Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst 1985
Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/ CSU hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Herbstgutachten der fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sagt klar und eindeutig aus: Die deutsche Wirtschaft befindet sich weiterhin im Aufschwung. 1986 wird die konjunkturelle Sonne auch die Wirtschaftsbereiche erfassen, die bisher teilweise im Schatten lagen: den Handel, das Handwerk und die Bauwirtschaft.Das Wirtschaftswachstum wird nach Auffassung der Institute 1985 21/4% betragen, 1986 3 %. Zur Erinnerung für die Damen und Herren von der SPD: Wir verzeichneten 1981 einen Rückgang des Sozialprodukts um 0,2% und 1982 einen Rückgang um 1%.Die Inflationsrate wird 1985 und 1986 bei etwa 2% liegen. Wiederum zur Erinnerung: 1981 hatten wir eine Rate von 6,3%, 1982 eine Rate von 5,3%. Wir sollten nicht vergessen, daß das keine leeren statistischen Zahlen sind, sondern daß jedes Prozent weniger Inflation die Kaufkraft der Bürger um 11 Milliarden DM stärkt und damit im Ergebnis auch sozialpolitisch große Bedeutung hat.
Meine Damen und Herren, ähnlich günstig wird sich die außenwirtschaftliche Entwicklung darstellen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten für 1986 einen Außenhandelsüberschuß von 100 Milliarden und bei der Leistungsbilanz ein Ergebnis von 50 Milliarden DM, nach Defiziten 1980 und 1981 von 28,6 und 13 Milliarden ein großer Fortschritt.Erstmals gibt es nach den Aussagen dieses Gutachtens Licht am Ende des Tunnels auch bei der Beschäftigung.
Die Gutachter erwarten von Anfang 1984 bis Ende 1986 einen Zuwachs der Zahl der Erwerbspersonen von 400 000 bis 450 000. Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie Zwischenrufe machen, darf ich Sie daran erinnern, daß in den letzten Jahren der Regierungszeit der SPD, zwischen 1981 und 1983, die Beschäftigtenzahl um über 1 Million gesunken ist und daß wir endlich auch hier eine Trendwende zu verzeichnen haben.
Meine Damen und Herren, man kann sagen, in den letzten Jahren der SPD-geführten Regierung stand unter der Bilanz ein Minus, in den ersten Jahren der unionsgeführten Regierung steht unter der Bilanz ein Plus, und Sie sollten das endlich zur Kenntnis nehmen.
Diese Bilanz macht uns nicht selbstzufrieden. Wir wissen, daß der Weg zum weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit lang und steinig ist, auch wenn wir 1986 erstmals mit einem Sinken der Arbeitslosigkeit rechnen können.Deswegen meine ich, daß es dringend notwendig ist — und dem könnten sich doch eigentlich auch die sozialdemokratischen Kollegen anschließen —, daß wir von hier aus Gewerkschaften und Arbeitgeber zu einer mit der Regierung gemeinsam vollzogenen erneuten beschäftigungspolitischen Kraftanstrengung auffordern. Es kommt jetzt darauf an, daß wir die Möglichkeiten des Beschäftigungsförderungsgesetzes, vor allem die befristeten Arbeitsverträge, noch stärker nutzen. Es kommt darauf an, daß wir die Möglichkeiten des freiwilligen Abbaus von Überstunden noch stärker nutzen.
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12550 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
WissmannUnd es kommt darauf an, daß wir die Möglichkeit von Teilzeitarbeitsverhältnissen stärker als bisher ausbauen.
Es kommt darauf an — und das wäre auch Ihre Aufgabe —, daß wir die Vorruhestandsregelung dort, wo sie möglich ist, noch stärker als bisher nutzen.
Sie sollten sich nicht länger auf die Bank derer setzen, die Polemik betreiben, sondern bereit sein, an einem konstruktiven Akt mitzuwirken, und statt Demonstration und Verbandspolemik Gemeinsamkeit jedenfalls bei dem Versuch zeigen, eine neue beschäftigungspolitische Anstrengung zu unternehmen.
— Ein Wort aus dem Herbstgutachten sollten vor allem Sie, Herr Vogel, besonders genau zur Kenntnis nehmen.
Es ist für Sie natürlich schwierig, das wahrzunehmen; deswegen sage ich es besonders gern. Dort heißt es — ich zitiere wörtlich —:Zu warnen ist eindringlich vor der Vorstellung, der Staat wäre, wenn er nur wollte, in der Lage, allein durch mehr Ausgaben für Vollbeschäftigung zu sorgen.
Diesen Satz unterschreibt Herr Krupp, Ihr früherer Wirtschaftsberater, mit. Fachleute sagen Ihnen,
daß mit Sondervermögen und Beschäftigungsprogrammen keine Wirkung zu erzielen ist.Folgen Sie endlich unserem vernünftigen Weg
zu einer besseren Beschäftigungslage auf dem Arbeitsmarkt!
Hören Sie auf das Herbstgutachten! Sie werden dann Ihre Politik besser ordnen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten haben das Gutachten gut gelesen und stellen fest: Es prognostiziert die wirtschaftliche Entwicklung für das Jahr 1986 angesichts der Politik, die die Regierung betrieben hat, durchaus positiv. Die Beschäftigung steigt angeblich um 200 000. Die Arbeitslosigkeit soll um 50 000 zurückgehen.
Das ist eine Entwicklung, die ich mir gar nicht vorgestellt hätte. Das muß ich zugeben.
Aber Prognosen sind noch keine Realität.
Im Januar dieses Jahres hat diese Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht prognostiziert, das Wirtschaftswachstum werde in diesem Jahr 2,5 % betragen. Die Gutacher bescheinigen: Irrtum; es beträgt nur 2,25 %. Gut, man kann sich irren. Aber die Anlageinvestitionen sollten nach dem Jahreswirtschaftsbericht um 5 bis 6 % steigen. Irrtum; die Anlageinvestitionen steigen lediglich um 0,5 %.So wird es wahrscheinlich den Gutachtern auch diesmal gehen. Die Arbeitslosenquote verharrt jedenfalls 1986 auf einem Höchststand von über 9,1 %. 3 % sind angeblich Vollbeschäftigung. Bei über 2,2 Millionen Arbeitslosen werden Sie es mit der Politik, die Sie betreiben, nicht erreichen, die Arbeitslosenzahl unter 2 Millionen zu drücken.
