Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet:
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, in der ersten Sitzungswoche im September wegen der vorgesehenen Haushaltsberatungen keine Fragestunden und keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/2573 erweitert werden.
Darüber hinaus soll von der Frist für den Beginn der Beratung bei Punkt 20 d der Tagesordnung abgewichen werden. Sind Sie mit der Aufsetzung bzw. Fristabweichung einverstanden? — Das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 20 und den Zusatztagesordnungspunkt 11 auf:
20. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Rückblick auf den Weltwirtschaftsgipfel in Toronto und Ausblick auf den Europäischen Rat in Hannover
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 11. April 1984 zur Änderung des Anhangs zur Satzung der Europäischen Schule
— Drucksache 11/355 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
— Drucksache 11/1988 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Hoffmann Duve
Irmer Schily
c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Europäischer Rat am 27./28. Juni 1988 in Hannover
— Drucksache 11/2327 —
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Schaffung eines europäischen Finanzraums
— Drucksachen 11/1656 Nr. 3.3, 11/1707, 11/2575 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Wieczorek
ZP11 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Bilanz der deutschen EG-Präsidentschaft und Europäischer Rat am 27./28. Juni 1988 in Hannover
— Drucksache 11/2573 —
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte zweieinhalb Stunden vorgesehen. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der vergangenen Woche habe ich Kanada einen offiziellen Besuch abgestattet. Es war dies der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers seit sieben Jahren.Mein Gastgeber, Premierminister Brian Mulroney und ich haben uns bei unseren Gesprächen vor allem auf die Entwicklung der beiderseitigen Beziehungen, auf die internationale Lage nach dem Moskauer Gipfeltreffen und auf Wirtschaftsfragen im Vorfeld des Weltwirtschaftsgipfels in Toronto konzentriert.Die Gespräche, die wir führen konnten, haben den hervorragenden Stand der deutsch-kanadischen Be-
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6000 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Bundeskanzler Dr. KohlI ziehungen verdeutlicht und in der Zeit unserer EG-Präsidentschaft dem europäisch-kanadischen Verhältnis zugleich Profil gegeben.Das hohe Maß an Übereinstimmung hat auch die in Toronto verabschiedeten Dokumente wesentlich mit-geprägt.Ich war der erste Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland, der die Gelegenheit hatte, vor beiden Häusern des kanadischen Parlaments zu sprechen.Es ging mir vor allem darum, unseren kanadischen Freunden inGesprächen wie auch öffentlichenErklärungen zu danken: für die uns in der Nachkriegszeit immer wieder erwiesene großzügige Hilfe;
für die uns gereichte Hand der Freundschaft, die unseren Weg ins Bündnis der freiheitlichen Demokratien des Westens ebnen half, und für den Beitrag der fast 8 000 kanadischen Soldaten heute in unserem Land, für ihren Beitrag zur Verteidigung der gemeinsamen Werte, des gemeinsamen Friedens, der gemeinsamen Freiheit. Wir danken diesen Soldaten, weil sie hier auch unsere Freiheit mitverteidigen.
Im Gespräch mit Vertretern der kanadischen Wirtschaft sowie mit den Repräsentanten der im Land tätigen deutschen Firmen konnte ich feststellen, daß die Chancen für eine Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen sich in den letzten Jahren wesentlich verbessert haben. Das kürzlich von Kanada unterzeichnete Freihandelsabkommen mit den USA eröffnet nach meiner Überzeugung weitere günstige Perspektiven. Ich habe in meinen Gesprächen in Kanada dargelegt, daß wir von GATT-konformer Anwendung ausgehen und weiterhin darauf zählen, daß Kanada ähnlich wie die Bundesrepublik Deutschland Vorkämpfer eines freien und weltoffenen Handels sein wird.Aus einer Reihe menschlich sehr bewegender Begegnungen mit deutschstämmigen Kanadiern, die heute immerhin einen Anteil von rund 10 % der Gesamtbevölkerung stellen, habe ich den Eindruck gewinnen können, daß diese Deutschkanadier mit großem Engagement die Verbindung zur alten Heimat pflegen und daß sie als loyale Bürger Kanadas ganz wesentlich zum wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau ihrer neuen Heimat beitragen.Ein herzliches Wort des Dankes darf ich hier auch meinen Gastgebern sagen, insonderheit Premierminister Mulroney, der uns in diesen Tagen in einer ganz außergewöhnlichen Weise freundschaftlich empfangen hat.Die sieben Staats- und Regierungschefs haben dann auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Toronto, unterstützt von den Außen-, Finanz- und Wirtschaftsministern, Dokumente beschlossen, die eine zukunftsgewandte Strategie für das West-Ost-Verhältnis und für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen festschreiben.Bei diesen Erörterungen habe ich sowohl als Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland wie auch vor dem Hintergrund der deutschen EG-Präsidentschaft gesprochen. Für uns kam auf diesem Gipfel nicht nur die wirtschaftliche Dimension zum Tragen, sondern auch die Notwendigkeit, unseren transatlantischen Partnern — Amerikanern wie Kanadiern — deutlich zu machen, daß sich EG-Europa immer weiter zusammenschließt und daß neben den großen Wirtschaftszentren im Fernen Osten — Japan, Taiwan und Korea — und dem Wirtschaftszentrum Nordamerika und Kanada die Europäische Gemeinschaft der dritte wichtige Platz zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklungen sein wird.Die Staats- und Regierungschefs der Sieben sind der übereinstimmenden Auffassung, daß im WestOst-Verhältnis wichtige Veränderungen zum Positiven eingetreten sind. Wir waren uns einig, daß sich in der Politik und in der inneren Lage der Sowjetunion und ihrer Verbündeten Entwicklungen abzeichnen, die die Chance zu mehr Offenheit — wir hoffen: zu mehr Freiheit — in sich tragen können.Wir haben unseren Willen bekundet, auf diese Entwicklungen positiv zu reagieren und die neuen Chancen für Dialog und Zusammenarbeit wahrzunehmen.Die politische Erklärung von Toronto ist ein Signal, das die Sowjetunion und ihre Verbündeten im eigenen Interesse positiv aufnehmen sollten.Ich würdige in diesem Zusammenhang ganz besonders, daß Japan, obwohl nicht Mitglied des Atlantischen Bündnisses, die in unserem Bündnis entwikkelte Politik voll und ganz mitträgt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir waren gemeinsam der Überzeugung: Das Verhältnis der USA und der Sowjetunion befindet sich in einer dynamischen Aufwärtsentwicklung. Der Prozeß der Abrüstung und Rüstungskontrolle kann konsequent und ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Wir waren ebenfalls der Auffassung, daß auch in Zukunft Gipfelbegegnungen Motor einer konstruktiven Entwicklung im West-Ost-Verhältnis sein werden.Wir haben erneut die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts als Kernproblem der europäischen Sicherheit hervorgehoben und die sowjetische Aufrüstung als eine der Hauptursachen für Instabilität im Fernen Osten gekennzeichnet. Wir haben gefordert, daß diese Bedrohung in Europa wie in Asien abgebaut wird. Wir haben nicht zuletzt — wiederum auf Grund der deutschen Forderung -- die Überzeugung deutlich gemacht, daß es notwendig ist, zu einem baldigen umfassenden und weltweiten Verbot chemischer Waffen zu kommen.Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunkt unserer Erörterungen waren regionale Konflikte. Ich will nur einen Punkt herausgreifen. Auf Grund der gemeinsamen Initiative von Präsident Mitterrand und mir haben alle Teilnehmer an die südafrikanische Regierung appelliert, die sechs zum Tode
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6001
Bundeskanzler Dr. KohlVerurteilten von Sharpeville zu begnadigen und das Gesetz, das jetzt vorbereitet wird und das finanzielle Unterstützungsleistungen aus dem Ausland unterbinden soll, zurückzuziehen.
Weiterhin haben wir in der gemeinsamen Erklärung darauf hingewiesen, daß wir die amerikanischen Friedensbemühungen in Angola unterstützen.Unsere Erklärung zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und des illegalen Drogenhandels läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es geht darum, gemeinsam zwei Geißeln der Menschheit den entschiedenen Kampf aller anzusagen und ihn im Zusammenwirken aller gleichgesinnten Länder zu bestehen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, in den wirtschaftspolitischen Gesprächen der Staats- und Regierungschefs ging es zunächst einmal darum, eine Bilanz der wirtschaftlichen Entwicklung seit der letzten Gipfelbegegnung in Venedig zu ziehen. Alle Teilnehmer waren übereinstimmend der Auffassung, daß sich die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit gerade in den letzten Monaten in hohem Maße bewährt hat.Nach dem Börsenkrach im Herbst vergangenen Jahres hat es ja nicht wenige gegeben, die in diesem Ereignis den Beginn einer Destabilisierung der Weltwirtschaft insgesamt sahen. Heute, ein Dreivierteljahr später, wissen wir, daß das entschlossene und abgestimmte Handeln von Regierungen und Notenbanken ganz maßgeblich dazu beigetragen hat, die Weltwirtschaft vor einem Einbruch zu bewahren.
Im Blick auf die vor uns liegenden Monate waren sich alle Gipfelteilnehmer in Toronto darin einig, daß die Perspektiven für die weitere weltwirtschaftliche Entwicklung alles in allem günstig und ermutigend sind. OECD und Internationaler Währungsfonds haben dazu in der letzten Zeit nach oben revidierte Prognosen vorgelegt. Das Ergebnis von Toronto lautet: Wir haben begründeten Anlaß, mit Optimismus und Vertrauen nach vorn zu schauen.
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund ist es auch mehr als selbstverständlich, daß wir die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit zwischen den Industrieländern, die in den letzten Jahren immer enger und intensiver geworden ist, weiter fortsetzen wollen. Alle meine Kollegen haben an einer solchen Politik deutlichen Anteil und wollen sie für die Zukunft intensivieren.Für die Bundesrepublik Deutschland konnte ich auf die sehr erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Monaten verweisen. Die Wachstumsrate von 4,2 % im ersten Quartal dieses Jahres zeigt, daß sich die deutsche Wirtschaft auf einem guten Weg befindet. Dies bestätigt auch der neueste Ifo-Konjunkturtest.Von besonderem Interesse für unsere ausländischen Partner war gleichzeitig, daß unser Wirtschaftswachstum ausschließlich von der lebhaften Inlandsnachfrage — plus 51/2 % im ersten Quartal 1988 — getragen wird, während der anhaltende Rückgang unseres realen Außenhandelsüberschusses das Wachstum weiterhin spürbar belastet. Die Bundesrepublik Deutschland leistet also — wir können dies unseren ausländischen Gesprächspartnern nicht oft genug sagen — unverändert ihren Beitrag zur Anpassung der internationalen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte.Ein wichtiger Punkt war für mich, in der Frage der internationalen Verschuldung greifbare Fortschritte zu erreichen,
und dies insbesondere im Blick auf die besonders armen Länder Afrikas. Wir können hier zunächst mit Befriedigung feststellen, daß das, was wir uns vor einem Jahr in Venedig vorgenommen haben, inzwischen weitgehend in die Tat umgesetzt wurde.Ich verweise insbesondere auf die Verdreifachung der sogenannten Strukturanpassungsfazilität des IWF von 3 auf 9 Milliarden Dollar sowie auf die Vereinbarungen über längere Tilgungsfristen und tilgungsfreie Zeiten im Rahmen des sogenannten Pariser Clubs.Gleichwohl waren sich meine Kollegen und ich darüber einig, daß weitergehende Schritte notwendig sind. So habe ich mich dafür eingesetzt, daß Schulden aus Entwicklungshilfedarlehen für die ärmsten Länder reduziert oder erlassen werden. Ich konnte darauf verweisen, daß die Bundesrepublik Deutschland bereits einen Schuldenerlaß von 4,2 Milliarden DM verwirklicht und das Bundeskabinett am 8. Juni dieses Jahres konkrete Beschlüsse zum Erlaß weiterer Schulden gefaßt hat.
Von diesen jetzt geplanten Entlastungen wird ein Forderungsvolumen von noch einmal rund 2,3 Milliarden DM betroffen.Wir haben uns zudem darüber verständigt, auch die Bedingungen für Umschuldungen im Rahmen des Pariser Clubs zu verbessern. Dies ist ein notwendiger Schritt.Neu ist hier, daß die staatlichen Gläubiger bei der Regelung von Umschuldungen zwischen drei Optionen wählen können: zwischen einem teilweisen Schuldenerlaß, günstigen Zinssätzen bei kurzen Laufzeiten und längeren Rückzahlungsfristen bei handelsüblichen Zinssätzen.Dabei ist zweierlei wichtig: Zum einen soll eine angemessene Lastenverteilung unter den Gläubigern sichergestellt werden, und zum anderen muß erreicht werden, daß ein weiteres Anwachsen des Schuldenberges vermieden und Perspektiven für eine Reduzierung der Schuldenlast eröffnet werden.Der Pariser Club ist von den Gipfelteilnehmern aufgefordert worden, die notwendigen technischen Einzelheiten sehr zügig — ich denke, das geschieht noch in diesem Jahr — auszuarbeiten.
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6002 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Bundeskanzler Dr. KohlMeine Damen und Herren, wir erwarten auch von den Banken, daß sie zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um ihren Schuldnern — d. h. in diesem Falle Ländern mit mittlerem Einkommen, die sich um Wirtschaftsreformen bemühen — Zukunftsperspektiven zur Überwindung ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu eröffnen.
Intensiv geprüft werden muß auch die Frage, inwieweit der Umweltschutz, insbesondere der Schutz tropischer Regenwälder, stärker in die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern einbezogen werden kann.
Hier hat zweifelsohne auch die Weltbank eine wichtige Rolle zu übernehmen. Ich halte es für dringend geboten, daß wir auf diesem wichtigen Feld bald zu greifbaren Ergebnissen kommen.Dauerhafte Fortschritte bei der Bewältigung der Verschuldungssituation vieler Entwicklungsländer sind nicht denkbar ohne einen ebenso entschiedenen Kampf gegen den Protektionismus. Nur wenn die Entwicklungsländer ihre Waren auch auf den Märkten der Industrieländer verkaufen können, haben sie eine Chance, mit ihrer Schuldenbelastung Schritt für Schritt fertig zu werden.
Auch unter diesem Gesichtspunkt sehen wir die zentrale Bedeutung des freien Welthandels und der laufenden GATT-Runde. Alle Gipfelteilnehmer haben deswegen ihr nachhaltiges Interesse betont, die Halbzeitkonferenz der Uruguay-Runde im Dezember dieses Jahres in Kanada erfolgreich zu gestalten und den weiteren Verhandlungen nachdrückliche Impulse zu verleihen.Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang wurde auch über das Agrarproblem ausführlich gesprochen, dessen Ursachen sich insbesondere aus den völlig unterschiedlichen durchschnittlichen Betriebsgrößen in den einzelnen Ländern ergeben. Unbestritten ist die vordringliche Entlastung der Weltagrarmärkte. Dem kann und darf sich auch die Europäische Gemeinschaft und damit auch die Bundesrepublik Deutschland nicht entziehen.
Als amtierender EG-Ratspräsident habe ich in Toronto deutlich gemacht, daß die Europäische Gemeinschaft das Agrarproblem entschlossen angepackt hat. Mit den Beschlüssen vom Februar dieses Jahres hat die Gemeinschaft einen wichtigen Beitrag zum Abbau der Überschußproduktion geleistet.Langfristiges Ziel muß eine stärkere Marktorientierung sein. Hierfür sind Realismus und Augenmaß notwendig. Dabei muß natürlich auch der besonderenLage der bäuerlichen Familienbetriebe in unserem Land ausreichend Rechnung getragen werden.
Meine Damen und Herren, wie bereits bei früheren Gipfelbegegnungen habe ich mich auch bei unserem diesjährigen Zusammentreffen sehr nachdrücklich für Maßnahmen zum Schutz der Umwelt eingesetzt. Dabei konnte ich erfreut feststellen, daß die Resonanz auf dieses Thema bei unseren Partnern und die Erkenntnis der Notwendigkeit im Verlauf der letzten Jahre spürbar zugenommen haben. Aile teilen inzwischen die Sorge um die Ozonschicht. Weitere wichtige Schritte sind hier eingeleitet. Die Bundesrepublik Deutschland wird versuchen, hier — wo immer nur möglich — die notwendigen Dienste zu leisten.Grenzüberschreitende Maßnahmen sind zum Schutz der Luft und des Wassers erforderlich. Ich habe mich besonders für internationale Anstrengungen gegen sauren Regen, gegen das Waldsterben und für die Reinhaltung der Flüsse und Meere eingesetzt, und wir haben auch in diesem Zusammenhang auf die Verschmutzung und die katastrophale Entwicklung der Nordsee hingewiesen.
— Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, warum Sie dauernd dazwischenrufen. Sie haben doch in Ihrer Zeit auf diesem Feld überhaupt nichts gemacht.
Keiner meiner Amtsvorgänger hat auf einem Weltwirtschaftsgipfel das Thema Umweltschutz überhaupt zur Sprache gebracht.
Mit besonderer Genugtuung stelle ich fest, daß alle meine Kollegen die Vorschläge unterstützen, Maßnahmen gegen die Vernichtung von Wäldern — insbesondere durch die Abholzung der tropischen Regenwälder — einzuleiten. Die Auswirkungen auf das weltweite Klima sind offensichtlich.Auf einen knappen Nenner gebracht: Mein Wunsch war es, den engen Zusammenhang von Ökonomie und Ökologie gerade bei einem Weltwirtschaftsgipfel deutlich herauszustellen, einen Zusammenhang, dem in noch viel stärkerem Maße auch international Rechnung getragen werden muß. Insbesondere im Rahmen des Nord-Süd-Dialogs müssen wir dieses Thema mehr und intensiver in den Vordergrund unserer Gespräche rücken.Insgesamt kann festgehalten werden: Der Weltwirtschaftsgipfel in Toronto konnte eine positive Bilanz der letzten zwölf Monate ziehen, vor allem auch im Blick auf die wirtschaftspolitische Kooperation und Zusammenarbeit.Wir konnten neue Anstöße geben, insbesondere zur Erleichterung der Verschuldungssituation der ärmsten Länder. Ich habe mich für dieses Anliegen besonders eingesetzt. Ich bin dankbar, daß wir hier insgesamt ein gutes Stück weitergekommen sind. Die Bundesregierung wird alles tun, um diese neuen Anstöße zügig in die Tat umzusetzen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6003
Bundeskanzler Dr. KohlHerr Präsident! Meine Damen und Herren! In wenigen Tagen geht unsere Präsidentschaft in der Europäischen Gemeinschaft zu Ende. Es erfüllt uns mit großer Genugtuung, daß wir dem Europäischen Rat am kommenden Montag und Dienstag in Hannover eine ungewöhnlich erfolgreiche Bilanz unserer Präsidentschaft präsentieren können.
Dabei sind wir uns bewußt: Ohne die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit der EG-Kommission und ohne die tatkräftige Unterstützung und Flexibilität seitens aller Mitgliedstaaten wären die beachtlichen Fortschritte der letzten Monate nicht möglich gewesen.Wir haben unsere Präsidentschaft im Januar mit zwei wesentlichen Zielvorgaben angetreten. Wir wollten zunächst das sogenannte Delors-Paket, d. h. die Reform der Finanzen, der Struktur- und der Agrarpolitik der Gemeinschaft, auf den Weg bringen. Beim Sondertreffen des Europäischen Rats im Februar haben wir dieses wichtige Reformpaket verabschiedet. Seine Umsetzung in konkrete Entscheidungen konnte in dieser Woche abgeschlossen werden.
Wir wollten weiterhin wesentliche Fortschritte auf dem Wege zur Vollendung des Binnenmarkts erreichen.Dank des Rückenwindes — wenn ich das so nennen darf — durch den Sondergipfel im Februar sind wir in allen Bereichen, denen wir uns mit Vorrang widmen wollten, entscheidend vorangekommen. Ich will in diesem Zusammenhang nicht auf alle Einzelheiten eingehen. Beispielhaft will ich die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, des Güterverkehrs sowie die gegenseitige Anerkennung der Diplome besonders hervorheben. Ich möchte auch die Richtlinie über öffentliche Lieferaufträge erwähnen; sie stellt einen wichtigen Einstieg in die Öffnung der nationalen Beschaffungsmärkte dar.
All das sind bedeutende Bausteine sowohl für den gemeinsamen Binnenmarkt als auch für das Europa der Bürger. Wir haben in unserer Präsidentschaft somit erreicht, daß die Umsetzung der Einheitlichen Europäischen Akte und des Weißbuches der Kommission zum Binnenmarkt im Zeitplan ist. Rund ein Drittel — ich wiederhole: rund ein Drittel — dieses ehrgeizigen Programms wird Ende Juni dieses Jahres umgesetzt sein. Das ist im Vergleich mit früheren Jahren eine Rekordbilanz.
Wir wollen in Hannover aber nicht nur Bilanz ziehen, sondern auch die Perspektiven der europäischen Integration für die nächsten Jahre aufzeigen. Dabei wird es vor allem darum gehen, Leitlinien und Prioritäten für die kommenden Arbeiten am Binnenmarktprogramm bis zur „Halbzeit" — Ende 1989 — aufzustellen; denn die Gemeinschaft darf in ihren Anstrengungen nicht nachlassen, wenn wir das Ziel, den Binnenmarkt, 1992 erreichen wollen.
Wir haben noch ungewöhnlich schwierige Aufgaben vor uns wie die Steuerharmonisierung, die weitere Öffnung der öffentlichen Märkte oder die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen.Wir werden in Hannover vor allem auch darüber zu sprechen haben, wie wir die soziale Dimension des Binnenmarktes weiterentwickeln können. Gemeinsam wollen wir darangehen, in Europa einen Wirtschafts- und Sozialraum zu schaffen. Ohne eine soziale Flankierung ist für mich der Binnenmarkt nicht denkbar und unvollständig. Ich messe dieser Frage eine ganz große politische Bedeutung bei. Der Binnenmarkt — das wichtigste europapolitische Vorhaben vor dem Ende dieses Jahrhunderts — ist nur zu erreichen, wenn wir alle gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere auch die Gewerkschaften, überall in den EG-Staaten für dieses Vorhaben gewinnen.Ich freue mich daher, daß es in unserer Präsidentschaft gelungen ist, in dem wichtigen Teilbereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes greifbare Fortschritte zu erzielen. Unser gemeinsames Ziel muß es sein, entsprechend den Bestimmungen des EWG-Vertrags auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in der ganzen Gemeinschaft hinzuwirken.
Dabei muß klar sein, daß dieses Vorhaben, der Binnenmarkt, nicht zu einer Aufweichung deutscher Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer oder ihrer Vertretung führen darf.Wir werden in Hannover auch Vorbereitungen dafür treffen, die währungspolitische Zusammenarbeit in Richtung auf die Wirtschafts- und Währungsunion weiterzuentwickeln. Unser Ziel ist die Europäische Union. Dazu gehört eine Wirtschafts- und Währungsunion mit einem europäischen Zentralbanksystem und einer europäischen Währung.
Dabei sollten sich alle, die sich an dieser Diskussion beteiligen, darüber im klaren sein, daß in diesem sensiblen Bereich Behutsamkeit geboten ist. Es geht in Hannover nicht darum, jetzt die Errichtung einer europäischen Zentralbank zu beschließen. Eine solche Bank muß am Ende des Weges stehen, eingebettet in ein europäisches Zentralbanksystem. Wir wollen aber in Hannover den Prüfungsauftrag beschließen, um festzustellen, welche Voraussetzungen und Zwischenschritte zum Erreichen dieses Ziels notwendig sind und nach welchen Grundsätzen sich die währungspolitische Zusammenarbeit dann in der Endphase vollziehen muß. Ich gehe davon aus — ich hoffe jedenfalls — , daß es uns gelingt, ein Gremium, bestehend aus den Notenbankgouverneuren, zu beauftragen, die ihrerseits Experten hinzuziehen können. Ich denke, daß am Ende der spanischen Präsidentschaft ein entsprechender Bericht vorgelegt werden könnte.Es ist selbstverständlich, daß die Bundesrepublik Deutschland in diese Diskussion ihre hervorragenden Erfahrungen mit der Bundesbank, mit deren Unabhängigkeit, dezentraler Organisation und vor allem
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6004 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Bundeskanzler Dr. Kohlmit ihrer Verpflichtung auf die Geldwertstabilität einbringen wird.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Europäische Union, auf die sich alle Mitgliedstaaten in der Einheitlichen Europäischen Akte verpflichtet haben, ist keine ferne Vision mehr, die uns hier oder heute nicht mehr zu beschäftigen brauchte. Bei allem Pragmatismus wollen wir nicht vergessen, daß die Gemeinschaft nur dann zukunftsfähig ist, wenn sie auch eine klare politische Perspektive hat. Um dieser Perspektive näherzukommen, müssen wir auch dem „Europa der Bürger" noch deutlichere Konturen geben. Hierzu gehört nicht nur der Abbau der Grenzkontrollen, sondern auch die verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit. Ebenso erwarten unsere Bürger, daß die Europäische Gemeinschaft ihre Sorgen im Blick auf die Umwelt ernst nimmt.Unser Ziel bleibt es auch, eine gemeinsame europäische Außenpolitik zu entwickeln. Unser koordiniertes Vorgehen in wichtigen internationalen Gremien, aber auch in Drittländern hat bereits dazu geführt, daß das Bewußtsein für gemeinsame außenpolitische Interessen im Wachsen ist.
Wir dürfen hier nicht stehenbleiben, sondern müssen die bisherigen pragmatischen Ansätze der Zusammenarbeit weiterentwickeln, nicht zuletzt auch im Bereich der Sicherheitspolitik.Ich kann heute mit Befriedigung feststellen, daß die Europäische Gemeinschaft in diesem halben Jahr unserer Präsidentschaft ihre Handlungsfähigkeit auch nach außen tatkräftig unter Beweis gestellt hat. Herausragende Ereignisse waren die Aufnahme der Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe sowie der Abschluß eines Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Golfstaaten. Die Bundesregierung wird sich jetzt mit besonderem Nachdruck dafür einsetzen, daß die Verhandlungen zum Abschluß bilateraler Abkommen mit einzelnen Mitgliedstaaten des RGW vorankommen. Wir freuen uns vor allem — wir waren dabei sehr aktiv — , daß die Verhandlungen der EG-Kommission mit Ungarn vor dem Abschluß stehen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich kann heute feststellen, daß es uns gelungen ist, mit unserem Beitrag dem Prozeß der wirtschaftlichen und politischen Integration Europas einen neuen und kräftigen Schub zu. verleihen. Wir werden uns selbstverständlich auch in der vor uns liegenden Zeit auf diesem Weg konsequent weiter bewegen. Wir sind heute mehr denn je der Überzeugung — dies ist für mich nach den Gesprächen in Toronto wieder besonders deutlich geworden — , daß es zur Zukunft Europas, daß es zum Gemeinsamen Markt, daß es zum wichtigen Ziel des Jahres 1992 keine Alternative gibt. Die Bundesregierung wird das Notwendige tun, um ihren Beitrag zu leisten.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat den 14. Weltwirtschaftsgipfel in Toronto als Erfolg dargestellt. Das besagt wenig.
Denn der Bundeskanzler bewertet alles, was er tut, als Erfolg.
Ich bin ganz sicher, meine Damen und Herren, daß er den gestrigen Tag hier im Parlament als Erfolg feiern wird.
Meine Damen und Herren, der letzte Gipfel in Venedig
wurde als Erfolg der weltwirtschaftlichen Stabilisierung verkauft.
Sechs Monate danach gab es den größen Finanzkrach seit fünfzig Jahren.
Meine Damen und Herren, was wir beklagen, ist, daß aus den von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing entwickelten Gipfeln der Konfliktaustragung und der Kompromißfindung nun Gipfel der Selbstdarstellung und der Ausklammerung von Problemen geworden sind. Das ist schlecht. Aber es entspricht wohl Ihrem Politikverständnis.Sicher gab es einige vernünftige Ansatzpunkte. Wir begrüßen, Herr Bundeskanzler, daß Sie sich für einen Erlaß der Schulden der ärmsten Länder in Afrika stark gemacht haben. Aber wir müssen uns klarmachen, daß das eigentliche Schuldenproblem noch vor uns steht und die Lösung der Probleme Südamerikas noch nicht einmal begonnen sind. Wir begrüßen auch, daß Sie die Anregung von Hans-Jochen Vogel aufgenommen haben und die Zerstörung der Ozonschicht, das Abholzen der Regenwälder, die Gefahr einer weltweiten Klimaveränderung und die Notwendigkeit globaler umweltpolitischer Zusammenarbeit immerhin zu einem Thema dieses Gipfels gemacht haben. Das ist ein Fortschritt.
Was konkret herauskommen wird, muß man noch abwarten. Man könnte vielleicht Verständnis dafür haben, daß alle Gipfelteilnehmer nach den schwierigen Finanzkonflikten des letzten Jahres einen Gipfel der Harmonie wollten. Man hatte das Gefühl, man will keine schlafenden Hunde wecken. Aber, meine Damen und Herren, diese Konflikte und diese Probleme
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6005
Rothsind nicht dadurch ausgeräumt, daß man sie ausklammert.Der Kampf gegen den Protektionismus ist überhaupt nicht gewonnen. Der amerikanische Präsident hat zwar das Handelsgesetz kassiert, aber ich bin sicher: In der nächsten Legislaturperiode in Amerika kommt das alles wieder. Es gibt keine klaren Zusagen aller politischen Kräfte in Amerika gegen Protektionismus.Agrarreformen sind zwar versprochen, aber wo sind sie wirklich angepackt? Sind sie in der EG angepackt? Das stimmt doch wohl nicht.Vor allem aber — das ist mir das Wichtigste — sind die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte überhaupt nicht aus der Welt. Niemand weiß beispielsweise, ob nicht der Dollar erneut unter Druck kommt, wenn klar wird, daß dieses Ungleichgewicht weiter anhält. Niemand weiß auch, ob nicht die Amerikaner — gewisse Tendenzen gibt es dazu — erneut ihre Zinsen erhöhen und damit die Weltkonjunktur gefährden.Was wir wissen, ist aber, daß es keinerlei Anlaß zu Entwarnung und weltwirtschaftlichem Nichtstun gibt.
Der Abbau der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte muß rascher vorangetrieben werden. Dazu fehlen Festlegungen. Was dazu vor allem notwendig ist, ist seit langem bekannt und nirgends mehr im Grundsatz umstritten: Die USA müssen endlich schneller ihre Defizite abbauen, und die Überschußländer, vor allem die Bundesrepublik und Japan, müssen ihre Binnenwirtschaft stärker ankurbeln.
Meine Damen und Herren, Japan hat es begriffen und handelt auch danach. Die Regierung Kohl richtet sich jedoch weiterhin nur auf Beiträge von außen ein.
Meine Damen und Herren, was sollen denn Verbrauchsteuer- und Abgabenerhöhung im Jahre 1989 in Höhe von insgesamt 25 Milliarden DM als Beitrag zum Abbau der Ungleichgewichte? Sie bewirken das Gegenteil.
Ich muß auch sagen: Mich begeistern die Entscheidungen der Deutschen Bundesbank in den letzten Tagen überhaupt nicht. Jetzt wieder in Dribbelschritten die Zinsen zu erhöhen, ist das Gegenteil von Solidarität in der Weltwirtschaft.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung ist kein Beitrag zur internationalen Kooperation. Versuchen Sie nicht, uns hier weiszumachen, die Verbrauchsteuer- und Abgabenerhöhungen 1989 von rund 1 % des Bruttosozialprodukts würden die Konjunktur nicht belasten. Ihr Staatssekretär Schlecht, nun wahrhaft ein bewährter Fuhrmann der Wirtschaftspolitik — er hat schon unterErhard gearbeitet, unter Schiller, unter Lambsdorff —, hat gesagt, daß er diese Maßnahmen konjunkturpolitisch für Unsinn halte. In der eigenen Regierung wird das zugegeben.
In den Jahren bis 1987 haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, erzählt, Steuern müßten gesenkt werden. Ich stelle fest: 1989 werden Steuern erhöht.In den Jahren bis 1987 gab es in Ihren Augen — Graf Lambsdorff, hören Sie zu — nichts Wichtigeres als die Absenkung der Lohnnebenkosten als angebotspolitische Maßnahme. 1989 werden die Lohnnebenkosten drastisch erhöht, sowohl bei den Arbeitgeberbeiträgen für die Arbeitslosenversicherung wie auch bei der Krankenversicherung.Das alles geschieht deshalb, meine Damen und Herren, weil Sie unfähig sind, das eigentliche Problem anzugehen, nämlich die Massenarbeitslosigkeit.
Graf Lambsdorff — ich spreche Sie noch einmal an — , Sie haben immer gefordert, die Steuerentlastung 1990 solle auf das Jahr 1989 vorgezogen werden. Und was macht die Regierung jetzt? Sie erhöht im Jahr 1989 die Steuern und Abgaben um sage und schreibe 25 Milliarden DM.
Das ist der totale Widerspruch zu Ihrer bisherigen Forderung. Wo bleibt da eigentlich Ihre alte Logik in der Wirtschaftspolitik?Meine Damen und Herren, das ist kein wirtschaftspolitischer Kurs, das ist Wirrwarr.Damit wir uns richtig verstehen: Wir Sozialdemokraten messen den Beitrag des Staates zur Stärkung der Binnenkonjunktur nicht am Haushaltsdefizit; wir messen ihn daran, was mit dem Defizit getan wird und wofür beispielsweise Steuern erhöht werden. Für Energiesteuern hätten wir Sympathie, wenn damit ein umfassendes Umweltprogramm finanziert werden würde, meine Damen und Herren.
Sie erhöhen die Steuern nicht, um die EG zu finanzieren, wie Sie behaupten. Sie erhöhen sie schlicht deshalb, um Löcher zu stopfen. Sie schaffen damit keine Arbeitsplätze. Sie entziehen damit Kaufkraft. Sie schwächen die Konjunktur und vernichten Arbeitsplätze.Das alles ist in Toronto ausgeblendet worden. Aber, meine Damen und Herren, Harmoniebedürfnis darf nicht zum Selbstbetrug werden. Ich habe schon die Befürchtung, nachdem das mit Ihren Steuererhöhungen in den letzten Tagen klarer geworden ist, daß Sie bereits in Hannover konjunkturpolitisch auf die Anklagebank rutschen werden. Die von Ihnen beschlossene Drosselung der Massennachfrage bremst unsere Importe aus Europa und exportiert Probleme in die
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6006 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Rothanderen Länder Europas. Wir sind die dominierende Wirtschaftskraft.Meine Damen und Herren, wir haben wohl alle das Ziel, die europäische Integration voranzutreiben. Ich glaube, wir müssen uns auch klarmachen, daß noch Schwierigkeiten und Widerstände zu erwarten sind. Einzelne Branchen sagen doch: Binnenmarkt ja, aber nicht in unserem Sektor. — Ich könnte Ihnen ein paar nennen.Wir werden Sie in der Frage des Binnenmarktes unterstützen, auch gegen Widerstände. Aber auch Sie können gegen die Widerstände einen Beitrag leisten, und zwar ist der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit der beste Beitrag für einen Binnenmarkt in Europa.
Sie müssen durch den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit mithelfen, daß endlich ein integrationsfreundliches Klima geschaffen wird.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß: Ihre Bekenntnisse zur weltwirtschaftlichen Verantwortung und zu Europa in allen Ehren. Aber der Weltwirtschaftsgipfel von Toronto ist vorüber. Das Hauptproblem bleibt. Das zentrale Problem in Europa ist die Massenarbeitslosigkeit. Ich habe heute zu diesem Thema, Herr Bundeskanzler, von Ihnen nichts gehört. Ändern Sie über das Wochenende Ihre Strategie für Hannover, und stellen Sie den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit als Thema Nummer eins auf die Tagesordnung für den Gipfel von Hannover!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spilker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es mag schwierig sein, in kurzer Zeit zu einem mehrtägigen Wirtschaftsgipfel der sieben westlichen Industrieländer Stellung zu nehmen, die sich dankenswerterweise mit einer ganzen Reihe von weltpolitischen Problemen, also nicht nur mit wirtschafts- und währungspolitischen Fragen befaßt haben. Nicht schwierig ist es jedoch, Herr Roth, Ihnen zu entgegnen, daß Sie sich ja schon seit Monaten kritisch äußern, Prophezeiungen machen, die sich gottlob nie bewahrheitet haben. Das gilt auch für Ihre Kritik an dem Gipfel, der Steuerreform und der Entwicklungspolitik der Industrieländer. Ich möchte schon sagen: Auch diese Kritik ist nicht gerechtfertigt, und Sie sollten davon endlich Abstand nehmen.
