Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich folgende amtliche Mitteilungen zur Verlesung bringen:Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt, in der verkürzten Sitzungswoche vom 15. Juni 1988 keine Fragestunde durchzuführen. Sind Sie mit der Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Des weiteren ist vereinbart worden, daß in der Sitzungswoche vom 20. Juni nur eine Fragestunde stattfinden soll, und zwar am Mittwoch, dem 22. Juni, um 13 Uhr.Nach einer weiteren interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:6. a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über dieGemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes"— Drucksachen 11/675, 11/2418, 11/2456, 11/2444 —b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFörderung der Stillegung landwirtschaftlicher Nutzflächen sowie der Extensivierung und Umstellung der Erzeugung
— Drucksachen 11/2158, 11/2418, 11/2456, 11/2444 —7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Schäfer , Blunck, Conrad, Hiller (Lübeck), Kiehm, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Schutz, Terborg, Dr. Hauff, Dr. Hartenstein, Lennartz, Dr. Schöfberger, Stahl (Kempen), Weiermann, Bachmaier, Conradi, Fischer (Homburg), Koltzsch, Dr. Martiny, Menzel. Waltemathe, Ewen, Dr. Hauchler, Tietjen, Weyel, Fuchs (Verl), Steiner, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Jungmann, Kuhlwein, Gansel, Heyenn, Faße, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD:Maßnahmen zur Rettung der Nordsee und der Ostsee — Drucksache 11/2425 —8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Laufs, Carstensen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum und Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP:Algenmassenentwicklung und Seehundsterben in Bereichen der Nord- und Ostsee— Drucksache 11/2457 —9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Garbe, Frau Wollny, Brauer, Dr. Daniels , Dr. Knabe und der Fraktion DIE GRÜNEN:Notprogramm gegen das Nordsee- und Ostseesterben— Drucksache 11/2399 —10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Schäfer , Blunck, Conrad, Hiller (Lübeck), Kiehm, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Schütz, Terborg, Dr. Hauff, Dr. Hartenstein, Lennartz, Dr. Schöfberger, Stahl (Kempen), Weiermann, Bachmaier, Conradi, Fischer (Homburg), Koltzsch, Dr. Martiny, Menzel, Waltemathe, Ewen, Dr. Heuchler, Tietjen, Weyel, Fuchs (Verf), Steiner, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Faße, Kuhlwein, Heyenn, Gansel, Jungmann, Leidinger, Bernrath, Kretkowski, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD:Konzertierte Aktion zur Rettung der Nordsee und der Ostsee— Drucksache 11/2426 —11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Garbe und der Fraktion DIE GRÜNEN:Schutz der Nordseezu dem Antrag der Fraktion der SPD:Schutz der Nordsee — II. Internationale Nordseeschutzkonferenz November 1987 in Londonzu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Laufs, Carstensen , Austermann, Clemens, Weiß (Kaiserslautern) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum, Frau Dr. Segall, Wolfgramm (Göttingen), Kleinert (Hannover), Bredehorn, Frau Folz-Steinakker, Funke, Dr. Hirsch, Neuhausen, Richter, Ronneburger, Timm und der Fraktion der FDP:2. Internationale Nordseeschutzkonferenzzu dem Bericht der Bundesregierung zur Vorbereitung der 2. Internationalen Nordseeschutz-Konferenz vom 21. September 1987— Drucksachen 11/247, 11/299, 11/1048, 11/878, 11/2184 —Sind Sie mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 und den Zusatztagesordnungspunkt 6 auf:20. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
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5664 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Präsident Dr. JenningerRahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" für den Zeitraum 1988 bis 1991— Drucksache 11/2153 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit HaushaltsausschußZP6 a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes"— Drucksache 11/675 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksachen 11/2418, 11/2456 —Berichterstatter:Abgeordnete Carstensen Müller (Schweinfurt)
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/2444 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Struck Frau VennegertsSchmitz
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Förderung der Stillegung landwirtschaflicher Nutzflächen sowie der Extensivierung und Umstellung der Erzeugung
— Drucksache 11/2158 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksachen 11/2418, 11/2456 —Berichterstatter:Abgeordnete Carstensen Müller (Schweinfurt)bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/2444 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Struck Frau VennegertsSchmitz
Hierzu liegen Änderungs- und Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, der Fraktion der SPD sowie der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/2440, 11/2445, 11/2453 bis 11/2455 vor.Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart, für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorzusehen. — Sie sind damit einverstanden.Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor gut sechs Wochen haben wir in diesem Haus bei der Einbringung des Agrarberichts 1988 ausführlich über die schwierige Situation in der deutschen Landwirtschaft und über erforderliche Abhilfemaßnahmen diskutiert. Wir waren uns dabei einig, daß der Kern des Übels die anhaltende Überschußsituation auf wichtigen Agrarmärkten ist. Marktentlastung durch Produktionsanpassung ist das Gebot der Stunde — so war unsere Auffassung. Denn ohne Rückführung der Überschußproduktion ist keine Preis- und Einkommensstabilisierung für unsere Landwirte zu erwarten.Zu welchem Ergebnis eine gezielte Anpassung der Produktion an den Bedarf führen kann, zeigt sich beim Produkt Milch. Die Läger für Magermilchpulver sind praktisch leer. Bei Butter haben wir mit rund 500 000 Tonnen einen Bestand, der sich langsam einer normalen Lagerhaltung nähert. Vor zwei Jahren hätten wir nicht daran zu denken gewagt, als noch von einem Butterberg von mehr als 1 Million Tonnen und rund 800 000 Tonnen Magermilchpulver in den Lägern die Rede war. Warum sage ich das hier? Nicht durch Gesundbeterei, durch konkretes Tun, durch Festhalten an dem, was einmal für richtig befunden wurde, konnte dieser Erfolg sichergestellt werden.Die EG-Regierungschefs haben am 12./13. Februar dieses Jahres den Grundsatzbeschluß gefaßt, die Produktion pflanzlicher Produkte sowohl durch preispolitische als auch durch direkt mengenrückführende Maßnahmen zu begrenzen. Es waren auf EG-Ebene wie auf nationaler Ebene eine Vielzahl von Gesprächen und Aktivitäten notwendig, um auf dem von uns favorisierten Weg der Mengenbegrenzung an der Quelle, in diesem Fall der Teilflächenstillegung, voranzukommen. Für die ebenfalls beschlossene Extensivierung und Produktionsumstellung warten wir noch auf die detaillierten Ausgestaltungsvorschläge aus Brüssel.Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes". Dieser Gesetzentwurf, der auf eine Initiative des Bundesrates zurückgeht, soll die Zielsetzung der Gemeinschaftsaufgabe
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5665
Bundesminister Kiechleerweitern. Die Bundesregierung hat ausdrücklich dem Anliegen des Bundesrates zugestimmt, die Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur an die seit 1969 veränderten gesamtwirtschaftlichen und agrarpolitischen Rahmenbedingungen anzupassen und dabei Maßnahmen zur betrieblichen Ausrichtung an die Marktentwicklung sowie zur Sicherung eines nachhaltig leistungsfähigen Naturhaushalts stärker zu berücksichtigen.Die EG-Beschlüsse zu einem Programm der Teilflächenstillegung, Extensivierung und Umstellung haben diese Initiative des Bundesrates inzwischen bestätigt. Bund und Länder haben sich darauf verständigt, die Maßnahmen in einem Sonderrahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" zu verwirklichen und sie auf fünf Jahre zu befristen, wobei sich der Bund zu 70 % und die Länder zu 30 % an der Finanzierung beteiligen.Die bisherigen Arbeiten der Koalitionsfraktionen an dem sogenannten Extensivierungsgesetz und der entsprechenden Durchführungsverordnung waren nicht vergebens. Sie sind Grundlage bei der Ausgestaltung der entsprechenden Förderungsgrundsätze im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe.Ich möchte bei dieser Gelegenheit den Koalitionsfraktionen für die beharrliche Unterstützung bei der Umsetzung der in Brüssel beschlossenen Teilflächenstillegungen in nationales Recht danken. Dank ihrer Vorarbeiten und ihres intensiven Bemühens um praktikable Lösungen sollen die Grundsätze zur Förderung der Stillegung von Ackerflächen bereits am 23. Juni dieses Jahres im Bund-Länder-Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe, meist PLANAK genannt, endgültig verabschiedet werden. Wie vorgesehen stehen damit rechtzeitig vor der Herbstaussaat den Landwirten die Informationen zur Verfügung, die sie brauchen, um das Angebot der Flächenstillegung gegen Ausgleichszahlungen zu prüfen und anzunehmen oder auch abzulehnen. Bekanntlich ist es jedem Landwirt freigestellt, an dem Programm zur Flächenstillegung teilzunehmen.Die Förderung der Teilflächenstillegung und später — voraussichtlich zum 1. Januar 1989 — der Extensivierung und Umstellung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe hat gegenüber einer gesetzlichen Grundlage einen entscheidenden Vorteil: Die Förderungsgrundsätze lassen sich flexibler handhaben und leichter den praktischen Erfordernissen in den Ländern anpassen. Wir haben zwar in Niedersachsen bereits erste Erfahrungen mit der Teilflächenstillegung sammeln können; die Übertragung dieser Erfahrungen auf die Situation in den anderen Bundesländern steht aber noch aus. Änderungen am Förderungskonzept könnten sich als notwendig oder als sinnvoll erweisen. Dann muß unter Umständen rasch reagiert werden.Im jährlichen Bericht der Bundesregierung über die zukünftige Gestaltung der Gemeinschaftsaufgabe werden Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten, über den Stand der Maßnahmen jeweils so rechtzeitig informiert, daß Sie auf die weiteren Entscheidungen Einfluß nehmen können. Von den insgesamt zur Verfügung stehenden Mitteln in Höhe von 357 MillionenDM ist ein Teil für die Extensivierung und Umstellung, für die Rodung im Weinbau und die Honorierung extensiver Fleischrinderhaltung zu reservieren. Die Mittel des Bundes werden nach einem Länderschlüssel aufgeteilt, so daß die Bundesländer gewisse Steuerungsmöglichkeiten haben.Ein weiteres lassen Sie mich abschließend noch klarstellen. Mit dem Entgelt für die Flächenstillegungen werden die Bauern nicht fürs Nichtstun bezahlt. Mit dem Einkommensausgleich, der in der genauen Höhe in den nächsten Tagen noch mit den Ländern festzulegen ist, werden vielmehr folgende Leistungen bezahlt: Zunächst der Verzicht auf Produktion und die dadurch bewirkte Entlastung des Agrarmarktes. Ein Verzicht auf Produktion fällt nicht jedem leicht. Letztlich möchte wohl jeder Bauer seine einzelbetrieblichen Möglichkeiten nutzen und nicht stillegen. Wie bei Milch müssen wir aber auch bei pflanzlichen Produkten zu einer Marktentlastung kommen, um weiterem Preisdruck entgegenzuwirken.Ferner wird mit dem Entgelt für die Flächenstillegung die Pflege der Flächen honoriert. Schließlich ist die Teilflächenstillegung ein wichtiger Beitrag der Bauern für mehr Ökologie in der landwirtschaftlichen Produktion.Ich möchte die Teilflächenstillegung in ihrer agrarstruktur-, markt- und umweltpolitischen Wirkung nicht überbewerten. Für sie spricht aber zumindest die Vielfalt der Ziele, die gleichzeitig mit ihr zu erreichen sind.Um die Flächenstillegung in der Praxis voll zum Tragen zu bringen, sind in einigen anderen Gesetzen Folgeänderungen notwendig. Dem wird in besonderen Artikeln des vorliegenden Gesetzentwurfes auch Rechnung getragen.Meine Damen und Herren, Alternativen zu einer solchen Maßnahme, die noch dazu EG-weit durchsetzbar wären, gab es kaum, durchsetzbare gar nicht. Ich hoffe, daß wir mit einem solchen Weg einen guten Anfang für ein weiteres Element der Agrarpolitik machen, nämlich auch das Weniger-Produzieren zu honorieren.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg drei Anmerkungen zu dem Gesetzentwurf, über den wir heute hier beschließen sollen.Zuerst eine formale Feststellung. Der Ablauf des parlamentarischen Verfahrens bei diesem Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung dem Parlament zugemutet haben, ist unvertretbar, um nicht zu sagen: unverantwortlich. Es gab ein planloses Hin und Her bei der Vorlage verschiedener Entwürfe. Der verspätete Zeitpunkt Ihrer Vorlage ließ dem Ernährungsausschuß genau eine
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5666 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Müller
Stunde Zeit, um zu beraten und sein Votum abzugeben,
und heute sollen wir nun beschließen. Seit gestern hat sich wiederum eine Änderung des Entwurfs ergeben, über den der Ausschuß überhaupt nicht beraten konnte.
Ein solches Verfahren, meine Damen und Herren, ist unzumutbar — ich sage das für alle Kollegen hier im Plenum —,
vor allem auch, weil es nicht das erstemal ist — ich erinnere an das Gesetz zur Entlastung von Sozialbeiträgen — , daß man so mit dem Parlament umgeht. Ich appelliere deshalb an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß dies wirklich das letzte Mal ist, denn so wird das Selbstverständnis des Parlaments in Frage gestellt. Die Maßnahmen, um die es hier heute geht, ihre Komplexität, die damit verbundenen Probleme und die Folgen für die deutschen Landwirte, die Landwirtschaft und die Landschaft hätten eine umfassendere Diskussion nicht nur verdient, sondern sogar erfordert; dies war nicht möglich.Zweite Vorbemerkung. Die EG-Regierungschefs haben in ihrer Grundsatzentscheidung über die Extensivierung die Flächenstillegung und den landwirtschaftlichen Vorruhestand einen wichtigen Schritt hin zu einer Neuorientierung der Agrarpolitik getan. Wir Sozialdemokraten haben diese Entscheidung ausdrücklich begrüßt. Direkte, produktionsneutrale Einkommensübertragungen waren seit langem Bestandteil unseres Reformkonzepts. Die Bundesregierung hat sich dieser Forderung zum Nachteil der deutschen Landwirtschaft jedoch viel zu lange verschlossen. Der jetzt endlich in Angriff genommene Neubeginn kann aber nur dann Erfolg haben, wenn er auf einer gesicherten Basis ruht, auf deren Bestand die Betroffenen vertrauen können. Bei der im vorliegenden Fall praktizierten Verfahrensweise kann davon jedoch keine Rede sein.Der Bundestag soll zu einem Zeitpunkt beschließen, an dem noch grundlegende Fragen der Durchführung der Extensivierung und ihrer Begleitmaßnahmen offen sind. Dies muß bei den Landwirten zwangsläufig Bedenken und Unsicherheit über den dauerhaften Bestand der zugesagten Hilfen erzeugen. Auch der Bundesfinanzminister sollte seine Haltung gegenüber den direkten Einkommensübertragungen noch einmal überdenken.
Ermuntern Sie ihn dazu — oder noch besser — überzeugen Sie ihn, denn er schürt mit seinen permanenten Bremsmanövern in dieser Frage das Mißtrauen der Landwirte. So wird Vertrauen verspielt und wird die Wirksamkeit der Neuorientierung von Anfang an mit einer schweren Hypothek belastet.Meine dritte Vorbemerkung zielt auf den absurden Zeitplan der von den EG-Regierungschefs beschlossenen Maßnahmen. Die Flächenstillegung soll bereits im Juni 1988 in Kraft treten. Die aus unserer Sicht wesentlich wichtigere Extensivierung und Umstellung der Erzeugung sowie der Vorruhestand für ältere Landwirte und landwirtschaftliche Arbeitnehmer sollen dagegen erst zu Beginn des kommenden Jahres angewendet werden. Wir halten eine derartige zeitliche Zersplitterung aller dieser Maßnahmen nicht nur für unsinnig, sondern vor allem auch für unzumutbar für den Landwirt, denn alle diese Maßnahmen stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Wir müssen sie als Ganzes sehen.Meine Damen und Herren, der Landwirt müßte doch den konkreten Inhalt in allen Einzelheiten kennen. Nur dann kann er sich klar entscheiden, ob und in welcher Form er seinen Betrieb weiterführen will oder ob er aufgeben soll. Eine Vielzahl von Menschen steht doch vor der Notwendigkeit, über ihren zukünftigen Lebensweg, aber auch über den ihrer Kinder zu entscheiden. Die Regierungsfraktionen und die Bundesregierung nehmen aber den Betroffenen mit dem jetzt praktizierten Verfahren jede Chance, diese Entscheidung in Kenntnis aller Möglichkeiten mit der notwendigen Ruhe und Sorgfalt treffen zu können.Wir fordern daher die Bundesregierung auf, umgehend eine Entscheidung über diesen Komplex zu treffen, um den Landwirten gleichzeitig mit den anderen Teilen des Reformpakets eine umfassende Entscheidungsgrundlage zu geben.Nun zum Gesetzentwurf selbst. Auch hier eine formale Anmerkung vorweg: Der Kompromiß zwischen Bund und Bundesländern, diese Maßnahme in die Gemeinschaftsaufgabe aufzunehmen, ist aus mehreren Gründen sicher nicht die glücklichste Lösung. Schließlich dient die Gemeinschaftsaufgabe bislang ausschließlich der Strukturverbesserung. Flächenstilllegung und Extensivierung sind dagegen Maßnahmen, die, wie der Herr Bundesminister Kiechle oft genug erklärt hat, der Marktentlastung dienen sollen. Von der Systematik her haben diese Maßnahmen also in der Gemeinschaftsaufgabe an sich nichts zu suchen. Auch ihre Finanzierung müßte entweder voll von der EG oder vom Bund getragen werden. Durch den Kompromiß vom 19. Mai 1988 hat man sich großzügig über diese Bedenken hinweggesetzt. Für die Parlamente im Bund und in den Ländern ist dabei besonders nachteilig, daß ihr Einfluß auf die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Maßnahmen praktisch auf Null reduziert wird.Die bisherigen Verhandlungen über die Gesetzesvorlage haben diese Ohnmacht der Parlamente geradezu exemplarisch deutlich gemacht. Die Ausgestaltung der konkreten Durchführungsregelungen wird nunmehr in den Planungsausschuß von Bund und Bundesländern verlagert. Der Bundestag und die Länderparlamente bleiben ohne jeden Einfluß auf die endgültige Regelung. Das ist das Problem der Gemeinschaftsaufgaben an sich. Ich sage das ganz deutlich. Wahrscheinlich würde es kein Parlament mehr geben, das so ein Gesetz heute verabschieden würde. Daß die Bundesregierung dem Ernährungsausschuß die Förderungsgrundsätze gleichzeitig mit dem Ge-
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setzentwurf zur Information vorgelegt hat, ändert an diesem Tatbestand nichts, denn der Planungsausschuß ist in seinen Entscheidungen, wie wir wissen, frei.Wir Sozialdemokraten hätten daher ein Spezialgesetz für die Extensivierung und Flächenstillegung vorgezogen, das die Modalitäten soweit wie möglich unmittelbar geregelt hätte. Unsere Grundvorstellungen über eine derartige gesetzliche Regelung haben wir in unserem Antrag im einzelnen dargelegt. Ich will diese Leitsätze hier noch einmal zusammenfassen:Nach unserer Auffassung muß die Extensivierung eindeutig Vorrang vor großräumigen Flächenstillegungen haben. Geschieht dies nicht, so droht dem ländlichen Raum, vor allem den ohnehin schon strukturschwachen benachteiligten Gebieten eine Beschleunigung der Abwanderung in einem Ausmaß, das die Funktionsfähigkeit dieser Räume beeinträchtigen, ja zerstören kann. Eine solche Entwicklung wäre aus regionalpolitischen Gründen nicht hinnehmbar. Natürlich besteht diese Gefahr der weiteren Entleerung ländlicher Räume nicht in allen Teilen unseres Landes in gleichem Ausmaß. Unterschiede ergeben sich schon aus der unterschiedlichen Agrarstruktur im Norden und im Süden. Wir haben das in Niedersachsen gesehen.
— In Bayern sieht man das ganz anders, Herr Kollege Bredehorn. Sie sollten nicht nur die Situation von Schleswig-Holstein oder Niedersachsen betrachten.
Auch das Ausmaß, in dem die Landwirte überhaupt von der Möglichkeit der Flächenstillegung und der Extensivierung Gebrauch machen, wird regional unterschiedlich sein, mit allen Folgen, die sich daraus im nachgelagerten Bereich, z. B. für den Landhandel, ergeben können. Das wissen wir.Andere EG-Länder und auch zahlreiche Bundesländer, nicht nur SPD-regierte, teilen diese negative Bewertung der Flächenstillegung durchaus. Ob die vorgesehene Höhe der Mindestbeihilfe keinen unangemessen hohen Anreiz für die Stillegung von schlechten Böden, wie sie vorzugsweise in strukturschwachen Regionen anzutreffen sind, gibt, wird die Praxis zeigen. Auf jeden Fall müßte von vornherein sichergestellt werden, daß nicht ganze Betriebe, sondern nur Teilflächen stillgelegt werden.Schließlich bedarf es einer vernünftigen Obergrenze für den Betrag der Ausgleichszahlungen pro Betrieb. In jedem Fall jedoch müßte eine angemessene Staffelung der Höhe des Gesamtbetrages der Ausgleichszahlungen erfolgen.Darüber hinaus wissen wir alle — Herr Bundesminister Kiechle hat es in letzter Zeit öfters betont — , daß Flächenstillegungen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu einer durchgreifenden Verringerung der Agrarproduktion führen werden. Vielmehr dürfte allein der jährliche Produktionszuwachs den Rückgang der Erzeugung auf den stillgelegten Flächen mehr als kompensieren. Wollte man mit der Flächenstillegung tatsächlich einen Produktionsrückgang erreichen, dann müßten zum einen so viele Flächen stillgelegtwerden, daß die strukturpolitisch unerwünschte Verödung weiter Landstriche unvermeidbar wäre, und zum anderen wäre das Programm dann wohl auch nicht mehr bezahlbar. Erinnern Sie sich an das, was Herr Kollege Dr. Ritz, Landwirtschaftsminister in Niedersachsen, gesagt hat.Produktionsrückgang, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wird wohl auch deshalb nicht zu erreichen sein, weil es völlig natürlich ist, wenn die Landwirte auf den weiterbewirtschafteten Flächen durch eine stärkere Intensivierung versuchen werden, ihre Gesamtproduktion in unveränderter Höhe zu erhalten, wenn auch heute immer wieder das Gegenteil behauptet wird. Aber die schon jetzt bedeutend höheren Spitzenhektarerträge in anderen Ländern — ich erinnere an Großbritannien; da spricht man schon von 180 Doppelzentnern je Hektar Weizen — lassen erahnen, was auf diesem Gebiet möglich ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Carstensen?
Das wird nicht angerechnet, ja?
Das rechne ich Ihnen nicht an. Ich rechne grundsätzlich nichts an.
Ich frage, weil für die Debatte über diesen Punkt nur eine Stunde vorgesehen ist.
Bitte.
Herr Kollege Müller, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß sicherlich jetzt schon die meisten Landwirte bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten ihre Betriebe ausschöpfen und entsprechend arbeiten, und wissen Sie, daß es sich bei den Weizensorten, die in Großbritannien angebaut werden, natürlich um völlig andere Sorten handelt, die dort eben als Futterweizen benutzt werden, während bei uns ganz andere Weizensorten angebaut werden?
Sie wissen, man hat lange gesagt, diese Sorten seien nicht backfähig. Inzwischen weiß man: Sie sind es. Und wer hindert die deutschen Landwirte daran, in Zukunft andere Sorten anzubauen? Seien Sie nicht so naiv, zu glauben, die Landwirte würden nicht aus rein betriebswirtschaftlichen Gründen versuchen, aus den anderen Flächen so viel wie möglich herauszuholen. Wer sollte sie daran hindern? Niemand wird sie daran hindern.
Das müssen Sie sehen, Herr Kollege Carstensen. Herr Bundesminister Kiechle, Sie sehen das ja genauso. In Ihrer Rede vor dem bayerischen Agrarhandelstag vor wenigen Tagen haben Sie das ausdrücklich -bestätigt.
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Müller
Angesichts dieser negativen Bewertung der Folgen von Flächenstillegungen ist es daher falsch, wenn die Bundesregierung das Hauptgewicht gerade auf diese Maßnahme legt. Der Vorrang der Extensivierung vor der Flächenstillegung sollte vielmehr dadurch sichergestellt werden, daß für die Extensivierung dann noch ausreichend Haushaltsmittel zur Verfügung stehen.Zweitens. Unverzichtbar ist für uns die Berücksichtigung von Umwelt- und Naturschutzaspekten bei der Durchführung der neuen Maßnahmen. Dazu sagt das Gesetz nichts. Die Förderungsgrundsätze bleiben unverbindlich.
Das ist auch nicht verwunderlich; denn die Bundesregierung verfolgt mit dieser Neuregelung ja vor allem marktentlastende Maßnahmen, und der Planungsausschuß wird dann, wie gesagt, entscheiden. Umweltbelange glaubt die Bundesregierung daher vernachlässigen zu können.
Unsere dritte Grundsatzforderung zielt zwar nicht auf das Gesetz selbst, ist jedoch für die Durchführung der Extensivierung und Flächenstillegung von vitaler Bedeutung.
Herr Abgeordneter, gestattten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heinrich?
Bitte, Herr Heinrich.
Herr Müller, Sie wissen doch genau, daß wir in der Europäischen Gemeinschaft eine Grenze von 160 Millionen Tonnen haben. Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß wir, wenn wir diese Grenze möglichst nicht überschreiten wollen, erstens dieses Konzept der Flächenstillegung und der Exensivierung bis zum 1. Juli verabschiedet haben müssen und daß zweitens genau dieses Konzept das geeignetere ist gegenüber dem Konzept der allgemeinen Extensivierung, das Sie uns gerade vorstellen wollen?
Herr Kollege, ich verstehe ja, daß das Ihre Meinung ist. Aber es gibt genauso viele andere Meinungen, die das Gegenteil beinhalten. Das ist der Tatbestand. Deswegen nützt es nichts, wenn wir hier streiten. Nur, eins müssen wir wohl zur Kenntnis nehmen: Flächenstillegung bedeutet noch lange nicht Umweltschutz. Das wissen Sie genauso wie ich.
Hinzu kommt: Wenn wir wirklich das Problem des Grundwassers und die anderen Probleme ernst nehmen, dann müssen wir uns darum kümmern, die Intensivierung so weit wie möglich zurückzuschrauben. Das wäre der entscheidende Gesichtspunkt.
Ich fahre fort. Unsere dritte Grundsatzforderung zielt zwar nicht auf das Gesetz selbst — ich wiederhole das — , ist jedoch für die Durchführung der Extensivierung und Flächenstillegung von vitaler Bedeutung. Es geht um die EG-weite, gleichgewichtige und ausgewogene Anwendung dieser Maßnahmen; denn unabhängig von der Effizienz der in der Bundesrepublik durchgeführten Maßnahmen wird ein Erfolg nur
dann möglich sein, wenn alle Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in gleicher Weise nachkommen.
Geschieht das nicht, müßten die deutschen Landwirte, die schon bisher besonders schwere Opfer für die Neuorientierung erbracht haben, einseitig neue, zusätzliche Opfer auf sich nehmen.
Es besteht jedoch die akute Gefahr, daß die anderen Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zur Flächenstillegung und Extensivierung nicht mit dem notwendigen Einsatz nachkommen.
Die langwierigen Verhandlungen in Brüssel mit den Partnerländern und der EG-Kommission haben bis zuletzt gezeigt, daß die Akzeptanz dieser von der Bundesregierung durchgesetzten Maßnahme äußerst gering war und immer noch ist. Der neue französische Landwirtschaftsminister, Herr Nallet, hat sich in seiner ersten Amtshandlung sogar von diesem Programm distanziert. Die Vermutung liegt nahe, daß andere Regierungen, diesem Beispiel folgend, die Bedingungen für dieses Programm so restriktiv handhaben, daß für ihre Landwirte keinerlei Anreiz für eine Beteiligung besteht.
Wenn Sie heute morgen um 6.45 Uhr im Westdeutschen Rundfunk das Interview mit Herrn Andriessen gehört haben, dann konnten Sie feststellen, daß er sich ganz klar dahin gehend geäußert hat, daß er die gleichen Zweifel hat.
Die Folge wäre, daß die deutsche Landwirtschaft weitere Marktanteile zugunsten anderer EG-Staaten verlieren würde, ohne daß sich die Gesamtproduktion verringerte. Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, mit allem Nachdruck für eine einheitliche Durchführung dieser Maßnahme in der gesamten EG zu sorgen.
Insbesondere muß sie auf die EG-Kommission einwirken, die als Kontrollinstanz für die Durchführung der Gemeinschaftsbeschlüsse zuständig ist.
Darüber hinaus sollte nach einem Jahr der Anwendung ein Bericht der Brüsseler Behörde vorgelegt werden, um zu sehen, in welchem Umfang die EG-Landwirte die angebotenen Maßnahmen in Anspruch genommen haben
und welche Konsequenzen sich daraus für den Markt ergeben.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch einmal zusammenfassen. Wir Sozialdemokraten halten die Extensivierung bis hin zur räumlich begrenzten Flächenstillegung, besonders aus ökologischen Gründen, und den Vorruhestand für einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Neuorientierung der Agrarpolitik.
Der vorliegende Gesetzentwurf sowie die geplanten Durchführungsbestimmungen berücksichtigen nicht ausreichend den Grundsatz des Vorrangs der
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84, Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5669
Müller
Extensivierung vor der Flächenstillegung sowie Aspekte des Umwelt- und Naturschutzes.
Die notwendige Bündelung der Extensivierung mit dem Vorruhestand erfordert ein gleichzeitiges Inkrafttreten dieser Maßnahmen, wobei der Vorruhestand als Sozialmaßnahme einer ausreichenden Finanzausstattung bedarf.
Angesichts unserer Vorbehalte gegenüber dem Gesetz und seinen Durchführungsbestimmungen sowie angesichts der nach wie vor noch nicht restlos geklärten Fragen zwischen dem Bund und den Ländern wird sich die SPD-Bundestagsfraktion bei der anstehenden Abstimmung der Stimme enthalten.
Unsere Vorbehalte könnten weitgehend abgebaut werden, wenn Sie dem von uns eingebrachten Entschließungsantrag zustimmen würden. Bitte tun Sie das.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Sauter .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Müller, vor Tisch las man es anders. Ihre Fraktion hat schon einmal Zustimmung zu dem Flächenstillegungsgesetz und zu der Extensivierung signalisiert. Ich verstehe deshalb Ihre Haltung nicht.
Lassen Sie mich aber noch eine Vorbemerkung machen, was den Zeitplan anbetrifft, weil mich Ihre Vorbemerkung ein bißchen dazu provoziert hat. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß es ein Erfolg der Bundesregierung gewesen ist, daß sie am 11. und 12. Februar dieses Jahres den Europäischen Rat von der Notwendigkeit der Korrektur der Agrarpolitik überzeugt hat. Damit erst, Kollege Müller, war eigentlich der Zeitplan gegeben. Vorher hatten wir ja überhaupt keine Möglichkeit, im deutschen Parlament einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzubereiten.
Es war der entscheidende Erfolg der Bundesregierung, des Kanzlers und von Minister Kiechle, daß es zum erstenmal gelungen ist, bei diesen Verhandlungen deutsche Vorstellungen durchzusetzen, daß nämlich der Rückgang der Überschüsse nicht nur, so wie die Kommission dies will, über den Preisdruck erreicht werden soll, sondern daß Mengenbegrenzungen vorgenommen werden, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Natürlich hätte man auch den anderen Weg beschreiten können, den Sie vorgeschlagen haben und den die Kommission weiter gehen will, nämlich das
Problem über weiteren Preisdruck zu lösen. Das wäre eine Alternative.
Aber man muß sich über die Konsequenzen dieser Alternative klar sein: Wer die Überschußprobleme in der Gemeinschaft über Preisdruck lösen will, der muß sich darüber im klaren sein, daß das die existentielle Bedrohung und Vernichtung zahlloser bäuerlicher Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland und in der EG bedeutet. Wir werden dann in Bälde unser Land nicht mehr wiedererkennen, weil sich die industriell betriebene Agrarproduktion auf günstige Standorte zurückzieht. Darüber muß man sich im klaren sein.
Ich denke, es liegt im Interesse unserer gesamten Gesellschaft, daß ein solcher Zustand, daß nämlich ganze Regionen und Landschaften nicht mehr von den Landwirten betreut werden, nicht eintritt. Wir brauchen uns über eine nachhaltige Sicherung des Naturhaushaltes nicht zu unterhalten, wenn wir keine Landwirte mehr haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Oostergetelo?