Auch ich darf zitieren — Herr Wissmann, Sie haben das Gutachten nicht genau gelesen —:
Es heißt z. B.:Die fortbestehende hohe Arbeitslosigkeit stellt nach wie vor die gravierendste Verfehlung eines wirtschaftspolitischen Ziels dar.
Heute können Sie der Zeitung entnehmen, daß der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, der frühere Kollege Franke, festgestellt hat, daß zu dieser Zahl der Arbeitslosen eine stille Reserve von 1,1 bis 1,3 Millionen Menschen hinzugerechnet werden muß, die sehr wohl einen Arbeitsplatz suchen. Aber das wollen Sie nicht wissen, das wollen Sie nicht wahrhaben. Das kann ich mir gut vorstellen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, aktuell an dem Gutachten ist im Grunde nicht das, was die Wissenschaftler sagen; aktuell war für mich die Tatsache, daß sich ein Wissenschaftler im Fernsehen hinstellt und massiv Parteipolitik betreibt. Ich meine Professor Walther vom Institut für Weltwirtschaft. Wenn er behauptet, die sozialpolitischen Äußerungen von Ministerpräsident Rau hätten die Investoren verunsichert
— diese Äußerungen sind schon lange widerrufen worden —, so ist das aus meiner Sicht billigste Polemik.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12551
Dr. JensSolche Aussagen sind Beleidigungen für alle seriös arbeitenden Wissenschaftler. Die Wissenschaft wird zur Hure der Wirtschaft gemacht.
In dem Gutachten können Sie außerdem, wenn Sie es sorgfältig lesen, einmal mehr feststellen, daß diese Regierung — das bescheinigen Ihnen die Wissenschaftler auch — etliche Fehler gemacht hat. So wird uns immer vorgeworfen, wir forderten ein Beschäftigungsprogramm. Wir fordern auch kein kurzfristiges Beschäftigungsprogramm.
Nur, wenn Sie jetzt die Mittel für Maßnahmen nach dem Städtebauförderungsgesetz 1986 und 1987 um 670 Millionen DM erhöhen,
dann muß ich allerdings die Frage stellen: Was ist das denn? Das ist doch ein kurzfristiges Beschäftigungsprogramm, nichts anderes!
Wenn Sie sich mal angucken, wie viele öffentliche Investitionen Sie gestrichen haben und wie viele Subventionen Sie erhöht haben, dann kann man nur feststellen: Sie sind mit Ihrer Politik auf dem Irrweg.
Sie haben es versäumt, den Konsum zu kürzen. Das hätten Sie machen müssen. Und da spricht Bundeswirtschaftsminister Bangemann vollmundig vom Subventionsabbau. Er weiß ganz genau, daß das nicht so geht.
Ich habe leider nur noch wenig Zeit. Lassen Sie mich daher zusammenfassen. Meine Damen und Herren, unsere Politik ist sorgfältig durchdacht; das wird auch von den Wissenschaftlern untermauert.
Wir sind nicht dafür, daß der Staat Alleinverantwortung trägt, aber er hat sehr wohl eine Mitverantwortung für die Arbeitslosigkeit.
Notwendig ist ferner eine vernünftige Strukturpolitik, so daß die Maschinen dorthin kommen, wo die Menschen sind. Notwendig sind verstärkte Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen. Notwendig sind darüber hinaus höhere Tarifabschlüsse im Jahre 1986. Bis Mitte der 90er Jahre wird eine enorm hohe Zahl junger Leute in den Arbeitsprozeß drängen. Verflucht noch mal,
wir sind verpflichtet, etwas für sie zu tun, und zwar mit Hilfe des Programms „Arbeit und Umwelt", das wir aufgelegt haben.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Haussmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gutachter bestätigen es: Die Trendwende am Arbeitsmarkt ist geschafft.
Dies ist die wichtigste Botschaft dieser Regierung für alle Arbeitnehmer.
Endlich erreicht das Wirtschaftswachstum auch den Arbeitsmarkt. Die Zahl der Beschäftigten steigt ständig, auch im nächsten Jahr. Die Zunahme der Zahl der Arbeitslosen wird trotz starker Jahrgänge gestoppt.
Diese Botschaft — Herr Krupp läßt grüßen, Herr Ehrenberg — ist für die Wähler im nächsten Jahr wichtig. Daraus machen wir kein Geheimnis. Wir werden dafür sorgen, daß die Bürger dies erfahren.
Meine Damen und Herren von der Opposition, diese Trendwende in der Beschäftigung haben wir durch mehr Markt und nicht durch mehr Staatsprogramme erreicht.
Die von Ihnen immer müde belächelten Marktkräfte und die verbesserten Rahmenbedingungen entfalten langsam, aber stetig — gerade im nächsten Jahr — ihre segensreiche Wirkung.
Dank Herrn Raus Bekenntnis zu mehr Schulden und Herrn Börners Koalition gegen mehr Beschäftigung ist die Alternative '87 für den Wähler klar: hier von uns solide Haushaltspolitik,
Steuersenkung und mehr Beschäftigung, da von grün und rot nordrhein-westfälische Schuldenpolitik, keine Steuersenkung, weniger Beschäftigung.
Früher als gedacht eine klare Alternative für den Wähler.
— Ja, daran führt kein Weg vorbei, daß diese Regierung durch mehr Stabilitätspolitik, durch bessere
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Dr. HaussmannHaushaltspolitik dafür gesorgt hat, daß die Zahl der Beschäftigten steigt.
Das ist eine Tatsache. Mit der müssen Sie sich auseinandersetzen.
Apropos Steuersenkung: Die FDP-Initiative zeigt Wirkung. Kein geringerer als der Finanzminister persönlich
hat gerade gestern in engem Schulterschluß mit der FDP eine nach seinen Worten Supersteuerreform angekündigt. Damit haben wir einen starken Verbündeten für unsere Pläne. Das fordern auch die Gutachter.
Wäre man uns nur mit der Steuersenkung in einem Schritt in dieser Legislaturperiode gefolgt — die Ministerpräsidenten in Stuttgart und München hätten das besorgen können —, dann wäre der Beschäftigungsschub noch kräftiger. Aber wir wollen nicht nachkarten. Die Institute jedenfalls bestätigen uns voll.Zuletzt eine persönliche Bemerkung. Als ich im Frühjahr die Tarifpartner zu mehr Beweglichkeit zugunsten der Arbeitslosen aufgefordert habe, erntete ich wütende Proteste. Jetzt erhalten diese Vorschläge erneut die Bestätigung durch die Gutachter. Denn daran führt kein Weg vorbei: Mehr Wirtschaftswachstum führt erst dann zu mehr Beschäftigung, wenn der Arbeitsmarkt auch wieder den Begriff Markt verdient.Ich komme zum Schluß. Die von Graf Lambsdorff eingeleitete und von Martin Bangemann fortgesetzte Wende zu mehr Marktwirtschaft in der Bundesrepublik zeigt Erfolg. Das ist das einstimmige Ergebnis der Forschungsinstitute. Wir werden den Weg konsequent fortsetzen. Wenn andere demonstrieren, unser Auftrag ist es, zu regieren zugunsten von mehr Beschäftigung.