Früher, meine Damen und Herren, wurde die Notwendigkeit von Gipfelkonferenzen oft bezweifelt. Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, daß diese erforderlich und wünschenswert sind. Nach Toronto — in Frankreich wird die nächste Konferenz sein — wird es weitere Gipfel geben, wie es Bundeskanzler Kohl in seinem Eingangsstatement in Kanada ausdrücklich gewünscht hat.Seit dem ersten Gipfel 1975 ist die Notwendigkeit internationaler Koordination und Kooperation immer deutlicher geworden und erfreulicherweise dieÜbereinstimmung in den zentralen Fragen der Politik, besonders der Wirtschafts- und Finanzpolitik im Kreis der Gipfelländer gewachsen. Dies kam in Toronto ganz besonders zum Ausdruck. Man darf sagen, daß die Bundesrepublik, die sich im übrigen immer wieder zu weltwirtschaftlicher Kooperation bekannt hat, hier ihren angemessenen Beitrag geleistet hat.So möchte ich auch dem Bundeskanzler und der deutschen Delegation im Namen der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich dafür danken, daß sie die deutsche Position auf dieser Konferenz nachdrücklich vertreten haben.
Was ist die deutsche Position? Ich darf es einfach beantworten: Weiterer konsequenter Ausbau internationaler Zusammenarbeit, weil es keinen anderen Weg für eine Welt in Frieden und Freiheit gibt.„Toronto wurde ein Gipfel der Harmonie", so lautet die Überschrift der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" über einem Kommentar. Wohlwollend waren auch die Berichte und Kommentare der nationalen und internationalen Medien, die bekanntlich bei früheren Konferenzen nicht immer so waren. In der Tat, es war trotz Ihrer Äußerung, Herr Kollege Roth, ein erfolgreicher Gipfel, und dafür sollte man allen beteiligten Staats- und Regierungschefs danken. Es wurden viele Probleme und Themenkreise nicht nur beraten und ihre Erledigung nationalen Institutionen und zuständigen internationalen Gremien überwiesen, sondern es kamen auch konkrete Ergebnisse heraus,
die bei der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds in Berlin ihren Niederschlag finden werden, auch bei dem Europäischen Rat in Hannover, zu dem wir Ihre Empfehlung, Herr Roth, wirklich nicht brauchen.
Ich gehe davon aus, daß bereits Ende dieses Jahres weitere konkrete Ergebnisse auf dem Gebiet der Bekämpfung der internationalen Schuldenkrise auf dem Tisch liegen werden. Bei der Jahrestagung des IWF, auf der die Entwicklungsländer vertreten sind, sollte es mehr konkrete Fortschritte als in den vergangenen Jahren geben. Wir müssen auch die Entwicklungsländer selbst in die Bekämpfung der internationalen Schuldenkrise, aber auch — das ist ganz wichtig — in die internationale Zusammenarbeit der Industrieländer einschließen.Meine Damen und Herren, wir sprechen nicht nur über Gipfel oder internationale Konferenzen — diese können immer nur einen Höhepunkt bilden — , sondern über die ständige internationale Zusammenarbeit zwischen den Industrieländern, in die, wie ich soeben sagte, die Entwicklungsländer eingeschlossen werden müssen.Es geht vor allem um die Stärkung der Marktkräfte und um Strukturreformen. Es geht um die Notwendigkeit von Wechselkursstabilität, aber auch um die Notwendigkeit kontinuierlicher Anpassungen. Es geht ferner um den Kampf gegen den Protektionismus und
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Spilkerfür ein freies Welthandelssystem. Schließlich spielt auch die Schuldenüberwindungsstrategie im Verhältnis zu den Entwicklungsländern eine entscheidende Rolle.
— Der Zwischenruf, für den ich dankbar bin, zeigt, daß Sie nicht informiert sind und auch nicht informiert sein wollen,
denn sonst würden Sie wenigstens dankbar zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesrepublik, vertreten durch den Bundeskanzler, hier eine vorbildliche Rolle gespielt hat, denn ein Schuldenerlaß in Höhe von 4,2 Milliarden DM kommt nicht von ungefähr.
Das sind Leistungen, die unsere Steuerzahler erbracht haben; das sollten Sie wissen. Wenn der Bundeskanzler hier betont hat, daß es weitere Schuldenerlasse geben wird, und hier ganz konkrete Vorstellungen bestehen, meine Damen und Herren, dann scheint es mir nicht sehr angezeigt zu sein, hier mit Zwischenrufen glänzen zu wollen, deren Inhalt Sie nicht einmal übersehen.
Glänzen sollten Sie lieber in Godesberg oder wo auch immer Sie Ihre „berühmten" Tagungen durchführen.
— Herr Vogel, es ist nett, daß Sie sich rühren. Ich hätte Sie fast übersehen, und das hätte mir leid getan.
— Ich habe nur wenig Zeit. Sonst würde ich ganz gern darauf zurückkommen, und zwar schon deshalb, weil wir unseren alten Dialog, den wir schon seit unserer Münchener Zeit führen, fortsetzen sollten.
Meine Damen und Herren, die Staats- und Regierungschefs haben sich in Toronto erfreulicherweise erneut zu ihrer Verantwortung gegenüber der Völkergemeinschaft — und zwar nicht nur im wirtschaftlichen Bereich — bekannt, und das ist gut so. Auch der Bereich der Umwelt- und Sozialpolitik sowie andere Fragen wie etwa die Bekämpfung des Terrorismus und des Drogenmißbrauchs haben eine Rolle gespielt, und es wird sich zeigen — das wird die Zukunft lehren — , daß dieser Gipfel erfolgreich war.
Meine Damen und Herren, leider haben sich die sozialistischen Länder einer solchen Politik bisher verschlossen, auch wenn in der letzten Zeit eine Reihe positiver Tendenzen festzustellen waren, die auf dem Gipfel gewürdigt wurden.In diesem Zusammenhang möchte ich noch eine Erwartung äußern, weil ich eigentlich vermisse, daß diese Länder wenigstens gegenüber den ärmsten Entwicklungsländern Hilfestellung auf wirtschaftlichem Gebiete leisten, damit diese Staaten eine Chance bekommen, auch wirtschaftlich souverän zu werden. Ich sehe hier neben einer verstärkten wirtschaftlichen West-Ost-Kooperation oder als Folge einer solchen eine große Chance für die Zukunft, die wahrgenommen werden sollte. Ich erwähne das und wende mich damit an die Adresse der SPD und der GRÜNEN, weil Sie immer wieder die westlichen Industriestaaten wegen Versäumnissen auf entwicklungspolitischem Gebiete auf die Anklagebank setzen, und das ist nicht gut so. Ich sage noch einmal: Sie sollten das unterlassen. Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sellin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Wirtschaftsgipfel von Toronto verkleisterte Gegensätze zwischen den Industriegiganten der westlichen Welt, anstatt sie bloßzulegen. Der Wirtschaftsgipfel betrieb harmonische Einigkeit nach außen und löste keines der akuten Weltprobleme auch nur ansatzweise.Etwa 30 der ärmsten Länder Afrikas erhalten Schuldenerleichterungen in Höhe von geschätzten 10 Milliarden bis 15 Milliarden US-Dollar. Tatsache ist, daß die Dritte Welt und die Vierte Welt mit etwa 1 200 Milliarden US-Dollar überschuldet sind, so daß allenfalls ein Almosen erlassen wurde.
Umfassende Schuldenstreichungen blieben aus.
Die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den USA, Japan und der Europäischen Gemeinschaft konnten nicht wesentlich abgebaut werden. Der Egoismus auch der Bundesrepublik wird überdeutlich, wenn die realen Steigerungen des Exports gefeiert werden. Expansionsstrategien bleiben die herrschende Grundphilosophie jedes Gipfelteilnehmers. Konsumsteigerung und Exportförderung bei gleichzeitiger höherer Importsteigerung soll angeblich den Abbau der riesigen Leistungsbilanzüberschüsse bringen.Wir GRÜNEN sind der Meinung, daß quantitative Wachstumsstrategien aller Industrieländer der westlichen Welt kurzfristig den materiellen Wohlstand hier maximieren, aber gleichzeitig werden sowohl bei uns als auch in den „beglückten" Empfängerländern die Lebensgrundlagen untergraben und unwiederbringlich zerstört.„Die Agrarpolitik bildet sowohl in den Industriestaaten als auch in den Entwicklungsländern eines der wichtigsten Strukturprobleme", so heißt es lapidar in der Gipfelerklärung von Toronto. Kein Satz über den gezielten und datierten Abbau der exportorientierten Agrarsubventionen der Europäischen Gemeinschaft und der USA sowie den Protektionismus der Europäischen Gemeinschaft gegenüber den Ländern der Dritten Welt. Die Vereinigten Staaten forderten einen festen Kalender zum Abbau der Exportsubventionen gegenüber der EG. Die EG mauerte und setzte
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6008 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Sellinsich tendenziell durch, da sie sich als planwirtschaftlicher Moloch unfähig sieht, die europäische Landwirtschaft in eine ökologisch verträgliche Landwirtschaft auch mit geringeren Hektarerträgen und ohne gülleverseuchende Massentierhaltung zu verwandeln.Nein, wir leben in Zeiten des Fortschritts und müssen miterleben, daß Pflanzenvernichtungsmittel in Form von Herbiziden auf uns niederregnen, und zwar in einer Konzentration, die bereits höher ist als die Grenzwerte der Trinkwasserverordnung.
Der Wirtschaftsgipfel erkannte erstmalig an, daß Umweltgefahren keine Grenzen kennen. Er forderte — so ein Statement — Aufmerksamkeit; ja, Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das mangelnde Erkenntnisniveau von Spitzenpolitikern, die unfähig den Prozessen umweltzerstörender Industriegesellschaften unterworfen sind. Sie reden über globale Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Konsequenzen: keine. Über die Möglichkeiten der Weltpresse werden Ängste angesprochen und suggeriert, daß etwas getan wird. Dem ist jedoch nicht so.Der Börsenkrach vom Oktober 1987 scheint vergessen, die Konjunkturdaten verbreiten Optimismus, die wirtschaftlichen Zielkonflikte gelten als beherrschbar. Merkwürdig: Helmut Schmidt stellt in der neuesten Ausgabe der „Zeit" fest:Wir haben das spekulativste Währungssystem, das es in den letzten 100 Jahren gab.Die „Wirtschaftswoche" verweist auf einen weltwirtschaftlichen Risikofaktor, nämlich auf die Entwicklung der Kapitalmarktzinsen. Steigen die Zinsen — wie jüngst gering bei der Deutschen Bundesbank — , dann besteht in Kombination mit den erhöhten Verbrauchsteuern die Tendenz, daß die Konjunktur an Stetigkeit verliert und rezessive Tendenzen um sich greifen werden. Die Massenarbeitslosigkeit der Europäischen Gemeinschaft mit mehr als 16 Millionen Menschen — oder 11 % — würde weiter zunehmen.Die ökologische, soziale und wirtschaftliche Lage der Länder der Europäischen Gemeinschaft ist auch unter der Präsidentschaft eines Kanzlers Kohl krisenhafter statt besser geworden. Der europäische Binnenmarkt wird als Wachstumsmotor beschworen, um den selektiven ökologischen und sozialen Umbau der eigenen Volkswirtschaft nicht vorrangig in Angriff nehmen zu müssen. Expansion, Exportoffensive, Fusionen, Marktaufteilung im EG-Binnenmarkt und im Weltmarkt sollen den Ausweg aus verstopften Absatzmärkten schaffen.Der Cecchini-Bericht, im Auftrag der EG entworfen, setzt auf Expansionsmöglichkeiten und veröffentlicht rosige Zahlen für alle, die in den Gemeinsamen Markt einsteigen wollen. Britische Ökonomen der London Business School und der London School of Economics halten den Cecchini-Bericht dagegen für „maßlos übertrieben". „Financial Weekly" titelte: „Nothing but hot air" .Der Prozeß der Harmonisierung von Umwelt- und Sozialstandards, aber auch von Technologiestandards in der EG betreibt den Ausverkauf von Lebensinteressen der Menschen im Interesse von Multis, die schlappe und schlaffe Vorschriften und Normen für den größtmöglichen Absatz ihrer Waren fordern. Die EG-Bürokratie läßt vom Ministerrat Richtlinien, sprich: Gesetze beschließen, die die Klassifizierung als Umwelt- und Sozialdumping verdienen. Richtlinien zur Emission von Schadstoffen, zum Strahlenschutz, zu den Pkw-Katalysatoren und zu der Produktion von Lebensmitteln hebeln schärfere Vorschriften in den jeweiligen Einzelstaaten der EG aus den Angeln, anstatt einen Prozeß subsidiär und föderal anzustoßen, um zum höchstmöglichen Umweitstandard zu kommen.Kapitalinteressen zerstören Umweltinteressen. Kapitalinteressen zerstören soziale Schutzrechte. Zum Beispiel müssen Lkw-Fahrer in der EG demnächst maximal 9 statt wie bisher 8 Stunden hinter dem Lenkrad sitzen. Die Mindestruhezeit wird von einer Stunde auf 45 Minuten verkürzt. Das ist der Fortschritt der EG, den die Regierung Kohl herbeiführt.
Die Europäische Gemeinschaft ist ein zentralistisch wirkender Moloch, der nationale und regionale Rechte außer Kraft setzt, anstatt die unterschiedlichen Verhältnisse in einem Prozeß der gemeinsamen Veränderungen für die Lebensinteressen und den Erhalt der Lebensgrundlagen der Menschen zuammenzuführen.Die GRÜNEN fordern, daß der Ministerrat seine legislative, also seine gesetzgebende Macht an das Europäische Parlament abgibt und sich auf die Rolle einer Länderkammer beschränkt.
Die Exekutive hat die EG-Kommission zu bilden, die vom Europäischen Parlament gewählt wird. Ich plädiere für ein dezentral und subsidiär organisiertes Europa, welches den Regionen und Ländern weiterhin autonome Entwicklungsprozesse gestattet. Die Demokratisierung der EG-Institutionen erreicht erst akzeptable Qualitäten, wenn dezentralen Entscheidungsstrukturen der Vorrang vor zentralen Machtentscheidungen eingeräumt wird. Heute ist noch nicht einmal die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative gewährleistet. Solch eine Europäische Gemeinschaft lehnen wir strikt ab.Der Kanzler strebt einen EG-Binnenmarkt an, der keine demokratischen Strukturen kennt, der zuerst die Liberalisierung des Kapital- und Dienstleistungsverkehrs betreibt, der zuletzt die sozialen Schutz- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer behandelt und tendenziell aushebelt, der dem Umweltrecht und dem Arbeitsschutzrecht eine gegenüber dem Exportinteresse nachrangige Bedeutung beimißt, der vielleicht allein noch durch Probleme der Steuerharmonisierung aufgehalten werden kann.Wir GRÜNEN fordern ein Europa, das den ökologischen Umbau seiner Industrie und Landwirtschaft schleunigst in Angriff nimmt.
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SellinWir GRÜNEN fordern ein Europa, das eine multikulturelle Gesellschaft ohne Grenzen nach Ost und West und nach Nord und Süd sein will.Wir GRÜNEN fordern radikale tägliche Arbeitszeitverkürzung zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in Europa.Wir GRÜNEN fordern ein subsidiär und dezentral strukturiertes Europa der Regionen, welches die bestmöglichen Umwelt- und Sozialstandards in fairem Wettbewerb ermöglicht.Wir GRÜNEN fordern ein Westeuropa, das sich der umfassenden Zusammenarbeit mit Osteuropa widmet und ein gesamteuropäisches Haus mitgestalten will.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haussmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion ist mit der Vorbereitung, dem Ablauf und dem Ergebnis des Weltwirtschaftsgipfels zufrieden. Herr Roth, wer den Zusammenhang zwischen Beschäftigungspolitik und Schuldenerlaß nicht erkennen kann, wer zwischen dem Bekämpfen von Arbeitslosigkeit und freien Märkten keinen Zusammenhang sieht, wer zwischen Beschäftigungspolitik und abgestimmter Währungspolitik keinen Zusammenhang sieht, wer nur in den Kategorien von neuen staatlichen Beschäftigungsprogrammen denken kann, wer den Kampf gegen Arbeitslosigkeit nur in kürzerer Arbeitszeit sieht, dem ist sicher nicht zu helfen, wenn er zu dieser Bewertung des Weltwirtschaftsgipfels kommt.
Ich glaube, die neue Sicht des Gipfels liegt einfach darin, daß wir — anders als früher — im Vorfeld keine finanz- und geldpolitischen Forderungen an die Bundesrepublik hatten und daß die Bundesrepublik angesichts sehr günstiger wirtschaftlicher Entwicklung — ich erinnere nur an die 4,5 % Wachstum im ersten Quartal 1988, das im letzten Jahr noch niemand erwartet hätte — mit einer sehr guten Bilanz in Toronto aufwarten konnte.Auch laute gegenseitige Vorwürfe in der Handelspolitik hat es dieses Mal nicht gegeben, obwohl das wirklich schwierige Thema Agrarpolitik auf der Tagesordnung gestanden hat.Wir werten das entkrampfte Klima des diesjährigen Gipfels als Indiz für eine verbesserte internationale Koordinierung unserer Wirtschafts- und Währungspolitik, wie wir sie selbst — ich gebe das offen zu — auch im Herbst nach dem Börsen-Crash nicht erwarten konnten. Hier haben die Beteiligten richtige Schlüsse aus den Turbulenzen der letzten Jahre gezogen, die ja damals durch viele unbedachte Äußerungen im In-, aber auch im Ausland ausgelöst wurden.Ich möchte hier drei Punkte hervorheben. Erstens. Das Gipfelkommuniqué legt meines Erachtens zu Recht großen Wert auf die Bedeutung von Strukturreformen für die Beschäftigungspolitik. In der Tat sind ja auch bei uns in der Bundesrepublik die haushaltsund geldpolitischen Spielräume ausgereizt, so daß Strukturreformen immer mehr in den Vordergrund rücken müssen. In einer Anlage zum Kommuniqué wird deshalb auch die Bundesrepublik konkret angesprochen — ich zitiere — :Die Hauptelemente der Strukturreform in Deutschland sind eine Steuerreform und Steuersenkung, Deregulierung und Privatisierung, die Reform des Post- und Fernmeldewesens, eine Erhöhung der Flexibilität des Arbeitsmarktes und die Reform des Sozialversicherungssystems.
Ich lade die Opposition, aber auch einige Ministerpräsidenten ein, die Bundesrepublik bei diesen Strukturvorhaben zu unterstützen,
anstatt die Steuerreform kleinkariert zu diffamieren,
Herr Roth, sich selbst gegen zaghafte Deregulierungsansätze wie die Auflockerung des Ladenschlusses zu wehren, die Postreform zu bekämpfen und an einer Arbeitsmarktpolitik festzuhalten, die die Verwaltung des Mangels vor die Schaffung neuer Arbeitsplätze stellt.Dies ist altes Denken der Sozialdemokraten. Der Weltwirtschaftsgipfel erfordert eigentlich neues Denken. Sie sollten sich einmal gründlicher mit dem beschäftigen, was zumindest Herr Lafontaine im Ansatz zu Recht angesprochen hat, nämlich die stärkere Verantwortung auch der Tarifpartner für die Beschäftigungspolitik.Zweitens. Die Wirtschaftserklärung von Toronto hebt den engen Zusammenhang zwischen einem weltweit offenen Handelssystem und der Beschäftigungspolitik hervor. Meine Damen und Herren, die Weltwirtschaft rückt enger zusammen. Wirtschaftsoder handelspolitische Alleingänge sind zum Scheitern verurteilt. In der Handelspolitik ist dies besonders offenkundig.Wir begrüßen daher die Absage der Staats- und Regierungschefs an jegliche Form des Protektionismus und die Verurteilung einseitiger Maßnahmen außerhalb des GATT-Systems. Der Hinweis, daß die Grundsätze des GATT auch beim Freihandelsabkommen zwischen den USA und Kanada sowie bei der Vollendung des europäischen Binnenmarktes gewahrt werden müssen, ist eine Mahnung; denn auch bei uns gibt es Tendenzen in diese Richtung. Und es ist ganz interessant, daß in dem Antrag der SPD-Fraktion zum Europäischen Rat in Hannover diese Frage überhaupt nicht vorkommt. Ich wünsche mir, daß wir — wie bisher — in der Handelspolitik darin übereinstimmen, daß wir uns auch nach Vollendung des Binnenmarktes gegenüber Drittstaaten nicht abschotten dürfen.
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Dr. HaussmannEin weiterer wichtiger Punkt aus unserer Sicht: die zunehmende Verantwortung der sogenannten neuen Industrieländer; ich erinnere an die Länder in Südostasien, die derzeit ein Wirtschaftswachstum um 10 % jährlich aufweisen. Der Gipfel hat zu einem informellen Dialog mit diesen Ländern eingeladen. Ziel dieses Dialoges muß es sein, diese neuen Industrieländer in die Rechte und Pflichten des internationalen Handelssystems voll zu integrieren.Drittens, meine Damen und Herren, ist die Verbindung zwischen Verschuldung und Umweltfragen erörtert worden — ein meines Erachtens neues und ganz entscheidendes Element, das die deutsche Delegation, insbesondere der Bundeskanzler, in die Bera tungen des Weltwirtschaftsgipfels eingebracht hat.
Dieses sehr sensible Thema — wahrscheinlich das schwierigste Strukturthema der Weltwirtschaft — ist in Toronto mit der notwendigen Behutsamkeit behandelt worden. Der Erlaß von Entwicklungshilfeschulden für die ärmsten Entwicklungsländer ist andererseits sicher kein Weg, der auf andere Schuldarten, Schuldner und Gläubiger ausgeweitet werden könnte.
Deshalb begrüßen wir, Herr Sellin, daß den öffentlichen Gläubigern in der Gipfelerklärung verschiedene Möglichkeiten, Optionen eröffnet wurden, wie Erleichterungen bei ihren Umschuldungen im Pariser Club aussehen könnten.Die Gipfelerklärung reflektiert deutlicher als in früheren Jahren die Herausbildung neuer Konstellationen in Weltwirtschaft und Welthandel. Insbesondere die für 1992 geplante Vollendung des Binnenmarktes stößt überall auf größtes Interesse, wobei sich Erwartungen und Befürchtungen bei unseren Partnern durchaus die Waage halten.Nächste Woche, meine Damen und Herren, bietet der Europäische Rat in Hannover die Gelegenheit, die bisher zur Vollendung des Binnenmarktes zurückgelegte Wegstrecke zu bewerten und neue Ziele ins Auge zu fassen. Der Beginn der deutschen Präsidentschaft war durch außerordentlich schwierige Auseinandersetzungen über die Reform der Finanz-, Agrarund Strukturpolitik belastet. Um so höher ist deshalb die unter der Führung des Bundeskanzlers beim Europäischen Rat in Brüssel erzielte Einigung zu bewerten. Und hier gibt es auch einen Zusammenhang mit der Steuerpolitik, zu der wir uns durchaus bekennen sollten. Wir haben damit die Tür zum europäischen Binnenmarkt weit aufgestoßen.
Aus Sicht der FDP möchte ich zum Schluß noch einmal besonders hervorheben, daß mit dem Grundsatzbeschluß der Wirtschafts- und Finanzminister zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs ein ganz entscheidender Schritt gelungen ist.
Dies ist ein ganz wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Und die Entscheidung dieser Woche über die gegenseitige Anerkennung von Hochschuldiplomenmacht praktischer, was wir unter dem „Europa der Bürger", insbesondere für die junge Generation, verstehen.
— Herr Kittelmann erinnert zu Recht an die Verdienste unseres Bildungsministers in diesem Bereich. Ich lege Wert darauf, daß das im Protokoll erscheint.
— Unseres Bildungsministers Möllemann. —
Wir hoffen, daß sich auch in Hannover weitere Chancen abzeichnen, daß sich Großbritannien, meine Damen und Herren, nun bald dazu entschließen kann, dem Wechselkursmechanismus des EWS beizutreten. Das wäre ein wichtiges Signal aus Hannover.
Ich komme zum Schluß. Ich halte noch einmal fest: Was in den letzten Monaten für den Binnenmarkt geleistet wurde, kann man sicher nicht nur an der Zahl der verabschiedeten Richtlinien messen. Genauso wichtig sind unseres Erachtens die sogenannten Orientierungsdebatten in den Gebieten, wo bisher noch keine konkreten Entschlüsse erwartet werden konnten, z. B. bei dem wohl sehr schwierigen Binnenmarktthema der Harmonisierung der indirekten Steuern. Die FDP erwartet von dem Europäischen Rat in Hannover, daß der Prozeß der Binnenmarktintegration über die wechselnden Präsidentschaften hinweg die politische Schubkraft behält, die notwendig ist, um den jetzt erreichten Schwung für Europa zu wahren.Dabei stellt sich die Frage der währungspolitischen Zusammenarbeit. Dieses Thema hat durch die Diskussion der letzten Monate eine erhebliche Dynamik bekommen. Die FDP würde es sehr begrüßen, wenn der Rat in Hannover die Notenbankgouverneure mit der Aufgabe betrauen würde, Grundsätze für einen Ausbau der währungspolitischen Zusammenarbeit der EG-Mitgliedstaaten auszuarbeiten und die Voraussetzungen und Wege zum Erreichen einer Wirtschafts-und Währungsunion zu zeigen. Gerade in der Währungsunion zeigt sich, daß politische Anstöße und eine kontroverse, aber sachliche Diskussion der beste Ausgangspunkt für weitere Fortschritte sind.Toronto hat Ansprüche, die wir hatten, erfüllt. Hannover hat gute Aussichten, eine wichtige Etappe auf dem Weg zur europäischen Integration zu werden.Die FDP-Fraktion wünscht der Bundesregierung Erfolg in Hannover für Europa.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brück.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hat zum Europäischen Rat in der kommenden Woche in Hannover bereits im Mai einen Antrag eingebracht, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, mit Nachdruck im Ministerrat darauf hinzuwirken, daß die für die Vollendung des Binnenmarkts erforderlichen Beschlüsse umgehend gefaßt werden, damit das Ziel, die Vollendung des Binnenmarkts bis 1992, nicht gefährdet wird.
Ich stehe nicht an, hier festzustellen, daß ein Teil der Forderungen unseres Antrags in den letzten Wochen erfüllt worden ist. Deswegen liegt Ihnen eine Neuformulierung vor.
Ich stehe auch nicht an, hier festzustellen, daß es während der deutschen Ratspräsidentschaft gelungen ist, in die — erinnert man sich an den gescheiterten Gipfel von Kopenhagen — in Erstarrung geratene europäische Politik Bewegung zu bringen.
Wir sind auf dem Weg zum Binnenmarkt ein Stück vorwärts gekommen. Darüber freuen wir uns auch als Opposition, weil die Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts und später, so hoffe ich wenigstens, der Europäischen Union unser erklärtes gemeinsames Ziel ist.
Da ich weiß, wieviel Kleinarbeit auf dem europäischen Parkett notwendig ist, danke ich an dieser Stelle auch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Bundesministerien für die Kärrnerarbeit, die sie hier geleistet haben.
Aber man muß hinzufügen: Die positive Entwicklung war nur möglich, weil die Kommission gute Arbeit geleistet hat, weil wir mit Jacques Delors einen Präsidenten der Kommission haben, von dem wir wohl alle sagen, er sei ein Glücksfall für die Europäische Gemeinschaft.
— Dies greife ich gleich auf. Denn ich habe gehört, daß bei einem Kamingespräch — so ist das da formuliert — anläßlich des Gipfels am 27. und 28. Juni in Hannover auch über den künftigen Präsidenten der Kommission gesprochen wird.
Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß der künftige Präsident nicht wieder Jacques Delors heißen wird.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Martin Bangemann heißen soll, von dem die „Wirtschaftswoche"
geschrieben hat, daß seine Ankündigung, er werde
bald nach Brüssel wechseln, in Bonn Abschiedsschmerz nicht freigesetzt habe.
Die „Saarbrücker Zeitung" überschrieb zu ihm einen Leitartikel: „Ein Verlierer geht. " Wir als Bundesrepublik Deutschland können es uns nicht leisten, einen Verlierer nach Brüssel zu schicken, und sei es auch als Kommissar.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Ja.
Herr Kollege Brück, würden Sie mir zugeben, daß es vielleicht international keine sehr gute Wirkung hat, wenn Kandidaten aus der Bundesrepublik Deutschland, die hochqualifiziert sind,
aus dem eigenen Hause abgemeiert werden, ehe sie überhaupt vorgeschlagen werden?
Herr Kollege Irmer, das Urteil „hochqualifiziert" ist Ihr Urteil, es ist nicht meines und nicht das der deutschen Öffentlichkeit.
Und wenn Sie von „abqualifizieren" sprechen, sage ich Ihnen: Jeder Arbeitnehmer in der Bundesrepublik und sonstwo muß, wenn er sich irgendwo bewirbt, seine Qualifikationen beweisen.
Wenn man an denen Zweifel hat, wird man das wohl auch sagen dürfen.
Meine Damen und Herren, bei aller Zustimmung zu dem, was erreicht worden ist — dazu gehört auch, wie ich ausdrücklich sagen will, die Zustimmung zu der gemeinsamen Erklärung zwischen RGW und EG, die morgen unterschrieben werden soll, und dazu gehört ebenso die Zustimmung zur Einigung bei der Verteilung der Mittel des Strukturfonds — —
Herr Abgeordneter Brück, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Weng?
Aber bitte!
Herr Kollege Brück, würden Sie mir darin zustimmen, daß, von diesen Beurteilungsfragen einmal abgesehen, das, was Sie hier
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6012 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Dr. Weng
personalmäßig gerade gemacht haben, menschlich unanständig ist?
Herr Kollege, ich war eigentlich immer sehr stolz darauf, zu denen zu zählen, die keine menschliche Abqualifizierung von Kollegen vornehmen.
Aber es wird doch noch erlaubt sein, über die Qualität eines Mannes ein Wort zu sagen, der als deutscher Kommissar nach Brüssel gehen soll.
Das ist doch keine Abqualifizierung. Ich habe ja nicht gesagt, daß er ein schlechter Mensch ist.
Nun will ich fortfahren und sagen, daß wir die Erklärung zwischen RGW und EG, die morgen unterschrieben werden soll, ausdrücklich begrüßen, und ich will ausdrücklich auch der Einigung bei der Verteilung der Mittel des Strukturfonds zustimmen. Lassen Sie mich als saarländischen Abgeordneten hinzufügen: Ich finde es auch gut, daß Mittel für die durch die industrielle Umstrukturierung hart betroffenen Regionen an Ruhr und Saar zur Verfügung gestellt werden.Aber bei aller Zustimmung bleiben noch viele Fragen offen. Wir sind in der Europäischen Gemeinschaft bei der Steuerharmonisierung kein Stück vorwärtsgekommen; da warten die Hämmer noch auf uns. Zwar gibt es Vorschläge der Kommission, aber es wäre gut gewesen, wenn während der deutschen Ratspräsidentschaft ein Konzept dafür entwickelt worden wäre, wie denn auf diesem Gebiet die praktischen Schritte aussehen sollen.Ich finde es skandalös, daß die Bundesregierung die beachtlichen Verbrauchsteuererhöhungen, die schon im kommenden Jahr wirksam werden, mit dem Hinweis auf die Finanzierung der Europäischen Gemeinschaft begründet. Das ist antieuropäisch. Schieben Sie nicht der Europäischen Gemeinschaft in die Schuhe, was die Bundesregierung allein zu verantworten hat! Die Verbrauchsteuern werden erhöht, weil Sie Löcher im Bundeshaushalt stopfen müssen.
Ganz am Rande: Die Privatflieger werden das Steuergeschenk, das ihnen ihr Fliegerkamerad Franz Josef Strauß erpreßt hat, nicht lange genießen können. Die anderen EG-Mitgliedstaaten kennen diese Steuerbefreiung nicht, und im Binnenmarkt wird es sie auch nicht geben.
Einer der Gründe für die europäische Einigung ist die Tatsache, daß wir gerade im Umweltbereich die Probleme national nicht mehr losen können. Zwar ist jetzt die EG-Richtlinie für Großfeuerungsanlagen verabschiedet worden, aber es gibt Ausnahmen für Großbritannien und Spanien. Ich stehe nicht an, hier unsere Partner zu kritisieren. Ich finde es unverantwortlich, daß Großbritannien und Spanien auf Ausnahmeregelungen bestanden haben.Nun weiß ich aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, auf der europäischen Ebene zu Regelungen zu kommen, weil man es mit vielen unterschiedlichen Interessen zu tun hat. Deswegen denke ich nicht daran, die Schuld für Versäumnisse nur der deutschen Bundesregierung zuzuschieben.Aber ich fände es besser, wenn der Bundesumweltminister mehr Gehirnschmalz darauf verwenden würde, darüber nachzudenken, wie man denn die Partner in der Gemeinschaft überzeugen kann, anstatt darauf, sich zu überlegen, wie man wieder zu Aktionen kommen kann, mit denen man Öffentlichkeitswirkung erzielt.Ein Bild des Bundesumweltministers mit sterbenden Seehunden mag ja öffentlichkeitswirksam sein. Es wäre jedoch besser gewesen, er hätte, anstatt vor Fernsehkameras zu posieren, seine Zeit genutzt, um seine Kollegen im Ministerrat zu überzeugen, wie notwendig Maßnahmen zum stärkeren Schutz der Nordsee sind.
Vielleicht zieht er auch einige Kräfte aus seinem Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ab und verstärkt andere Referate in seinem Ministerium, die Sacharbeit leisten.Herr Präsident, meine Damen und Herren, überhaupt keine Bewegung wird beim Sozialraum Europa sichtbar. „Die Bosse machen mobil" hat der ,,Rheinische Merkur", bekanntlich ein sozialdemokratisches Kampfblatt,
einen Artikel überschrieben, der sich mit der Diskussion um den Standort Bundesrepublik auseinandersetzt.Ich kann die deutsche Wirtschaft nur warnen, und zwar vor dem Versuch, auf Europa und auf den Binnenmarkt draufzusatteln. Da hoffen wohl manche, man könne das Rad der Zeit wieder zurückdrehen und man könne den Sozialstaat bei uns abbauen,
weil angeblich der Standort Bundesrepublik gefährdet sei. Da hoffen wohl manche, man könne eigene Interessen, die man national nicht durchsetzen konnte, jetzt unter dem Deckmantel Europa durchsetzen. Es ist gut, daß sich der Bundespräsident hier so klar geäußert hat. Ich will hinzufügen: Herr Bundeskanzler, ich fand auch gut, was Sie in der Regierungserklärung dazu gesagt haben. Ich danke auch der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, daß sie den Spitzen der deutschen Wirtschaft so deutlich ihre Meinung gesagt hat.
Die Bundesrepublik ist ein guter Standort für Investitionen, und sie ist es wohl auch deshalb, weil wir
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Brückein relativ hohes soziales Niveau haben. Das garantiert den für eine wirtschaftliche Entwicklung notwendigen sozialen Frieden.Europa darf nicht dazu führen, daß in den Ländern, in denen der soziale Fortschritt weiter voraus ist als in anderen, zurückgeschraubt wird. Europa muß dazu führen, daß die zurückgebliebenen Länder Schritt für Schritt an unser Niveau herangeführt werden. Nur so wird Europa auch ein Europa der Bürger.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da uns die Sozialdemokraten sehr häufig und sehr gerne mit Zitaten amerikanischer Zeitungen und anderer versehen, darf ich heute in Kontinuität etwas dazu beitragen.Die „International Herald Tribune" von gestern sagte zu dem Weltwirtschaftsgipfel, daß das Gipfeltreffen von Toronto allgemein als eines der politisch bedeutendsten der letzten Jahre betrachtet werde.