Nein, Kollege Oostergetelo.
— Also gut.
Wir machen hier keine Geschäfte, sondern es ist selbstverständlich, daß, wenn eine Zwischenfrage gestellt wird, dies nicht auf die Zeit angerechnet wird.
Herr Kollege, wir haben bei der heutigen Debatte weder mit Fristeinrede noch mit Zeitverzögerung operiert.
Stellen Sie bitte eine Frage, Herr Oostergetelo.
Dies will ich, Herr Präsident. — Wir haben weder mit Fristeinrede noch mit Zeitverzögerungen operiert, sondern konstruktive Mitarbeit signalisiert. Was soll nun Ihre Anmerkung zu den Preissenkungsmaßnahmen, die Sie wieder anderen in die Schuhe schieben wollen? Gibt es eine Zeit in der Bundesrepublik Deutschland, in der die Preise mehr zurückgegangen sind als unter Ihrer Regierung? Also lassen Sie doch diese Vorwürfe weg.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kollege Oostergetelo, wir, die Unionsfraktionen und die Koalition, haben nie von marktgerechten Preisen gesprochen. Ich glaube, es waren Ihre Parteifreunde, die immer davon gesprochen und die signalisiert haben, daß sie mit marktgerechten Preisen, sprich: mit Preissenkungen einverstanden sind.
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5670 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Sauter
Sie wissen, daß sich der Bundesminister — oft allein auf weiter Flur stehend — in Brüssel immer gegen eine Preissenkungspolitik eingesetzt hat.
Ich glaube, es wäre politisch unklug gewesen, wenn man diese Position nicht vertreten hätte. Das, was wir heute miteinander zu beraten und zu beschließen haben, kann, meine ich, ein Beitrag dazu sein, daß die Preise stabil bleiben.Ich will ein Zweites hinzufügen, da Sie hier Kritik üben: Sie haben die Regelung für Milch heftig unter Beschuß genommen. Dem Bundesminister war es gelungen, zum erstenmal in einem wesentlichen Teilmarkt zu erreichen, daß die Preise stabil geblieben sind. Wir haben, glaube ich, auf diesem Gebiet eine günstigere Situation als in allen anderen Bereichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf machen, der auf der Tagesordnung steht. Ich wollte zunächst einmal anmerken, daß wir selbstverständlich dem Verfahren zustimmen und daß wir den Zeitplan für angemessen halten. Ich gebe allerdings zu, Herr Kollege Müller, daß der letzte Änderungsantrag auf der Drucksache 11/2455 etwas kurzfristig gekommen ist.
Aber ich denke, daß man auch diesem Antrag zustimmen kann. Ich möchte Ihre Zustimmung dazu erbitten, zunächst einmal einer Beschränkung dieser Sondermaßnahmen bis zum 30. Juni 1993 zuzustimmen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will darauf hinweisen, daß wir zunächst einmal darangegangen sind — dies entspricht dem zeitlichen Ablauf —, ein eigenes Gesetz zu beraten. Es hat einen Vorbehalt gegeben: Das war die Frage der Finanzierung; diese Frage mußte zunächst einmal geklärt werden. Es hat langfristiger Verhandlungen des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten bedurft, damit die Länder bereit waren, einem Teil dieser Maßnahmen zuzustimmen und sie mitzutragen. Deshalb mußten wir einen anderen Weg wählen. Ich denke aber, daß die Vorarbeit, die von uns geleistet worden ist, wirklich dazu beigetragen hat, daß wir heute dieses Gesetz zügig verabschieden können.Ich teile die Auffassung, die hier geäußert worden ist, Kollege Müller, daß wir darauf setzen müssen, daß diese Maßnahmen zur Extensivierung, zur Flächenstillegung, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werden, sondern daß die übrigen Partner ebenfalls bereit sein müssen, diese Maßnahmen in ihren eigenen Ländern durchzusetzen. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist allein nicht in der Lage, die Probleme des europäischen Getreidemarktes zu lösen. Nachdem wir uns im Europäischen Rat durchgesetzt haben, liegt es natürlich auch an uns, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland darangehen, diese Maßnahmen durchzusetzen, damit man uns in Brüssel nicht den Vorhalt machen kann: Ihr habt eine solche Maßnahme zur Mengenbegrenzungeingeleitet, aber im eigenen Land habt ihr dies nicht getan.Ich möchte im Gegenteil dazu ermuntern und auffordern, trotz zahlreicher Bedenken und Einwendungen, die es hier geben mag, daß wir uns bei den Beratungen mit den Landwirten alle gemeinsam darum bemühen, daß diese Maßnahme, die zum 1. Juli 1988 in Kraft gesetzt wird, auch tatsächlich praktiziert wird, damit wir dieses Ziel, das uns von der Kommission der Gemeinschaft gesetzt wurde, zumindest in Etappen erreichen, nämlich eine Mengenbegrenzung herbeizuführen, um auf diese Art und Weise die Agrarpreise allmählich zu stabilisieren. Wir wissen wohl, meine Damen und Herren, daß wir dies in der EG nicht allein vermögen, sondern daß dazu natürlich auch die Zustimmung anderer Agrarexportländer gehören muß, damit die Maßnahmen, die wir diesbezüglich einleiten, nicht von zusätzlichen Substituten unterlaufen werden.
Herr Kollege Müller, ich will noch eine Bemerkung zu dem machen, was Sie kritisch angemerkt haben, weil diese Maßnahme jetzt in die Gemeinschaftsaufgabe übernommen und dadurch im Planungsausschuß endgültig beraten wird. Ich bedauere das persönlich auch, weil wir uns damit einer Möglichkeit begeben haben, unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung nehmen zu können.Lassen Sie mich abschließend dazu sagen: Ich denke, daß wir über die Länder, über den Bundesminister und auch durch die Vorarbeiten, die wir geleistet haben, schon Orientierung für das gegeben haben, was im Planungsausschuß gemeinsam gestaltet werden soll.Ich will noch eine Bemerkung zum Thema Rotationsbrache, Flächenstillegungen, Extensivierung hinzufügen. Es ist richtig, daß wir noch nicht über eine konkrete Ausgestaltung der Extensivierung verfügen. Wir warten hier auf konkrete Vorschläge. Ich denke schon, es ist des Schweißes der. Besten wert, daß wir uns darüber intensiv Gedanken machen, wie eine solche Extensivierung unserer Landschaft aussehen soll. Wir können uns durchaus eine Lösung dergestalt vorstellen, daß der Grad der Extensivierung auch etwas mit der Honorierung des Landwirts für seine Leistung für Umwelt und Naturschutz zu tun hat. Niemand hat hier ein exaktes Programm.Herr Kollege Müller, die Erfahrung in Niedersachsen hat gezeigt, daß die Rotationsbrache, die wir empfehlen, durchaus ein geeignetes Mittel ist, etwas zu erreichen, was ich für sehr wichtig halte, nämlich die Fruchtfolgen weiter auseinanderzuziehen, um auf diese Art und Weise einen wichtigen Beitrag dazu zu leisten, die Natur und die Umwelt zu schonen.Lassen Sie mich, meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang eines hinzufügen. Ich denke, daß wir das, was heute zur Beratung und Beschlußfassung ansteht, auf dem Hintergrund der augenblicklichen Überschußsituation auf dem europäischen Markt sehen müssen. Dies ist natürlich auch ein Ansatz dazu — das steht ebenfalls im Gesetzent-
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Sauter
wurf —, eine langfristige Sicherung und Erhaltung der Natur und der Umwelt zu gewährleisten.Ich denke, daß dies alles unsere gemeinsame Pflicht, unsere gemeinsame Aufgabe ist. Landwirte sind es gewohnt, in Generationen zu denken. Verantwortungsbewußte Landwirte denken an ihre Kinder, und sie denken an ihre Enkel. Ich meine, daß eine Landbewirtschaftung, die an die Zukunft denkt, auch im Interesse des Gemeinwohls ist. Wir alle, ob wir Agrarier sind oder sonst in der politischen Verantwortung stehen, werden eines Tages danach gefragt werden, ob und wie wir der Verantwortung für künftige Generationen gerecht geworden sind, ob wir das, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gesagt hat, auch ernstgenommen haben, nämlich die Schöpfung zu bewahren, ob wir Ernst damit gemacht haben, die Natur und die Umwelt, die sich bereits zu rächen beginnen, zu sichern.Auch vor diesem Hintergrund und unter diesem Aspekt sollten wir gemeinsam darangehen, das zu realisieren, was wir mit diesem Gesetz vorhaben: Mengen abzubauen, Überschüsse zu beseitigen, Märkte zu stabilisieren und die Umwelt langfristig zu sichern.Verehrte Kollegen von der SPD, da Sie angekündigt haben, konstruktiv mitzuarbeiten, habe ich die herzliche Bitte, daß Sie ihre Haltung noch einmal überdenken und diesem Gesetzentwurf zustimmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Flinner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der uns vorliegende Entwurf des sogenannten Extensivierungsgesetzes ist nach den Worten von Herrn Kiechle eine Maßnahme, den deutschen Bauern und Bäuerinnen zu helfen.
In Wirklichkeit aber ist es ein Programm zur Vernichtung bäuerlicher Existenzen.
Ich frage Sie: Ist das die Hilfe, daß immer mehr landwirtschaftliche Arbeitsplätze abgebaut werden, daß der Strukturwandel noch beschleunigt wird? Dieser Strukturwandel hat bewirkt, daß im vergangenen Jahr 26 000 landwirtschaftliche Betriebe schließen mußten und über 50 000 wertvolle landwirtschaftliche Arbeitsplätze aufgegeben werden mußten.
Es ist interessant, den regierungsamtlichen Sprachgebrauch zu verfolgen. Vor Jahren hieß es noch, man wolle alle landwirtschaftlichen Betriebe erhalten, dann wurde korrigiert auf „möglichst viele", und heute wird nur noch von der Anpassung an die Marktentwicklung und die EG geredet.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gallus?
Nein, Herr Gallus. Wir streiten uns wieder im Ausschuß. Mit den automatischen Preissenkungen für Agrarprodukte, wie sie die sogenannten Stabilisatoren vorsehen, geraten die Einkommen der Bauernfamilien immer weiter unter Druck.
— Was von der Regierung als ideale Landwirtschaft angestrebt wird, Herr Eigen, hat längst nichts mehr mit selbständiger bäuerlicher Arbeit zu tun. Im Gegenteil, genau wie beim Grünbracheprogramm in Niedersachsen soll eine großangelegte Vorbereitung der Gesamtumstellung unserer Landschaft zur Produktionsfläche für Industriepflanzen erreicht werden.
— Das ist Tatsache. Das haben wir ja hier gesehen. Es ist in Niedersachsen, Herr Carstensen, ganz genauso in den Beiträgen gesagt worden.
— Hören Sie mal zu, was die Leute dort sagen.Die wirklich bäuerlich wirtschaftenden Betriebe sollen dabei als Störfaktoren möglichst bald herausgedrängt werden. Wenn Herr Gallus schon andeutet, das Landschaftsbild sei nichts Statisches, sei nicht für immer vorgegeben, ahnen wir, was uns blüht: nicht nur Aufforstung landwirtschaftlicher Nutzflächen, sondern großangelegte Nutzung mit Industriepflanzen. Daß gerade diese Industriepflanzen auch die stärksten ökologischen Belastungen mit sich bringen,
— ich denke beispielsweise an den Maisanbau, Herr Eigen — stört die Herren bei der Planung dieser Industrielandschaft überhaupt nicht.Natürlich ist dann dort auch kein Platz mehr für bäuerliche Arbeitsstrukturen, sondern nur noch Platz für ein paar Industriearbeiter; alle anderen sind wegrationalisiert. Mit dem sehnsüchtigen Blick auf die Weltmarktpreise will die Regierung diese Rohstoffproduktion so billig gestalten lassen, daß nur eine rücksichtslose Flächenindustrialisierung und Arbeitsplatzrationalisierung in Frage kommen.
Herr Gallus hat weit gedacht: Er will dazu gleich das Forst- und Naturschutzrecht flexibler gestalten, wie er sagt.
Angesichts dessen wirkt es lächerlich, daß in der Einleitung der Beschlußempfehlung des Ausschusses von Regelungen gesprochen wird, die „bei Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes auch ökologische Erfordernisse" beachten. Dabei ist doch längst wissenschaftlich erwiesen, wie verheerend sich die Flächenstillegung auf die Ökologie auswirkt.
— Doch!
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Frau FlinnerUnsere heutige Kulturlandschaft verdanken wir einer jahrhundertealten bäuerlichen land- und forstwirtschaftlichen Nutzung. Ihr entspringt weitgehend die jetzt bedrohte Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt. Zwar veränderte auch schon früher im Lauf der Jahrhunderte die Landschaft manchmal ihr Gesicht, meistens durch Eingriffe von uns Menschen. Aber noch nie hat es so viele einschneidende und nicht mehr wiedergutzumachende Veränderungen wie in jüngster Zeit gegeben. Mit dem Flächenstillegungsprogramm und den dadurch vorbereiteten weitergehenden Maßnahmen die Veränderung der Landschaft und des Naturhaushalts noch zu beschleunigen ist unverantwortlich. Im Rahmen der EG-Vorlage hätten wir sehr wohl Möglichkeiten gehabt, wirkungsvollen Überschußabbau anzuregen, die ökologische Situation zu verbessern und sinnvolle Arbeitsplätze im ländlichen Raum zu schaffen. Von alledem hat man zur Zeit genau das Gegenteil vor. Leidtragende der Fehlplanungen sind in erster Linie die Bauern und Bäuerinnen, aber auch alle Bürgerinnen und Bürger.Wir GRÜNE fordern insbesondere die Bäuerinnen und Bauern auf, sich gegen dieses Programm zur Vernichtung der bäuerlichen Existenzen zur Wehr zu setzen.
Schon lange ist man in Fachkreisen der einhelligen Überzeugung, daß die Flächenstillegung keine Entlastung von den Überschußproblemen bringen wird, weil Ertragssteigerungen durch den biologisch-technischen Fortschritt und weitere Intensivierung der verbleibenden Flächen die Ertragsminderungen auf stillgelegten Flächen bei weitem ausgleichen werden. Lediglich eine Verminderung der Marktanteile und Marktchancen der deutschen Landwirtschaft gegenüber den Nachbarstaaten haben wir zu erwarten. Schon jetzt freut man sich in Holland auf die in Deutschland frei werdenden Marktanteile; in den Niederlanden und im Pariser Becken werden die Weizenmengen produziert werden, die wir freiwillig nicht erzeugen. Die anderen Länder werden die Gewinne der Maßnahme mitnehmen, während hier die Auflagen streng eingehalten und scharf kontrolliert werden.In der Bundesrepublik gibt es sehr unterschiedliche Landschaften und landwirtschaftliche Strukturen. Die Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden sind so groß, daß es nicht möglich ist, mit einem Gesamtprogramm das ganze Bundesgebiet angemessen berücksichtigen zu wollen.Dadurch, daß die Flächenstillegungsmaßnahmen aus Zeitgründen jetzt in den Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe gestellt werden sollen, hat der Agrarausschuß und damit das Parlament überhaupt keine Einwirkungsmöglichkeiten mehr, d. h. die Angelegenheit wird der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Zudem sind die Länder in der Auseinandersetzung um die Finanzierung sehr in Schwierigkeiten geraten. Die Klärung der Finanzfrage ist noch nicht abschließend und zur Zufriedenheit aller Beteiligten erfolgt. Auch hier wirkt sich die Eile, mit der vorgegangen wird, unheilvoll aus. Diese Eile hat aber System: Das Gesetz soll beschlossen werden, bevor die Bauern zur Herbstaussaat kommen. Sonst, so heißt es, sei es sinnlos. Aber — so frage ich — will man hier nicht schnell etwas beschließen, bevor allen klar ist, daß es ohnehin den vorgegebenen Sinn nicht erfüllt?In Wirklichkeit ist Eile durchaus geboten, aber nicht für das vorgelegte Programm, sondern für Maßnahmen, die der Umweltkatastrophe wirkungsvoll entgegengestellt werden.
Es ist höchste Zeit, wirkliche Problemlösungen vorzunehmen. Angesichts des Meeressterbens muß schnellstens gehandelt werden.Das sogenannte Extensivierungsgesetz der Regierung ist dazu völlig ungeeignet. Es verhindert die Fortsetzung sinnvoller bäuerlicher Landwirtschaft in der Bundesrepublik. In unserem Entschließungsantrag fordern wir konkrete umsetzbare Maßnahmen, die für uns Menschen und der gesamten Natur die Überlebenschancen sichern.Wir beantragen hier eine namentliche Abstimmung, damit sich jeder Verantwortliche eindeutig für oder gegen die Bauern und Bäuerinnen, für oder gegen die Ökologie aussprechen muß.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit intensiver Arbeit und zeitlicher Anspannung sind wir nach den Brüsseler Vorgaben darangegangen, die Maßnahmen zur Flächenstillegung und zur Produktionsaufgaberente auf den Weg zu bringen. Dies sind entscheidende Schritte, um die Überproduktion zu drosseln und die strukturelle Benachteiligung der deutschen Landwirtschaft gegenüber den anderen Mitgliedstaaten abzumildern.Die Flächenstillegung kann mit der heutigen Verabschiedung einer Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" zum 1. Juli 1988 auf den Weg gebracht werden. Neben den ökologischen Vorteilen, die eine Flächenstillegung mit Grünbrache zweifellos bringt und die wir uns vor einigen Tagen in Niedersachsen ansehen konnten — leider haben Sie ja wohl gar nicht zugeschaut, Frau Flinner; ich kann mir sonst gar nicht erklären, wie Sie hier solche Dinge erzählen können — , ist Hauptziel dieses Gesetzes die Rückführung der Getreideproduktionsmengen.
— Darauf werde ich gleich noch eingehen.Die Flächenstillegung dient also der Marktentlastung und einer umweltschonenden Landbewirtschaftung. Für die FDP war es von Anfang an klar, die Bundesländer in den Gesetzesvorgang einzubeziehen und ihnen damit Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen. Schließlich muß die Flächenstillegung in den Bundesländern umgesetzt werden. Ich bedaure es,
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Bredehorndaß sich die Länder bei der Finanzierung dieses Gesetzes so schwergetan haben. Denn immerhin hatte man durch die Propagierung eines Jahrhundertvertrags für die Landwirtschaft bei den Landwirten große Hoffnungen erweckt.Es ist erfreulich, daß man sich bei den Verhandlungen des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten am 19. Mai geeinigt hat, die Flächenstillegung mit in die Gemeinschaftsaufgabe zu übernehmen. Das ist aus fachlicher Sicht zu begrüßen. Denn nun kann die Flächenstillegung flexibel und sachgerecht in den einzelnen Bundesländern umgesetzt werden. Bei der Finanzierung der Maßnahmen beteiligen sich die Länder mit 30 %.Den Vorwurf der oppositionellen SPD, die Gesetzesvorlage sei überhastet durchgezogen worden — Herr Müller hat das hier nochmals dargestellt — und eine ordnungsgemäße parlamentarische Beratung sei nicht möglich gewesen, weise ich für die FDP zurück. Wenn es auch durch die zögerliche Haltung der Bundesländer zunächst einige Unsicherheiten gab, so haben die Koalitionsfraktionen durch die Einbringung und Beratung eines Extensivierungsgesetzes doch das Gesetz des Handelns übernommen. Durch die ausführlichen Beratungen in den Koalitionsfraktionen und im Ernährungsausschuß haben wir wichtige Fragen geklärt und Durchführungsgrundsätze vorgeschlagen. Es ist schade, daß sich die SPD nach ihrer bisherigen konstruktiven Mitarbeit am Dienstag im Ausschuß und wohl auch heute, wie Herr Müller das angekündigt hat, nicht in der Lage sah bzw. sieht, diesem Änderungsgesetz zuzustimmen. Herr Müller, daß sich die Mengenrückführung nicht entsprechend positiv darstellen ließe, wie Sie das ausgeführt haben, ist doch nach unserem Besuch in Niedersachsen widerlegt. Sie waren doch dabei und haben sicherlich auch zugehört. Man kann das einfach nicht mit den Verhältnissen in den USA vergleichen. Es kam ganz deutlich heraus, daß bei 1 % Flächenrückführung der Erfolg in der Menge 0,8 % beträgt.Das haben die Ergebnisse in Niedersachsen, die wir jetzt im zweiten Jahr haben, gezeigt. Man kann das nicht mit den Ergebnissen in den USA vergleichen.Nun zum Inhalt des Gesetzes. In den letzten Wochen und Monaten haben wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner intensiv über die Ausgestaltung der Durchführungsgrundsätze debattiert. Das betraf vor allem den Beitrag der Flächenstillegung zur Marktentlastung, die Auswirkung auf den Pachtmarkt, die von einigen gesehene Gefahr der Verödung des ländlichen Raums und den ökologischen Nutzen der Flächenstillegung. Wir haben uns zu einer einheitlichen Linie durchgerungen, die jetzt als Richtschnur des Bundes auch für die PLANAK-Beratung, so hoffe ich jedenfalls und so müssen wir auch fordern, gelten muß.Aus Sicht der FDP sind folgende Eckwerte und Eckpunkte für die Beratung im Planungsausschuß von besonderer Bedeutung.Erstens. Wir haben eine Einstiegsprämie von 800 DM bei einer Bodenpunktzahl von 30 vorgeschlagen. Nun haben wir in Niedersachsen gehört, daß es dort bei 30 Bodenpunkten eine Beihilfeprämie von1 150 DM gibt. In Gesprächen mit praktischen Landwirten ist mir gesagt worden, daß eine Summe von 800 DM im Grunde genommen nicht ausreichend sei, damit dieses Programm genügend in Anspruch genommen wird. Wir müssen also darauf achten, daß wir uns bei der Höhe der Summe am Deckungsbeitrag orientieren. Ich hoffe, daß das bei den Beratungen im PLANAK gebührend berücksichtigt wird.Zweitens. Die Beihilfeschwelle ist in einem Koalitionsgespräch auf 60 000 DM bzw. 80 000 DM festgesetzt worden. Das bedeutet, daß bei einer Beihilfe von über 60 000 DM nur noch 75% des Beihilfesatzes gezahlt werden und bei über 80 000 DM nur noch 50 %. Ich meine, das ist ein guter Kompromiß, an dem wir festhalten sollten.Drittens. Wir Liberalen wollen nach wie vor keine Obergrenze der stillgelegten Fläche pro Betrieb. Auf diese Weise würde mit deutscher Akribie einer unnötigen Bürokratie Vorschub geleistet, die weder von Brüssel vorgesehen ist noch der Zielsetzung dieses Gesetzes, nämlich den Markt zu entlasten, entspricht.Viertens. Die Flächenstillegung hat einen sehr positiven ökologischen Nutzen, insbesondere wenn die Rotationsbrache gewählt wird. Auf unbewirtschafteten Flächen, wo weder Mineraldünger noch Gülle oder Pflanzenbehandlungsmittel angewendet werden dürfen, werden sich Flora und Fauna erholen und entwickeln. Bei dem jetzt im zweiten Jahr laufenden Grünbracheprojekt in Niedersachen konnte eine Zunahme artgefährdeter Pflanzen sowie eine Zunahme von Kleinlebewesen und Käfern festgestellt werden. Auch das Wild hatte auf diesen Flächen einen idealen Standort.
— Es tut mir leid, Frau Flinner, wenn Sie nicht richtig zugehört und zugesehen haben. Dann hätten Sie sich die Reisekosten sparen können.
Fünftens. Die Aufforstung von stillgelegten Flächen mit standortgerechten Baumarten ist ökologisch sinnvoll und volkswirtschaftlich wünschenswert. Unsere viel zu starren forst- und naturschutzrechtlichen Bestimmungen müssen entsprechend angepaßt werden, um den Landwirten auch diese Möglichkeiten zu bieten.Sechstens. Die von einigen befürchteten negativen Auswirkungen von Flächenstillegung und Grünbrache für den Landpachtmarkt sind nach den Erfahrungen Niedersachsens nicht zu erwarten. Der Bauernverband hat auf mögliche nachteilige Konsequenzen für den ländlichen Raum hingewiesen, wenn keine Obergrenze pro Betrieb eingezogen wird. Dazu folgendes:Wir alle wissen nicht genau, welche tatsächlichen Auswirkungen die Flächenstillegung und die Produktionsaufgaberente auf den ländlichen Raum und seine Sozialstruktur haben werden. Sollte der Bauernverband mit seinen Bedenken recht haben, was ich persönlich nicht glaube, müßten die gesetzlichen Vorgaben selbstverständlich korrigiert werden.
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5674 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
BredehornIm übrigen bin ich sehr gespannt, wie der Arbeitseifer in den übrigen EG-Ländern aussieht, dieses Gesetz rechtzeitig, spätestens bis 15. Juli, umzusetzen.Gleichzeitig mit der Flächenstillegung wollen wir den Landwirten ab 1. Januar 1989 die Produktionsaufgaberente anbieten, damit die große Gruppe unter ihnen, für die eine Entscheidungsalternative zwischen beiden Maßnahmen besteht, auch rechtzeitig vor der Herbstaussaat disponieren kann. Wir müssen alles daransetzen, daß noch vor der Sommerpause hierzu ein Kabinettsbeschluß fällt, und zwar auf der Grundlage des Referentenentwurfes. Die Bauern brauchen Klarheit.Die Funkstille des Finanzministers bezüglich der Mittelbewilligung ist inzwischen besorgniserregend geworden. Die FDP will auf keinen Fall eine Plafondierung der Mittel, sondern wir wollen bei der Produktionsaufgaberente eine rentenrechtliche Lösung. Wir messen der Produktionsaufgaberente einen sehr hohen Stellenwert bei; denn die Nachfrage unter den Landwirten nach ihr ist groß. Wir dürfen die Erwartungen derjenigen, die ihr Leben lang hart und dies womöglich unter Inkaufnahme von gesundheitlichen Schäden gearbeitet oder keinen Hofnachfolger haben, nicht enttäuschen.Nach Ansicht der FDP ist bei der Produktionsaufgaberente ein Windhundverfahren undenkbar. Jeder anspruchsberechtigte Landwirt muß auch bedient werden. Andernfalls gäbe es neue Unruhe und Unzufriedenheit in den Dörfern. Wir dürfen hier nicht halbherzig handeln, sondern müssen die notwendigen Mittel, die durchaus vorhanden sind, auch bereitstellen.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, daß wir heute die von der FDP 1985 in ihren „Perspektiven der Agrarpolitik" vorgeschlagene Produktionsmengenanpassung durch Flächenstillegung, Produktionsaufgaberente und Extensivierung auf den Weg bringen. Die FDP-Fraktion wird dem Änderungsgesetz zur Gemeinschaftsaufgabe zustimmen.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen oder den Saal zu verlassen, und um mehr Aufmerksamkeit für den Redner.
Das Wort hat der Abgeordnete Michels.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit jeher hat die Landwirtschaft gegen Hunger für einen immer aufnahmefähigen Markt produzieren können. Dieses hat nicht nur unsere Struktur, sondern auch unser Denken und Empfinden geprägt.
Noch nicht einmal zehn Jahre sind vorbei, daß sich Mangel in Überfluß verwandelte. Seit dieser Zeit passen viele der Steuerungselemente von früher einfach nicht mehr. Hier, lieber Kollege Oostergetelo, liegt der Grund für die leider zurückgegangenen Preise, nicht etwa bei Entscheidungen der Regierung, wie Sie ihr
eben vorgeworfen haben. Hier liegt der Grund für nötige Eingriffe z. B. auf dem Milchsektor, die Sie seinerzeit mächtig bekämpft haben, die sich aber heute als richtig herausstellen.
Wenn die produzierte Ware nicht mehr in vollem Umfang benötigt wird und abgesetzt werden kann, müssen eben neue Wege gesucht werden, um die Produktion dem Bedarf anzupassen.
Mit einer EG-weiten Flächenstillegung kann man diesem Ziel näherkommen, aber nur, wenn dies EG-weit auch tatsächlich in gleicher Weise geschieht und wenn darüber hinaus die enorme Menge Substitute, die wir in die EG hineinnehmen, von Jahr zu Jahr sukzessive zurückgeführt wird.
Denn wir verfüttern zur Zeit ca. die Hälfte der gesamten geernteten Getreidemenge.
Wenn diese Menge nicht weiter zurückgeht, kommen wir mit noch so viel Flächenstillegung gegen die dann nicht mehr absetzbare Getreidemenge nicht mehr an.
Flächenstillegung auf der einen Seite und Rückführung der Substitute auf der anderen Seite gehören absolut zusammen.
Ich sehe in der Flächenstillegung weiterhin nur eine Brücke, bis wir nach einer gewissen Zeit von Jahren durch Forschung und Wissenschaft so weit sind, daß wir für einen auf- und auszubauenden Industriebedarf und sich daraus ergebenden Markt in wirklich erwähnenswertem Umfang produzieren können.
Ich bin der Meinung, daß wir es uns auf Dauer überhaupt nicht leisten können, einerseits natürliche Produktionsmöglichkeiten nicht zu nutzen, uns andererseits zu stark auf die nur begrenzt vorhandenen Ölreserven zu stützen. Es ist richtig, daß eine wirtschaftliche Vergleichsrechnung zur Zeit zu Lasten agrarischer Rohstoffe ausgeht. Wie sähe diese Rechnung wohl aus, wenn wir heute die Ölpreise der 70er Jahre haben würden? Wer sagt uns, daß wir nicht in relativ kurzer Zeit mit ähnlich hohen Preisen konfrontiert werden? Sind wir in einer solchen Situation der Herausforderung gewachsen? Wie gesagt, die Flächenstillegung soll diese Spanne lediglich überbrücken.
So wie der große Markt der Umwelttechnologie von vielen zu spät erkannt worden ist, für andere aber heute nur ein allzu guter Markt ist, so kann auch in Zukunft die Verwertung agrarischer Rohstoffe für die Menschen insgesamt und für die Industrie von außerordentlicher Bedeutung sein. Es kann doch wohl nicht richtig sein, wenn wir Kunststoffe weiterhin als Verpackungsmaterial verwenden, deren Rückstände auf immer knapper werdenden Mülldeponien nicht mehr untergebracht werden können, und gleichzeitig auf die Entwicklung von Verpackungsmaterial aus agrarischen Rohstoffen verzichten, Verpackungsmaterial, das sich in kurzer Zeit durch Verrottung selbst beseitigt.
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Michels
Es ist also falsch, der Mehrproduktion durch immer größeren Preisdruck zu begegnen. Neue Wege gehören hierher.
Und Frau Flinner, wenn Sie die Veränderung in der Struktur beklagen, dann müssen Sie auch wissen, daß der Bauernhof von heute anders aussieht als der vor 20 Jahren.
Und der Bauernhof in 20 Jahren wird anders aussehen als der heute. Niemand wird das Geringste daran ändern.
