226
(C)
(D)
her die Eingrenzung – Fördermittel bekommen können.Es wäre doch zu schade, Experimentierfreude in ein zustarkes Minutenkorsett zu zwingen. Deshalb weiten wirdie Kurzfilmförderung deutlich aus.Weil Filmkunst nicht nur Leinwand oder Bildschirm,sondern auch eine Bühne braucht, wollen wir Kinos alsKulturorte deutlich stärken, gerade abseits der großenStädte. Kinos profitieren von der Anhebung der für denkonkreten Abgabesatz maßgeblichen Umsatzschwellen.Außerdem soll es bei den bisherigen Sperrfristen blei-ben . Die garantieren – das System der Sperrfristen wirdimmer wieder diskutiert –, dass ein Film zumindest inder Regel sechs Monate exklusiv dem Kino vorbehaltenbleibt, bevor er zum Beispiel auf DVD zu haben ist. Auchdas finde ich wichtig.
Es gibt diesbezüglich immer wieder die eine oder ande-re Erwägung, aber ich glaube, das ist wirklich im Inte-resse der Kinos. Das betrifft vor allen Dingen die Kinosjenseits der großen Städte. Für die ist das ein wichtigerPunkt .Ein letzter Punkt. Wir wollen die Gremien der FFAverschlanken und professionalisieren. Dass das dringendnötig war, können alle die bestätigen, die die bisherigeZusammensetzung kennen. Künftig soll es nur noch dreiFörderkommissionen mit maximal fünf Mitgliedern auseinem Pool von Experten geben, die in wechselnder Be-setzung tagen. Auf diese Weise können sich die Kommis-sionsmitglieder die Projekte bzw. die Filme genauer an-schauen, sodass herausragende Ideen nicht in der Masseder Antragsteller untergehen.Im Rahmen der Gremienbesetzung will ich für mehrGeschlechtergerechtigkeit in der Filmbranche sorgen.Man kann das im künstlerischen Bereich nicht erzwin-gen. Das Potenzial ist aber da. Wie wir in diesem Jahrgesehen haben, waren drei ganz tolle Regisseurinnenunter den Gewinnern des Deutschen Filmpreises. Aberin den Gremien, wo wir ausdrücklich Einfluss ausübenkönnen, war das nicht gegeben. Es kann nicht sein, dasszwar unser höchstdotierter Filmpreis einen Frauennamenträgt – die Lola –, unsere hochdekorierten Filmemacherin der Regel aber nicht. Künftig werden mindestens zweiFrauen in den Fünferkommissionen an den Förderent-scheidungen beteiligt sein. Ich bin zuversichtlich, dasssich damit auch mehr von Frauen geprägte Projektedurchsetzen können.
Der aktuelle Entwurf des Filmförderungsgesetzes istdas Ergebnis mehrfacher Branchenanhörungen, großerrunder Tische – viele von Ihnen haben daran teilgenom-men – und unzähliger Gespräche auch und gerade mitIhnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Für den kon-struktiven Austausch – das war bei dem Filmförderungs-gesetz wirklich wohltuend – bin ich allen Beteiligten sehrdankbar. Es freut mich vor allem, dass wir gemeinsamWege gefunden haben, um künstlerische Aspekte bei derwirtschaftlichen Filmförderung doch noch ein bisschenstärker zu betonen.Wie der Beifall klingt, wenn deutsche Filmkunstüberzeugt, haben wir in den vergangenen Wochen dankToni Erdmann gehört. Dieser Film erreicht die Sterne,vermerkte Le Figaro. Oder: Originell bis ins Absurde,kommentierte Deutschlandradio Kultur. Ein Werk vongroßer Schönheit, großen Gefühlen und großes Kino, hatdie New York Times diesen Film genannt. Er kommt imJuli in die Kinos. Solche Zeilen wünschen wir, die wirdie Filme lieben, uns doch alle. Wir würden sie gerneöfter hören und lesen. In diesem Sinne hoffe ich auf IhreUnterstützung für den Entwurf unseres neuen Filmförde-rungsgesetzes .Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Harald Petzold, Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher aufder Besuchertribüne! Es ist zwar noch nicht ganz Freitagnach eins, aber fast. Freitag nach eins macht bekanntlichjeder seins. Wir sehen das leider auch hier im Plenarsaal.Die Behandlung dieses Gesetzesanliegens ist so wichtig,dass das Filmförderungsgesetz das Dasein in einer Rand-zone eigentlich nicht verdient hat.Dass die Bundesregierung beantragt hat, die Debatteüber diesen Tagesordnungspunkt erst jetzt stattfinden zulassen, spricht Bände in Bezug darauf, welche Wichtig-keit sie diesem Gegenstand tatsächlich beimisst. Nachdiesem Tagesordnungspunkt werden übrigens nur nochdie Ostrenten behandelt. Auch das spricht Bände hin-sichtlich der Wichtigkeit, die die Große Koalition be-stimmten Themen hier offensichtlich zubilligt.Ich bin sehr froh, dass meine Fraktion einen eigenenAntrag eingebracht hat, der bereits im April dieses Jahresin der Kernzeit auf der Tagesordnung stand. Bereits zudiesem Zeitpunkt haben wir beantragt, das Filmförde-rungsgesetz sozial ausgewogen und geschlechtergerechtzu ändern. Wir haben uns für Genrevielfalt und für denErhalt von Kino als Kulturort ausgesprochen.Damit wurde wenigstens einmal in dieser Legislatur-periode zu einer zugänglicheren Zeit, in der auch mehrAbgeordnete im Plenarsaal sind, dieser wichtige Gegen-stand – für die Koalition ist es ja in dieser Wahlperiodeeines der wichtigsten Projekte der Medienpolitik über-haupt – öffentlich diskutiert. Das hat in der Öffentlichkeitübrigens ein sehr positives Echo gefunden. Ich finde, dasist gut so .
Ich bin darüber hinaus sehr froh, dass sich der Bun-desrat in seiner Stellungnahme sehr deutlich dafür ausge-sprochen hat, dass das „in der Filmwirtschaft eingesetztePersonal zu sozialverträglichen Bedingungen beschäftigtwird“. Es soll nach Auffassung der Bundesländer eineStaatsministerin Monika Grütters
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17227
(C)
(D)
neue Aufgabe der Filmförderungsanstalt werden – ichzitiere –, „auch die Belange der Beschäftigten in derFilmwirtschaft zu unterstützen“. Ein ganz herzlichesDankeschön an die Bundesländer für diese Stellungnah-me und ein ganz herzliches Dankeschön besonders an dieBundesländer mit linker Regierungsbeteiligung, nämlichThüringen und Brandenburg, die sich besonders intensivfür diesen Punkt in der Stellungnahme der Bundesländereingesetzt haben. Denn angesichts zu einem großen Teilprekärer Arbeits- und Produktionsbedingungen vielerFilmschaffender ist die Forderung aktueller denn je, dasssich die Filmförderung für Tariftreue, für faire und ange-messene Vertragsbedingungen zwischen Produktionsun-ternehmen und den Beschäftigten einsetzt.Ich wiederhole in diesem Zusammenhang den Vor-schlag meiner Fraktion, der Linken, aus unserem Antragzur sozialverträglichen Änderung des Filmförderungsge-setzes:Produzenten, die nachweislich einkalkulierteTarif- bzw. Mindestlöhne nicht ausgezahlt ha-ben, sollten für drei Jahre von der Förderungausgeschlossen werden.Ich sage: Mit der Novelle zum Filmförderungsgesetzböte sich eine gute Chance, dies ein für alle Mal zu er-möglichen.
Im Übrigen, verehrte Kolleginnen und Kollegen vonder Union: Die Stellungnahme des Bundesrates müsstefür Sie wie eine schallende Ohrfeige gewirkt haben, daSie uns ja wieder sozialistische Planwirtschaft im Zu-sammenhang mit unserem Antrag und der Debatte da-rüber unterstellt haben. Ich kann Ihnen versichern: Wirwerden mit unseren Änderungsanträgen genau diese ur-sozialistische Forderung, nämlich „Gute Löhne für guteArbeit“, einbringen und thematisieren, und wir werdenauf eine Änderung des vorliegenden Gesetzentwurfsdrängen, zumal Sie als Große Koalition nicht einmal be-reit sind, bei den Regelungen zur Arbeitslosenversiche-rung die Belange von kurzfristig Beschäftigten – dazuzählen die Beschäftigten der Filmwirtschaft – besonderszu berücksichtigen und diese zu verändern.Das ist ein klarer Bruch Ihres Versprechens aus demKoalitionsvertrag, wo Sie zugesagt haben, dass noch indieser Wahlperiode für eine Reform der Arbeitslosen-geld-I-Regelung für Kulturschaffende gesorgt werdensoll. Da nützt es auch gar nichts, wenn die Staatssekretä-rin Kramme hier Krokodilstränen verdrückt und sagt: Esist leider nicht gelungen, für die kurzfristig Beschäftigteneine Verbesserung zu erreichen .Ich kann nur sagen: Das war der Großen Koalitionoffensichtlich einfach nicht wichtig genug, ähnlich wiemöglicherweise die gesamte Filmförderung. Ich kann nurdie Forderung meiner Fraktionskollegin Zimmermannvon gestern wiederholen, die gesagt hat, dass mindestensvier Monate ausreichen müssen, um Anwartschaften fürdas Arbeitslosengeld I zu erwerben.
Meine Redezeit ist leider nur kurz bemessen. Deswe-gen kann ich nicht weiter in die Tiefe gehen, um darzu-stellen, was Ihrem Gesetz noch alles fehlt. Sie haben kei-ne Vorstellung von der Zukunft des deutschen Films. Siehaben keine Idee von den gesellschaftlichen, kulturellenund sozialen Wirkungen des Films. Sie betrachten Filmzuallererst als Standortpolitik, dann als Verschiebebahn-hof für Fördermittel – wobei Sie auch noch knauserigsind –, und Sie konzentrieren sich dann im Wesentlichenauf Gremienbesetzungen, wobei Sie immer ordentlichdarauf achten, dass vor allen Dingen die Verwerterseitein den Gremien ordentlich präsentiert ist, was dann dazuführt, dass von dieser Seite Einfluss auf Filmgeschichtenund Drehbücher genommen wird, was wir für unange-messen halten. Sie reden davon, dass eine Frauenquotemehr Geschlechtergerechtigkeit bringt. Fragen Sie ein-mal unsere europäischen Nachbarn, wie sie mit diesemThema umgehen. Da haben wir ein Vorbild. Auch dazuhaben wir Ihnen in unserem Antrag einen entsprechen-den Vorschlag vorgelegt.Wir sagen: Der Gesetzentwurf enthält keine Regelungdazu, wie Kinos flächendeckend erhalten und gefördertwerden können. Ihre Vorschläge hinsichtlich des Abga-beaufkommens berücksichtigen die Entwicklungen, zumBeispiel den Rückgang beim Verkauf von DVDs, über-haupt nicht. Wir werden also nicht mehr Einnahmen indiesem Bereich haben, sondern weniger .Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die Lin-ke hat Filmförderungspolitik vor allen Dingen zum Ziel,den Film als eine für die Gesellschaft unverzichtbare kul-turelle Ausdrucksform in der öffentlichen und politischenWahrnehmung zu verankern und das Filmförderungs-system entsprechend neu auszurichten und am Ende zustärken. In diesem Sinne werden wir uns in die Debatteeinbringen . Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit undIhnen, Herr Präsident, dass Sie etwas großzügig mit mirumgegangen sind, was die Redezeit anbelangt.Vielen Dank.