Das Wort hat der Abgeordnete Tatge.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen im Herbst wieder einmal vor der Situation, das Gutachten von fünf Instituten zur Kenntnis nehmen zu müssen, die wie immer in bewährter Manier, in alter Tradition prognostizieren, sich als Konjunkturpharisäer betätigen, ohne daß eigentlich ein Prognosesachverstand in der Hinsicht vorliegt, daß eine wirkliche Aussage getroffen wird.
Das, was prognostiziert wird, ist eine alte Ideologie, die verbreitet wird. Das ist nicht etwas, was mir als Wirtschaftspolitiker selbst Handlungsanweisungen gäbe, um gegen die wirklich dringenden ökologischen, sozialen und strukturellen wirtschaftspolitischen Probleme vorzugehen.
Wie ist denn die Situation? Was wird in dem Herbst-Gutachten verbreitet? In dem Herbst-Gutachten wird der alte Dreiklang verbreitet, Gewinne seien gleich Investition, seien gleich Arbeitsplätze. Wir wissen alle: An zwei Stellen gibt es in dieser Aussage einen Bruch. Es ist unklar, für was Gewinne verwendet werden. Es kann auch niemand prognostizieren, für was die Unternehmer die Gewinne verwenden. Es ist ebenso unklar, ob Investitionen, wenn investiert wird, Arbeitsplätze schaffen oder ob mit Investitionen rationalisiert wird. Das kann keiner vorhersagen.Wenn man z. B. ein anderes hehres Gremium wie den Sachverständigenrat nimmt, so ist es so, daß er von 1973 bis 1981 durchschnittlich 50 % Prognosefehler aufzuweisen hatte. Das ist die Realität der Voraussagen der Institute.Was bieten uns aber diese fünf Gutachter, und was bietet uns die Bundesregierung an? Sie bietet uns an: Senkung der Lohnkosten, mehr Flexibilität; Herr Haussmann hat das heute auch wieder gesagt. Dabei kommt nicht viel mehr als Ideologie heraus.Dieses Gutachten negiert 2,2 Millionen Arbeitslose, negiert 1,3 Millionen sogenannte stille Reserve, 2,5 Millionen Sozialhilfeempfänger, viele Menschen, etwa Rentner, die am Rande des Existenzminimums leben. Dieses Gutachten ist in seiner Aussage Zynismus.Wie sehen die Weltsituation und die Einschätzung der Weltwirtschaft insgesamt aus? Papst Johannes Paul II hat am Wochenende im UNO-Gebäude vor Politikern gesagt, die Politiker sollten mehr auf die wirtschaftliche Ethik achten. Genauso konkret ist das Gutachten in dem Punkt. Was empfiehlt es uns? Alte, abgedroschene Phrasen: Liberalisierung des Welthandels. Es empfiehlt uns, noch einmal mit • den Schuldnern zu reden. Nicht viel mehr. Das, was für eine weitere Gestaltung der Weltwirtschaft konkret gefordert werden muß, wäre: radikale Entschuldung, Gestaltung einer neuen Weltwirtschaftsordnung, gerechte Preise für Rohstoffe; das müßte in ein solches Gutachten hinein. Dieses Gutachten müßte etwas dazu sagen, daß auf dieser Erde Tag für Tag Tausende von Menschen verhungern. Das müßte in ein solches Gutachten hinein, wenn es richtungweisend sein und für Politiker Handlungsanweisungen geben soll. Aber das alles steht nicht drin.
Weil dies so ist und weil dies auch in einer gewissen Tradition der Argumentation der Bundesregierung steht, ist Herrn Wissmann zum Herbstgutachten auch nichts eingefallen. Herr Wissmann, Sie waren nur in der Lage, in Ihrer Pressemitteilung
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Tatgedümmlich gegen die rot-grüne Koalition in Hessen zu polemisieren.
Zum Herbstgutachten haben Sie kaum etwas gesagt. Mir ist klar, warum. Hinzu kommt: Den anderen CDU-Landesregierungen scheint zum Herbstgutachten und zur Situation der Wirtschaft auch nichts mehr einzufallen. Niedersachsen, Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz unternehmen jedenfalls den Versuch, Unternehmen aus Hessen abzuwerben. So traurig scheint man dort dran zu sein.Das letzte, was ich dazu noch sagen kann: Die Aussagen der Institute zur Weltwirtschaft stehen ebenfalls in der Tradition der Bundesregierung, nämlich altbekannte Phrasen zu klopfen. Wie Herr Kohl als tumber Tor durch die Weltgeschichte stakst, so staksen die Gutachter mit ihren Aussagen als tumbe Toren durch die Wirtschaftsgeschichte.Danke.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Herrn Grüner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Herbstgutachten der Forschungsinstitute bestätigt die Einschätzung der Bundesregierung, daß der seit Anfang 1983 in Gang befindliche Konjunkturaufschwung auch 1986 andauern wird. Nach Auffassung der Institute, die auch durch Analysen der EG-Kommission bestätigt wird, wird die Bundesrepublik 1986 mit einer Wachstumsrate von 3 % an der Spitze aller europäischen Industrieländer stehen und nur von Japan übertroffen werden.
Das sind außerordentlich erfreuliche Aussichten,
auch wenn völlig richtig ist, daß Prognosen keine absolute Sicherheit vermitteln. Wir dürfen deshalb in unseren Bemühungen nicht nachlassen, die Rahmenbedingungen für einen solchen wirtschaftlichen Aufschwung, soweit er in der Hand der Politik liegt, auch tatsächlich zu gestalten und voranzutreiben. Auch darauf haben die Institute mit großem Nachdruck hingewiesen.Dieser Wirtschaftsaufschwung geht auch nicht am Arbeitsmarkt vorbei. Das ist wirklich die ganz besonders wichtige Aussage, die uns hier heute beschäftigen muß. Denn die hohe Kurzarbeit, die wir Anfang 1983 mit 1,2 Millionen Kurzarbeitern hatten, ist nahezu beseitigt.