Die Antwort der Bundesregierung ist nicht nur die bestmögliche in schwieriger Zeit, sondern auch in sozialer und ökologischer Hinsicht vorübergehend notwendig, sinnvoll und zu begrüßen.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache zu den aufgerufenen Tagesordnungspunkten.Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zu der über Tagesordnungspunkt 20.Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlage der Bundesregierung auf Drucksache 11/2153 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir stimmen nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN zum Rahmenplan auf der Drucksache 11/2445 ab. Die Fraktion DIE GRÜNEN verlangt hierzu namentliche Abstimmung.Ich darf Sie darauf hinweisen, daß im Rahmen dieser Tagesordnungspunkte noch eine namentliche Abstimmung stattfindet. Und ich wurde darauf hingewiesen, daß vermutlich gegen 11.30 Uhr eine weitere namentliche Abstimmung stattfindet.Meine Damen und Herren, ich eröffne die namentliche Abstimmung.Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal darauf hinweisen: Es findet im Anschluß an diese Abstimmung eine weitere namentliche Abstimmung statt.Ist noch jemand anwesend, der seine Stimme nicht abgegeben hat? — Wenn das nicht der Fall ist, schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis dieser namentlichen Abstimmung gebe ich später bekannt. *) Ich gehe davon aus, daß wir mit den Beratungen fortfahren können.Meine Damen und Herren, ich darf Sie um Aufmerksamkeit bitten. Wir kommen zu einem weiteren Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN zum Rahmenplan. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag auf Drucksache 11/2453 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Ernäh-*) Ergebnis Seite 5683 Brung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den Zusatztagesordnungspunkt 6 a, den Gesetzentwurf des Bundesrates über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes".Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/2454 ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Art. 1 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Art. 1 ist angenommen.Ich rufe die Art. 2 bis 7 in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Ich rufe Art. 8 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/2455 ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist angenommen.Wer Art. 8 in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? -- Die aufgerufene Vorschrift ist angenommen.Es bleibt noch, über Einleitung und Überschrift abzustimmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Einleitung und Überschrift sind angenommen.Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Meine Damen und Herren, wir können unmittelbar in die dritte Beratung eintreten, obwohl in der zweiten Beratung ein Änderungsantrag angenommen ist, wenn zwei Drittel der Anwesenden damit einverstanden sind. Darf ich davon ausgehen, daß dies der Fall ist? — Dann ist die erforderliche Mehrheit dafür gegeben und so beschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Die Fraktion DIE GRÜNEN verlangt nach § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Das Verfahren ist Ihnen bekannt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung.Meine Damen und Herren, darf ich fragen: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, daß seine Stimme noch nicht abgegeben hat?Meine Damen und Herren, noch einmal die Frage: Ist jemand im Saal, der seine Stimme noch nicht abgegeben hat? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich
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5676 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Präsident Dr. Jenningerschließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung werde ich später bekannt geben. *)Ich setze die Beratungen fort. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 11/2440.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, diese Unterhaltungen einzustellen oder den Saal zu verlassen, da wir mitten in Abstimmungen sind. Das trifft auch für die Mitglieder der Bundesregierung zu. — Ich habe nicht die Absicht, mit den Beratungen fortzufahren, wenn die Unterhaltungen nicht eingestellt werden.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Wir kommen jetzt zum Zusatztagesordnungspunkt 6 b, dem von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurf eines Extensivierungsgesetzes. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 2 der Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/2418, diesen Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Es ist noch über eine Entschließung abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 3 der Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/2418 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der SPDKommunales Wahlrecht für Ausländer— Drucksache 11/1964 —Im Ältestenrat ist vereinbart worden, für diese Beratung 30 Minuten vorzusehen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Penner.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sollten wenigstens heute dem Präsidenten das Präsidieren nicht zu schwer machen, er hat heute nämlich Geburtstag, zu dem ich ihm nicht nur im eigenen Namen ganz herzlich gratulieren möchte.
Schönen Dank, Herr Kollege Penner, aber Sie kriegen deswegen keine längere Redezeit.
Das war nicht freundlich.
*) Ergebnis Seite 5684 DNun zur Sache:Die Menschen in den einzelnen Staaten der Gemeinschaft müssen ein gemeinsames politisches Bewußtsein entwickeln, nennen wir es ruhig europäischen Patriotismus.... Europa muß für den einzelnen konkret erfahrbar werden.So Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl in der Regierungserklärung vom 18. März 1987.Was man danach aus den Reihen der Regierungskoalition zu dem Gedanken an ein politisches Europa generell und zur politischen Partizipation seiner Bürger über die Grenzen hinweg gehört hat, war gekennzeichnet durch Kleinmut, Zaudern, Zittern und Zagen. Meine Damen und Herren, wir alle führen Klage darüber, daß es mit Europa politisch nicht so recht vorwärts geht. Von Stagnation und von Auf-der-StelleTreten ist die Rede. Vergangenheitsbewußte beschwören die 50er Jahre und denken dabei an politischen Aufbruch, der heutzutage durch Brüsseler Bürokratentum, durch Endlossitzungen, durch Milchquoten, durch Butterberge und Weinseen kaputtgemacht würde.Wie gesagt, mit der politischen Idee Europas steht es nicht zum besten. Aber genügt politisches Einvernehmen darüber, daß Europa nicht zum Tummelplatz der Pfeffersäcke und Verwaltungsmissionare verkommen dürfe? Ich denke, das Bedauern richtet sich gegen uns selbst, besonders aber an die Adresse derjenigen, die für uns in und für Europa Politik machen können. Das sind nicht zuletzt die Regierungen.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen den Bundeskanzler mit unserem Antrag dazu ermuntern, und, wie wir hoffen, darin bestärken, die Zeit seiner EG-Präsidentschaft auch dafür zu nutzen, das kommunale Wahlrecht für EG-Ausländer in EG-Europa durchzusetzen.
Es wäre die Konsequenz der seit Jahrzehnten möglichen und praktizierten Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in der EG und wäre eine Wegstrecke hin zu mehr politischem Europa.Wahrscheinlich wird es nie den Europäer im staatsrechtlichen Sinn geben. Vielleicht sollte es ihn auch nie geben. Aber für den italienischen Europäer, den deutschen wie den britischen Europäer, den französischen wie den belgischen Europäer, müßte es doch Möglichkeiten geben, auch außerhalb seines Heimatlandes, innerhalb der EG, ein Minimum an politischer Partizipation zu bekommen. Warum soll der Deutsche, warum soll der Brite, warum soll der Franzose, warum soll der Belgier, der Niederländer oder der Italiener nur in seinem Stammland politisch mitwirken dürfen und außerhalb seiner Heimat nur, wenn er seine alte Staatsangehörigkeit aufgibt? Ist es denn nicht gesicherte Überzeugung, daß Europa nur in seiner Vielfalt Chancen hat?Es gibt auch bei uns Leute, die auch bei Europa in den Schablonen überkommenen staatsrechtlichen Denkens verharren und die Staatsangehörigkeit als Mauer zur Verhinderung, als Mauer gegen ein politisches Europa verstehen und auch so praktizieren, als ob nach 30 Jahren EG-Europa die überkommenen Be-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5677
Dr. Pennergriffe der allgemeinen Staatslehre nicht verblaßt und durch neue Entwicklungen ersetzt worden wären.Für geradezu kleinlich halten wir den Hinweis auf die Verfassung, die politische Partizipation von Ausländern auch nur zum kommunalen Wahlrecht ausschlösse. Ist es nicht bezeichnend, daß das nicht gerade für rasende Fortschrittlichkeit ausgewiesene Oberverwaltungsgericht Lüneburg da auf geschlossener ist als der Bundesminister des Inneren? Wenn es denn überzeugende verfassungsrechtliche Bedenken gäbe, sehen wir sie nicht. Warum beißt sich der Bundesinnenminister daran fest. Es gibt niemanden, auch nicht unter den ausgewiesenen Zweiflern, die eine Verfassungsänderung für unmöglich hielten.So sehen es die politischen Freunde des Bundesinnenministers in Europa übrigens auch, die, wie auch durchweg die europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten das kommunale Wahlrecht für EG-Europäer wiederholt gefordert haben. Das ist nicht ohne Widerhall geblieben, nicht zuletzt auf Grund des einschlägigen Berichts unseres Kollegen Heinz Oskar Vetter. Die Arbeiten für eine europäische Richtlinie, die für alle EG-Staaten verbindlich wäre, stehen kurz vor dem Ende. Es wäre ein Beleg für europapolitisches Engagement und gegen unappetitliche Stammtischweisheiten, wenn der Bundeskanzler die Zeit seiner Ratspräsidentschaft dafür nützte.In der Sache selbst erscheinen die politischen Argumente gegen ein kommunales Wahlrecht für Ausländer bisweilen eher schmählich. Die erwünschte Integration wird dadurch nicht verbessert, sondern geschmälert, so ist manchmal zu hören. Wenn es nur um Franzosen, Briten, Spanier, Niederländer und Italiener ginge, dann ließe sich darüber reden, so wird erzählt, aber die Türken. Und die anderen EG-Länder wollten auch nicht, und wenn, sei die Gleichzeitigkeit des Vorgehens innerhalb der EG-Staaten unverzichtbar. Hindernisse und Hindernisse werden aufeinandergetürmt. Und da wundert man sich über politischen Rückschritt.Wenn es denn politisches Trudeln in Europa gibt: Nichts offenbart das mehr als die Art und Weise der Auseinandersetzung, der Stil der Auseinandersetzung um das Ausländerwahlrecht.
Kleinkrämerisch im Geben wie im Nehmen, mit Zügen von Apartheid, die nur mühsam mit staatspolitischer Weisheit verkleistert werden, demontieren Politiker selbst die große europäische Idee des Zusammengehens vieler Menschen unterschiedlicher Nationalität in Europa.
Ich weiß, das sich dabei auch meine Partei, die SPD, nicht immer mit Ruhm bekleckert hat und Beschlußlagen unterschiedlicher Parteigremien für ein kommunales Wahlrecht seit den 70er Jahren erst mühsam politisch an Boden gewonnen haben. Aber die Initiativen in den Bundesländern, die uns nahestehen, und auch dieser Antrag sind Zeugnis dafür, daß der internationale politische Ansatz der SPD weiter lebendig ist. Wir ermutigen daher die Länder, Wege zum Ausländerwahlrecht auch ohne Bundesbeteiligung zu suchen und sich nicht in rechtlichen Zwirnsfäden zu verheddern, die nach Ablehnung in der Sache selbst aussehen könnten.
Unser Antrag fordert zwar nur das kommunale Wahlrecht für EG-Europäer. Diese Beschränkung ist nur formeller Natur. Anders ausgedrückt: Wir sind für das kommunale Wahlrecht aller Ausländer und damit auch derer, deren Probleme größer sind als die anderer. Es geht um politische Mitwirkungsmöglichkeiten gerade derjenigen, deren politische Interessen sonst durch den Rost fallen könnten, weil es keine Wähler und weil es keine Gewählten gibt, die gehört werden müßten, und das, obwohl die Gebiete mit starken Ausländeranteilen die größten kommunalen Sorgen machen wegen der Wohnungsdichte, wegen der Altbauten, wegen der Mietqualität, wegen der Schulen, wegen der Kindergärten, wegen der sozialen Dienste und nicht zuletzt wegen Formen besonderer Kriminalität.Nachbarn wie die Niederlande, skandinavische Länder nicht ausgenommen, ja selbst einige Schweizer Kantone haben gute Erfahrungen mit dem Ausländerwahlrecht auf kommunaler Ebene gemacht. Wir sollten da nicht zurückstehen, auch weil wir gute Europäer sein wollen.
Auch deshalb können wir nicht mit dem Überweisungsvorschlag des Ältestenrats einverstanden sein. Wir fordern Abstimmung in der Sache. Bitte schließen Sie sich uns an.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Blank.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Einführung eines kommunalen Wahlrechts ist mit dem geltenden Verfassungsrecht nicht vereinbar.
In der gewohnten guten Arbeitsteilung zwischen Bundesregierung und CDU/CSU-Fraktion wird Staatssekretär Waffenschmidt im Verlaufe dieser Debatte die verfassungsrechtliche Seite des Problems behandeln.
Ich möchte einige politische Gründe gegen die Einführung eines kommunalen Wahlrechts auch für die Bürger der EG-Mitgliedstaaten jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt in die Debatte einführen.Die SPD sieht im kommunalen Wahlrecht ein entscheidendes Mittel zur Integration ausländischer Mitbürger.
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5678 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Dr. BlankSie macht damit den zweiten Schritt vor dem ersten; denn sie verringert die Bereitschaft der wahlberechtigten Ausländer, die deutsche Staatsbürgerschaft anzustreben. Sie stellt die Ausländer zudem außerhalb der Loyalitätspflichten, die jeder Bundesbürger hat.
Sie propagiert die unserer Verfassung fremde Ideologie der sogenannten Betroffenheitsdemokratie.
Doch Betroffenheit ist keine staatsverfassungsrechtliche Kategorie, sondern eine solche des Rechtsschutzes und der Verfahrensrechte, die ohnehin schon jetzt Ausländern zugute kommen.Ein zweiter Gesichtspunkt: Diejenigen, die den betroffenen Ausländern eine Teilhabe am politischen Entscheidungsprozeß versprechen, sind mithin auch verantwortlich für deren enttäuschte Erwartungen. Die für die Ausländer wichtigsten Entscheidungen, Herr Kollege Penner, wie etwa Arbeits- und Schulverhältnisse werden nämlich nicht auf der kommunalen Ebene, sondern auf Bundes- und Landesebene entschieden.
Müßte man dann nicht konsequenterweise auch für ein allgemeines Wahlrecht unserer ausländischen Mitbürger eintreten? Ich frage die SPD, wie sie dazu steht.Nach einer 1985 veröffentlichten Umfrage sprechen sich 70 % der bei uns lebenden Ausländer für ein kommunales Wahlrecht aus. 85 % davon wollen aber gleichzeitig das Wahlrecht für Bund und Länder.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Bitte schön.
Herr Kollege Blank, ist Ihnen bekannt, daß Manfred Rommel, Oberbürgermeister von Stuttgart, noch weit über die Forderungen nach einem kommunalen Wahlrecht hinausgeht?
Herr Kollege Penner, mir ist bekannt, daß der Kollege Manfred Rommel Vizepräsident des Deutschen Städtetages ist. Deswegen werde ich gleich, sofort im Anschluß, einige Bemerkungen zur Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände machen, die in dieser Frage eindeutig ist. Ich denke, daß sie von dem Kollegen Rommel als Vizepräsidenten mitgetragen ist.
— Nein. Die kommunalen Spitzenverbände haben
— das wissen Sie ganz genau — wiederholt ihre große Besorgnis über die Abkopplung der Wahlrechtsvoraussetzungen der Gemeinden von denen des Bundes und der Länder vorgetragen. Die SPD — so der Vorwurf der kommunalen Spitzenverbände — mache mit
ihrem Antrag das Kommunalwahlrecht zu einem Wahlrecht minderer Art und Güte.
— Das sagen die kommunalen Spitzenverbände.
In der von mir erwähnten ausländerpolitischen Umfrage haben sich zwei Drittel der Deutschen gegen ein Ausländerwahlrecht ausgesprochen. Sie fürchten zu recht, daß sie in ihren Gemeinden langfristig die Entscheidungen tragen müssen, die die Ausländer zwar mit verursachen, denen sie sich aber jederzeit durch Rückkehr in ihre Heimat entziehen können.
Meine Damen und Herren, man kann nicht einseitig staatsbürgerliche Rechte verteilen, ohne auch die entsprechenden Pflichten abzuverlangen, die jeder Deutsche selbstverständlich zu erfüllen hat.
Die Union tritt nachdrücklich, Herr Kollege Penner und meine Damen und Herren von der SPD, für die europäische Einigkeit ein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?
Im Moment nicht. Ich möchte den Gedanken zu Ende führen.Die Union tritt, Herr Kollege Penner und meine Damen und Herren von der SPD-Bundestagsfraktion, nachdrücklich für die europäische Einigkeit ein und läßt sich von niemandem, auch nicht von der Opposition, darin übertreffen.
Aber erst wenn die EG einen Stand der Integration erreicht hat, der es erlaubt, von einer europäischen Union zu sprechen, kann eine Zuerkennung des Wahlrechts unserer Auffassung nach in Betracht kommen.
Meine Damen und Herren, wir haben zwar im Jahre 1988 den europäischen Marktbürger, aber wir haben im Jahre 1988 noch lange nicht den europäischen Staatsbürger.
Der Prozeß der politischen Einigung in Europa, Herr Kollege Duve, erfordert auch von Ihnen Geduld und Ausdauer und keine übereilten, aus tagespolitischer Opportunität gefaßten Schnellschlüsse, zu denen Sie ja sonst gerne beitragen.Der Antrag der SPD ist aus verfassungsrechtlichen wie aus politischen Erwägungen weder ein zur Zeit geeignetes Mittel zur Eingliederung der Ausländer in unseren Staat noch ein Weg zur europäischen Integration. Seine Durchführung stünde, jedenfalls zur Zeit
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Dr. Blankund unter den gegebenen politischen Bedingungen, vielmehr beiden Zielen entgegen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und übermittle Ihnen, Herr Präsident, nachdem ich sehe, daß ich meine Redezeit noch nicht ganz ausgeschöpft habe, am Ende meiner Rede einen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.
Schönen Dank. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Trenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir vorab eine persönliche Bemerkung. Ich finde es beschämend, daß wir heute, rund 30 Jahre nach Beginn der ersten Anwerbephase und angesichts der Emigration von Millionen von Menschen, die jahrzehntelang zum wirtschaftlichen Wohlstand der Bundesrepublik beigetragen haben und deren Lebensmittelpunkt inzwischen längst in diesem Lande liegt, noch immer über elementarste demokratische Selbstverständlichkeiten diskutieren, wie über das Wahlrecht von Ausländerinnen und Ausländern.
Die Demokratiefähigkeit eines Staates erweist sich nicht zuletzt daran, wie er mit seinen Minderheiten umgeht. Für uns GRÜNE ist es darum völlig klar, daß allen Menschen, die über 18 Jahre alt sind, nach fünfjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik das Wahlrecht auf allen parlamentarischen Ebenen zusteht.Die Ungleichbehandlung von deutscher Mehrheit und ausländischer Minderheit in dieser Gesellschaft — nicht nur beim Wahlrecht — ist Ausdruck eines im Kern rassistischen Denkens. Sie findet ebensowenig unsere Zustimmung wie die diskriminierende und von der Verfassung nicht vorgesehene Trennung und Hierarchisierung von Kommunalwahlrecht und Bundestagswahlrecht.Dennoch treten wir zusammen mit zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen für das kommunale Wahlrecht der ausländischen Bevölkerung ein; denn es ist ein erster verbindlicher Schritt auf dem Weg zur politischen Gleichstellung.Mit der Einführung des Wahlrechts für alle Einwohnerinnen und Einwohner wird endlich der Tatsache Rechnung getragen, daß in diesem Land eine Einwanderung stattgefunden hat. Es gibt in der Bundesrepublik nur eine gemeinsame Zukunft von deutscher und ausländischer Bevölkerung, und das ist aus vielen Gründen zu begrüßen.
Die Einführung des Wahlrechts für alle ist außerdem ein Mittel zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Unser Innenminister und die ihn tragenden politischen Kräfte werden es dann etwas schwerer haben, die Fremdenfeindlichkeit von Deutschen zu nutzen, um sich Wählerstimmen zu verschaffen und Sündenböcke für ihre verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik zu finden.Zimmermanns kürzlich an die Öffentlichkeit lancierter Entwurf zur Neuregelung des Ausländerrechts beweist erneut die Notwendigkeit, unsere Demokratie zu verteidigen. Ich kann in der Kürze der Zeit darauf nicht detaillierter eingehen. Darum nur soviel: Wo Assimilation und agressive Abwehr alles „Fremden" zur Handlungsmaxime wird und rassistische Politik mit einer national-chauvinistischen Ideologie begründet wird, müssen alle Widerstand leisten, die es mit der Demokratie in diesem Lande ernst meinen.
Auf die verfassungsrechtlichen Argumente, die seitens der Union und weiter Kreise der FDP mit großer Penetranz immer wieder angeführt werden, um die Einführung des Kommunalwahlrechts für ausländische Staatsangehörige zu verhindern, will ich nicht näher eingehen; sie sind hinlänglich widerlegt
durch namhafte Experten auch aus Ihren eigenen Reihen — ich erinnere nur an Ernst Benda.Wir alle wissen, daß es beim Wahlrecht — wie auch bei anderen Entscheidungen — lediglich um eine Frage des politischen Willens geht.
Die Abwägung der Prinzipien Staatsangehörigkeit gegen Einwohnerschaft ist nicht juristisch zu entscheiden, sondern politisch.Die Sozialdemokraten fordern nun in ihrem Entschließungsantrag die Bundesregierung auf — ich zitiere —,... insbesondere die deutsche EG-Ratspräsidentschaft zu nutzen, um nachdrücklich darauf hinzuwirken, daß das kommunale Wahlrecht für die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft verwirklicht werden kann. Sie verschiebt mit dieser sehr bescheidenen Forderung die Frage dann aber auf das Europäische Parlament. Denn wo die SPD in der Opposition ist, beklagt sie das fehlende kommunale Wahlrecht. Hat sie die Regierungsmehrheit, dann handelt sie nicht.
Ich erinnere an das rot-grüne Bündnis in Hessen
— wie es im Saarland ist, weiß ich auch; dort sieht es etwas anders aus — und an Holger Börners kompromißlose Gegnerschaft zum Ausländerwahlrecht.Ein aktuelles Beispiel ist Nordrhein-Westfalen. Um das Wahlgesetz zu ändern — es geht hier lediglich um das Wahlgesetz —, wird eine einfache Mehrheit benötigt. Hier könnte die SPD ungehindert schalten und walten.
Trotzdem ist die politische Partizipation . . .
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5680 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte, kommen Sie zum Schluß.
... der ausländischen Bevölkerung hier kein bißchen weiter als anderswo.
Ich habe Sie gebeten, zum Schluß zu kommen.
Ja, ich komme zum Schluß. — Das kommunale Wahlrecht ist ein erster Schritt zur Beseitigung der politischen Versklavung von Millionen Menschen in der Bundesrepublik. Es ist kein Gnadenakt, der ausländischen Bevölkerung dieses Landes ein Wahlrecht einzuräumen, sondern es geht um Ihren demokratischen Anspruch, meine Damen und Herren hier im Bundestag. Darum ist es nicht allein Sache der Betroffenen, sich für das Ausländerwahlrecht einzusetzen. Auch und gerade die deutsche Mehrheit ist aufgerufen, die demokratische Substanz der Bundesrepublik Deutschland zu verteidigen und zu erweitern.
Danke.
Meine Damen und Herren, ich bitte einfach um Verständnis: Wenn Redezeiten vereinbart worden sind, können sie zwar geringfügig überschritten werden, aber grundsätzlich müssen wir uns daran halten. Bei den anderen Fraktionen ist das auch so üblich.
Das Wort hat der Abgeordnete Richter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion zur Einführung des kommunalen Wahlrechts für EG-Bürger hat als Adressaten die Bundesregierung, die am 1. Januar 1988 für ein halbes Jahr turnusgemäß die Präsidentschaft der Europäischen Gemeinschaft übernommen hat. Der Antrag der SPD-Fraktion ist im März eingebracht worden und wird heute, drei Wochen vor Ablauf dieser Präsidentschaft, hier beraten.
Aber nicht nur der Zeitpunkt der Einbringung macht eine Beratung auf dem EG-Gipfel Ende des Monats in Hannover unmöglich, sondern auch die Tatsache, daß die Organe der Europäischen Gemeinschaft weder durch die Römischen Verträge noch durch die Einheitliche Europäische Akte legitimiert sind, über die Einführung des kommunalen Wahlrechts für EG-Bürger zu entscheiden.
Die FDP-Fraktion ist der Meinung, daß der Antrag dennoch eine Fülle von Fragen aufwirft, die der gründlichen Beratung in den Ausschüssen bedürfen. Die Diskussion über die verfassungsrechtliche Realisierbarkeit hilft uns nicht weiter. Sie weckt allenfalls Hoffnungen, die so dann nicht erfüllt werden können.
Die FDP wird sich bei diesen Beratungen von dem Grundsatz leiten lassen, daß ausländischen Mitbürgern die Teilnahme und Mitwirkung am gesellschaftlichen und kommunalen Geschehen nicht grundsätzlich vorenthalten werden darf.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Penner?
Ja, bitte.
Herr Kollege, trifft es zu, daß nach der Beschlußlage der FDP das kommunale Wahlrecht für EG-Ausländer gefordert wird?
Herr Kollege, ich sagte: Das wirft eine Reihe von Fragen auf. Das hat nichts mit Beschlußlagen zu tun. Die FDP wird weiterhin ihre Position vertreten, die Sie meinen Ausführungen gleich entnehmen können.
Das gilt sowohl für ausländische Mitbürger, die ihren dauerhaften Wohnsitz in der Bundesrepublik haben, als auch für Deutsche, die in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft wohnen. Ich glaube, dieser Gesichtspunkt kommt in der politischen Auseinandersetzung leider oft zu kurz.
Die FDP setzt sich deshalb für ein EG-einheitliches kommunales Wahlrecht ein. Wir sehen darin einen Beitrag zur Stärkung des europäischen Bewußtseins und zur Förderung der europäischen Integration auf dem Weg zur Verwirklichung einer Europäischen Union. Wir sollten uns aber davor hüten, so zu tun, als wären durch die Einführung des kommunalen Wahlrechts alle gesellschaftlichen und sozialen Probleme der Ausländer beseitigt.
Tatsächlich kommt man wohl auch nicht umhin, zu erkennen, daß der Integrationsbedarf durchaus verschieden zu beurteilen ist, je nachdem, mit welcher Nationalität man es zu tun hat.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland ist in der Europäischen Gemeinschaft der einzige föderative Staat. Um eine Zersplitterung des Wahlrechts von Bundesland zu Bundesland zu vermeiden und zur Wahrung von einheitlichen Lebensbedingungen in den Bundesländern wäre deshalb auch eine bundeseinheitliche Lösung wünschenswert. Da sehe ich allerdings, daß die politische Bereitschaft der Landesregierungen und auch der Parteien für eine solche Lösung höchst unterschiedlich zu beurteilen ist.
Wir sollten deshalb in den Ausschüssen die Gelegenheit nutzen, die Erfahrungen z. B. Dänemarks und der Niederlande, die 1981 bzw. 1983 Ausländern das aktive und passive Wahlrecht in den Gemeindevertretungen gewährt haben, auszuwerten und zu nutzen. Der Innenausschuß hat sich Mitte des vergangenen Jahres in diesen Ländern vor Ort informiert. Ich glaube, die dort gesammelten Erkenntnisse können nunmehr in die Beratungen einbezogen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, darf ich einige Gäste begrüßen. Auf der Ehrentribüne hat der stellvertretende Staatsratsvorsitzende der Volksrepublik Polen, Herr Tadeusz Mlyńczak mit einer Delegation
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5681
Präsident Dr. JenningerPlatz genommen. Ich darf Sie, Herr Vorsitzender, hier im Deutschen Bundestag sehr herzlich begrüßen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und gute Gespräche in der Bundesrepublik Deutschland.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern Dr. Waffenschmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die erste Kernfrage, die sich bei dieser Debatte stellt, ist: Hat die Europäische Gemeinschaft überhaupt eine Kompetenz, hier Regelungen vorzunehmen? Die zutreffende Antwort lautet: Die EG hat diese Kompetenz nicht. Die Einräumung des Kommunalwahlrechts für Ausländer aus anderen Mitgliedstaaten ist keineswegs eine Art Abrundung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Niederlassungsfreiheit. Hier geht es nämlich nicht um die Bedingungen der Berufsausübung, sondern es geht, was mit Recht schon betont wurde, um die Ausübung eines Staatsbürgerrechts, das ausschließlich der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten der EG unterliegt. Zum gleichen Ergebnis kommt auch der Adonnino-Bericht zum Europa der Bürger, der dem Europäischen Rat in Mailand im Juni 1985 vorgelegt wurde.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brück?
Ja, bitte schön.
Bitte sehr, Herr Kollege Brück.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sich im Rahmen der politischen Zusammenarbeit natürlich einigen könnten, in ihren Ländern das kommunale Wahlrecht für EG-Staatsbürger einzuführen?
Ich will Ihnen sagen: Dafür sehe ich nicht die Grundlage, weil nämlich die staatsrechtliche und verfassungsrechtliche Situation in den verschiedenen EG-Staaten äußerst unterschiedlich ist. Hier werden meines Erachtens große Fehler gemacht. Ein Beispiel will ich Ihnen nennen. In keinem anderen Land ist dem kommunalen Bereich so viel an Staatsgewalt zur Ausführung übertragen wie in der Bundesrepublik Deutschland. Das würde dazu führen, daß Bewohner der Bundesrepublik Deutschland, die gar nicht Staatsbürger sind, über diesen Weg an der Ausübung der Staatsgewalt für das gesamte Staatsgebiet teilhaben.
Dies kann nicht hingenommen werden. Deshalb ist Ihre Frage mit Nein zu beantworten.
Die Frage des Wahlrechts für Bürger, so hat der Europäische Rat festgestellt —
— Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sollten doch mal hören, was Ihre Parteifreunde im Europäischen Rat mit beschlossen haben. — Die Frage des Wahlrechts für Bürger anderer Mitgliedstaaten bei lokalen Wahlen — so alle im Europäischen Rat — fällt in die nationalen Zuständigkeiten.
Wie Sie wissen, hat der Europäische Rat diesen Bericht zustimmend zur Kenntnis genommen.
Zweitens. Auch Ihnen sind die verfassungsrechtlichen, ich füge hinzu, Herr Dr. Penner: schwerwiegenden Bedenken bekannt, die gegen ein kommunales Wahlrecht für Ausländer sprechen.
— Ich will erst meine Gedanken fortführen. — Ein Wahlrecht für Ausländer — das ist noch einmal deutlich auszusprechen — kommt für die Bundesregierung nicht in Betracht. Ich skizziere die verfassungsrechtlichen Bedenken wie folgt.
Lassen Sie vorab noch eine Zwischenfrage zu, Herr Parlamentarischer Staatssekretär?
Nein, Herr Präsident. Ich sagte dies schon. — Nach Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Hier handelt es sich — Herr Dr. Penner, das müßten Sie eigentlich als Jurist wissen — um einen Kernbestand unserer Verfassungsordnung. Ich habe es sehr bedauert, daß Sie hier das Verfassungsrecht in der von Ihnen vorgetragenen Weise so herabmindern. Ich halte dies für nicht verantwortlich.
Jede Ausübung von Staatsgewalt bedarf der Legitimation durch das Volk. Entsprechend fordert Art. 28 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes: „In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. " Unter „Volk" versteht auch die überwiegende Meinung in der Verfassungsrechtswissenschaft das Staatsvolk als die Gesamtheit der Deutschen im Sinn des Art. 116 des Grundgesetzes.Nun ist gelegentlich zu hören, der Begriff des Volkes auf Gemeindeebene sei gar nicht identisch mit dem auf Bundes- und Landesebene; in Gemeinden bildeten die Einwohner die örtliche Gemeinschaft und die von gemeindlichen Maßnahmen Betroffenen. Von anderen wird bezweifelt, daß die Gemeinden Staatsgewalt ausüben.Ich will zum letzten Punkt zuerst ganz klarstellen: Die Gemeinden sind ganz besonders nach unserem
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5682 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Parl. Staatssekretär Dr. WaffenschmidtVerfassungsrecht nicht staatsfremde Gebilde, sondern sie sind Bestandteile des demokratischen Staatsaufbaus.
Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gesagt: Die Gemeinden üben Staatsgewalt jedenfalls bei allen Entscheidungsbefugnissen aus.
Wenn das so ist, sollten Sie sich auch der folgenden Argumentation, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht verschließen. Ich zitiere auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg. Da heißt es:Auch und gerade unter dem Gesichtspunkt, daß in den Gemeinden Staatsgewalt ausgeübt wird, kann das Volk in den Gemeinden, das die Staatsgewalt ausübt, kein anderes sein als das in Bund und Ländern.Noch pointierter sagte der damalige hessische Ministerpräsident Holger Börner es vor dem Hessischen Landtag — bitte hören Sie doch einmal auf Ihren Parteifreund — :Der Versuch, einen besonderen Volksbegriff für den kommunalen Bereich zu konstruieren, ist ein Irrweg.Ich finde, das hat der Kollege Börner sehr gut ausgesprochen.Im Klartext heißt das: Es gibt nicht ein „großes" Wahlrecht zum Bundestag und zu den Landesparlamenten, das den Deutschen vorbehalten wäre, und ein Wahlrecht minderen Ranges zu den Kommunalvertretungen, das man dann auch den Ausländern einräumen könnte. Nicht ohne Grund haben deshalb — hören Sie doch auch einmal auf diese Fachleute! — die kommunalen Spitzenverbände vor einer derartigen Geringschätzung des kommunalen Wahlrechts gewarnt und auf seine verfassungsrechtliche Unzulässigkeit hingewiesen.Meine Damen und Herren, noch ein Satz zu dem, daß Ausländer bei uns Mitwirkungsmöglichkeiten haben sollten. In diesen Tagen werden in vielen Städten und Gemeinden Ausländerbeiräte gewählt. Da wird angeboten mitzutun. Das ist eine gute Möglichkeit, die übrigens auch von vielen Ausländern geschätzt wird.Ein zweites. Wir werden in naher Zukunft hier im Hause erneut über Staatsangehörigkeit und Ausländerrecht beraten. Wir werden unter bestimmten Bedingungen ausländischen Mitbürgern, die bei uns geboren sind, die lange bei uns sind, die Möglichkeit einräumen, Deutsche zu werden. Dann bekommen sie das Wahlrecht für alle politischen Gremien. Aber das Wahlrecht ist untrennbar mit dem Staatsangehörigkeitsrecht verbunden. Man kann nicht sagen: Ich will ja gar nicht deutscher Staatsangehöriger werden, aber ich will die politischen Vertretungen in Deutschland wählen. — Dies ist nicht miteinander zu vereinbaren, und dies ist nicht im Sinne unseres Grundgesetzes, meine Damen und Herren.