Im Hinblick auf Europa und auf das Auftreten der europäischen Partner bei der Gipfelkonferenz schreibt sie, daß an die Stelle von Pessimismus, der Anfang und Mitte der achtziger Jahre unter den europäischen Geschäftsleuten und Politikern so verbreitet gewesen sei, sowohl Entschlossenheit als auch Optimismus getreten seien; das sei eine der bedeutsamen Veränderungen für die Europäer und ihre Konkurrenten.Man muß sich diese Zitate, zumal sie von der „International Herald Tribune" stammen, einmal im Hinblick auf die Einschätzung, wie sie von den Sozialdemokraten immer wieder gegeben wird, vergegenwärtigen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion feststellen: Der Wirtschaftsgipfel von Toronto ist ein Stück erfolgreich praktizierter Kooperationspolitik. Im Zeichen des gemeinsamen Engagements für eine funktionsfähige Weltwirtschaft haben die Gipfelteilnehmer die Chance für eine intensive Sachdiskussion genutzt. Herr Bundeskanzler, Ihnen und Ihrer Bundesregierung ist für diesen Erfolg herzlich Dank zu sagen.
Ermöglicht wurde dieses durch die seit Ende des letzten Jahres verstärkt praktizierte internationale Kooperations- und Koordinationspolitik. Noch Anfang des Jahres wurde als hoffnungsloser Optimist betrachtet, wer die Eigenkräfte der Weltwirtschaft beschwor. Der mittlerweile voll zur Entfaltung gekommene weltwirtschaftliche Aufschwung verdeutlicht einmal mehr, wie wichtig es ist, Wirtschaftsprognosen kritisch zu beleuchten. Es mag zwar modern sein, Schwarzmalerei bis hin zur Perfektion zu betreiben; im politischen Tagesgeschäft sind jedoch eindeutige Fakten ausschlaggebend. Die letzten Monate und auch Teilbereiche der Rede von Herrn Roth beweisen: Meine Herren von der SPD, Sie sind in dieser Frage einfach nicht mehr lernfähig.Festzuhalten ist: Die Rahmenbedingungen für eine weitere weltwirtschaftliche Aufwärtsentwicklung sind und bleiben positiv. Erfolgreiche Inflationsbekämpfung, niedrige Zinsen, Stabilisierung der Devisen- und Finanzmärkte sprechen für sich und für die gute Politik dieser Bundesregierung.
Selbstverständlich verschließen wir darüber nicht die Augen und lenken nicht ab von den außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten, von dem zum Teil zunehmenden protektionistischen Druck und der anhaltenden Verschuldungsproblematik. Gerade am Beispiel der Verschuldung zeigt sich, wie ernst die Teilnehmer des Wirtschaftsgipfels ihrer internationalen Verantwortung gerecht geworden sind. Sie haben darauf verzichtet, allgemeine Absichtserklärungen in die Welt zu setzen. Sie haben sich vielmehr entschlossen, dem vielschichtigen Problem mit jeweils abgestuften Maßnahmen zu Leibe zu rücken.Wenn der Pariser Club jetzt ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung gestellt bekommt, verzeichnen wir so einen beachtlichen Fortschritt im Kampf gegen die internationale Verschuldung.Meine Damen und Herren, wir wissen: Dies allein kann jedoch nicht genügen, das Problem an der Wurzel zu packen, um die Schuldenspirale zu stoppen. Hier ist die tatkräftige Mitwirkung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank gefordert. Die Chance, daß der IWF und die Weltbank noch stärker in den Kampf gegen die Verschuldung eingebunden werden können, wird sich auch auf der in diesem Jahr in Berlin stattfindenden Jahrestagung bieten.Diese Chance müssen wir nutzen und dürfen sie auf keinen Fall durch destruktive Parolen und Bemühungen linker Gruppierungen zunichte machen lassen. Ich bitte, daß die gemeinsame Politik mit den Sozialdemokraten, in dieser Frage im Interesse der Entwicklungsländer für einen erfolgreichen und störungsfreien Ablauf dieser Jahrestagung einzutreten, Erfolg haben wird. Gerade weil die linkslastige Profilierung auf Kosten der ohnehin schon gebeutelten Entwicklungsländer wahrscheinlich verstärkt werden wird, ist meine Aufforderung an die GRÜNEN, sich nicht daran zu beteiligen.
Auf der anderen Seite können wir von den Entwicklungsländern nicht verlangen, daß sie unserem Ruf nach mehr Marktwirtschaft folgen, wenn wir nicht selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Die westlichen Industriestaaten sind deshalb gefordert, ihre alltäglichen Handelsprobleme im Sinne freihändlerischen Engagements zu lösen und anzugehen.Wenn sich die Gipfelteilnehmer nun wiederum für einen freien Welthandel ausgesprochen haben, so muß dieser neue politische Impuls in die laufende GATT-Runde einfließen und dort konkret umgesetzt
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Kittelmannwerden. Besonders die USA sind hier gefordert. Die GATT-Halbzeit-Konferenz im Dezember des Jahres steht vor der Tür. Der politische Wille zum Freihandel muß deshalb jetzt im handelspolitischen Alltag praktiziert werden.Es ist Bundeskanzler Kohl zuzustimmen: Dem konzentrierten Bemühen um eine weltweite Liberalisierung steht weder der für 1992 ins Auge gefaßte EG-Binnenmarkt noch die Freihandelszone USA—Kanada entgegen. Diese vergrößern im Gegenteil die jeweilige wirtschaftliche Basis, schaffen dadurch mehr Spielraum für wirtschaftliche Dynamik und tragen so den Aufschwung weiter in die Weltwirtschaft hinein.Die Tagung des Europäischen Rats in Hannover unter deutscher Präsidentschaft wird hier weitere Impulse geben.Der EG-Binnenmarkt wird — dazu wird mein Kollege Schwörer weiteres ausführen — eine erhebliche Dynamisierung der Wirtschaftskraft mit sich bringen. Die Wirtschaft sieht das erfreulicherweise ebenso, wie jüngste Umfragen bei den europäischen und deutschen Unternehmern bestätigt haben.Wenn wir von Europa sprechen, so dürfen wir auch die Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen nicht außer acht lassen. Die Reformpolitik des Ostens gibt uns Anlaß zur Hoffnung, die Handelsbeziehungen zwischen Ost und West weiter vertiefen zu können. Das wird jedoch nur dann gelingen, wenn die östliche Seite das Kooperationsinstrumentarium attraktiver ausgestaltet und sich selbst mehr zum Westen hin öffnet. Anders und klarer ausgedrückt: Die östlichen Staaten müssen endlich mehr konkurrenzfähige Produkte anbieten. Dann ist das Ost-West-Handelsgeschäft auch einfacher und erfolgreicher zu führen.
Wie das kürzlich paraphierte Abkommen zwischen der EG und dem Comecon beweist, werden wir uns diesem positiven Trend nicht verschließen. Allerdings können wir die notwendigen Entscheidungen, die im Osten zu treffen sind, nicht selber übernehmen. Es bleibt deshalb zu hoffen, daß die ständig propagierte Reformpolitik des Ostens auch tatsächlich durchgreift und meßbare Erfolge mit sich bringt.Insgesamt gesehen befindet sich die Weltwirtschaft also wieder im Lot. Die heftigen Turbulenzen des Vorjahres scheinen überwunden zu sein. Die deutsche Wirtschaft sah sich und sieht sich vor enormen Herausforderungen und hat diese tatkräftig angenommen.Die drei großen Blöcke der Weltwirtschaft EG, USA und Japan beginnen, sich zu echten Säulen einer funktionsfähigen Weltwirtschaft zu entwickeln.Diese Erfolge sind ohne die jährlichen Weltwirtschaftsgipfel schwerlich denkbar. Wer allerdings wie die Sozialdemokraten ständig an den Ergebnissen dieser Konferenz zweifelt, der sollte zumindest versuchen — Sie haben ja noch einige Redner — , eine echte Alternative anzubieten. Da die SPD dazu nicht in der Lage ist, kann ihr nur geraten werden, zumindest davon abzusehen, eindeutige Erfolge mit einem selbst gestrickten Trauerrand zu versehen.
Herr Bundeskanzler, Herr Außenminister, nochmals herzlichen Dank für Ihre erfolgreiche Politik.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der bundesdeutsche Kanzler hat sich einen großartigen Auftritt in Toronto und einen starken Abgang in die Sommerpause verschaffen wollen durch die großspurige Ankündigung, Auslandsschulden der Dritten Welt sollten gestrichen und gleichzeitig die Regenwälder in diesen Ländern geschützt werden.
Das wären bestimmt bemerkenswerte Worte, wenn sie nicht vom Kanzler kämen;
denn was wir von seinen Sprüchen zu halten haben, wissen wir. Klopft man seine Äußerungen genauer ab, dann stellt sich heraus: Nichts als heiße Luft.Das sich der Kanzler zu einer solchen Erklärung gezwungen sah, zeigt aber, daß er an den Forderungen der internationalen Opposition nicht mehr vorbeikommt. Er muß sie zumindest in den Mund nehmen.
Es ist ein Erfolg unserer Oppositionsarbeit, daß der Kanzler die internationalen Ökologieprobleme nicht mehr leugnen kann. Es ist unser Erfolg, daß der Kanzler von der Regierungslinie abrücken mußte, Entschuldung nur case by case, im Einzelfall zu gewähren; denn immerhin spricht er jetzt schon von ganzen Ländergruppen. Ein Fortschritt ist das, auch wenn er noch weit entfernt ist von unserer Forderung nach globaler, umfassender Schuldenstreichung.Weit entfernt sind seine Worte auch von jeder Realisierung. Dafür gibt es einige Belege. Im Abschlußkommuniqué des Gipfels taucht sein Spruch überhaupt nicht mehr auf. Er war so substanzlos, daß er nicht einmal in diesem dürftigen und unverbindlichen Papier einen Platz fand.Die weiterführenden Vorschläge Großbritanniens und Frankreichs hat der Kanzler nicht unterstützt. Großbritannien hat vorgeschlagen, daß den afrikanischen Ländern südlich der Sahara bei Umschuldungen im Pariser Club drei Prozentpunkte Nachlaß auf Zinsen gewährt werden. Wir halten diesen Vorschlag für zu kurz gegriffen. Aber nicht einmal diesen Vorschlag hat der Kanzler unterstützt. Er hat ein klares Nein dazu gesagt.Auch als Präsident Mitterrand im Vorfeld von Toronto gefordert hat, ein Drittel aller staatlichen und
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Volmerstaatlich garantierten Kredite zu erlassen, kam vom Kanzler ein klares Nein.
Der von der Bundesregierung nun groß angekündigte Schuldenerlaß für die Ärmsten ist völlig unzureichend; denn er bezieht sich nur auf die Mittel der Finanziellen Zusammenarbeit, also der offiziellen Entwicklungshilfe. Insgesamt stehen die Drittweltländer mit 30 Milliarden DM bei der Bundesrepublik in der Kreide, was FZ-Mittel angeht. Die knapp 3 Milliarden DM, die nun erlassen werden, machen gerade ein Zehntel dieses Betrages aus. Dieser Erlaß trifft nur für die Länder zu, bei denen überhaupt nichts mehr herauszuquetschen ist. Wo noch Hoffnung auf Rückflüsse besteht, damit der marode Bundeshaushalt nicht noch weiter aus dem Lot gerät, wird weiterhin gepreßt und gequetscht.So können wir als Ergebnis dieser mickrigen Schuldenstreichung festhalten, daß sich die Mindereinnahmen für den Bundeshaushalt, wie nun die Kreditanstalt für Wiederaufbau ausrechnete, für 1989 gerade auf 10 Millionen DM belaufen. Dies ist ein geradezu lächerlicher Betrag. Dieser Auffassung ist im übrigen auch der Präsident von Misereor, Herr Prälat Herkenrath, der deutlich gesagt hat: Diese mickrige Schuldenstreichung reicht bei weitem nicht aus.
Aufgenommen wurde auch nicht die Diskussion um die Streichung der Forderungen aus Hermes-Zahlungen. Die Drittweltländer haben Verbindlichkeiten von 7 Milliarden DM gegenüber der Bundesregierung aus Hermes-Exportgarantien. Diese Problematik wurde von der Bundesregierung überhaupt noch nicht angepackt. Wir fordern, daß auch dieser Teil der Schulden erlassen wird.Statt zu wirklich substantiellen Zugeständnissen in der Schuldenfrage zu kommen, begann der Bundeskanzler, über Ökologie und Regenwälder zu philosophieren. Ich sage „philosophieren" , denn präzise Vorschläge kamen von ihm nicht. Dies ist kein Wunder, denn auf dem Hintergrund seiner Wirtschaftsstrategie ist ein wirksamer Umweltschutz überhaupt nicht möglich. Die Bundesregierung deutet einige Schuldenerleichterungen auf monetärer Ebene an. Diese verbindet sie aber immer mit einer Verpflichtung der Drittweltländer, mit einer verstärkten politischen Auflage, ihre Wirtschaft auf den Export zu orientieren. Dies bedeutet Zwangsintegration in den Weltmarkt, dies bedeutet Ausverkauf des Landes, dies bedeutet verstärkte Ausbeutung von Mensch und Natur. Auf einer solchen Grundlage ist eine Ökologiepolitik überhaupt nicht möglich.
Ich möchte das am Beispiel der Regenwälder klarmachen. Das Problem eignet sich für den Kanzler zu Propagandazwecken,
weil kein Tag vergeht, an dem nicht der bedrohliche Zusammenhang von Abholzung und Klimaveränderung thematisiert wird. Um so mehr muß er sich aber fragen lassen, was er wirklich tut. Zur Zeit läuft eine internationale Kampagne gegen die Vergabe eines zweiten Energiesektorkredits der Weltbank an Brasilien in Höhe von 500 Millionen US-Dollar. Wir fordern, daß die Bundesregierung diesem Kredit nicht zustimmt; denn mit diesem Kredit werden weitere Großstaudämme gebaut, die dazu führen werden, daß weitere Areale des Regenwaldes zerstört werden und daß die einheimische Bevölkerung vertrieben wird. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat auf Protestbriefe sehr leger reagiert und hat nur müde abgewunken. Meines Erachtens läßt sich die Glaubwürdigkeit dieser Regierung, was Ökologiepolitik angeht, schon im August festmachen, wenn über diesen Energiesektorkredit abgestimmt wird.Auch die bundesdeutsche Entwicklungshilfe leistet ihren Beitrag zur Zerstörung der Wälder. Mit BMZ-Geldern werden Sägewerke finanziert, damit Wälder abgeholzt und die Bäume exportiert werden können. Hier sehen wir den deutlichen Zusammenhang zwischen Exportzwang und Umweltzerstörung. Dies ist ein nicht zu leugnender Zusammenhang der systematischen Politik dieser Bundesregierung.
Bundesdeutsche Holzfirmen, an der Spitze der BDIChef Stihl, sind an der kommerziellen Abholzung des Tropenwaldes stark beteiligt.
Malaysia ist das Hauptlieferland. Riesige Flächen in Sabah und Sarawak werden zerstört, die ortsansässige Bevölkerung wehrt sich seit Jahren mit Giftpfeilen gegen Bulldozer. Dies sind die deutschen Wirtschaftsinteressen, und die müssen zurückgedrängt werden.Was versteht denn der Kanzler nun konkret unter Umweltschutz? Will er diesem Treiben, das zum Teil nur noch als verbrecherisch bezeichnet werden kann, den Boden entziehen? Wenn er das wollte, müßte er von seiner Politik der Zwangsintegration der Drittweltländer in den Weltmarkt abrücken, wo diesen Ländern der totale Ausverkauf der Umwelt droht.Der Kanzler wird sich nicht abhalten lassen, mit seinem angeblichen Umweltengagement hausieren zu gehen. Wir haben jetzt gut zwei Monate Zeit, zu rätseln, mit welcher ökologischen Sprechblase der Kanzler aus dem Sommerloch auftauchen wird. Wir jedenfalls stellen uns auf die Seite der einheimischen Volksgruppen in den Drittweltländern, in den Regenwäldern, die eines ganz gewiß nicht wollen, und das ist die Verzooung ihrer Heimat, die Verzooung durch den Ausbau von Nationalparks, die als Inseln stehen-
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Volmerbleiben, während der gesamte Regenwald abgeholzt und durch schnellwachsende marktgängige Produkte wie Eukalyptusbäume usw. ersetzt wird.
Was die Schuldenfrage angeht, finden wir eine weitere Bestätigung unserer Position. Die bundesdeutsche Sektion des Internationalen Versöhnungsbundes hat in einem Brief an den Bundeskanzler gefordert:Wir bitten Sie daher, sich für folgende Vorschläge einzusetzen:1. die bedingungslose Streichung aller Forderungen der Bundesrepublik Deutschland an Länder der Dritten Welt aus Entwicklungshilfekrediten und Schadenszahlungen für Hermes-Bürgschaften,2. Maßnahmen, die erreichen, daß die bundesdeutschen Großbanken den Ländern der Dritten Welt ihre Schulden bedingungslos erlassen; die dafür nötigen Rückstellungen sind bereits zu einem großen Teil erfolgt.Wir teilen diese Position des Internationalen Versöhnungsbundes, und wir werden diese und ähnliche Positionen bei der Kampagne, bezogen auf die Jahrestagung von IWF und Weltbank in Berlin, in den nächsten Wochen sehr, sehr deutlich machen.Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Irmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erinnern wir uns einmal zurück. Vor einem halben Jahr hätte niemand geglaubt, daß es in der Europäischen Gemeinschaft überhaupt noch wesentliche Fortschritte geben würde. Der Kopenhagener Gipfel war gescheitert. Das Delors-Paket war festgefahren. Agrar- und Finanzprobleme waren ungelöst. Es richteten sich auf die deutsche Präsidentschaft damals zwar hohe Erwartungen, vielleicht zu hohe Erwartungen, aber niemand hat eigentlich richtig geglaubt, daß es vernünftig weitergehen würde. Um so überraschender ist, daß wir heute feststellen können: Dieses halbe Jahr deutscher Präsidentschaft war die erfolgreichste Präsidentschaft, an die sich überhaupt jemand erinnern kann.
Der Brüsseler Gipfel — das müssen wir selbstkritisch einräumen — hat die Agrarprobleme zwar nicht auf Dauer gelöst. Auch die Finanzsituation der Europäischen Gemeinschaft muß noch abschließend geklärt werden. Wir müssen in der Agrarpolitik zu mehr Markt zurückführen, bei Wahrung der Interessen der bäuerlichen Familienbetriebe, denen wir nach wir vor verpflichtet sind.Aber der Brüsseler Gipfel hat dazu geführt, daß zumindest in der Landwirtschaft wieder der Hauch einer Perspektive deutlich wurde, daß man wieder erkennen konnte, wo es hingehen soll, und insbesondere, daß die Landwirtschaft wieder Mut gefaßt hat und sich aus dem Geist des Scheiterns heraus nach vorn entwickelt hat.
Ich will nicht auf die gesamte Erfolgsbilanz eingehen. Wir haben hierzu einiges in unserem Entschließungsantrag vorgelegt. Ich möchte nur einige wenige Punkte herausstellen, bei denen noch vor einem Vierteljahr kaum jemand gedacht hätte, daß man hier zum Durchbruch kommen würde.Ich nenne hier die Liberalisierung und Harmonisierung des Güterkraftverkehrs. Ich nenne als zweites die gegenseitige Anerkennung der Hochschulabschlüsse. Lieber Kollege Brück, Sie sind mit Ihrer Bangemann-Beschimpfung weit unter Ihr übliches Niveau gegangen.
Ich kenne Sie sonst ganz anders. Es war doch niemand anders als Martin Bangemann,
der sich hier ganz große Verdienste erworben hat. Das ist ein altes Anliegen von ihm und von uns allen. Das muß man einmal anerkennen.
Vor allem muß man sehen, daß uns dieser Fortschritt in der Europäischen Gemeinschaft eine völlig neue kulturelle Dimension erschließt.
Wir sind ja nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft, wir sind auch Kulturgemeinschaft. Durch diesen Erfolg sind wir dem ein gutes Stück nähergerückt.
— Herr Volmer, nach dem, was Sie vorhin gesagt haben, reagiere ich noch nicht einmal mehr auf Ihre Zwischenrufe.
Meine Damen und Herren, ich möchte als nächstes die Liberalisierung des Kapitalverkehrs erwähnen. Auch das ist ein Schritt nach vorn zur Europäischen Union. Natürlich dürfen wir hierbei nicht stehenbleiben. Wir müssen jetzt auf dem Gipfel in Hannover erste Schritte in Richtung auf eine Währungsunion in Angriff nehmen. Da verstehe ich nicht ganz diesen etwas kleinlichen Streit zwischen denen, die sagen: Wir müssen zuerst einmal eine gemeinsame Wirtschaftspolitik in allen EG-Ländern haben, und denen, die sagen: Wir müssen zuerst die gemeinsame Währung einführen. — Meine Damen und Herren, das ist so absurd wie der Streit darüber, was zuerst da war, die Henne oder das Ei. Man kann doch das eine tun, ohne das andere zu lassen. Machen wir jetzt in Hannover einen Anfang! Setzen wir deutliche Signale!
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IrmerDann kriegen wir die Währungsunion, und zwar noch vor Ende dieses Jahrhunderts.
Ein weiteres Wort zu etwas, wo es noch hakt — auch das sollten wir sehen — : Wenn wir die Grenzkontrollen abschaffen wollen — und das wollen wir; das gehört zur Europäischen Union —, dann müssen wir auch die rechtlichen Fragen klären, die damit verbunden sind, ausländerrechtliche Fragen, asylrechtliche Fragen,
und wir müssen die Kontrollen an die Außengrenzen verlagern. — Wissen Sie, ich finde es manchmal etwas traurig, daß wir von Ostblockländern, denen wir doch sonst vorwerfen, sie schotteten sich ab, in der Freizügigkeit überboten werden. Die Ungarn haben das angeboten. Die Tschechen sind großzügiger bei der Erteilung von Visa, als wir es gegenüber tschechischen Staatsangehörigen sind.
Das sollten wir ändern. Das richtet sich insbesondere an die Adresse des Bundesinnenministers, der hier wirklich aus seiner Sicht Opfer für die europäische Integration bringen muß.
Meine Damen und Herren, das Wesentliche an der deutschen Präsidentschaft war aber, insgesamt gesehen, die Rolle, die die Europäische Gemeinschaft zusätzlich im außenpolitischen Feld erringen konnte. Wichtig ist die europäische politische Zusammenarbeit. Wichtig ist, die Europäische Union zu einer starken Kraft auszubauen, die sich zwischen den Großmächten behaupten kann, die eigenständig ist und bei fester Einbindung in das westliche Staatenbündnis und die westliche Wertegemeinschaft zugleich Verständigung und Ausgleich mit dem Osten sucht. Hier kann man nur sagen: Dieses ist ein außenpolitisches Gesamtkonzept. Es ist eine Außenpolitik aus einem Guß, die, ausgehend von unserer Rolle in der Europäischen Gemeinschaft, ihre Rolle in der Welt sieht.Jetzt richte ich einmal eine Frage an so manchen aus den Reihen unseres Koalitionspartners. Da wird gesagt, diese Außenpolitik sei konzeptionslos. Meine Damen und Herren, ich kann das nicht erkennen. Ich würde mir wünschen, daß einmal Alternativen vorgetragen würden; aber es gibt doch zu dieser Außenpolitik keine Alternative.
Dieses ist ein außenpolitisches Gesamtkonzept — ich wiederhole es — , das den deutschen Interessen dient, den europäischen Interessen und auch dem Frieden und den Menschenrechten in der Welt.
Ich will in diesem Zusammenhang auch ein Thema ansprechen, nach dem man immer wieder gefragt wird: Wie steht es denn eigentlich mit der Deutschlandpolitik? Hier ist die Antwort: Nur auf dem Wege über die Europäische Union kann und wird es uns gelingen, auch dem Schrecken der innerdeutschen Grenze entgegenzutreten und diese Grenze durchlässiger und weniger schlimm zu machen. Ich zitiere hier den Bundesaußenminister: Eine deutsche Politik ist um so nationaler, je europäischer sie ist.Wir müssen auf diesem Weg weitergehen. Wir erkennen an, wir freuen uns, daß die deutsche Präsidentschaft ein solcher Erfolg gewesen ist. Wir kennen die Aufgaben, die noch vor uns liegen. Aber — und ich hoffe, da besteht unter den meisten Fraktionen Einigkeit, einschließlich der SPD, wie ich unterstelle — wir sind auf dem Weg zur Europäischen Union ein gutes Stück weitergekommen. Kämpfen wir weiter dafür! Setzen wir in Hannover weitere Zeichen! Hierfür wünschen wir dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister sowie der gesamten Bundesregierung viel Erfolg.Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wulff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Weltwirtschaftsgipfel in Toronto hat, wie ich meine, unseren Blick auf zwei neue und wesentliche Merkpunkte gerichtet.Erstens. Die Europäer haben im Konzert der Großen ein schärferes Profil gewonnen. Die Europäische Gemeinschaft hat, wie die Entwicklung gezeigt hat, im Hinblick auf den Binnenmarkt ihre zukünftige Bedeutung unter Beweis gestellt. Nach Toronto wissen wir alle, weiß die Welt, daß der 1992 anstehende Binnenmarkt mit 320 Millionen Menschen der größte Markt der Welt sein wird, größer als der der USA und Kanadas, größer als der der Japaner, größer als überhaupt ein anderer Markt in der Welt. Es ist, wie ich meine, ein Erfolgserlebnis für die Europäer, erfahren zu haben, wie insbesondere die Dritte Welt auf diese Entwicklung reagiert hat. In der bipolaren Weltpolitik haben die Entwicklungsländer in Asien, Afrika und Südamerika nach Toronto zu erkennen gegeben, daß dieser Gipfel auch für sie, für die Dritte Welt, durch den Einsatz der Europäer, durch den Einsatz des Bundeskanzlers, ein großer, ein sehr großer Erfolg geworden ist.
Als Deutsche sind wir besonders erfreut darüber, daß die Stärkung der Europäischen Gemeinschaft, ihre außenpolitische und außenwirtschaftliche Handlungsfähigkeit unter der deutschen Präsidentschaft — und da meine ich, auch Ihnen, Herr Bundesaußenminister, den Dank aussprechen zu müssen — eindrucksvoll unter Beweis gestellt worden ist.
Die Belebung des Dialogs zwischen den USA, Japanund Europa ist ein Erfolg für Helmut Kohl und seineBundesregierung. Toronto hat bewiesen, daß Europa
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Dr. Wulffbegonnen hat, seine Unabhängigkeit stärker unter Beweis zu stellen.
Zweitens. Erfreut sind wir alle, daß der Gipfel auf Initiative des Bundeskanzlers daran gegangen ist, die uns alle bedrückenden Probleme der Verschuldung der Dritten Welt zu lösen. Ich halte es für ein epochales Ereignis, daß das erste Mal seit der Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ein deutscher Bundeskanzler ganz konkrete Schritte unternommen hat, die zur Lösung der Verschuldungsprobleme in den afrikanischen Entwicklungsländern beitragen werden
Die Verschuldung der Dritten Welt, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, mit rund 1,2 Billionen Dollar — mir liegen auch Informationen seriöser Institute vor, die die Verschuldung mittlerweile auf 1,5 Billionen Dollar schätzen — , hat derartig gigantische Ausmaße angenommen, daß bei einem wirtschaftlichen Zusammenbruch der Dritten Welt die Industrieländer in einen Sog gezogen werden können, der sie selbst in ihrer Existenz treffen kann.
Ich danke dem Herrn Bundeskanzler für die Initiative, die er ergriffen hat, um solchen Schaden nicht nur von der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden, sondern auch von vielen Ländern in der Welt.
Seiner Initiative verdanken wir, daß der Gipfel auch einen Beitrag zum Frieden im Nord-Süd-Verhältnis geleistet hat. Es ist ebenfalls ein Beitrag zu einer weltweiten Anstrengung im Umweltschutz. Ihm und der Bundesregierung ist es gelungen, daß sich der Gipfel in Toronto mit jenen umweltschädigenden Ereignissen in der Dritten Welt befaßt hat, beispielsweise der Abholzung der Regenwälder, die zu einer Bedrohung der ganzen Menschheit führt.
— Herr Volmer, gestatten Sie, Ihre Zwischenrufe zeigen doch, mit Verlaub gesagt und bei aller Seriosität, die uns angemessen sein sollte, daß Sie von der ganzen Sache, weder von der ökonomischen noch der ökologischen und der politischen Seite, überhaupt nichts verstehen.
Die Konferenz hat in eindrucksvoller Weise bewiesen, daß die maßgeblichen Industrienationen der Welt erkannt haben,
— nein — daß nur ein gemeinschaftliches Vorgehen die Voraussetzung für eine friedliche Koexistenz aller bietet. Daß der Gipfel die Hand zur Zusammenarbeit mit den Staaten
des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe ausgestreckt hat, beweist, daß die demokratischen und freien Nationen des Westens bereit und fähig sind, einen Beitrag auch zur Wohlfahrt der Staaten des Ostens zu leisten. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat dazu ihren Beitrag geleistet. Wir sind stolz darauf und danken ihr.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu dem, was in der Regierungserklärung über die Ergebnisse des Weltwirtschaftsgipfels in Toronto und im Hinblick auf den bevorstehenden Europäischen Rat in Hannover gesagt oder auch nicht gesagt worden ist, haben meine Kollegen Wolfgang Roth und Alwin Brück bereits Stellung genommen. Daraus ist deutlich geworden: Wir Sozialdemokraten kritisieren nicht alles und jedes. Wir anerkennen beispielsweise durchaus die Ansätze zur Erleichterung der Schuldenlast der ärmsten Länder in Afrika. Wir anerkennen auch, daß Sie, Herr Bundeskanzler, die ernsten Gefahren angesprochen haben, die sich aus der Zerstörung der Ozonschicht und einer tiefgreifenden Veränderung des Klimas auf unserem Planeten ergeben.
Ebenso stimmen wir dem zu, was Sie heute morgen über den erfreulichen Stand der deutsch-kanadischen Beziehungen gesagt haben. Wir sehen auch — bei aller Sorge über andauernde Widersprüchlichkeiten, etwa auf dem Felde der Agrarpolitik — Fortschritte im europäischen Einigungsprozeß und begrüßen sie.Wir begrüßen insbesondere, daß der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe und die Europäische Gemeinschaft ihre Beziehungen durch eine inzwischen paraphierte gemeinsame Erklärung, die Berlin einschließt, nunmehr normalisieren.
Das kann der zweiten Phase der Entspannungspolitik, für die wir konsequent eintreten, einen zusätzlichen Impuls geben und das gemeinsame europäische Haus, in dem wir — das dürfen wir nicht vergessen — ja nur einen Flügel bewohnen, wohnlicher und zugänglicher machen.Ebenso deutlich sind von uns aber auch die negativen Aspekte behandelt worden. Dazu gehört insbesondere die Tatsache, daß weder in Toronto noch im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft etwas Durchgreifendes unternommen wurde, um die Gefährdung der Weltwirtschaft durch die enormen Ungleichgewichte der Leistungsbilanzen zu verringern. Hier ist und bleibt neben den Vereinigten Staaten und Japan in erster Linie die Bundesrepublik gefordert. Der Nachfrageausfall, der durch Ihre konfuse Steuerpolitik und — mehr noch — durch die in der Bundesrepublik andauernde Massenarbeitslosigkeit verursacht wird, ist ebenso ein internationales und europäi-Deutscher Bundestag — 1 i. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6019Dr. Vogelsches wie ein nationales Problem. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist deshalb aus volkswirtschaftlichen Gründen ebenso geboten wie aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität.
Was Sie hier seit Jahr und Tag versäumen, wird Ihnen ja ganz zu Recht nicht nur von uns, sondern auch von unseren europäischen und internationalen Partnern vorgehalten und ist Ihnen trotz aller wechselseitigen Lobeshymnen auch in Toronto deutlich vorgehalten worden.Deshalb appelliere ich an Sie: Herr Bundeskanzler, machen Sie die Überwindung der Arbeitslosigkeit zu einem zentralen Thema des Europäischen Rates in Hannover. Es ist gut, daß der Präsident der Kommission immer wieder auf diesen schweren Mißstand hinweist, aber Sie und die übrigen Staats- und Regierungschefs sind hier noch stärker gefordert als der Präsident der Kommission.
Herr Bundeskanzler, fördern Sie gerade deswegen die Schaffung des einheitlichen Binnenmarktes und die Umschichtungen im EG-Haushalt weg von den Agrarausgaben hin zu den Ausgaben für strukturelle Maßnahmen. Sie haben dafür unsere volle Unterstützung, und Sie haben unsere volle Unterstützung auch, wenn Sie den Vorschlägen des Kommissionspräsidenten Jacques Delors folgen und konkrete Maßnahmen — konkrete Maßnahmen! — zur Schaffung eines europäischen Sozialraumes ebenso in die Wege leiten wie konkrete Schritte zur Schaffung einer einheitlichen europäischen Währung. Ohne eine einheitliche soziale Sicherung und ohne eine einheitliche Währung bleibt Europa bei allen sonstigen Fortschritten ein Torso, und wir wollen uns nicht mit einem Torso abfinden.
Aus aktutem Anlaß füge ich hinzu: Gerade in der Währungsfrage muß die Politik in Bonn und in Brüssel gemacht werden, nicht in Frankfurt. Hätte Helmut Schmidt auf Frankfurt gehört oder gewartet, dann gäbe es das Europäische Währungssystem heute noch nicht.
Es wäre übrigens gut, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, in Hannover auch das Thema Südafrika zur Sprache brächten. Die Gemeinschaft hat hier noch einen enormen Nachholbedarf, nicht was Worte, aber was Taten und effektive Maßnahmen angeht.
Eine Bemerkung noch zu Jacques Delors. Sie haben über ihn und seine Arbeit mehrfach und immer wieder Worte der Anerkennung gefunden. Diesen Worten und dieser Anerkennung stimmen wir zu. Um so unverständlicher ist jedoch, daß Sie dennoch seine Ersetzung durch den Kandidaten Ihrer Wahl lange Zeit betrieben haben und möglicherweise immer noch betreiben. Ich bitte Sie eindringlich, das noch einmal zu überdenken. Nicht nur für uns liegt es im InteresseEuropas, das Jacques Delors seine Arbeit als Kommissionspräsident fortsetzen kann.
Das, was hier angeklungen ist, ist nicht antideutsch; es ist proeuropäisch, was wir in diesem Punkt empfehlen.
Im Interesse Europas und der Bundesrepublik läge es auch, als zweiten deutschen Kommissar nach Brüssel nicht einen Mann zu entsenden, der zwar sicherlich ein angenehmer und lebensfreundlicher Mensch ist — das steht doch gar nicht zur Diskussion — , aber hier in Bonn in seinen Funktionen nicht reüssiert hat und nach eigenem Geständnis deswegen nach Brüssel gehen will, weil er hier die Lust an seinen Funktionen verloren hat. Das darf man doch wohl noch sagen.
Entscheiden Sie sich statt dessen, Herr Bundeskanzler, für eine Persönlichkeit, die in besonderer Weise das Vertrauen auch der Arbeitnehmerschaft besitzt. Wir haben dazu einen konkreten Vorschlag gemacht und damit auch erneut unsere Bereitschaft bekundet, für die europäische Entwicklung selbst als Opposition an zentraler Stelle sichtbar Mitverantwortung zu übernehmen.
Eine Regierungserklärung muß darauf geprüft werden, was sie behandelt, aber auch darauf, wozu sie schweigt. Gemessen daran ist die Regierungserklärung, die wir vorhin gehört haben, erstaunlich schweigsam. Offenbar wollen Sie, Herr Bundeskanzler, nachdem Sie mit Ihren Erläuterungen auf Ihrem Parteitag so großen Erfolg erzielt haben, die Politik des Aussitzens jetzt auch noch durch eine Politik des partiellen Ausschweigens ergänzen.
Alle die Fragen, die unser Volk und, wie Sie in Wiesbaden gerade erlebt haben, auch die Delegierten Ihrer eigenen Partei gegenwärtig bewegen, kamen in der Erklärung praktisch überhaupt nicht vor. Und das, obwohl diese Fragen, wie etwa die von mir erwähnte Massenarbeitslosigkeit, mit der weltwirtschaftlichen und der europäischen Entwicklung doch in ganz engem Zusammenhang und ganz enger Verzahnung stehen.
Übrigens, es hätte nichts verschlagen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie auch etwas zu den teilweise schon unerträglichen Luftverkehrsverhältnissen in der Bundesrepublik und darüber gesagt hätten, wie Sie dem abhelfen wollen. Hunderttausende von Urlaubern werden dadurch in den kommenden Wochen in arge Mitleidenschaft gezogen. Meine Damen und Herren, das ist keine Bagatelle, das ist eine Angelegenheit, um die Sie sich, Herr Bundeskanzler, selbst kümmern sollten. Auch das hat einen europäischen Bezug, nicht nur einen nationalen.