Das ist die Großzügigkeit für alle, die der Debatte um
diese Zeit hier intensiv folgen. – Als Nächster spricht der
Kollege Burkhard Blienert für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident, an Ihre Großzügigkeitkann ich hoffentlich auch appellieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Da-men und Herren! Vor einer Woche wurde der DeutscheFilmpreis vergeben. Wir konnten einen starken Jahrgangfeiern, der noch einmal die breite Vielfalt des kreativenFilmschaffens deutlich gemacht hat. Von dieser StelleHarald Petzold
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617228
(C)
(D)
sage ich – es ist erst eine Woche her –: Herzlichen Glück-wunsch allen Preisträgerinnen und Preisträgern!
Vor wenigen Wochen haben wir Maren Ade feiernkönnen mit dem Film Toni Erdmann. Wir haben langewarten müssen, bis wieder eine deutsche Produktion inCannes dabei war. Besonders erfreulich dabei vor demHintergrund der überfälligen Genderdiskussion: Pro-duziert hat das Projekt nämlich auch eine Frau, Janine Jackowski. Es ist ein schönes Beispiel dafür, was dasdeutsche Fördersystem im besten Fall mit bewirkenkann: die Begünstigung von künstlerischem und wirt-schaftlichem Erfolg, und zwar auch im Ausland. ToniErdmann hat sich nämlich schon in 55 Länder weiter-verkauft. Die Liste der Förderer reicht dabei von der FFAüber den DFFF bis hin zur kulturellen Filmförderung desBKM und der Länder. Auch drei öffentlich-rechtlicheSender haben Toni Erdmann koproduziert. Deshalb nuram Rande bemerkt: Das Mitwirken von Fernsehredaktio-nen muss also einem Projekt nicht zwangsläufig schaden.Keine Frage: Toni Erdmann ist ein Glücksfall für dendeutschen Film. Aber ich wünsche mir, dass unsere För-derung mehr solcher Filme möglich machen kann, Filme,die die Kritiker genauso wie die Kinozuschauer im In-und Ausland begeistern. Genau das haben wir uns mitder Novelle des FFG auch vorgenommen. Dabei ist dasFFG nur ein, wenn auch zentraler Pfeiler der deutschenFilmförderung.Ich möchte einen anderen kurz streifen: den DFFF. Erwar zuletzt genauso überzeichnet wie der neue GermanMotion Picture Fund aus dem BMWi. Gleichzeitig habendie Konkurrenten im globalen Standortwettbewerb um in-ternationale Großproduktionen ihre Anreizsysteme mas-siv ausgebaut. Im Ergebnis ist der Glanz des ehemaligenVorzeigemodells DFFF inzwischen stark verblasst. Wennwir also die Attraktivität des Filmstandorts Deutschlandserhalten wollen, müssen wir uns demnächst auch grund-sätzliche Gedanken zum DFFF machen und das Konzeptgegebenenfalls neu ausrichten.
Zurück zum FFG . Die Bundesregierung hat nun ei-nen Gesetzentwurf vorgelegt, dem es gelingt, sowohl dieStrukturen der Förderung als auch die Förderung selbstzu verbessern . Das ist das Ergebnis eines intensiven undaufwendigen Dialogs mit der gesamten Branche. Dafürmeinen Dank an das Haus der BKM und an die FFA.Ich greife nun noch einige Punkte heraus: Mit derAnpassung der Abgabesätze, mit der Verstärkung derRückflüsse in den Fördertopf, mit der Heranziehungwerbefinanzierter Abrufdienste und der VoD-Anbietermit Sitz im Ausland werden wir die Einnahmeseite desFFA-Haushalts nachhaltig stabilisieren können. Der letz-te Punkt ist zwar noch nicht ganz in trockenen Tüchern,aber die neue AVMD-Richtlinie gibt begründete Hoff-nung auf grünes Licht aus Brüssel. Gute Lösungen sindbei den Bestimmungen zur geschlechterparitätischen Be-setzung der Gremien gefunden worden . Darüber hinausist jetzt das Bemühen um Gendergerechtigkeit im Aufga-benkatalog der FFA festgeschrieben.Zu begrüßen sind auch die Neuerungen bei der Förde-rung selbst. Ein breites Bündel von Maßnahmen, insbe-sondere in der Projektfilm- und der Drehbuchförderung,zielt darauf, die Qualität der Projekte konsequent zu ver-bessern .Wir sollten aber auch nicht die Augen davor verschlie-ßen, dass mit der neuen Förderphilosophie deutlich weni-ger Projekte und vor allem weniger kleine Projekte in dieFFA-Förderung kommen werden. Deshalb bin ich auchfroh, dass die Mittel für die kulturelle Filmförderung beider BKM aufgestockt wurden.Sehr gut ist es, dass bei der Tilgung von Projekt-filmdarlehen jetzt sichergestellt ist, dass vorrangig dieErlösbeteiligungen der Urheber gemäß dem Urheberver-tragsrecht zu bedienen sind. Das trägt zur Verbesserungder sozialen Lage der Urheber bei.Noch besser wäre es gewesen, wenn der Regierungs-entwurf zugleich den Vorschlag eines Erlöskorridors fürdie Produzenten aufgegriffen hätte. Ehrlich gesagt ver-wundert es mich, dass da nichts geschehen ist . Denn diedamit verbundenen Vorteile sind offensichtlich: Die Ur-heber kämen früher in den Genuss der eben angesproche-nen Beteiligungen. Es würde ein klarer Anreiz dafür ge-setzt, dass die Produzenten Projekte verfolgen, die auchwirtschaftlich erfolgreich sind. Wir hätten damit einegute Möglichkeit zur wichtigen Stärkung des Eigenka-pitals der Produzenten. Zudem würde es der viel beklag-ten Filmschwemme entgegenwirken. Insgesamt könntenwir in unserem Bemühen um mehr Qualität im deutschenFilm davon nur profitieren. Den Vorbehalten der um ihreRückflüsse besorgten Verleiher könnten wir dadurch be-gegnen, dass wir einen solchen Korridor zunächst nur fürdie verleihgeförderten Projekte vorsehen. Ich denke je-denfalls, die Idee eines Korridors ist es allemal wert, dasswir zumindest in den nächsten fünf Jahren, die dieses Ge-setz in Kraft sein wird, austesten, wie sich dies auswirkt.
Weiterhin erfreulich im Gesetzentwurf: Die Förde-rung der Digitalisierung alter Filme steht nun erstmalsals eigener Förderbereich im Gesetz.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Auffas-sung, mit dem FFG soll nicht nur der deutsche Film ge-fördert werden, sondern auch der Kulturort Kino, für dendiese Filme gemacht sind, geschützt werden. Da ist derVorschlag des Bundesrates, das Auswertungsfenster derKinos weiter zu verkürzen, eher kontraproduktiv. Geradedie Kinos in den kleineren Städten und die Programmki-nos wären die Leidtragenden. Sie sind auf die bestehen-den Fenster angewiesen. Gerade der Dokumentarfilm,auf den der Bundesrat abhebt, ist doch im Kino eher einLangläufer. Sicherlich müssen wir berücksichtigen, dasssich das Nutzerverhalten weiter verändert. Deshalb siehtder Regierungsentwurf weitere Maßnahmen zur behut-samen Flexibilisierung vor. Ich denke, dieser Weg istrichtig, und wir sollten beobachten, was er bewirkt. Aufjeden Fall plädiere ich dafür, keine generelle Verkürzungder Fristen vorzunehmen, da es nur um bestimmte FilmeBurkhard Blienert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17229
(C)
(D)
geht. Der absehbare Schaden für viele Kinos verbietetdas .
Ich denke, dem Anliegen kann man auch untergesetzlichim Rahmen der Entscheidungspraxis der FFA über Ver-kürzungsanträge entsprechen.Ein ganz anderes Anliegen der Dokumentarfilmer fin-det jedoch meine Zustimmung. Wir halten es für sinn-voll, dass die Zuschauer nichtgewerblicher Vorführungenbei der Referenzfilmförderung weiterhin mit berücksich-tigt werden .
Aus dem Gesetzentwurf wurde das gestrichen . Auch daswerden wir bei der Anhörung im Ausschuss ansprechenmüssen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Lob fürden Regierungsentwurf ist auch ein klares Versäumnisfestzustellen: Der Entwurf enthält keinen konkreten Vor-schlag, wie die Einhaltung von sozialen Mindeststan-dards bei der Filmproduktion sichergestellt werden kann.Die Liste der Verstöße ist lang, und es handelt sich nichtnur um wenige Einzelfälle. Insgesamt scheint es in denvergangenen Jahren zwar weniger Probleme mit der Ein-haltung der maximalen Arbeitszeit zu geben. Allerdingshäufen sich die Klagen, dass geleistete Überstunden ohnedie festgelegten Zuschläge vergütet werden oder dassvereinbarte Zeitkonten nicht zur Anwendung kommen .Nicht selten wird mit Pauschalverträgen der Tarifvertragumgangen. Mir liegt es fern, hier die Produktionsbrancheunter einen Generalverdacht zu stellen. Aber jeder ein-zelne Fall ist aus meiner Sicht ein Fall zu viel. Deshalbtritt die SPD-Fraktion entschieden dafür ein, dass Miss-stände bei öffentlich geförderten Filmproduktionen nichthingenommen werden .Wir reden nicht zum ersten Mal über dieses Thema.Anlässlich der letzten Novelle hat der Bundestag in sei-ner Beschlussempfehlung festgestellt, dass ihm die sozi-ale Lage der Filmschaffenden ein besonderes Anliegenist .