Die Zahl der offenen Stellen nimmt seit zweieinhalb Jahren wieder zu. Die Zahl der Beschäftigtenwird sich nach Ansicht der Institute und auch nach Ansicht aller anderen bisher zu diesem Thema gehörten Sachverständigen in diesem Jahr und im nächsten Jahr insgesamt um 400 000 erhöhen. Der steile Anstieg der Arbeitslosigkeit in den drei Jahren seit 1980 um 1,2 Millionen — im Gefolge auch der Ölpreiskrise — ist zum Stillstand gekommen. Das sind die in diesem Bereich nach wie vor entscheidenden Zahlen, wobei kein Mensch bestreiten wird, daß die Feststellung der Institute, wie hier wiederholt worden ist, richtig ist: daß die Arbeitslosigkeit das nach wie vor drängendste wirtschaftliche Problem ist und die besondere Aufmerksamkeit der Politik verlangt.Das wirtschaftspolitische Konzept der Bundesregierung, die Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen, d. h. der Verzicht darauf, durch eine weitere Verschuldung, durch einen dramatischen Anstieg des Zuwachses der Verschuldung die Zinsen in die Höhe zu treiben — dafür, daß das die Folge sein würde, gibt es ja Beispiele —, hat einen ganz entscheidenden Beitrag zur Geldwertstabilität und damit zur Kaufkraftstärkung sowie zu mehr Investitionsbereitschaft und Investitionsstärkung geleistet.In Übereinstimmung mit der Auffassung der Bundesregierung plädieren die Institute vor dem Hintergrund nicht ausreichender Beschäftigungsmöglichkeiten, die ja auch im Blick auf die geburtenstarken .Jahrgänge größer sein müßten, für eine weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Sie unterstützen die Bundesregierung insbesondere in dem Vorhaben einer durchgreifenden Steuerreform mit einer Reduzierung der Steuerprogression in der nächsten Legislaturperiode.Und, meine Damen und Herren, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Struktur unserer Unternehmen, was die Beschäftigung anlangt, die Schlüsselrolle für Überwindung von Arbeitslosigkeit und mehr Beschäftigungsmöglichkeiten hat, was die kleinen und kleinsten Unternehmen zu bieten haben, dann wird deutlich, wie nachdrücklich in diesem Bereich gehandelt werden muß, nicht nur von der Politik, sondern auch von denen, die über die Arbeitszeiten reden, die die tarifpolitischen Bedingungen bestimmen, denen man nur bittend zurufen kann, die Flexibilisierung zu ermöglichen, die den kleinen Betrieben am ehesten helfen würde, einen Beitrag zu mehr Beschäftigung zu leisten.Ich möchte die Zahlen in Erinnerung rufen, weil j a in unseren wirtschaftspolitischen Diskussionen häufig die Bedeutung von Großunternehmen im öffentlichen Bewußtsein sehr viel stärker steht als die Bedeutung kleiner und mittlerer Unternehmen. Mehr als zwei Drittel aller Ausbildungsplätze werden von Betrieben und Selbständigen zur Verfügung gestellt, die weniger als 50 Beschäftigte haben. Mehr als zwei Drittel aller abhängig Beschäftigten sind in Betrieben mit weniger als 500 Beschäftigten tätig. Und wir haben 1,9 Millionen Selbständige und kleine Betriebe in diesem Sinne. Das heißt, wenn es gelingen würde, durch eine Stärkung der Investitionsbereitschaft in diesem Bereich zu mehr Be-
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Parl. Staatssekretär Grünerschäftigung zu kommen — 1,9 Millionen Selbständige und kleine Betriebe mit unter 500 Beschäftigten —, dann wird an diesen Zahlen deutlich, welche Chance gerade in der mittelständischen Struktur unserer Wirtschaft liegt und wie wichtig es deshalb ist, daß die Beschäftigungspolitik auch darauf ausgerichtet wird, die Möglichkeiten dieser kleinen und kleinsten Unternehmen, freier Berufe und Selbständiger zu erhöhen.Ich füge hinzu, meine Damen und Herren, daß wir uns auch mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, daß diejenigen, die ihre Gewinne und Erträge aus der Beschäftigung von Menschen ziehen, nämlich die gewerblichen Unternehmen, die ich eben genannt habe, höhere Ertragsteuern zahlen als alle anderen Einkommensempfänger. Wenn gegen eine Reform der Unternehmensbesteuerung polemisiert wird, wenn etwa auch bei der Reduzierung der Betriebsvermögensteuer die Behauptung aufgestellt wird, hier finde eine Umverteilung von oben nach unten statt,
dann sind das genau die falschen Behauptungen, die den Einsatz kleiner und mittlerer Unternehmer für mehr Beschäftigung zusätzlich erschweren.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch noch einmal darauf hinweisen, daß die gesetzliche Regelung, die wir eingeführt haben, die befristete Arbeitsverhältnisse auf die Dauer von 18 Monaten für diejenigen möglich macht, die im Augenblick keinen Arbeitsplatz haben, ja gerade deshalb geschaffen worden ist, um zusätzliche Chancen zu bieten, Überstunden abzubauen und den Betrieben die Möglichkeit zu geben, trotz der Unsicherheit über die weitere Auftragsentwicklung auch einzustellen, und den Betriebsräten die Möglichkeit zu geben, sich gegen diese Einstellung nicht zu sperren,
weil sie ja wie die Unternehmer vor der Sorge stehen: Wird denn diese Auftragslage, die mich zu Überstunden zwingt, anhalten, oder werde ich, wenn diese Überstunden gefahren sind, anschließend wieder vor einer Auftragslücke stehen'? Deshalb werden häufig nicht zusätzliche Leute eingestellt, sondern wird der Versuch gemacht, und zwar von den Betriebsräten wie den Unternehmern, ohne zusätzliche Einstellung von Mitarbeitern auszukommen.Ich erwähne dieses Beispiel an dieser Stelle, weil es meiner Ansicht nach deutlich macht, daß wir von der Politik her allen Anlaß haben, auch in unseren politischen Diskussionen die Voraussetzung für mehr Beschäftigungsmöglichkeit gerade in diesen Schlüsselbereichen zu sichern.Der langanhaltende Aufschwung, vor dem wir stehen, der jetzt in sein viertes Jahr geht, und die nun erreichte Wende am Arbeitsmarkt, die niemand mehr leugnen kann, unterstreichen nachdrücklich den Erfolg dieser Politik der Verbesserung