Wir sagen also zusammengefaßt: Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk ist Voraussetzung des Wahlrechts. Die Europäische Gemeinschaft steht erst am Beginn des Weges von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Union. Nach wie vor sind, solange die politische Union als Staatsgebilde mit eigener Staatsangehörigkeit nicht Realität ist, die Mitgliedstaaten die maßgeblichen Handlungseinheiten. Darum ist das Wahlrecht solange nach unserem deutschen Recht untrennbar mit der Staatsangehörigkeit verbunden.Meine Damen und Herren, ich bitte, die Initiative der SPD abzulehnen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Fraktion der SPD hat beantragt, abweichend von diesem Vorschlag des Ältestenrates sofort abzustimmen.
Wird dazu das Wort gewünscht? — Das Wort hat der Abgeordnete Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei diesem Antrag handelt es sich, wie soeben ja schlüssig belegt wurde, um eine verfassungsrechtliche Frage von eminenter Bedeutung. Es handelt sich um eine schwierige rechtspolitische Frage, die mit Art. 235 des EWG-Vertrages zusammenhängt. Über derartige verfassungsrechtlich relevante schwierige Probleme pflegt man nicht mit Ja oder Nein nach einer 30minütigen Debatte abzustimmen.
Ich finde, die SPD befindet sich hier in einem merkwürdigen Widerspruch zu ihren ständigen Klagen aus der Opposition heraus, sie würde hier mit zu kurzen Beratungszeiten bei schwierigen Fragen überfordert. Sie klagen doch ständig, der Bundestag würde gewisse Dinge nicht sorgfältig genug beraten. Hier wollen Sie jetzt genau im Gegenteil eine derartige Frage in 30 Minuten über die Bühne ziehen. Sie sind hier im Widerspruch und unglaubwürdig.
Meine Damen, meine Herren, ganz offensichtlich nehmen Sie Ihren eigenen Antrag gar nicht ernst. Es geht Ihnen hier — drei Wochen vor Ende der Präsidentschaft — nicht um eine sachliche Klärung, sondern Sie wollen eine billige Effekthascherei: Sie wollen hier den Eindruck erwecken, als könnte man diese Frage in drei Wochen europaweit klären.
Herr Abgeordneter Gerster, ich möchte Sie darauf hinweisen, daß Sie zum Geschäftsordnungsantrag reden und nicht zur Sache. Ich bitte Sie, sich daran zu halten.
Vielen Dank, Herr Präsident. — Wir nehmen offenbar Ihre Anträge wich-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5683
Gerster
tiger als Sie selbst. Wir sind der Meinung, diese Frage sollte auch im Hinblick auf die lange europäische Perspektive im Innenausschuß und in den anderen Ausschüssen gründlich beraten werden. Deswegen stellen wir den Antrag auf Überweisung in den Innenausschuß als federführenden Ausschuß.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen dazu liegen nicht vor.
Meine Damen und Herren, der Antrag auf Überweisung ist der weitergehende Antrag.
Über ihn haben wir abzustimmen. Wer ist für die Überweisung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? —
Es ist Zweifel entstanden, auf welcher Seite die Mehrheit ist. Ich lasse auszählen, meine Damen und Herren.
Wir kommen daher zur Abstimmung durch Zählung der Stimmen. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, den Saal zu verlassen und die Türen zu schließen. Die Abstimmung findet im Anschluß daran statt.
Ich eröffne nun die Abstimmung und bitte die Kollegen, in den Saal zu kommen. Die Zählung findet statt.Ich denke, wir haben nun genügend Zeit für das Herkommen zur Abstimmung gegeben. Ich schließe die Abstimmung und bitte, die Türen zu schließen.Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen das Ergebnis unserer Abstimmung bekannt: Es haben 270 Kollegen an der Abstimmung teilgenommen. Davon haben 151 mit Ja gestimmt — für die Überweisung — und 119 mit Nein. Damit ist die Überweisung erfolgt.Wir setzen die Sitzung nun damit fort, daß ich Ihnen zunächst einmal die Ergebnisse der vorherigen namentlichen Abstimmungen bekanntgebe:Die erste namentliche Abstimmung, die wir heute durchgeführt haben, die über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2445, hatte folgendes von den Schriftführern ermittelte Ergebnis: Es wurden 340 Stimmen abgegeben; davon war keine ungültig. Mit Ja haben 32 Abgeordnete, mit Nein 308 Abgeordnete gestimmt; Enthaltungen hat es nicht gegeben.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 337; davonja: 31nein: 306JaDIE GRÜNENFrau Beer BrauerDr. BriefsDr. Daniels EbermannFrau FlinnerFrau Garbe HäfnerFrau HillerichHossKleinert
Dr. Knabe Kreuzeder Frau KriegerDr. Lippelt Dr. MechtersheimerFrau NickelsFrau Olms Frau Rust Frau SaiboldSellinFrau TeubnerFrau Trenz Frau Unruh Frau VennegertsFrau Dr. VollmerVolmerWetzelFrau Wilms-KegelFrau WollnyFraktionslos WüppesahlNeinCDU/CSUAustermannBauerDr. Becker Dr. Biedenkopf BiehleDr. BlankDr. BlensBörnsen
BohlBohlsenBorchertBuschbomCarstens Carstensen (Nordstrand) ClemensDr. CzajaFrau Dempwolf Dr. DreggerEchternachEigenEngelsberger EylmannFellnerFischer Dr. Friedmann FuchtelFunk Ganz (St. Wendel) Frau GeigerGeisGerster Dr. GöhnerGröblGüntherHaungsHauser
Frau Dr. HellwigHelmrichDr. HennigHerkenrath HinrichsHinskenHöffkesHöpfingerDr. HoffackerFrau Hoffmann
Dr. Hornhues Dr. HüschDr. Jahn
Dr. Jenninger Dr. JobstJung KalischDr.-Ing. Kansy Dr. KappesKiechleKolbKossendeyKrausKreyKroll-Schlüter Dr. KronenbergDr. Kunz
LamersDr. Lammert LattmannDr. LaufsFrau Limbach Link Link (Frankfurt) LinsmeierLintnerDr. Lippold LowackLummerMaaßFrau Männle MaginDr. MahloMarschewski MichelsDr. MöllerMüller
NelleNiegelDr. Olderog PetersenPfeffermann PfeiferDr. PfennigDr. PingerDr. Pohlmeier RauenRaweReddemann Regenspurger RepnikDr. RiesenhuberFrau Rönsch
Frau Roitzsch
Dr. RoseRossmanithRoth Dr. Rüttgers Sauer (Stuttgart)Sauter
Sauter
Dr. Schäuble Schartz SchemkenScheuSchmitz SchreiberDr. Schroeder
Dr. Schulte
Schulze (Berlin)
Dr. Schwarz-Schilling
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5684 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Vizepräsident WestphalDr. Schwörer Seehofer SeesingSeitersSpilkerSpranger Dr. Sprung Dr. Stark
Dr. Stercken Straßmeir StrubeStücklenFrau Dr. SüssmuthSussetTillmannDr. TodenhöferDr. Uelhoff Dr. Unland Frau VerhülsdonkVogt
Dr. Voigt
Dr. VondranDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarrikoffWeiß Werner (Ulm)Frau Dr. WilmsWilzWimmer
WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannDr. Wulff Zeitlmann ZiererZinkFDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumBeckmann BredehornCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardDr. FeldmannFrau Folz-Steinacker FunkeGallusGrünbeck GrünerFrau Dr. Hamm-Brücher HeinrichDr. Hirsch Dr. HitschlerHoppeDr. HoyerKleinert
KohnLüderMischnick Neuhausen NoltingPaintner RichterRonneburgerFrau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau WürfelSPDFrau Adler AmlingDr. ApelBahrBambergFrau Becker-Inglau BernrathBindigDr. Böhme Börnsen (Ritterhude) BrückFrau BulmahnFrau ConradFrau Dr. Däubler-Gmelin DillerFrau Dr. Dobberthien DreßlerDuveDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichErlerEstersEwenFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
Frau GanseforthDr. Gautier Gerster
GilgesFrau Dr. Götte Großmann Grunenberg Haack
Frau Hämmerle Hasenfratz Heimann Heistermann HeyennDr. Holtz HornJahn
JaunichDr. JensJung Jungmann KastningKiehmKirschnerKlein
KolbowKoltzschKoschnick Kuhlwein Lennartz Leonhart Lohmann
Frau Dr. Martiny-Glotz MenzelMeyerMüller Müller (Schweinfurt) MünteferingNagelNehmFrau Dr. NiehuisDr. Niese Niggemeier Dr. NöbelFrau Odendahl Oostergetelo Dr. Osswald PauliDr. Penner PfuhlDr. PickPorznerPurpsReimannFrau RengerRixeRothSchäfer SchanzScherrerFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. SchmudeSchreinerSchützFrau SeusterSieler Dr. SperlingStahl Frau Steinhauer StieglerTietjenFrau Dr. Timm Toetemeyer UrbaniakVahlberg Waltemathe WaltherWartenberg Weiermann WestphalFrau WeyelFrau Wieczorek-Zeul Wiefelspützvon der Wiesche Wimmer Dr. de WithWittichWürtzZumkleyDamit ist der Antrag abgelehnt.Das Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung, nämlich der Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrats über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" auf den Drucksachen 11/675 und 11/2418, hatte folgendes von den Schriftführern ermittelte Ergebnis: Von den vollstimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 327 ihre Stimme abgegeben; es war keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 180 Abgeordnete, mit Nein 31 Abgeordnete gestimmt. Es hat 116 Enthaltungen gegeben. Von den 13 Berliner Abgeordneten, die ihre Stimme abgegeben haben, war keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 9 Berliner Kollegen und mit Nein 2 gestimmt. Es hat zwei Enthaltungen gegeben.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 325 und 13 Berliner Abgeordnete; davonja: 179 und 9 Berliner Abgeordnetenein: 29 und 2 Berliner Abgeordneteenthalten: 117 und 2 Berliner AbgeordneteJaCDU/CSUAustermannBauerDr. Becker Dr. BiedenkopfBiehleDr. Blank Dr. Blens Börnsen
BohlBohlsen BorchertCarstens Carstensen (Nordstrand)ClemensDr. CzajaFrau Dempwolf DeresDr. Dregger Echternach EigenEngelsberger EylmannFellnerFischer Dr. Friedmann FuchtelFunk Ganz (St. Wendel) Frau GeigerGeis
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5685
Vizepräsident WestphalGerster GröblGüntherFrau Hasselfeldt Hauser
Frau Dr. Hellwig HelmrichDr. HennigHerkenrath HinrichsHinskenHöffkesHöpfingerDr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HornhuesDr. HüschDr. Jahn
Dr. Jenninger Dr. JobstJung Dr.-Ing. Kansy Dr. KappesKiechleKolbKossendeyKrausKreyKroll-Schlüter Dr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. Lammert LattmannDr. LaufsFrau Limbach Link Link (Frankfurt) LinsmeierLintnerDr. Lippold LowackMaaßFrau Männle MaginMarschewski MichelsDr. MöllerNelleNiegelDr. Olderog PetersenPfeffermann PfeiferDr. PingerDr. Pohlmeier Dr. ProbstRauenRaweReddemann Regenspurger RepnikDr. RiesenhuberFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. RoseRossmanith Roth Dr. Rüttgers Sauer (Stuttgart)Sauter
Sauter
Dr. Schäuble Schartz SchemkenScheuSchmitz SchreiberDr. Schroeder Dr. Schulte
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. SchwörerSeehoferSeesingSeitersSpilkerSprangerDr. SprungDr. Stark
Dr. Stercken StrubeStücklenFrau Dr. SüssmuthSussetTillmannDr. TodenhöferDr. Uelhoff Dr. Unland Frau VerhülsdonkVogt
Dr. Voigt
Dr. VondranDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-ZeilDr. WarrikoffWeiß Werner (Ulm)Frau Dr. WilmsWilzWimmer
WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannDr. Wulff Zeitlmann ZiererZinkBerliner AbgeordneteBuschbom KalischLummerDr. Mahlo Dr. Pfennig Schulze
StraßmeirFDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumBeckmann BredehornCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardDr. FeldmannFrau Folz-Steinacker FunkeGallusGrünbeck GrünerFrau Dr. Hamm-Brücher HeinrichDr. Hirsch Dr. Hitschler Dr. Hoyer KohnDr. Graf Lambsdorff Mischnick NeuhausenNoltingPaintnerRichterRonneburgerFrau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. Weng Wolfgramm (Göttingen)Berliner AbgeordneteHoppe LüderNeinCDU/CSUHaungsDIE GRÜNENFrau Beer BrauerDr. Briefs Ebermann Frau Flinner Frau Garbe HäfnerFrau HillerichHossKleinert
Dr. Knabe Kreuzeder Frau KriegerDr. Mechtersheimer Frau NickelsFrau Rust Frau Saibold Frau SchoppeFrau TeubnerFrau Trenz Frau Unruh Frau VennegertsFrau Dr. Vollmer VolmerWetzelFrau Wilms-KegelFrau WollnyBerliner AbgeordneteFrau Olms SellinFraktionslos WüppesahlEnthaltenCDU/CSU Dr. Göhner SPDFrau AdlerAmlingDr. ApelBahrBambergFrau Becker-Inglau BernrathBindigBörnsen BrückDr. von BülowFrau BulmahnFrau ConradFrau Dr. Däubler-Gmelin DillerFrau Dr. DobberthienDreßlerDuveDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichErlerEstersEwenFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselDr. Gautier Gerster
GilgesFrau Dr. GötteGroßmann GrunenbergHaack
Frau HämmerleHasenfratz HeistermannHeyennDr. Holtz HornJahn
JaunichDr. Jens Jungmann Kastning KiehmKirschnerKlein
KolbowKoltzsch Koschnick Kuhlwein Lennartz Leonhart Lohmann
Frau Dr. Martiny-Glotz MenzelMeyerMüller
Müller MünteferingNagelNehmFrau Dr. NiehuisDr. Niese NiggemeierDr. NöbelFrau OdendahlOostergeteloDr. OsswaldPauliDr. Penner PfuhlDr. PickPorznerPurpsReimann Frau RengerRixeRothSchäfer
SchanzScherrerFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. SchmudeSchreiner SchützFrau SeusterSieler
Dr. SperlingStahl
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5686 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Vizepräsident WestphalFrau Steinhauer StieglerDr. Struck TietjenFrau Dr. Timm ToetemeyerUrbaniak Vahlberg WaltematheWalther Weiermann Westphal Frau WeyelFrau Wieczorek-Zeul Wiefelspützvon der Wiesche Wimmer Dr. de WithWittichWürtzZumkleyBerliner AbgeordneteHeimann Wartenberg
Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.Wir setzen die Beratungen nun fort, indem ich die Zusatzpunkte 7 bis i i unserer Tagesordnung aufrufe:ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Schäfer , Blunck, Conrad, Hiller (Lübeck), Kiehm, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Schütz, Terborg, Dr. Hauff, Dr. Hartenstein, Lennartz, Dr. Schöfberger, Stahl (Kempen), Weiermann, Bachmaier, Conradi, Fischer (Homburg), Koltzsch, Dr. Martiny, Menzel, Waltemathe, Ewen, Dr. Hauchler, Tietjen, Weyel, Fuchs (Verl), Steiner, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Jungmann, Kuhlwein, Gansel, Heyenn, Faße, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDMaßnahmen zur Rettung der Nordsee und der Ostsee— Drucksache 11/2425 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Laufs, Carstensen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum und Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDPAlgenmassenentwicklung und Seehundsterben in Bereichen der Nord- und Ostsee— Drucksache 11/2457 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Garbe, Frau Wollny, Brauer, Dr. Daniels , Dr. Knabe und der Fraktion DIE GRÜNENNotprogramm gegen das Nordsee- und Ostseesterben— Drucksache 11/2399 —ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Schäfer , Blunck, Conrad, Hiller (Lübeck), Kiehm, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Schütz, Terborg, Dr. Hauff, Dr. Hartenstein, Lennartz, Dr. Schöfberger, Stahl (Kempen), Weiermann, Bachmaier, Conradi, Fischer (Homburg), Koltzsch, Dr. Martiny, Menzel, Waltemathe, Ewen, Dr. Hauchler, Tietjen, Weyel, Fuchs (Verl), Steiner, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Faße, Kuhlwein, Heyenn, Gansel, Jungmann, Leidinger, Bernrath, Kretkowski, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDKonzertierte Aktion zur Rettung der Nordsee und der Ostsee— Drucksache 11/2426 —ZP11 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Garbe und der Fraktion DIE GRÜNENSchutz der Nordseezu dem Antrag der Fraktion der SPDSchutz der Nordsee — II. Internationale Nordseeschutzkonferenz November 1987 in Londonzu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Laufs, Carstensen , Austermann, Clemens, Weiß (Kaiserslautern) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum, Frau Dr. Segall, Wolfgramm (Göttingen), Kleinert (Hannover), Bredehorn, Frau Folz-Steinacker, Funke, Dr. Hirsch, Neuhausen, Richter, Ronneburger, Timm und der Fraktion der FDP2. Internationale Nordseeschutzkonferenzzu dem Bericht der Bundesregierung zur Vorbereitung der 2. Internationalen Nordseeschutz-Konferenz vom 21. September 1987— Drucksachen 11/247, 11/299, 11/1048, 11/878, 11/2184 —Berichterstatter:Abgeordnete Carstensen JansenFrau GarbeZu Zusatztagesordnungspunkt 11 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2462 vor.Meine Damen und Herren, interfraktionell sind eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Als auf Sylt die ersten Seehunde angeschwemmt wurden, sagte ein Wissenschaftler nur drei Worte: Es ist soweit. Als in Skandinavien das Massensterben von Fischen einsetzte, weil sie an der explosionsartigen Vermehrung einer Algenart erstickten, verglichen Wissenschaftler diese Katastrophe mit der von Tschernobyl. Die „Zeit" schreibt
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5687
Frau Garbedazu: Treffender läßt es sich nicht zusammenfassen. Es heißt da:Alarm an der Nordsee — darüber kann sich freilich nur wundern, wer seit 20 Jahren krampfhaft weghört und wer seit 1980 — dem warnenden Nordseegutachten für die Bundesregierung — auch noch Augenklappen benutzt. Nichts an der Katastrophe von 1988 ist überraschend. Wir alle hätten wissen können, was da auf uns zukommt. Aber wir taten es den drei Affen nach, die nichts hören, nichts sehen, nichts sagen wollen; sie sind zum Leitbild der Ökologie geworden.Meine Herren und Damen, man muß wissen: Selbst wenn dieses Parlament und alle Parlamente der Anrainerstaaten heute einen totalen Stopp aller Schadstoffeinleitungen in die Nord- und die Ostsee verfügen würden, würde es noch 15 Jahre dauern, bis die weiteren Verschlechterungen des Zustandes dieser Meere überhaupt zum Stillstand kommen würden.Aber kaum waren die ersten Ergebnisse der Untersuchungen der Ursache der Krankheit der Robben über die Medien verbreitet worden, da traten die Berufsverharmloser der Nation auf den Plan.
Nach Ansicht der CDU ist es gottlob nur ein Virus, das die Robben tötet. Damit war der Schuldige ausgemacht. Umweltbeeinflussung? Keine Spur!In Wirklichkeit sehen die Dinge anders aus. Es ist richtig: Eine Viruserkrankung führte zu den tödlichen Lungenentzündungen. Aber was führte zu der Viruserkrankung? Das erfährt man erst, wenn man sich die Schadstoffbelastung dieser Tiere einmal anschaut; denn die spiegelt die ganze Giftfracht der Nordsee wider, die seit Jahrzehnten mit offizieller Genehmigung aus den Giftküchen der Großchemie kommt.
Hochgefährliche Chlorkohlenwasserstoffe undSchwermetalle haben sich bereits in hohen Konzentrationen in den Fischen angereichert, Gifte, die sich dann im Seehund als einem ausschließlichen Fischverzehrer in so großen Mengen anhäufen, daß dadurch das Immunsystem dieser Tiere entscheidend geschwächt wird. Der Anreicherungsfaktor liegt bei den Robben bei 1 : 75 Millionen, und das macht die Robben wehrlos gegen die Viren.Meine Herren und Damen, das Wort „makaber" reicht bei weitem nicht aus, wenn ich umschreibe, was einer der Oberabwiegler der CDU in Sachen Nordsee dem Parlament hat weismachen wollen. Am 14. Juni 1985 haben Sie, Herr Kollege Carstensen, während einer Aktuellen Stunde, die wir GRÜNEN damals schon zum Thema „Nordseesterben" beantragt hatten, doch tatsächlich noch behauptet — ich zitiere — :Der Seefisch aus der Nordsee ist sauber und für den Verzehr geschmacklich und gesundheitlich bestens geeignet.
Und weiter:Die Panikexperten verstehen es aber, denen, die gesund leben möchten, auch noch den letzten Appetit und die Freude an wahrhaft gutem Essen zu verderben.Meldungen über verseuchte Seefische haben Sie als phantastischen Horror bezeichnet.Wahr ist dagegen, daß das Bundesgesundheitsamt schon vor 1985 vor einem übermäßigen Verzehr von Fischen gewarnt hat.
Wahr ist: Das Bundesgesundheitsamt hat inzwischen festgestellt, daß der Haupteintrag der gefährlichen Dioxine in den menschlichen Körper aus der Milch und von den hochbelasteten Fischen stammt.Als wir 1985 in der erwähnten Aktuellen Stunde Warnungen aussprachen, die heute ihre furchtbare Bestätigung gefunden haben, wurden wir hier im Parlament verspottet und verleumdet.
Der Staatssekretär Spranger nannte uns „die GRÜNE Gruppe der Horrorspezialisten, der Angst- und Panikmacher". Horror und Panik haben sich jetzt jedoch in großen Teilen der Küstenbevölkerung breitgemacht, aber nicht durch unsere Kassandrarufe, sondern durch Ihr Abwiegeln, durch Ihre Untätigkeit und durch das Verschieben auf den Sankt-Nimmerleins-Tag!
Aus den Lektionen, die wir Ihnen, meine Herren und Damen von den Koalitionsfraktionen, erteilt haben, haben Sie gelernt. Statt des Ankündigungsministers Zimmermann mit seinen Bauchlandungen in Sachen Katalysator und Tschernobyl-Abwiegelung, statt des Weichmachers „Wally" Wallmann tritt nunmehr das Showtalent Töpfer auf den Plan. Gerade hat das staunende Fernsehpublikum mit angesehen, wie er einem sterbenden Robbenbaby an der Nordsee ins blutig schäumende Maul schaut, da erlebt es Herrn Töpfer bereits auf der Zugspitze als Festredner zum „Tag der Umwelt".Sie verstehen es meisterhaft, das Umweltimage der Bundesregierung aufzupolieren, Herr Töpfer, jedoch haben Sie der Umwelt damit keinen Deut geholfen.
So war auch die Londoner Nordseeschutz-Konferenz ein riesiger Flop.
Sie haben immer wieder behauptet, Herr Töpfer, daß Sie eine Verminderung des Schadstoffeintrags der Flüsse von 50 % innerhalb von zehn Jahren in London durchgesetzt hätten. Vor lauter 50-%-Getöse haben Sie es versäumt zu sagen: 50 % wovon? Von welchen realen Größen gehen Sie denn aus? Welche Belastungswerte für welchen Fluß sollen denn zugrunde gelegt werden? Sie schlagen die Halbierung einer nicht genannten Größe mit nicht genannten Mitteln vor. Phantastisch, sage ich da nur. Außerdem machen
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5688 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Frau Garbeeinige wesentliche Einschränkungen diesen Beschluß unkontrollierbar und unwirksam.Das ist alles in den Anhängen des Konferenzbeschlusses nachzulesen. Diese Anhänge benennen weder konkret noch verbindlich auch nur einen einzigen Stoff, der vermieden werden soll. Ähnliches gilt für die Verminderung des Nährstoffeintrages.Ihnen war auch der Vorschlag Dänemarks unannehmbar, die Verbrennung von Chemieabfällen auf See schon bis 1991 einzustellen. Sie, Herr Töpfer, haben dies für 1994 durchgedrückt; denn mehr als die Hälfte der verbrannten Gifte stammen aus der Bundesrepublik. Für das Ende von Verklappung, Bergwerksabraum, Klärschlämmen und Baggergut ist kein Termin festgesetzt worden.Sie, Herr Minister, haben es noch nicht einmal vermocht, ein Verbot durchzusetzen, Apfelsinen- und Bananenschalen von Schiffen aus in die Nordsee zu werfen. Als Ergebnis ist festzustellen, daß Sie die Hausaufgaben, die Ihnen die chemische Industrie aufgetragen hat, in London gut gelöst haben, Herr Verhandlungsminister.
Die GRÜNEN sind dieses nutzlose Verhandlungsgerede satt. Wir haben nach den Katastrophen in Nord- und Ostsee erneut gehandelt. Neben allumfassenden Sanierungsmaßnahmen, die mittel- und langfristig wirksam sind, ist ein konsequentes Notprogramm gegen das Nordsee- und Ostseesterben erforderlich, das wir als Antrag hier eingebracht haben.Wir fordern darin unter anderem: eine „Schwarze Liste Produktion" als ersten wichtigen Schritt in Richtung Null-Emission. Keiner der Stoffe, welche unsere Umwelt und damit auch unsere Meere verseuchen, darf mehr hergestellt werden.
Statt freiwilliger Scheinvereinbarungen mit der Industrie brauchen wir ein Waschmittelgesetz mit Biß.
Phosphathaltige Waschmittel müssen endlich verboten werden. Keine Gemeinde, kein Bauernhof und keine Siedlung dürfen mehr ihre Abwässer ungeklärt in Flüsse oder Bäche einleiten.
Gewerbe- und Industriebetriebe, die in die Kanalisation einleiten, dürfen die Kläranlagen nicht zusätzlich belasten. Kläranlagen müssen sofort umgerüstet werden, um die Nitrat- und Phosphatfracht auf ein Mindestmaß zu verringern. In einem Bund-Länder-Sofortprogramm kann die Maßnahme innerhalb von neun bis elf Monaten erfolgen und kostet ca. 15 Milliarden DM. Das ist weniger, als für den Jäger 90 in erster Stufe ausgegeben wird; und der Bau des Jäger 90 wurde in einem nationalen Alleingang beschlossen.Wir fragen Sie, Herr Töpfer, und die Bundesregierung: Ist Ihnen die angebliche Bedrohung aus dem Osten mehr an Finanzaufwand wert als der Kampf gegen die Bedrohung unserer Meere?
Sie werden die Antwort hier geben müssen, Herr Minister. Sie, meine Herren und Damen, möchte ich ersuchen, das Notprogramm gegen das Nordsee- und Ostseesterben zu unterstützen, das wir als Änderungsantrag zur Beschlußempfehlung zur namentlichen Abstimmung stellen werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Wüppesahl erbeten.
Das Hin und Her um meinen Debattenbeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt ist schon etwas aufregend.Ich stelle zwei Anträge zur Geschäftsordnung, die sich entsprechend § 29 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung auf den zur Beratung stehenden Verhandlungsgegenstand und auf die Tagesordnung beziehen.Meine Damen und Herren, ich bedaure, daß ich während dieser Debatte das Wort zur Geschäftsordnung ergreifen muß, aber folgendes ist jetzt geschehen: Mir wurde gestern signalisiert und bis vorhin auch bestätigt, daß ich zu diesem Tagesordnungspunkt drei Minuten Redezeit bekommen soll. Ich hatte fünf Minuten beantragt, und mir wurde kurz vor der Beschlußfassung gesagt, daß heute eine Runde gesprochen werden soll, also nur von den Fraktionen, und konzediert, daß ich fünf Minuten sprechen kann. Jetzt habe ich eben erfahren, daß das wiederum auf drei Minuten reduziert worden ist. Deshalb stelle ich den Antrag, daß mein eigener Redebeitrag auf fünf Minuten angesetzt wird. Das ist der erste Geschäftsordnungsantrag.Dazu möchte ich eine kurze Begründung anführen. Ihnen ist sicherlich geläufig, daß der Minderheitenschutz als wesentliches Prinzip eines Parlamentsbetriebs Verfassungsrang hat. Ihnen ist sicherlich auch leicht nachvollziehbar, was mit wenigen Zahlen zu veranschaulichen ist, daß wir bei 22 Sitzungswochen im Kalenderjahr und ungefähr 20 Sitzungsstunden pro Sitzungswoche insgesamt 540 Stunden roundabout pro Kalenderjahr an Debattenbeiträgen haben. Davon müssen wir, wenn wir nur die Fraktion betrachten wollen, ungefähr 40 Stunden für die Bundesregierung abziehen und fünf Stunden für den Bundesrat, so daß noch ungefähr 390 zu vergebende Debattenstunden an die Einzelabgeordneten verbleiben.Ich rechne Ihnen jetzt noch folgendes vor: Wenn ich bloß 15 Minuten pro Sitzungswoche reden könnte, wären das fünf Stunden pro Kalenderjahr. Das ist schon wenig genug. Ich weiß inzwischen, daß Einzelabgeordnete zwischen 20 und 40 Minuten pro Kalenderjahr gesprochen haben. Die Ausnahme ist Herr Gruhl mit zwei Stunden pro Kalenderjahr gewesen.Ich halte dies für unzureichend. Sie werden mich nicht mit einem Hinterbänkler aus Ihren Fraktionen vergleichen können, der selten das Wort ergreift, sondern ich denke sehr wohl, daß es möglich sein muß, daß ich zu den aktuell und virulent diskutierten tagespolitischen Themen als Einzelabgeordneter Flagge zeigen kann, selbstverständlich auch zu meinem Fachthema, also innere Sicherheit im besonderen,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5689
WüppesahlRecht und Demokratie mit Schwerpunkt Polizeifragen.Ich halte das, was auch gerade heute mit diesem Hin und Her zu meinen drei bzw. fünf Minuten gelaufen ist, für wirklich beschämend. Das ist Plattwalzen von Fraktion über einen Einzelabgeordneten in diesem Hause hinweg.Ich möchte Sie wirklich bitten, den Minderheitenschutz so zu praktizieren, wie er in seiner Substanz gedacht ist, und mir die ursprünglich gedachten fünf Minuten zu gewähren.
— Ja, Herr Eigen, das Problem ist, daß ich jetzt zwar schon vier Minuten gesprochen habe, aber nicht zur Sache. Ich habe gesagt, ich bedaure, daß ich hierzu das Wort ergreife. Ich finde das unwürdig für mich und auch für das Haus und vor allem für das Thema, daß zu diesem Tagesordnungspunkt debattiert werden muß.Der zweite Geschäftsordnungsantrag, den ich jetzt auf Grund der Tatsache, daß ich ohnehin schon das Wort zur Geschäftsordnung ergriffen habe, zusätzlich stelle, ist, daß die Debattenzeit zu diesem Punkt verdoppelt wird.
— Das geht sehr wohl, Herr Seiters. Dazu möchte ich Ihnen folgendes erläutern. Ich bin nicht im Ältestenrat vertreten. Sie haben diese lächerlichen 50 Minuten für solch ein Thema ausgehandelt. Bei anderen Themen ist es kein Problem, die doppelte oder dreifache Verhandlungsdauer an einem Sitzungstag einzuschieben; egal, ob zu Hattingen, zur Rentenreform oder Gesundheitsreform. Und hier geht es um sehr viel mehr als bei der Gesundheitsreform oder der Rentenfinanzierung; denn hier geht es um existentielle Grundlagen. Im Europäischen Parlament ist es so, daß fraktionslose Einzelabgeordnete im Ältestenrat beratende Stimme haben. Ich kann meine Interessen dort nicht einmal vertreten. Wer macht das denn für mich dort?Dann kommen natürlich solche Ergebnisse wie mit meiner Redezeit dabei heraus, und auch die Tatsache, daß viel zuwenig Zeit insgesamt für diese Problematik heute angesetzt ist.Diese beiden Geschäftsordnungsanträge bitte ich einzeln zur Abstimmung zu stellen. Und in jedem Fall bitte ich den Bereich des Minderheitenschutzes nach diesem ungeheuerlichen Hin und Her heute zu wahren.
Meine Damen und Herren, die beiden am Anfang stehenden Äußerungen des Kollegen Wüppesahl, daß ihm fünf Minuten zugesagt seien und das wieder abgelehnt worden sei, sind unzutreffend. Ich habe das hier oben ja selber miterlebt.
— Entschuldigung, ich bleibe bei dem „unzutreffend" und möchte nichts anderes hinzufügen, um mich nicht in die Entscheidung, die jetzt das Haus zu treffen hat, weiter einzumischen. Das heißt, wir haben über zwei Geschäftsordnungsanträge abzustimmen, falls nicht zur Geschäftsordnung jemand anders das Wort wünscht.