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Dr. VogelWo der Bundeskanzler schweigt, ist es die Pflicht der Opposition, zu reden und die entsprechenden Fakten und Fragen zur Sprache zu bringen. Ich nenne nur die vier wichtigsten und bedrängendsten Komplexe.Erstens. Die Massenarbeitslosigkeit bewegt sich mit durchschnittlich 2,3 Millionen registrierten Arbeitssuchenden unverändert auf Rekordhöhe. Es sind eine halbe Million mehr als im Zeitpunkt der sogenannten Wende, die Sie insbesondere mit der Massenarbeitslosigkeit begründet und zu rechtfertigen versucht haben. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, in Ihrer Hilflosigkeit machen Sie jetzt die Statistik verantwortlich und wollen die Zahlen verändern, wo Ihnen die Kraft und die Entschlossenheit zur Veränderung der Realität fehlt.
Zweitens. Wir werden nicht müde werden, dies immer wieder darzulegen: Der Anteil der Einkommen aus Unternehmens- und Vermögensbesitz am gesamten Volkseinkommen hat mit 41,4 % gegenüber 33,7 % im Jahr 1982 den absoluten Höchststand, der Anteil der Arbeitseinkommen — „Leistung muß sich wieder lohnen" ! — hingegen mit 58,6 % gegenüber 66,3 % den absoluten Tiefstand in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht.Durch die angekündigten Steuererhöhungen für die breiten Schichten und durch die gestern gegen unseren Widerstand verabschiedeten Steuersenkungen, insbesondere für höhere und höchste Einkommen, wird diese dramatische Umverteilung noch weiter verschärft werden. Daß Sie dabei gestern eine kleine Gruppe von Mitbürgern, die sich immerhin Privatflugzeuge leisten kann, von der Mineralölsteuer befreit und ihr so zu einer zusätzlichen Steuerersparnis von 3 500 DM pro Jahr im Einzelfall verholfen haben, während Sie die Mineralölsteuer für die breiten Schichten noch in diesem Jahr erhöhen wollen, ist in diesem Zusammenhang nicht irgendein Detailskandal, der ja einmal vorkommen kann. Nein, dieser Vorgang erhellt in seiner Unverfrorenheit schlaglichtartig eine Grundtendenz Ihrer Politik.
Er erhellt — ich zitiere aus Zeitungen, die Ihnen wohlgesonnen sind — nämlich als Grundtendenz Ihrer Politik die Begünstigung kleiner Interessengruppen auf Kosten der Allgemeinheit, die Begünstigung der Stärkeren, die sich notfalls selber helfen können, auf Kosten der Schwächeren.
Er zeigt, Herr Bundeskanzler, was von Ihren schönen Reden über soziale Gerechtigkeit oder gar über Ihr christliches Menschenbild oder von der Parole „Leistung muß sich wieder lohnen" übrigbleibt, wenn es wirklich hart auf hart geht.
Meine Damen und Herren, Sie werden doch aus Ihren Wahlkreisen mit Stellungnahmen überschüttet. Sie können sich mit dieser Entscheidung doch nirgends mehr sehen lassen. Sie spüren und wissen es ja auch.
Einige von Ihnen sagen es auch laut. Ihr eigener Parteitag hat Ihnen doch durch Beschluß bescheinigt, daß Sie hier die soziale Gerechtigkeit mit Füßen treten.
— Das gehört auch zu Toronto, mein Lieber.
Lieber Herr Wissmann, das, was ich hier erörtere, ist auch ein Gipfel, aber ein Gipfel der Unverfrorenheit und der sozialen Ungerechtigkeit.
Trotzdem, meine Damen und Herren, haben Sie zugestimmt. Das ist übrigens noch ein zusätzlicher Punkt, der Aufmerksamkeit verdient. Sie haben einem einzigen Mann zuliebe zugestimmt, der Sie als Fraktion vorführen und der Sie, Herr Bundeskanzler, einmal mehr öffentlich demütigen will. Deswegen stimmen Sie gegen Ihre Überzeugung, deshalb lassen sich zwei Fraktionen — das gilt ja auch für Sie — das Rückgrat brechen.
Warum, meine Damen und Herren von der Union und von der FDP, in Gottes Namen haben Sie Franz Josef Strauß nicht auf die Probe gestellt und in seine Schranken gewiesen? Was befürchten Sie denn eigentlich von ihm? Es wäre ein Akt der politischen Hygiene gewesen, wenn Sie gestern mannhaft diese Zumutung abgelehnt hätten.
Statt dessen haben Sie sich erpressen lassen und zu weiteren Erpressungen eingeladen.
Meine Damen und Herren, Sie haben um des Machterhalts willen Ihre Glaubwürdigkeit und — schlimmer noch — ein Stück Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie geopfert. Niemand darf sich wundern, wenn sich viele Menschen, angewidert von einem solchen Schauspiel, abwenden und den Parteien mit noch mehr Distanz als bisher begegnen.
Dieser Schaden — Sie geben es im internen Gespräch ja auch zu — ist noch viel schlimmer als der, der sich in einem Geldbetrag ausdrücken läßt.Drittens. Die Verschuldung der öffentlichen Hände hat sich drastisch erhöht. In den letzten fünf Jahren der Regierung Helmut Schmidt, auf die Sie jetzt nicht mehr so laut zu sprechen kommen, betrug die Finanzierungslücke 166 Milliarden DM. Ihre Finanzierungslücke, also die Summe der Ausgaben, die nicht durch ordentliche Einnahmen gedeckt sind, belief sich für die Jahre 1983 bis 1987 auf 188 Milliarden DM; sie lag also deutlich darüber.
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Dr. VogelDie Nettokreditaufnahme für das Jahr 1988 wird mit über 40 Milliarden DM veranschlagt. Das ist der höchste Kreditaufnahmebetrag in der Geschichte der deutschen Bundesrepublik.
Das Tempo beschleunigt sich. Infolge Ihrer geradezu chaotischen Finanzpolitik steuern insbesondere die Gemeinden — wie Herr Rommel Ihnen doch ständig bestätigt —, aber auch die Länder und der Bund auf immer größere Finanzierungslücken zu.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klein?
Aber gerne.
Herr Abgeordneter Klein, bitte schön.
Bitte sehr, Herr Minister.
Nein, Herr Klein fragt als Abgeordneter.
Er ist auch Minister, Frau Präsidentin.
Das läßt sich nicht leugnen.
Mir ist nicht bekanntgeworden, daß er das Amt niedergelegt hat.
Aber er fragt hier nur als Abgeordneter. — Bitte.
Herr Kollege Vogel, sind Sie sicher, daß Sie nicht das Redemanuskript für die gestrige Debatte erwischt haben?
Ich bin sicher, daß ich ein Thema erwischt habe, das Ihnen in höchstem Maße peinlich und unangenehm ist. Darum setze ich die Ausführungen dazu fort.
Allein beim Bund ergibt sich für die nächsten drei Jahre an Hand Ihres eigenen Zahlenwerkes eine Finanzierungslücke von rund 170 Milliarden DM. Da sagen Sie, Herr Bundeskanzler, noch immer — wörtliches Zitat — , es sei das Gütesiegel Ihrer Regierung, daß Sie keine Schulden machen. — Wenn diese Äußerung nicht auf das zurückgeht, was Ihr Generalsekretär üblicherweise als Blackout bezeichnet, dann offenbart sie jedenfalls einen schrecklichen Realitätsverlust.Die Wahrheit ist: Noch nie hat sich eine Regierung, die auf einem Gebiet den Mund so voll genommen hat, so bis auf die Knochen blamiert wie Sie in der Frage der Schuldaufnahmen und der Verschuldung.
Übrigens kann man mit uns über Kreditaufnahmen, auch über hohe Kreditaufnahmen, durchaus reden, dann aber bitte über investive Kredite, die Arbeitsplätze schaffen,
nicht über solche, mit deren Hilfe Hochverdienenden — wie Herr Rommel dankenswerterweise an seinem persönlichen Beispiel erst vor wenigen Tagen erläutert hat — jährlich 20 000 DM Steuern erlassen werden.Viertens. Wichtige soziale Sicherungssysteme wie die Gesundheits- und Alterssicherung oder die Arbeitslosenversicherung nähern sich der Grenze ihrer Finanzierbarkeit oder haben sie — wie bei der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Franke bekundet das Tag für Tag — infolge der Eingriffe des Herrn Stoltenberg, der diese Eingriffe zur Sanierung des Bundeshaushaltes vorgenommen hat, bereits weit unterschritten. Das ist kein Horrorgemälde, das sind Fakten.Daß gleichzeitig das Bruttosozialprodukt und unsere Leistungsbilanzüberschüsse gewachsen sind, zeigt, daß die Ursachen für diese besorgniserregenden Entwicklungen nicht primär im wirtschaftlichen Bereich liegen. Im Gegenteil: Die Entwicklungen des Bruttosozialproduktes und auch das, was Sie über das Wachstum im ersten Vierteljahr sagten — wobei eine ganze Reihe von Faktoren das ein bißchen relativiert — zeigen doch — darüber freuen wir uns doch — , mit welcher Kraft und mit welchem Können unsere männlichen und weiblichen Facharbeiter,
Techniker, Ingenieure und Kaufleute, unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt sowie auch die Männer und Frauen in den Unternehmensleitungen tätig sind. Das zeigen diese Zahlen.
Das spricht für die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. Deshalb wehren Sie sich auch mit mehr oder weniger deutlichem Gehör gegen die von interessierter Seite in Gang gebrachte Standortdebatte. Ich drücke auch meinerseits Frau Adam-Schwaetzer unseren Respekt dafür aus, daß sie diese Legende vom Standortnachteil Bundesrepublik in ihrer Art und Weise deutlich zurückgewiesen hat. Das ist in Ordnung.
Aber vor dem Hintergrund dieser Zahlen und dieser Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wiegt Ihr politisches Versagen doch nicht leichter; das Versagen wiegt viel schwerer. Denn die Zahlen zeigen: Es fehlt nicht an Mitteln, es fehlt nicht an Potential — wir sind, gemessen im internationalen Vergleich und gemessen an unserer eigenen Geschichte, ein reiches Volk; ein Teil dieses Reichtums übrigens — das muß immer wieder der Wahrheit halber gesagt werden — stammt aus Opfern der Dritten Welt, und wir dürfen das nie verschweigen —; was fehlt, sind der politische Wille und die konzeptionelle Kraft, diesen Reichtum zur Bewä1-
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6022 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Dr. Vogeltigung der genannten Herausforderungen und anderer dringender Probleme einzusetzen:
etwa für eine ökologisch orientierte Industriepolitik, für den Schutz und die Wiederherstellung unserer Umwelt oder für die verstärkte Zusammenarbeit mit der Dritten Welt. Das, Herr Bundeskanzler — und auch das haben Sie ja auf Ihrem Parteitag zu hören bekommen — , wäre weiß Gott wichtiger und auch friedenssichernder als beispielsweise der Milliardenaufwand für den Jäger 90, den Sie zu verantworten haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Warum zwingen Sie der Mehrheit unseres Volkes eine Steuererhöhung auf, die die Mehrheit und die meisten gesellschaftlichen Gruppen ablehnen und gar nicht haben wollen? Warum betreiben Sie gegen den erklärten Willen der Mehrheit unseres Volkes die Verlagerung der Finanzlasten unseres Gesundheitssicherungssystems auf Versicherte und Patienten? Und warum zerschlagen Sie gegen den erklärten Willen der Beschäftigten, der zuständigen Gewerkschaften und der meisten Verbände, die an einer wirklichen Reform mitzuarbeiten ja bereit wären, die Einheit unseres Postsystems?
Das sind doch keine Reformen zur Verbesserung unserer gesellschaftlichen Situation. Das ist enge Interessenpolitik, und die lehnen wir Sozialdemokraten ab.
— Ich freue mich sehr, daß die Anfangsmüdigkeit, die zwischen 9 und 10 Uhr zu spüren war, jetzt allmählich vergangen ist. Es war ja auch eine lange Nacht; ich verstehe das. —
Wir behaupten nicht, auf allen Gebieten Patentlösungen zu besitzen. Aber wir haben überall da, wo wir Sie kritisieren, eigene Konzepte erarbeitet: Das gilt für die Steuer- und Finanzpolitik,
für die wir ein Alternativmodell vorgelegt haben; das gilt für unser Rentenkonzept und unser Konzept zur Reform des Gesundheitswesens; das gilt für unsere Vorschläge zur ökologischen Erneuerung der Wirtschaft und der Energieversorgung; das gilt ebenso für unsere Programme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch solidarische Anstrengungen aller Verantwortlichen.Es ist bezeichnend, daß aus unserer Mitte heraus — nicht aus Ihrem Lager, wenn man das Wort „Lager" in bezug auf Sie jetzt überhaupt noch verwenden darf — eine intensive Debatte über die wirksamsten Wege zur Überwindung der Arbeitslosigkeit ausgelöst worden ist, bei der — selbst um den Preis vonKontroversen unter Freunden — auch ganz neue und unkonventionelle Gedanken in die Debatte eingebracht worden sind.
Es ist ebenso bezeichnend, daß es uns — nicht der Bundesregierung — gelungen ist,
Repräsentanten der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, der öffentlichen Hände und der Kirchen zu die-sem Thema nach jahrelanger Pause an einem Tisch zum gemeinsamen Gespräch zusammenzuführen.
Wir sind bereit, meine Damen und Herren, auf allen Ebenen von neuem Verantwortung zu übernehmen.
Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger haben uns zuletzt neue Regierungsverantwortung in und für Schleswig-Holstein übertragen. Björn Engholm hat schon in den ersten Wochen sichtbar gemacht, daß ein solcher Wechsel in der Verantwortung auch einen Wechsel im Stil und im Inhalt der Politik bedeutet.
Wir sind jedoch bereit — ich wiederhole das hier —, auch aus der Opposition heraus Mitverantwortung zu tragen. Wir haben das im Falle der sogenannten Albrecht-Initiative, deren schließlichen Ausgang wir mit großem Interesse verfolgen, unter Beweis gestellt, im Falle einer Initiative, die ohne unsere Mitwirkung gar nicht hätte auf den Weg gebracht werden können
und deren weiteres Schicksal jetzt allein von Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, abhängt.Voraussetzung für eine solche Mitverantwortung ist jedoch, daß die Koalition wenigstens noch die Kraft aufbringt, sich für die begrenzte Zusammenarbeit auf bestimmten Feldern, etwa auf dem Feld der Gesundheitspolitik, der Altersversorgung — dort gibt es erste ermutigende Anzeichen — und der Umweltpolitik zu öffnen. Voraussetzung ist, daß Sie mit dem Diktat wechselnder Koalitionszirkel Schluß machen, die in keinem Artikel des Grundgesetzes vorgesehen sind und selbst in Ihren eigenen Reihen Verdrossenheit und Lähmung erzeugen, weil man nicht mehr erkennen kann, wo eigentlich die Zentren der Entscheidung und der Verantwortung liegen.
Notwendig ist, daß Sie wenigstens zu einem Mindestmaß von Berechenbarkeit zurückfinden.Diese Haltung entspricht unserer Orientierung am Gemeinwohl. Dem Gemeinwohl dienen wir aber zur gleichen Zeit auch dadurch, daß wir Ihre Ablösung vorbereiten, damit wir im Sinn des demokratischen Grundprinzips alles tun, damit Ihr Niedergang nicht zum Niedergang unseres Volkes wird, sondern damit wir mit neuer Kraft unserem Volk in der Regierungs-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6023
Dr. Vogelverantwortung dienen können, wenn Sie Ihre Kraft endgültig verbraucht und erschöpft haben.
Viele, auch in Ihren eigenen Reihen, spüren, und wir wissen es: Dieser Zeitpunkt ist in den letzten Monaten und Wochen ein gutes Stück nähergerückt.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann den Kollegen Vogel sehr gut verstehen, daß er vor dem Ablauf des letzten Parlamentstages hier noch einmal vor allem seiner Fraktion deutlich machen will, was er erwartet, was er erhofft, was er sich erwünscht. Ich war ja sechs Jahre als Oppositionsführer jeweils vor der Sommerpause in der gleichen Lage; ich kann das alles nachempfinden.
Ich weiß auch, Herr Kollege Vogel, obwohl ich dieses Stilelement der Politik nie angewandt habe, daß Sie sich selber an jenen Katastrophengemälden berauschen können, die Sie uns von Zeit zu Zeit anbieten.
Ich habe mich aber nicht deswegen zu Wort gemeldet, denn zu den ganzen Vorwürfen ist wirklich nichts zu sagen.
Es lohnt sich nicht. Wenn Sie nur einmal Ihre Ausführungen anläßlich der Etatberatungen im vergangenen November und Ihre Prognosen zur weltwirtschaftlichen Entwicklung nachläsen, wüßten Sie, wie abwegig alle Ihre Thesen sind.
Nichts, aber auch gar nichts von dem, was Sie prophezeit haben, ist eingetreten.
Das ist es auch schon.
Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie zu zwei Persönlichkeiten hier das Wort genommen haben.
— Lassen Sie uns doch einen Moment innehalten. Glauben Sie wirklich, daß es richtig ist, dann, wenn ich von zwei Persönlichkeiten rede — ich meine natürlich Jacques Delors und Martin Bangemann — dazwischenzurufen „Eine"? Glauben Sie, daß das ein Stil ist, wie man in diesem Haus miteinander umgeht?
Sie mögen ja, wie der eine oder andere, anderer Meinung sein. Diese Art der persönlichen Herabsetzung hat allerdings nichts, aber auch gar nichts mit demokratischem Verständnis im Umgang miteinander zu tun.
Ich bin erfreut, Herr Abgeordneter Vogel, daß Sie hier den Präsidenten der Kommission so loben. Ich habe das immer getan, schon vor drei Jahren. Herr Abgeordneter Vogel, Sie wissen das. Es wäre nur redlich, wenn Sie das bei einer solchen Gelegenheit sagen würden.
— Nein, Entschuldigung! Sie sollten erst einmal zuhören, damit Sie überhaupt fähig sind, zuzustimmen. Das ist der Punkt.
Sie sollten, wenn Sie hier sprechen, die intellektuelle Ehrlichkeit aufbringen,
daran zu erinnern, daß — Sie wissen das ja — vor drei Jahren der Vorschlag, Jacques Delors zum Kommissionspräsidenten zu wählen, gemeinsam vom französischen Staatspräsidenten und von mir gemacht wurde.
Insofern habe ich, wenn wir hier über dieses Thema sprechen, keinen Nachholbedarf. Ich schätze Jacques Delors und bin mit ihm befreundet, und jeder weiß dies.Zum zweiten ist es doch eine absolut selbstverständliche Pflichterfüllung, daß der deutsche Regierungschef, wenn — wie in diesem Falle — eine Amtszeit abläuft und wir vor neuen Personalentscheidungen stehen, das prinzipielle Anrecht auf Besetzung der Position des Präsidenten geltend macht, das sich aus vielerlei Gründen, die Sie auch kennen, ergibt.
Herr Abgeordneter Vogel, nicht mehr und nicht weniger habe ich getan, und Sie wissen das auch. Ich hätte meine Pflicht verletzt, wenn ich in diesem Augenblick nicht gesagt hätte, daß es — nachdem jetzt diese Amtszeit abläuft — einen prinzipiellen Anspruch gibt, den die Kollegen vor drei Jahren bei der Wahl von Jacques Delors auch bestätigt hatten, und wenn ich diesen Anspruch damit nicht erneut deutlich gemacht hätte.
Herr Abgeordneter Vogel, Sie wissen darüber hinaus auch — und Sie wissen es sehr genau — , daß die Bundesrepublik Deutschland den Vorschlag „Delors"
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Bundeskanzler Dr. Kohlunterstützt. Sie wissen das, und dennoch stellen Sie sich hier auf dieses Podium und reden so als wüßten Sie es nicht.
Das ist intellektuell unredlich!
Herr Abgeordneter Vogel, es ist menschlich schäbig,
— ich wiederhole: es ist menschlich schäbig, wie Sie hier über Martin Bangemann gesprochen haben.
Ich respektiere Ihre Meinung, wenn Sie der Auffassung sind, einen anderen — oder aus Ihrer Sicht auch einen besseren Kandidaten — vorschlagen zu sollen. Das akzeptiere ich als Ihre Meinung. Aber es geht nicht an, daß Sie einen Mann, der doch in vielen Jahren gerade in Sachen Europa wirklich mit Leidenschaft die Interessen auch der Bundesrepublik vertreten hat — und das hat Martin Bangemann zu jeder Stunde getan — , hier in einer solchen Weise abzuqualifizieren versuchen.
Gerade im Rückblick auf die deutsche Präsidentschaft der letzten sechs Monate kann ich aus vielerlei persönlicher Beobachtung und Erfahrung bezeugen, daß er in einer großartigen Weise sowohl den Interessen der Bundesrepublik als auch denen der Gemeinschaft gedient hat, und es stünde Ihnen eigentlich gut an, ein Wort des Respekts zu sagen. Statt dessen reden Sie hier in einer Weise von einem Mitglied des Hauses und der Bundesregierung — und die Zwischenrufe waren ja in dieser Richtung noch disqualifizierender — , die ich — ich sage es noch einmal — nur als menschlich schäbig bezeichnen kann.
Herr Abgeordneter Vogel, das ist kein Einzelfall, und dies ist eine Erfahrung, wie sie in keinem anderen europäischen Parlament möglich wäre.
In der französischen Kammer, in der italienischen Kammer, im britischen Unterhaus gibt es genau wie bei uns leidenschaftliche Debatten und unterschiedliche Meinungen — das gehört zum Wesen der Demokratie —, aber ich habe noch nicht ein einzige Mal zur Kenntnis genommen — und Sie auch nicht — , daß ein Vorschlag, den die italienische oder die französische oder die britische Regierung für ein internationales Gremium macht, in einer solchen Weise abqualifiziert wird,
in der Sie dies in den letzten Monaten hier gleich zweimal getan haben, erst bei der Benennung des Generalsekretärs der NATO, Manfred Wörner, und jetzt bei Martin Bangemann.Herr Abgeordneter Vogel, Sie belieben hier häufig über politischen Stil zu reden.
Ich sage Ihnen: Es gab in den über 30 Jahren der Existenz dieses Hauses nur wenige Beispiele dafür,
daß man mit dem politisch Andersdenkenden in einer so erbärmlichen Weise umgegangen ist, wie Sie es tun.
Dies fällt auf Sie zurück!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als der Herr Bundeskanzler eben hier an das Rednerpult trat, habe ich gedacht, er wollte etwas Wesentliches mitteilen, etwa die Tatsache, daß die gestern von Ihnen beschlossene Vorlage zur Steuerreform soeben im Finanzausschuß des Bundesrates gescheitert ist.
Ich dachte, das wollte er mitteilen und damit wollte er sich auseinandersetzen.
Statt dessen haben Sie erkennen lassen, Herr Bundeskanzler, was Ihnen vor der Sommerpause das drängendste Problem zu sein scheint. Das ist Ihre Auswahl; das habe ich hier nicht weiter zu bewerten.Zur Sache erkläre ich folgendes: Die Behauptung, Sie hätten mir mitgeteilt, daß die Bundesregierung die Kandidatur von Jacques Delors unterstütze, ist unzutreffend. Sie erliegen offenbar einmal mehr einer Erinnerungstäuschung.
— Der Vorwurf, daß ich es wüßte, ist unzutreffend. Ich weise es zurück.
Ich habe es hier, Herr Bundeskanzler, aus Ihrem Munde gehört.Im übrigen wäre die ganze Aufregung nicht entstanden, wenn Sie die mir gegebene Zusage, die Frage der Nachfolge von Herrn Narjes zum Gegen-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6025
Dr. Vogelstand eines Gesprächs zwischen uns zu machen, eingehalten hätten.
— Meine Herren, daß Sie seit gestern einen Nachholbedarf an Aufregung haben, kann ich ja gut verstehen.
— Das hätten Sie gerne.Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hätte die ganze Debatte überflüssig machen können, indem er heute morgen um 9.10 Uhr an der Stelle, an der wir es alle erwartet hätten, nämlich in seiner Regierungserklärung, mitgeteilt hätte: Die Regierung unterstützt Jacques Delors. Dann wäre das Thema überhaupt nicht aufgekommen.
Im übrigen muß ich schon sagen: Wenn Sie das, was ich hier über die Besetzung dieser Funktion und über den zweiten deutschen EG-Kommissar gesagt habe, als Herabsetzung und als Beleidigung empfinden,
dann möchte ich wissen, welche Maßstäbe Sie eigentlich an Ihre eigenen Äußerungen über Sozialdemokraten und über andere anlegen. Es muß doch in diesem Hause erlaubt sein, zu sagen, daß man einen anderen Kandidaten für qualifizierter und für geeigneter hält.
Im übrigen habe ich den Anstand von Herrn Bangemann hier doch mit keinem Wort in Zweifel gezogen. Herr Bundeskanzler, wenn Sie auf die anderen Länder verweisen, dann mache ich Sie darauf aufmerksam, daß es in anderen Ländern selbstverständlich ist, daß der Regierungschef und der Chef der Opposition über solche personellen Fragen miteinander reden und sich um eine Vertretung bemühen, die alle Kräfte des Volkes zur Geltung kommen läßt.
Ich habe sonst wenig Anlaß, das zu tun, aber ich empfehle Ihnen: Nehmen Sie sich in diesem Falle ein Beispiel an Frau Thatcher. Selbstverständlich ist der zweite britische EG-Kommissar in der Kommission in Brüssel ein Labour-Mann.Herr Bundeskanzler, Ihre künstliche Aufregung fällt auf Sie selber zurück.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schwörer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr KollegeDr. Vogel, als wir vorhin Ihre Rede gehört haben, haben wir uns gefragt: Welcher Punkt der Tagesordnung ist eigentlich aufgerufen? Ein Kollege meinte, Sie hätten Ihr Manuskript verwechselt.
Ich möchte etwas anderes vermuten: Es fällt Ihnen so furchtbar schwer, diese Bundesregierung zu loben, wenn sie etwas wirklich Hervorragendes vollbracht hat.
Es käme gerade draußen in der Bevölkerung viel besser an als das, was Sie in Ihrer Rede gesagt haben, wenn Sie auch einmal die Leistungen dieser Bundesregierung hervorgehoben hätten.
— Sie haben sie ja gelobt, Herr Brück.Es sind Leistungen, die man wirklich auch als Opposition als großartige Leistungen dieser Bundesregierung bezeichnen muß. Sie wissen ganz genau: Ohne die Entscheidung in Brüssel vom 11./12. Februar 1988 wäre die europäische Einigung zum Erliegen gekommen. Insofern ist wirklich etwas geschehen, was Sie in Ihrer Rede ruhig hätten anerkennen dürfen.Auch das, was in den Monaten danach bis hin zur Nacht von gestern auf heute als weitere Akte dieser Präsidentschaft geschehen ist, hat uns dem „Raum ohne Binnengrenzen" ein gutes Stück nähergebracht. Von den insgesamt noch 260 zu verabschiedenden Rechtsvorschriften sind 34 endgültig verabschiedet worden. Zu weiteren 12 wurden gemeinsame Standpunkte bzw. Orientierungen festgelegt, die zu einer baldigen Verabschiedung führen können. Herr Kollege Irmer hat bereits gesagt: Dies ist die erfolgreichste Präsidentschaft in der EG seit vielen, vielen Jahren.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt nicht alles aufzählen, aber auf einzelne Erfolge hinweisen: den Abbau der technischen Handelshemmnisse, die Dienstleistungsfreiheit, die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, die Vorschriften für unsere Landwirtschaft im Veterinärwesen und beim Pflanzenschutz, die Erhöhung der Gemeinschaftskontingente im Güterfernverkehr und den endgültigen Zeitpunkt der Liberalisierung im Fernverkehr, auch die allgemeine Anerkennung der Hochschuldiplome. Alle diese Erfolge waren nur möglich, weil durch die Einheitliche Europäische Akte, die diese Bundesregierung entscheidend beeinflußt hat, eine Entscheidung auf Mehrheitsbasis möglich wurde. Damit können wir die Hoffnung haben, daß der Zeitplan für die Binnenmarktintegration bis 1992 eingehalten werden kann. Das hätte vor einem Jahr noch niemand für möglich gehalten.Auch der Gipfel von Hannover ist so vorbereitet, daß dort Weichenstellungen in Richtung weiterer Harmonisierung vorgenommen werden können. Sie sind notwendig, um diesen großen Markt von 325 Millio-
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Dr. Schwörernen Bürgerinnen und Bürgern dieser Gemeinschaft herzustellen. Ich nenne die Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs, die Liberalisierung der öffentlichen Beschaffungen, die Fragen des Patent- und Markenrechts, die Steuerharmonisierung, die erst am Anfang steht.Wichtig ist meiner Meinung nach, daß wir uns darüber im klaren sind, daß die Gemeinschaft bei all diesem Zusammenwachsen nach außen offenbleiben muß, daß sie nicht ein geschlossener Verein werden darf. Sie muß sich mit einer offenen Handelspolitik allen Partnern gegenüber bewähren.Herr Vogel — dieser Punkt ist noch wichtig — hat vorhin von der Beschäftigungsoffensive gesprochen. Der wichtigste Bereich für die Beschäftigung von Arbeitnehmern sind die kleinen und mittleren Betriebe. Eine Entschließung des Binnenmarktrats vom Mai dieses Jahres sagt, daß „den kleinen und mittleren Betrieben die Anpassung an die Erfordernisse des Binnenmarkts erleichtert werden muß". Es heißt in der Entschließung, daß sie „nicht durch übermäßige Anforderungen in Rechts- und Verwaltungsvorschriften in ihren Entfaltungsmöglichkeiten behindert werden dürfen".Das ist das Thema der europäischen Bürokratie, die wir fürchten, weil in Brüssel zum Teil andere Vorstellungen über einfache gesetzliche Regelungen als bei uns herrschen.Es ist eine wichtige Aufgabe, gemeinsam dagegen zu wirken, damit keine komplizierten Regelungen zustande kommen, die gerade den kleinen und mittleren Unternehmen die Anpassung an die europäischen Neuregelungen erschweren.Die Schaffung von Arbeitsplätzen, die wir besonders über die kleinen und mittleren Betriebe erwarten, hängt davon ab, in welcher Weise der Gemeinsame Markt wirtschaftliche Dynamik entfaltet. Ich glaube, daß für diese wirtschaftliche Dynamik auch mit den Richtlinien, die unsere Regierung in diesem Jahr zustande gebracht und eingeleitet hat, eine gute Grundlage geschaffen worden ist.Herr Bundeskanzler, die CDU/CSU-Fraktion wünscht Ihnen auf dem Gipfel in Hannover weitere Erfolge. Wir wünschen, daß dieser Gipfel eine erfolgreiche Etappe auf dem Weg zu einem Europa sein möge, dessen Markenzeichen heißen: Arbeit und soziale Sicherheit,
gemeinsame Erhaltung von Natur und der Umwelt, fairer Wettbewerb, Verständigung und möglichst Zusammenarbeit mit allen Völkern in Ost und West.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Abkommen vom 11. April 1984 zur Änderung des Anhangs zur Satzung der Europäischen Schule; das ist Tagesordnungspunkt 20b. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist das Gesetz angenommen.
Wir stimmen jetzt ab über den Antrag der Fraktion der SPD: Europäischer Rat am 27./28. Juni 1988 in Hannover, Drucksache 11/2327 , Tagesordnungspunkt 20 c. Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir stimmen nunmehr über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/2573 — Zusatzpunkt 11 der Tagesordnung — ab. Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 20 d. Mir ist mitgeteilt worden, daß der Berichterstatter das Wort zu einer redaktionellen Berichtigung wünscht. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wieczorek.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es hat sich ein ganz entscheidender Fehler eingeschlichen. Die Numerierung stimmt nicht. Deswegen muß ich das korrigieren.
Die Ziffer I 3 auf Seite 4 der Vorlage muß richtig Ziffer II heißen. Demzufolge muß Ziffer II zu Ziffer III werden. Diese entscheidende Änderung wollte ich Ihnen mitteilen.
Danke sehr, Herr Berichterstatter.Wir kommen nunmehr zu Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 11/2575 mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Berichtigung. Ich sagte schon, es handelt sich um Tagesordnungspunkt 20 d. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen und Enthaltungen ist die Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe nunmehr Punkt 21 der Tagesordnung auf:a) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Erklärung der Bundesregierung über die Ergebnisse des Europäischen Rates und der Gespräche in Washingtonzu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Erklärung der Bundesregierung über die Ergebnisse des Europäischen Rates und der Gespräche in Washingtonzu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Erklärung der Bundesregierung über die Ergebnisse des Europäisches Rates und der Gespräche in Washington— Drucksachen 11/1869, 11/1870, 11/1886, 11/2332 —Berichterstatter:Abgeordnete von Schorlemer LamersDr. WulffFrau Wieczorek-ZeulVoigt
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6027
Vizepräsident Frau RengerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. Lippelt
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDFortsetzung des atomaren Abrüstungsprozesses— Drucksache 11/2438 —Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Auswärtiger Ausschuß VerteidigungsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes 90 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Redner der SPD-Fraktion haben eben die Bundesregierung in Sachen EGPräsidentschaft gelobt. Wir wünschen Ihnen, Herr Außenminister, auch für den Europäischen Rat in Hannover Erfolg.Hinsichtlich der Fortsetzung des Abrüstungsprozesses ist die Lage leider schwieriger, denn die Bundesregierung redet zwar viel von einem Gesamtkonzept, hat dafür aber keine eigenen Vorschläge vorgelegt. Im Bündnis, Herr Außenminister, wird schon gespottet, Bonn sei „comprehensive unklar" . Kollege Rühe hat selbstkritisch von einem „Kult der Mehrdeutigkeit" gesprochen.Neben den Unklarheiten bestehen auch Widersprüche. So beschwört der Minister Shultz etwa die Abschreckungsstrategie als unverzichtbar, während der Herr Kollege Genscher in seiner bemerkenswerten Potsdamer Rede vom 11. Juni 1988 immerhin gesagt hat: „Wenn also ohnehin höchste politische Vernunft und Verantwortung gefordert sind, sollten sie sich nicht darin erschöpfen, Sicherheit allein auf das Prinzip der wechselseitigen Abschreckung zu stützen. "Wir Sozialdemokraten haben gegenüber solchen Unklarheiten und Widersprüchen in der Regierungskoalition mit dem Konzept der gemeinsamen Sicherheit eine Alternative zu der selbstmörderischen Politik und Strategie der gegenseitig gesicherten Vernichtung entwickelt. Wir wollen im gemeinsamen Überlebensinteresse die auf A-Waffen gestützte Abschrekkung durch eine stufenweise zu verwirklichende Ordnung gegenseitiger vereinbarter Sicherheit ersetzen. Der Weg dahin ist weder kurz noch einfach. Ob wir, wie uns Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow gemeinsam versichert haben, unser Ziel, die Welt von Atomwaffen zu befreien, wirklich erreichen können, kann heute niemand mit Gewißheit sagen. Aber auf dem mühsamen Weg zu diesem Ziel ist uns jeder willkommen, der auch nur ein Stück dieses Weges mitzugehen bereit ist.Da es ein sicherheitspolitisches Konzept der Union und der Koalition, mit dem sich eine Auseinandersetzung lohnen würde, nicht oder nicht mehr gibt, möchte ich versuchen, an Hand konkreter Fragen die heutige Gemengelage zwischen Übereinstimmungen, Differenzen und Unklarheiten kritisch zu sortieren und dabei die sicherheitspolitische Linie der SPD noch einmal nachzuzeichnen. Dabei fange ich mit den Übereinstimmungen an.Was immer die Krämpfe und Verrenkungen in der Union hinsichtlich der Null- und erst recht hinsichtlich der doppelten Null-Lösung gewesen sind, heute wird das INF-Abkommen in diesem Hause von einer breiten Mehrheit getragen, und das obwohl es nicht logisch, sondern nur historisch zu erklären ist, daß wir mit dem Abrüstungsprozeß gerade bei Mittelstrekkenraketen begonnen haben.Übereinstimmung besteht auch über die generelle Notwendigkeit der Fortsetzung des Rüstungskontrollund Abrüstungsprozesses, und zwar sowohl nach oben hin zu den strategischen Waffen als auch nach unten bis hin zu den nuklearen Gefechtsfeldwaffen und den konventionellen Waffen und Streitkräften.In den konkreten Fragen, verehrte Kollegen der Union, besteht dann aber schon darum keine Übereinstimmung mehr, weil die Äußerungen aus der Union und auch aus der Koalition voller Unklarheiten und Widersprüche sind. So haben z. B. ebenso kritische wie nebulöse Äußerungen des neuen Verteidigungsministers Zweifel daran aufkommen lassen, ob die gesamte Bundesregierung eine Halbierung des strategischen Arsenals der Vereinigten Staaten im Rahmen eines START-Vertrages wirklich begrüßen würde.