Zugleich wurde die Bundesregierung aufgefordert, da-rauf hinzuwirken, durch die FFA – ich zitiere – „die Ein-haltung sozialer Mindeststandards bei der Produktiongeförderter Projekte nachweislich und nachhaltig sicher-zustellen“. Wie hat die Bundesregierung diese Aufforde-rung nun im vorliegenden Entwurf umgesetzt? Heraus-gekommen ist eine Formulierung, die sich leider nur imBegründungstext wiederfindet.Wir brauchen jedoch eine präzise Aufgabenbeschrei-bung. Solange sie aber nur in den Begründungsteil abge-schoben ist, wird alles beim Alten bleiben. Diese Formu-lierung gehört in den Gesetzestext selbst, und zwar genaudorthin, wo die Aufgaben der FFA aufgezählt werden.§ 2 kennt acht Aufgaben. Die Mitverantwortung für so-zialverträgliche Bedingungen muss die neunte Aufgabewerden .
Dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme genau dieseForderung aufgegriffen hat, hat mich gefreut . Das ge-schah fast einstimmig über alle Parteigrenzen hinweg. 15von 16 Bundesländern haben die Notwendigkeit erkannt,dass mit dem FFG an dieser Stelle mehr für die Beschäf-tigten getan werden muss .Seit vorgestern wissen wir: Die Bundesregierung willdiesem Anliegen entsprechen. Das können wir nur begrü-ßen, aber damit sind wir noch nicht am Ende der Strecke.Denn das wäre nur der erste Schritt, und der zweite mussfolgen. Nach unserer Auffassung ist im Gesetz zu präzi-sieren, auf welche Weise die FFA diese Aufgabe erfüllenkann .Die FFA sollte nach unserer Meinung bei den antrag-stellenden Unternehmen erheben, ob bei der Produktioneine Tarifbindung vorliegt und ob die Einhaltung der ent-sprechenden Regelungen gewährleistet ist. Wir wollendie FFA nicht zur Tarifpolizei machen. Dazu hat sie kei-ne Befugnis und auch nicht die personellen Kapazitäten.Ich möchte betonen: Nach unserem Vorschlag ist nichtdie Einhaltung sozialer Mindeststandards selbst Voraus-setzung für die Förderung. Denn wir wissen, dass nichtzuletzt die EU-Entsenderichtlinie dem entgegensteht.Fördervoraussetzung soll allein die Angabe sein, ob derTarifvertrag für die jeweilige Produktion gilt oder nicht.Ich denke, das ist der richtige Weg. Darüber sollten wirauch in der Anhörung noch einmal reden.Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns dieses Mal ge-meinsam das ungelöste Problem anpacken, das wir bis-her von Novelle zu Novelle immer vor uns her gescho-ben haben. Denn das zentrale Anliegen dieses Gesetzesist die Qualitätssicherung beim deutschen Film. Dazufinden sich viele gute Maßnahmen im Regierungsent-wurf. Wir können das aber noch besser machen, wennwir uns für faire und sozialverträgliche Bedingungen amSet einsetzen .Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Tabea Rößner
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Warum hat Toni Erdmann, der gefeierte Film von MarenAde, in Cannes keinen Preis gewonnen? Ich wage einmaleine steile These: weil dieser Film von Frauen gemachtwurde. Die Einladung nach Cannes war allerdings schonein Riesenerfolg. Sieben Jahre lang gab es keinen deut-schen Beitrag. Vielleicht fehlt dem deutschen Film nichtsso sehr wie Frauen – Produzentinnen, Regisseurinnenund Autorinnen . Toni Erdmann hat den Weg nach CannesBurkhard Blienert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617230
(C)
(D)
nicht wegen, sondern trotz unseres Filmförderungssys-tems geschafft .
Dass Frauen in der Filmbranche benachteiligt sind, isthinlänglich bekannt. Wer welche Förderung bekommt,entscheiden überwiegend Männer. Und es sind überwie-gend Männer, deren Projekte dann auch gefördert wer-den . Frau Staatsministerin Grütters, Sie haben immergesagt, dass Sie diesen Missstand beheben wollen. Dasist gut und zwingend notwendig; denn Frauen haben an-dere Sichtweisen und tragen zu mehr Vielfalt in der Film-landschaft bei. Wir brauchen also mehr Produzentinnen,mehr Drehbuchautorinnen und mehr Regisseurinnen .Daher müssen wir ihnen bessere Chancen auf Förderungeinräumen.
Davon ist in Ihrem Gesetzentwurf nur leider nichts zusehen. Sie werden mir jetzt entgegenhalten: Es soll mehrFrauen in den Gremien der Filmförderungsanstalt geben.Daraus folgt aber doch nicht automatisch, dass mehrFrauen gefördert werden. Wäre es da nicht besser, eineklare Zielvorgabe zu machen, wie viele der bewilligtenProjekte in den nächsten Jahren unter Beteiligung vonFrauen bei Regie, Produktion und Drehbuch entstehensollen? Da geht also deutlich mehr. Wir brauchen mehrMut, zu einer gesetzlichen Regelung zu kommen, diedieses Problem auch wirklich angeht.
„Mut“ ist ein gutes Stichwort. Daran fehlt es bei denEntscheidern leider viel zu oft. Es fehlt an Mut, denFilmschaffenden mehr Vertrauen entgegenzubringen. Siemüssen mit ihren Projekten durch so viele Türen gehen,und das Drehbuch muss durch so viele Hände gehen, dassdabei am Ende nicht immer der beste Film herauskommt.Dazu findet sich leider nichts in Ihrem Gesetzentwurf.Wie wäre es zum Beispiel mit einem Fast Track? DieFilmförderungsanstalt vergibt einen bestimmten Prozent-satz des Fördertopfes an erfolgreiche Filmemacherinnenund Filmemacher in einem vereinfachten und automati-sierten Verfahren. Dafür müsste man den Kreativen mehrvertrauen, es würde aber größtmögliche künstlerischeFreiheit ermöglichen.
Wir alle wollen gute Filme sehen, aber ob die Ausge-staltung der Vergabegremien zu besseren Filmen führt,wage ich zu bezweifeln. In den Kommissionen, die deut-lich kleiner werden sollen – was ich richtig finde –, sollzukünftig immer eine Mehrheit von Verwertern sitzen,auch wenn es um die Förderung von Drehbüchern undFilmen geht.
Das zementiert doch die bisherigen Machtverhältnisse,und die Macht liegt leider nicht bei den Kreativen. Andieser Stelle sollten Sie den Entwurf dringend überarbei-ten .
Auch die Besetzung des Verwaltungsrats verfestigtMachtstrukturen. Von den 36 Mitgliedern hat die Produ-zentenallianz auch künftig drei Sitze, der Verband Deut-scher Filmproduzenten aber nur einen. Da frage ich mich:Auf welcher Grundlage erfolgt diese Sitzverteilung?Apropos Transparenz. Auch hier fehlt der Mut. Esmuss für öffentliche Anstalten Pflicht sein, Rechen-schaft abzulegen. Dafür braucht man aber Zahlen überHerstellungskosten, die Beteiligung der Fernsehsender,Rückzahlungen und den Anteil an Frauen in den Berei-chen Regie, Produktion und Drehbuch. Nur so kann mandie Förderentscheidung evaluieren. Dazu könnte zumBeispiel ein zentrales Filmregister wie in Frankreich die-nen . Ich denke, es würde der FFA gut zu Gesicht stehen,Transparenz zum Aushängeschild zu machen.
Das könnte auch bei der Bewertung helfen, wann einFilm erfolgreich ist, was sich wiederum auf die Referenz-förderung auswirkt. Ist ein Film nur dann erfolgreich,wenn er in absoluten Zahlen die meisten Kinobesucherzählt? Oder ist nicht auch ein Film erfolgreich, der zwarweniger Zuschauer hat, aber bei wesentlich geringerenProduktionskosten im Verhältnis deutlich mehr? Wa-rum trauen Sie sich nicht, die Herstellungskosten in dasVerhältnis zu den Zuschauerzahlen zu setzen? Das wäreeine sinnvolle politische Steuerung im Sinne des kreati-ven Films. Sie würde gewährleisten, dass die Referenz-förderung teure Produktionen nicht einseitig besserstellt,während erfolgreiche, aber günstigere Filme hinten run-terfallen.
Es gäbe noch vieles zu sagen über die sozialen Stan-dards, die ökologischen Standards, die Selbstverpflich-tung, die Sperrfristen oder die Stärkung des Kinos alssozialer und kultureller Ort.Ich will noch eine letzte Anmerkung machen. Es istunsere Aufgabe, den Kreativen ein Umfeld zu schaffen,in dem sich Kreativität auch entfalten kann, damit wirden nächsten deutschen Beitrag in Cannes nicht erst imJahr 2023 haben.Vielen Dank.
Tabea Rößner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17231
(C)
(D)
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Johannes
Selle von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für 1,167 Mil-liarden Euro wurden im Jahr 2015 Kinokarten verkauft.Das ist ein Rekord in der deutschen Kinogeschichte. Esgab über 139 Millionen Besucher; auch das ist ein Re-kord. Das Spannendste ist: Von denen, die 2013 und 2014nicht im Kino waren, konnten 2015 ein Drittel ins Kinogelockt werden.
Unter den 31 Filmen, die 2015 mindestens 1 Million Zu-schauer hatten, waren 9 deutsche Filmproduktionen; dasist ebenfalls ein Rekord. Kino hat Attraktivität behaltenund konnte Attraktivität ausbauen. Über diese Erfolgedürfen wir uns freuen, ganz besonders darüber, dass derAnteil der deutschen Filme gewachsen ist, die das Ge-fallen der Zuschauer finden. Da darf man den Schlussziehen, dass die filmpolitischen Rahmenbedingungen gutgesetzt waren. An dieser Stelle wollen wir mit dem neuenFilmförderungsgesetz weitermachen.