der Rahmenbedingungen, was nicht heißt, daß sie nicht mit allem Nachdruck fortgesetzt werden muß, wenn wir diese positiven Prognosen, die heute vor uns liegen, 1986 in die Realität umgesetzt sehen und wenn wir insbesondere einen noch höheren Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit erhalten wollen, den aber auch die Forschungsinstitute selbst bei einem Wirtschaftswachstum von 3 % nicht für ausreichend halten — in voller Übereinstimmung mit uns. Sie sagen uns, wir brauchen mehr Wirtschaftswachstum, mehr reales Wachstum, um an der Beschäftigungsfront noch größere Erfolge zu erzielen. Dazu gehört auch die Bereitschaft der Politik, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Unsere Ankündigung gerade auch einer Reform der Besteuerung ist — jedenfalls psychologisch — eine solche wichtige Voraussetzung, denn die Einschätzung der Zukunftsaussichten ist ebenso ausschlaggebend für die Investitionsbereitschaft und damit für die Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmen wie die real verbesserten Umstände für diese Investitionen.Deshalb, meine ich, können wir sagen, daß wir auf dem richtigen Wege sind, daß wir aber in der Politik gemeinsam dafür sorgen müssen, daß die hier von den Instituten aufgezeigten Entwicklungen auch tatsächlich umgesetzt werden und nicht in polemischen Auseinandersetzungen verdunkelt und in ihrer Bedeutung für die Beschäftigung herabgemindert werden dürfen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mitzscherling.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Wissmann, Sie haben sich heute im Lichte der vermeintlichen Erfolge der Wirtschaftspolitik gesonnt. Das haben Sie auch in der Aktuellen Stunde über die Exporterfolge schon getan. Nun, wir haben ja gesagt, daß wir nicht verkennen, daß wir uns darüber freuen, wenn das Wachstum steigt. Es steigt aber nur leicht, und es beruht vorwiegend auf Exportsteigerungen. Wir freuen uns auch darüber — da gibt es gar keinen Zweifel, daß die Preise stabiler geworden sind. Wir haben auch billigere Rohstoffimporte. Wir sind natürlich froh, wenn die Beschäftigung steigt. Wir haben ja auch Arbeitszeitverkürzungen gehabt und mehr Teilzeitarbeit. Hier zeigen sich Erfolge.
Aber Sie müssen doch auch über die Schatten reden, wenn Sie über dieses Gutachten sprechen.
Sie haben z. B. das, was an Massenarbeitslosigkeit von den Instituten bestätigt und als im nächsten Jahr nicht abbaubar bezeichnet wird, mehr oder weniger weggelassen. Die Massenarbeitslosigkeit bleibt doch so. Diese wirtschaftliche und soziale Herausforderung verlangt politische Antworten, und die habe ich von Ihnen nicht bekommen.
Gerade das zeigt doch auch das Gutachten der Institute. Neben den vielen positiven Zeichen läßt
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Dr. Mitzscherlinges doch auch Signale erkennen, die Sie hellhörig machen müßten, die aber Sie — auch Herr Grüner — heute nicht erwähnt haben. Die Institute sagen eindeutig, daß infolge des abgeschwächten Wirtschaftswachstums in den USA, der dort betriebenen Wirtschaftspoltik und einer unzureichenden Strategie der Industrieländer die Verschuldungsprobleme vieler Entwicklungsländer zunehmen werden. Darauf haben Sie überhaupt nicht hingewiesen. Die Institute widmen dem ein eigenes ganzes Kapitel. Sie sagen, dort drohen soziale Erschütterungen, die eine internationale Finanzkrise auslösen können. Die Institute sagen, daß der Warenhandel nur noch um 4 % wächst, und sie sagen, daß der Export, den Sie so bejubeln, zwar 1986 noch steigen wird, daß aber die Auslandsbestellungen nur noch schwach zunehmen. Sie sagen, daß Protektionismus akut droht, und schließlich sagen sie — kein Wort von Ihnen dazu — daß die weltwirtschaftlichen Risiken größer geworden sind und das Investitionsklima beeinträchtigen. Herr Grüner, warum erwähnen Sie die Gründe nicht, die dafür maßgebend sind? Die haben uns doch hier schon oft genug beschäftigt. Die USA haben einen Wirtschaftsaufschwung in Gang gesetzt, der zunächst den Welthandel begünstigte und uns auch Exportsteigerungen beschert hat. Wir müssen aber heute nüchtern erkennen, daß die positiven Zeichen geringer zu werten sind als die möglichen Schäden, die sich auf alle beteiligten Länder auswirken werden.
Wir haben nach wie vor weltweit zu hohe Realzinsen, Herr Feilcke. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Wir haben einen immer noch überhöht bewerteten und unsicheren Dollar. Wir haben Investitionszurückhaltung bei vielen. Und wir haben einen Verfall der Rohstoffpreise.
Schließlich haben wir zunehmenden Protektionismus und eine sich zuspitzende Lage bei den Schwellen- und Entwicklungsländern. Daran kommen Sie gar nicht vorbei. Diese Lage besteht grundsätzlich noch immer. Und da hoffte man nun auf einen sogenannten sanften Fall des Dollar, der bei dem schnellen Kursrückgang von 3,50 DM auf 2,60 DM so sanft gar nicht ausgefallen ist. Man hofft, daß die Interventionen, die von den fünf Großen verabredet worden sind, den Dollar-Kurs auch langfristig werden sichern helfen. Aber wer von uns weiß denn überhaupt, ob diese Interventionen langfristig Erfolg haben werden? Wenn das Grundübel, das amerikanische Haushaltsdefizit, nicht beseitigt wird und wenn sich die Konjunktur in Amerika abflacht, was geschieht denn dann? Möglicherweise — und keiner von Ihnen kann das sagen — sinkt dann der Kurs des Dollar, und die Inflation erhöht sich, und alles ist offen. Was machen Sie denndann? Eine Antwort auf diese Unsicherheit geben Sie doch überhaupt nicht.
— Eines ist doch deutlich: Diese Unsicherheiten, Herr Wissmann, behindern den Bau von neuen Produktionsanlagen bei den Unternehmen. Und diese Unsicherheiten führen dazu, daß die Unternehmen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, vor allem rationalisieren. Und Rationalisierung bedeutet: keine neuen Arbeitsplätze.