— Lesen Sie die Rede nach, Herr Kollege!Völlig unklar ist die Position der Bundesregierung und der Koalition zu der Frage, wann, wo, in welchem Forum und mit welchem Ziel über nukleare Kurzstreckenraketen, nuklearfähige Flugzeuge und nukleare Gefechtsfeldwaffen verhandelt werden soll. Ich überspringe diese Stufe aber zunächst einmal, um noch bei den Übereinstimmungen zu bleiben. Ich komme darauf zurück.Übereinstimmungen zwischen uns bestehen in nicht unwesentlichem Maße im Bereich der Verhandlungen über ein KRK-Mandat für konventionelle Abrüstung vom Atlantik bis zum Ural. Leider besteht die Gefahr, daß eine Einigung über ein KSZE-Schlußdokument wegen fehlender Übereinstimmung in der Menschenrechtsfrage über den Sommer hinaus verzögert werden wird.Aber auch hinsichtlich des KRK-Mandats selbst harren noch einige Fragen der Lösung. Die wichtigste noch offene Frage ist die Einbeziehung doppelverwendungsfähiger Trägersysteme in die KRK-Verhandlungen. Die SPD-Position ist auch in diesem Punkte klar: Wir halten die Einbeziehung solcher Trägersysteme nicht nur für möglich, wir halten sie für geboten.
Die Haltung der Bundesregierung, Herr Außenminister, ist insoweit nicht klar. Ich billige der Regierung aber mildernde Umstände zu. Denn sie mag Rücksicht auf französische und britische Wünsche nehmen.Was sind das für Wünsche? Es ist der Wunsch, sich möglichst auf nichts einzulassen, was die Einbeziehung französischer und britischer A-Waffen in die Rd-
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6028 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Dr. Ehmke
stungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen näherbringen könnte. Ich sage Ihnen ganz offen: Mit einer solchen Haltung werden erfolgreiche KRK-Verhandlungen nicht geführt werden können. Die doppelverwendungsfähigen Trägersysteme — ich rede hier nicht von den nuklearen Sprengsätzen — werden, wie die Militärs sagen, im verbundenen Gefecht geführt. Wie kann man sie dann aus der Kontrolle der konventionellen Rüstung und der Abrüstung herauslösen wollen? Sie brauchen allerdings nicht als gesonderte Waffenkategorie behandelt zu werden.Ich hoffe, daß sich der Westen bald auf eine praktische Kompromißformel einigt. Ich meine, auch unseren französischen und britischen Freunden muß klar sein: Das westliche Bündnis kann es sich weder politisch noch moralisch leisten, die Erteilung eines KRKMandats aus solchen in der Sache nicht überzeugenden Gründen an seiner eigenen Uneinigkeit scheitern zu lassen.Damit sind wir bei der nächsten Frage: Was soll das Ziel der KRK-Verhandlungen sein? Unsere übereinstimmende Antwort lautet: die Herstellung vereinbarter konventioneller Angriffsunfähigkeit beider Seiten, die vor allem Überraschungsangriffe und raumgreifende Offensiven ausschließt. Während wir Sozialdemokraten, unter anderem zusammen mit der polnischen Seite, inzwischen erste Kriterienkataloge für strukturelle Angriffsunfähigkeit entwickelt haben und diese Arbeit fortsetzen, wird es bei der Regierung hier nun schon wieder ziemlich dünn. Das gilt erst recht für die NATO. Es müssen aber endlich konkrete westliche Vorschläge auf den Tisch, und zwar solche, von denen ihre Autoren nicht im letzten Satz sagen, diese Vorschläge seien zwar sehr gut, aber leider nicht verhandlungsfähig.Die Bundesregierung, die in der NATO großspurig ein Gesamtkonzept einfordert, muß endlich ihre eigenen Vorschläge auf den Tisch legen.
Solange sie das nicht tut, ist auch die Kritik an dem von Generalsekretär Gorbatschow und Außenminister Schewardnadse vorgelegten Dreistufenplan für konventionelle Abrüstung nicht mehr als Politikersatz.
Hapert es schon an konkreten Vorschlägen für die KRK-Verhandlungen — die den konventionellen Teil betreffen —, so besteht über die Frage, wo, in welcher Form und mit welchem Ziel über nukleare Bomben und Granaten der doppelverwendungsfähigen Trägersysteme sowie über nukleare Kurzstreckenwaffen verhandelt werden soll, in der Union und Koalition ein geradezu wüstes Durcheinander und bei der Regierung völlige Sendepause. Dabei haben doch der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister, die Bundesregierung, die Union und die FDP nach Abschluß des INF-Abkommens mit großer Emotion und noch größerer Lautstärke verkündet, daß die Verhandlungen über diese Waffen für uns Deutsche existentiell und darum vorrangig seien.Ich sehe aber in dem Spruch: Je kürzer die Reichweite, um so toter die Deutschen, den Ausdruck einer bedauerlichen deutschen Larmoyanz. Denn die Hunderttausende bei uns stationierten Amerikaner, Engländer und Franzosen mit ihren Familien, die Holländer und Belgier sind genauso gefährdet. Aber ich stimme Ihnen zu: Diese Frage ist für uns von großer Bedeutung. Um so bedenklicher ist das Schweigen der Bundesregierung und das Durcheinander in Ihren Reihen.Es ist auch beunruhigend, daß das NATO-Treffen in Madrid vor einigen Wochen in allen diesen Fragen nicht einen Schritt weitergekommen ist. Statt dessen haben sich die Vereinigten Staaten, Frankreich und England über den Luftverkehr von und nach West-Berlin gestritten. Ich sage Ihnen ganz offen, daß ich mich dabei des Eindrucks nicht erwehren konnte, daß man Berlin-Status sagt und das Geschäft meint.
Glaubt man wirklich, das Bündnis so voranbringen zu können, und glaubt die Bundesregierung, das Bündnis mit weiterem Aussitzen nach vorn bewegen zu können?Lassen Sie mich einmal für die Bundesregierung laut nachdenken. Vielleicht hilft es ja etwas. Herr Außenminister, es mag klug sein, zunächst das KRKMandat über die Bühne zu bringen, bevor man die Frage der Verhandlungen über nukleare Kurzstrekken- und Gefechtsfeldwaffen zur Entscheidung stellt. Ich sehe das. Es mag klug sein. Andererseits darf der Beginn solcher Verhandlungen aber nicht zu lange hinausgeschoben werden, da sie im Ergebnis — wegen des Zusammenhangs dieser Waffen mit den konventionellen Waffen als Elemente militärischer Optionen — mit dem Ergebnis der KRK-Verhandlungen verzahnt werden müssen. Parallelverhandlungen über die nuklearen Raketen und Sprengsätze müssen also bald beginnen.Dabei ist bereits deutlich, daß es kaum eine Einigung dahin geben wird, auch diese Frage im Forum der 23 blockgebundenen KSZE-Staaten zu verhandeln. Aber, Herr Außenminister, welches Forum hält denn die Bundesregierung für geboten und vernünftig? Bilaterale Verhandlungen der Großmächte? Sind diese zur baldigen Aufnahme solcher Verhandlungen bereit? Oder ein Forum der vier Atommächte unter den 23 blockgebundenen KSZE-Staaten?Wird die Bundesregierung die französische und die britische Regierung bewegen können, ihre nuklearen Waffen dieser Kategorie in die Verhandlungen einzubringen, noch bevor die Supermächte den STARTVertrag über eine Halbierung ihrer strategischen Arsenale abgeschlossen haben? Oder will die Bundesregierung etwa so lange warten, trotz der existentiellen Bedrohung unseres Volkes durch diese Waffen? Lange kann sich die Bundesregierung nicht mehr um eine Antwort drücken. Sie ist sie unserem Volk wie unseren Verbündeten schuldig. Und lange kann das Durcheinander in Union und Koalition, Herr Dregger, nicht weitergehen, wenn deutsche Interessen nicht Schaden leiden sollen.Was soll das Ziel dieser Verhandlungen sein? Unsere Antwort ist klar: die notfalls stufenweise Beseitigung dieser nuklearen Waffen. — Mit einer Denuklearisierung Europas hat das übrigens angesichts der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6029
Dr. Ehmke
nach wie vor in großer Zahl vorhandenen see-, land-und luftgestützten strategischen Systeme beider Seiten leider noch sehr wenig zu tun. Aber in der Koalition gibt es über das Ziel dieser Verhandlungen mehr Meinungen, als die FDP Mitglieder hat.Zunächst einmal scheinen Sie nuklearfähige Flugzeuge, ja, Flugzeuge überhaupt, am liebsten ganz aus den Verhandlungen heraushalten zu wollen, weil insoweit nämlich in wichtigen Bereichen eine Überlegenheit der NATO besteht. Welch kleinkarierte Schlaumeierei. Wer so denkt, wird überhaupt keine Asymmetrien in den Militärpotentialen beseitigen können.
Aufgeschlosseneres hören wir dagegen jedenfalls von den Kollegen Dregger und Rühe zu den nuklearen Gefechtsfeldwaffen.Sie könnten entschieden reduziert werden, in einem gewissen Umfang sogar einseitig, und nach Herstellung konventioneller Angriffsunfähigkeit des Warschauer Paktes könnten sie vielleicht sogar ganz verschwinden. Da sage ich: Bravo, Herr Dregger. — Nur, dann sollten Sie auch für die Einstellung der in Montebello beschlossenen Modernisierung dieser Waffen eintreten. Vor allen Dingen bitten wir Sie dann: Holen Sie sich doch für diese Meinung eine Mehrheit in der Union, in der Koalition, in der Regierung. Unserer Unterstützung können Sie dabei gewiß sein.Bleiben die nuklearen Kurzstreckenraketen. Hier ist der Unionsnebel besonders dicht; denn einerseits ist die sowjetische Überlegenheit in diesem Bereich besonders groß, was Regierung und Koalition ja noch vor wenigen Monaten laut in die Welt hinausgeschrieen haben; andererseits haben aber dieselbe Bundesregierung und dieselbe Koalition nicht auf schnelle Verhandlungen über den Abbau dieser sowjetischen Überlegenheit gedrängt. Als Ziel lehnen Sie, soweit ich das sehe, ziemlich übereinstimmend, eine dritte Null-Lösung ab und fordern statt dessen die Einführung von Obergrenzen. Ob Obergrenzen auf das im Westen bestehende Niveau der 88 Lance-Trägersysteme oder auf höhere Obergrenzen,
was Nach- und Aufrüstung bedeuten würde, ist schon wieder unklar. Einige von Ihnen scheinen bereit zu sein, bei Schaffung konventioneller Stabilität nicht nur auf nukleare Gefechtsfeldwaffen, sondern zusätzlich auf die Lance-Raketen zu verzichten, wenn dafür neue Raketen größerer Reichweite, am liebsten — ein kleiner Streit mit den Amerikanern — bis möglichst dicht unter die 500-km-Grenze, eingeführt würden. Sie nennen das Modernisierung. Aber das ist eine Täuschung der Öffentlichkeit; denn in Wirklichkeit würde es sich um eine Nach-, ja, um eine Aufrüstung handeln.Es ist eine Tatsache, leider, daß die amerikanische, die britische und unsere eigene Regierung Pläne zur Einführung solcher neuen nuklearen Raketen und flugzeuggestützten Marschflugkörper verfolgen und diese Pläne bereits ziemlich weit fortgeschritten sind.Der amerikanische Verteidigungsminister Carlucci sagt das auch ganz offen, während die Bundesregierung unsere Bürger einmal mehr hinters Licht zu führen versucht.Wie verräterisch war doch insoweit die Debatte auf dem CDU-Parteitag darüber, ob im sogenannten Programmsatz „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" das Wort „immer" nicht gestrichen werden müßte. Ich sage dazu, wer das macht, für den wird das Wort gelten: Wer Sturm sät, wird Sturm ernten.Wir Sozialdemokraten würden eine Vereinbarung von Obergrenzen, die keine Zusatzrüstung bedeuten, als Zwischenschritt auf einem Weg zur Null-Lösung ansehen. Eine Null-Lösung selbst, Herr Kollege Dregger, hätte aber demgegenüber — ich bitte, das noch einmal zu überlegen; wir haben das ja bei den Mittelstreckenraketen gesehen — große Vorteile. Eine Null-Lösung würde anders als eine Einigung auf Obergrenzen einen Rüstungsqualitätswettlauf ausschließen, würde weit geringere Verifikationsprobleme aufwerfen und würde als weltweite Lösung auch für andere Weltregionen von Bedeutung sein. Ich kann Ihnen das aus frischen Gesprächen sagen. Unsere chinesischen Freunde z. B. würden es sehr begrüßen, wenn wir auch in diesem Bereich zu einer solchen Lösung kämen.Eine Modernisierung genannte Nach- und Aufrüstung — das möchte ich Ihnen hier noch einmal, bevor wir in die Ferien gehen und nach den Ferien zur Entscheidung kommen, völlig klarmachen — kommt für uns Sozialdemokraten nicht in Betracht. Sie würde nicht nur einen neuen Rüstungswettbewerb im Bereich neuer nuklearer Raketen und flugzeuggestützter Abstandswaffen auslösen, sondern zusätzlich einen Aufrüstungswettbewerb im Bereich von Antiraketenraketen auslösen. Die Hardthöhe hat ja schon unter Herrn Wörner fleißig an EVI- und ATBM-Systemen gearbeitet. Dazu zitiere ich noch einmal — und ich bitte Sie, gut zuzuhören — , was Außenminister Genscher kürzlich in Potsdam gesagt hat. Ich zitiere Genscher:Abrüstungsschritte müssen mehr Sicherheit schaffen. Der Ersatz von Abrüstung in einem Bereich durch neue Rüstung an anderer Stelle schafft neue Instabilität und gefährdet damit die Abrüstung.Wie wahr, Herr Außenminister!Als Sozialdemokrat habe ich dem nur hinzuzufügen: Verehrte Kollegen von der Union, wir streben — und ich sage das von dieser Stelle nicht zum erstenmal — aus staatspolitischen wie aus friedenspolitischen Gründen in diesem Hause eine möglichst breite außen- und sicherheitspolitische Übereinstimmung an. Ein bißchen hat es da auch schon Fortschritte gegeben. Wenn Sie uns aber in dieser Frage der Nachrüstung durch Unvernunft oder Denken in abgestandenen Klischees dazu zwingen, werden wir auch vor einer erneuten harten Auseinandersetzung nicht zurückscheuen. Daher möchte ich Sie bitten, in der Muße der Ferien all dies noch einmal zu bedenken.Schönen Dank für Ihre Geduld.
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6030 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Das Wort hat der Abgeordnete Lamers.
Frau Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ehmke, das Ziel eines breitestmöglichen Konsenses in der Sicherheitspolitik ist auch unser Ziel. Wir müssen dann aber Klarheit über die Positionen schaffen. Sie haben versucht, Klarheit über unsere zu schaffen. Ich will ein wenig auf die Widersprüche in Ihren eigenen Reihen eingehen.Wir beraten heute zwar zwei Anträge der SPD, die, obwohl nur gut drei Monate auseinanderliegend, im Kern demselben Thema gewidmet sind, eben den atomaren Kurzstreckensystemen, ihrer Modernisierung und ihrer Behandlung im Abrüstungsprozeß. In der Sachlage hat sich in diesen dreieinhalb Monaten selbstverständlich überhaupt nichts geändert. Die Erklärung für die rasche Aufeinanderfolge dieser Anträge muß also woanders gesucht werden. Sie liegt ganz offensichtlich in Ihren eigenen Reihen, in dem Streit, den Sie darüber führen.In der Debatte über das Ratifizierungsgesetz zum INF-Begleitabkommen erklärte der Kollege Voigt in diesem Haus, daß die SPD die Null-Lösung für die nuklearen Kurzstreckensysteme nunmehr nicht mehr von der Bedingung abhängig mache, daß zuvor konventionelle Stabilität in Europa erreicht sei.
Diese Behauptung ist dem Text des Antrages übrigens keineswegs klar zu entnehmen. Man könnte ihn auch umgekehrt interpretieren.Dieser Text vom 24. Februar ist ganz offensichtlich das Ergebnis eines internen Kompromisses in Ihren Reihen zwischen dem Kollegen Voigt und seinen Anhängern und wohl dem Kollegen Bahr, denn der Kollege Bahr hat oftmals — sehr oft, ungezählte Male — erklärt, etwa in einem ppp-Interview vom 10. Juli 1987 — Zitat — :Die Chance ist eröffnet worden, Sicherheit auch ohne Atomwaffen auf unserem Boden zu erreichen, wenn, also nicht bevor, konventionelle Stabilität erreicht ist.Und noch am 8. Juni dieses Jahres, meine verehrten Kollegen von der SPD, hat er in einem Interview im Bonner „General-Anzeiger" gesagt, daß „bei einer konventionellen Stabilität alle Nuklearwaffen verschwinden sollen". Und der Kollege Gerster hat in der Debatte am 9. März dieses Jahres unzweideutig formuliert — Zitat — : „Wenn es konventionelle Stabilität in Europa gibt — das ist wohlgemerkt die Voraussetzung —, dann ist das längerfristige Ziel ..." die Entfernung aller nuklearen Kurzstreckensysteme.
— Herr Kollege Ehmke, das sind klare und unzweideutige Aussagen, die in völligem Widerspruch zu dem stehen, was jetzt gesagt worden ist.
— Darauf komme ich noch.Der Unterschied hat natürlich gravierende Folgen, denn die Position der Kollegen Bahr und Gerster schließt selbstverständlich die Bereitschaft zur Modernisierung ein, solange es konventionelle Stabilität nicht gibt. Sonst gäbe es eine einseitige Null-Lösung.
Diese Konsequenz hat der Kollege Bahr nie zu formulieren gewagt, aber sie war ihm und wohl auch der Fraktion der SPD bewußt. Da bei Ihnen niemand mehr die Kraft zu einer solchen logischen Entscheidung aufbringt, haben sich die Anhänger eines bedingungslosen und einseitigen Verzichts innerhalb der SPD offensichtlich durchgesetzt.Jetzt lautet die Formulierung, daß eine Modernisierung, „die die strategische Situation verändert" , abgelehnt wird. Das ist nichts anderes als eine Verbrämung des Rückzuges derjenigen, die bislang die soeben geschilderte Position vertreten haben. Es macht aber übrigens schlichtweg keinen Sinn, so zu argumentieren, weil jedermann weiß — das wissen Sie sehr gut — , daß jede Modernisierung, Umrüstung, Neustrukturierung die strategische Situation tangiert. Darüber brauchen wir doch wohl nicht zu streiten. Aber sie kann sie doch selbstverständlich auch verbessern, wie wir das durch den ersten Beschluß von Montebello schon getan haben. Wir haben 2 400 Sprengköpfe abgezogen. Meine verehrten Kollegen, gerade das wird auch das Kriterium für unsere Entscheidung sein, die wir zum gegebenen Zeitpunkt und im Rahmen eines Gesamtkonzeptes treffen werden.Im übrigen wirft Ihre Formulierung doch die Frage auf, ob die SPD einer Modernisierung, welche die strategische Lage nicht verändert, zustimmen würde und wie sie sich dann eine solche vorstellt. Solange Sie sich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, dazu nicht äußern, werde ich behaupten, daß Sie zwar für eine Modernisierung eintreten, jedoch gegen eine solche, die die strategische Lage verbessert.
— Sie werden dann dazu Stellung nehmen können.Man könnte viele weitere Belege finden, die beweisen, daß die Haltung der SPD widersprüchlich ist und immer stärker — Herr Kollege Ehmke, ich muß das trotz Ihres sachlichen Vortrags hier so sagen — zu einem billigen Abrüstungspopulismus tendiert. Damit wird die Opposition ihrer sicherheitspolitischen Verantwortung nicht gerecht, denn ihre Haltung hat fatale Folgen in Ost wie West. Die SPD unterstellt der Sowjetunion doch Altruismus, denn was eigentlich soll die Sowjetunion veranlassen, ein gewaltiges Arsenal an nuklearen Kurzstreckensystemen völlig preiszugeben, wenn der Westen ohnehin auf seine eigenen Systeme verzichtet?
Meine verehrten Kollegen, ich traue Michail Gorbatschow wirklich viel zu, aber nicht die Überwindung allgemein menschlicher Verhaltensweisen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6031
LamersDie Wirkung der Haltung der SPD im Westen ist nicht weniger fatal. Jedermann weiß, daß bei der Entwicklung eines Gesamtkonzepts für Sicherheit und Abrüstung im Zusammenhang mit der Modernisierungsfrage gewisse Schwierigkeiten aufgetreten sind. Der Eindruck, den Sie, die SPD, leider im trauten Bündnis mit den GRÜNEN von der Situation in unserem Lande bei unseren Alliierten erzeugen, ist nicht gerade dazu angetan, diese Schwierigkeiten überwinden zu helfen — das ist sehr zurückhaltend ausgedrückt — , im Gegenteil.
Ich sage Ihnen hier, Herr Kollege Ehmke, ohne Zögern: Sie irren, wenn Sie glauben, Sie könnten mit Hilfe des Themas des Kampfes gegen die Modernisierung die Bundestagswahl 1990 gewinnen.
Im Gegenteil, Sie werden denselben Fehler machen, den Sie bereits einige Male gemacht haben, nämlich mit lechzender Zunge den GRÜNEN auf einem Felde hinterherlaufen, wo Sie nie so schnell und radikal sein können, wie die Kollegen von den GRÜNEN das sind.
Die Wähler werden nicht bereit sein, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dem Bündnis von pazifistischen GRÜNEN und abrüstungspolitischen Sozialdemokraten anzuvertrauen.
Doch ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, Herr Kollege Ehmke, daß es möglich sein wird, einen rationalen Dialog über die Sicherheitspolitik miteinander zu führen und ein Mindestmaß an Grundkonsens zu erzielen. Der Bundesaußenminister hat am 20. Juni 1988 noch einmal gesagt, was auch unsere Überzeugung ist, nämlich: „Das konventionelle Ungleichgewicht in Europa ist das Kernproblem der europäischen Sicherheit. " Darin stimmen wir sicherlich überein. Ich meine, wenn wir darin übereinstimmten, dann müßten wir auch in den Zielen — das haben Sie eben auch gesagt — der KRK-Verhandlungen übereinstimmen, nämlich konventionelle Stabilität auf der Basis eines Gleichgewichts in Europa.Der Weg dahin ist das Gesamtkonzept des Westens.
Denn — das ist das Entscheidende, Herr Kollege Ehmke — ohne Einigkeit im Westen werden wir überhaupt nichts erreichen. Ein Gesamtkonzept ohne Modernisierung wird es nicht geben, ebensowenig wie es eine Modernisierung ohne Gesamtkonzept gibt. Vordieser klaren Situation versuchen Sie sich fortwährend zu drücken.
Wenn es eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages — aber doch gewiß noch nicht übermorgen — konventionelle Stabilität geben sollte, wenn wir wirklich das Prinzip der gleichen Sicherheit nicht nur verbal anerkannt, sondern in den Streitkräftestrukturen auf beiden Seiten zum Ausdruck gebracht haben sollten, dann, meine ich, müßte doch eine Einigung auch über die Forderung des Bundeskanzlers möglich sein, die er am 4. Juni des vergangenen Jahres hier erhoben hat. Er hat damals gesagt: die Rolle der atomaren Waffen auf das quantitativ und qualitativ absolut notwendige Mindestmaß zu beschränken.Ich meine, darüber müßte eine Verständigung möglich sein, Herr Kollege Ehmke, weil Sie in Ihrer Rede am 23. Mai d. J. in Peking eigentlich genau dasselbe gesagt haben, indem Sie von einer Minimumabschreckung gesprochen haben. Wenn es in Europa wirklich konventionelle Stabilität gäbe, dann, meine ich, könnten wir in der Tat — wir wären sicher dazu bereit — über vieles miteinander reden. Ich glaube, daß dann eine Verständigung über diese Strategie möglich sein sollte.
Sie haben zum Ausdruck gebracht, wie Sie es eben auch hier getan haben, Herr Kollege Ehmke, daß Sie an die Verwirklichung einer nuklearfreien Welt so schnell nicht glauben, und haben dann gesagt: ein sehr ehrgeiziges Zwischenziel. Wir unterscheiden uns, was das „zwischen" angeht. Das ist fast ein philosophischer Streit. Wir sollten versuchen, eine Situation zu erreichen, wo wir überhaupt über das Zwischenziel einmal ernsthaft miteinander reden können. Dieses Ziel ist doch konventionelle Stabilität, ist die Verwirklichung des Prinzips gleicher Sicherheit in Europa.
Herr Kollege Lamers, können Sie nun verstehen, daß wir nach monatelangem Geschwätz über das Gesamtkonzept von Ihnen einmal konkret hören wollen, was Sie wollen?
Herr Kollege Ehmke, auch dazu will ich etwas sagen. Sie haben es soeben ange-
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6032 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Lamersmahnt. Natürlich mahnen auch wir das an; der Kollege Rühe hat es getan.
Mahnen Sie das bei sich selber an!
Sie wissen doch sehr gut, daß die Bundesregierung als einzige innerhalb des Bündnisses ein sehr umfassendes Konzept zur konventionellen Stabilität in Europa entwickelt hat.
Wenn es da noch Schwierigkeiten gibt, dann liegt es nicht an uns. Was ich Ihnen vorwerfe, ist, daß Sie diese Schwierigkeiten, die wir — zugegebenermaßen — haben, nicht erleichtern helfen, sondern noch weiter erschweren, Herr Kollege Ehmke.
Ich meine, anstatt über das zu reden, was wir tun, wenn eines fernen Tages das Ziel konventionelle Stabilität erreicht ist, sollten wir uns mehr darüber unterhalten, wie wir denn eigentlich dahin kommen. Das ist die entscheidende Frage. Sie helfen uns nicht nur nicht dabei, sondern Sie machen es uns schwer. Seien Sie aber sicher: Wir lassen uns von unserem Weg nicht abbringen. Wir werden die Pause der kommenden Wochen dazu benutzen, um darüber noch weiter nachzudenken, vor allen Dingen darüber, Herr Kollege Ehmke, wie wir Sie von Ihrem Weg abbringen könnten.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beer.
Sehr geehrter Herr Minister! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Freunde und Freundinnen! Wir GRÜNEN möchten diese Debatte kurz vor der Sommerpause zu einer Zwischenbilanz über den Stand der verschiedenen Rüstungskontrollbemühungen und ihre Bedeutung benutzen.Ich möchte mit den Atomwaffen beginnen. Der INFVertrag hat ein wichtiges Einzelziel der Friedensbewegung zur Wirklichkeit gemacht: die Beseitigung aller amerikanischen und sowjetischen landgestützten Mittelstreckenraketen. Der Vertrag ist nun in Kraft. Im Laufe der nächsten drei Jahre werden die Pershing- und Cruise-Missile-Raketen abgezogen und zerstört, als allerletzte dann auch die Pershingla-Raketen, die der Bundesluftwaffe gehören.Wir fordern die Bundesregierung auf, mit der Beseitigung der Raketen auch ihre Stützpunkte zu beseitigen und die Gelände friedlichen Zwecken zuzuführen. Schließen Sie die Militärfestungen in Mutlangen, in Waldheide und in Hasselbach!Der INF-Vertrag ist inzwischen oft gewürdigt worden. Das militärische Ergebnis — die Beseitigung zweier moderner Waffensysteme, gegen die wir besonders wegen ihrer Erstschlagfähigkeit heftig gekämpft haben — wird nicht lange fortwirken. Es wird durch andere Aufrüstungsmaßnahmen rasch überholt werden — ich komme darauf zurück.Bleibend wichtig ist das politische Ergebnis. Die Supermächte haben nach etwa zehn Jahren erstmalig wieder ein Rüstungskontrollabkommen geschlossen. Dieses Abkommen sieht Verifikationsbestimmungen vor, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. An diesen Durchbruch können weitere Verträge anknüpfen. Das Ost-West-Verhältnis entspannt und verbessert sich in vieler Hinsicht. Auch davon ist der Vertrag ein Ausdruck und auch selber ein Beitrag dazu. Der INF-Vertrag ist von immenser, vielleicht von historischer Bedeutung.Ein weiteres wichtiges politisches Ergebnis war eine Veränderung im Verhältnis der Bundesrepublik zu den USA. Die deutschen Verteidigungspolitiker alter Schule aus allen Parteien haben die PershingII-Raketen mehr gewollt als die Amerikaner selbst, die sie gewollt haben, weil man mit ihnen von unserem Boden aus direkt den Boden der Sowjetunion treffen kann. Diese Leute, die nach Reykjavik das helle Entsetzen überkam, waren weder innen- noch außenpolitisch in der Lage, sich durchzusetzen. Gott sei Dank! Sie konnten die Pershing-II-Raketen nicht halten und fühlten sich von den USA im Stich gelassen.Aus dieser Erschütterung heraus begannen sie plötzlich, Fragen zu stellen, die sie besser schon viel früher hätten stellen sollen, z. B. diese Fragen: Wozu sollen eigentlich die knapp 1 000 Artilleriegranaten dienen, die in der Bundesrepublik lagern? Wozu brauchen wir sie? Die Geschütze reichen 16 km weit; Sie wissen das. Was sind das eigentlich für Städte und Dörfer, die deutsche, amerikanische, britische Artillerie auslöscht, wenn sie diese Granaten abschießt? Welches Beispiel wurde uns im amerikanischen Armeehandbuch vorgeführt?Richtig: Dörfer in der Fulda-Senke in der Bundesrepublik wären vernichtet worden. Das, so fragt sich der deutsche Konservative, soll Abschreckung sein, daß die Waffen, die die Russen töten, zuerst abgerüstet werden und die anderen, die Deutsche töten, bleiben? Herr Dregger sagt es so: Je kürzer die Reichweite, desto toter die Deutschen.Diese Überlegungen sind richtig, sicherlich, und sie sind zugleich zynisch und letztlich rassistisch. Es ist richtig, zu erkennen, daß Atomwaffen, die nur der Zerstörung deutscher Städte und Dörfer dienen, abgebaut werden müssen. Es ist zynisch und zuletzt rassistisch, dann trotzdem Atomwaffen, die nur zur Zerstörung tschechischer, polnischer oder auch russischer Städte und Dörfer dienen können, weiterhin haben zu wollen.Sicherheit vor atomarer Zerstörung gibt es nur durch Beseitigung aller Atomwaffen, Herr Kollege Lamers. Jede einzelne Abrüstungsmaßnahme muß ein Schritt zu diesem großen Ziel sein.Bei den strategischen Waffen besteht durch die START-Verhandlungen die Hoffnung, daß diese in ihrer Zahl verringert und auf Dauer zahlenmäßig, nämlich auf 6 000 Atomsprengköpfe auf jeder Seite, begrenzt werden. Der Schritt wäre politisch ganz bedeutend und militärisch ziemlich irrelevant. Mit 6 000 Atomsprengköpfen kann jede Seite genau dasselbe tun wie mit 10 000 oder 12 000, nämlich die Erde vollständig unbewohnbar machen. Dieses Abkommen muß ein Anfang sein in einer Spirale der Abrüstung,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6033
Frau Beerdann — aber nur dann! — taugte es etwas. Davon sind wir leider noch sehr weit entfernt.Während bei den strategischen Waffen wenigstens verhandelt wird, lehnt die NATO bei den Atomwaffen mit kürzerer Reichweite selbst Verhandlungen konsequent ab. Hier, bei Reichweiten unter 500 km, will die NATO freie Hand für eigene atomare Wiederaufrüstung oder „Modernisierung" behalten, wie es im amtlichen Sprachgebrauch heißt.Die nukleare Planungsgruppe hat sich Anfang Mai in Brüssel folgendermaßen veständigt: Statt der Pershing und Cruise Missile, die nun auf Grund des INFVertrages verschwinden werden, bekommen wir mindestens drei neue Arten von Atomwaffen:Der Abstandsflugkörper ist eine Rakete wie die Pershing, nur mit dem Unterschied, daß sie nicht vom Boden, sondern vom Flugzeug aus gestartet wird, mit einer Reichweite von ca. 560 km. Damit wird der Mittelstreckenvertrag zwar nicht gebrochen, weil der ja nur bodengestützte Waffen mit über 500 km Reichweite verbietet. Aber der Vertrag wird ganz offen und plump umgangen: Man nimmt die Rakete einfach an Bord eines Flugzeuges.Als zweites möchte ich kurz die neue atomare Artillerie ansprechen. Die etwa 1 000 Artilleriegranaten, die durch den Einbau eines Moduls zu Neutronenwaffen umgewandelt werden können, werden bereits hierher geschafft. Das Unbehagen einiger deutscher Politiker gegen diese Waffen hat bisher leider kein Ergebnis gezeigt. Wir GRÜNEN begrüßen ausdrücklich den Vorstoß der Bundesregierung auf der letzten nuklearen Planungsgruppe. Die Bundesregierung hat dort einen einseitigen Verzicht der NATO auf die nukleare Artillerie in Europa vorgeschlagen und damit die Unterstützung mindestens Dänemarks, Norwegens und Italiens gefunden. Um so trauriger ist es, daß die Bundesregierung dies bisher nicht in der Öffentlichkeit sagt. Wir vermuten als Grund für dieses Verschweigen, daß sie einem anderen Atomwaffensystem bereits zugestimmt hat.Als dritten Punkt möchte ich sehr kurz die neuen nuklearen Kurzstreckenraketen, die Lance-Raketen, ansprechen, die nachher mit dem taktischen Armeeflugkörper der USA eingeführt werden und unter dem Kürzel ATAC MS laufen. Offen bleibt die Frage, wann mit der Entscheidung über die Stationierung der ATAC MS in der Bundesrepublik an die Öffentlichkeit gegangen wird, offen nur deshalb, weil die USA gerne die Wahl des neuen Präsidenten abwarten möchten und es die Bundesregierung am liebsten hätte, wenn man dann doch mit der Entscheidung bis zur Bundestagswahl wartet, um vorher nicht wieder durch diese politischen Konflikte über die weitere Aufrüstung ihre Mehrheit zu gefährden, die aber inzwischen sowieso gefährdet ist.Eine besonders schaurige Ironie wäre es unseres Erachtens, wenn diese neuen Raketen dann mit den wiederverwendeten Sprengköpfen der Pershing bestückt werden würden. Denn um's noch einmal zu sagen: Kein einziger westlicher Atomsprengkopf, der jetzt im Rahmen des INF-Vertrages abgebaut wird, wird vernichtet. Nicht diese 3 % werden abgebaut, um tatsächlich zerstört zu werden, sondern es besteht dieMöglichkeit, sie auf den neuen, soeben genannten Lenksystemen und Raketen wiederzuverwenden, und sie bleiben hier.Die Zeit, die ich habe, reicht leider nicht aus, um auf die konventionelle Abrüstung, die verschiedenen Verhandlungsbemühungen einzugehen. Einen wichtigen Einzelpunkt möchte ich hier allerdings nennen: Der Westen will in Wien nur über Landstreitkräfte, keineswegs aber über Luftstreitkräfte verhandeln. Nun haben Kampfflugzeuge ganz offensichtlich mit Kräfteverhältnissen und auch mit militärischen Angriffsstrategien zu tun und spielen auch bei einem Landkrieg eine entscheidende Rolle. Und der Westen weiß, daß der Warschauer Vertrag den Westen genau in diesem Bereich der Luftstreitkräfte im Vorteil sieht. Also will der Westen darüber nicht verhandeln; denn über eigene Vorteile — oder das, was der Gegner dafür hält — verhandelt man nicht. Dies ist Ihre Position, Herr Lamers. Wenn Sie so weitermachen, kommen Sie nie zu Ihrem Gesamtkonzept. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Position zu ändern und sich für die Einbeziehung der Luftstreitkräfte einzusetzen.Manches an der jetzigen Entwicklung erinnert an die erste Phase der Entspannungspolitik in den frühen 70er Jahren. Damals schon gab es umfassende Rüstungskontrollgespräche, es gab vielversprechende Abmachungen über die strategischen Atomwaffen, die damals schon zur Vernichtung von einigen hundert Raketen geführt haben. Man verbot fast vollständig die Raketenabwehrsysteme und ersparte beiden Supermächten damit ein Wettrüsten in diesem Feld — der ABM-Vertrag, der nun wiederum durch die USA und deren SDI-Projekt gefährdet wird.Die europäischen Länder fanden erstmals in der KSZE an den Verhandlungstisch. Es gab einen Vertrag, der eine ganze Kategorie von furchtbaren Massenvernichtungswaffen von der Erde verbannte — die biologischen Waffen wurden verboten. Trotzdem wurde zugleich weiter aufgerüstet. Die sozialliberale Bundesregierung der Entspannungszeit hat uns die heutige hochmoderne Bundeswehr und die riesigen Arsenale von Atomwaffen aller Art beschert, die selbst der NATO 1983 zu groß und unhandlich wurden. Nach der Entspannung kam das nächste Bündel regionaler Krisen und wirtschaftlicher Spannnungen, und die wenigen Errungenschaften der Entspannungszeit schienen wie weggefegt. Geht die jetzige Entspannungszeit auf dasselbe Schicksal zu?Ich denke, es gibt zwei große Unterschiede: Der eine ist die Gorbatschow-Umgestaltung in der Sowjetunion, wenn sie so weitergeführt wird.