Herr Seiters, Sie möchten das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Ich möchte nur darauf hinweisen, daß es zum Geschäftsordnungsantrag 1 keine interfraktionelle Vereinbarung, sondern eine Entscheidung des Präsidiums gibt. Ich erkläre für meine Fraktion, daß wir selbstverständlich die Entscheidung des Präsidiums respektieren.
Was den zweiten Geschäftsordnungsantrag anbetrifft: Da gibt es eine interfraktionelle Vereinbarung, und daran halten wir fest.
Keine weiteren Wortmeldungen.
Wir haben über einen Antrag abzustimmen, in dem es heißt, daß der Abgeordnete Wüppesahl eine Redezeit von fünf Minuten beansprucht. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Darf ich Sie bitten, durch Aufstehen noch einmal Ihre Meinung kundzugeben, damit ich die Mehrheit feststellen kann. Wer dafür ist, daß fünf Minuten gewährt werden, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Gibt es Enthaltungen? — Es ist eindeutig, daß die Mehrheit dagegen gestimmt hat. Diese Redezeit ist abgelehnt.
Es ist ein zweiter Antrag gestellt worden, gegen den gesprochen worden ist. Er bezieht sich auf die Verlängerung bzw. Verdoppelung der Redezeit, also zwei Runden à 10 Minuten oder eine ähnlich inhaltliche Vereinbarung. Wer dem Antrag des Abgeordneten Wüppesahl zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Letzteres ist die Mehrheit. Dann bleibt es bei der jetzt getroffenen Vereinbarung.
Ich rufe nun als nächsten Redner den Abgeordneten Carstensen auf.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Garbe, ich bedaure für Sie, daß wir hier wegen der Geschichte jetzt nicht im Zusammenhang diskutieren können, aber ich möchte doch vielleicht während meiner Rede auf einiges eingehen.Nach der Sondersitzung des Umweltausschusses zur Situation in Nord- und Ostsee schrieb der Bonner Journalist Stefan Richter:Die bittere Wahrheit ist wohl zunächst die: Es gibt keine rasch wirkende Medizin, die den schleichenden Tod der Robben stoppen und die verhängisvolle Bedrohung durch die Algenblüte abwenden könnte. Nord- und Ostsee sind über viele Jahrzehnte verschmutzt worden. So etwas kann man weder über Nacht noch in wenigen Jahren wiedergutmachen.
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5690 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Carstensen
Er fährt fort:Spektakulär wirkende Sofortmaßnahmen auf nationaler Ebene könnten eher den falschen Effekt haben. Sie beruhigen vielleicht das Gewissen, aber nicht die See. Deshalb darf die Katastrophe nicht in kalten Aktionismus münden.Was GRÜNE und die SPD in Teilen ihrer Anträge fordern, ist solcher Aktionismus.
Das Robbensterben, das Sterben der Seehunde an der dänischen und schleswig-holsteinischen Küste entsetzt nicht nur die Menschen an der Nordsee. Die Bilder von jämmerlich verendenden Robben sind schmerzhaft. Das Problem der Meeresverschmutzung ist drängend. Das können und wollen wir gar nicht leugnen. Aber wir sprechen hier auch über einen wirtschaftlich sensiblen Bereich. Mit einer Verunsicherung von Nordseeurlaubern werden verantwortungslos Arbeitsplätze an der strukturschwachen Nordseeküste von Sylt über die anderen nordfriesischen Inseln über St. Peter, Büsum, Friedrichskoog und die niedersächsischen Feriengebiete gefährdet. Wir tun der Sache keinen Gefallen, wenn wir für Konfrontation und nicht für Kooperation aller Beteiligten sorgen.Aktionismus, wie ihn Stefan Richter beschrieben hat, hilft wirklich weniger als nüchterne sachlichfachlich und wirtschaftlich-wissenschaftlich begründete Analyse sowie daraus resultierende Beschlüsse und ihre Umsetzung im jeweiligen Kompetenzbereich. Deshalb einige Fakten, um vielleicht etwas geradezurücken:In den letzten Jahren haben sich die Seehunde an der deutschen Nordseeküste in ihrem Bestand verdoppelt. Nach der Julizählung 1987 waren es in Schleswig-Holstein 3 790 Seehunde. Der Tiefpunkt lag einmal bei 1 200 Seehunden.Ich habe seit einigen Jahren das rasche Anwachsen der Seehundbestände mit gewisser Sorge beobachtet und mit Wissenschaftlern darüber gesprochen. Wir waren der Meinung, daß die in den letzten Jahren niedrigere Reproduktionsrate ein natürliches Regulativ sein könnte, um einen Zusammenbruch der Population zu vermeiden. Das Seehundsterben kommt jetzt für mich nicht unerwartet, — und wenn, dann hat das Sterben nur mittelbar mit der Belastung von Nord-und Ostsee zu tun. Es hat nichts zu tun mit der gleichzeitig aufgetretenen Vermehrung der Algen im Großen Belt. Diese Algen können für Fische tödlich sein, weil sie die Kiemen verkleben und auch toxisch wirken. Aber in den Meldungen von Killeralgen zu sprechen und zu suggerieren, diese seien für Menschen oder für die Seehunde tödlich oder auch nur gefährlich, halte ich für verantwortungslos.
Von einem Fischer aus Wurde bei Bremerhaven haben wir die Meldung, daß er einige tote Fische im Netz hatte. Dänische Forscher haben in der Nähe von sogenannten Sprungschichten am Boden auch tote Fische, tote Seesterne und Würmer, die aus dem Boden kamen, gefunden. Das Kieler Forschungsschiff hat bei seinen Fängen im Kattegat bei einer Algendichte von bis zu 20 Millionen Zellen pro Liter keinetoten Fische gefunden; allerdings in einem Gebiet, wo wohl auch wenige Fische sind.Fest steht, daß die Nährstoffzufuhr, insbesondere mit den Nährelementen Phosphor und Stickstoff, die Grundlage für das explosionsartige Pflanzenwachstum geschaffen hat. Hier muß ein wesentlicher Ansatzpunkt bei der Bekämpfung der Verschmutzung in der Nordsee zu suchen sein.Es ist übrigens interessant festzustellen, daß im Nordseegutachten 1980 den eutrophierenden Stoffen nur ein relativ begrenzter Platz eingeräumt wurde. Andere Probleme — Öl, Dünnsäure und Müll — hatten dort einen höheren Stellenwert.
— Bei der Sachverständigenanhörung, liebe Frau Garbe, die die CDU/CSU-Fraktion im letzten Herbst beantragt hatte, sah das schon ganz anders aus. Dort wurde sehr deutlich gemacht, daß wir uns viel mehr mit dem nicht so offensichtlichen Nährstoffeintrag hätten beschäftigen sollen als mit dem so öffentlichkeitswirksamen 01 oder der Dünnsäure, wobei ich diese Problematik nicht herunterspielen will.Um direkt und zielgerichtet Maßnahmen ergreifen zu können, muß man wissen, woher diese Stoffe kommen. Nun ist es einfach, den Hauptschuldigen gleich in der Landwirtschaft zu suchen, weil ja die Landwirte direkt mit Phosphaten und Stickstoffdüngern umgehen. Und es ist dann noch einfacher, eine falsche Rechnung aufzumachen: intensive Landwirtschaft gleich viel Dünger gleich viel Verschmutzung.Bei Phosphaten stammen die Einträge nur zu einem sehr geringen Anteil aus der Landwirtschaft, bei Stickstoff natürlich zu einem höheren, wobei es nach Angaben der Abwassertechnischen Vereinigung noch keine allgemein anerkannte Studie gibt. Natürlich haben wir das Problem des Stickstoffeintrages über die Gülle. Eine nationale Gülleverordnung müßte aber zur Voraussetzung haben, daß auch genügend Lagerkapazitäten in den Betrieben vorhanden sind, wie das z. B. in den letzten Jahren in Schleswig-Holstein gefördert worden ist. Eine Gülleverordnung wie in Nordrhein-Westfalen — mit zuwenig Lagerraum und einer unsinnigen zeitlichen Eingrenzung — schadet mehr, als sie nützt.Die höchste Stickstoffauswaschung entsteht in Güllebetrieben mit nicht optimaler Bewirtschaftung. Intensiv bewirtschaftete Flächen weisen nach Aussagen von Wissenschaftlern die geringsten Auswaschungen auf. Und was bemerkenswert ist: Zwischen intensiv und organisch bewirtschafteten Flächen liegt kaum ein Unterschied. Das nur ein Hinweis für unsere grünen Kollegen.
— Nein, liebe Frau Blunck. Werten Sie das bitte genauso, wie ich das sage.Wir sind alle Verschmutzer unserer Meere, die Landwirtschaft mit eingeschlossen, Sie auch mit eingeschlossen, liebe Frau Blunck. Weil wir alle gleich verantwortlich für Dreck und Nährstoffe sind, ist die Vorgehensweise der Bundesregierung in den letzten Jahren richtig gewesen. Dieser Weg ist auch jetzt
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5691
Carstensen
noch richtig. Wir setzen den Rahmen für die Reduzierung der Schmutz- und Nährstofffracht.
So sind in der letzten Legislaturperiode das Wasserhaushaltsgesetz , das Abwasserabgabengesetz, das Wasch- und Reinigungsmittelgesetz, das Abfallbeseitigungsgesetz novelliert und vor kurzem die Verwaltungsvorschrift zur Phosphatfällung in Kläranlagen verabschiedet worden.Die Luftreinhaltepolitik hat nachhaltig erst von dieser Bundesregierung einen großen Stellenwert bekommen. Das ist auch hinsichtlich der Nordsee wichtig, wenn man weiß, daß immer noch 1 bis 2 Gramm pro m2 und Jahr an Stickstoff über die Luft in die Nordsee eingetragen werden.Neue Konferenzen, auf denen wieder Maßnahmen beschlossen werden, schaden sicherlich nichts. Aber sie nützen uns auch nichts. Ich frage mich, was eine nationale Konferenz nach dem Antrag der SPD z. B. für die Ostsee bewirken soll. Sehen Sie sich doch bitte einmal eine Landkarte mit der politischen Aufteilung der Ostsee an, und Sie begreifen, warum die Bundesrepublik nur zu 3 bis 5 % die Probleme dieses Meeres mit beeinflussen kann.
Was jetzt gefordert ist, sind eine konsequente und beschleunigte Umsetzung der Beschlüsse der Nordseeschutz-Konferenz und das Einfordern der Umsetzung von Gesetzen und Verordnungen bei den Ländern. Da, liebe Kollegen von der SPD, liegt das Defizit, und da sind Sie gefordert, mit ihren Genossen in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen und jetzt leider auch in Schleswig-Holstein zu reden und sie zu bewegen.
Die gleiche Bewegung erwarten wir auch von unseren Freunden in den übrigen Bundesländern.Ich habe mit einem Zitat von Stefan Richter begonnen und will auch damit enden. Er schreibt:Ein sofortiger Verklappungs- und Verbrennungsstopp, wie er gefordert wurde, hätte vielleicht manchen besorgten Bürger wieder in Ruhe gewähnt. Doch seit dem Robbensterben ist klar, daß dies allenfalls eine Totenruhe ist. Gehandelt werden muß — aber nicht bei denen „da oben" . Nicht an Beschlüssen hapert es, sondern an der Umsetzung.Sorgen Sie, liebe Kollegen, mit dafür, daß wir entsprechend der gemeinsamen Beschlußempfehlung des Umweltausschusses auf Drucksache 11/2184 die Umsetzung der Maßnahmen schnell vonstatten bringen. Damit wäre unseren Meeren am besten geholfen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Nach der Rede, Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, des Kollegen Carstensen ist es notwendig geworden — das hatte ich eigentlich nicht vor — , den aktuellen Zustandsbericht der Nordsee für 1987 hier noch einmal in Erinnerung zu rufen.
Danach sind 103 Millionen t Abfälle aller Art in die Nordsee eingeleitet und gekippt worden.
— 103 Millionen t. Davon waren 93% Baggergut und Klärschlämme, die mit hochgradigen Umweltgiften belastet sind. Beispielsweise gelangten dadurch 1,5 Millionen t Stickstoffverbindungen in die Nordsee.
150 000 t Öl wurden bei Nacht und Nebel eingeleitet.
115 000 t hochgiftiger Chemikalien werden auf See verbrannt.Wer angesichts dieser Zustandsbeschreibungen einen Zusammenhang zwischen dem Robbensterben und der verschmutzten Nordsee leugnet, wird seiner politisch-parlamentarischen Verantwortung nicht gerecht, meine Damen und Herren.
Er soll sich abschminken, davon zu reden, die geschundene Natur würde ihn zu zusätzlicher politischer Aktivität anspornen.Sie wissen, meine Damen und Herren, daß schon 1987 vor Sylt 18 tote Robben, Tümmler und Wale gefunden wurden. Allein in den letzten Wochen sind an den Küsten von Nordsee und Ostsee über 600 tote Robben angeschwemmt worden. Es steht zu befürchten, daß selbst dann, wenn wir all das in einer gemeinsamen konzertierten Aktion — und nicht in einer Konferenz — unternehmen, was jetzt getan werden kann, noch weitere Lebewesen in einem größeren Massensterben verenden müssen.Seit über 20 Jahren warnen Wissenschaft und Umweltverbände vor einem möglichen ökologischen Tod der Nordsee.
Jetzt hat die geschundene Natur zurückgeschlagen. Diese Katastrophe war vorhersehbar, und ähnliche werden folgen, wenn wir weitermachen wie bisher.
Letztlich, meine Damen und Herren, ist die Katastrophe an der Nordsee ein Symptom dafür, wie wenig verantwortlich wir mit unseren Lebensgrundlagen umgehen.
Trotz aller bisherigen Anstrengungen zum Schutzeder Nord- und Ostsee — ich leugne sie nicht — zeigtsich: Wir haben zum Schutz der Nordsee nicht genug
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5692 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Schäfer
getan, und wir haben nicht schnell genug gehandelt. Ich will hier gar nicht mit dem Zeigefinger auf andere zeigen.
Unser aller Pflicht besteht jetzt darin, diese Katastrophe nicht wieder, wie andere, zu verdrängen.
Mit fernsehwirksamen Beschwichtigungsfahrten, Herr Minister Töpfer, oder mit Selbstlob, die Bundesregierung habe alles, was erreichbar sei, getan, wie wir es eben wieder gehört haben, ist die Nordsee nicht zu retten.Völlig unverständlich ist mir übrigens die Haltung des Bundeslandwirtschaftsministers mit Schuldzuweisungen an andere, um die Großbauernlobby zu schützen.
Dabei kann Herr Kiechle bei seinem Kollegen Töpfer die Zahlen abrufen, wonach ein Drittel der Nährstoffeinträge letztlich aus der Landwirtschaft kommt und in die Nordsee gelangt.
Den Gipfel auf die Politik der Verdrängung setzt einmal mehr unser Herr Bundeskanzler. Ich zitiere ihn von einer Pressekonferenz von gestern, vom 9. Juni:Aber es kann natürlich sein, daß mitten im Sommer ein Faß den Rhein herunterrollt. Und wir leben ja in der Bundesrepublik. Sie wissen, was daraus wird. Wir werden in wenigen Stunden dann wieder eine hektische Aktivität haben. Und wenn Sie 14 Tage später jemanden fragen, was war denn, dann sagt er: Ja, was war denn eigentlich?Mit dieser Politik des Aussitzens und Verdrängenswerden Sie auf Dauer nicht erfolgreich sein können.
Wir Sozialdemokraten sagen: Das ist ein Stück Hoffnung für alle, die es mit der Umwelt und mit dem Naturschutz ernst meinen.Wir brauchen jetzt für die Nordsee eine nationale konzertierte Aktion, Herr Bundesumweltminister, bei der alle sofort an einen Tisch kommen müssen — es müssen keine Fernsehkameras dabei sein, Herr Töpfer, auch wenn es Ihnen schwerfällt, diese Vorstellung zu entwickeln — :
Bund, Land, Kommunen, Industrie, Fischereiwirtschaft, Landwirtschaft, Gewerkschaft, Wissenschaft, Umweltverbände, Verbraucher und die Fremdenverkehrswirtschaft. Hier muß ausgelotet werden, was wir sofort zusätzlich tun und was wir mittel- und langfristig beschleunigt einleiten müssen. Da darf es keine Tabus und keine besonderen Verschmutzungsprivilegien mehr geben.
Herr Abgeordneter, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege, ich mußte das noch einmal durchdenken: Hat der Herr Bundeskanzler wirklich solch einfältige Ausführungen gemacht?
Ich habe hier einen Auszug aus der Pressekonferenz des Bundeskanzlers von gestern wörtlich zitiert.
Ich wiederhole: Bei dieser konzertierten Aktion darf es keine Tabus und keine besondere Verschmutzungsprivilegien mehr geben. Was der schleswig-holsteinische Umweltminister für Schleswig-Holstein hier in Gang gesetzt hat, muß deshalb schleunigst auf die Bundesebene übertragen werden.Der mit Abstand größte Nordseeverschmutzer sind wir, die Bundesrepublik. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich die Standardausrede zu unterlassen, ohne die anderen Staaten, die ebenfalls die Nordsee verschmutzen, ließe sich der Nordsee nicht wirklich helfen, und nationale Maßnahmen würden sowieso nicht wirken.
Wir müssen zuerst vor der eigenen Haustür kehren. Nur dann haben wir eine Chance, auch andere zu überzeugen.
Wir brauchen eine ökologische Modernisierung unserer Volkswirtschaft, eine wirklich soziale und ökologische Marktwirtschaft. Sie reden nur davon. In Ihrer Politik kommt ökologische Marktwirtschaft leider nicht vor.
Wir dürfen es nicht zulassen, daß die deutsche Fischwirtschaft und die Fremdenverkehrswirtschaft an der Küste auf Dauer ihre Existenz verlieren. Sind die Interessen von Großindustrie und Großagrariern denn wichtiger als die Existenz der Fischer und der Menschen, die vom Fremdenverkehr leben?Wir fordern Sie auch auf, Ihre Möglichkeiten auf EG-Ebene zu nutzen. Sie, Herr Töpfer, sind EG-Ratspräsident. Die Bilanz an umweltpolitischen Erfolgen während Ihrer Ratspräsidentschaft ist bislang schlichtweg niederschmetternd. Wir fordern Sie auf — weil man das noch nachholen kann — , hier mehr zu tun. Die Fristen, die in der Nordseeschutzkonferenz vorgegeben waren, sind beispielsweise entschieden zu verkürzen.Wann erfüllen Sie die Umweltschutzabkommen mit der DDR und der CSSR mit Leben? Wo übt diese Bundesregierung ökologische Partnerschaft mit diesen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5693
Schäfer
Ländern? Ökologische Partnerschaft heißt hier: faires Geben und Nehmen.Wenn es so ist, daß die DDR die Elbreinigung mit der Festlegung der Elbgrenze verknüpft, dann fragen wir Sie:
Was ist dieser Bundesregierung wichtiger: die Verteidigung eines Rechtsstandpunktes oder die Möglichkeit, die hochbelastete Elbe zu sanieren, damit auch von diesem Bereich her konkret etwas für die Nordsee getan werden kann?
Aber auch national besteht Handlungsbedarf. Wo ist Ihre Politik, die den Unternehmer ökonomisch belohnt, der seine Produktion umweltfreundlich umstellt? Wo ist Ihre Politik, die die Umweltkriminalität und das illegale Einleiten von Giften wirklich bekämpft? Brunnenvergifter gehören ins Gefängnis. Wo ist Ihre Politik, die die Abfallbeseitigung über die Flüsse so teuer macht, daß es für jeden Produzenten wirtschaftlicher ist, die Flüsse nicht mehr zu verschmutzen? Wo ist Ihre Politik, die den Kommunen hilft, die Investitionssummen aufzubringen,
damit sie Kläranlagen bauen können, die allen ökologischen Anforderungen gerecht werden?
Sie betreiben das Gegenteil: Sie plündern die kommunalen Kassen mit Ihrer sogenannten Steuerreform.
Wo ist schließlich Ihre Politik, die denjenigen Bauern belohnt, der weniger Dünger und Pestizide verwendet? Wo ist Ihre Politik, die dem Verbraucher die Möglichkeit gibt, tatsächlich umweltfreundliche Produkte am Markt zu kaufen?Meine Damen und Herren, wir reden von der neuen industriellen Revolution. Wir diskutieren Weltraumprojekte wie Hermes und Columbus. Sie geben mehrere 10 Milliarden DM für den unnötigen Jäger 90 aus. Ich sage nur: Es ist absurd, daß die reiche Bundesrepublik Deutschland nicht in der Lage sein soll, ihre Flüsse und Küsten sauberzuhalten.Herr Töpfer, Sie haben öffentlich selbst verkündet, daß bald wieder Lachse im Rhein schwimmen werden. Jetzt sterben sie schon in der Nordsee. Das ist die Lage der Natur.
Es ist beschämend, daß wir viel zuwenig für die geschundene Natur tun. Ich sage „wir" : Wir sehen alle zu, wie wir selbst unsere Lebensgrundlagen zerstören. Wir alle, meine Damen und Herren, tragen die Verantwortung, diesen Prozeß umzukehren. Deshalbbitten wir Sie: Stimmen Sie mit uns für eine gemeinsame konzertierte Aktion zum Schutz der Nordsee. Handeln ist angesagt!
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich hätte mir bei der besonderen Thematik, die mit immer größeren Schwierigkeiten verbunden ist, gewünscht, daß die Ausführungen des Kollegen Schäfer in etwas sachlicherer Form gemacht worden wären.
Die Nordsee, Herr Kollege Schäfer, verträgt schon Sachlichkeit. Es ist der Situation nicht angemessen, wenn Sie sich sozusagen schlanken Fußes von einem Beschluß entfernen wollen, den wir gemeinsam gerade vor zwei Monaten im Umweltausschuß gefaßt haben, was ich sehr begrüße; denn es sind gemeinsames Handeln und gemeinsames Denken gefordert.
— Der Beschluß ist einstimmig gefaßt worden, scheinbar auch mit ihrer Stimme, Herr Kollege Schäfer; jedenfalls nehme ich das an.
— Lassen Sie mich das entwickeln, dann können Sie vielleicht Ihre Frage noch etwas schärfen.Wir haben in diesem Hause gemeinsam versucht, dem Problem Nordsee zu Leibe zu rücken. Wir haben schon eine Fülle von Erfolgen. Ich möchte mich hier vor Bundesminister Töpfer stellen, der bei der Nordseeschutzkonferenz wirklich intensiv seine Möglichkeiten eingesetzt hat.
Aber wir alle wissen, daß die letzten Vorkommnisse auch ein Signal der Nordsee gewesen sind, das zeigt, daß wir in verschiedenen Punkten noch zusätzlich international und national die äußersten Anstrengungen unternehmen müssen.Sicher ist es richtig: Es ist eine Halbierung der gefährlichen Stoffe in dem Zeitraum von 1985 bis 1995 vorgesehen. Das unterstreiche ich. Wir haben die Halbierung des Nährstoffeintrags, wir haben eine Einschränkung der Abfalleinbringung. Aber das ist eben noch nicht ausreichend. Der Patient ist in einem ganz schwierigen Zustand. Er hängt vielleicht am Tropf, wenn man das medizinisch betrachten will.Deswegen fordern wir auch noch einmal die Einstellung der Verklappung. In einer Zeit, in der die Situation für die Nordsee besonders schwierig ist, mit wenig Sauerstoff, im Sommer bei Hitzeentwicklung— zusätzlich ist es ein Flachmeer — , dürfen wir sie nicht zusätzlich mit Stoffen belasten, von denen ich weiß, daß sie zwar nicht ursächlich schuld sind; aber wer von uns will denn verantwortungsbewußt den mittelbaren Zusammenhang völlig ausschließen?
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5694 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Wolfgramm
Wir machen ganz deutlich, daß der Vorstellung, die Verklappung vielleicht auch noch auszudehnen, entschieden widersprochen werden muß.
Im übrigen, Herr Kollege Schäfer, wenn wir schon bei der Aufteilung der Schuldzuweisung sind, mit der Sie begonnen haben, dann wäre es sehr hilfreich— Sie würden der Nordsee damit helfen — , wenn Sie den Kollegen Matthiesen in Nordrhein-Westfalen bitten würden, die Verklappung, die über Duisburg läuft, wenigstens vorläufig auszusetzen, damit wir vielleicht im Herbst eine bessere Situation der Nordsee haben.
— Er weigert sich. Ja. Sie können doch nicht immer mit zwei Zungen sprechen! Das ist einer bestimmten Spezies im Tierreich vorbehalten.
— Das hat er erklärt. Fragen Sie ihn selber! Dann wird er Ihnen im Gespräch schon deutlich machen, wo er Schwierigkeiten sieht.Ich möchte noch einmal klarmachen, daß wir die internationalen Konferenzen noch stärker nutzen müssen. Wir haben jetzt vor uns: den Umweltministerrat in der nächsten Woche. Wir haben das EG-Treffen in Hannover.Wir bitten den Umweltminister, alle seine Möglichkeiten zu nutzen und das als besonders dringliches Thema zu behandeln. Vielleicht kann man einen Ausflug an die Nordsee organisieren und den Teilnehmern zeigen, wie es dort bestellt ist.
— Es ist immer besser, etwas aus eigener Anschauung als von der Papierform aufzunehmen.Aber wir müssen eines feststellen. Es geht in der Hauptsache darum, daß wir die Einleitung der Schadstoffe in die Flüsse vermindern. Da geht es darum, daß nun endlich die dritte Reinigungsstufe überall in Angriff genommen wird.
Da sind die Kommunen gefordert. Die Kommunen müssen ihren Bürgern sagen, daß das mehr kostet. Der Nordseeschutz kostet die Bürger etwas.
Da darf ich vielleicht doch mal fragen: Wann haben sich denn die Hansestädte Hamburg und Bremen endlich entschlossen, ihre Kläranlagen zu bauen?
Wann hat denn die SPD-regierte Stadt Köln begonnen, ihre Kläranlagen zu bauen?
— Lieber Kollege Koschnick, Sie waren selber tätig und haben sich bemüht. Das will ich ja anerkennen.Aber das kostet eben alles Geld. Man muß den Bürgern sagen, daß es Geld kostet und daß die Nordsee es verdient, dieses Geld aufgebracht zu bekommen.
180 000 DM zahlt die Stadt Köln bei jeder Überschwemmung jeden Tag allein auf Grund des Abwasserabgabengesetzes als Schadstoffabgabe, weil sie keine entsprechende Kläranlage gebaut hat.
— Ja! Pro Tag! 180 000 DM!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer?
Ich möchte das jetzt weiterführen, Herr Kollege, weil ich doch deutlich machen möchte, daß das Engagement bei der FDP sehr intensiv ist; vielleicht mehr als bei Ihnen.
Wir haben hier die erste allgemeine Verwaltungsvorschrift inzwischen erlassen — das begrüße ich sehr — und damit die Phosphorelimination und die Nitrifikation reduziert. Wir müssen prüfen, ob wir das verschärfen und vorziehen können und den Einwohnerwert auf 20 000 heruntersetzen können
und ob wir die zweite Stufe, die Denitrifizierung, zusätzlich einführen. Sie ist Stand der Technik. Und ich meine, was Stand der Technik ist, können wir vielleicht doch in einem solchen Stadium fordern.
— Ich stimme Ihnen da zu, Frau Kollegin. Warum nicht?Die Novellierung des Abwasserabgabengesetzes und die Aufnahme der Schadstoffparameter Ammonium, Stickstoff und Phosphor haben wir schon sehr lange gefordert, liebe Kollegen von der CDU/CSU. Ich meine, wir sollten dieser Sache nun wirklich entschieden nachgehen. Wir müssen übrigens auch das Abwasserabgabengesetz novellieren. Wir haben es 1976 beschlossen. Wir haben dann mit 12 DM pro Schadstoffeinheit begonnen. Seit 1986 liegt diese Schadstoffeinheit bei 40 DM fest und bewegt sich nicht mehr. Das ist kein Anreiz. Das ist kein Anreiz auch für die Kommunen, zusätzlich etwas zu bauen. Das Beispiel Köln zeigt es. Man zahlt lieber die Abgabe, als daß man sich der Mühe unterzieht, die Kosten aufzuwenden und seinen Bürgern höhere Wasserkosten aufzuerlegen. Das ist es. Stimmen Sie dafür! Bemühen Sie sich, in den Kommunen der SPD das zu tun.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5695
Wolfgramm
Dann werden Sie hier sehr offene Ohren und Augen finden.Ich schlage auch vor, daß wir ernsthaft die Möglichkeit einer Nordseeabgabe zusätzlich zum Abwasserabgabengesetz prüfen. Das heißt, alle Schadstoffeinleitungen in die Flüsse, die in die Nordsee entwässern, und damit an der Schädigung der Nordsee beteiligt sind, müssen mit einem Extrazuschlag belastet werden. Wir müssen das ernsthaft prüfen.
Die Fortschreibung des Nordsee-Gutachtens, die ich an dieser Stelle, Herr Minister, mehrmals angemahnt habe, bitte ich sehr ernsthaft auf unser Programm zu nehmen. Denn wir müssen in kürzeren Abständen sorgfältig wissenschaftlich untermauert wissen, wie sich der Zustand der Nordsee weiter verändert hat, ob es in einigen Bereichen, wie das Hearing zeigt, Verbesserungen, in anderen Bereichen aber weiter Verschlechterungen gibt. Schließlich und endlich unterstützen wir den Plan der FDP von NRW, da wir auch zu Wasserbewirtschaftungsplänen der Flüsse — nicht nur des Rheins, sondern auch der Elbe — kommen müssen.Ich komme zum internationalen Bereich. Wir müssen anregen, der CSSR — aber auch das kostet sehr viel Geld; vielleicht machen Sie ein paar Vorschläge dazu, Herr Schäfer, wie wir es finanzieren —
zusätzliche Kläranlagen zu liefern. Wir müssen das tun, wir müssen uns aber auch sehr deutlich über die Kostenseite unterhalten. Es kann natürlich nicht so sein, daß wir allen osteuropäischen Staaten nun Maßnahmen im Bereich der Luftreinhaltung und der Verminderung des Eintrags von Schadstoffen in die Gewässer finanzieren.Alles, was wir hier überlegen, gilt natürlich weitgehend auch für die Ostsee. Wir hatten heute eine polnische Delegation hier, die von uns begrüßt worden ist. Ich habe es deutlich gesagt: Polen und die Sowjetunion müssen hier Erhebliches beitragen. Da ist sehr wenig im Gang. Ich bin eingeladen worden, in die Sowjetunion zu fahren, und ich hätte gern ein erstes Gespräch mit dem sowjetischen Umweltminister geführt; es gibt dort erst seit kurzer Zeit einen Umweltminister. Aber es war mir wichtig, in dieser Plenarwoche hier zu sein.Nehmen Sie bitte noch einmal die Überlegung entgegen, daß es nicht viel hilft, wenn wir an dieser Stelle versuchen, uns gegenseitig polemisch Schuld zuzuweisen. Es hilft nur gemeinsames Vorgehen. Das gilt übrigens auch für die GRÜNEN. Fahren Sie doch einmal nach Großbritannien — ich habe Sie schon einmal darum gebeten — , und reden Sie mit den Leuten dort! Die Engländer haben leider ein geringes Umweltbewußtsein. Das wäre viel hilfreicher, als wenn Sie hier die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen polemisch und unsachlich angreifen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.
Meine Damen und Herren! In dieser Woche haben wir zu diesem Thema, das hier sehr untergeordnet behandelt wird, praktisch in allen wesentlichen Medien — ob in der „Zeit", in der „taz" oder im „Stern" — Leitartikel oder zumindest große Kommentare auf Seite 2 lesen können. Ebenso wie sicherlich die Eltern von vielen von Ihnen — wie von mir — sich mit Trauer daran erinnern, früher in unseren Flüssen gebadet zu haben, so wird es uns sicherlich nicht erspart bleiben, unseren Kindern — jedenfalls dann, wenn wir noch jung sind — in absehbarer Zeit mitteilen zu müssen: Wir konnten noch in den Meeren baden, was in absehbarer Zeit nicht mehr möglich sein wird.Angesichts dieser Gedanken ist das, was hier abläuft, nichts anderes als eine widerwillige Pflichtübung des Parlaments auf Grund der harten Fakten, die Grundlage der Debatte sind. Ob wir hier reden oder nicht und egal, was hier geredet und an Tatsachen, Fakten auf den Tisch gepackt wird, es ist tatsächlich fast gleichgültig. Es ändert sich nichts an dem weiteren Sterben der Nordsee. So wie bereits verschiedentlich sehr offen gesagt und geschrieben wird: Das ist eine Mordsee, ist natürlich auch zu fragen: Wer sind denn die Mörder dieser Mordsee? Ich bin allerdings der Auffassung, daß viele derjenigen, die auch auf der Regierungsbank sitzen, wenn man die harten Kriterien des Strafverfahrensrechts anlegen müßte, gleich mehrere Tatformen erfüllt hätten.