Unser Anliegen ist es, die Qualität im deutschen Filmzu fördern, beim Kurzfilm, beim Kinderfilm, der unsbesonders am Herzen liegt, beim Dokumentarfilm undnatürlich auch beim Spielfilm. Film ist Kultur- und Wirt-schaftsgut zugleich. Eine erfolgreiche Filmförderungmuss daher wirtschaftliche und künstlerische Faktorenberücksichtigen .Genau diesen Elementen widmet sich der Gesetzent-wurf. Alle Entwicklungsstufen werden in den Blick ge-nommen, vom Drehbuch über die Projektförderung unddie Vermarktung bis hin zur Kinoförderung. Die Kunstdes Filmschaffens kann aus einem guten Drehbuch einenguten Film machen; aber am Anfang steht das gute Dreh-buch, und deshalb konzentrieren wir die Fördermittel aufInvestitionen in die Qualität der Drehbücher.Es liegt in der Natur des Filmschaffens, dass künstle-rischer Anspruch und begrenzte Mittel, geplante Dreh-zeiträume, Wetter und Ähnliches zur Selbstausbeutungführen können. Mit diesem Gesetz führen wir eine Min-destförderquote von 200 000 Euro ein. Wir wollen mitder angemessenen Beteiligung der Filmförderung an denHerstellungskosten dafür sorgen, dass die Finanzierungnicht am Förderbetrag scheitert. Der Verwaltungsrat er-hält Spielraum, um die Beteiligung in angemessenemMaße nachzujustieren. Das ist ein Beitrag zur sozialenAbsicherung .Wir tun das alles als Mittler und Moderatoren für dieFilmwirtschaft. Die Gelder, die wir nach den Regeln desFilmförderungsgesetzes ausgeben, sind nämlich keineSteuermittel, sondern sie stammen zum großen Teil ausAnteilen an verkauften Eintrittskarten. Auch das mussimmer wieder gesagt werden. In diesem Prozess kollidie-ren die Interessen der einen Gruppe mit Interessen vonanderen Gruppen. Deshalb haben wir die ehrenvolle Auf-gabe, einen akzeptablen Weg zu finden und die für alleverbindlichen Regeln zu beschließen.In der letzten Legislaturperiode konnten wir nur mar-ginal handeln, weil vor dem Bundesverfassungsgerichtgrundsätzlich über die Förderung beraten wurde. Im Ja-nuar 2014 ist Klarheit geschaffen worden. Deshalb kön-nen wir nun versuchen, mit einem grundsätzlich neuenAnsatz Strukturen für eine bessere und effektivere Arbeitzu schaffen .Dazu gehören die drei Entscheidungsgremien, die sichauf Drehbuch- und Produktionsförderung, Verleih-, Ver-triebs- und Videoförderung sowie Kinoförderung kon-zentrieren können. Statt eines 13-köpfigen Vergabegre-miums, das bisher alle Anträge bearbeitet hat, sollen nun3- bis 5-köpfige Förderkommissionen gebildet werden,die sich auf einzelne Bereiche konzentrieren können.Außerdem wird deren Arbeitsbelastung verkleinert. Mitdiesem Ansatz wollen wir auch das Augenmerk auf dieBeteiligung von Frauen richten.Um die Einnahmen zu verstetigen und gerecht auf dieEinzahlergruppen zu verteilen, wird es zu Erhöhungenkommen. Hierzu stellen wir glücklicherweise in der Ten-denz mehr Akzeptanz als Kritik fest.Noch nicht ganz geklärt ist, wie wir mit Video-on-De-mand-Anbietern aus dem Ausland verfahren wollen, da-mit sie gerecht beteiligt werden. Bei Fragen der Globa-lisierung und der Digitalisierung stehen wir generell wiebei den Steuern unter Druck. Dieser Druck, zu Lösungenzu kommen, ist, glaube ich, stark gewachsen. Erste Si-gnale von der Europäischen Kommission gehen in dieseRichtung .Das Kino, das seinen Platz im kulturellen Leben be-hauptet, wollen wir weiter stärken und schützen, vorallem im ländlichen Raum. Das heißt, die erste Verwer-tungsstufe soll das Kino bleiben, und es soll weiterhinSperrfristen geben. Das heißt aber auch, dass wir mit die-sem Instrument flexibler werden wollen. Bei innovativenCrossstrategien oder mangelndem Interesse an einer Ki-noauswertung wollen wir schneller zu den nachfolgen-den Auswertungsstufen kommen. Das ist zeitgemäß undresultiert aus den Erfahrungen der letzten Jahre.Auch in unserer Fraktion gibt es Ideen, die wir in denDiskussionsprozess einbringen wollen. Dazu gehört dasErfolgsdarlehen, mit dem wir uns noch einmal befas-sen wollen, weil wir es nach wie vor für richtig halten,die Erfolgreichen zu stärken und zu neuen Projekten zumotivieren. Über die Idee aus der Branche, von Anfangan einen Erlöskorridor für Produzenten zu ermöglichen,wollen wir auch diskutieren. Wir wollen auch den Kin-derfilm stärken. Als Thüringer Kulturpolitiker liegt mirder Kinderfilm besonders am Herzen; denn Thüringen istKinderfilmland. Vielleicht kann man bei der Besetzungder Gremien des FFA-Verwaltungsrates etwas bewirken.Wenn einer der vorgesehenen Produzenten sich für denKinderfilm engagiert, wäre das schon etwas.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617232
(C)
(D)
Ich freue mich auf den Diskussionsprozess . GenügendStoff gibt es .Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf den Drucksachen 18/8592 und 18/8627 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a bis 30 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Matthias W. Birkwald, Caren Lay, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Altersarmut von Ost-Krankenschwes-
tern – Gerechte Renten für Beschäftigte im
DDR-Gesundheits- und Sozialwesen schaffen
Drucksache 18/8612
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Matthias W. Birkwald, Caren Lay, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Kumpel zweiter Klasse – Renten-
ansprüche der Bergleute aus der DDR-Braun-
kohleveredlung wahren
Drucksache 18/7903
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Roland Claus, Dr. Gregor Gysi, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frakti-
on DIE LINKE
Ungerechtigkeiten bei Mütterrente in Ost-
deutschland und beim Übergangszuschlag
beheben
Drucksachen 18/4972, 18/6706
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre auch
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen,
und ich kann die Aussprache eröffnen.
Als erste Rednerin in der Aussprache hat Katja
Kipping von der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirschreiben das Jahr 26 nach der Wende, und leider sindwir noch weit entfernt von einer wirklichen Rentenge-rechtigkeit zwischen Ost und West. Noch immer ist derRentenwert Ost niedriger als der Rentenwert West, nochimmer gibt es vielfältige Benachteiligungen bestimmterGruppen infolge der Rentenüberleitung. Mit all den viel-fältigen Benachteiligungen von ostdeutschen Biografienin der Rente werden wir als Linke uns niemals zufrieden-geben. Hier lassen wir nicht locker.
Auch die Mütterrente ist so geregelt, dass Menschenim Osten weniger davon profitieren. Der Begriff „Mütter-rente“ hat sich umgangssprachlich eingebürgert, insofernwerde auch ich ihn verwenden, auch wenn wir wissen,dass sehr wohl auch Väter besondere Rentenpunkte fürKindererziehung bekommen können. Da der RentenwertOst niedriger ist als der Rentenwert West, gibt es für dieErziehung eines im Osten geborenen Kindes niedrigereRentenansprüche, und zwar 1,79 Euro weniger je Ren-tenpunkt. Kindererziehungszeiten im Osten werden alsoin der Rente geringer entlohnt als Kindererziehungszei-ten im Westen. Die Teilung zwischen Ost und West lebtdamit in der Rente fort; wirkliche Einheit sieht andersaus .
Gemeinsam mit einem breiten Bündnis für eine ge-rechte Mütterrente, also mit Verdi, der Volkssolidarität,dem Sozialverband und dem Frauenrat fordern wir: Ma-chen Sie Schluss mit dieser Ungleichbehandlung der Er-ziehungszeiten in Ost und West. Jedes Kind sollte unsgleich viel wert sein.
Neben dem niedrigeren Rentenwert Ost gibt es eineweitere Benachteiligung: Frauen, deren Rente einenÜbergangszuschlag beinhaltet, bekommen den zusätzli-chen Mütterrentenpunkt darauf angerechnet . Diese Re-gelung kann dazu führen, dass ostdeutsche Mütter beider Verbesserung der Mütterrente leer ausgehen, so bei-spielsweise geschehen bei einer fast 80-jährigen Frau, diesechs Kinder geboren hat und 1996 in Rente gegangenist. Eigentlich hätte ihr bei sechs Kindern eine Erhöhungum 158 Euro zugestanden, doch ihre bisherige Rente be-inhaltet eben jenen Übergangszuschlag, und damit siehtsie von den Verbesserungen in der Mütterrente 0 Euro.
Insgesamt sind 6 500 hochbetagte Frauen davon be-troffen, 6 500 hochbetagte Frauen von Dresden bisSchwerin, die wegen Gesetzesformulierungen aus demJahre 1993 in ihrem Portemonnaie wirklich nichts davonsehen, was wir bei der Mütterrente verbessert haben . Ichfinde, es ist beschämend, dass Sie von der CDU und vonJohannes Selle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17233
(C)
(D)
der SPD nicht in der Lage sind, für diese 6 500 Frauenschnell eine Lösung zu finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage mich wirk-lich, warum Sie so verbissen auf die Benachteiligung vonostdeutschen Frauen in der Mütterrente bestehen . SindSie so verbohrt, dass Sie denen rentenpolitisch unbedingtnoch eins mitgeben wollen, nur weil sie in der DDR ge-lebt haben, oder liegt es daran, dass diejenigen, die dieProbleme des Ostens kennen, bei SPD und CDU nichtszu sagen haben? Ja, ganz offensichtlich hat der Osten beiIhnen nichts zu melden.
Die Linke legt heute auch noch zwei Anträge vor,die besondere Rentenungerechtigkeiten für Bergleute inder Braunkohleveredelung und Benachteiligungen derOstkrankenschwestern, also den Beschäftigten im Ge-sundheits- und Sozialwesen der DDR, ansprechen. Bei-de Berufsgruppen waren besonderen Härten ausgesetzt.Deswegen gab es für sie im Rentensystem der DDR be-sondere Regelungen. Die in der BraunkohleveredelungBeschäftigten waren den Bergleuten unter Tage gleichge-stellt. Als Ausgleich für ihre gesundheitsgefährdende Ar-beit konnten sie früher in Rente gehen. Die Beschäftigtenim Gesundheits- und Sozialwesen der DDR erhielten alsWürdigung für ihre besonders anspruchsvolle Arbeit ei-nen entsprechenden Steigerungsbetrag bei der Rente .Beide Regelungen sind bei der Rentenüberleitungnicht berücksichtigt worden bzw. nach einer Übergangs-zeit weggefallen. Deshalb müssen heute viele der Ost-krankenschwestern mit einer Rente nur knapp über demHartz-IV-Niveau auskommen, und das nach einem wirk-lich aufopferungsvollen Arbeitsleben. Da muss doch et-was drin sein .
Zu den in der Braunkohleveredelung Beschäftigten.Viele Kumpel, die dort gearbeitet haben, mussten infol-ge von gesundheitlichen Schäden eher in Rente gehen.Dafür müssen sie nun nach dem jetzigen Rentenrecht le-benslang Abschläge in der Rente in Kauf nehmen. Hiermuss doch etwas geschehen, und zwar schnell.
Denn den Betroffenen läuft die Zeit, ja die Lebenszeit da-von. Um das einmal zu verdeutlichen: Im Jahr 1996 hatim Raum Borna/Espenhain eine Gruppe die Kämpfe fürdie ihnen zustehenden Rentenansprüche aufgenommen .Damals waren sie über 1 000. Heute sind es nur nochrund 350. Die Fehlenden haben nicht einfach aufgege-ben, nein, sie sind schlichtweg weggestorben. Hier aufZeit zu spielen, ist einfach nur zynisch.