— Das werde ich Ihnen noch sagen.Herr Wissmann, Sie müssen sich doch über eines im klaren sein: Wenn wir ein Leistungsbilanzdefizit von 50 Milliarden DM haben, ruft das Gegenkräfte hervor. Das ist doch nicht nur ein Erfolg. So etwas ergibt doch auch eine Gegenkraft auf der anderen Seite, wo die Defizite anfallen. Bilden Sie sich doch nicht ein, daß die Welt sich gefallen läßt, daß Deutschland massiv exportiert und dabei 50 Milliarden DM Überschuß macht und die anderen von einer Importflut überschwemmt werden. Hier gibt es Gegenkräfte. Und darauf haben Sie sich in Ihrer Politik nicht vorbereitet.
Machen Sie sich nichts vor: Die negativen Einflüsse bleiben beunruhigend stark.
— Wer einem leid tun muß, wird sich später herausstellen.
Die außenwirtschaftliche Flanke ist nach wie vor offen. Die Institute haben gesagt: Konjunkturstützende Maßnahmen sind angebracht. - Die von Ihnen empfohlenen Maßnahmen haben sie als nicht ausreichend bezeichnet. Sie haben gesagt: Die Binnennachfrage muß jetzt mehr gestärkt werden. — Das ist unsere Forderung seit langem. Wir haben gefordert: Mehr öffentliche Investitionen, Erhaltung der Umwelt! Unsere Vorschläge haben wir Ihnen unterbreitet. — Damit können wir mehr Arbeit haben.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Kraus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Mitzscherling, Sie haben sich offenbar bemüht, aus diesem Gutachten in Kleinarbeit sämtliche Stellen herauszusu-
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Krauschen, in denen auch nur ein Ansatz von Kritik an der jetzigen Regierung zu erkennen ist.
— Er hat sich bemüht, sämtliche kleinen und kleinsten Punkte herauszusuchen.Aber auf keine einzige Frage hat er selber auch nur den Ansatz einer Antwort gegeben.
Ich finde, Sie machen es sich relativ einfach, Herr Mitzscherling, wenn Sie die Probleme aufzählen, sagen, das stehe im Raum, und dann noch andeuten, daß das eine oder andere Rezept im Gutachten stehe, während Sie sich mit vielen, vielen Dingen, die da drinstehen, ernstlich nicht identifizieren können.
Sie sind doch z. B. nicht für das Vorziehen der Steuerreform, was als Hauptvorschlag in diesem Gutachten ist. Das nur als Beispiel.Im übrigen, Herr Mitzscherling: Ich glaube, wir sollten die Dinge nicht gar so pessimistisch sehen. Wir haben viele Jahre einer pessimistischen Grundhaltung hinter uns. Wir sollten mal etwas optimistischer an die Wirtschaft herangehen. Und das lassen wir uns auch von niemandem verderben.
Auch hier war immer wieder die Rede von der Beschäftigungssituation. Ich möchte mich ganz kurz zu diesem Thema äußern. In der Tat ist es natürlich so, daß die Zahlen in der Statistik nach wie vor viel zu hoch sind — sicher auch in der Realität. Trotzdem sollte man diese Statistik einmal einer näheren Untersuchung unterziehen. Dort werden Dinge verglichen, die eigentlich nicht zu vergleichen sind. Ich denke da z. B. an die Statistik Anfang der 50er Jahre. Damals gab es praktisch keine Teilzeitarbeitsuchenden. Es wird mit etwas verglichen, was heute ganz anders geworden ist.Die Zahl der offenen Stellen ist ein für mich besonders wichtiges Thema. Es vergeht kaum eine Versammlung, in der nicht jeder von uns von irgendeinem Mittelständler gefragt wird, warum es denn eigentlich so sei, daß auf der einen Seite viele Leute arbeitslos gemeldet seien, er auf der anderen Seite aber Facharbeiter zumindest in den Ballungsgebieten nicht bekomme. Daraus ist doch zwingend der Schluß zu ziehen, daß die gemeldeten offenen Stellen den Realitäten in keiner Weise entsprechen. Es gibt eine Untersuchung der Industrie- und Handelskammer Baden-Württemberg, in der festgestellt wird, daß etwa das Dreifache dessen, was gemeldet wird, an offenen Stellen vorhanden ist.
Ich verstehe die Unternehmer. Sie sagen: Wenn ich heute offene Stellen beim Arbeitsamt melde, dann wird entweder niemand oder es werden Leute geschickt, die praktisch nicht einzustellen sind; man hat nur Unannehmlichkeiten und gegebenenfalls noch großen Ärger. — Meines Erachtens ist das aber sehr kurzsichtig. Ob in der Statistik der offenen Stellen 120 000 Stellen oder das Dreifache davon steht, ist ein gewaltiger Unterschied und spielt als Grundlage für die Diskussion über Oberstundenverkürzung, Arbeitszeitverkürzung, Überstundenverbot und ähnliches natürlich eine ganz große Rolle. Die Unternehmer wären deshalb wirklich gut beraten, wenn sie versuchten, die offenen Stellen zu melden, auch wenn es Arbeit macht.
Das läge wirklich in ihrem wohlverstandenen Interesse.
— Herr Jens, die Arbeitslosen werden in der Regel zum Arbeitsamt gehen. Sie wissen genau, daß damit für die Arbeitslosen konkrete soziale Vorteile verbunden sind. Ein Arbeitsloser würde sich außerordentlich ungeschickt verhalten, wenn er dort nicht hinginge.Dann wird über die stille Reserve geredet. Natürlich wissen wir, daß die Beschäftigtenzahl zum geringsten Teil aus den offiziell Arbeitslosen und zum großen Teil aus den geburtenschwachen Jahrgängen bzw. aus der sogenannten stillen Reserve aufgefüllt wurde. Ich bezweifle aber, daß es sich bei dieser stillen Reserve um Leute handelt, die etwa als resignierte Arbeitslose zu bezeichnen sind. Es sind in der Regel Leute, die vermutlich deshalb wieder in den Beruf gehen, weil ihnen der Arbeitsplatz jetzt in besonderer Weise angeboten worden ist, weil er von der Bezahlung her, vom beruflichen Werdegang und auch von der Arbeitszeit und den Merkmalen des Arbeitsplatzes her paßt. Es werden eher Leute sein, die nach dem Gesichtspunkt, daß etwas Passendes gefunden worden ist, wieder in Arbeit gehen.Ich denke also, daß wir größte Erfolge auf dem Sektor der Arbeitslosigkeitsbekämpfung haben. Ich denke, es gibt praktisch keinen anderen Weg als den, den wir gegangen sind, den Weg einer soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik mit dem Ziel, ordentliche Rahmenbedingungen herzustellen und auch dafür zu sorgen, daß eine gewisse Mobilität auch bei den Arbeitnehmern wieder Platz greift und entsprechende Anreize für diese Mobilität gegeben werden. Dann kann, so glaube ich, in den nächsten Jahren ein erheblicher Teil der Entwicklung rückgängig gemacht werden, der vor unserer Regierungszeit eingeleitet worden ist.Ich bedanke mich.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Solms.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist doch interessant, daß diesmal alle Institute einschließlich des Instituts des Wirtschaftsministers designatus aus dem letzten Wahlkampf, Krupp, geschlossen die Politik der Bundesregierung voll und ganz unterstützen. Darüber hinaus ist interessant, daß gerade zum Ende der Aktionswoche des Gewerkschaftsbundes von den Instituten dokumentiert wird, daß die Wende auf dem Arbeitsmarkt erreicht ist und daß wir in diesen zwei Jahren voraussichtlich nahezu eine halbe Million neuer Arbeitsplätze schaffen werden.