Ihre Redezeit ist schon überschritten, Frau Kollegin.
Ich bin gleich zu Ende. — Der andere Unterschied ist die Friedensbewegung. Beide werden dafür sorgen, daß Ihre Pläne der weiteren nuklearen Um- und Aufrüstung, die Sie bisher noch nicht offen zugeben, verhindert werden. Diese Kraft, die Sie ständig totsagen, die angeblich nicht existierende Friedensbewegung, wird diese Debatte spätestens Anfang nächsten Jahres erbittert führen, weil Sie uns konkrete Pläne benennen müssen. Wir sehen
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6034 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Frau BeerIhre Pläne noch nicht verwirklicht, sondern sehen Möglichkeiten, sie zu verhindert.
Ihre Redezeit ist zu Ende, Frau Kollegin.
Wenn Sie, Herr Lamers, so weitermachen ...
Frau Kollegin, nein, das geht nicht. Ich bitte sehr um Entschuldigung, aber das geht nicht!
... und Schiffe in den Golf schicken wollen
und den Süd-Nord-Konflikt weitertreiben .. .
Bitte, verlassen Sie jetzt das Podium!
..., dann werden diese Debatten auch noch weitergehen und darüber hinaus vor allem sehr ernst.
Ich bin ein freundlicher Mensch, aber ich kann nicht vertragen, daß jemand, der schon zwei Minuten über die Zeit geredet hat, dies dann immer noch ausnutzt. Also bitte!
Jetzt hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen, Herr Genscher, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Abrüstungsprozeß zwischen West und Ost findet unter grundlegend veränderten Voraussetzungen statt. Die Aussichten, durch Rüstungskontrolle und Abrüstung mehr Sicherheit herstellen zu können, haben sich durch die Entwicklung der letzten Zeit erheblich verbessert; die Bundesregierung hat wesentlich dazu beigetragen. Herr Kollege Ehmke, es gibt überhaupt kein Element der westlichen Abrüstungsstrategie und der westlichen Abrüstungskonzepte, das nicht maßgeblich von der Bundesregierung — der jetzigen und früheren — beeinflußt worden ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir dürfen nicht haltmachen; es ist noch viel mehr zu tun.Das INF-Abkommen muß zur Initialzündung eines breit angelegten Abrüstungsprozesses werden. Wir appellieren mit aller Dringlichkeit an die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, eine Einigung über die 50 %ige Reduzierung der strategischen Waffen noch in diesem Jahr herbeizuführen. Dauerhafte Festigung der strategischen Stabilität zwischen den Großmächten liegt auch in unserem Sicherheitsinteresse.Ich appelliere auch an alle Beteiligten, auf die Überwindung der letzten Hindernisse für die weltweite Beseitigung der C-Waffen noch in diesem Jahr hinzuarbeiten.
Chemische Waffen — in Wahrheit sind es Menschen-und Naturvernichtungsmittel — dürfen keinen Platz mehr in den Waffenarsenalen dieser Welt haben.Das Kernproblem der militärischen Sicherheit ist die Schaffung konventioneller Stabilität in Europa.
Wir wollen für Europa ein System kooperativer Sicherheit, das es unmöglich macht, einen konventionellen Krieg vom Zaun zu brechen und zu führen. Die Brüsseler NATO-Erklärung über konventionelle Abrüstung von 1986 fordert ein stabiles und gesichertes Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte auf niedrigerem Niveau. Ungleichgewichte müssen durch asymmetrische Reduzierungen abgebaut werden. Die Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und zu raumgreifenden Offensiven soll beseitigt werden, wie es auf westlicher Seite heute schon der Fall ist.Der sowjetische Außenminister Schewardnadse hat am B. Juni 1988 vor den Vereinten Nationen mit dem Einverständnis, die auszutauschenden Daten am Ort überprüfen zu lassen und mit der Beseitigung der bestehenden Ungleichgewichte zu beginnen, eine bemerkenswerte Annährung an westliche Positionen gezeigt.Wirkliche konventionelle Stabilität und weitere Vertrauensbildung verlangen auch die Verständigung über die der Verteidigung zugrunde liegenden Philosophien. Wir wollen ein gemeinsames Verständnis über die Aufgabenstellung der Streitkräfte auf beiden Seiten.
Das muß sich in Umfang, Ausrüstung und Führungsgrundsätzen für die Streitkräfte auf beiden Seiten ausdrücken.
Die Brüsseler Erklärung von 1986 fordert deshalb: Die Aufgabe von Streitkräften darf nur darin bestehen, Kriege zu verhindern und die Selbstverteidigung sicherzustellen; sie soll nicht dazu da sein, um Aggressionen zu begehen und als Mittel der politischen oder militärischen Einschüchterung zu dienen.
Wir besprechen zur Zeit mit der polnischen Regierung die Veranstaltung eines Seminars über Militärdoktrinen bzw. Verteidigungsphilosophien
unabhängig von der vorgesehenen Behandlung in den Verhandlungen. Wir wollen dazu Teilnehmer aus allen KSZE-Staaten einladen.In Wien haben die Arbeiten an dem Verhandlungsmandat als Teil eines ausgewogenen Schlußdoku-
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Genscherments der KSZE-Folgekonferenz schon weitreichende Einigung erbracht. Das gilt auch für die Frage des Verhandlungsgegenstands, d. h. für die Frage, welche Waffen und Streitkräfte einbezogen werden sollen.Zwischen West und Ost besteht auch Einigkeit, daß die Verhandlungen über die konventionelle Rüstungskontrolle zwischen den 23 Mitgliedstaaten der beiden Bündnisse stattfinden werden.Das Kommuniqué der NATO-Außenminister von Reykjavik umfaßt die Abrüstungsziele für die strategischen, die chemischen und die konventionellen Waffen sowie für die amerikanischen und sowjetischen nuklearen Flugkörper kürzerer Reichweite. Das Atlantische Bündnis hat in Reykjavik ein kohärentes Gesamtkonzept für Rüstungskontrolle und Abrüstung erarbeitet, das unter Mitwirkung der künftigen amerikanischen Administration umfassend weiterentwikkelt werden wird.Jede sicherheitspolitische Entscheidung setzt eine gründliche Analyse der Bedrohung, der Ziele und der realistischen Perspektiven der Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie der Entwicklung des Kräfteverhältnisses und der politischen Lage durch die politischen Instanzen des Bündnisses voraus.
Es wäre deshalb falsch, Vorgriffe in Einzelfragen herbeiführen zu wollen.
Wir sind heute gefordert, durch kooperative Sicherheitsstrukturen die sicherheitspolitischen Elemente für eine europäische Friedensordnung zu schaffen.Bei der weiteren Entwicklung des rüstungskontrollpolitischen Gesamtkonzepts werden wir darauf achten, daß sich Art und Umfang des für unsere Sicherheit erforderlichen militärischen Potentials ausschließlich an dem unverrückbaren Ziel des westlichen Bündnisses ausrichtet, nämlich der Kriegsverhinderung. Abrüstungsschritte müssen mehr Sicherheit schaffen. Der Ersatz von Abrüstung in einem Bereich durch neue Rüstungen an anderer Stelle schafft neue Instabilität und gefährdet damit sicherheitsbildende Abrüstung.
Es ist verständlich, daß sich immer mehr Menschen Gedanken über die Zukunft der atomaren Waffen machen. Die doppelte Null-Lösung für die Mittelstreckenraketen und die START-Verhandlungen entsprechen deshalb den Wünschen und den Sehnsüchten der Menschen. Dieser Vertrag und diese Verhandlungen sind keine Illusionen; sie sind Realitäten. Sie schaffen mehr, nicht weniger Sicherheit.Wir wissen: Es gibt für die voraussehbare Zeit für die Kriegsverhinderung keine Alternative zu einer Abschreckungsstrategie, die auf einer geeigneten Zusammensetzung angemessener und wirksamer nuklearer und konventioneller Streitkräfte beruht. Als Realisten können wir die Sicherheit von heute nicht auf Hoffnungen und Erwartungen für morgen stützen, aber wir müssen alles dafür tun, daß diese Hoffnungen und Erwartungen Wirklichkeit werden.
Diese Verantwortung bedeutet aber auch, daß auch in Zukunft gelten muß: Nukleare Waffen dienen im Verständnis des westlichen Bündnisses der Kriegsverhinderung. Sie haben damit eine politische Funktion. Eine Verwischung der qualitativen Grenzen zwischen atomaren und konventionellen Waffen würde den abschüssigen Weg in Kriegführungsszenarien und damit in die Führbarkeit von Kriegen und in gefährliche Gedankenspiele über regionale atomare Kriegsschauplätze eröffnen.
Wir waren und sind uns immer bewußt, daß es die Grundvoraussetzung der nuklearen Abschreckung ist, daß sich auch die östliche Seite in höchstem Maße rational und verantwortlich verhält.
Was aber, meine Damen und Herren, kann dagegen sprechen, das gleiche Maß an Vertrauen der östlichen Seite dann einzuräumen, wenn es darum geht, Grundlagen unserer Sicherheit durch kooperative Strukturen zu verbreitern, d. h. das große Ziel der Kriegsverhinderung immer weniger allein der nuklearen Abschreckung anzuvertrauen?
Über das Netz der Abschreckung mit nuklearen und konventionellen Mitteln, das Auffangnetz der Ultima ratio, muß ein zusätzliches Netz gespannt werden, das die Risiken reduziert, die sich bei einer ausschließlichen Abstützung auf militärische Abschreckung ergeben.Es geht also zum einen im engeren militärischen Sinne um die Beseitigung der Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und zur raumgreifenden Offensive. Zum anderen geht es in einem breiteren politischen Sinne darum, verläßliche kooperative Strukturen der Stabilität und des Vertrauens zu erarbeiten und die Ursachen für Spannungen und Mißtrauen und damit letztlich auch für das gegenwärtige Maß an militärischer Rüstung zu beseitigen.Die gegenwärtige Abrüstungsdiskussion vollzieht sich in einer sich verändernden internationalen Lage, die die Chance zu tiefgreifenden Umgestaltungen im West-Ost-Verhältnis eröffnet. Die selbstkritische sowjetische Auseinandersetzung mit der früheren Außenpolitik der Sowjetunion ist ein wichtiger Beitrag zur Vertrauensbildung und zur Stabilisierung der internationalen Beziehungen.
Denn es waren ja in der Tat Entwicklungen wie die SS-20-Rüstung und die sowjetische Invasion in Afghanistan, die die Früchte der Entspannungspolitik nicht so haben reifen lassen, wie der kühne Entwurf der Schlußakte von Helsinki, aber auch die ihr vorangegangenen Verträge der Bundesrepublik Deutschland
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Genschermit der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen, der CSSR und der DDR es möglich gemacht hätten.
Wir erkennen ein neues Denken in der sowjetischen Außenpolitik, dem auch neue Taten folgen, wie die Beseitigung der Mittelstreckenvorrüstung, wie die Einräumung von Vor-Ort-Inspektionen, wie asymmetrische Abrüstung und wie der beginnende Rückzug aus Afghanistan belegen.Die eigentliche Bedeutung dieser Entwicklung liegt darin, daß damit die Sowjetunion auf das schon im Harmel-Bericht vorgesehene Konzept der Modernisierung der West-Ost-Beziehungen mit Elementen einer kooperativen Philosophie konstruktiv eingeht. Wir werden die geschichtliche Chance, die in der neuen sowjetischen Denkweise, liegt, nutzen und die WestOst-Beziehungen in ihrer ganzen Breite, politisch, wirtschaftlich, technologisch, ökologisch und kulturell, entwickeln und vertiefen. Es ist Europa, unser Europa, das die Chance erhält, eine Friedensordnung von politischer Qualität, von Zusammenarbeit und von kooperativer Sicherheit zu schaffen, die Maßstäbe des Zusammenlebens setzen kann, die über unseren Kontinent hinaus wirken.Achtung der Menschenwürde, Öffnung nach innen und außen, auch der östlichen Gesellschaften, und ihre Humanisierung,
Zusammenarbeit bei kooperativen Sicherheitsstrukturen, kurzum die Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki, sind die Fundamente für eine europäische Friedensordnung oder auch für ein gemeinsames europäisches Haus.
Da lohnt es sich schon für uns Deutsche, im Interesse aller Europäer und aller Deutschen auf eine solche Entwicklung konstruktiv einzugehen und sie auch konstruktiv mitzugestalten.
Wir bekräftigen dabei die besondere Bedeutung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Wir bekräftigen die Verantwortungsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten. Hier kann und hier wird sich unsere europäische Friedensverantwortung bewähren.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Scheer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD hat zwei Anträge vorgelegt, einen vom Februar und einen im Juni abgefaßten. Diese Initiativen enthalten zwei Schwerpunkte, die besonders in dem im Juni abgefaßten Antrag, der heute dem Bundestag erstmals vorliegt und debattiert wird, festgehalten und verdeutlicht sind, nämlich daß eine Modernisierung und eine Neurüstung von Atomraketen in Nachfolge der vorhandenen Kurzstreckenrakete Lance abgelehnt wird und daß es auch keine Marschflugkörper und Raketen auf Flugzeugen geben darf, die ein gezieltes Unterlaufen des Mittelstreckenraketen-Abkommens bedeuten würden.
Denn wenn Sie die Reichweite von Flugzeugen mit der Reichweite von Kurzstreckenraketen unter 500 km zusammenfügen —
das sind flugzeuggestützte Waffen —, dann kommen Sie auf die Reichweite von Mittelstreckenraketen.Wenn wir schon, Herr Kollege Todenhöfer und Herr Kollege Lamers, die Debatte im Kammerton führen, sollten wir die Gelegenheit, die Argumente präzise auszutauschen, nicht verstreichen lassen.Ein zweiter Punkt, warum wir diesen Antrag einbringen: Wir meinen, daß Verhandlungen über die Abschaffung atomarer Kurzstreckenwaffen eröffnet werden sollen, die parallel zu denen über konventionelle Abrüstung stattfinden sollen, die also daneben und gesondert stattfinden sollen. Mit anderen Worten: Sie sollen nicht mit den Bemühungen um konventionelle Rüstungsreduzierungen verschränkt sein.Die SPD hält eine Willenserklärung des Bundestages für zwingend erforderlich, weil die Bundesregierung trotz der Worte, wie wir sie eben vom Außenminister gehört haben und wie sie unseren Auffassungen entsprechen, nicht in der Lage war, einen klaren Willen zu formulieren. Das gilt für die Bundesregierung in ihrer Gesamtheit.
Nun möchte ich zunächst sagen, warum wir einen zusätzlichen Antrag gestellt haben.
Wir haben im Februar einen Antrag gestellt, in dem wir sowohl die Notwendigkeit der Abrüstung bei atomaren Kurzstreckenwaffen betont als auch bestimmte Kriterien und Ziele für konventionelle Abrüstungsverhandlungen formuliert haben. Wir haben gesagt: Dieses muß natürlich im thematischen Zusammenhang gesehen werden.Wir haben in den folgenden Wochen und Monaten beobachtet, wie denn die Mandatsverhandlungen aussehen. Wir mußten feststellen, daß von den vollmundigen Absichtserklärungen aller Parteien aus der Koalitionsregierung, die im Dezember nach dem Abschluß des INF-Vertrages gegeben worden waren und bis in den Januar/Februar anhielten, nämlich daß jetzt atomare Kurzstreckenwaffen abgerüstet werden müßten, immer weniger übrig blieb.
Wir haben seit vielen Monaten eine Sendepause erlebt, wenn es um das Mandat, also um die Zielsetzung einer konventionellen Abrüstungskonferenz, geht. Dies macht es selbstverständlich erforderlich, einen zusätzlichen Antrag zu stellen, der
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Dr. Scheer— darauf komme ich gleich — die Notwendigkeit der Abrüstung atomarer Kurzstreckenwaffen besonders hervorhebt, je mehr Sie dieses in den Hintergrund gedrängt haben. Das ist der eigentliche Grund, warum wir dies tun.Natürlich gab es bei uns eine Debatte, Herr Lamers, über die Frage: Wie sieht denn der thematische Zusammenhang aus? Soll verbunden verhandelt werden? In welcher Weise soll ein Zusammenhang hergestellt werden? Nie haben wir die These eines Junktims vertreten, d. h. einer wechselseitigen Abhängigkeit von Ergebnissen bei Rüstungskontrollverhandlungen auf dem konventionellen Sektor mit Möglichkeiten der Abrüstung bei Kurzstreckenwaffen. Aber die Frage, wie Verhandlungsrunden aussehen sollen, haben wir selbstverständlich erörtert.Wir haben, um zu einem Ergebnis zu kommen, drei Monate gebraucht. Wir haben darüber debattiert. Aber Sie debattieren ja heute noch, und es wird immer nebulöser. Das ist der entscheidende Unterschied.
Wir beanspruchen doch gar nicht, alles von vornherein zu wissen. Natürlich diskutieren wir.Damit sind wir bei dem Antrag. Ich möchte betonen, daß dieser Antrag auch die Funktion haben soll zu drängen. Ich möchte in Erinnerung bringen, was unser Drängen bewirkt hat. Ohne unser Drängen im letzten Jahr hätten sich diejenigen in der Koalitionsregierung — wir denken hierbei auch an den Außenminister — , die für die doppelte Nullösung waren gegen den Widerstand der CDU/CSU nicht durchsetzen können. Ohne unser Drängen hätten sich diejenigen in der Bundesregierung, die am Schluß einsehen mußten,
daß die Pershing I a mit beseitigt werden muß, nicht durchsetzen können.
Ohne unser Drängen — das war doch offensichtlich — hätte Herr Genscher nicht den Spielraum, den er auszuweiten versucht, um deutliche Abrüstungspositionen von deutscher Seite aus zu artikulieren.
Dies sind Tatbestände; die weiß doch jeder.Damit komme ich zu den Dingen, die in unserem Antrag enthalten sind, nämlich klare Worte über Ziele. Klare Worte über Ziele sind notwendig, wenn diesen nebulösen Nachrichten tatsächliche Entwicklungen gegenüberstehen. In Amerika geht man heute fest davon aus, daß die Bundesregierung an dem Modernisierungsprozeß — sprich: Neurüstungsprozeß — atomarer Waffen beteiligt ist.
Man geht fest davon aus. Wir können ja lesen, wirkönnen ja hören, was im amerikanischen Kongreßgesagt wird. Es wird ja von Ihrer Seite nicht widersprochen.Wenn das alles falsch wäre, was dort gesagt wird, müßten Sie sich doch eigentlich verbitten, daß Ihnen ständig unterstellt wird, Sie würden sich an der Modernisierung beteiligen, obwohl Sie es doch — vorgeblich — nicht tun. Das ist der Punkt, der uns aufmerksam machen sollte.Offensichtlich steht die Modernisierungsabsicht — sprich: Neurüstungsabsicht — der NATO fest. Offen ist nur noch die Entscheidung, wann und für welche Systeme. Solange diese Entscheidung des Wann und für welche Systeme noch nicht endgültig ist, gibt es natürlich noch Spielraum, es zu verhindern. Den wollen wir nutzen; wir wollen ja nicht den Teufel an die Wand malen. Aber dieses Abwiegeln von Ihrer Seite aus, als ginge es im Moment um gar nichts, entspricht nicht den Tatsachen.
Ich will einmal eine neutrale Quelle zitieren. Die „Stuttgarter Zeitung" hat vor wenigen Wochen geschrieben:Wer das Wort Modernisierung aus offiziellen NATO-Kommuniqués heraushalten will,— darum hat sich die Bundesregierung bemüht —erweckt den falschen Eindruck, als sei die Entscheidung darüber noch offen. Dabei geht es lediglich noch um die Frage, welches Waffensystem zuerst und welches später modernisiert werden soll.Und weiter:Wer dennoch wie die Bundesregierung behauptet, es bestehe kein Entscheidungsbedarf etwa für die Modernisierung des Systems atomarer Kurzstreckenraketen, der irrt schon wieder. Das Bonner Votum ist nicht erst dann gefragt, wenn es um die Beschaffung des Systems geht. Schon bei der Konzipierung und der Entwicklung sind entscheidende Worte nötig. Und um die Entwicklung geht es bereits jetzt.Dem ist nichts hinzuzufügen.
Deswegen ist unser Antrag jetzt erforderlich in der Hoffnung, daß ihm möglichst viele zustimmen. Da hilft auch kein Verweis auf ein Gesamtkonzept, auf das man in der Regel immer dann verweist, wenn man kein konkretes im einzelnen hat.
Offensichtlich wehrt sich die Bundesregierung nicht gegen eine solche Neurüstung in ihrer Gesamtheit, weil die CDU/CSU an einer Konzeption atomarer Abschreckung festhält, zu der auf jeden Fall Atomwaffen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland gehören.
Das ist der Punkt. Deswegen trennt die Position, wie sie in einem Beschluß des CDU-Bundesparteitags festgelegt ist — Zitat: „Die Bündnisstrategie der Kriegsverhinderung durch Abschreckung muß glaub-
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Dr. Scheerwürdig und durchsetzbar bleiben. "; das ist prinzipiell und offensichtlich auf Dauer formuliert — , Welten von der Position der Überwindung der Abschreckung, wie wir sie formuliert haben und wie sie eben von Herrn Genscher bekräftigt worden ist. Das muß festgehalten werden. Darüber findet die eigentliche Auseinandersetzung statt.Es gibt Kollegen in der CDU/CSU, wie etwa Herr Todenhöfer, die das offen sagen. Er ist darin ehrlicher als viele, die so denken, aber sich dabei im Grunde genommen möglichst nicht erwischen lassen wollen und eben im Zusammenhang mit der möglichen Modernisierung davon reden, es bestehe kein Zeitbedarf, das sei nicht aktuell usw.Dieses Tauziehen hinter und in den Kulissen der Bundesregierung schadet unseren Möglichkeiten, deutsche Abrüstungsinteressen durchzusetzen. Wir wollen eine politische Klärung. Wir wollen, wie gesagt, daß möglichst das gesamte Haus daran mitwirkt, daß es Abrüstungsverhandlungen über atomare Kurzstreckenwaffen in gesonderter Weise gibt.Wir sollten uns nichts vormachen: Ein Verhandlungsforum von 23 NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten, auf dem über konventionelle Abrüstung verhandelt wird, ist nicht das geeignete Forum, um über den Abbau amerikanischer und sowjetischer Kurzstreckenraketen in Mitteleuropa zu verhandeln. Wer meint, das sei das geeignete Forum, der irrt und macht sich mitverantwortlich dafür, daß auf diesem Sektor nichts passiert.Ein zweiter Punkt in dem Zusammenhang: Diese Verhandlungen, die wir für notwendig halten, sollten nicht von den Ergebnissen der Verhandlungen über die Kontrolle konventioneller Rüstung abhängig gemacht werden. Wer dies nämlich macht, der muß wissen und sollte das dann auch sagen: Auch gut laufende , schnell laufende konventionelle Rüstungskontrollverhandlungen haben einen Zeitbedarf von vielen Jahren, von fünf bis zehn Jahren. Bei MBFR wird schon 14 Jahre ohne Ergebnis verhandelt. Diejenigen, die erst dann über den Abbau atomarer Kurzstreckenwaffen verhandeln wollen, wie Sie es deutlich unterstrichen haben, Herr Lamers, können doch der deutschen Bevölkerung nicht zumuten, daß jetzt bei atomaren Kurzstreckenwaffen zehn Jahre politischer Stillstand, zehn Jahre Verhandlungspause herrschen. Das ist doch wohl nicht möglch. Diese Dinge wollen wir auf den Weg bringen. Wir werden uns nach der Sommerpause wieder sprechen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Grundzüge der deutschen Regierungspolitik bereits dargelegt wurden, möchte ich mich auf die Drucksache 11/2438, den Antrag der SPD, konzentrieren. Die SPD setzt mit diesem Antrag ihre desolate, konfuse, illusionäre,
sprunghafte und opportunistische Sicherheitspolitik fort, die im wesentlichen im Nachreden sowjetischer Verhandlungsmaximen besteht
und Teil des hektischen Bemühens ist, sich auf allerlei Konferenzen und in allerlei Gremien in Ost und West zu Wort zu melden. Sie werden dort — wir bedauern das — immer weniger ernstgenommen.
Die Sozialdemokraten meinen, dem Zeitgeist möglichst ohne eigenes Profil entsprechen zu müssen, und hoffen, vielleicht sogar einen Keil in die Koalition zu treiben.
Natürlich fürchten wir uns davor ganz schrecklich.Der Antrag läßt zudem Grundkenntnisse in der Bewertung und Bezeichnung militärischer Systeme vermissen. So wird in der Ziffer 1 der Beschlußvorlage verlangt, jede Modernisierung und Neurüstung mit Nuklearwaffen abzulehnen, die die strategische Situation verändern. Derartige Systeme stehen nicht zur Debatte. Strategische Systeme sind — es gibt eine ganz klare Zuordnung — diejenigen, die z. B. Gegenstand der START-Verhandlungen sind. Die aber meint die SPD, wie sich aus dem weiteren Antragstext ergibt, offenbar nicht. Offenbar meinen die SPD-Strategen nur die Kurzstreckensysteme, wobei bezeichnend ist, daß sie lediglich auf westliche Systeme, nicht aber auf die der Sowjetunion verweisen. Dort findet längst eine Modernisierung und Neurüstung statt, ohne daß sie jemals zum Gegenstand eines SPD-Antrags geworden wären.
Zudem ist die Grundlage des SPD-Antrags eine taktisch-politische Lüge. Es wird suggeriert, daß die bereits im Jahre 1983 vom NATO-Rat in Montebello getroffene Entscheidung zur Modernisierung atomarer Kurzstreckensysteme und der atomaren Artillerie einen Ersatz des im INF-Vertrags festgelegten Abbaus der nuklearen Mittelstreckensysteme darstellte. So dumm kann doch aber kein SPD-Kollege sein, lieber Kollege Voigt, daß er nicht das eine vom anderen unterscheiden könnte. Der Beschluß von Montebello hatte die größte atomare Abrüstung in Europa zur Folge, die bislang überhaupt vollzogen wurde. Die Modernisierung der Kurzstreckensysteme war Voraussetzung für diese grundlegende Entscheidung.Der Antrag der SPD ist um so bemerkenswerter, als es bislang im Warschauer Pakt keinerlei Veränderungen gibt, die ein Modernisierungsverbot für unsere eigenen Systeme erlaubten. Ich halte nochmals fest: Trotz aller Beteuerungen, Versprechungen, Ankündigungen und für westliche Hirne ausgearbeiteten Friedensvisionen hat der Warschauer Pakt in den letzten drei Jahren konventionell, taktisch-nuklear und im Bereich der Kurzstreckensysteme aufgerüstet, umgerüstet und modernisiert. Dieser Prozeß hält bis zur Stunde an.
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LowackIn Punkt 2 fordert die SPD die baldige Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel der Abschaffung der atomaren Kurzstreckenraketen. Angesichts der sowjetischen Überlegenheit in diesem Bereich war dieser Antrag vorherzusehen. Er scheint zunächst auch ganz vernünftig zu sein.
— Lieber Kollege, ich werde es gleich begründen.Tatsächlich wird aber — ich möchte schon sagen: geflissentlich — übersehen, daß auch die atomaren Kurzstreckensysteme, die bei uns stationiert sind, einen nicht unerheblichen Abschreckungswert haben. Sie spielen in der Konzeption der Allianz eine wichtige Rolle, die bei dem erdrückenden Übergewicht des Warschauer Pakts im konventionellen Bereich nicht in Frage gestellt werden kann. Richtig ist allerdings auch, daß ihre Modernisierung und die Verlängerung der Reichweiten angesichts der sowjetischen Vorrüstungen Voraussetzung dafür sind, ihre Zahl so gering wie möglich zu halten. Immerhin wären wir dankbar, wenn sich dem Antrag der SPD auch einmal die Forderung an die Sowjetunion entnehmen ließe, ihre 15fache Überlegenheit in diesem Bereich endlich abzubauen. Das kann man auch ohne Verhandlungen und ohne eine Vereinbarung.
In Punkt 3 ihres Antrags läßt die SPD die Katze aus dem Sack. Die nuklearen Gefechtsfeldwaffen sollen demnach vollständig beseitigt werden,
und wir sollen in vollem und heiterem Vertrauen aufdie sowjetische Führung und das sowjetische Militär
mit dem Abbau schon einmal einseitig beginnen.
Ich frage mich, wessen Interessen hier wahrgenommen werden. Der Totalpazifismus, der aus diesem Antrag spricht,
ist jedenfalls nicht geeignet,
jede Gewalt und politischen Druck zu verhindern. Er provoziert ihn. So bitter es für manche von uns ist: Auch die nuklearen Gefechtsfeldwaffen
stellen angesichts der ungeheuren konventionellen Potentiale des Warschauer Pakts einen wichtigen Teil unserer Abschreckung dar. Ohne ihren Schutz wäre die Präsenz amerikanischer Soldaten im notwendigen Umfang nicht denkbar.
Insoweit trifft der Antrag der SPD den Kern der Allianz.
Auch Punkt 4 des sozialdemokratischen Antrags zielt auf den Kern unserer Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit. Wenn das Bündnis angesichts der fortbestehenden Bedrohung durch den unverändert hochrüstenden Warschauer Pakt eine begrenzte weitere Dislozierung von Kurzstreckensystemen etwa zu Lasten der nuklearen Artillerie — was wir uns wünschen würden — für notwendig erachtete, würde ein Ausscheren der Bundesrepublik Deutschland katastrophale Folgen für den Zusammenhalt der westlichen Allianz insgesamt haben.Der Antrag der Sozialdemokraten enthält zudem die infame Unterstellung, daß sich die Allianz bei ihren Verteidigungsmaßnahmen nicht an der Bedrohung orientiert habe oder orientieren wollte. Es waren nicht zuletzt sozialdemokratische Bundeskanzler und Verteidigungsminister, die die Grundlage für die NATO-Streitkräfte-Ziele gelegt und zum heutigen Konzept und Rüstungsumfang beigetragen haben. Dahinter steckt eine Verantwortung, die wir über alle Parteigrenzen hinweg zu tragen haben. Es ist bedauerlich, daß sich die SPD aus dieser Verantwortung herausstiehlt.Ich halte abschließend fest: Solange der Warschauer Pakt nicht bereit ist, seine Überlegenheit im Bereich sämtlicher Waffensysteme, die ihn allein zu einem Angriff in Europa befähigen, abzubauen, solange hierzu lediglich politische Absichtserklärungen ohne irgendwelche tatsächlichen Konsequenzen abgegeben werden, können wir auf die Abschreckung durch nukleare Systeme in Mitteleuropa nicht verzichten. Wir begrüßen das sich abzeichnende Mandat für die Konferenz über konventionelle Rüstung in Wien. Wir begrüßen freundliche Worte Gorbatschows und Schewardnadses in Moskau oder New York. Im Unterschied -u den Sozialdemokraten bestehen wir aber auf Taten und nicht nur auf Worten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ronneburger.
Mein Gott, wer bestimmt denn darüber, was ich hier zu reden habe, Sie oder ich?
Ich überlasse es Ihnen, was Sie sagen wollen, auch wenn ich es ablehne. Aber Sie werden mich nicht daran hindern, das zu sagen, was ich für notwendig halte.
— Allmählich sehe ich einen gezielten Versuch, diewenigen Minuten, die mir noch bleiben, durchfreundliche oder unfreundliche Bemerkungen von der
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Ronneburgereinen oder anderen Seite noch weiter einzuschränken.
Vielleicht haben Sie Verständnis dafür, daß ich darauf nicht weiter eingehe.Meine Damen und Herren, ich beginne mit einem Zitat aus einer Rede des Bundesaußenministers vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Er hat dort gesagt:Unsere Gemeinschaft freiheitlicher Demokratien ist nach innen stärker und nach außen handlungsfähiger geworden. Nur gemeinsam können wir den großen Herausforderungen begegnen, denen wir uns gegenübersehen. Nur so können wir die großen Chancen nutzen, die sich uns bieten.Und schließlich:Eine einige und starke Gemeinschaft verkörpert eine Friedenshoffnung für die ganze Welt.Der Begriff „Friedenshoffnung" hat mich veranlaßt, dieses Zitat aufzugreifen, weil ich meine, daß dieser Begriff das eigentlich verbindende Element für die unterschiedlichen Punkte ist, die unter diesem Tagesordnungspunkt zusammengefaßt worden sind; denn — ohne an der großen Weisheit des Ältestenrates Zweifel anmelden zu wollen — es waren schon sehr unterschiedliche Zusammenhänge, die dort aufgetaucht sind. Aber „Friedenshoffnung", das könnte Grundlage für unser Handeln in der Europäischen Gemeinschaft, unser Handeln in der NATO, unser Handeln in bezug auf weitere Entwicklung zwischen den beiden sich gegenüberstehenden Bündnissen bedeuten.In den wenigen Minuten, die mir zur Verfügung stehen, möchte ich mich daher auf ein Thema beschränken: die Fortsetzung des atomaren Abrüstungsprozesses. Wunsch und Wille zu Fortschritten hin zu einer angstfreien Sicherung des Friedens — darüber gibt es nach dem, was Herr Ehmke, Herr Scheer und die Redner der Koalition gesagt haben, wohl überhaupt keinen Dissens — ist gemeinsames Anliegen. Ich füge hinzu: Betrachten wir die Entwicklungen in der Sowjetunion, dann könnten wir die Hoffnung äußern, daß es auch Konsens zwischen den Bündnissen geben kann und hoffentlich geben wird.
Bei der ernsthaften Suche nach Wegen zu diesem Ziel stellt sich aber leider an manchen Punkten sehr schnell heraus, daß zwar die Sichtverbindung die kürzeste Strecke ist, daß sie aber sehr häufig nicht oder noch nicht begehbar ist. Da hilft dann an manchen Punkten auch kein noch so neues Denken.Die Pfade zu diesem Ziel befinden sich auf dem Boden der Tatsachen. Vertrauen entsteht eben nicht durch die bloße Wiederholung der Forderung nach Vertrauen; es muß wachsen. Und ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Vertrauen entsteht nicht automatisch durch Abbau oder auch nur Verlagerung vonWaffen, sondern Vertrauen muß entstehen, damit Waffen überflüssig werden und sie dann tatsächlich und mit Berechtigung abgebaut und beseitigt werden können.
Abrüstung, meine Damen und Herren, ist nicht nur ein materieller Vorgang, er muß sich auch im Geist und in den Köpfen der Menschen vollziehen.