Wir haben Ihnen im Oktober letzten Jahres einen um-fassenden Antrag vorgelegt, in dem wir alle Berufsgrup-pen aufgeführt haben, die infolge der Rentenüberleitungbenachteiligt werden. In der Debatte damals haben diejeweiligen Redner aus beiden Koalitionsfraktionen ge-sagt, dass sie es gerade bei den in der Braunkohlevere-delung Beschäftigten wie bei den Ostkrankenschwesternwirklich sehr bedauern, dass man da nichts machen kann.Mit unseren Anträgen erinnern wir Sie an Ihr Bedauernvon damals. Nehmen Sie sich wenigstens dieser zweiBeschäftigtengruppen an. Gesetzliche Regelungen sinddoch kein Naturgesetz. Sie lassen sich ändern, wenn manden politischen Willen hat. Also bringen Sie endlich denpolitischen Willen auf, und helfen Sie wenigstens diesenbeiden Beschäftigtengruppen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Jana Schimke
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirdiskutieren hier im Deutschen Bundestag ja regelmäßigüber die Entscheidungen der DDR-Rentenüberleitungund damit auch über die Besonderheiten des DDR-Ren-tenrechts .
Mir wird dabei immer wieder klar, wie schwer es für dieMütter und Väter der Wiedervereinigung gewesen seinmuss, das DDR-Rentensystem in das Rentensystem derBRD zu überführen, zumal das Rentenrecht in der DDReiner Systematik folgte, die weit von dem Selbstver-ständnis unseres heutigen Rentenrechts entfernt war.Das bundesdeutsche Rentenrecht betrachtet in der Re-gel allein die gezahlten Beiträge und die geleisteten Ar-beitsjahre. Will man darüber hinaus vorsorgen, kann mandafür private oder betriebliche Vorsorgeformen wählen.In der DDR waren nicht allein die gezahlten Beiträgeund die Arbeitsjahre ausschlaggebend, sondern es wurdeauch nach Berufsgruppen unterschieden . In bestimmtenBerufsgruppen war man in der DDR allein durch die Zu-gehörigkeit gegenüber anderen Berufsgruppen von vorn-herein bessergestellt. Aus diesem und anderen Gründendiskutieren wir hier in aller Regelmäßigkeit über bis zu20 verschiedene Sonderregelungen des DDR-Renten-rechts .Nun kann man nicht behaupten, dass diese Unterschie-de bei der Rentenüberleitung nicht anerkannt worden wä-ren. Durch Übergangsregelungen wurden die Besonder-heiten des DDR-Rentenrechts bis weit in die 90er-Jahreübernommen. Dann aber galt es, die Einheit auch in derRente Stück für Stück umzusetzen. Das Renten-Überlei-tungsgesetz zielte deshalb ganz bewusst auf eine einheit-liche Alterssicherung der Menschen in der DDR ab. Bisheute steht es für eine großartige Solidarleistung allerKatja Kipping
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617234
(C)
(D)
Versicherten und ermöglicht heute den ehemaligen Bür-gern der DDR eine gute Alterssicherung.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt aufgrei-fen. Die politische und soziale Einheit zweier wieder-vereinter Staaten herzustellen, kann schlichtweg nichtbedeuten, Unterschiede fortzuführen. Und: Ja, die politi-sche und soziale Einheit herzustellen, bedeutet auch, dassjeder für sich nicht nur mit Veränderungen, sondern auchmit Entbehrungen zurechtkommen musste. Viele verlo-ren ihre Arbeitsstelle – eine Erfahrung, die man so vorhernoch nie gemacht hat .
Viele fanden sich in einer Zeit wieder, in der es galt, neueRegeln und neue Werte anzuerkennen. Die Welt war so-zusagen aus den Fugen geraten. Obwohl man erwachsenwar, bereits Kinder hatte, verheiratet und im Beruf eta-bliert war, musste man sich einen neuen Platz in einerneuen Gesellschaft suchen. Vielleicht lässt dies erahnen,wie schwer es war, eine Einheit herzustellen und dabeiauch diese Besonderheiten zu berücksichtigen .Vor diesen Herausforderungen stehen wir bis heute .Jedes Gesetz erhebt den Anspruch, Gerechtigkeit best-möglich abzubilden. Doch wir alle, die wir Politik ma-chen und somit täglich Entscheidungen zu treffen haben,wissen eines: Notwendige Entscheidungen stellen in denseltensten Fällen für alle eine zufriedenstellende Lösungdar. Besonders bei der Rentenüberleitung war und ist esschwer, alle Härte- und Einzelfälle sowie die entstande-nen Ansprüche eines nicht mehr bestehenden Systemsabzubilden.Dennoch: Wir nehmen die Anliegen der Betroffenensehr ernst .
Wir haben uns in dieser und in der vergangenen Legis-latur in Expertengesprächen, in den Ausschüssen undin Beratungen ausführlich mit vielen dieser Sonderfällebefasst. Alle Gespräche haben gezeigt, dass die Gefahrweiterer Ungerechtigkeiten vor allem dann besteht, wennwir das beschließen, was in den Anträgen steht, die unshier und heute vorliegen.Ein Beispiel. Nach einer mindestens zehnjährigenTätigkeit erhielten Beschäftigte des Gesundheits- undSozialwesens in der DDR für jedes Beschäftigungsjahrden 1,5-fachen Satz des maßgeblichen Durchschnitts-verdienstes angerechnet. Vergleichbare Regelungen gabes auch für andere Berufsgruppen. In der DDR solltendamit bestimmte Tätigkeiten, die körperlich anstrengendoder gesellschaftlich bedeutsam waren, in der Altersvor-sorge bessergestellt werden. Auch ging es darum, einenAusgleich für das oftmals niedrige Einkommen währendder Erwerbstätigkeit zu schaffen. In der Bundesrepublikaber erfahren alle Berufe dieselbe gesellschaftliche Be-deutung, sei es im gewerblichen, im sozialen oder imkaufmännischen Bereich.Hinzu kommt, dass die Rente keinen Ausgleich fürgeringes Einkommen bildet. Die Rente ist Ausdruck des-sen, was war, und nicht dessen, was hätte sein sollen.
Deshalb ist Ziel unserer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik,die Aussichten auf die spätere Rente durch Qualifikati-on, eine gesunde Wirtschaft und auch durch eine gesundeund funktionierende Sozialpartnerschaft zu stärken. Des-halb kennt unser bestehendes Rentensystem solch eineRegelung nicht. So ist es auch logisch und konsequent,dass man sich seinerzeit gegen eine Übernahme dieserSonderregelung ins SGB VI entschieden hat. Mit denGrundsätzen des lohn- und beitragsbezogenen Renten-rechts ist diese Regelung nicht vereinbar.Einen weiteren Sonderfall des DDR-Rentensystemsbilden die Personen, die in der DDR-Braunkohleverede-lung tätig waren. Diese wurden aufgrund ihrer anspruchs-vollen Arbeit mit gesundheitsgefährdenden Chemikalienwie Bergleute unter Tage behandelt. Genau dies, liebeKolleginnen und Kollegen, offenbart natürlich auch dieoftmals schlechten Arbeitsbedingungen in vielen Berei-chen der Wirtschaft der DDR .
Auch hier entschied sich der Gesetzgeber, eine Über-gangsregelung zu treffen. Nach 1996 wurde diese Rege-lung nicht mehr angewandt, und die Beschäftigten imBereich der Braunkohleveredelung wurden nicht mehrwie Bergleute unter Tage behandelt. Aber diese Entschei-dung, diese politische Entscheidung, hat nichts damit zutun und führt auch nicht dazu, dass die betreffenden Per-sonen wie Kumpel zweiter Klasse behandelt werden.Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Worte zurMütterrente sagen . Bei der Einführung der Mütterrentehaben wir uns schlichtweg an geltendes Recht gehaltenund dieses angewandt . Es stimmt, dass eine Rentnerin imOsten Mütterrente in Höhe des Rentenwertes Ost erhält.
Die Entwicklung der letzten 25 Jahre zeigt aber, dass sichdie Rentenwerte in Ost und West zunehmend annähern;darüber diskutieren wir heute ja nicht zum ersten Malhier im Deutschen Bundestag . Seit der Wiedervereini-gung – das erwähne ich auch immer wieder sehr gerne –haben wir bei der Angleichung der Renten sehr großeFortschritte erzielt.
Das sollte an dieser Stelle auch noch einmal gesagt sein.
Die Renten stiegen in den neuen Bundesländern seitder Wende um weit mehr als 100 Prozent. In West-deutschland betrug der Anstieg lediglich 25 Prozent. DerRentenwert Ost wächst weiter, und noch in diesem Jahrwird es eine ordentliche Rentenerhöhung geben, die sichJana Schimke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17235
(C)
(D)
auch in den Portemonnaies der betreffenden Personendeutlich bemerkbar machen wird.
Nur 2,1 Prozent der Menschen in Ostdeutschland be-ziehen die Grundsicherung im Alter; im Westen sind eshingegen 3,2 Prozent, und die durchschnittliche Rentevon Frauen ist in den neuen Bundesländern um 44 Pro-zent höher als in den alten Bundesländern.Die vollständige Angleichung des Rentenrechts in Ostund West rückt in greifbare Nähe. Wir und unser Koali-tionspartner haben uns auf einen gemeinsamen Fahrplanzur Erreichung dieses Ziels verständigt.
Auf der Grundlage des anstehenden Sachstandbe-richts der Bundesregierung werden wir entscheiden, obmit Wirkung ab 2017 eine Teilangleichung notwendig istoder eben nicht .Es kommt aber auch darauf an, die tatsächlichen He-rausforderungen für die Zukunft unseres Rentensystemsinsgesamt in den Blick zu nehmen. Die Bundesregierungsieht die Herausforderung des demografischen Wandelsund will die zweite und dritte Säule der Altersvorsorgestärken. Die private und die betriebliche Vorsorge solltenfür jeden Menschen in unserem Land selbstverständlichsein und eine auskömmliche Rente für jeden ermögli-chen .Dies ist unser Ziel und bestimmt unser Handeln. Ichfreue mich sehr auf die Diskussion zur anstehenden Ren-tenreform in den kommenden Beratungen .Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Markus Kurth
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Schimke, wie oft vonseiten der Union schon dieAngleichung der Rentenwerte Ost und West angekündigtworden und dann wieder und wieder nichts passiert ist,kann ich kaum noch zählen. Ihren Ankündigungen dazukann man wirklich kaum noch Glauben schenken.
Ich glaube, man muss den Zuhörerinnen und Zuhö-rern, die sich nicht jeden Tag mit Renten befassen, sa-gen: Selbst die Partei Die Linke fordert keine sofortigeAngleichung der Rentenwerte Ost und West, sondern ei-nen langwierigen Prozess. Die einzige Fraktion, die sagt,dass man da jetzt einen Schnitt machen und die Renten-werte Ost und West angleichen muss, ist Bündnis 90/DieGrünen .