Das ist eine einmalige Situation, wenn Sie bedenken, daß in den Jahren 1972 bis 1982 weit über 1 Million Arbeitsplätze verlorengegangen sind. Das muß man einfach einmal gegenüberstellen.
Aber auch in den Punkten, wo die Institute fordern, daß die Regierungspolitik noch energischer sein sollte, verfolgen die Institute im Grundsatz die Richtung einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. In diesen Punkten stimmen sie voll und ganz mit den Meinungen überein, die die FDP seit langem geäußert hat. Es geht im wesentlichen darum, daß die Steuersenkungspolitik vorangebracht wird. Wir waren der Meinung, daß die Steuersenkung in einem Schritt kommen sollte. Dies ist nicht mehr der Fall. Im übrigen ist das ein Beitrag der Besserverdienenden zum Konsolidierungsprozeß weil gerade die Tarifentlastungen, die auf das Jahr 1988 verschoben worden sind, die Höherverdienenden betreffen. Darüber hinaus unterstützen die Institute aber eindeutig eine drastische Steuersenkungspolitik für die Zukunft, finanziert durch radikale Striche, radikale Einschränkungen bei den Subventionen.
Ich glaube, Herr Kollege Jens, Sie haben beklagt, daß Herr Bangemann den Fortschritt in der Subventionspolitik begrüßt hat. Sie können ihm das nicht vorwerfen; denn er hat in seinem Haushalt die Subvention um 20 % gestrichen und ist damit selber als gutes Beispiel vorangegangen.
Herr Kollege Mitzscherling, es ist natürlich richtig, daß die weltwirtschaftliche Situation und die nationale wirtschaftspolitische Situation heute noch nicht zufriedenstellend sind, aber wichtiger ist, daß die Politik, die hier gemacht wird, in die richtige Richtung geht, auf den richtigen Überzeugungen basiert.
Herr Kollege Jens, Sie sagen, daß die Sozialdemokraten grundsätzlich und sorgfältig über die Politik nachgedacht hätten. Das bezweifelt niemand, nur sind Sie zu den falschen Ergebnissen gekommen.
Wir können nicht immer wieder dieselben Argumente austauschen, daß Beschäftigungsprogramme, unter welchen Vornamen sie auch gehandelt werden, „Arbeit und Umwelt" und ähnliches, die falsche Politik in dieser Zeit wären.
Sie müssen sich immer wieder in Erinnerung rufen, daß die Beschäftigungsprogramme nur zu nachteiligen Konsequenzen führen würden; denn der Anteil der Zinslasten an den öffentlichen Haushalten würde dadurch laufend weiter steigen, höhere Steuereinnahmen müßten durch Steuererhöhungen erreicht werden, um das zu finanzieren, oder Sie müßten das über einen fortschreitenden Inflationsprozeß finanzieren, und das kann keiner wollen.
Ich darf abschließend sagen, meine Damen und Herren: Ich habe das Gefühl, wenn ich ein Politiker der Opposition wäre und dieses Gutachten gelesen hätte, so wären mir die Tränen in die Augen geschossen, weil die Politik der Opposition durch diese Gutachten in keinem Absatz unterstützt wird.
Deswegen werden wir diese Politik, die wir begonnen haben, konsequent fortsetzen; denn diese Wirtschafts- und Finanzpolitik ist das wesentliche Bindeglied dieser Koalition, und deswegen wird sie auch für die nächsten Jahre tragen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehrenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von Herrn Wissmann bis zu Herrn Solms fühlen sich die Regierungsparteien durch das Gutachten bestätigt; Herr Wissmann fühlt sich von der Sonne dieser Konjunktur beschienen.
Ich habe das Gefühl, Sie haben nur einen Teil des Textes gelesen und den Tabellenteil, jedenfalls in seiner Analyse, gar nicht; sonst könnten Sie nicht so reden.
Vielleicht haben Sie noch in Erinnerung: An diesem Pult hat am letzten Mittwoch — um Herrn Wissmann zu zitieren — kein geringerer als der Bundesfinanzminister gesagt, daß im ersten Halbjahr 1985 unter Berücksichtigung des Einbruchs im Baubereich die Investitionen insgesamt eine Zunahme um real 8,5 % aufzuweisen haben. Meine Damen und Herren, der Tabellenteil des Gutachtens weist für das erste Halbjahr 1985 einen Rückgang der Investitionen um real 3 % aus,
und für das ganze Jahr kommen die Gutachter zu einer realen Minderleistung der Investitionen um 1,5 %. Das ist schon ein sehr merkwürdiger Aufschwung, den Sie hier bejubeln, dessen bescheidene
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Dr. Ehrenberg21/4 % Wachstum ausschließlich auf öffentlichen und privaten Verbrauch und Export und mit einer rückläufigen Investitionsquote zustande gekommen sind. Was ist das für ein Aufschwung?
Falls Sie diese Zahlen nicht glauben sollten, meine Damen und Herren: Schauen Sie sich den Tabellenteil an! Dort wird festgestellt, daß die Bauten mit einem Volumen von 201 Milliarden DM einen Rückgang in nominaler Rechnung um 7 % aufzuweisen haben, die Ausrüstungen allerdings einen Zuwachs um 13 %; aber es ist dort auch nur ein Volumen von 155 Milliarden DM. Wenn Sie das zusammenzählen, dann bleibt Ihnen ein knappes 1/2 % in nominaler und ein Rückgang von 1,5 % in realer Rechnung übrig.