Tatsächlich sind die Kriterien, wie schon gesagt, ganz andere, und zwar handelt es sich um sehr banale, triviale, richtig primitive Kriterien, die entscheiden, was in bezug auf die Nordsee an Handlung herauskommt. Das ist der schnelle Profit. Es ist schlicht und einfach das Geld, das die Entscheidung herbeiführen hilft Die Lobbyisten stehen Gewehr bei Fuß, und diejenigen, die diese Klientel hier vertreten, sind zur Zeit bedauerlicherweise mehrheitlich in diesem Parlament mit Sitz und Stimme.Wenn wir uns dann noch vergegenwärtigen, was diese Woche bekanntgeworden ist, daß das Bundesgesundheitsamt auf Grund der Luft- und Bodenlobby praktisch jede Stellungnahme — geschmiert und entsprechend abgestimmt — zu den wesentlichen Bereichen herausgegeben hat, dann braucht man sich eigentlich nicht zu wundern. Dann frage ich mich vor allen Dingen, wieso nicht mehr in diesem Bereich stattfindet, nämlich im Bereich des zivilen Ungehorsams, und ich frage mich, weshalb wir hier noch so ruhig sitzen können, wenn Menschen tatsächlich begriffen haben — es begreifen ja immer mehr — , daß es hier um ganz andere Dinge geht, nämlich um existentielle Lebensgrundlagen.Ich denke, Sie vergessen auch: Alles Leben kommt aus dem Wasser, wirklich alles. Bei Amphibien, bei Reptilien oder bei Wirbeltieren, also auch beim Menschen, findet über die Mitose und Meiose die Entstehung des Lebens statt. Was machen Sie? Sie ziehen sich in Ihre Großstadt zurück, gucken aus dem Penthouse dem Sterben der Nordsee und anderer Bereiche unserer Umwelt und der Natur zu. Herr Wolfgramm schlägt einen Ausflug der EG-Umweltminister vor, so
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5696 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Wüppesahlwie Herr Töpfer einen Ausflug mit nettem Käppi und entsprechendem Punkte-Einsammeln in der Bevölkerung durch die Medienberichterstattung gemacht hatte, ohne tatsächlich irgend etwas dafür zu tun,
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich komme zum Schluß. —... um dieses Sterben der Nordsee zu beenden. In der Tat: Wir haben hier keinen Tierpark oder Zoo, wo ein paar Robben sterben, sondern das ist eine wesentliche Grundlage unserer Existenz. Ich bin — auch auf Grund der Gesamtdebattendauer von 50 Minuten — allerdings der Auffassung, daß das noch nicht begriffen worden ist.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns alle darin einig: Die Nordsee steht an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Das wissen wir nicht erst seit dem Robbensterben und seitdem sich Algen an der skandinavischen Küste massenhaft entwickeln und dadurch Fische und andere Lebewesen im Meer verendet sind. Betroffenheit, Angst und Sorge sind verständliche Reaktionen in unserer Bevölkerung. Es stellt sich vielen die Frage, ob nach dem Waldsterben nun auch mit den Küstengewässern der Nordsee und der Ostsee außerordentlich bedeutsame ökologische Räume grundlegend und möglicherweise irreversibel geschädigt sind. Die Menschen an der Küste bangen zusätzlich um ihre wirtschaftliche Existenz, an vielen Stellen durch falsche emotionale Berichterstattung verstärkt. Urlauber sorgen sich um gesundheitliche Auswirkungen.
Für diese Sorgen in der Bevölkerung habe ich volles Verständnis. Daraus erwächst uns die Verpflichtung, alle Wege zu nutzen, um wirksame Abhilfe zu schaffen.
Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, hat bereits seit langem die Gefahren für die Stabilität der Nordsee erkannt und im nationalen und internationalen Rahmen gehandelt. Heute steht auch die Beschlußempfehlung zur Konferenz über den Nordseeschutz zur Abstimmung. Allein die Tatsache, daß der Beschluß damals einstimmig gefaßt worden ist, Frau Abgeordnete Garbe, muß doch wohl auch Sie zu der Meinung kommen lassen, daß das, was am 21. April, also vor nicht ganz zwei Monaten, gemacht worden ist und was die Bundesregierung dazu in die Diskussion eingebracht hat, der richtige Weg ist. Sonst hätten Sie diesen Anträgen nicht Ihre Zustimmung gegeben.
Herr Minister, würden Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Garbe gestatten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber selbstverständlich gerne.
Bitte schön.
Herr Minister, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß unser Maßnahmenkatalog im Grunde genommen schon nicht angenommen war und wir dann den Strohhalm ergriffen haben, damit überhaupt etwas gemacht wird, und daß wir angesichts dieser Tatsachen, die wir heute besprechen, den Änderungsantrag dazu einbringen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete Garbe, ich nehme das natürlich zur Kenntnis. Aber Sie nehmen doch sicher auch zur Kenntnis, daß die Fraktion der GRÜNEN einen Beschlußantrag nicht mittragen würde, wenn sie von vornherein sagen würde, er wäre zur Erreichung dieses Zweckes völlig unzureichend.
Das ist mein Respekt auch vor Ihrer Fraktion. Ich werde darauf zurückkommen, wie es weiterzuentwikkeln ist.Anläßlich der zweiten Nordseekonferenz in London habe ich durch Verhandlungen miterreichen können, daß ein international abgestimmtes Handeln angestoßen worden ist. In dem Bericht, meine Damen und Herren, den die norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland am 6. Juni zur Frage Nordseeproblematik, die in Norwegen ungleichsam bedeutsamer an der eigenen Küste erfahren worden ist, im dortigen Parlament abgegeben hat, hat sie wörtlich ausgeführt:Die Vereinbarungen der Nordseekonferenz über eine 50%ige Reduktion bis 1995 war ein Durchbruch in der internationalen Kooperation beim Kampf gegen die Umweltprobleme der Nordsee.Dies sagte Gro Harlem Brundtland am 6. Juni, vor wenigen Tagen, im norwegischen Storting.Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Schäfer hat mir schon die Arbeit abgenommen, indem er Zahlen über die Ostsee- und Nordseebelastung vorgetragen hat. Das belegt, Frau Abgeordnete Garbe — wenn Sie mir die Freude gäben, zuzuhören —, ganz deutlich, daß Ihre Aussage, hier sei keine Hundertprozentangabe möglich, falsch ist. Natürlich haben wir diese Angaben, und natürlich, Herr Abgeordneter Wolfgramm, wollen wir gerade auch über Monitoring, über das Verfolgen der Entwicklung, dazu beitragen, die Maßnahmen, die notwendig sind, sehr gezielt anzusetzen, weil die Mittel auch nur einmal ausgegeben werden können.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5697
Bundesminister Dr. TöpferWir nehmen diesen Hinweis gerne auf.Meine Damen und Herren, die außerordentlichen Entwicklungen der vergangenen Wochen machen aber auch ganz klar sichtbar: Eine intensive Beschleunigung aller bereits vereinbarten und noch zu vereinbarenden Maßnahmen ist unbedingt erforderlich. Dabei sollten wir aber der Versuchung widerstehen, Herr Abgeordneter Schäfer, diese Warnungen der Natur zur parteipolitischen Profilierung zu mißbrauchen.
Es ist wirklich schwer erträglich — lassen Sie mich das in aller Ruhe sagen — , erst zu einer nationalen Gemeinschaftsanstrengung aufzurufen und dann hier nur noch parteipolitische Polemik abzuliefern.
Wenn man eine Gemeinschaftsanstrengung aller einfordert, aber dann nichts anderes tut, als den anderen nur noch persönlich zu diffamieren, meine Damen und Herren, auf welcher Basis wollen Sie dann hier wirklich Gemeinschaft bewirken?
Ich bekenne mich sehr, sehr nachdrücklich zu dieser parteiübergreifenden Gemeinsamkeit in dieser Frage. Ich sage das auch — ich sehe ihn leider nicht; wir haben vorhin noch darüber gesprochen — zu meinem neuen Kollegen Heidemann in Schleswig-Holstein. Wir sitzen doch gerade im wasserwirtschaftlichen Bereich in einem föderativen Staat, in dem das Mitwirken der Bundesländer unumgänglich notwendig ist, weil sie für den Vollzug der Wasserwirtschaft Kompetenz und Verantwortung haben, im selben Boot. Nun lassen Sie uns doch bitte auch einmal dazu kommen, daß wir nicht nur vor der Klammer sagen: Wir wollen über die Parteigrenzen hinweg arbeiten, und in der Klammer genau das Gegenteil von dem, was wir vorher vorgezogen haben.
Herr Minister, ich darf Sie einen Moment unterbrechen.
Ich muß zunächst sagen, der Minister Dr. Heidemann hat sich entschuldigt, weil er im Bundesrat ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das war keine Kritik.
Zwei Abgeordnete wollen Zwischenfragen stellen. Werden Sie die gestatten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, selbstverständlich.
Dann zunächst der Herr Abgeordnete Daniels.
Herr Minister, wenn es darum geht, konkrete Maßnahmen zu ergreifen — so, wie Sie eben die Situation in der Nord- und Ostsee beschrieben haben, geht es darum, daß wir kurz davor sind, einem Tod der Nordsee entgegensehen zu müssen — : Wie stehen Sie in diesem Zusammenhang zu der Forderung, daß ein Moratorium für
die Schadstoffeinleitung in unsere Flüsse als eine konkrete Maßnahme notwendig wäre?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, zu dieser Frage wäre ich natürlich noch gekommen, wenn Sie etwas abgewartet hätten; auch ich möchte konkret sagen, was zusätzlich getan werden kann und wie wir beschleunigen können, wo die sachliche Basis für das, wonach Sie, Herr Abgeordneter Schäfer, fragten, liegt. Das ist selbstverständlich völlig richtig.Ich greife das gerne im Zusammenhang mit der einzigen noch verbliebenen Verklappung aus der Bundesrepublik Deutschland auf. Alles das, was hier an großen Zahlen über Klärschlämme usw. gesagt worden ist, trifft die Bundesregierung und die Bundesrepublik Deutschland nicht. Aus der Bundesrepublik Deutschland wird kein Klärschlamm in die Nordsee eingebracht.
Das einzige, was noch verbleibt, ist die Dünnsäure. Hier sage ich Ihnen die Zahlen, damit Sie auch wissen, wie die Situation ist. Aus der Bundesrepublik Deutschland erfolgen genehmigte Einleitungen von Dünnsäure gegenwärtig noch in einer Menge von etwas über 900 000 t. Diese 900 000 t verteilen sich wie folgt: Kronos Titan in Nordenham 235 000 t, Kronos Titan in Leverkusen etwas über 200 000 t und Pigment-Chemie in Duisburg 450 000 t. Das ist die Situation.Ich habe gestern alle Beteiligten zu mir ins Ministerium gerufen. Ich habe von den Kollegen aus Nordrhein-Westfalen mitgeteilt bekommen, daß sie eine Abmachung mit den Unternehmen haben, daß sie für einen Betrag in dreistelliger Millionenhöhe eine entsprechende Aufarbeitungsanlage für Dünnsäure bauen, und sie der Überzeugung sind, dies solle man noch bis 1989 so machen. Dann wären wir in der Bundesrepublik Deutschland an der Spitze aller Länder in der Europäischen Gemeinschaft und darüber hinaus; wir würden nämlich aus der Titandioxidproduktion keine Tonne Dünnsäure mehr in irgendein Meer einleiten. — Dieses ist die Meinung von Nordrhein-Westfalen. Ich sage Ihnen: Diese Meinung teile ich. Ich teile sie deswegen, weil ich sonst nur eine Symbolpolitik betreibe, wenn ich die Dünnsäureverklappung bei mir kurzfristig beende mit dem Ergebnis, daß diese Produktion in ein anderes Land ausweicht, in dem exakt diese Dünnsäure nicht nur bis 1989 entsorgt wird, sondern über 1989 hinaus. Diesen Zusammenhang, meine Damen und Herren, einzusehen scheint mir wirklich eine intellektuelle Leistung zu sein: Dies habe ich auch in der Sondersitzung des Umweltausschusses genauso vorgetragen, und alle haben beifällig dazu genickt. Das hat aber niemanden daran gehindert, hinterher aus dem Saal wieder herauszugehen und das wieder mit gleicher Nachdrücklichkeit zu fordern.
Ich respektiere den Abgeordneten Wolf gramm sehr, wenn ich das sagen darf, weil wir uns natürlich auch Gedanken darüber machen müssen, wie wir auf
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Bundesminister Dr. Töpferbestimmte Entwicklungen auch kurzfristig reagieren. Deswegen schließe ich dies alles dezidiert nicht aus. Nur, ich halte es nicht für vertretbar, wenn man so tut, als sei nur die Bundesregierung nicht bereit zu handeln.
— Herr Abgeordneter, ich wollte Ihnen in einem Zusammenhang verdeutlichen, daß die Politik, die wir hier machen, nicht eine ist, die, wie vorhin einmal gesagt worden ist, irgendwelche Aufgaben der Industrie erfüllt, sondern eine, die in einer großen Gemeinschaft, auch mit Nordrhein-Westfalen, abgestimmt ist, Herr Abgeordneter Schäfer. Dies ist der Zusammenhang.
Jetzt kommt zunächst Herr Abgeordneter Stahl zu einer Zwischenfrage. Bitte schön.
— Das kann man von hier oben besser sehen.
Herr Bundesminister, die Zahlen, die Sie genannt haben, sind uns ja allen gegenwärtig. Und die Zahlen, die Herr Schäfer genannt hat, sind übrigens auch in Ordnung.
Meine Frage an Sie: Ist es denn auf Grund der besonderen Situation nicht tatsächlich zweckmäßig, daß Sie sich als Bundesminister, z. B. in einer solchen Konferenz, wie wir sie hier beantragen, mit den Bundesländern und allen anderen Anrainern der Nordsee und Flußanrainern nun unverzüglich zusammensetzen, um mit den Bundesländern und mit den Kommunen z. B. die Klärstufe III verstärkt durchzusetzen? Denn der Nährstoffeintrag — da werden Sie mir zustimmen — ist doch wohl einer der entscheidendsten Gründe dafür, daß die Nordsee in diesem desolaten Zustand ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Stahl, ich kann Sie darauf hinweisen, daß ich heute nachmittag um 15 Uhr die Kollegen aus den Bundesländern bei mir habe, daß ich gerade dazu eingeladen habe, daß ich am kommenden Montag bei dem Nordischen Umweltrat in Kopenhagen sein werde, um das mit den skandinavischen Ländern zu erörtern, und daß wir am kommenden Donnerstag den Umweltrat in Luxemburg haben, auf dem wir das ebenfalls zum Gegenstand unserer Verhandlungen machen. Das zum ersten Teil Ihrer Frage.
Zum zweiten Teil kann ich Ihnen sagen, daß wir, wie Sie wissen, im Bundesrat vor knapp fünf Wochen die erste Verwaltungsvorschrift zum Wasserhaushaltsgesetz verabschiedet haben. Sie ist dort von allen Bundesländern nach schwierigen Verhandlungen und nach den Hinweisen der Kommunen und der abwassertechnischen Vereinigung mitgetragen worden, nach Hinweisen, daß das, was wir dort fordern, offenbar noch nicht den anerkannten Regeln der Technik entspricht. Ich kann Sie daran erinnern, daß dieses Hohe Haus 1986 bei der Novellierung des Abwasserabgabengesetzes darauf aufmerksam gemacht hat, schriftlich, daß wir die anerkannten Regeln der Technik in der Verordnung festlegen wollten. Genau dies ist geschehen. Ich glaube, daß Sie recht haben: Unser Augenmerk muß auf die dritte Reinigungsstufe gerichtet werden. Wir haben die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, und wir werden — zusammen mit den Ländern — auch die Umsetzung vorantreiben.
Darf ich denn dem Kollegen Wolfgramm, der so lange gewartet hat, nun auch noch das Wort zu einer Zwischenfrage geben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber gerne.
Herr Bundesminister, stimmen Sie meiner Überlegung zu, daß es sich hier bei diesem Thema um ein sehr wichtiges Thema handelt,
und würden Sie mir zustimmen, daß die Landesvertretungen von Nordrhein-Westfalen, von Hamburg und von Bremen
bei einem so wichtigen Thema vielleicht auch Vertreter hierher entsenden könnten, wie es die Vertretungen von Niedersachsen und von Schleswig-Holstein getan haben,
und würden Sie in den Gesprächen mit den Ländervertretern freundlicherweise darauf hinweisen, daß die Parlamentarier das erwarten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich will den letzten Hinweis gern aufgreifen. Im übrigen bitte ich diejenigen Abgeordneten, die noch weitere Zwischenfragen haben, auch darauf aufmerksam machen zu dürfen, daß die Zeit vorangeschritten ist. Ich glaube, daß wir, die wir im Umweltausschuß ja alle zusammensitzen, Gelegenheit haben, dies dort weiter zu erörtern.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deswegen an dieser Stelle abschließend folgendes sagen: Die Bundesregierung ist in gar keiner Weise der Überzeugung, daß man auf diese katastrophalen Entwicklungen gerade der Algenausbreitung nur damit reagieren kann, daß man auf bisher Geleistetes hinweist. Vielmehr müssen wir gerade bei den Nährstoffen weiterkommen. Allerdings bin ich der Überzeugung, daß das Blicken auf die Nährstoffe nicht die Notwendigkeit, die Schadstoffe zu vermindern, in den Hintergrund treten lassen darf.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5699
Bundesminister Dr. TöpferWir brauchen die internationale Zusammenarbeit, auch und gerade die Zusammenarbeit mit der DDR. Ich werde meinen Besuch beim Umweltminister der DDR vom 10. bis zum 13. Juli gerade dazu nutzen. Dies habe ich ihm mitgeteilt. Ich hoffe, daß etwas anderes eintritt als das, was der Abgeordnete Schäfer gesagt hat: nämlich daß die DDR endlich versteht, daß die Normalität in Deutschland nur dann hergestellt ist, wenn wir uns über Umweltprobleme ohne jede Vorbedingung unterhalten und dies nicht an politische Vorgaben knüpfen. Das hat meiner Ansicht nach Priorität. Dann, Herr Abgeordneter Schäfer, haben wir, so glaube ich, auch eine Grundlage dafür, über Parteigrenzen hinweg Nordseeschutzpolitik zu betreiben. Die Bundesregierung ist dazu bereit — und der Bundesumweltminister erst recht.Ich danke sehr herzlich.
Meine Damen und Herren, zur Frage der Vertretung des Bundesrates durch die Minister der Länder muß hier sachlich festgestellt werden, daß der Bundesrat zur gleichen Zeit tagt. Das war auch der Grund, warum der schleswig-holsteinische Minister sich entschuldigt hatte.Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge der Fraktion der SPD und der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf den Drucksachen 11/2425 und 11/2457 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch; dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen jetzt zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2399: Notprogramm gegen das Nordsee- und Ostseesterben.Die Fraktion DIE GRÜNEN hat beantragt, daß über ihren Antrag sofort namentlich abgestimmt wird. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP beantragen hingegen, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN zu überweisen, und zwar federführend an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.Nach der ständigen Übung des Hauses geht der Antrag auf Ausschußüberweisung der Abstimmung in der Sache vor. Ich frage also: Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Ausschußüberweisung? —
Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Überweisung an die Ausschüsse ist mit großer Mehrheit beschlossen. Damit entfällt eine sofortige namentliche Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN.Wir kommen jetzt zu dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2426: Konzertierte Aktion zur Rettung der Nordsee und der Ostsee.Auch die Fraktion der SPD hat beantragt, daß über ihren Antrag sofort abgestimmt wird. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP beantragen, den Antrag der Fraktion der SPD zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu überweisen.Auch hier gilt nach ständiger Übung: Der Antrag auf Ausschußüberweisung geht der Abstimmung in der Sache vor. Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Ausschußüberweisung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Ich stelle fest, daß der Antrag auf Ausschußüberweisung mit Mehrheit angenommen worden ist. Damit entfällt auch die sofortige Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD.Wir kommen jetzt zur Abstimmung zu Zusatzpunkt 11 der Tagesordnung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2462. Die Fraktion DIE GRÜNEN verlangt gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung eine namentliche Abstimmung. Das Verfahren ist Ihnen bekannt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung. —Meine Damen und Herren, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat, aber dies zu tun beabsichtigt? — Das ist offensichtlich nicht der Fall.Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir müssen leider abwarten, bis das Ergebnis vorliegt.Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2462 bekanntgeben. Es wurden 317 Stimmen abgegeben. Davon war keine ungültig. Mit Ja haben 37 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 280. Es hat keine Enthaltung gegeben.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 316; davonja: 37nein: 279JaDIE GRÜNENFrau Beer BrauerDr. BriefsDr. Daniels EbermannFrau Eid Frau Flinner Frau Garbe HäfnerFrau HillerichHossKleinert
Dr. Knabe Kreuzeder Frau KriegerDr. Mechtersheimer Frau NickelsFrau Oesterle-SchwerinFrau OlmsFrau RustFrau SaiboldSchilyFrau Schmidt-Bott Frau SchoppeSellinStratmannFrau TeubnerFrau TrenzFrau UnruhFrau Vennegerts Frau Dr. Vollmer VolmerWeiss Wetzel
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5700 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Vizepräsident WestphalFrau Wilms-Kegel Frau WollnyFraktionslos WüppesahlNeinCDU/CSUAustermann BauerBayhaDr. Becker Dr. BiedenkopfBiehleDr. BlankDr. BlensBörnsen
BohlBohlsenBorchertBuschbom Carstens
Carstensen Dr. CzajaFrau DempwolfDeresDr. Dregger Echternach Ehrbar EigenEngelsberger Dr. Friedmann Dr. Friedrich FuchtelFunk
Ganz
Frau Geiger GeisGersteinGerster
GröblGüntherHarriesFrau HasselfeldtHauser
Frau Dr. Hellwig HelmrichHerkenrath HinrichsHinskenHörsterDr. Hoffacker Dr. Hornhues Dr. HüschDr. Jahn
Dr. Jenninger Jung
KalischDr.-Ing. Kansy Dr. Kappes KiechleKolbKossendey KrausKreyKroll-Schlüter Dr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. Lammert Dr. Langner LattmannDr. LaufsFrau LimbachLink
Link LinsmeierLintnerDr. Lippold LowackLummerMaaßFrau MännleMagin MarschewskiMichels Dr. MöllerMüller
NelleNiegelDr. OlderogPetersenPfeffermannPfeiferDr. PingerDr. PohlmeierDr. ProbstRauen Rawe ReddemannRegenspurgerRepnikDr. RiesenhuberFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) RossmanithDr. RüttgersSauer
Sauter Schartz (Trier)SchemkenScheu SchmidbauerSchmitz SchreiberDr. Schroeder Dr. Schulte
Seehofer
Seesing Seiters Spilker Dr. SprungDr. Stark
Dr. SterckenStraßmeirStrube StücklenFrau Dr. SüssmuthSusset TillmannDr. TodenhöferDr. UelhoffUldallDr. UnlandFrau VerhülsdonkVogt
Dr. Voigt
Dr. VondranDr. WaffenschmidtGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarrikoffWeiß Werner (Ulm)WilzWimmer WindelenFrau Dr. WisniewskiDr. WittmannDr. WulffZeitlmannZierer ZinkFDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumCronenberg Eimer (Fürth)Frau Folz-Steinacker FunkeGallus Grüner Heinrich Dr. HirschDr. HitschlerHoppeDr. HoyerIrmerKleinert
Dr. Graf LambsdorffLüderMischnickNeuhausenNolting Paintner Richter RindRonneburgerSchäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau WürfelSPDAmling BachmaierFrau Becker-Inglau BernrathBindigDr. Böhme
Börnsen
Dr. von BülowFrau ConradFrau Dr. Däubler-Gmelin DillerFrau Dr. Dobberthien DreßlerDuveDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichErlerEstersEwenFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
GanselDr. GautierGerster
GilgesFrau Dr. GötteGroßmannGrunenbergFrau HämmerleHasenfratzHeimannHeistermannHeyenn Dr. Holtz HornJahn JaunichDr. JensJung KastningKiehmKirschnerKlein KolbowKoschnick Lennartz LeonhartLohmann Frau Matthäus-Maier MenzelMeyerMüller Müller
Müntefering
NagelNehmNiggemeierDr. NöbelFrau Odendahl OostergeteloDr. OsswaldPauliDr. Penner Dr. Pick Porzner PurpsReimann Frau RengerReuterRixeRothSchäfer SchanzScherrerSchmidt Schmidt (Salzgitter) Dr. Schmude SchreinerSchützFrau SeusterSieler SingerDr. SperlingStahl
Frau SteinhauerFrau Dr. Timm ToetemeyerUrbaniak Waltemathe Wartenberg WeiermannWestphal Frau WeyelFrau Wieczorek-Zeul Wiefelspützvon der Wiesche Wimmer Dr. de WithWittichWürtzZanderZumkleyDer Antrag ist damit abgelehnt.Wir müssen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 11/2184 abstimmen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthal-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5701
Vizepräsident Westphaltungen? — Die Mehrheit ist für die Beschlußempfehlung. Sie ist damit angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 22 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrensrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften— Drucksache 11/2302 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich erteile zur Einbringung dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Dr. Waffenschmidt, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Begründung des Gesetzentwurfes drei kurze Feststellungen.
Erstens. Wir haben in den ersten fünf Monaten dieses Jahres einen Anstieg des Zugangs an Asylbewerbern um 66 % zu verzeichnen: 31 962 Asylsuchende von Januar bis Mai dieses Jahres gegenüber 19 189 im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Nach allen Erfahrungen können wir davon ausgehen, daß etwa 90 % dieser Personen das Asylrecht zu Unrecht beanspruchen, d. h. sie werden in den rechtsstaatlichen Verfahren nicht anerkannt. Dies stellt insbesondere unsere Kommunen, denen die Unterbringung und Versorgung dieser Personen obliegt, vor kaum mehr zu bewältigende Probleme.
Der Deutsche Bundestag befaßt sich darum heute in erster Lesung mit einem Gesetzentwurf, dessen zentraler Punkt der Mißbrauchsabwehr — ich betone: Mißbrauchsabwehr — dient. Dieser Entwurf enthält in seinem Kernpunkt die Überleitung einer bestehenden befristeten Regelung in Dauerrecht. Diese Regelung hat sich nach den vorliegenden Erfahrungsberichten der Innenverwaltung wie auch der Justiz als ein effektives Element der Verfahrensbeschleunigung bei eindeutig aussichtslosen Asylverfahren hervorragend bewährt. Der auf den Ergebnissen der BundLänder-Arbeitsgruppe aufbauende Gesetzentwurf der Bundesregierung muß sich insgesamt im Rahmen des geltenden Verfassungsrechts auf drei Punkte beschränken.
Zweitens. Die Bundesregierung wendet sich bei dieser Initiative — und das sollte hier erneut gesagt werden — nicht gegen die Aufnahme wirklich politisch Verfolgter. Die tatsächlich politisch Verfolgten bereiten uns auch nicht das Problem. Von den Asylbegehren führen aber derzeit nur etwa 10 % zum Erfolg. Die Asylregelung ist leider zum Einfallstor für eine verkappte Einwanderung geworden. Diese Situation ist es, die uns Sorgen machen muß. Ich will hier deutlich sagen: Damit wir den tatsächlich politisch Verfolgten im Sinne des Grundgesetzes helfen können — was wir, denke ich, alle wollen — , können wir diejenigen nicht aufnehmen, die überhaupt keinen Asylgrund haben, sondern aus anderen Gründen zu uns kommen wollen.
Drittens. Nun kommt auch immer wieder die Forderung, die Asylverfahren zu beschleunigen und zu verkürzen. Ich darf auf das, was in Ausschußberatungen früher und auch hier im Plenum schon gesagt worden ist, verweisen, auf die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens, die nach unserem Verfassungsrecht unbedingt eingehalten werden muß.
Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es darum, im Rahmen der rechtsstaatlichen Möglichkeiten ein wesentliches Beschleunigungselement, dessen Verfassungsmäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit vom Bundesverfassungsgericht festgestellt ist, als Dauerrecht zu erhalten.
Zur Verfahrensbeschleunigung kann ferner dadurch beigetragen werden, daß Bund und Länder Personal beim Bundesamt und bei den Gerichten entscheidend aufstocken. Der Bund hat bereits das Personal des Bundesamtes seit 1985 mehr als verdoppelt. Nicht nur der Bund, sondern auch die Länder haben Personalaufstockungen vorgenommen. So arbeiten z. B. derzeit allein in Bayern 57 Richter in Asylsachen. Die Asylprobleme sind aber auch mit Personalaufstokkungen eben nicht zu lösen. Das zeigt der erneute Anstieg des Asylbewerberzustroms in den letzten Wochen und Monaten. Ich betone noch einmal: Es ist unsere Pflicht auf Grund des Willens unserer Verfassung, denen zu helfen, die tatsächlich verfolgt sind. Wir können aber nicht alle diejenigen aufnehmen, die diese Gründe gar nicht haben. Darum auch dieser Gesetzentwurf, der einen wichtigen Teil der Probleme lösen kann und lösen soll. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bund-Länder-Kommission und die im Bundeskanzleramt gebildete Kommission unter der Leitung von Herrn Schäuble kreißten, und ein Mäuslein wurde geboren. Ich glaube, das zeigt am deutlichsten, daß dieser Gesetzentwurf, der drei Minipunkte beinhaltet, die eigentlichen Probleme, die mit dem Asyl verbunden sind, überhaupt nicht beleuchtet. Es ist davon auszugehen, daß sich die Situation bei Verwirklichung dieser drei Punkte kaum verändert. In der Frage der Verlängerung, hinsichtlich der jetzt gültigen Fassung des § 11 wird sich nichts ändern im Vergleich zu dem Zustand, den wir jetzt haben. Die beiden anderen Punkte, von denen der eine von uns auf jeden Fall abgelehnt wird, werden das Verfahren insgesamt auch in keiner Weise entlasten, was eigentlich der Ansatz dieses Gesetzentwurfes ist.Ich glaube, deswegen ist es viel wichtiger, auf das hinzuweisen, was nicht in diesem Gesetzentwurf steht. Wenn Herr Waffenschmidt eben gesagt hat, daß der Anstieg der Zahl der Asylbewerber in diesem Jahr wieder etwas größer sei und daß davon nur 10 % aner-
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5702 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Wartenberg
kannt würden, so ist es viel wichtiger festzustellen, daß von den 90 %, die nicht anerkannt werden, die überwiegende Zahl hierbleibt. Die Menschen können nämlich auf Grund der Genfer Konvention und auf Grund allgemeiner Menschenrechtsüberlegungen gar nicht abgeschoben werden. Das heißt, wir müssen uns im Augenblick eigentlich nicht so sehr um die Asylbewerber und das Verfahren kümmern — das ist nicht der Punkt — , sondern um die Lage der 270 000 bis 300 000 De-facto-Flüchtlinge, die in der Bundesrepublik Deutschland leben.Ich meine, hierzu müssen die Bundesregierung und auch die Länder endlich etwas aussagen, weil diese Menschen keinen rechtlich gesicherten Status in der Bundesrepublik Deutschland haben. Dieser Anteil wird eben immer größer, wenn die Anerkennungsquote immer kleiner wird — auf unter 10 % —; denn die Menschen bleiben trotzdem in der Bundesrepublik Deutschland, weil wir ihnen gegenüber eine Verpflichtung haben. Das ist bei den Ostblockflüchtlingen ganz besonders deutlich geworden.Diesen De-facto-Flüchtlingen, denen gemeinsam ist, daß sie weder Asylberechtigte noch Kontingentflüchtlinge sind, muß in erster Linie geholfen werden. Im Augenblick ist das Verhalten gegenüber den Defacto-Flüchtlingen nicht einheitlich. Meistens sind sie nicht aufenthaltsberechtigt. Es wird ihnen nur ermöglicht, sich im Bundesgebiet aufzuhalten, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Es handelt sich also um eine Duldung. Der nur geduldete De-facto-Flüchtling hält sich im Sinne der Genfer Konvention nicht rechtmäßig im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auf.Die ihm erteilte Duldung setzt ein fehlendes Aufenthaltsrecht geradezu voraus und läßt seine Pflicht zur unverzüglichen Ausreise unberührt. Die Duldung bedeutet lediglich das zeitweise Aussetzen seiner zwangsweisen Abschiebung. Zu einem im Sinne des genannten Übereinkommens rechtmäßigen Aufenthalt führt erst die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Da diese Menschen aber sehr, sehr lange in der Bundesrepublik sind, vielleicht sogar ihr ganzes Leben — wir haben ja schon Fälle, die zeigen, daß Leute 20, 25 Jahre hier sind — , heißt das, daß sie auf Dauer ohne einen rechtlichen Status hier bleiben. Das geht nicht.Solange die Flüchtlinge nur geduldet werden, sind sie, was den Aufenthaltsstatus anbelangt, völlig rechtlos. Einen Flüchtling unter Umständen nur jahrelang geduldet in der Bundesrepublik zu lassen verletzt seine Menschenwürde.