Bevor ich gleich wieder eine Zwischenfrage des Kol-legen Matthias W. Birkwald bekomme, verschweige ichauch nicht, dass wir im Gegenzug natürlich sagen, dassdie sogenannte Höherwertung der Ostrentenpunkte fürdie Erwerbstätigen dann entfällt.
Diejenigen Rentnerinnen und Rentner, deren Renten-punkte in der Vergangenheit höhergewertet wurden, ge-nießen hier allerdings natürlich Bestandsschutz. Insofernist das, was Bündnis 90/Die Grünen zur Angleichung derRentenwerte Ost und West vorschlagen, schnell möglichund gerecht .Das ist auch ein Punkt, wodurch sich die Ungleich-behandlung der Mütterrenten – darauf bezieht sich einAntrag der Fraktion Die Linke – erledigt hätte.
Beim Punkt „Mütterrente“ bliebe dann in der Tat nochdie Frage der sogenannten Zuschlagsregelung. DiesemTeilbereich – Sie haben gesagt: es handelt sich um eineGruppe von 6 000 überwiegend hochbetagten Frauen –können wir zustimmen,
sodass wir bei diesem Antrag insgesamt zu einer Ent-haltung kommen. Auf der einen Seite stimmen wir derZuschlagsregelung zu, auf der anderen Seite geht uns dieAngleichung der Rentenwerte Ost und West zu langsam.
Ich komme jetzt zu den verschiedenen Berufsgruppen,die Sie ansprechen, und den rentenrechtlichen Sonderre-gelungen der DDR.Man muss grundsätzlich sagen, dass es beim Ren-ten-Überleitungsgesetz und bei der Vereinigung derRentensysteme im Wesentlichen zu einer Angleichungan das westliche Recht kam. Das westliche Recht – daswar die Systematik des Beitritts damals – war sozusa-gen die Leitwährung, unter der die Vereinigung auch derSozialsysteme stattgefunden hat. Das ist damals von derBevölkerung – auch der Bevölkerung der DDR – auchausdrücklich so gewollt und per Wahlen abgestimmtworden .Man muss sich genau angucken, wo es wenigstensqualitativ entsprechende Regelungen auch im westdeut-schen Rentenrecht gab. Bei den Bergleuten ist genau dasder Fall. Auch die westdeutschen Bergleute, die unterTage und unter gesundheitlich belastenden Bedingun-gen gearbeitet haben, bekamen einen rentenrechtlichenAusgleich. Insofern finde ich, dass Sie in Ihrem Antrag,den Sie zu den Rentenansprüchen der Bergleute aus derBraunkohleverarbeitung gestellt haben, im Prinzip einerichtige Argumentation verfolgen und dass man dieseBergleute mit einer besonderen rentenrechtlichen Rege-lung versehen kann.Anders verhält es sich allerdings bei den Beschäftig-ten im DDR-Gesundheits- und Sozialwesen. Das ist üb-rigens so wie bei vielen anderen von Ihnen genanntenGruppen, die zwar in diesen Anträgen nicht auftauchen,die Sie aber regelmäßig, meistens im Jahresrhythmus,Jana Schimke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617236
(C)
(D)
besserstellen wollen. Da geht es etwa um Spitzensportlerund andere Personengruppen oder auch um Ehepartnervon Auslandsentsandten der DDR.
Alle haben bestimmte rentenrechtliche Sonderregelun-gen bekommen .Für diese rentenrechtlichen Sonderregelungen wieauch die für die Beschäftigten im Gesundheitswesen,die Sie heute ansprechen, gibt es keine Entsprechungim westdeutschen Rentenrecht . Es ist nicht so gewesen,dass die Beitrittsverhandlungen und die Überleitung eineFusion gewesen wären, sondern das westdeutsche Ren-tenrecht war, wie gesagt, der Maßstab. Wenn wir Son-derregelungen übernehmen wollten – an diesem Punktwar die Argumentation von Frau Schimke nicht ganzunstimmig –, würde man wiederum im Westen neue Un-gleichbehandlungen schaffen. Das würde dazu führen,dass auch im Westen bestimmte Berufsgruppen mit Aus-fallzeiten fragen könnten: Warum bekommen wir dennkeinen rentenrechtlichen Ausgleich?Natürlich ist das individuell für die Betroffenen teil-weise schwer zu verstehen . Aber man kann bei einemsolchen historischen Umbruch nicht jedem Detail ge-recht werden, wenn man sich politisch auf ein bestimm-tes Überleitungsprinzip geeinigt und verständigt hat.Darum plädiere ich bei den Berufsgruppen für eine diffe-renzierte Betrachtung. Bei den Balletttänzerinnen folgenwir Ihrem Antrag .
Hier gibt es entsprechende tarifvertragliche Regelungen,bei anderen Gruppen aber nicht .Ich glaube, dass man damit dieser schwierigen Um-bruchsituation annähernd gerecht wird.Ich freue mich auf die weiteren Beratungen der An-träge.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Daniela
Kolbe von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zum Abschluss der Sitzungswoche dis-
kutieren wir drei Anträge der Fraktion Die Linke. De-
ren Inhalt war bereits mehrfach Thema hier im Plenum.
Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass wir dieses Thema
erneut diskutieren. Es ist ja für viele Menschen von gro-
ßer Bedeutung.
Sie haben einen Antrag zum Thema Mütterrente in
Ostdeutschland und zum niedrigeren Rentenwert einge-
bracht. In den zwei anderen Anträgen geht es um Grup-
pen, die durch die Rentenüberleitung, also die Zusam-
menführung der beiden Rentensysteme in Ost und West,
Regelungen verloren haben, mit denen sie im DDR-Ren-
tenrecht bessergestellt worden waren, und zwar aus nach-
vollziehbaren Gründen, nämlich wegen der Gesundheits-
gefährdung und der Belastungen der Betroffenen bei der
Arbeit. Zum einen sind das die Bergleute in der Braun-
kohleveredlung und zum anderen die Beschäftigten im
Gesundheits- und Sozialwesen der DDR.
Viele hier im Plenum, die an diesem Freitagnachmit-
tag noch da sind, haben schon zahlreiche Gespräche mit
Betroffenen geführt . Auch ich habe das getan und werde
das weiterhin tun. Bei aller Sympathie für die Anliegen
plädiere ich für eine sehr ehrliche Debatte. Diese ehrliche
Debatte führt für uns als Sozialdemokraten dazu, dass
wir den drei Anträgen in der vorliegenden Form nicht zu-
stimmen können, sondern sie ablehnen werden.
Das will ich kurz ausführen, zunächst zur Mütterrente.
Die Verbesserungen bei der Mütterrente, also die Einfüh-
rung des zusätzlichen Rentenpunktes, war für diese Gro-
ße Koalition ein Riesenerfolg.
Gut, wir als SPD hätten diese Maßnahme gerne anders
finanziert; das sei auch jetzt bei diesem Thema noch ein-
mal erwähnt. Aber es bleibt ein großer Erfolg.
Der von der Linken beschriebene Unterschied kommt
dadurch zustande, dass wir nach wie vor unterschiedliche
Rentenwerte haben: Der Rentenwert in Westdeutschland
liegt höher als der in Ostdeutschland. In Ostdeutschland
haben wir dafür einen Höherwertungsfaktor; damit ist ein
Rentenpunkt leichter zu erwerben.
Wir sagen deshalb: Wir wollen die pauschal bewer-
teten Versicherungszeiten jetzt nicht unmittelbar höher
bewerten . Wir hatten das in unserem Regierungspro-
gramm stehen, haben uns damit aber nicht durchsetzen
können. Vielmehr wollen wir jetzt den Weg gehen – da-
rauf konnten wir uns mit unserem Koalitionspartner ver-
ständigen –, die Rentenwerte weiter anzunähern, also die
Angleichung der Rentensysteme zu erreichen.
Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald
zu, Frau Kolbe?
Aber natürlich, wenn es schnell geht.
Vielen herzlichen Dank. – Frau Kollegin Kolbe, weilSie das selber schon erwähnt haben, sage ich vorneweg:Markus Kurth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17237
(C)
(D)
Vor zwei Tagen sind 110 000 Unterschriften für eine ge-rechte Mütterrente vom Sozialverband Deutschland, vonder Volkssolidarität, vom Deutschen Frauenrat und vonVerdi übergeben worden. Die 110 000 Unterzeichnerkönnen nämlich alle nicht verstehen, dass ein Kind imOsten, zum Beispiel in Leipzig, wo Sie herkommen, inder Rente weniger wert sein soll als ein Kind im Westen,wie in Köln, wo ich herkomme. 110 000 Unterschriften!Ich darf Ihnen sagen: Von meiner Fraktion mit 64 Ab-geordneten haben 62 Abgeordnete unterschrieben . DerBundesgeschäftsführer unserer Partei und unser Partei-vorsitzender haben ebenfalls unterschrieben.Jetzt frage ich Sie: Wie viele Ihrer Kolleginnen undKollegen von der SPD haben diesen Aufruf unterschrie-ben? Dazu will ich Ihnen einen kurzen Text vorlesen.Denn Sie, Frau Kolbe, Frau Staatssekretärin Krammeund fünf weitere Abgeordnete, die heute im HohenHaus anwesend sind, haben vor nicht allzu langer Zeitden Deutschen Bundestag aufgefordert, bei Versiche-rungszeiten, die im Rahmen eines sozialen Ausgleichsbzw. als Anerkennung für gesellschaftliche Leistungenbewertet werden, die rechtlichen Voraussetzungen dafürzu schaffen, dass künftig für – jetzt kommt es – Kinder-erziehungszeiten, aber auch für Versicherungszeiten fürpflegende Angehörige, Zeiten des Wehr- und Zivildiens-tes und Zeiten der Beschäftigung in einer Werkstatt fürbehinderte Menschen der aktuelle Rentenwert zugrundegelegt wird. Das war in der vergangenen Legislaturpe-riode. Warum verfolgen Sie das nicht weiter? Wenn Siesich schon nicht gegen die Union, die noch nie etwas fürMütter im Osten übrig hatte,
durchsetzen können, haben Sie dann wenigstens dafürgesorgt, dass viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen beidieser guten Unterschriftenaktion mitgemacht haben?
Danke für die Zwischenfrage. – Erstens will ich klar-stellen: Für uns als SPD ist die Erziehung von Kinderngleich viel wert, egal ob im Osten, Westen, Norden oderSüden dieses Landes.
