Rede von
Michael
Müller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind mit dem Thema, das umschrieben ist mit den Stichworten „Ozonloch" einerseits und „Treibhauseffekt" andererseits, mit der Gefahr wirklich neuartiger globaler Krisen für Mensch und Natur konfrontiert. Wir wissen, daß wir mit unserer heutigen politischen Praxis, also mit der Praxis punktueller Korrekturen im technisch-ökonomischen System und mit der Praxis der nachträglichen Sanierung eingetretener Schäden in einem krassen
Deutscher Bundestag — 1 i. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juni 1988 5709
Müller
Mißverhältnis zu der Schadensentwicklung und den absehbaren Trends der Umweltzerstörung stehen.
Wir sehen immer deutlicher, daß unser aktuelles politisches Handeln bei dieser Langfristigkeit der Problematik irreversible Schäden am Ökosystem nicht verhindern kann.
Von daher müssen wir gerade bei diesen beiden Themen sehen, daß die Entwicklungstendenzen eine völlig andere zeitliche und räumliche Dimension haben, sowohl hinsichtlich der zeitlichen Verzögerungen zwischen Ursachen und Wirkungen, sowohl hinsichtlich langer Abbaufristen der freigesetzten Spurengase als auch im Hinblick auf unbekannte Kombinations- und Verstärkungsmechanismen im Zusammenhang mit anderen Belastungsfaktoren. Dies alles heißt, daß wir das Problem des Schutzes der Erdatmosphäre auf eine qualitativ ähnlich hohe Ebene stellen müssen wie die Bewahrung des Friedens im Atomzeitalter.
Viele Trenddarstellungen machen deutlich, daß wir unbedingt zu einem radikalen Umdenken hinsichtlich der Zukunft unseres industriellen Wachstums kommen müssen, daß wir zu einem radikalen ökologischen Umbau der Wirtschaftsstrukturen kommen müssen, daß wir aber auch zu Veränderungen in unserem individuellen Konsum und in unseren individuellen Verhaltensweisen kommen müssen.
Meine Damen und Herren, der Schutz der Erdatmosphäre erfordert von uns derart konsequente Maßnahmen, daß wir sie nicht allein unter parteipolitischen Gesichtspunkten sehen können. Wir, die SPD, sind zu Maßnahmen bereit, die diesen Namen auch verdienen, die über Parteigrenzen hinausgehen, auch im Konflikt mit Industrie und einzelnen Interessengruppen.
Es ist jetzt 20 Jahre her, da gab es in der Welt eine sehr wichtige Entscheidung. Es war nämlich die Entscheidung, den „Club Of Rome" zu gründen.
Dies ist heute ein verdrängtes Jubiläum.
Es paßt nicht mehr in die weitverbreitete, oft sehr fragwürdige optimistische Grundposition der Macher. Tatbestand ist aber, daß wir seit 20 Jahren sehr wichtige und sehr ernstzunehmende Tendenzen zu gewalten globalen Zivilisationsproblemen haben. 1972 wurde „Grenzen des Wachstums" veröffentlicht. In diesen „Grenzen des Wachstums" wurden zum ersten Mal auch die Tendenzen der weltweiten Klimaveränderung benannt. Seit dieser Zeit gibt es nur Berichte, die diesen Aspekt verstärken. Heute kann niemand mehr bestreiten, daß FCKWs einen katalytischen Abbau von Ozon in großen Höhen bewirken und daß es damit gewaltige Gefährdungen für die Menschheit und für die natürlichen Systeme gibt — übrigens nicht nur für die menschliche Gesundheit, wie oft diskutiert wird. Weitaus problematischer sind insbesondere die
Tendenzen zur Zerstörung der ozeanischen Systeme und zur Zerstörung der Ernährungsgrundlage. Hier schließt sich übrigens der Kreis zu der vorherigen Diskussion über die Asylproblematik. Die Verschärfung des Hungerproblems wird dies zweifellos auch zu einem verstärkten Problem in den Industrieländern machen. Wir müssen hier also auch aus eigenem Interesse sehr viel stärker handeln.
Deshalb : Wir sehen das Wiener Abkommen als eine Rechtsgrundlage, als ein Abkommen, das weiter konkretisiert werden muß. Das erste Abkommen dazu, nämlich das Montrealer Protokoll, sehen wir als Einstieg, sozusagen als eine Chance der Internationalisierung, aber dennoch als unzureichend an. Ich glaube, da sind wir uns in der Enquete-Kommission einig. Wir sind der Auffassung: In den weiteren Abkommen muß es zu ganz klaren öffentlichen Zahlen über Produktion und Verwendung kommen; Schlupflöcher müssen geschlossen werden; die notwendige Kontrolle ist zu gewährleisten, und, was wir für besonders wichtig halten, weitergehende nationale Maßnahmen müssen möglich sein und möglich bleiben.
Eine letzte Bemerkung: Die Bundesrepublik ist ein Land, das vom Faktor Innovation lebt. Unsere Wirtschaftsstrukturen sind auf Dauer nur durch den Faktor Innovation zu sichern. Aber gerade wenn es um Innovationen geht, verlangen wir auch, daß sich die Industrie nicht als Betonkopf erweist. Genau dies aber müssen wir allerdings bei mehreren Vorgängen feststellen.
Ich will am Ende meiner Rede ein einziges Beispiel anführen: 1982 wurde von der Stuttgarter Universität ein Verfahren entwickelt, das die Fluorkohlenwasserstoffe bei der Verschäumung zu 90 % zurückhält. Die Universität Stuttgart hat dieses Verfahren der Industrie überall in der Bundesrepublik angeboten. Es hat sich kein Interessent gefunden. In der Zwischenzeit wird dieses Verfahren in Dänemark angewandt.
Ich glaube nicht, daß das mit der wirklich selbstgefälligen Behauptung vieler Industrieller in Einklang zu bringen ist, wir seien der Vorreiter. Dies ist zweifellos oft nicht der Fall.