Das heißt, die Probleme dieser De-facto-Flüchtlinge sind nicht gelöst. Auch mit dieser Novelle werden diese Probleme nicht in Angriff genommen. Das zeigen im übrigen auch alle Diskussionen, die in den Kommissionen auf Bundesebene geführt werden. Ich halte das aber für das Vordringlichste im Augenblick.
— Herrn Zimmermann haben wir in diesem Parlament, glaube ich, schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Er schickt seine Staatssekretäre. Das ist ehrenwert. Herrn Zimmermann gibt es halt nicht mehr.Im Gegenteil: Durch das Fehlen der sozialen und wirtschaftlichen Integration tritt eine Situation ein, in der die Bundesrepublik langfristig mit beachtlichen sozialen und gesellschaftlichen Spannungen konfrontiert werden könnte. Das heißt, der rechtlose Zustand dieser Flüchtlinge wird auch unsere eigene Situation in der Bundesrepublik Deutschland nicht gerade erleichtern.Deswegen meinen wir, daß in diesem Zusammenhang über eine Maßnahme diskutiert werden sollte, die wir demnächst auch im Parlament vorschlagen werden: Ausländer, die nicht zwangsweise aus dem Geltungsbereich des Ausländergesetzes entfernt werden, sollten zumindest eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten. Nach fünfjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis jedenfalls dann zu erteilen, wenn der Ausländer nach § 14 des Ausländergesetzes, nach dem Grundgesetz und der Menschenrechtskonvention nicht abgeschoben werden darf.Wenn einem Asylantrag nicht stattgegeben werden kann, sollte bereits das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge prüfen, ob Abschiebungshindernisse vorliegen, und solche Abschiebungshindernisse der Ausländerbehörde intern mitteilen. Das ist deswegen wichtig, weil die Ausländerbehörde dann an diese Mitteilung gebunden ist und es für diese Menschen sofort einen Rechtsstatus gibt. Dieser Rechtsstatus wird dazu führen, daß diese Menschen aus dem Asylverfahren herausfallen. Damit kann das Asylverfahren endlich verkürzt werden. Das heißt, nicht durch Verfahrensverkürzungen wird das Asylverfahren endlich auf eine humanitäre und menschliche und auch für uns notwendige kurze Zeitspanne verkürzt, sondern dadurch, daß ich große Gruppen von Menschen von vornherein herausnehme, weil ich weiß: Sie können zwar nicht anerkannt werden, aber sie müssen auf Grund von anderen Bestimmungen und auch von Verträgen in der Bundesrepublik Deutschland bleiben. Dies wäre die wirksamste Maßnahme, um endlich die Asylverfahren insgesamt auf eine wieder handhabbare Größenordnung zurückzuführen. Ich hoffe, daß sich etwas in diese Richtung bewegen wird.Allerdings bin ich sehr skeptisch, wenn ich allein die Vorschläge betrachte — es sind ja angeblich keine offiziellen Vorschläge — , die das neue Ausländerrecht beinhaltet, etwa die Frage des Ausländeraufenthaltsrechts, das ja ein reines Rotationsrecht ist, was sich übrigens auch auf die Asylbewerber negativ auswirken wird. Insofern ist das, was von seiten von Herrn Zimmermann dort vorgebracht worden ist, ausgesprochen kontraproduktiv.Es wird sich allerdings noch erweisen, wie weit man insgesamt im Parlament zu diesen Dingen Stellung nimmt. Hier bin ich vielleicht etwas optimistischer. Allerdings glaube ich, daß dieses Gesetz sehr wahrscheinlich dieses Parlament nie erreichen wird, wie die meisten Gesetze, die im Augenblick im Hause Zimmermann erarbeitet werden, niemals dieses Haus
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5703
Wartenberg
erreichen. Auch das sagt sehr viel über dieses Ministerium aus.
Meine Damen und Herren, weiterhin erscheint es uns dringend notwendig, daß die europäischen Staaten in einem koordinierten Prozeß ihre gemeinsame Verantwortung gegenüber den Flüchtlingen in Europa wahrnehmen. Es darf nicht dazu kommen, daß die Staaten mit zum Teil restriktiven Maßnahmen die Probleme lediglich dem europäischen Nachbarn zuweisen. Deswegen sollte erwogen werden, ein europäisches Flüchtlingsamt zu errichten, das nicht nur die nationalen Flüchtlingspolitiken aufeinander abstimmt, sondern Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen festlegt und eine einheitliche Politik der Europäischen Gemeinschaft gegenüber den Heimatländern der Flüchtlinge entwickelt. Dies ist unter dem Aspekt des Schengener Vertrags dringend notwendig. Das heißt, wir werden überhaupt nicht aus der Situation herauskommen, wenn wir dazu keine Überlegungen anstellen.Allerdings muß für uns in solchen Vertragsverhandlungen Art. 16 des Grundgesetzes Maßstab bleiben. Darüber kommt man nicht hinweg.
Lassen Sie mich zu der sozialen Lage der De-factoFlüchtlinge noch etwas sagen. Grundsätzlich ist es so, daß es bei den Asylbewerbern und auch bei den anerkannten Asylbewerbern die Problematik gibt, daß diese nicht arbeiten dürfen. Dies ist eine fatale Situation, weil dadurch bei einem Teil der Bevölkerung das Vorurteil genährt wird: Die Leute tun ja nichts und leben nur auf unsere Kosten. — In Wirklichkeit dürfen sie aber nicht arbeiten und das über Jahre hinweg. Das heißt, sie sind dazu verdammt herumzugammeln. Dann werden sie wieder von dem Vorurteil, das gegen sie angebracht wird, erschlagen.Nicht nur für anerkannte Asylbewerber und für diejenigen, die noch im Verfahren stehen, sondern gerade auch für De-facto-Flüchtlinge muß generell gelten, daß nach sechs Monaten eine Arbeitserlaubnis erteilt wird.
Ansonsten werden wir die Probleme nicht lösen.
Unter dem Aspekt dieser sozialen und humanitären Probleme, die tatsächlich im Augenblick in der Bundesrepublik vorhanden sind und die dringend gelöst werden müssen, muß diese Mininovelle diskutiert werden. Denn diese Mininovelle ist es eigentlich nicht wert, als ein Beitrag zur Lösung der Probleme des Asylrechts und der Menschen, die als Asylanten in die Bundesrepublik Deutschland kommen, angesehen zu werden. Dies ist wirklich viel zuwenig und kann deswegen auch unsere Zustimmung, wenn wir es zur Beratung in die Ausschüsse geben, nicht erfahren.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf zunächst einmal dem Herrn Kollegen Penner sagen, daß der Bundesinnenminister für die heutige Sitzung entschuldigt ist.
Minister Zimmermann hat heute in Berlin den Deutschen Filmpreis zu verleihen.
Ich denke, daß wir dafür Verständnis haben sollten.
Nun zum Asylrecht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, darin waren wir uns im Parlament stets einig: Wirklich politisch Verfolgte sollen und müssen in der Bundesrepublik Deutschland Asyl erhalten. Wir haben nicht vergessen, daß in der Nazizeit viele Tausende von Deutschen in anderen Ländern Schutz vor Verfolgung gefunden haben. Unstrittig ist aber auch dies — der Kollege Waffenschmidt hat darauf hingewiesen — : Der weit überwiegende Teil der Asylbewerber in der Bundesrepublik kommt nicht aus Gründen politischer Verfolgung zu uns. Unsere Gerichte haben 1987 festgestellt, daß 90 % der Asylbewerber keine politisch Verfolgten sind. Mir ist völlig klar, welche menschliche Not und Tragik sich oft hinter ihrem Schicksal verbirgt. Gleichwohl müssen wir diesem Mißbrauch des Asylrechts entgegentreten. Wir können nicht für alle Notleidenden dieser Welt unsere Grenzen öffnen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird, ja gern!
Ja.
Herr Kollege Olderog, zu Ihrer Bemerkung, daß die meisten Flüchtlinge, die zur Zeit in die Bundesrepublik einreisen, nicht aus politischen Gründen kommen: Sind Sie bereit, dabei in Rechnung zu stellen, daß die meisten aus den Ostblockländern, z. B. aus Polen, kommen? Kommen Ihrer Meinung nach diese Menschen aus politischen Gründen oder nicht?
Ja, viele! Sie werden, wie Sie wissen, Herr Hirsch, jetzt in das Asylverfahren geleitet. Dort wird sich genau herausstellen, wie viele aus politischen oder aus anderen, weniger zu respektierenden Gründen zu uns kommen.
5704 Deutscher Bundestag — I i. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Dr. Olderog
Meine Damen und Herren, 1981 hat das SPD/FDP-
Kabinett unter Bundeskanzler Helmut Schmidt folgendes beschlossen — ich zitiere — :
Es besteht Einigkeit, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden wird.
Das Kabinett ist sich einig, daß für alle Ausländer außerhalb der EG ein weiterer Zuzug unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindert werden soll. Nur durch eine konsequente und wirksame Politik zur Begrenzung läßt sich die unverzichtbare Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Ausländerintegration sichern. Dies ist zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens unerläßlich.
Meine Damen und Herren, diesem Ziel dient auch dieser Gesetzentwurf.
In der Öffentlichkeit wird behauptet, unser Asylrecht sei oft unmenschlich. In den Augen der Flüchtlinge aus allen Ländern dieser Welt ist aber die Bundesrepublik kein ausländerfeindliches Land, sondern das vor allen anderen europäischen Ländern bevorzugte Zielland. Von 1975 bis 1984 haben wir sogar mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle anderen westeuropäischen Länder zusammen, nämlich 370 836. Weil das eine wichtige Aussage ist, werde ich sie noch oft wiederholen, wenn das nötig ist.
Auch in den folgenden Jahren standen wir an der Spitze. Bund, Länder und Gemeinden haben für die Betreuung der Flüchtlinge im vergangenen Jahr allein 3 Milliarden DM aufgewendet.
Die Bundesrepublik verdient deshalb keine Kritik, Herr Hirsch, sondern Anerkennung.
Meine Damen und Herren, wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, daß es für ein kleines und dichtbesiedeltes Land wie die Bundesrepublik Deutschland Grenzen dessen gibt, was ein Volk bei der Aufnahme von Ausländern verkraften kann. Die Zahl der Ausländer wird ja weiter steigen, weil — wie wir gehört haben — selbst unberechtigte Asylbewerber in der großen Mehrheit bei uns bleiben. Es gibt Grenzen dessen, was unseren Bürgern auf Dauer zuzumuten ist und was wir an sozialer Integration leisten können.
Wir als Politiker müssen an unsere Bürger appellieren — ich bekenne mich dazu —, sich humanitären Verpflichtungen und Lasten zu stellen. Aber wir müssen uns fragen: Kann auf Dauer in einer so sensiblen Frage eine politische Führung in einer Demokratie in krassem Widerspruch zu ihren Bürgern stehen? 70 der Bevölkerung sind doch inzwischen der Meinung, daß unser Asylrecht zu großzügig gehandhabt werde.
Provoziert nicht jemand, der unsere Bürger auf Dauer
überfordert, geradezu Ausländerfeindlichkeit, und
macht er nicht die soziale Integration der hier lebenden Ausländer weitgehend unmöglich?
Manche meinen, die allmähliche Umwandlung der Bundesrepublik von einem homogenen Staat in ein Einwanderungsland sei eine Bereicherung und keine Belastung. Aber verkennen nicht viele Kritiker unserer Ausländerpolitik die menschlichen, die psychologischen und die politischen Wirklichkeiten dieser Welt? Natürlich bedeuten ethnische Minderheiten auch eine kulturelle Bereicherung. Aber alle Erfahrung zeigt auch: Ethnische, religiöse und kulturelle Geschlossenheit ermöglichen Grundkonsens und Solidarität eines Volkes. Ethnische Minderheiten, religiöse und kulturelle Gegensätze schaffen Spannungen, wirken allzuoft explosiv, sind doch gerade oft Ursache, Frau Olms, für die vielen Flüchtlingsströme, die wir beklagen.
Wieviel Leid haben die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten — selbst in unserer aufgeklärten Zeit — in Nordirland hervorgerufen? Wieviel Leid haben die Kämpfe der Basken in Nordspanien und die der Tamilen in Sri Lanka angerichtet? Wieviel Tote haben die Auseinandersetzungen zwischen Christen und Moslems im Libanon schon gekostet?
Ich bitte Sie, einmal darüber nachzudenken, ob das nicht auch ein Sachverhalt ist, den wir bei der Handhabung unseres Asylrechts zu bedenken haben. Ist das eine humane Lösung, Menschen oft Tausende von Kilometern von der Heimat entfernt in fremde Kulturen zu pflanzen,
Flüchtlingsströme durch die ganze Welt zu lenken?
Die Antwort der Industrieländer, der westlichen Welt auf wirtschaftliche Not und Armut muß heißen: Entwicklungshilfe, noch mehr Entwicklungshilfe und für uns vielleicht auch noch mehr als diese fast 9 Milliarden DM, die in diesem Lande zur Verfügung gestellt werden. Unsere Antwort auf politische Verfolgung muß heißen: mehr Engagement für Menschenrechte, in Äthiopien ebenso wie in Südafrika, im Iran ebenso wie in der Tschechoslowakei und in Rumänien.
Wir begrüßen sehr, daß sich die Vereinten Nationen so intensiv der Flüchtlinge annehmen, und wir bedanken uns dafür. Es wäre gut, wenn die UNO darüber hinaus ebenso intensiv für die Bürger- und Menschenrechte kämpfte, die so viele Länder brutal mit Füßen treten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Olms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung — das hat sich gerade durch den Beitrag von Herrn Olderog gezeigt —betreibt gezielt seit Jahren eine Politik der vollkom-
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Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5705
Frau Olmsmenen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl auf verschiedenen Ebenen.
Entgegen den demagogischen, nationalistischen und rassistischen Kampfbegriffen führender Unionspolitiker, die auch gerade wieder gefallen sind .. .
Frau Kollegin, das mit den rassistischen Vorwürfen würde ich aus Ihrem Manuskript doch wieder herausnehmen. Das ist nicht hinzunehmen, glaube ich.
... über den sogenannten „Mißbrauch des Asylrechts" durch Flüchtlinge, steht fest, daß durch das Asylverfahrensgesetz, insbesondere seit der letzten Verschärfung vom Jahre 1987, sowie durch die entsprechenden Gerichtsentscheidungen — z. B. über die Asylrelevanz von Nachfluchtgründen — immer mehr Flüchtlinge ganz einfach aus dem Asylrecht hinausdefiniert werden. Die gesamten Verschärfungsmaßnahmen haben nur ein Ziel, nämlich die BRD generell vor außereuropäischen Flüchtlingen abzuschotten.
Der vorliegende Gesetzentwurf bezweckt nichts anderes, als die Flüchtlingsabwehrpolitik weiter zu perfektionieren. Die Bund-Länder-Kommission legte Ende letzten Jahres einen ganzen Maßnahmenkatalog vor, um die reibungslose Zurückschiebung von Flüchtlingen in ihre Heimatländer voranzutreiben. Herausgepickt wurden die uns vorliegenden drei Regelungen, da sie „schnell und schmerzlos" durchzusetzen sind.
Sieht man sich die Änderungen an, so stellt man fest, daß zunächst mit dem Ausschluß der Beschwerde gegen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts bei Prozeßkostenhilfe für Asylbewerber ein Sonderrecht geschaffen werden soll, und zwar ein Sonderrecht für die Ärmsten der Armen.
Die angeführten prozeßökonomischen Gründe sind einfach zynisch. Wer Verwaltungsverfahren beschleunigen will, soll Personalaufstockungen fordern. Es ist eine Binsenweisheit, daß ein Asylverfahren vor dem Verwaltungsgericht nicht ohne anwaltliche Vertretung durchzustehen ist. Es ist also ein weiterer Schritt, Flüchtlingen das Grundrecht auf Asyl auf dem kalten Verfahrensweg abzuschneiden, nach der Formel: Wer kein Geld hat, hat schon lange kein Recht.
Des weiteren soll das beschleunigte Asylverfahren bei offensichtlich unbegründeten Asylanträgen zur Dauerregelung werden. Es bietet ja nach politischem Kalkül die Handhabe, z. B. Iranern, die dem Kriegsdienst im Golfkrieg entfliehen, Flüchtlingen aus dem Libanon oder aus Sri Lanka jederzeit Asyl zu verwehren, wenn es — ich zitiere jetzt aus dem Vorschlag — „nach den Umständen des Einzelfalls offensichtlich ist, daß sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation oder einer kriegerischen Auseinandersetzung zu entgehen, im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhält". Des weiteren ist die Regelung rechtlich bedenklich, da es Flüchtlingen, die oft in Sammellagern und ohnehin isoliert leben, praktisch unmöglich ist, einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung innerhalb der Einwochenfrist zu beantragen.
Bundesdeutsche Realität ist bereits heute, daß demjenigen, der sich eine Garage bauen will und dem dies verweigert wird, in der Regel ein fünfzügiger Rechtsweg zur Verfügung steht, einem Flüchtling aber, der in einem Asylverfahren Menschenrechte, konkret das Recht auf Leben, geltend machen will, der Rechtsweg praktisch zu einem Nichts zusammengestutzt wird.
Der vorliegende Entwurf gipfelt in eine Aufnahme einer Ermächtigung für die Bundesländer, sogenannte aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei einer zentralen Behörde zu konzentrieren. Im Klartext heißt das: zentrale Abschiebestellen, die einen schnellen und reibungslosen Abtransport von Flüchtlingen in ihre Heimat- und Verfolgerländer gewährleisten sollen.
Die vorliegende Verschärfung des Asylverfahrensgesetzes, die hier durchgezogen werden soll, ist noch nichts gegen die anstehenden Verschärfungen, die Flüchtlinge und Immigranten mit dem für Herbst geplanten Ausländergesetz erwarten.
Mit ihrer Flüchtlings- und Immigrantenpolitik setzt die Bundesregierung ihre nationalistische Tradition fort, die Rechtsaußen Zimmermann selbst wie folgt charakterisiert: „Die Bewahrung des eigenen nationalen Charakters ist das legitime Ziel eines jeden Volkes und Staates."
Wir werden zusammen mit allen demokratischen Kräften eine Barrikade gegen diese nationalistische Flüchtlings- und Immigrantenpolitik aufbauen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir leben in einem Jahrhundert der Flüchtlinge. Man kann, Frau Olms, nicht einfach abstreiten, daß wir auch Probleme im Bereich des Asylrechts haben. Nur, Herr Staatssekretär Waffenschmidt, wir haben bei sorgsamem Lesen dieses Gesetzentwurfs nicht feststellen können, welche tatsächlichen Probleme, die wir haben, mit diesem Gesetzentwurf gelöst werden sollen.
Da hat die Bund-Länder-Kommission 25 Vorschläge gehabt. Sie hat sie geprüft und die meisten verworfen. Drei sind übrig geblieben. Die sind nach dem Kartoffeln-Syndrom behandelt worden: Die Kartoffeln sind auf dem Tisch; also müssen sie gegessen werden. Keiner fragt, ob sie etwas bewirken.Ich sage bei dieser Gelegenheit mit aller Deutlichkeit: Wir sind es im Grunde genommen leid, daß wir jedes halbe Jahr eine Novelle zu diesem Bereich auf den Tisch bekommen. Wir möchten, daß die anste-
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Dr. Hirschhenden Probleme im Zusammenhang besprochen und gelöst werden und daß dann Rechtsfrieden eintritt: für die Gerichte, für die Betroffenen, für die Verwaltung und auch in diesem Haus.
Ich kann in der Kürze der Zeit, die wir haben, nur ein paar Grundsätze skizzieren: Wir werden das Grundrecht auf Asyl nicht einschränken.
Wir betrachten es als eine wichtige Errungenschaft unserer Verfassung, die zwar Lasten mit sich bringt, aber uns gleichzeitig mit Stolz erfüllen kann, daß wir die Kraft haben, als ein Rechtsstaat verfolgten Menschen Zuflucht zu gewähren.Wir müssen, Herr Kollege Olderog, bei jeder Änderung des Asylrechts daran denken, daß für viele Deutsche dieser humanitäre Inhalt unserer Verfassung ein wesentlicher Anziehungspunkt unseres Staates ist, den wir verringern, je mehr wir von diesen humanitären Grundlagen Abstriche machen. Wir entfremden damit Menschen von unserem Staat. Wir sollten damit sehr vorsichtig umgehen.Wir sollten diese Gelegenheit nutzen, den Menschen und den Organisationen zu danken, die sich in der Wirklichkeit darum bemühen, den Menschen, die zu uns kommen, zu helfen und dafür zu sorgen, daß sie Aufnahme finden.
— Wunderbar.Zweitens. Das europäische Asylrecht muß harmonisiert werden.
Wir wiederholen, daß die mit überwältigender Mehrheit angenommene Entschließung des Europaparlaments dafür eine wichtige Grundlage ist. Denn wenn wir zu einer Novellierung des Asylverfahrensrechts kommen, müssen wir wissen, welche Konsequenzen im Rahmen des Schengener Abkommens gezogen werden sollen und welche Folgerungen der Bundesinnenminister aus diesen Verhandlungen in dieser Legislaturperiode ziehen will.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Olms?
Ja.
Bitte schön, Frau Abgeordnete.
Herr Hirsch, sind Sie mit mir der Meinung, daß es notwendig ist, daß die Prozesse, die im Rahmen der Harmonisierung des Asylrechts ablaufen, also Schengen, TRIVI und andere Konferenzen, hier endlich einmal auf den Tisch des Hauses gelegt werden, damit wir sehen können, wie weit die
Vereinbarungen schon abgeschlossen sind und wie weit diese Diskussionen gehen?
Frau Olms, das brauchen wir gar nicht anklägerisch zu behandeln. Sie wissen doch, daß wir vom 5. bis zum 8. Juli — ich weiß nicht, ob Sie daran teilnehmen — alle Vertragsstaaten des Schengener Abkommens besuchen, daß wir mit den Vertretern der anderen Länder sprechen und daß wir natürlich im Innenausschuß unterrichtet werden.
— Das ist Ihre zweite Zwischenfrage. Ich sage: Ja, wir werden unterrichtet. Wir sind der Überzeugung, daß wir bei der Behandlung dieses Gesetzes die Konsequenzen aus dem Schengener Abkommen mit einbeziehen müssen.
Dritter Punkt. Wir sind der Überzeugung, daß das Verwaltungsverfahren, wie es praktiziert wird, nicht in Ordnung ist. Ich kann hier jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen.
Herr Kollege Olderog, zu Ihren Zahlen: In der Bundesrepublik leben ganze 76 000 Asylberechtigte, und wenn man die Familienangehörigen hinzurechnet, dann sind es vielleicht 200 000 Menschen, die wir als politische Flüchtlinge aufgenommen haben, und man wird für ein 60-Millionen-Volk nicht sagen können, daß es sich damit übernimmt. Der Punkt ist aber auch, daß wir nur 5 % der abgelehnten Asylbewerber tatsächlich abschieben und daß etwa 35 % auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben, weil die Behörden sagen, daß ihre Abschiebung aus humanitären Gründen nicht vertreten werden kann, obwohl sie nicht als politische Flüchtlinge anerkannt werden. Wir müssen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens klären, was mit der Einrichtung einer zentralen Abschiebestelle an diesem Zustand in der Verwaltungswirklichkeit verändert werden soll. Das eigentliche Problem liegt in der Tat in der wachsenden Zahl der De-facto-Flüchtlinge, in ihrer rechtlich ungeklärten Situation. Diese klären wir nicht dadurch, daß wir uns einer Sprache bedienen, die anklägerisch ist: „Wirtschaftsflüchtlinge", „Asylantenschwemme", „schrankenlose Öffnung unserer Grenzen", wenn wir uns darum bemühen, wider besseres Wissen aus Emotionen politisches Kapital zu schlagen.
Wir haben verabredet, daß es zu diesem Gesetzentwurf eine Anhörung geben wird, und wir sind sicher, daß sich diese Anhörung auch auf die Fragen erstreckt, die wir hier dargestellt haben.
In diesem Sinne stimmen wir der Überweisung an die Ausschüsse zu.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung an die in der Tagesordnung aufge-
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Vizepräsident Westphalführten Ausschüsse zu überweisen. Zusätzlich beantragen die Fraktionen die Überweisung auch an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nunmehr Punkt 23 der Tagesordnung, den letzten Punkt unserer heutigen Tagesordnung, auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 22. März 1985 zum Schutz der Ozonschicht— Drucksache 11/2271 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GONach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. Ich bitte Sie, mit mir den Blick zur Uhr zu wenden und dann daraus Schlüsse zu ziehen, denn niemand ist verpflichtet, die volle Redezeit auszunutzen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. — Geht es um eine Einbringung? — Habe ich es richtig verstanden, daß Herr Grüner jetzt beginnen will? Besteht darüber Einverständnis?
— Ich richte mich gerne danach, daß wir erst eine Fraktionsrunde durchführen und daß dann ein Vertreter des Ministeriums spricht.Herr Schmidbauer, Sie haben das Wort, bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der heute von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf zum Schutz der Ozonschicht ist umweltpolitisch von ganz besonderer Bedeutung. Die Fraktionen sind heute übereingekommen, eine verkürzte Debatte zu führen. Ich will aber ausdrücklich sagen — ich befinde mich dabei in Übereinstimmung mit allen Fraktionen — , daß wir dies bei der zweiten und dritten Lesung der Gesetzesvorlage nachholen, daß wir dann ausreichend Gelegenheit zur Diskussion haben werden. Gleiches gilt natürlich auch für den noch einzubringenden Entwurf betreffend das Montrealer Protokoll.
Worum geht es? Ein unsichtbarer Ozonschutzschild in der Stratosphäre, der die schädlichen UV-B-
Strahlungen der Sonne absorbiert, wird über den Polbereichen immer stärker reduziert. Neueste Meßergebnisse des Ozone-Trends-Panel, der das weltweite Fachwissen der auf diesem Gebiet arbeitenden Forscher repräsentiert, ergeben folgendes Bild: Die Gesamtozonschicht hat von 1969 bis 1986 zwischen dem 30. und dem 64. nördlichen Breitengrad im Jahresdurchschnitt um 1,7 bis 3 % abgenommen, während der Wintermonate sogar um 2,3 bis 6,2 %. Eine alarmierende Tatsache, wie ich finde.
Diese Ozonabnahme über der nördlichen Hemisphäre beruht etwa zur Hälfte auf der Wirkung der Fluorchlorkohlenwasserstoffe. Unerwartet stark hat sich im letzten Jahrzehnt die Ozonschicht der Antarktis verändert. Während des antarktischen Frühlings verringerte sich ihre Dicke um über 50 % in Höhen von 20 km bis 50 km, teilweise bis 95 %, so daß wir inzwischen vom Ozonloch über der Antarktis sprechen.
Diese Erkenntnisse wurden auch in mehreren Anhörungen und Beratungen der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" bestätigt. Ich darf in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, daß in dieser Enquete-Kommission über alle Fraktionen hinweg eine, wie ich finde, sehr harmonische und effektive Arbeit betrieben wird. Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Kollegen dafür recht herzlich bedanken.
In engem Zusammenhang mit dem Abbau des stratosphärischen Ozons ist die Zunahme der Spurengase in der Troposphäre, also in der unteren Atmosphäre in etwa 10 km bis 15 km Höhe, zu sehen. Eine Reihe von Spurengasen, Treibhausgase genannt, verursachen den sogenannten Treibhauseffekt, d. h. die Erwärmung der Erdoberfläche und der Meere mit weitreichenden Klimaänderungen. Die Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die primär für die Zerstörung des stratosphärischen Ozons verantwortlich sind, also für den Abbau der Ozonschicht, tragen zu etwa 20 % ebenfalls zum Treibhauseffekt bei.
Auf Grund dieser Erkenntnis muß — auch dies, denke ich, ist übereinstimmend hier zu erklären — die weltweite Produktion von über 1 Million Tonnen dieser FCKWs trotz vorzüglicher chemischer Eigenschaften — nicht brennbar, milde reinigende Wirkung, sie reagieren nicht chemisch, am Arbeitsplatz leicht handzuhaben — drastisch reduziert werden. Der Anteil der Bundesrepublik Deutschland bei der weltweiten Produktion kann etwa mit 10 % angegeben werden. Aufgeschlüsselt bedeutet das für das Jahr 1986: Einsatz im Aerosolbereich 26 000 t, 24 000 t zur Kunststoffverschäumung, 4 000 t für Kühl- und Kältemittel und etwa 25 000 t — das können auch ein paar tausend Tonnen mehr sein — als Lösungs- und Reinigungsmittel in vielen Branchen, besonders der Elektronik.
Was ist zu tun? Ich denke, obwohl nicht alle wissenschaftlichen Erkenntnisse heute im einzelnen vorliegen, müssen wir handeln. Jeder, wir selbst und alle anderen, vorwiegend die betroffenen Staaten müssen erkennen, daß wir uns ein weiteres jahrelanges Gerangel und ein zähes Ringen um Detailfragen nicht leisten können. Darüber, so denke ich, müssen wir uns alle im klaren sein. Im Umweltschutz sind wir alle Nachbarn. Ist einer betroffen, sind wir alle betroffen. Hier endlich müssen wir unser Denken und Handeln über nationale Grenzpflöcke erheben. Das gilt in ganz besonderem Maße für den Schutz der Erdatmosphäre. Bei kaum einer anderen ökologischen Gefahr wird die Bedrohung unseres Planeten in seiner Gesamtheit derart deutlich.
Einen ersten, richtungweisenden Schritt für eine international vorsorgende Umweltpolitik stellt das Wiener Übereinkommen vom März 1985 dar. Es for-
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Schmidbauer
dert alle Nationen dazu auf, neben verstärkter Forschung alle erforderlichen nationalen und internationalen Maßnahmen sowie geeignete Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen zum Schutz der Erdatmosphäre zu ergreifen. Eine Besonderheit des Wiener Übereinkommens — und das ist wichtig — ist die Vorgabe, zur Konkretisierung der angestrebten Maßnahmen sogenannte Protokolle einzuführen. Es ist erstaunlich, daß wir bereits heute ein solches Protokoll vorliegen haben. Das erste wurde im Herbst 1987 als Montrealer Protokoll vorgelegt. Es beinhaltet eine weltweite Umsetzungsstrategie zur Verminderung der FCKW-Produktion und damit natürlich auch der FCKW-Emissionen.
Inzwischen haben die wissenschaftlichen Untersuchungen der OTP sowie die Anhörungen der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" ergeben, daß die Vorschläge des Montrealer Protokolls bei weitem nicht ausreichen, um eine gefährliche Zerstörung des Ozonmantels zu verhindern. Hier ist eine möglichst umgehende weitergehende Reduzierung der FCKWs — mittelfristig um 50 % und mindestens um 85 % bis 95 % bis zum Jahr 2000 — zwingend notwendig.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dieses Protokoll sieht diese Möglichkeit vor. Es sieht vor, daß Maßnahmen und Protokolle aktuellen Ergebnissen angepaßt werden können. Das ist die Chance auch dieses Protokolls. In der Kritik dieses Protokolls sollte man nicht vorschnell sein, sondern sollte alle Kraft darauf verwenden, die Chance dieses Protokolls dynamisch fortzuentwickeln und zu nutzen. Ich will jetzt nicht auf die vielversprechenden nationalen Maßnahmen im einzelnen eingehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Bundesrepublik Deutschland haben wir freiwillige Vereinbarungen zur Reduzierung im Aerosol-Bereich, im Spraydosen-Bereich. Das ist vernünftig und gut so. Dies muß weitergehen. Dies muß so weit gehen, daß wir diese Stoffe nur noch dort einsetzen, wo es wie z. B. im medizinischen Bereich unabdingbare Notwendigkeiten gibt. Durch diese Maßnahmen werden wir bereits im nächsten Jahr eine Reduzierung um 90 bis 95 %, je nach Berechnungsbasis, realisiert haben. Das ist ein Fortschritt in der Bundesrepublik Deutschland.