Deswegen wollen wir diese Angleichung hinbekommen.Zweitens. Iris Gleicke hat meines Wissens die Unter-schriften entgegengenommen. Wir als SPD sind als Re-gierungsfraktion Adressat dieser Forderung und fühlenuns auch verpflichtet, uns dafür einzusetzen. Wir hattendas in unser Regierungsprogramm aufgenommen . Wirhatten vorgeschlagen, die pauschal bewerteten Versiche-rungszeiten sofort anzugleichen, haben uns aber damitnicht durchsetzen können. Das ist in einer parlamentari-schen Demokratie manchmal so.Wir gehen deswegen einen anderen Weg, nämlich dender Angleichung der Rentensysteme. An dieser Stellewill ich das mit Blick auf die Union ein bisschen deut-licher formulieren: Da auch unser Koalitionspartner guteMütter und Väter in seinen Reihen hat, haben wir unsdarauf verständigt, die Angleichung der Rentensystemein Ost und West hinzubekommen. Genau das werden wirauch tun. Dieses Jahr geht es los. In diesem Sinne werdenwir genau die Forderung erfüllen, dass die Erziehungs-zeiten in Ost und West gleich viel wert sein müssen.
Sie haben einen zweiten Aspekt zum Thema Mütter-renten angesprochen, und zwar den Übergangszuschlagbei den sehr hochbetagten Frauen, der dazu führt, dassdiese Frauen sowohl von den Änderungen bei der Müt-terrente nicht unbedingt profitieren – je nachdem, wiehoch der Zuschlag ist – und sie auch so lange nicht vonRentenerhöhungen profitieren, wie der Zuschlag dieseErhöhungen übersteigt.Wir haben die Rentenreform 2014 ganz bewusst imRahmen des bestehenden Rentenrechts gestaltet. Dasführt an der einen oder anderen Stelle tatsächlich dazu,dass Menschen, die sich etwas von der Mütterrente er-hofft haben, nicht so massiv in ihren Genuss kommenwie erwartet . Aber es war eine bewusste Entscheidung .Entweder erkennt man die Wirkungsweise des Renten-systems an, oder man macht für alles und jedes eine Aus-nahme. Wir haben uns an der Stelle dazu entschieden, inder Rentensystematik zu bleiben und eine ehrliche De-batte zu führen .Was die Anträge zu den Bergleuten und den Beschäf-tigten im Gesundheitswesen angeht, sind die Hintergrün-de schon ausgeführt worden . Wie bei den meisten ande-ren Fällen ist es so, dass die Sachverhalte vor Gerichtenausverhandelt sind. Aber Sie haben natürlich recht: Poli-tische Lösungen sind möglich. Da gibt es unterschiedli-che Ansätze.Die Linke sagt: Wir regeln jede Gruppe einzeln undgeben den Forderungen nach. – Das hat den Nachteil,dass man an verschiedenen Stellen zu Ungerechtigkei-ten gegenüber bestimmten westdeutschen Gruppen oderauch anderen ostdeutschen Gruppen kommt .
Wir als SPD haben einen anderen Ansatz. Wir wolleneinen Härtefallfonds auflegen. Denn – da bin ich, glau-be ich, anderer Auffassung als Kollegin Schimke – essind reale Ungerechtigkeiten entstanden; es sind mas-sive Härtefälle entstanden, weil sich Menschen auf dasDDR-Rentenrecht verlassen haben und dann durch Weg-fall von Regelungen sozial wirklich heruntergefallensind. Wir wollen deswegen einen steuerfinanzierten Här-tefallfonds auflegen für diejenigen, für die durch die Ren-tenüberleitung besondere soziale Härten entstanden sind.Das wird einige Bergleute betreffen, aber noch mehr dieKrankenschwestern oder die in der DDR geschiedenenFrauen, die alle davon profitieren können.Matthias W. Birkwald
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617238
(C)
(D)
Das ist ein Ansatz, der sozialen Frieden schafft undder vor allen Dingen keine neuen Ungerechtigkeiten her-vorruft . Für diesen Fonds streiten wir .Abschließend will ich noch einmal sagen: Wir als SPDstehen zu unserer Verantwortung. Wir stellen uns auchimmer wieder der Debatte mit Betroffenen und auch hierim Plenum. Wir wollen – das ist Punkt eins – die zügigeRentenangleichung in Ost und West. Das steht im Koa-litionsvertrag, und das wissen wir als SPD auch. Daraufwerden wir pochen, und das werden wir ganz genau be-gleiten.
– Aber im Koalitionsvertrag steht ein Datum, das nochin der Zukunft liegt. Das werden Sie zugestehen, HerrKurth, dass wir an der Stelle noch nicht im Verzug sind.Richtig?Und wir wollen – Punkt zwei – einen Härtefallfondsfür die Gruppen, die durch die Rentenüberleitung gravie-rende Nachteile erfahren haben. Das steht nicht im Koa-litionsvertrag. Da konnten wir uns nicht durchsetzen. Füruns bleibt das Thema dennoch auf der Agenda, und wirwerden weiter dafür kämpfen und streiten, auch streiten,dass wir dafür Mehrheiten gewinnen können.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Peter Weiß
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn man dieseDebatte richtig verstehen will, muss man einfach einmalzurückgehen zur Rentenüberleitung. Es ist so gewesen,wie es der Kollege Kurth von den Grünen erklärt hat:Man hat das westdeutsche Rentenrecht dem gesamtdeut-schen Rentenrecht zugrunde gelegt, ein Rentenrecht,das bekanntermaßen so ausgestaltet ist: Es ist lohn- undbeitragsbezogen. Für das, was ich in die Rente einzahle,bekomme ich eines Tages ein entsprechendes Äquivalentals Rente ausgezahlt. Das ist auch das, was die Bürge-rinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer als gerecht empfinden, nämlich dass ihre Rente,wenn sie viel eingezahlt haben, höher ist, als wenn sieweniger eingezahlt haben.Das DDR-Rentenrecht war im Gegensatz dazu etwasganz, ganz anderes, nämlich ein Rentenrecht mit vie-lerlei Sonderregelungen, Zusatzversorgungssystemen,Zuschlägen, Abschlägen usw. usf. Es ist aufgehobenworden in dem gesamtdeutschen Rentenrecht, das sofunktioniert, wie ich es erklärt habe.Der Effekt war – deswegen ist es so gemacht wor-den –, dass die Rentnerinnen und Renten im Osten nichtbenachteiligt werden. Hätte man das alte Recht beibehal-ten – um es einmal klar und deutlich zu sagen –, würdedie große Masse der Rentnerinnen und Rentner im OstenDeutschlands Hunger leiden und wäre auf staatliche Un-terstützung angewiesen, weil diese Minirente im Ostenniemals zum Leben ausreichen würde.
Es war das Beste, was den Rentnerinnen und Rentnernim Osten geschehen konnte, dass sie in dieses gesamt-deutsche Rentenrecht übergeleitet worden sind, das ebenbeitragsbezogen ist und das sich an der Lohnentwicklungorientiert und dynamisch ausgestaltet ist. Deswegen sind,wenn man es sich genau anschaut, die Rentnerinnen undRentner im Osten die eigentlichen Gewinner der deut-schen Einheit .
Das ist möglich geworden durch eine großartige Soli-darleistung der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.Letztlich – um es einmal klar und deutlich zu sagen – ha-ben die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler im Wes-ten mit ihren Beiträgen mitgeholfen, dass wir diese Ren-ten auszahlen konnten, die nach der deutschen Einheit imOsten möglich geworden sind.
Ich finde, in einer solchen Debatte sollten wir als Poli-tiker als Allererstes ein herzliches Dankeschön für diesegroßartigen Solidarleistungen der Rentenbeitragszahle-rinnen und -beitragszahler in Deutschland sagen.
In ganz Deutschland, auch im Westen, gibt es Berufemit unterschiedlichen Anforderungen, unterschiedlichenGefährdungsstufen und unterschiedlicher körperlicherBelastung. Aber jeder weiß: Es gibt keine Sonderrechte,kein gesondertes Rentenrecht für jeden einzelnen Beruf,sondern ein solidarisches und soziales Rentenrecht füralle. Daran sollten wir festhalten. Die Linke will das än-dern. Sie will das gesamtdeutsche Rentenrecht zerschie-ßen und wieder Sonderregelungen für einzelne Berufs-gruppen einführen .
Da man das Schicksal der Mütter und der Frauen be-klagt, gibt es – das muss man ganz ehrlich sagen – auswestdeutscher Sicht auch etwas anzumerken . Die durch-schnittliche Rente der Frauen im Westen liegt bei 44 Pro-zent der durchschnittlichen Rente der Frauen im Osten.Klar, das hat Gründe: Im Westen wurde ein anderes Fa-milienmodell praktiziert. Die Frauen im Westen sind ausdem Beruf ausgestiegen, wenn sie Kinder bekommen ha-ben. Das alles ist vollkommen richtig. Die Rente ist nuneinmal lohn- und beitragsbezogen. Wenn man aber hierdas Hohelied der Erziehungsleistungen der Frauen an-Daniela Kolbe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17239
(C)
(D)
stimmt, dann könnte man auch über eine Sonderregelungfür Frauen im Westen nachdenken, um deren Nachteileheutzutage auszugleichen. Wenn Sie so argumentieren,dann sollten Sie einen entsprechenden Antrag stellen.
Das machen Sie natürlich nicht, weil Sie eine reine Ost-partei sind und Sie deswegen das Schicksal der Frauenim Westen gar nicht interessiert .
Nun zur Mütterrente. Es waren Helmut Kohl undNorbert Blüm, die im Jahr 1986 dafür gesorgt haben,dass es zum ersten Mal im deutschen Rentenrecht fürErziehungsleistungen einen zusätzlichen Entgeltpunkt,also einen zusätzlichen Rentenpunkt, gibt. Im Osten, inder DDR, ist zu dem Thema überhaupt nichts passiert .Es war die Union, die in ihrem Wahlprogramm 2013 ge-sagt hat: Wir wollen als prioritäres Anliegen im Fall dererneuten Regierungsübernahme dafür sorgen, dass ausdiesem einen Entgeltpunkt zwei Entgeltpunkte für all dieMütter werden, deren Kinder vor 1992 geboren sind. Wirhaben das auch durchgesetzt. Nun wissen die Frauen inganz Deutschland: Mütterrente ist eine Regelung, die siein erster Linie der Union verdanken, weil die Union fürdiese Lösung gekämpft hat.