Es darf hier nicht nur oberflächlich und kosmetischgeredet werden, sondern hier ist wirklich der eigentliche Punkt, über den wir uns zu unterhalten haben.Durch die Entwicklung in der Sowjetunion, durch eine wenn auch sehr häufig noch zaghafte innere wie äußere Öffnung einiger anderer Staaten des Warschauer Paktes haben wir nun aber tatsächlich eine begründete Hoffnung, daß ein Wandel einsetzt, der über die innere Demokratisierung Transparenz von Entscheidungsprozessen mit sich bringt, der dann Vertrauen möglich macht. Das ist eine Hoffnung, die wir in eine Entwicklung setzen, die gerade begonnen hat und die wir unterstützen wollen, wie und wo immer wir können. Daß es dabei aber auch noch Rückschläge geben wird, daß es ein steiniger und langer Weg sein wird, wenn gelegentlich Worte und Taten nicht übereinstimmen, darüber sind wir uns sicherlich genauso einig wie über andere Punkte.Wenn die Bereitschaft zur Beseitigung der Asymmetrie der konventionellen Streitkräfte immer wieder behauptet wird, aber in der Praxis noch nicht umgesetzt wird, so ist das einer der Punkte, die uns nachdenklich machen müssen. Herr Scheer, hier ist einfach ein Problem: Sie können nicht Rüstung auf der einen oder anderen Seite nur abschnittsweise betrachten und sagen: Dieses kann ich herausnehmen,
sondern das Gesamtsystem der Rüstung auf der anderen Seite muß ins Gleichgewicht mit dem unserer Seite gebracht weren. Da kann ich nicht eine Abteilung dieser Rüstung sozusagen herauslösen.Herr Kollege Bahr, lassen Sie mich auch das an dieser Stelle offen sagen. Es kann auch ein Faktor der Unsicherheit in diese Debatte kommen, wenn die Garantie der Menschenrechte und der persönlichen Freiheit in Verfassung und internationalen Pakten feierlich beschworen wird, wenn aber der wirklich freie Fluß von Informationen und die ungehinderte Tätigkeit von Journalisten in der Praxis nicht, zumindest nicht an allen Orten, oder noch nicht durchgesetzt werden konnte.
Lassen Sie uns deshalb alle Bemühungen daransetzen, daß wir, wie es auch in diesem Kongreß in Ostberlin geschehen ist, nach der Gemeinsamkeit der Auffassungen suchen. Dieser Kongreß in Ostberlin
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Ronneburgerwar eine Chance zur Auseinandersetzung, auch zur Einbringung unserer eigenen Auffassung.
Dieser Kongreß hat eines gezeigt, und zwar in einer großen Vielfalt der Zusammensetzung der einzelnen Gruppen und, ich sage auch dazu, Grüppchen, daß es eine Gemeinsamkeit in dem Streben nach Frieden, Abrüstung, Zusammenarbeit und auf dem Wege in eine Welt gibt, in der nicht nur Krieg abwesend ist, sondern in der Frieden herrscht.
Daß über die Wege dazu gestritten werden muß und gestritten werden wird, ist eine ganz andere Geschichte. Das werden wir auch in Zukunft tun müssen. Die Gelegenheit, Vertrauen zu suchen und selbst zur Bildung von Vertrauen beizutragen, ist, so glaube ich, eine der wichtigen Aufgaben, die in der unmittelbaren Zukunft vor uns stehen. Nur so werden, wir die Voraussetzungen schaffen, daß tatsächlich morgen weniger Waffen in der Welt vorhanden sind als heute.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/2332 unter Tagesordnungspunkt 21a. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 1 a, Ziffer I des Entschließungsantrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1869 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Die Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt weiter unter Nr. 1 b, die Ziffer II des Entschließungsantrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1869 anzunehmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltung? — Keine Enthaltungen. Bei Gegenstimmen aus der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt darüber hinaus unter Nr. 2, die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/1870 und 11/1886 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Die Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 21 b schlägt der Ältestenrat vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2438 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich stelle dies fest; es ist damit so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, erlauben Sie mir zwei Bemerkungen. Unter uns ist der Abgeordnete Wörner, der heute zum letzten Mal als Abgeordneter in diesem Hause ist. Er übernimmt eine neue verantwortungsvolle Aufgabe und nimmt nach 23 Jahren Abschied aus diesem Hause. Ich wünsche dem Kollegen Wörner für seine weitere Zukunft alles Gute.
Meine Damen und Herren, gestern ist im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Steuergesetzgebung den unmittelbar Beteiligten der Verwaltung für ihre besondere Arbeit, die sie weit über die Pflicht hinaus erfüllt haben, gedankt worden. Ich möchte diesen Dank heute noch ergänzen und vor allen Dingen dem Stenographischen Dienst
und der Botenmeisterei, dem Polizeivollzugsdienst, unserer Fahrbereitschaft sowie den Pförtnern herzlich danken, die mittelbar beteiligt waren.
Meine Damen und Herren, ich rufe Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Das neue Ausländergesetz — Zielsetzung und Zeitvorstellung der Bundesregierung
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Trenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nur einer Indiskretion zu verdanken, daß wir überhaupt von Zimmermanns Plänen erfahren haben. Das jetzt schon menschenverachtende Ausländerrecht erscheint — gemessen an diesem Entwurf — geradezu liberal. In diesem Entwurf ist die Rede von einer „Bewahrung des nationalen Charakters", die das „legitime Ziel eines jeden Volkes und Staates" sei, von einer angeblichen „Homogenität" unserer Gesellschaft, die wesentlich durch die Zugehörigkeit zur deutschen Nation bestimmt werden.
In nationalistischer Überheblichkeit begründet unser Innenminister
eine Politik, die Ausländerinnen und Ausländern den Zugang zur Bundesrepublik noch weiter erschweren, ihren Aufenthalt noch restriktiver reglementieren und unsicherer gestalten will und die schließlich die wenigen, denen es trotz aller Hürden gelingt, legal in diesem Land zu leben, zur einseitigen Anpassung an die Mehrheit, d. h. zur Assimilation, zwingen will.Wir haben in Deutschland keine demokratische Tradition, keine gemeinsam entwickelte demokratische politische Kultur. Im Gegenteil, der Nationalstaatsgedanke, den Zimmermann in der Begründung seines Gesetzentwurfs auf so augenfällige Weise strapaziert, ist in Deutschland historisch nicht mit der Idee von Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit verknüpft, sondern mit obrigkeitsstaatlichem Denken.
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Frau TrenzDas richtet sich aus an der vorherrschenden Norm. Das ruft nach Ruhe und Ordnung schon um der eigenen psychischen und sozialen Stabilität willen, und es lehnt alles und alle ab, die anders sind.Genau dies ist die Tradition, an die Zimmermann anknüpft mit einem Ausländergesetz, das der Zugehörigkeit zum deutschen Volk und zur deutschen Nation eine geradezu metaphysische Qualität verleiht. Eine solche Politik als ausländerfeindlich zu bezeichnen ist mir zu ungenau und zu harmlos. Die Bundesrepublik ist nicht das Deutschland der Nationalsozialisten und auch nicht mit dem Apartheid-System Südafrikas zu vergleichen. Trotzdem ist dieser Entwurf und der Geist, der aus ihm spricht, rassistisch.
Zimmermanns Entwurf setzt für Migrantinnen und Flüchtlinge grundlegende Verfassungsprinzipien wie Menschenwürde, Vertrauensschutz und Rechtssicherheit außer Kraft.
Er unterstellt die Betroffenen einer Sonderregelung, die sie zu Menschen zweiter Klasse ohne politische Rechte, ohne Aufenthaltssicherheit, ohne das Recht auf Familiengründung und Familiennachzug herab - würdigt. Sie sind permanent von Ausweisung oder von Gefahr für Leib und Leben bedroht, weil ihnen die deutschen Behörden die Einreise verweigern. Was hierzulande als Ausländerproblem bezeichnet wird, ist eine Frage der demokratischen Substanz, wie diese Gesellschaft mit ihren Minderheiten umgeht,
ob wir Deutschen andere Kulturen abwerten und abwehren oder ob wir uns mit ihnen auseinandersetzen und uns anregen lassen bei der Entwicklung gemeinsamer Lebenskonzepte, ob wir Migrantinnen und Flüchtlinge unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Verwertbarkeit betrachten oder als Menschen mit unveräußerlicher Würde und unveräußerlichen Rechten.Die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland. Wer — wie Zimmermann — diese Tatsache ignoriert, blockiert damit die Entwicklung zur multikulturellen Gesellschaft. Wir brauchen die Auseinandersetzung um Sitten, Erziehung und Religion, damit sich diese Gesellschaft lebendig entfalten kann. Unsere Geschichte zeigt, daß Wissenschaft und Kultur in diesem Land ohne die belebenden Anstöße von italienischen, französischen, niederländischen, polnischen und österreichischen Einwanderern undenkbar sind.
Insanlann ortak yasami payla§tiklan yerde, Milliyetin rolü tümüyle ikincildir. Bizim istedigimiz, içinde her renge yer olan Cumhuriyet, içinde azinhklar için özel yasalann olmadigi, içinde yaayan tüm insanlarin esit hakiara sahip oldugu bir Cumhuriyettir. Demokrasi, yalnizca haklarin saglanmasiyla sinirli degildir. Ancak, esit haklar olmaksizin Demokrasi de olamaz.Ich denke, es gibt 1,9 Millionen Türken in der Bundesrepublik, und Sie werden schon einen finden, der Ihnen das übersetzt.Danke.
Frau Abgeordnete Trenz, ich bitte Sie darum, daß Sie sich mit dem Stenographischen Dienst in Verbindung setzen, denn obwohl wir einen umfassend gebildeten und vielsprachigen Stenographischen Dienst haben, beherrschen sie nicht alle lebenden und toten Sprachen.
Ich habe dem Stenographischen Dienst die schriftliche Unterlage schon überreicht; ich will den nicht strapazieren. Das ist nicht das Problem. Ich wollte nur, daß Sie sich das hier einmal anhören.
Frau Kollegin, es ist im Hause im Ältestenrat übereinstimmend, auch mit Ihrer Fraktion, die Festlegung getroffen worden, daß Vergleiche mit dem Dritten Reich, mit dem Nationalsozialismus hier nicht gestattet sind.
— Ich habe die Unterlagen nicht hier.
— Ich kann selber lesen, sehr verehrte Frau Kollegin.
— Solche Vergleiche gibt es nicht und wird es hoffentlich nie mehr geben.
Nun erteile ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt wenige Themen in der Politik, die sich so ausgeprägt zur Emotionalisierung eignen wie die Ausländerpolitik und das Ausländerrecht.
Leider Gottes gibt es sowohl chauvinistische Scharfmacher, die unterwegs sind, wie auch illusionäre Menschheitsbeglücker, die, wie mir scheint, zu Sachlichkeit und zu vernünftigen Lösungen nicht sehr viel beitragen.
Dabei geht es bei diesen Fragen doch wirklich um Menschenschicksale, um die Existenz von Menschen; Menschen, die sich in einer neuen Heimat — noch — fremd fühlen, aber auch Menschen, die sich als Deutsche in der alten Heimat schon in der Minderheit und deshalb fremd fühlen. Beides sind zwei Seiten einer Medaille. Diese Gefühle führen zu Verspannungen und zu Spannungen. Dieser unguten Entwicklung sollten wir Politiker nicht Vorschub leisten. Schon daher fand ich einige Äußerungen meiner Vorrednerin wenig nützlich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6043
Gerster
Ich sage noch einmal: Es geht um Menschen. Wer mit schrillen Tönen Streit entfacht, Unwahrheiten sagt und Halbwahrheiten verbreitet, wo es um sachlich richtige und menschlich humane Lösungen geht, dient nicht der Befriedung, auch nicht zwischen deutschen und ausländischen Mitbürgern. Ich finde, wir sollten diese sehr wichtige Frage sehr ruhig, sachlich und eben nicht in der Form der Emotionalisierung behandeln.
Wir unterstützen die Absicht der Bundesregierung, zu einer umfassenden Neuregelung des Ausländerrechts zu kommen. — Herr Kollege Duve, ich rede so, wie ich will, und nicht so, wie Sie wollen. —
Wir verfolgen als konkrete Ziele der Ausländerpolitik erstens eine wirkliche Integration der hier auf Dauer lebenden Ausländer. Im Innenministerium sind Vorüberlegungen angestellt worden. Es ist übrigens kein Entwurf des Ministers, es ist kein Entwurf der Regierung, es ist kein Entwurf der Koalition,
es ist eine Arbeitsunterlage. Dabei ist man übereingekommen, daß die parlamentarische Beratung beginnt, wenn die Koaliton den Entwurf
— lassen Sie doch den Schaum vor dem Mund weg; seien Sie doch ganz ruhig — , vereinbart hat. Es stimmt aber nicht, daß hier nicht ganz klar im Sinne der Integration entscheidende Verbesserungen vorgesehen sind. Die Behauptung, hier würde nur verschärft, gehört in die Sphäre der Märchen und nicht in die der Realitäten.Wir wollen ein Zweites. Natürlich bleibt dieses Land offen, was die Einreise von europäischen Ausländern, Arbeitnehmern, angeht. Natürlich gilt der Grundsatz des Grundgesetzes, daß politisch Verfolgte Asyl genießen, was natürlich nicht ausschließt, daß wir dem Mißbrauch des Asylrechtes, der leider stattfindet, begegnen wollen. Es gilt auch — das ist keine Frage —, daß wir die freiwillige Rückkehr in Heimatländer fördern wollen. Es gilt natürlich auch, daß wir nicht ein Einwanderungsland sind, daß wir nicht eine multinationale und -kulturelle Gesellschaft haben wollen. Vielmehr gilt, daß wir in einer Zeit, in der noch Nationalstaaten bestehen — nicht nationalistische, sondern Nationalstaaten —, wo Menschen eines Volkes in ihrer Heimat leben wollen, an diesen Prinzipien — wie andere Länder — festhalten.
Wir werden dieser Arbeit und dieser Gesetzesberatung sehr sorgfältig begegnen und sie sehr kritisch und selbstkritisch begleiten.Was wir wollen — um es ganz deutlich zu sagen —, ist ein Land, das sich der Pluralität, dem Liberalismus und vor allen Dingen den demokratischen Prinzipien verpflichtet weiß.Um dieses Bild, das hier von der Realität gemalt wurde, etwas zu verdeutlichen, sage ich folgendes: Es müssen ja wirklich Verrückte sein, die in die Bundesrepublik kommen, wenn seit 1974 über die Hälfte aller Asylbewerber, die nach Europa kommen, hierher kommt. Es muß ja ein wirklich gräßliches Land sein, wenn sie hierher kommen! Das ist ein kleiner Hinweis darauf, daß Ihre Szenarien, wie sie hier gemalt werden, möglicherweise Ihren Vorurteilen entsprechen — Vorurteile sind ja die Urteile, die am festesten sitzen — , aber nicht den Realitäten entsprechen.Ich würde Ihnen empfehlen: Beteiligen Sie sich sachlich an der Beratung; dann werden Sie auch überzeugen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schröer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Aktuelle Stunde an diesem Tag zu dieser Stunde scheint uns bei diesem wichtigen Thema nicht ganz angemessen zu sein.
Für uns ist es zu wichtig, als daß wir es zwischen Tür und Angel behandelt sehen wollen. Deshalb kündige ich schon jetzt an, daß die SPD-Fraktion unmittelbar nach der Sommerpause eine Debatte zum Thema Ausländerrecht beantragen wird.r(Zuruf von der FDP: Sehr gut!)Wir sind uns in allen Fraktionen seit vielen Jahren einig, daß die Neuregelung des Ausländerrechtes unabdingbar notwendig ist und zu den vordringlichen Aufgaben der Innenpolitik gehört. Ich erinnere mich gut an die Regierungserklärungen des Bundeskanzlers 1983 und 1987, wo beide Male gesagt wurde, das Thema Ausländerrecht sei eines von den drei vordringlichsten Themen, die in der Innenpolitik angegangen werden müßten.
Geschehen ist nichts oder, besser gesagt: außer Kommissionen nichts gewesen. Nicht einmal einen Referentenentwurf hat man in fünf Jahren zustande gebracht.
Die Regierung, da muß man vor allen Dingen wieder Zimmermann ansprechen,
— ich dachte, Sie kennen diesen Herrn —,
erweist sich auch bei diesem innenpolitischen Thema als handlungsunfähig.
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6044 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Schröer
Wir Sozialdemokraten wollen aber nicht länger warten, und zwar deswegen, weil die Betroffenen nicht länger warten können.
Deshalb werden wir in den nächsten Tagen einen eigenen Gesetzentwurf für ein neues Bundesausländergesetz vorlegen, das sich an drei Grundsätzen orientiert:Erstens: Sozialer Friede ist nur möglich, wo keine gesellschaftliche Gruppe ausgegrenzt oder abgedrängt wird.Zweitens: Lebensplanung des einzelnen ist nur möglich, wo Berechenbarkeit an die Stelle von Rechtsunsicherheit tritt.Drittens: Integration ist nur möglich, wo soziale und berufliche Perspektiven eröffnet werden.Ausländische Arbeitnehmer haben zum Wohlstand unseres Landes in hohem Maße beigetragen.
Sie haben die Vielfalt unseres sozialen und kulturellen Lebens bereichert.
Hieraus erwachsen dem Gesetzgeber Verpflichtungen. Wir sind bereit, diese Verpflichtungen einzulösen.Meine Damen und Herren, ich sagte, Minister Zimmermann hat sich auch in diesem Politikfeld als handlungsunfähig erwiesen. Das heißt aber leider nicht, daß er tatenlos geblieben ist: Seit Wochen kursieren zwei Papiere aus seinem Hause im Bundesgebiet, die Staatssekretär Dr. Waffenschmidt noch am 1. Juni in einem Schreiben an den Kollegen Dr. Nöbel als — ich zitiere — „unverbindliche, vom Minister nicht gebilligte Papiere" bezeichnet hat. Da kann ich nur lachen.
Ich rede vom Ausländerintegrationsgesetz und vom Ausländeraufenthaltsgesetz. Offensichtlich politisch bedeutungslos, dienen sie doch als politische Schlaginstrumente. Denn ich erlebe folgendes: Mit dem Integrationsgesetz werden Kollegen Ihrer Fraktion auf Tagungen kirchlicher Akademien geschickt, und mit dem Ausländeraufenthaltsgesetz
wandern Spranger und Zimmermann die bayerischen Stammtische ab.
Diese Doppelstrategie kann und wird nicht aufgehen. Ich bezeichne sie schlicht als schäbig.
Ich frage mich — jetzt muß ich Herrn Waffenschmidt ansprechen, weil ja der Minister wieder einmal nicht im Hause anwesend sein kann — :
Wo sind eigentlich die gesellschaftlichen Kräfte, die diese Politik der Ab- und Ausgrenzung unterstützen? Die Kirchen sind es nicht, die Gewerkschaften nicht, die Wohlfahrtsverbände nicht, die Ausländerbeauftragte nicht, der Koalitionspartner nicht; selbst in ihren eigenen Reihen finden sich zunehmend Kollegen, die schwere Bedenken anmelden. Ich möchte diesen Kollegen ausdrücklich unseren Respekt bekunden, daß sie sich gegen diese Politik der Aus- und Abgrenzung wenden.
Der Minister steht allein auf weiter Flur. Viel Feind, viel Ehr': Ich bin überzeugt, hier trifft dieser Satz nicht zu.Meine Damen und Herren, wer es ernst meint mit der Verbesserung der rechtlichen, sozialen und kulturellen Lebenssituation unserer ausländischen Bürger, der darf nicht den Habitus herablassender Großmütigkeit annehmen,
der muß um die Verwirklichung ihrer erworbenen Ansprüche kämpfen. Ausländer haben ein Recht auf Rechte. Wir werden nicht nachlassen, ihnen zu diesem Recht zu verhelfen.
Herr Abgeordneter, wenn ich an das Glas klingele, will ich keinen Toast aussprechen, sondern will Sie daran erinnern, daß die Zeit abgelaufen ist. Ich bitte, das genau zu beachten.
— Herr Kollege Duve, es ist immer die Redezeit gemeint, immer.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sprache ist kein Bekenntnis, sondern ein Mittel zur Verständigung. Darum sollte sie kompatibel sein. Ich halte es für eine billige Effekthascherei, hier einen Teil einer Rede in einer Sprache zu halten, die keiner von uns versteht.
Ich halte es weder für nationalistisch noch für chauvinistisch, im Deutschen Bundestag deutsch zu sprechen.Wir alle haben Veranlassung, mit dem Thema dieser Aktuellen Stunde zum Ausländerrecht sehr vorsichtig umzugehen. Wir reden über das Schicksal und über Lebensentscheidungen von vier Millionen Menschen. Wir wissen nicht nur aus unserer Geschichte, sondern auch aus der politischen Gegenwart, wie leicht es ist, Ängste, Haß und Emotionen im Zusammenhang mit Ausländern zu schüren.Es ist bekannt, daß das geltende Ausländerrecht der sozialen Wirklichkeit in unserem Land nicht mehr entspricht. Es ist ein Fremdenrecht, das der Wirklichkeit eines miteinander verflochtenen Europas ebensowe-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6045
Dr. Hirschnig Rechnung trägt wie der Tatsache, daß wir für Millionen Menschen ein Einwanderungsland waren —
Menschen, die wir aus wirtschaftlichen Gründen bewußt in die Bundesrepublik geholt haben, die mit ihrer Lebenskraft und mit ihrer Arbeitsleistung zum Wohlstand unserer Gesellschaft wesentlich beigetragen haben, aus der wir diese Menschen deswegen nicht ausschließen können.
Wir bedauern, daß es noch nicht gelungen ist, ein neues und modernes Ausländerrecht zu formulieren. —
Ich möchte bei dieser Gelegenheit der Ausländerbeauftragten der Bundesrepublik für ihre Arbeit danken
und sie darin ermutigen, dieses Ausländerrecht bei uns immer wieder einzufordern. — Es sind aus dem Innenministerium Gesetzentwürfe unter dem Namen „Ausländerintegrationsgesetz" und „Ausländeraufenthaltsgesetz" bekanntgeworden, die nicht die rechtliche Qualität eines Referentenentwurfs besitzen und die dementsprechend auch nicht als eine Entscheidung der Bundesregierung denunziert werden können.
In dem sogenannten Ausländerintegrationsgesetz sind eine ganze Reihe von Elementen enthalten, die unseren Vorstellungen nahekommen. Das Ausländeraufenthaltsgesetz erfüllt diese Voraussetzung durchweg nicht.
Wir sind überdies der Meinung, daß man die einheitlichen Lebensverhältnisse einer Familie nicht durch unterschiedliche Gesetze auseinanderreißen darf, wie es bei einer Verwirklichung dieser Überlegungen der Fall wäre.Wir haben ein Positionspapier vorgelegt, das den bei uns lebenden Ausländern eine gesicherte Rechtsstellung schaffen soll, das mit dem Begriff der Familie ernst macht, also eine Familienzusammenführung ermöglichen soll, und das dem Ausländer eine Chance eröffnet, seine Lebensentscheidungen auf einer gesicherten Grundlage zu treffen.Ich will bewußt davon absehen, hier in Einzelheiten zu gehen, weil das im Rahmen einer Aktuellen Stunde in verantwortbarer Weise wirklich nicht möglich ist. Wir stellen aber zu unserer Befriedigung fest, daß wir in unseren Positionen nicht nur mit beiden christlichen Kirchen weitgehend übereinstimmen, sondern daß es auch bei unserem Koalitionspartner namhafteKollegen gibt, die sich gemeinsam mit uns für die Verwirklichung dieser Grundsätze einsetzen.Wir begrüßen das, und wir werden entschlossen daran arbeiten, noch in dieser Legislaturperiode ein Ausländerrecht zu schaffen, das mit Recht als christlich und als liberal bezeichnet werden kann.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
— Ach, Hans, klasse, vielen Dank für den guten Zuspruch! Die alte Verbundenheit von Kommunalpolitikern.
Ich hoffe, daß das im weiteren Verlauf meiner Rede so bleibt. — Zunächst einmal: Die Angriffe der Opposition, insbesondere der GRÜNEN, gegen die Bundesregierung und hier auch gegen Bundesminister Zimmermann laufen völlig ins Leere, wie Sie gleich schnell aus dem ersehen werden, was ich Ihnen vortrage.
— Auf diese Frage kann ich Ihnen ganz deutlich sagen — wir brauchen uns deshalb gar nicht so zu erregen: Seit langem ist zwischen den Bundesministern Stoltenberg und Zimmermann vereinbart, daß sie ab 13 Uhr die notwendigen Chefgespräche zur Vorbereitung des Bundeshaushalts führen. Es gehört zu den wichtigen Aufgaben des Bundesministers des Innern, bei diesen abschließenden Chefgesprächen auch die Finanzmittel zu bekommen, die notwendig sind, um die wichtigen Aufgaben des Bundesinnenministeriums durchzuführen. Also, eine wichtige Aufgabe, die der Minister wahrnimmt.
Nun sechs kurze Vorstellungen zu dem Themenkomplex, Herr Präsident, meine Damen und Herren, der uns hier zusammenführt.Erstens. In der Koalition ist vereinbart worden, daß das Ausländerrecht in dieser Legislaturperiode umfassend neu geregelt werden soll. Im Bundesministerium des Innern sind die erforderlichen Vorarbeiten inzwischen im wesentlichen abgeschlossen. Damit können wir jetzt innerhalb der Koalition im einzelnen entscheiden, wie wir das Gesetzgebungsvorhaben am besten auf den Weg bringen. Dann erst kommt ein Gesetzentwurf. Der Kollege Dr. Hirsch hat mit Recht
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6046 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidtdarauf hingewiesen, wie der Sachstand in der Abstimmung ist.
— Frau Kollegin Vollmer, wir leben doch in einer offenen Demokratie, und wir wissen doch, wie viele Papiere auf dem Markt sind, Papiere dieser und jener Art.
Ich empfehle Ihnen: Sie halten sich an das, was ich hier offiziell für die Bundesregierung sage. Dann sind Sie gut informiert und brauchen sich gar nicht unnötig aufzuregen.
Zweitens. Einen besonders hohen Stellenwert mißt die Bundesregierung — ich finde, das ist gerade für die Sozialdemokraten wichtig, die ja in Ländern und Kommunen Mitverantwortung tragen — der erforderlichen Erörterung mit den Ländern und den Städten, Gemeinden und Kreisen zu. Den Ländern obliegt ja nach unserer Verfassung die Ausführung der ausländerrechtlichen Bestimmungen. Sie tragen damit die Verantwortung auch für die Ausländerrechtspraxis. Die Auswirkungen der Ausländerpolitik treffen vor allem die Gemeinden. Sie haben die erforderliche Infrastruktur für die soziale Integration der Ausländer zu schaffen. Nicht zuletzt haben sie auch finanzielle Lasten durch den Aufenthalt sozialhilfeberechtigter Ausländer zu tragen. Vor allem in den Ballungsgebieten mit einem besonders hohen Ausländeranteil sind mittlerweise die Belastungsgrenzen der Gemeinden längst erreicht, wenn nicht überschritten. Die Bundesregierung strebt deshalb an, dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Neuregelung des Ausländerrechts vorzulegen, dessen Grundlinien von einem breiten Konsens zwischen Bund, Ländern und Gemeinden getragen werden.Drittens. Einen genauen Zeitplan bis zur Vorlage des Gesetzentwurfs kann und will ich heute noch nicht im einzelnen aufstellen. Wir werden das Ziel, einen Konsens — ich betone: einen Konsens — , einen breiten Konsens über das neue Ausländergesetz zu finden, nicht durch einen selbstgeschaffenen unnötigen Zeitdruck gefährden. Aber unter der Voraussetzung, daß auf allen Seiten dieselbe Konsensbereitschaft besteht wie auf seiten der Bundesregierung, sehe ich gute Chancen, daß wir dem Ziel rasch näherkommen.Viertens. Über die beiden wesentlichen ausländerpolitischen Ziele für die Neuregelung besteht zwischen Bund und Ländern seit langem Einvernehmen. Einerseits wollen wir die Integration der in der Vergangenheit rechtmäßig zugewanderten ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen durch klare gesetzliche Regelungen auch aufenthaltsrechtlich absichern. Ich betone: Wir haben menschliche und soziale Verantwortung gerade gegenüber diesen Menschen. Andererseits wollen wir durch geeignete Regelungen die Zuwanderung weiterer Ausländer aus Nicht-EG-Staaten begrenzen.Fünftens. Die von der SPD geführte Bundesregierung hat in ihren Kabinettsbeschlüssen vom 11. November 1981 und 3. Februar 1982 wie folgt formuliert:Es besteht Einigkeit im Kabinett, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll. Das Bundeskabinett ist sich einig, daß für alle Ausländer, die aus Ländern außerhalb der EG kommen, ein weiterer Zuzug unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindert werden soll.So die Bundesregierung Helmut Schmidt damals. Und am 3. Februar 1982 noch einmal:Durch eine konsequente und wirksame Politik zur Begrenzung des Zuzugs aus Ländern, die nicht Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind, läßt sich die unverzichtbare Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Ausländerintegration sichern. Dies ist zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens unerläßlich.Ich finde — das sage ich ausdrücklich auch in Richtung der Kollegen der SPD — : Was Sie damals formuliert haben, ist auch heute noch sehr gut und in den wesentlichen Inhalten ganz aktuell.
Dabei sollten wir bleiben, und dazu sollten Sie sich bekennen. Ich finde, vor allem der Satz, der damals gesprochen wurde, daß die unverzichtbare Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Ausländerintegration gesichert werden muß, ist eine wesentliche Aufgabe. Darum müssen wir miteinander werben, daß wir auch hier die innere Zustimmung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger finden.
Sechstens. Wir werden mit dem neuen Ausländerrecht — ich finde, es ist wichtig, daß wir dies hier heute miteinander hören — keine völlig neue Ausländerpolitik einleiten. Wir werden vielmehr die bisherige gemeinsame Ausländerpolitik von CDU/CSU, SPD und FDP in Bund, Ländern und Kommunen konsequent fortführen. Jedenfalls wird es nicht die Bundesregierung und — das sage ich auch für unser Haus — wird es nicht der Bundesminister des Innern sein, die den bisherigen ausländerpolitischen Grundkonsens aufkündigen und einen davon abweichenden Gesetzentwurf vorlegen werden.Wir wollen nach breiter Diskussion mit den Verantwortlichen in Ländern und Kommunen einen Vorschlag machen. Wir werden dazu auch die gesellschaftlichen Gruppen — viele sind heute schon angesprochen worden — hören. Was aber ganz wichtig ist, ist doch, daß wir zu dem wichtigen Vorhaben eine breite Zustimmung der Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Land gewinnen können. Ich finde, die wesentlichen Elemente, die schon damals in den Beschlüssen der sozialliberalen Koalition enthalten waren und zu denen wir uns auch heute bekennen, sind Zielvorstellungen, denen die große Mehrheit der Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande zustim-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6047
Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidtmen kann und zustimmen will. Auf diesen Konsens mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern sollten wir in dieser wichtigen Frage entscheidenden Wert legen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wartenberg .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Delegation des Innenausschusses war im letzten Herbst in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden, um sich über Ausländerrecht und Asylrecht zu informieren. Der entscheidende Unterschied gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, der einen fast mit Neid auf diese Länder blicken läßt, ist der, daß es dort einen Grundkonsens über Minderheitenpolitik gibt.
Das ist das entscheidende Merkmal, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland von diesen Ländern unterscheidet.
Entscheidend ist nicht die Tatsache, daß es auch bei denen Probleme gibt, und entscheidend ist auch nicht, ob eines dieser Länder irgendein Problem vielleicht etwas anders gelöst hat als der Nachbarstaat. Entscheidend ist, daß der Grundkonsens besteht, daß man nicht auf dem Rücken von Minderheiten Politik betreibt.
Wenn wir diese politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland erreichen könnten, dann allerdings wären wir einen Schritt weiter, und dann könnte man in der Tat auch sehr sachlich über einzelne Punkte einer Ausländerkonzeption diskutieren.Unter diesem Aspekt des Mangels an einem Grundkonsens oder der Unfähigkeit, ihn herzustellen, ist auch dieser Vorstoß des Innenministeriums zu sehen. Selbst wenn hier nun gesagt wird, das sei ja überhaupt kein Gesetzentwurf
— ja, „Phänomen" nannte man das früher, zu Kiesinger, Zeiten —, in Wirklichkeit ist es eben doch kalte Berechnung, mit der man vorgeht. Man weiß: Man kriegt keinen Konsens innerhalb der Regierung hin. Man weiß: Man bekommt keinen Konsens im Parlament hin. Also wird etwas mit möglichst weitgehenden Vorstellungen von Herrn Zimmermann formuliert. Man spricht damit nur die eigene Klientel an, um dann sagen zu können: Dies alles hätten wir ja gerne gewollt, aber leider läßt man uns nicht.
Genau damit werden doch in dieser Gesellschaft Stimmungen erzeugt.Das heißt, es ist von vornherein nicht das Ziel, zu versuchen, einen Konsens herzustellen, um dann tatsächlich ausländerrechtlich etwas zu bewerkstelligen;
vielmehr wird vorab — in der Kalkulation, daß damit der Konsens gar nicht erst hergestellt werden kann — ein Papier in die Öffentlichkeit gebracht, das letzten Endes wieder nur die Emotionen hochtreibt und das den Menschen, denen man angeblich helfen will, nur schadet.
Den wesentlichen Punkt dieser Gesetzentwürfe möchte ich hier noch einmal kurz darstellen, nachdem das auch von der ersten Rednerin schon gemacht worden ist. Ich will hier nicht auf die Details eingehen, aber die Philosophie, die in diesen Gesetzentwürfen, die keine Gesetzentwürfe sein sollen, enthalten ist, ist das eigentliche Problem, nämlich die Grundthese von der Homogenität des Staatsvolkes. Mit dieser Begründung bekommt die Staatsbürgerschaft eine metaphysische Qualität. Mit diesem Begriff der Homogenität der Gesellschaft wird letzten Endes auch eine Absage an die europäische Einigung gegeben. Was ist das im Jahre 1988 überhaupt für eine Diskussion?
1990 soll das Schengener Abkommen in Kraft treten, durch das die Binnengrenzen zwischen den Benelux-Staaten, Frankreich und der Bundesrepublik wegfallen sollen. 1992 soll dann der gemeinsame Binnenmarkt entstehen. Es ist geradezu absurd, mit diesen Begriffen politisch zu operieren.Weil es so absurd ist, ist auch sehr deutlich, daß es Kampfbegriffe sind, die die Stimmung schüren sollen,
und daß es keine Begriffe sind, die darauf gerichtet sind, die Probleme für diese Menschen, für diese Mitbürgerinnen und Mitbürger, in unserer Gesellschaft zu lösen.
Die Aufwertung dieser Begriffe innerhalb eines Ausländergesetzes scheint mir die deutlichste Absage an den Versuch zu sein, einen Konsens in diesem Hause oder auch nur in der Koalition herzustellen.Deswegen — so muß ich ganz ehrlich sagen — weigere ich mich auch, in die Details hineinzugehen, solange sich diese Regierung nicht davon distanziert, einen Gesetzentwurf mit einer derartigen Philosophie überhaupt in die Öffentlichkeit zu geben. Dies muß erst einmal bereinigt werden. Dann kann man in die Detailprobleme hineingehen.
Wir selber werden deswegen den umgekehrten Weg gehen; Herr Schröer hat dies angedeutet. Wir
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6048 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Wartenberg
werden unsere Grundsätze einer Ausländerpolitik und unsere Grundsätze für ein Ausländergesetz gleich nach der Sommerpause dem Parlament vorstellen, um einen positiven Anstoß für die Diskussion in der Öffentlichkeit zu geben. Wir hoffen, daß die Koalition die Stärke haben wird, diese unsägliche Philosophie dieser Vorstöße des Herrn Zimmermann zurückzuweisen, um damit . . .
Herr Abgeordneter, Sie sind weit über Ihre Zeit.
... ein solches Klima in der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen, daß die Diskussion zu diesem Thema endlich in einer dem politischen Niveau der Gesellschaft angemessenen Weise durchgeführt werden kann.
Herr Abgeordneter, ich habe Sie ermahnt.
Vielen Dank.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß sich dieses Haus selber die Geschäftsordnung gegeben hat. Diese verpflichtet den sitzungsleitenden Präsidenten, daß er nur fünf Minuten zuläßt. Warum strapazieren Sie mich so?
Sie können natürlich sagen, ich hätte jetzt im Urlaub Zeit, mich wieder zu regenerieren. Aber das ist schon eine Zumutung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manche empfinden es als modern, wollen sich als Weltbürger ausweisen und fordern in der Ausländerpolitik — wir haben es gehört — den multinationalen Staat, die mulitkulturelle Gesellschaft und ganz im Geist des Weltbürgertums — die offene Republik.
Das klingt sehr schön, Herr Duve, und geht in großartiger Weise leider an den wirklichen Problemen vorbei. Das sind doch nur intellektuelle Konstrukte.
Wir warnen vor falschen und gefährlichen Leitbildern.In Frankfurt und Offenbach beträgt der Anteil der Ausländer 20 bis 25 %. In manchen deutschen Schulen sind 65 % der Schüler Ausländer.Die Berliner SPD hatte recht, als sie schon 1980 beschloß: Noch mehr Ausländer gefährden die Integration. Richtig handelte auch Bundeskanzler Helmut Schmidt, als er 1981 das Kabinett beschließen ließ:Nur eine konsequente und wirksame Begrenzung kann den sozialen Frieden bei uns sichern.