Der zweite Anwendungsbereich, Klima und Kälte, muß ebenfalls durch solche Vorsorgemaßnahmen, durch freiwillige Absprachen, freiwillige Vereinbarungen, möglichst rasch angegangen werden. Dies ist in Berlin bei einer Anhörung angekündigt worden. Ich denke, daß wir in wenigen Wochen auch hier einen gewaltigen Schritt nach vorn tun können.
Im Lösungsmittel-Bereich, von dem wir wissen, daß es dort einen wachsenden Markt gibt, bestehen natürlich bestimmte Schwierigkeiten. Selbstverständlich wird die Industrie jetzt nicht mit wehenden Fahnen dieses Protokoll begrüßen. Hier müssen wir in Verhandlungen, in Gesprächen, in Übereinkommen mit allen europäischen Nachbarstaaten zäh versuchen, die Industrie in der Kooperation, in der Verantwortung zu halten. Das ist für mich ein ganz wichtiges Moment.
Die Mitglieder der Enquete-Kommission wissen, daß wir dabei sind. Ich werde am 5. Juli in Manchester mit dem europäischen Verband darüber Gespräche führen, damit es auch dort Fortschritte gibt. Wir haben erlebt, daß seit 1976/78 Absichtserklärungen bestehen, die nicht eingehalten wurden. Auch daran will ich erinnern, damit wir die Erwartungen nicht zu hoch setzen.
Ich finde, daß Minister Töpfer hier in sehr kurzer Zeit zu einer Umsetzung gekommen ist.
Meine Damen und Herren, in diesen Tagen werden wir in vielfältiger, oft erschreckender Weise mit den umweltpolitischen Versäumnissen der Vergangenheit konfrontiert. Wir hatten heute auch hier eine entsprechende Debatte. Lassen wir es deshalb nicht zu, daß sich eine in ihren Dimensionen und Auswirkungen vorstellbare Bedrohung zur Katastrophe ausweitet. Auf Unkenntnis können wir uns heute nicht mehr berufen. Wissenschaftliche Fakten liegen auf dem Tisch.
Mit den modernsten Mitteln, die uns die Technik zur Verfügung stellt, müssen wir beginnen, die Auswirkungen eines ehemals unbedacht eingesetzten technologischen Fortschritts aufzufangen, damit unsere Umwelt nicht irreversibel aus dem Gleichgewicht gerät. Das Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht kann hierbei als Modell einer internationalen, langfristig orientierten und vorsorgenden Umweltpolitik gelten.
Wir wünschen uns — auch das möchte ich sehr deutlich sagen — , daß es durch internationale Vereinbarungen zu einer Verringerung der den Treibhauseffekt verursachenden Spurengase sowie zur Lösung anderer grenzüberschreitender Umweltprobleme kommt. Ich begrüße es außerordentlich, daß der Herr Bundeskanzler erklärt hat, daß dies ein Tagesordnungspunkt im Rahmen des Weltwirtschaftsgipfels sein wird und auch bei seinen Verhandlungen in Moskau auf der Tagesordnung stehen wird. Es ist wichtig, daß wir andere Länder sensibilisieren, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland Beispiel geben, nicht zu warten, bis andere Länder mitziehen. Dann wird es auch gelingen, andere Länder, andere Mitbürger in Europa stärker für diese Fragen zu sensibilisieren.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind mit dem Thema, das umschrieben ist mit den Stichworten „Ozonloch" einerseits und „Treibhauseffekt" andererseits, mit der Gefahr wirklich neuartiger globaler Krisen für Mensch und Natur konfrontiert. Wir wissen, daß wir mit unserer heutigen politischen Praxis, also mit der Praxis punktueller Korrekturen im technisch-ökonomischen System und mit der Praxis der nachträglichen Sanierung eingetretener Schäden in einem krassen
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Müller
Mißverhältnis zu der Schadensentwicklung und den absehbaren Trends der Umweltzerstörung stehen.
Wir sehen immer deutlicher, daß unser aktuelles politisches Handeln bei dieser Langfristigkeit der Problematik irreversible Schäden am Ökosystem nicht verhindern kann.
Von daher müssen wir gerade bei diesen beiden Themen sehen, daß die Entwicklungstendenzen eine völlig andere zeitliche und räumliche Dimension haben, sowohl hinsichtlich der zeitlichen Verzögerungen zwischen Ursachen und Wirkungen, sowohl hinsichtlich langer Abbaufristen der freigesetzten Spurengase als auch im Hinblick auf unbekannte Kombinations- und Verstärkungsmechanismen im Zusammenhang mit anderen Belastungsfaktoren. Dies alles heißt, daß wir das Problem des Schutzes der Erdatmosphäre auf eine qualitativ ähnlich hohe Ebene stellen müssen wie die Bewahrung des Friedens im Atomzeitalter.
Viele Trenddarstellungen machen deutlich, daß wir unbedingt zu einem radikalen Umdenken hinsichtlich der Zukunft unseres industriellen Wachstums kommen müssen, daß wir zu einem radikalen ökologischen Umbau der Wirtschaftsstrukturen kommen müssen, daß wir aber auch zu Veränderungen in unserem individuellen Konsum und in unseren individuellen Verhaltensweisen kommen müssen.
Meine Damen und Herren, der Schutz der Erdatmosphäre erfordert von uns derart konsequente Maßnahmen, daß wir sie nicht allein unter parteipolitischen Gesichtspunkten sehen können. Wir, die SPD, sind zu Maßnahmen bereit, die diesen Namen auch verdienen, die über Parteigrenzen hinausgehen, auch im Konflikt mit Industrie und einzelnen Interessengruppen.
Es ist jetzt 20 Jahre her, da gab es in der Welt eine sehr wichtige Entscheidung. Es war nämlich die Entscheidung, den „Club Of Rome" zu gründen.
Dies ist heute ein verdrängtes Jubiläum.
Es paßt nicht mehr in die weitverbreitete, oft sehr fragwürdige optimistische Grundposition der Macher. Tatbestand ist aber, daß wir seit 20 Jahren sehr wichtige und sehr ernstzunehmende Tendenzen zu gewalten globalen Zivilisationsproblemen haben. 1972 wurde „Grenzen des Wachstums" veröffentlicht. In diesen „Grenzen des Wachstums" wurden zum ersten Mal auch die Tendenzen der weltweiten Klimaveränderung benannt. Seit dieser Zeit gibt es nur Berichte, die diesen Aspekt verstärken. Heute kann niemand mehr bestreiten, daß FCKWs einen katalytischen Abbau von Ozon in großen Höhen bewirken und daß es damit gewaltige Gefährdungen für die Menschheit und für die natürlichen Systeme gibt — übrigens nicht nur für die menschliche Gesundheit, wie oft diskutiert wird. Weitaus problematischer sind insbesondere die
Tendenzen zur Zerstörung der ozeanischen Systeme und zur Zerstörung der Ernährungsgrundlage. Hier schließt sich übrigens der Kreis zu der vorherigen Diskussion über die Asylproblematik. Die Verschärfung des Hungerproblems wird dies zweifellos auch zu einem verstärkten Problem in den Industrieländern machen. Wir müssen hier also auch aus eigenem Interesse sehr viel stärker handeln.
Deshalb : Wir sehen das Wiener Abkommen als eine Rechtsgrundlage, als ein Abkommen, das weiter konkretisiert werden muß. Das erste Abkommen dazu, nämlich das Montrealer Protokoll, sehen wir als Einstieg, sozusagen als eine Chance der Internationalisierung, aber dennoch als unzureichend an. Ich glaube, da sind wir uns in der Enquete-Kommission einig. Wir sind der Auffassung: In den weiteren Abkommen muß es zu ganz klaren öffentlichen Zahlen über Produktion und Verwendung kommen; Schlupflöcher müssen geschlossen werden; die notwendige Kontrolle ist zu gewährleisten, und, was wir für besonders wichtig halten, weitergehende nationale Maßnahmen müssen möglich sein und möglich bleiben.
Eine letzte Bemerkung: Die Bundesrepublik ist ein Land, das vom Faktor Innovation lebt. Unsere Wirtschaftsstrukturen sind auf Dauer nur durch den Faktor Innovation zu sichern. Aber gerade wenn es um Innovationen geht, verlangen wir auch, daß sich die Industrie nicht als Betonkopf erweist. Genau dies aber müssen wir allerdings bei mehreren Vorgängen feststellen.
Ich will am Ende meiner Rede ein einziges Beispiel anführen: 1982 wurde von der Stuttgarter Universität ein Verfahren entwickelt, das die Fluorkohlenwasserstoffe bei der Verschäumung zu 90 % zurückhält. Die Universität Stuttgart hat dieses Verfahren der Industrie überall in der Bundesrepublik angeboten. Es hat sich kein Interessent gefunden. In der Zwischenzeit wird dieses Verfahren in Dänemark angewandt.
Ich glaube nicht, daß das mit der wirklich selbstgefälligen Behauptung vieler Industrieller in Einklang zu bringen ist, wir seien der Vorreiter. Dies ist zweifellos oft nicht der Fall.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ein für die Umwelt wichtiges Abkommen ist Gegenstand der heutigen Aussprache. Das Interesse an diesem Thema hält sich aber offensichtlich in Grenzen, wenn man sich hier diesen leeren Saal anguckt.
Wie die meisten Umweltpolitiker begrüße ich das Wiener Abkommen zum Schutz der Ozonschicht. Dieses Lob gründet sich auf einen in der Umweltpolitik maßgeblichen Gesichtspunkt: Umweltprobleme sind
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Frau Dr. Segallzumeist internationale Probleme. Es ist keine Phrase, sondern eine immer wieder zu betonende Tatsache, daß Umweltverschmutzung vor Grenzen nicht haltmacht. Besonders eklatant wird dies bei klimatischen Problemen sichtbar.Eines dieser höchst komplexen internationalen Probleme wird in der allgemeinen Diskussion unter dem Schlagwort „Ozon" behandelt. Schon die bisherige Arbeit der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" hat gezeigt, welche komplizierten physikalischen, chemischen und meteorologischen Vorgänge sich dahinter verbergen, Vorgänge, die ich dem Bürger hier gern einmal dargestellt hätte; aber die Zeit ist leider so fortgeschritten, daß das nicht mehr möglich ist.Die EG-Länder hatten sich schon 1980 auf eine Reduktion der FCKWs bei Abfüllung von Sprühmitteln um mindestens 30 % gegenüber 1976 geeinigt. Das Wiener Abkommen ist für uns also eine Ergänzung dieses Schrittes. Die Vertragsstaaten verpflichten sich für das nächste Jahr nach Inkrafttreten des Abkommens zu einer Rückführung des Verbrauchs auf den Umfang von 1986. Ähnliches gilt für die Produktion. Ab 1. Juli 1993 soll zunächst eine Reduzierung auf 80 % des Verbrauchs von 1986, ab 1998 eine Reduzierung auf 50 % erreicht werden.Aber die Aussagen der Experten im Rahmen der Enquete-Kommission haben deutlich gemacht, daß das Wiener Abkommen nur ein erster Schritt in die richtige Richtung ist und möglichst schnell nachgebessert werden muß. Das Abkommen krankt vor allem daran, daß erstens die Ausgangsdaten über Produktion und Verbrauch zur Zeit nicht eindeutig festgelegt werden können — der Streit um diese Zahlen ist angesichts der Bedrohung unerträglich — , daß zweitens die jetzt angestrebten Reduzierungen nicht drastisch genug sind, sowohl was die Größenordnung der Reduktion als auch was die Zeitpunkte, zu denen sie erreicht werden soll, betrifft, und daß drittens die erlaubten Verbrauchszahlen für einen Zeitraum von zehn Jahren für die sogenannte Dritte Welt möglich sind; dies darf nie Wirklichkeit werden.Erwähnen möchte ich aber doch noch, daß es national durch die Selbstbeschränkungsverpflichtung der Aerosol-Industrie bis Ende 1989 zu einer 90%igen Verringerung der FCKW-Emission im Sprühmittelbereich kommen wird. Ob dies in gleicher Weise auch international geschieht, bleibt abzuwarten.Speziell bei der FCKW-Problematik darf man aber nicht verkennen, daß der überwiegende Anteil der FCKW-Emissionen aus dem Kältemittel- und Isoliermittelbereich stammt. Da ist noch einiges zu tun. Insbesondere die Kältemittelindustrie möchte ich bitten, sich an der freiwilligen Vereinbarung, zu der sich die Aerosol-Industrie bereit erklärt hat, ein Vorbild zu nehmen. Eine gesicherte Entsorgung in diesem Bereich ist unabdingbar, solange keine Ersatzstoffe vorhanden sind. Bei den Lösemitteln ist die Sicherheit der geschlossenen Systeme zu überprüfen, um ein Entweichen von FCKW zu verhindern.Trotz dieser Bedenken ist das Abkommen ein Schritt in die richtige Richtung, mehr aber nicht. Daß noch mehr getan werden muß, ergibt sich aus derErkenntnis, daß die FCKWs von der Wissenschaft mit dem anderen Problem, mit dem sich unser „Raumschiff Erde" konfrontiert sieht, in Verbindung gebracht werden, mit dem Treibhauseffekt. Die FCKWs zerstören nicht nur die Ozonschicht, sondern sind als Spurengas auch an der Reflexion der infraroten Wärmestrahlen, die von der Erde kommen, beteiligt. Wenn diese Wärmestrahlen nicht ins Weltall gelangen können, sondern reflektiert werden, gerät das Strahlengleichgewicht zwischen Sonneneinstrahlung und Wärmeabstrahlung der Erde, das die Voraussetzung für unsere Temperatur und damit für unser Leben ist, in Gefahr. Ein Planet mit gesättigtem Spurengasgürtel hat Backofentemperatur wie z. B. die Venus, ein Planet mit weniger Spurengas als die Erde hat Dauerfrost wie z. B. der Mars. Da der Anteil der FCKWs in der Atmosphäre schnell ansteigt und da die Reflexionspotenz der FCKW-Moleküle höher als die der Kohlendioxidmoleküle ist, besteht dringender Handlungsbedarf, dies um so mehr, als es viel schwerer sein wird, die Kohlendioxidemissionen wesentlich zu reduzieren.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit zur späten Stunde.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Knabe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lage ist schon spannend. Das Bundeshaus beschäftigt sich in kleiner Besetzung mit einem der zentralen Probleme, die auf uns zukommen. Wenn man die Entfernung von Bonn nach Köln in die Höhe klappt, kommen wir mitten in die Stratosphäre hinein, also in die Schicht, wo Millionen von Sauerstoffmolekülen unter dem Aufprall der harten ultravioletten Strahlung der Sonne zu Atomen zerfallen und sich zu Ozon erneut zusammenschließen, zu dem Ozon, das uns, unsere Lebenssphäre schützt, das alle Lebewesen vor diesen harten Strahlen bewahrt. Dieses dynamische Gleichgewicht wird gestört, wie schon die Vorredner sagten, wird durch Gase unterbrochen, die wir künstlich in die Atmosphäre gebracht haben; ein Gleichgewicht, das Jahrmillionen bestanden hat. In der Antarktis hat man dieses Ozonlochnachgewiesen.Das heute zur Debatte stehende Wiener Übereinkommen aus dem Jahre 1985 und das dann in der Folge ausgearbeitete Montrealer Protokoll sollen die Emissionen der Fluorchlorkohlenwasserstoffe beschränken. Es geht nicht weit genug, aber die GRÜNEN haben nach reiflicher Überlegung natürlich gar keine andere Wahl, als dem zuzustimmen. Was da ist, ist ein Anfang. Wir müssen den ersten Schritt machen. Aber gleichzeitig weisen wir darauf hin, daß das Sofortprogramm, das wir einmal geschrieben haben, als die Enquete-Kommission zusammentreten sollte und ihre Arbeit begann, nach wie vor aktuell ist.
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Dr. KnabeWir müssen national einiges tun, und wir müssen international dafür sorgen, daß die anderen Staaten mitziehen. Das kann man z. B. auch durch Förderung der Umweltbewegung machen. Wenn wir unsere eigenen Naturschutzverbände und Umweltverbände besser ausstatten, so daß sie Tagungen veranstalten können, andere Leute einladen können und ein besserer Kontakt auf der Basisebene möglich wird, dann verändert sich auch in diesen Gesellschaften etwas. Es genügt nicht, nur von oben mit den Regierungen zu sprechen. Wir GRÜNEN sprechen mit den einfachen Leuten auf den Kongressen, auf den Tagungen und versuchen, dort das Problem zu zeigen. In Chile z. B. habe ich da ein sehr großes Echo gespürt, die anderen vielleicht in den Orten, wo sie hingekommen sind, beispielsweise in Skandinavien, wo wegen des nahen Nordpols und der Arktis die Befürchtungen besonders groß sind.Die Befürchtungen sind wirklich berechtigt. Die Biologen sagten uns bei den Anhörungen der Enquete-Kommission ganz klar, wir müßten sofort anfangen. Alle Wissenschaftler der Wirkungsseite sprachen sich für mindestens 85 % statt der 50 % aus, die Montreal vorsieht. Die Klimatologen sagten: Weniger Ozon bedeutet Abkühlung der Stratosphäre und damit Erwärmung der unteren Luftschichten, der Troposphäre, die also weiter zum Treibhauseffekt beiträgt. Hinzu kommt, was Frau Segall sagte, das Schließen des Infrarotfensters, das der Wasserdampf offenläßt. Wir leben nicht auf dem Mars, wo wir solche Treibgase vielleicht nötig haben, sondern auf der Erde, wo wir ein bestehendes Gleichgewicht erhalten wollen. Hier gibt es also etwas zu tun.Fragen wir jeden einzelnen, was er machen kann. Er kann natürlich bei der Flasche, die er kauft, nachsehen. Ist da sicher, daß ich keine Treibgase drin habe?
— Natürlich kann er auch gar kein Spray nehmen. Er kann eine Pumpe nehmen oder sich mit dem alten Stift begnügen. — Er muß seinen eigenen Verbrauch kritisch hinterfragen; das ist der Punkt. Er kann bei der Wärmedämmung eben auf Stoffe verzichten, die wie das Styropor solche Treibgase enthalten und nach der Verwitterungszeit freisetzen. Aber er hat keinen Einfluß darauf, was die Industriebetriebe für Lösungsmittel einsetzen. Er hat keinen Einfluß darauf, was in den Reinigungsanlagen verwendet wird.Hier muß der Gesetzgeber helfen; hier muß der Gesetzgeber Regeln vorgeben, die solche Stoffe ausschließen. Wir können uns nicht nur auf die freiwillige Vereinbarung mit der Industrie verlassen, zumal sie so, wie sie Herr Töpfer geschlossen hat, auf einer völlig unbekannten Basis beruht. Er hatte noch im Januar von 65 000 Tonnen dieser Fluorchlorkohlenwasserstoffe gesprochen, dann meinte das Bundesumweltamt: Nein, es sind 100 000 Tonnen, und dann hat das Öko-Institut sogar Mengen um 145 000 Tonnen gefunden. Das sind also Schätzungen. Mit Schätzungen kann man keine Politik machen. Im Gegensatz dazu läuft die Arbeit dieser Enquete-Kommission, die von der Einsicht getragen ist, daß wir etwas tun müssen, daß es unsere Möglichkeit ist, möglichst vielWissen zusammenzuholen, Wissenschaftler genauer zu befragen und diese Informationen wieder zu verteilen. So wird auch eine Wechselwirkung zu anderen Regierungen, zu anderen Staaten, von denen wir Vertreter herangeholt haben, hergestellt. Das Gesamtmaterial wird eine international anerkannte Grundlage sein, auf der Maßnahmen aufgebaut werden können. Ich glaube, es kann dazu beitragen, daß das Montrealer Protokoll revidiert und ergänzt wird. Die GRÜNEN werden alles tun, daß das geschieht. Es ist notwendig, und wir sind dabei.Natürlich könnten auch die anderen Parteien so etwas wie unser Klimaschutzprogramm verteilen, das wäre wunderbar. Dann würden sie ihre eigenen Mitglieder darüber aufklären, daß mehr geschehen muß. Da treten wir gern in einen Wettbewerb der Aufklärung und der Gewinnung von Unterstützung; denn ohne diese Unterstützung geht es nicht. Aber es geht auch nicht ohne die Entscheidung des Bundestages.Ich danke Ihnen sehr.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Grüner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren!
— Das ist mir bekannt, und ich sehe dem bei der allgemeinen Übereinstimmung in dieser Frage, die ich freudig begrüße. mit Gelassenheit entgegen.
— Sonst hätte ich als letzter geredet.Zum Schutz der Ozonschicht ist insbesondere eine auf der Basis internationaler Absprachen erfolgende rasche und drastische Verringerung ozonschichtabbauender Emissionen erforderlich. Das ist hier sehr deutlich geworden. Der Bundesumweltminister ist der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages sehr dankbar, daß sie mit ihrer Arbeit erheblich dazu beigetragen hat, daß das Bewußtsein dieser Notwendigkeit ausgeweitet worden ist.Ich meine, daß ich mich auf das beziehen kann, was hier zur Problematik dargestellt worden ist, insbesondere vom Vorsitzenden dieser Enquete-Kommission, dem Kollegen Schmidbauer. Ich verweise darauf, daß, aufbauend auf dem Wiener Abkommen, das Montrealer Abkommen zu schließen ist. Die Bundesregierung muß ein Vertragsgesetz zum Montrealer Abkommen vorlegen.Am 25. Mai hat das Bundeskabinett diesen Gesetzentwurf beschlossen und dem Bundesrat zugeleitet. Wichtig ist, daß wir uns darum bemühen, die in diesen Protokollen enthaltenen Verpflichtungen im nationalen Bereich zu übertreffen, also weit darüber hinauszugehen.Im innerstaatlichen Bereich — und darauf möchte ich mich konzentrieren — ist die Reduzierung des
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5712 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988
Parl. Staatssekretär GrünerVerbrauchs von Fluorchlorkohlenwasserstoffen vordringlich. Wesentliche Schritte konnten schon verwirklicht werden.Allein 26 000 Tonnen FCKW wurden 1986 im Spraybereich bei uns verbraucht. Hierzu hat die Aerosolindustrie im August 1987 eine Selbstverpflichtungserklärung abgegeben, die im Ergebnis eine Reduzierung des FCKW-Verbrauchs im Spraybereich bis 1989 um mindestens 90 % bedeutet. Diese Selbstverpflichtung wird bereits zügiger als vereinbart durchgeführt. Schon im Januar 1988 wurde bei den großen Produktgruppen Haarsprays und Deosprays nur noch in 5 % FCKW als Treibmittel verwendet. Die Einhaltung dieser Verpflichtung wird durch die Überprüfung eines unabhängigen Wirtschaftsprüfungsunternehmens sichergestellt. Wir sind auf diese freiwilligen Verpflichtungen angewiesen, weil wir keine Möglichkeit haben, rechtliche Grundlagen für ein Verbot der FCKWs zu schaffen.Auch in anderen Bereichen wird durch konkrete Maßnahmen eine weitere Verringerung des FCKW-Verbrauchs erreicht werden.Ich verweise auf die Verschärfung der TA Luft für industrielle Anlagen. Dadurch wird in den nächsten Jahren erreicht werden, daß bei diesen Produktionsprozessen rund 90 To weniger FCKW in die Atmosphäre gelangen. Das entspricht nach unseren Schätzungen einer Verringerung um ca. 3 000 Tonnen im Jahr.Im Bereich der Verwendung von FCKW als Kältemittel muß das Ziel die Sicherstellung einer sachgerechten Entsorgung gebrauchter Haushaltsgeräte sein. Hinzu hat der Zentralverband der Deutschen Elektrogeräteindustrie den Entwurf eines Gewinnungs- und Entsorgungskonzepts vorgestellt, der zur Erörterung ansteht. Leider ist die Kennzeichnung von Spraydosen durch Angabe der Inhaltsstoffe zwar wünschenswert, nach geltender Rechtslage aber nicht durchsetzbar.
Die Bundesregierung wird den Änderungsbedarf zur Einführung einer generellen Kennzeichnungspflicht bei umweltgefährdenden Stoffen jedoch prüfen, weil wir hier Handlungsbedarf sehen und uns nicht damit abfinden wollen, daß uns die derzeitige Rechtslage zu diesem Urteil zwingt.
— Richtig.Hinsichtlich der Verringerung der Produktion von FCKW ist eine internationale Abstimmung natürlich insbesondere im Bereich der Europäischen Gemeinschaft notwendig, gerade mit Blick auf den Gemeinsamen Markt. Zur Zeit werden durch die Kommission die Verbrauchs- und Produktionszahlen der Mitgliedstaaten ermittelt. Gleichzeitig konnten inzwischen die Beratungen über einen Vorschlag für eine EG-Verordnung, mit der das Montrealer Protokoll EG-einheitlich umgesetzt werden kann, abgeschlossen werden. Bereits Mitte dieses Monats wird dieser Verordnungsentwurf dem EG-Umweltministerrat zur Beschlußfassung vorliegen. Der Bundesumweltministerwird sich in seiner Eigenschaft als Ratspräsident auch darum bemühen, einen Versuch zu machen, in der Europäischen Gemeinschaft durchzusetzen, daß über die Montrealer Verpflichtungen hinaus in der EG weitergehende Maßnahmen ergriffen werden. Ich unterstreiche, was hier von allen betont worden ist, daß dazu das nationale Vorgehen der Bundesrepublik Deutschland notwendig ist, daß wir also mit eigenen Maßnahmen auch eine zusätzliche moralische Begründung dafür schaffen müssen, daß wir international auf Zustimmung stoßen.
— Wir müssen bei der eigenen Haustür anfangen, die Schwierigkeiten nicht verkennen, auf Kooperationsbereitschaft setzen, wissen, daß wir die Industrie, die Techniker, die Ingenieure brauchen, um das, was wir erreichen wollen, auch tatsächlich umzusetzen. Es ist deutlich, daß wir eine Bewußtseinsänderung benötigen und daß wir auch gerade in diesem Bereich ein Thema der Weltinnenpolitik aufgegriffen haben, das einmal die Verständigungsbereitschaft voraussetzt, das aber auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, daß wir unserer Gemeinsamkeit in diesen Fragen einen verstärkten Schub verleihen. Ich meine, daß diese Zusammenarbeit in der Umweltpolitik auch Teil einer gemeinsamen Friedenspolitik sein kann. Vor diesem Hintergrund ist die Übereinstimmung, die sich in dieser Debatte gezeigt hat, für uns von besonders großer Bedeutung.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Ganseforth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe heute das Schlußwort zu diesem Thema, aber wir werden uns ja sicher noch oft und ausführlich damit beschäftigen. Das wird sicher kein Schlußwort sein, was die Ozonproblematik anbelangt.Ich habe eben mit Interesse gehört, daß der Staatssekretär Zahlen über die FCKW-Produktion von 1986 genannt hat. Da hat er sehr viel mehr Informationen, als wir in der Enquete-Kommission bekommen haben. Wir haben die Industrie intensiv befragt und leider nicht erfahren, wie groß die Produktionszahlen sind. Mich würde interessieren, woher sie die nun wissen.Seit einem halben Jahr arbeitet die Enquete-Kommission intensiv und konstruktiv. Das Kompliment, das er vorhin gemacht hat, möchte ich an den Vorsitzenden zurückgeben. Wir arbeiten da wirklich sehr gut zusammen. Man kann heute schon ein Ergebnis festhalten, nämlich: Es muß gehandelt werden, und zwar nicht nur sofort; wir konnten auch feststellen, es hätte schon längst gehandelt werden müssen.Die Ausführungen, die der Staatssekretär eben gemacht hat, wären sehr progressiv gewesen, wenn wir sie vor acht Jahren gehört hätten. Da war nämlich die Zeit, das auszuführen, was heute im Grunde schon viel zu spät ist. Andere Länder haben es uns vorge-
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Frau Ganseforthmacht und haben gehandelt und haben nicht gewartet, bis internationale Übereinkommen folgen. Schon lange wurde z. B. die Verwendung von FCKWs, von Fluorchlorkohlenwasserstoffen, in Spraydosen in Kanada, in den USA, in Belgien, Dänemark, Schweden und Norwegen verboten — soviel ich weiß, schon 1980, also vor acht Jahren — und inzwischen auch in Neuseeland. Also auch Länder der EG wie Belgien und Dänemark haben schon lange FCKWs in Spraydosen verboten. Das Wiener Abkommen, das uns heute vorliegt, läßt in Art. 2 Abs. 3 selbstverständlich und ausdrücklich weitergehende nationale Maßnahmen zu.In der Bundesrepublik sind wir von einem Verbot immer noch weit entfernt. Ich erinnere an den Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/678 — Schutz der Ozonschicht durch Verbot des Einsatzes von FCKW — , der im Umweltausschuß abgelehnt worden ist.Wir verlangen von der Bundesregierung, nicht mehr zu reden, sondern endlich zu handeln. Mit „wir" meine ich nicht nur die SPD oder die parlamentarische Opposition; denn ich weiß, daß viele Bürgerinnen und Bürger, vor allem Jugendliche, Schülerinnen und Schüler, einen immer wieder fragen: Warum tut ihr nichts, wann handelt ihr in Bonn?Handeln bedeutet, wie so oft, ein Bündel von Maßnahmen durchzuführen. Es darf nicht dazu kommen, Stoff durch Stoff zu ersetzen oder FCKWs durch andere Chemikalien. Es ist sehr viel mehr nötig. Es bedarf einer Fülle von Maßnahmen. Das geht von der eindeutigen Kennzeichnung der FCKW-haltigen Produkte — es ist eben schon angesprochen worden; warum das alles nicht gehen soll, kann ich mir nicht vorstellen — über Recycling und Wiedergewinnung, schadlose Abfallbeseitigung, Verwendung nur in geschlossenen Systemen, die das Entweichen von FCKW verhindern, bis zum Verbot.Frau Dr. Segall, Bitten an die Industrie, wie Sie sie vorhin erwähnt haben, nützen nichts bzw. sind viel zuwenig. Wir haben gestern die Debatte über die PET-Einwegflaschen gehabt. Da haben wir gesehen, wie die Industrie auf Bitten zu freiwilligen Vereinbarungen reagiert. Wir haben das im Grunde bei den FCKWs auch gesehen.Auch der Appell an den Verbraucher kann nur ein Ersatz oder eine Hilfskrücke sein. Im Grunde müssen wir als Gesetzgeber handeln.Schließlich — um noch einmal auf die Maßnahmen zu kommen; und das ist nicht der kleinste Teil — sind manche Produkte in der Verpackungsindustrie, aber auch in anderen Bereichen, auch manche Klimaanlagen schlicht und ergreifend überflüssig.
Neben diesen Handlungslücken gibt es erhebliche Forschungslücken. Unsere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben zwar in der Vergangenheit wichtige Impulse gegeben, was die Erforschung chemischer und dynamischer Vorgänge betrifft, die zum Abbau der Ozonschicht führen. Aber das Bild wird von den amerikanischen Wissenschaftlern bestimmt, weil unsere einfach nicht die Mittel haben. Es ist zu hoffen, daß die Atmosphärenforschung intensiviert wird und daß sie, zukünftig besser ausgestattet, ihren Beitrag leisten kann. Forschungsmittel in anderen Gebieten stehen zur Verfügung. Ich will nur die Weltraumforschung als ein Beispiel erwähnen. Das wäre auch in der Atmosphärenforschung nötig.Große Forschungslücken und Versäumnisse bestehen auch da, wo es um die Auswirkungen der Abnahme der Ozonschicht, um die Auswirkungen der UV-B-Strahlung auf die Erde geht. Ich will das nicht weiter ausführen. Wir haben in der Enquete-Kommission gehört, daß da noch sehr viel gemacht werden muß.Wir fordern die Bundesregierung auf, daß sie auf diesen Gebieten endlich tätig wird und entsprechende Mittel einsetzt.Alles in allem — um jetzt noch einmal auf das Übereinkommen zu kommen, das uns heute vorliegt — ist es der Versuch, das Geschehen wieder in den Griff zu bekommen, wieder handlungsfähig zu werden. Insofern begrüßen wir das Übereinkommen und stimmen ihm ausdrücklich zu. Es ist ein Einstieg. Aber er verlangt weitergehende Maßnahmen und Handeln. Wir sind dazu im Interesse der Zukunft der Erde bereit.Schönen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 16. Juni 1988, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.