Ich will mich natürlich bei den sozialdemokratischenKolleginnen und Kollegen bedanken, dass wir das ge-meinsam in der Koalitionsvereinbarung festgelegt undauch prompt umgesetzt haben .Natürlich lässt sich das Problem der Mütterrente –wie dargelegt – am ehesten lösen, wenn wir, was denRentenwert und die Bemessung der Renten angeht, zueinem einheitlichen System in ganz Deutschland über-gehen; das ist vollkommen richtig. Deswegen habenwir das so im Koalitionsvertrag festgelegt. Aber ich willnoch einmal darauf hinweisen, wo das Problem besteht.Derzeit werden die von einem Erwerbstätigen im OstenDeutschlands während des Arbeitslebens erreichten Ent-geltpunkte, also seine Rentenansprüche, um 16 Prozenthochgewertet. Diese Höherwertung der Entgeltpunktebringt denjenigen, die demnächst im Osten Deutschlandsin Rente gehen, mehr Rente als das von Herrn Kurth vor-geschlagene System, das vorsieht, diese Höherbewertungzu beenden und dafür den Rentenwert anzugleichen. DieDifferenz zwischen dem Rentenwert Ost und dem Ren-tenwert West ist deutlich geringer als die 16-prozentigeHöherwertung. Hier besteht das eigentliche Problem.
Wenn wir – mutig, wie wir sind – im Bundestag kur-zerhand beschließen würden, die Höherwertung zu been-den und die Rentenwerte in Ost und West anzugleichen,sodass der Zahlbetrag für jeden Arbeitnehmer in Ost undWest gleich wäre, wäre dies für viele Mitbürgerinnenund Mitbürger im Osten, die in den kommenden Jahrenin Rente gehen, ein Minusgeschäft. Deswegen haben wiruns bisher an diese Problematik nur vorsichtig herange-wagt. Man muss jedenfalls den Bürgerinnen und Bürgerndie Wahrheit sagen, was solche Vorschläge für sie finan-ziell konkret bedeuten.
Wir wollen ein gemeinsames Rentenrecht in Ost undWest. Wir wollen die Diskussion darüber, ob ein Kind imOsten uns weniger wert ist als eines im Westen, beendenund alle gleich behandeln. Aber das muss so geschehen,dass es dabei keine große Zahl an Verliererinnen undVerlierern gibt. Wir wollen deswegen einen vernünftigenÜbergang und kein Hauruckverfahren, das sich manchewünschen, dessen Konsequenzen sie aber nicht beden-ken .Zum Schluss: Es bleibt ein großartiges historischesVerdienst unserer damaligen Bundestagskolleginnen und-kollegen, diese Rentenüberleitung geschafft zu habenund ein Rentenrecht geschaffen zu haben, von dem vorallem die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Rentnerin-nen und Rentner im Osten Deutschlands profitieren.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Frau Kipping erhält das Wort zu einer
Kurzintervention.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Weiß hat den
Eindruck erweckt, wir würden nur Vorschläge für Rent-
nerinnen und Rentner im Osten unterbreiten. Deswegen
möchte ich das richtigstellen. Von unserem rentenpoliti-
schen Vorschlag, dass das gesetzliche Rentenniveau wie-
der erhöht wird, profitieren Menschen in Ost wie West
gleichermaßen.
Auch von unserem Vorschlag, eine solidarische Min-
destrente von mindestens 1 050 Euro einzuführen, profi-
tieren Männer wie Frauen in Ost und West gleicherma-
ßen.
Herr Weiß, Sie haben die Möglichkeit zu einer Erwi-
derung .
Verehrte Frau Kollegin Kipping, ich finde es doch be-achtlich, dass Sie jetzt, zum Schluss der Debatte, nach-dem Sie die erste Rednerin in dieser Debatte waren, vondem, was Sie vorgetragen haben – ich rede von den Son-derregelungen, die Sie haben wollen –, abweichen undPeter Weiß
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 201617240
(C)
(D)
darauf verweisen, dass wir ein gesamtdeutsches Renten-konzept brauchen . Das ist doch sehr bemerkenswert . Dasschlechte Gewissen steckt Ihnen offenbar in den Kno-chen. Das muss ich jetzt einmal feststellen.
Das Zweite ist: Eine gute Rente ist zuallererst das Er-gebnis einer guten Beschäftigungslage und einer gutenwirtschaftlichen Entwicklung.
Das Schöne ist, dass wir am 1. Juli dieses Jahres geradefür die Rentnerinnen und Rentner im Osten Deutschlandseine deutlich stärkere Steigerung ihrer Renten erreichenwerden als für die im Westen. Das zeigt: Dynamik amArbeitsmarkt, Wachstum und Beschäftigung sind dieGrundlagen für eine gute Rente. Das haben wir mit un-serer Politik geschaffen, auch mit der Politik der GroßenKoalition. Darauf sind wir stolz. Das ist eine gute Nach-richt für die Rentnerinnen und Rentner in Ost wie West.
Frau Wolff, jetzt haben Sie das Wort für die SPD-Frak-
tion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren auf den Zuschauer-tribünen! Wenn wir über Rente sprechen, dann schauenwir natürlich in die Vergangenheit, wir schauen auch einbisschen in die Gegenwart, aber wir vergessen oft, in dieZukunft zu schauen. Ich will am Schluss dieser Debattesowohl in die Vergangenheit als auch in die Gegenwartund die Zukunft schauen .Wir diskutieren seit Jahren – ich bin seit 1998 Mitglieddieses Hauses – jährlich über das Thema der Überleitungdes Rentensystems Ost in das gesamtdeutsche Renten-system. Dabei sind natürlich auch die Sondersysteme im-mer wieder im Fokus der Diskussion der Linken. Ja, mitden gesetzlichen Regelungen von 1992 wurde nicht allesso bedacht, wie es hätte sein müssen, und, ja, es ist zuUngerechtigkeiten gekommen, und, noch einmal ja, ichverstehe, wenn sich Menschen an dieser Stelle ungerechtbehandelt fühlen.Aber – auch das sage ich zum wiederholten Male; wirhaben am 2. Oktober letzten Jahres zum letzten Mal überdieses Thema gesprochen, nur unter einer anderen Über-schrift; da habe ich das gesagt, was mein Kollege Weißund andere Vorredner, unter anderem Herr Kurth, gesagthaben –: Die Rentensystematik, die gewählt wurde, kanndiese besonderen, schwerwiegenden Härtefälle nicht auf-fangen. Genau darum sagt die SPD doch immer wieder:Wir wollen eine Lösung für Menschen, die besondersbetroffen sind. Darum brauchen wir den Härtefallfonds.Davon gehen wir nicht ab .
Ich möchte als letzte Rednerin in dieser Debatte denBlickwinkel etwas weiten. In der Gegenwart erleben wirimmer wieder, dass der niedrigere Rentenwert im Osteneinfach da ist. Für viele Menschen im Osten der Repu-blik ist das das Symbol dafür, dass ihre Lebensleistungim vereinten Deutschland nicht so wertgeschätzt wird,wie es sein sollte. Ganz deutlich ist das in dieser Debattein Bezug auf die Mütterrente geworden .Ich wiederhole es zum Schluss: Die Große Koalitionhat gesagt, dass sie jetzt den Fahrplan für ein einheitli-ches Rentensystem vorlegt. Dazu stehen wir. Dann hatdiese Diskussion endlich ein Ende.Bislang steht dem niedrigen Rentenwert der Höher-wertungsfaktor zur Seite; das hat auch Kollege Weiß ge-sagt . Auf diese Weise werden die niedrigeren Einkom-men Ost höher bewertet als die Einkommen West.
Diese Höherwertung ist immer noch absolut notwendig.
Schaut man sich einen Vergleich der Löhne in den Bun-desländern an, dann stellt man fest, dass Brandenburg,Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklen-burg-Vorpommern ganz hinten liegen. In Brandenburg,dem Land, in dem die höchsten Einkommen im Ostenerzielt werden, waren es 2015 446 Euro weniger als inSchleswig-Holstein, dem Land mit den niedrigsten Ein-kommen im Westen .Wer sich die Gegenwart im Osten anschaut, der be-kommt einen klaren Blick für die Zukunft. Die Lage aufdem ostdeutschen Arbeitsmarkt hat einen Preis: niedri-gere Renten in der Zukunft. Arbeitslosigkeit, prekäreBeschäftigung, niedrige Löhne, all das schlägt sich inniedrigeren Rentenbeiträgen und später natürlich auch inniedrigen Renten nieder – niedrige Renten aus der ge-setzlichen Rentenversicherung, die im Osten eben nichtmit Betriebsrenten oder privaten Lebensversicherungenaufgestockt werden. Darum sage ich ganz deutlich: DieGegenwart macht mir nicht so viel Sorge wie die Zukunft.Während die Armutsgefährdungsquote der heute 50- bis64-Jährigen in allen westdeutschen Flächenländern sinkt,steigt sie in den Stadtstaaten und in allen östlichen Bun-desländern. In Sachsen wird sie am dritthöchsten sein.Während die Renten im Westen stabil bleiben, sinken dieRenten im Osten. Für die Menschen, die zwischen 1962und 1971 geboren wurden, werden die Renten mit un-gefähr 600 Euro im Bereich der Grundsicherung liegen.Diese abzusehende Entwicklung bei den Renten im Os-ten ist dramatisch, und sie wird sich fortschreiben, wennwir es nicht schaffen, auch im Osten angemessene Löhnezu zahlen.An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hin-weisen: Da, wo Gewerkschaften stark sind, werden Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut vertreten . DaPeter Weiß
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2016 17241
(C)
(D)
gibt es eine bessere Unterstützung . Da verdienen Arbeit-nehmer meist mehr .
Das heißt, jeder Arbeitnehmer ist dazu aufgerufen, sichselber zu vertreten oder vertreten zu lassen.
Die Folgen dieser Entwicklung sind – das ist meinefeste Überzeugung – nur innerhalb der gesetzlichen Ren-tenversicherung abzufangen . Daran müssen wir arbeiten .Darum sagen wir: Die Einführung der Solidarrente wirdunser nächster Schritt sein.
Der eine oder andere mag vielleicht sagen, ich hätteheute das Thema verfehlt.
Ich sage seit Jahren, dass die Ungerechtigkeiten, die beider Rentenüberleitung entstanden sind, nur mit einerHärtefallregelung beseitigt werden können. Die Zukunftder Renten in den neuen Bundesländern sollte uns allenhier viel mehr Anlass zur Diskussion im Hohen Hausegeben .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Ich bin seit 1998 Mitglied dieses Hauses, habees aber noch nie geschafft, freitags die letzte Rednerin zusein. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Jetzt haben Sie es aber geschafft, Frau Wolff. – Damit
schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/8612 und 18/7903 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir haben noch eine Abstimmung durchzuführen,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie müssen noch blei-
ben. – Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlus-
sempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Ungerechtigkeiten bei Mütterrente in Ostdeutschland
und beim Übergangszuschlag beheben“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/6706, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/4972 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Op-
position bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen worden .
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 8. Juni 2016, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Jetzt darf auch ich Ihnen
ein schönes Wochenende wünschen.