Sie führen, lieber Herr Penner, Helmut Schmidt, zuletzt im Wahlkampf in Schleswig-Holstein, als symphatische Galionsfigur vor. Sie sollten mehr auf das hören, was er Ihnen sagt.Meine Damen und Herren, die Anhänger der offenen Republik wünschen und preisen die kulturelle Bereicherung unseres Volkes durch viele Ausländer. Sicher. daran ist viel Wahres. Aber wo immer auf der Welt es ethnische Minderheiten gibt, kann doch etwas anderes nicht übersehen werden, muß etwas anderes erkannt werden: Ethnische, religiöse und kulturelle Geschlossenheit ermöglichen den Grundkonsens eines Volkes.
Ethnische Minderheiten, religiöse und kulturelle Gegensätze aber schaffen Spannungen, wirken allzuoft explosiv, sind leider in aller Welt immer wieder Ursache blutiger Konflikte und damit selbst Ursache der bedrückenden Flüchtlingsströme.
Warum, Herr Duve, gibt es denn die Konflikte der Tamilen in Sri Lanka, warum die der Christen und Kurden in der Türkei, warum die der Armenier in der angeblich kommunistischen Einheitsgesellschaft der UdSSR?
Und hier in unserem modernen und so aufgeklärten Europa: Warum fließt so entsetzlich viel Blut in Nordirland und bei den Basken in Spanien?
Seit Max Weber wissen wir, daß in der Politik Verantwortungsethik und nicht Gesinnungsethik gefordert ist. Wir wollen kein Einwanderungsland sein;
nicht weil wir ausländerfeindlich wären, sondern weil wir wollen, daß die Integration der 4,6 Millionen bei uns lebenden Ausländer gelingt. Das ist doch nicht inhuman, das ist nicht unmoralisch, das ist die Forderung einer verantwortungsbewußten Integrationspolitik.
Kirchen und Pastoren kritisieren unsere Ausländerpolitik.
Aus ihrer Sicht kann ich das gut verstehen. Höchstesittliche und moralische Forderungen zu stellen isteine Forderung der Bergpredigt. Aber leider ist die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988 6049
Dr. OlderogBergpredigt kein Rezeptbuch für die praktische Ausländerpolitik.
Es verdient unseren Respekt, ja unsere Bewunderung, wenn sich Bürger aus betont christlicher Grundhaltung in ihrer Zuwendung gegenüber Ausländern an sittlichen Höchstnormen orientieren. Auch wir Politiker fordern mehr Solidarität mit Ausländern, müssen unseren Bürgern moralische Lasten zumuten. Aber weltbürgerliche Toleranz, selbstlose Hilfsbereitschaft und eindrucksvolle Nächstenliebe, also ethische Höchstnormen, das kann die Politik doch nicht der breiten Mehrheit aller Bürger auferlegen oder gar aufzwingen. Das würde in der Praxis doch in bitterer Weise zum Schiffbruch führen.
Wir wollen die Integrationsfähigkeit und Belastungsfähigkeit unserer Bürger in der Ausländerpolitik nicht überfordern. Wir wollen damit Spannungen vermeiden, wollen Integration weiter möglich machen und einer gefährlichen Ausländerfeindlichkeit vorbeugen.Das ist nicht gegen die 4,6 Millionen hier lebenden Ausländer gerichtet; das erst sichert ihnen hier eine humane und damit wirklich menschenwürdige Existenz.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Olms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgrenzen, abgrenzen und abschieben
— das sind die bekanntgewordenen Grundsätze des neuen Ausländerrechts aus dem Hause Zimmermann.
— Ich komme gleich darauf.
Für Flüchtlinge ist bereits heute das Grundrecht auf Asyl zu einem reinen Gnadenakt verkommen. Künftig soll Flüchtlingen auch dann der Aufenthalt in der BRD untersagt werden — jetzt zitiere ich aus der Begründung des Papiers, das eigentlich kein Papier ist —, wenn ihre Menschenrechte nicht in vollem Umfang gewährleistet sind. Das heißt, in allen Ländern, wo dieser Standard nicht gehalten wird, wird mit dieser Begründung jeglicher Asyl- und Zufluchtsgrund geleugnet. Für Menschen, die vor Verfolgung, Hunger und Krieg fliehen, steht ein ganzer Abschreckungskatalog bereit, um ihnen den Zugang in die BRD zu versperren:
Paß- und Visazwang für Kinder, erweiterte Zurückweisungsmöglichkeiten an den Grenzen bei nicht ausreichenden Finanzmitteln, Einbeziehung von Fluggesellschaften als Hilfspolizisten, um nur einiges
aus diesem Papier, das kein Papier ist, zu benennen.
Gelingt es einem Flüchtling dennoch, in die Bundesrepublik zu kommen, so kann — so der Plan — eine Aufenthaltsgestattung auf ein Jahr befristet ausgestellt werden. Diese soll nur verlängert werden, wenn Gefahr für Leib und Leben im Heimatland besteht. Ob dies der Fall ist, entscheidet persönlich Innenminister Zimmermann.
Die „Süddeutsche Zeitung" kennzeichnet heute den Zimmermann-Entwurf als Entwurf zur Hofierung von rechtsradikalen Gruppen, als Entwurf für den Stammtisch, als Entwurf mit einem Phantombild des Ausländers als Feind der Deutschen.
Wir brauchen weder ein neues Ausländergesetz noch die alte Praxis, sondern ein Gesetz wie etwa die preußische Ausländerpolizeiverordnung vom 27. April 1932, deren § 1 lautet: „Jeder Ausländer ist zum Aufenthalt im preußischen Staatsgebiet zugelassen, solange er die in diesem Gebiet geltenden Gesetze und Verwaltungsvorschriften befolgt."
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Blens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zwei Dinge nicht tun. Ich will nicht auf das eingehen, was Frau Trenz gesagt hat, auf Vokabeln wie Rassismus, Apartheid, Nationalismus, mit denen sie den angeblichen Entwurf in Beziehung gesetzt hat. Das ist das Vokabular von Leuten, denen zur Sache nichts einfällt und die Politik dadurch machen, daß sie andere diffamieren. Das ist nicht mein Stil, das ist nicht mein Niveau. Deshalb sage ich dazu nichts.
Ich will auch nichts zu Einzelheiten eines Entwurfs sagen, der hier als Regierungs- oder Ministerialentwurf vorgestellt wird und der das tatsächlich nicht ist, wie jeder weiß, der informiert ist.
Mich interessieren Entwürfe aus Ministerien erst dann, wenn es Regierungsentwürfe sind, wenn über sie im Kabinett abgestimmt worden ist und sie dem Parlament zugeleitet worden sind.Lassen Sie mich deshalb nicht zu Einzelheiten, sondern zu zwei Grundsätzen des Ausländerrechtes etwas sagen, die für uns gelten. Der erste Grundsatz: Denen, die hier sind, müssen alle Chancen der Integration gegeben werden. Die Notwendigkeit dafür zeigen einige Zahlen. Von den rund 4,6 Millionen Ausländern, die hier leben, sind rund 1 346 000 junge Leute und Kinder unter 20 Jahren. Das sind 29,2 %; das ist fast ein Drittel der Ausländer.Sie sind überwiegend hier geboren. Sie sind überwiegend hier aufgewachsen. Das sind überwiegend
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6050 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1988
Dr. Blensjunge Leute, die zu Hause nicht mehr zu Rande kommen, schon deshalb nicht, weil sie die Sprache ihrer Heimat nicht verstehen.
Das sind Leute, die nur bei uns eine Lebenschance haben. Das sind Leute, denen wir diese Lebenschance durch Integration und auch durch rechtliche Voraussetzungen zur Integration geben müssen.
Lassen Sie mich eine weitere Zahl nennen. 2 764 000 der hier lebenden Ausländer leben länger als zehn Jahre bei uns. Das sind 60 % der Ausländer. Ich meine, schon die Dauer des Aufenthaltes zeigt deutlich, daß sie den Willen haben, hierzubleiben, der größere Teil lebenslang. Auch dem gilt es durch entsprechende ausländerrechtliche Bestimmungen Rechnung zu tragen. Nach meiner Überzeugung gilt für diese Menschen, die so lange hier sind, nicht der Satz: Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland.
Das ist der eine Grundsatz für diejenigen, die bei uns leben.Der zweite Grundsatz heißt: Wir müssen weiteren Zuzug auf Grund des Ausländergesetzes — ich sage ausdrücklich: auf Grund des Ausländergesetzes — in Zukunft weitgehend beschränken. Lassen Sie mich dafür fünf Gründe nennen.Der erste Grund: Die Ausländerzahl wird durch Familiennachzug und größere Kinderzahl sowie durch die Herstellung der Freizügigkeit innerhalb der EG 1992 bei uns in der Zukunft ohnehin ansteigen.Der zweite Grund: Wir müssen die Fähigkeit zur Aufnahme politischer Flüchtlinge erhalten, die nach Art. 16 des Grundgesetzes einen Anspruch auf Aufnahme bei uns haben.
In den letzten zehn Jahren, seit 1978, sind 597 129 Asylbewerber zu uns gekommen.Der dritte Grund: Wir müssen die Fähigkeit zur Aufnahme von Übersiedlern und Flüchtlingen aus der DDR erhalten. In den letzten zehn Jahren sind 188 374 Menschen zu uns gekommen. Die Zahl ist steigend.Der vierte Grund: Wir müssen die Fähigkeit zur Aufnahme von deutschstämmigen Aussiedlern aus Osteuropa erhalten. In den letzten zehn Jahren sind 500 478 Menschen aus Osteuropa zu uns gekommen, die einen Anspruch darauf haben, bei uns zu bleiben. Die geschätzte Zahl der Berechtigten in Osteuropa liegt bei 3 bis 3,5 Millionen.Wenn Sie diese letzten drei Gruppen — politische Flüchtlinge, Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR sowie Aussiedler aus Osteuropa — zusammen nehmen, ergibt sich, daß in den letzten zehn Jahren 1 285 981 Menschen zu uns gekommen sind, die zu diesen drei Gruppen gehören und bei uns Wohnung, Arbeit und Lebenschancen brauchen.Lassen Sie mich einen fünften Grund dafür nennen, daß wir Leute nicht einfach weiter hierherkommen lassen dürfen. Das ist der Arbeitsmarkt. Seit Mitte der 70er Jahre liegt die Arbeitslosenquote bei den Ausländern deutlich über dem Durchschnitt. Im Mai 1988, im vergangenen Monat, hatten wir 8,4 % Arbeitslosigkeit im Durchschnitt, bei den Ausländern 14,3 %, also 5,9 % mehr als im Durchschnitt. Der Hauptgrund ist bekannt: Die Ausländer sind wegen ihrer mangelnden beruflichen Qualifikation in Wirtschaftsbranchen beschäftigt, mit denen es bergab geht, und sie haben dort Arbeitsplätze, die verstärkt rationalisiert werden und damit wegfallen. Es hat keinen Sinn — ich behaupte, das ist weder sozial noch menschlich noch moralisch richtig —, Leute aus der Türkei hierherzuholen und sie hier der Arbeitslosigkeit zu überantworten. Da ist nicht richtig. Auch wenn tausend Pfarrer und Theologen das Gegenteil behaupten, ich bleibe dabei, daß das moralisch nicht vertretbar ist. Dem soll nach unserer Überzeugung auch das zukünftige Ausländerrecht entsprechen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Sonntag-Wolgast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche Themen dulden es nicht, daß sich Regierende und Gesetzgeber auf angebliche Mehrheitsmeinungen in der Bevölkerung berufen, um so Forderungen nach mehr Toleranz und Liberalität abzublocken.
Dazu gehört vor allem der Umgang mit Ausländern, und dazu gehört unser Thema Ausländerrecht. Am allerwenigsten kann sich ein Staat wie die Bundesrepublik direkte oder auch nur verhohlene Drohgebärden und Untertöne der Abschreckung oder Einschüchterung gegenüber den Angehörigen anderer Länder und anderer Religionen leisten.
Wenn ich, Herr Olderog, von „moralischen Lasten" höre, dann macht mich das in diesem Zusammenhang sehr betroffen.
Ausländer und Ausländerinnen sind zu uns gekommen — wir wissen es , die Zahlen hat uns Herr Blens eben genannt — , viele wollen mit ihren Familien auf Dauer hierbleiben. Diese Familien haben jetzt wirklich einen Anspruch darauf, sich bei uns nicht nur achselzuckend oder halb widerwillig geduldet zu fühlen, sondern sich willkommen zu fühlen, und das müssen wir ihnen zeigen.
Solche positiven Signale muß ein verändertes Ausländerrecht setzen. Es muß möglich sein, Ausländern zu zeigen, daß ihre Anwesenheit uns auch guttut, daß wir aus ihrer kulturellen und sozialen Eigenständig-
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Frau Dr. Sonntag-Wolgastkeit lernen können. In diesem Sinne, Herr Gerster, würde ich mir Emotionalisierung positiver Art, Sympathiewerbung, Herzlichkeit gegenüber Ausländern gerade aus den Reihen Ihrer Fraktion etwas öfter wünschen, als Sie es oft bekunden.
Wir brauchen uns nicht darüber zu streiten, daß der Anwerbestopp von 1973 angesichts der schlimmen Arbeitsmarktlage bestehenbleiben muß. Das sagen alle, die sich um Ausländer kümmern, genauso. Unstrittig ist auch, Herr Blens, daß Ausländer von Erwerbslosigkeit besonders stark betroffen sind. Was ist daraus aber zu folgern? Ich meine nicht, daß man Ausländer in die sogenannte Dreckarbeit, die unqualifizierte Arbeit abdrängen darf, sondern daß man ihnen Chancen zur beruflichen Qualifikation eröffnen muß. Denn eines ist auch klar: Qualifizierte Arbeitnehmer, auch ausländische Arbeitnehmer, werden in Zukunft durchaus gesucht werden. Der Begriff „Integration" spielt in dem Papier — oder wie wir es nennen wollen — des Innenministeriums eine große Rolle. Nur müßte „Integration" , richtig verstanden, nicht nur pathetisch auf das Papier gesetzt werden, sondern auch in die Praxis der Verwaltung Einzug halten. Wer nun aber erschwert und behindert, wer Hürden aufbaut, der mißachtet dieses Prinzip der Integration.Ich glaube, ein verbessertes Ausländergesetz muß auch Familien endlich Klarheit darüber geben, wann Sie eigentlich ihre Angehörigen kommen lassen dürfen, ob sie ihren Kindern etwa einen geordneten Schulbesuch sichern, einen festen Freundeskreis aufbauen können. Die Verantwortung für das Schicksal der Kinder und Jugendlichen der zweiten und mittlerweile der dritten Generation ist, wie wir wissen, wohl eine der wesentlichen Aufgaben der Ausländerpolitik heute.Ich sehe aber Drohgebärden und Zeichen gequälter Abwehr in dem Papier des Innenministers.
Nur wenige Kostproben möchte ich mit Genehmigung des Präsidenten hier zitieren:Die Bundesrepublik Deutschland ist auf Dauer vor das Problem gestellt, quantitativ erhebliche Zuwanderungen von Ausländern verkraften zu müssen.Oder:Mit der Integrationszusage hat sich die Bundesrepublik Deutschland eine erhebliche Last auferlegt.Was für eine Sprache! Das ist das Spiel mit offener und versteckter Fremdenfeindlichkeit, und das ist der Versuch, den rechten Rand der Wählerschaft einzufangen.
Wir Sozialdemokraten wehren uns gegen diesen Geist, der das Papier prägt, und wir wehren uns auch gegen die Methode, mit dem Hinweis auf ausländerfeindliche Tendenzen, die man schließlich im Auge behalten müsse, restriktive Verordnungen und Formulierungen zu liefern. Denn damit wird Ausländerfeindlichkeit geschürt und nicht bekämpft.Danke schön.
Meine Damen und Herren, es war einmal Brauch in diesem Hause, daß einer Abgeordneten oder einem Abgeordneten, die oder der zum erstenmal an dieses Mikrophon getreten ist, die Glückwünsche des Hauses ausgesprochen werden. Ich möchte diese gute Tradition auch heute pflegen. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Erstrede, die im Volksmund und auch im Parlament Jungfernrede genannt wird, recht herzlich und gebe Ihnen von vornherein einen Rabatt für die kommenden Reden, die Sie halten werden: Sie brauchen den Präsidenten nicht erst um Genehmigung zu bitten, ein Zitat bringen zu dürfen. Aber gut ist es, wenn Sie Anfang und Ende des Zitats so deutlich abheben, daß man weiß: Da hat es begonnen, und da ist es zu Ende.
Das letzte, was ich noch sagen wollte, ist: Sie haben bisher das Parlament von außen beurteilt, betrachtet und vielleicht auch darüber geredet oder geschrieben. Ich möchte Sie bitten, einmal sehr aufmerksam zu verfolgen, was aus Ihren Reden hier in diesem Hause in der journalistischen Verbreitung geschieht.
In diesem Sinne: ein gutes Eingewöhnen hier im Deutschen Bundestag!
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lüder. — Mit dem „Dr. " ist es auch so eine Geschichte. Man weiß nicht: Ist er Dr., ist er nicht Dr.?
Schaden würde es nichts. — Herr Lüder, bitte sehr!
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe zuviel Politik gemacht und keine Zeit gehabt, mich um eine Promotion zu kümmern.
Wir haben in dieser Debatte verschiedene historische Bezüge gehört. Herr Olderog, Sie werden Verständnis dafür haben, daß ein Atheist wie ich nicht mehr auf die Bergpredigt eingeht. Ich möchte aber festhalten, daß die Wirkung der Bergpredigt jedenfalls 2 000 Jahre angehalten hat. Niemand von uns weiß, welcher unserer Beiträge auch nur annähernd einen Promillesatz dieser Dauer entfalten könne.
Ich komme aus einer Stadt, die im letzten Jahr 750 Jahre alt geworden ist. Als wir dieses Jubiläum feierten, haben wir zur Kenntnis nehmen dürfen, daß zu den wichtigen Punkten der Berliner Geschichte gehört, daß wir einen 25%igen Ausländeranteil hat-
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Lüderten, als die Preußenkönige die Hugenotten hereinholten.
Ich meine, daß Berlin in diesem Jahr als Kulturhauptstadt Europas nicht legitimiert wäre, wenn es nicht eine solche Geschichte hätte.
Das heißt, daß wir von einem Ausländerverständnis ausgehen müssen, das durch diese Geschichte geprägt ist. Oder noch deutlicher: Gestern war 40jähriger Gedenktag der Blockade. Jeder denkt bei Blokkade an Ernst Reuter. Ernst Reuter war Asylant in der Türkei
ausgerechnet in dem Land, aus dem die Gastarbeiter heute kommen.
Ich finde, daß wir uns dessen mit Nachdruck bewußt sein müssen.Wenn wir im nächsten Jahr das 40jährige Bestehen der Bundesrepublik begehen — deswegen freue ich mich, Herr Staatssekretär Waffenschmidt, daß Sie da sind und nicht Ihr Minister —, müssen wir auch daran denken, daß wir Deutschen es waren, die die Ausländer hierhergeholt haben, ohne Rücksicht darauf, ob sie aus EG-Staaten kamen oder nicht, nur einfach deswegen, damit sie die Arbeit machten, für die unsere Landsleute nicht mehr zur Verfügung standen.
Ich meine, daß dieser Gesamtrahmen berücksichtigt werden muß, wenn wir uns um Ausländerpolitik kümmern und wenn wir zur Ausländerfrage etwas sagen wollen.Lassen Sie mich im Hinblick auf die kurze Zeit, die uns hier zur Verfügung steht, nur in sieben Sätzen noch einmal die Auffassung präzisieren, die die Freien Demokraten prägt.Erstens. Wir meinen, daß wir von Ausländern nur reden können, wenn wir auch akzeptieren, daß die Ausländer unsere Mitbürger sind, nicht aber wenn sie Fremdkörper sind.
Zweitens. Asylbewerber dürfen nicht diffamiert werden, auch dann nicht, wenn auf einen berechtigten Asylbewerber 20 unberechtigte Antragsteller kommen.Drittens. Wir werden, Herr Waffenschmidt, jeden Entwurf der Bundesregierung, sobald er das Stadium des Entwurfs erreicht hat, kritisch prüfen; wir werden ihn prüfen, ob er unserem Menschenbild gerecht wird.Aber wir sagen — viertens — auch, daß wir eine doppelte Regelung, wie sie bisher vorgesehen ist, mit großer Skepsis betrachten. Wir sagen heute noch kein Ja zu einer Trennung in zwei Entwürfe.Fünftens. Wir wollen, das die Familien nicht getrennt werden, schon gar nicht durch Gesetze. Wir wollen nicht, daß wir ein Gesetz haben, das für einen Teil der Familie gilt, und ein anderes, das für den anderen Teil der Familie gilt.Sechstens. Wir wollen in Ruhe beraten. Aber wir sagen auch, daß die Ausländer Anspruch darauf haben, bald Klarheit zu haben, was mit ihnen geschieht.Siebtens. Meine Damen und Herren, wir werden jetzt in die Ferien gehen, viele von uns werden grenzüberschreitend in die Ferien gehen. Lassen Sie uns bedenken: Wir sind allzumal Ausländer.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede Debatte über die bei uns lebenden Ausländer und über rechtliche Regelungen ist immer auch ein Spiel mit dem Feuer. Ich finde, daß die Debatte, bis auf zwei Beiträge, hier heute mittag gezeigt hat, daß es für den Geist, der aus dem Papier spricht, keine Mehrheit im Deutschen Bundestag gibt.
Das ist wohltuend und wichtig. Ich habe auch das Gefühl, daß die, die darauf lauern, daß es für den Geist, der aus diesem Papier spricht, eine Mehrheit in unserem Volk gäbe, unrecht haben.
Ich glaube, daß es für diesen Geist keine Mehrheit gibt.Was nach dieser Diskussion aber zu bedauern ist, ist, daß sich außer den Freien Demokraten niemand hier aus den Regierungsparteien klar und deutlich von diesem Geist distanziert und die Sprache und den Grundgedanken dieses Papiers zurückgewiesen hat.Auf diesen Grundgedanken will ich noch einmal eingehen, weil auch Herr Olderog darüber gesprochen hat: Wir haben in der deutschen Geschichte die Diskussion über diesen Grundgedanken immer gehabt, nämlich: Haben wir ein völkisch verstandenes Gemeinsamkeitsgefühl, oder haben wir ein übernationalrechtliches Gemeinsamkeitsgefühl? Haben wir also Bürgerrechte als das Zusammengehörigkeitselement, wie es die Franzosen nach der Aufklärung sehen, oder haben wir diese nationalkulturelle Geschlossenheit, von der Herr Dr. Olderog gesprochen hat? Dieses ist ein Kampf, der die deutsche Geschichte seit 200 Jahren begleitet. Wir wissen, wohin wir an einem Punkt der deutschen Geschichte mit der falschen Auslegung, mit der nicht aufgeklärten Auslegung geraten sind.Deshalb müssen wir, auch wenn es nur ein Papier in einem Ministerium ist, im Grundsatz diesen Geist zurückweisen. Er paßt nicht mehr in unsere Geschichte,
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Duveund er paßt auch nicht in die Geschichte von morgen; denn wir müssen uns auch fragen: Wie wollen wir morgen eigentlich leben? Da bemüht sich Herr Strauß um einen Fußballer aus der Sowjetunion. Er soll hier dazugehören und eines Tages in wichtigen nationalen Mannschaften spielen. Das wird akzeptiert. Wir leben mit Tausenden von Ausländern aus Firmen zusammen; wir sind alle viele Wochen und Monate im Jahr immer wieder Ausländer, wenn wir unsere Grenzen überschreiten. Wir leben in einer anderen Welt. Herr Dr. Olderog, der Geist, der aus Ihrer kurzen Rede spricht — ich sage das ganz wertfrei; wir haben beide Vorfahren aus Fehmarn, wo im Laufe der Geschichte wenig Ausländer hingekommen sind — , der Geist, der aus diesem Papier spricht, paßt nicht in dieses auslaufende 20. Jahrhundert und paßt überhaupt nicht ins 21. Jahrhundert. Wir würden uns auch isolieren, wenn wir mit diesem Anspruch völkischer Geschlossenheit leben wollen. Wenn wir hier einen Konsens finden könnten, dann habe ich nicht so eine Angst um dieses Spiel mit dem Feuer.
— Doch.Nun will ich noch eine Schlußbemerkung machen. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder erlebt, daß kurz vor Wahlkämpfen bestimmte politische Kräfte, bestimmte Politiker das Thema Ausländer, sei es im Zusammenhang mit Asyl, sei es im Zusammenhang mit den Gastarbeitern hochgezogen haben, um im Wahlkampf — —
— Ich kann das für meine Freunde und mich nicht sehen. Wir sind dem nicht gefolgt. Ich habe vielmehr im Deutschen Bundestag gerade gegen den Mißbrauch dieses Themas im Wahlkampf eine Rede gehalten.Ich möchte Sie sehr herzlich bitten, auch im Zulauf auf dieses Gesetzesvorhaben nicht mit den verteilten Rollen zu spielen, die mein Kollege Schröer hier dargestellt hat: Kurz vor der Wahl kommt man dann mit dem Gesetzesstreit auch in der Koalition, in dem die einen sagen: Human, so geht das nicht!, und die anderen sagen: Eigentlich wollten wir es viel strenger haben!, und beide sozusagen werben. Das ist dem Gesetzesvorhaben unangemessen. Das ist dem Thema unangemessen.
Also kein Wegdrücken des Zeitdrucks! Wir haben einen Zeitdruck. Sie haben auch einen Zeitdruck. Wenn Sie das ins Wahljahr hineinbringen, sind wir wieder in diesem Teufelskreis,
den Sie vor den letzten Wahlen immer wieder benutzt haben. Davor möchte ich sehr warnen. Wenn es dafür einen Konsens gibt, dann danken wir damit der deutschen Bevölkerung dafür, daß sie erstaunlicherweise nach dem, was bis 1945 war, in großartiger Form, allesin allem genommen — niemand hätte das erwartet —, so viel Toleranz entwickelt hat, daß wir, alles in allem, in bezug auf diese Frage sozialen Frieden im Lande haben. Diesen sozialen Frieden müssen wir erhalten.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kappes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nur einige Anmerkungen zu dem machen, was hier heute vorgetragen wurde.Als größte Zumutung habe ich empfunden, was der Kollege Wartenberg gesagt hat. Er hat nämlich gemeint, wir müßten erst einmal unsere Gesinnung ändern, bevor er über Details spreche. Er hat uns davor gewarnt, Kampfbegriffe zu verwenden. Herr Kollege Duve hat eben sogar gemeint, wir sollten, obwohl wir doch die Vertreter des deutschen Volkes in diesem Parlament sind, nicht so sehr darauf achten, was die Mehrheitsmeinung der deutschen Bevölkerung ist.
Ich halte das für eine unglaubliche Forderung. Wenn wir nicht dazu kommen, daß wir in aller Sachlichkeit über Details reden, sondern uns erst einmal gegenseitig abverlangen, zuvor unsere Gesinnung zu ändern, dann werden wir nicht weiterkommen.
— Ich habe sehr genau zugehört. Ich pflege im allgemeinen genau zuzuhören.Ich möchte dann etwas zu dem sagen, was der Kollege Schröer gemeint hat. Er hat einige schöne Überschriften genannt, die bei einer Neuregelung des Ausländerrechts wichtig seien. Es ist gar nicht schwierig, dem zuzustimmen: Er sagt etwa, mehr Berechenbarkeit sei notwendig, damit mehr Rechtssicherheit eintritt. Da werden wir uns nicht streiten. Er sagt, man brauche für Integration mehr berufliche Perspektiven. Das werden wir auch irgendwo besprechen; da muß man nach Lösungen suchen. Aber da kommt es eben genau auf die Einzelheiten an, über die wir sachlich miteinander reden müssen.Und er hat dann gemeint, die Betroffenen könnten nicht mehr länger warten, es würde eine Politik der Ausgrenzung und Abgrenzung betrieben. Ich frage Sie, woher Sie das eigentlich wissen! Von einigen Funktionären, oder sprechen Sie öfter einmal nicht nur mit denen, die irgendwo in Verbänden an der Spitze sind, Frau Kollegin Olms, sondern mit den Ausländern, mit denen man sonst zu tun hat? Ich habe noch nicht das Gefühl gehabt, daß wir in einer Situation wären, in der nichts eiliger wäre als diese Novellierung, auch wenn wir daran arbeiten wollen.Zur Ausgrenzung. Meine Damen und Herren, zunächst ein Wort zu dem, was Frau Trenz gesagt hat. Ich distanziere mich nicht von einer Aussage wie der, daß die Bewahrung des nationalen Charakters legiti-
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Dr. Kappesmes Ziel jedes Volkes sei! Ich halte es für ganz richtig, wenn das darin steht. Ich kann mich zwar jetzt nicht daran erinnern, -das da genau so gelesen zu haben. Aber Sie sollten auch nicht vergessen, daß das Grundgesetz im Prinzip auf dem Nationalstaatsprinzip aufbaut. Das kann man nicht einfach wegdiskutieren. Und ohne nun bestreiten zu wollen, daß hier in unserem Land nach dem Kriege von ausländischen Gruppen und Mitbürgern viele gute Akzente gesetzt worden sind, sind wir doch nicht auf dem Weg zu einer „multikulturellen Gesellschaft".
Ich finde, wir sollten dabei klar auseinanderhalten, was hier auseinanderzuhalten ist.Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist ganz einfach folgendes: Wir brauchen eine nüchterne Anpassung an veränderte Umstände. Wir brauchen zweifellos ein neues Ausländerrecht, das weniger Polizeirecht ist, als das im vergangenen Jahrhundert der Fall war. Wir brauchen ein mehr bundeseinheitliches Recht, d. h., wir brauchen ein Recht, das weniger Unterschiede zwischen den Ländern, insbesondere bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, etwa beim Bezug von Sozialhilfe oder nach Straffälligkeit oder beim Ehegattennachzug und bei der Familienzusammenführung aufweist. Das geht in der Bundesrepublik Deutschland viel zu sehr auseinander. Das sind Dinge, die gemacht werden müssen.Meine Damen und Herren, im übrigen warne ich Sie — auf anderen Gebieten setzen Sie eigentlich auch nicht so große Erwartungen in die Gesetze, die wir hier verabschieden — : Es wird gar nicht so sehr darauf ankommen, was wir nun an Einzelheiten in den Entwurf aufnehmen, denn es werden immer Ermessensbegriffe eine Rolle spielen. Es wird also darauf ankommen, wie das Gesetz ausgefüllt wird. Wenn Sie das einmal genau betrachten, dann werden Sie feststellen, daß schon jetzt sehr viel davon abhängt, wie die einzelne Ausländerbehörde das Gesetz handhabt.
Meine Damen und Herren, alles in allem möchte ich sagen: Da es sich hier um ein sehr sensibles Gebiet handelt, ist genau vor dem zu warnen, was Sie hier machen. Herr Duve, ich sage Ihnen eines: Gerade weil das eine Frage ist, die die Menschen draußen interessiert, kann ich mich nicht dazu bereiterklären, mit ihnen nicht darüber zu sprechen und etwa zu sagen, das machen wir hier nur unter uns, und darauf nicht Rücksicht zu nehmen.
Ich muß Ihnen sagen: Auch vor der letzten Bundestagswahl habe ich das nicht gemacht, und ich bin überhaupt nicht der Meinung, daß man ein solches Thema aus der öffentlichen Diskussion einfach ausklammern kann. Wir sollten vielmehr versuchen, uns sachlich über die Details zu unterhalten, damit wir vernünftige Regelungen finden. Wir sollten uns davorhüten, den Versuch zu machen, dem anderen unsere eigene Gesinnung überzustülpen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Fellner.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Sie Opfer dieses unfreundlichen und wenig sachdienlichen Aktes der GRÜNEN um diese Tageszeit geworden sind!
Herr Hirsch, ich fühle mich als Bayer, als Mitglieder dieser immer beliebter werdenden deutschen Minderheit, nicht diskriminiert, wenn ich hier als letzter sprechen darf. Ich würde den Minderheiten empfehlen, sich meine Gelassenheit sozusagen zum Vorbild zu nehmen. Sie brauchen sich um mich also nicht zu sorgen.
— Herr Kollege Duve, ich brauche mich hier nicht von einem Geist zu distanzieren, den Sie als Geisterbeschwörer fehlinterpretierend hier in den Raum gestellt haben. Wenn Sie meinen, es sei ein schlechter Geist, daß wir mit diesen gesetzgeberischen Vorhaben ganz deutlich z. B. die Integration der ausländischen Mitbürger hier fördern wollen, dann, glaube ich, wäre daran doch nichts zu kritisieren.
Das ist bestimmt nicht von schlechtem Geist.Herr Kollege Wartenberg, Sie haben von den Erfahrungen im skandinavischen Raum gesprochen. Natürlich wird dort manches unverkrampfter gesehen. Sie müssen aber auch sehen, daß das nur für den Bereich gilt, in dem es um die Bürger aus den skandinavischen Nachbarländern geht, und daß in diesen Ländern sehr wohl deutliche Abgrenzungs- und auch Fernhalteüberlegungen bestehen, wenn es um sonstige Ausländer geht. Sie wissen ja auch, daß wir in einem Ausländergesetz zwischen den EG-Nachbarn und anderen Ausländern, die zu uns kommen wollen, differenzieren würden, ja, differenzieren müßten.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß ein Ausländerrecht weder ein Recht für noch gegen Ausländer oder auch kein Recht für oder gegen den deutschen Bürger sein darf. Das gesamte Regelwerk muß sicherstellen, daß in Deutschland Deutsche und Ausländer in Frieden miteinander leben können.
Deshalb können sich Idealvorstellungen ausländischer Mitbürger von einem Gesetz, das allen ihren Wünschen entspricht, sicherlich nicht erfüllen.Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, deshalb dient es auch nicht den Interessen der Ausländer, wenn Sie hier Erwartungen fördern, die kein deutscher Gesetzgeber erfüllen kann und nach unserer Verfasssung zum Teil auch gar nicht erfüllen darf. Es
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Fellnerdient auch nicht den Interessen der ausländischen Mitbürger und ist nach meiner Einschätzung einfach unverantwortlich, wenn Sie hier Ängste schüren, indem Sie einen noch nicht abschließend gebildeten politischen Willen bewußt falsch interpretieren und so darstellen, als sei das schon so gut wie bestehendes neues Recht.Ich kenne die Besorgnisse, die in Kreisen der ausländischen Mitbürger gerade dann herrschen, wenn solche Zeitungsmeldungen wie gerade heute von einer bekannten süddeutschen Zeitung willfährig und in dienerischer Manier in den Raum gesetzt werden. Ich weiß, welche Besorgnisse entstehen, wenn darin Dinge stehen, die einfach nicht den Tatsachen entsprechen.Was künftige Rechtsgrundlagen für Ausländer sind, wird der Bundestag entscheiden. Mehr als Grundzüge zu dieser Frage stehen nicht fest.
Die Grundzüge sind mehrmals genannt worden: Wir wollen den hier lebenden Ausländern Klarheit geben, daß sie bleiben können, und wollen ihnen bei der Integration helfen. Wir wollen aber den weiteren Zuzug begrenzen, weil die durchaus vorhandene Bereitschaft und die Aufgeschlossenheit unserer Bürger zum Zusammenleben mit Ausländern nicht überstrapaziert werden darf.
Wir haben guten Grund, Besorgnisse dieser Bürger ernst zu nehmen, auch wenn solche Besorgnisse an Stammtischen geäußert werden. Dort wird, wenn es Unsinn ist, meist nur der Unsinn geredet, der vorher in den Zeitungen stand. Aber wir haben guten Grund, unserer Verantwortung auch dadurch gerecht zu werden, daß wir die Probleme und Besorgnisse, die die deutschen Mitbürger im Zusammenhang mit Ausländern haben, ernst nehmen. Das ernst zu nehmen erfordert es einfach, wenn wir ehrlich mit den Ausländern umgehen.Danke schön.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Damit sind wir auch am Ende unserer Tagesordnung und der Sitzung.
Wir treten in die Sommerpause ein. Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Urlaub für Sie und Ihre Angehörigen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 6. September 1988, 11 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.