— Wir haben in den 70er Jahren sehr viel stolzere Zuwachsraten gehabt.
— In dieser Zeit hätten wir sehr viel mehr.
Ein bißchen Vorsicht sollten Sie auch bei den Einschätzungen der Institute walten lassen. Denn die gleichen Institute, die jetzt ein Wachstum der Investitionen um 1/2 % feststellen, haben im Herbstgutachten 1984 volle 4 % vorausgesagt. Vor diesem Hintergrund sind auch die 6 %, die sie jetzt voraussagen, noch keineswegs sicher.
Meine Damen und Herren, es wird dort auch etwas über die Arbeitslosigkeit gesagt, und zwar sehr deutlich. Die Institute stellen fest, entgegen all dem, was hier von Ihnen an diesem Pult zur Aktionswoche des DGB gesagt worden ist, daß 1985 die Arbeitslosigkeit 2 300 000 Menschen betreffen wird. Das ist der höchste Stand, den es je gegeben hat!
Sie sagen unter der Voraussetzung dieses Wachstums — das nach den nicht eingetroffenen Voraussagen des Vorjahres noch sehr unsicher ist — eine Abnahme um 50 000 voraus." Das heißt, es bleibt bei einer Arbeitslosenquote über 9,1 %. Andererseits würden sich die Institute ein bißchen mehr versprechen, wenn die vom Bundesarbeitsminister beabsichtigte Manipulation der Arbeitsmarktstatistik eintreten würde. Ich hoffe doch, der Bundesarbeitsminister wird diesen Schritt nicht tun, die 58jährigen aus der Statistik herauszunehmen, um die Arbeitslosigkeit optisch zu schönen. Bis jetzt hat er es vor.
Die Institute unterstellen, daß er es macht.
Meine Damen und Herren, die Institute fordern die Bundesregierung auf, den § 116 zu ändern und hier klare Rechtsgrundlagen zu schaffen. Ich kann der Regierung und den Instituten nur empfehlen, sich hierüber einmal mit Professor Wannagat zu unterhalten, der eindeutig darauf hingewiesen hat, mit welcher Mehrheit diese Anordnung zustande gekommen ist — nämlich mit mehr als 90 % —, daß sie von allen Bänken der Selbstverwaltung so beschlossen worden ist und wieviel das für den sozialen Konsens in unserem Lande bedeutet.
Alle, Regierung und Parlamentarier, die glauben, hier etwas ändern zu müssen, bitte ich, einmal darüber nachzudenken, was sie damit nicht nur bei den Arbeitnehmern, sondern auch bei den mittelbar betroffenen Unternehmern anrichten würden, wenn die Arbeitslosenunterstützung der Bundesanstalt für mittelbar Betroffene nicht mehr gilt. Dann hat der Arbeitnehmer, der nicht arbeiten kann, weil in der Lagerhaltung etwas fehlt, einen Anspruch auf Lohnzahlung, auch wenn die Arbeit nicht durchgeführt werden kann. Überlegen Sie sich, was Sie damit anrichten würden!
Das Wort hat der Abgeordnete Doss.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir warnen nicht vor diesen Gutachtern, sondern wir bedanken uns für ihre Gutachten. Wir waren immer in der Lage, positive wie auch negative Bewertungen entsprechend zu würdigen. Aber dieses Gutachten — und das verhehlen wir nicht — ist ein für uns sehr gutes Gutachten. Die Vision vom wirtschaftlichen Niedergang ist widerlegt, die Krisenbeschwörung von DGB und SPD wird durch das Gutachten der Wissenschaftler ad absurdum geführt.
Die wirtschaftliche Realität entspricht nicht der Stimmungsmache. Der Versuch, die Realität durch Propaganda zu verändern, ist gescheitert.
Das Herbstgutachten der wirtschaftswissenschaftlichen Institute beweist, daß die herbeigeredete und herbeigeschriebene Stimmung von der wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik Deutschland weit entfernt ist. Zahlen und Fakten bestätigen, daß wir auf dem richtigen Weg sind.
— Das Glas ist halb voll, Herr Ehrenberg. Davon können Sie ausgehen.
Und ohne Zukunft hat keiner eine Zukunft. Daß wir Schwierigkeiten haben, das wissen wir. Daß die Lage ernst ist, das wissen wir. Aber wir haben wieder Hoffnung. Herr Wissmann sagte es: Es ist Licht
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Dossam Ende des Tunnels. Der Aufschwung hat sich stabilisiert.
Die Politik der Bundesregierung ist durch das Gutachten eindrucksvoll bestätigt worden. Die düsteren Prognosen sind widerlegt. Wir wissen, daß die Wachstumszahlen, die in dem Gutachten — mit steigender Tendenz — bei 3 % gesehen werden, in erster Linie auf Erfolge der exportierenden Wirtschaft zurückzuführen sind. Hohe Wachstumsraten bedeuten nicht zwingend, daß sich die Auftragsbücher des Handwerks oder die Ladenkasse des Einzelhändlers füllen. Noch ist die Konjunktur gespalten, doch das Gutachten gibt auch hier tendenziell positive Hinweise. 1986 können wir mit einer stärkeren Belebung der Binnenwirtschaft rechnen.Diese Tendenz wird verstärkt durch die Zunahme der privaten Kaufkraft. Die Nettoeinkommen werden auf Grund der Steuerentlastung um rund 5 % steigen; die Nettozunahmen der Renten liegen sogar darüber. Vorruhestandsgeld, Erziehungsgeld, mehr Wohn- und Kindergeld führen dazu, daß die privaten Haushalte über insgesamt 4 Milliarden DM mehr an Einkommen verfügen. Der Zuwachs des realen Einkommens wird im kommenden Jahr doppelt so stark sein wie im Jahre 1985.Auch auf dem Bau gibt es wieder Hoffnung. Die Talsohle ist durchschritten. Auch hier geht es wieder aufwärts. Bauinvestitionen werden 1986 wieder steigen. Das Bauvolumen ist nicht weiter rückläufig.
Niedrige Zinsen — auch hier ist das die Wahrheit —
und gestiegene Einkommen verstärken die Nachfrage auf dem Immobilienmarkt. Die Aufstockung der Mittel für die Städtebauförderung hat einen Investitionsschub ausgelöst.
Die Nachfrage nach Wirtschaftsbau belebt sich; ob Ihnen das paßt oder nicht.
Die öffentlichen Bauinvestitionen werden 1986 wieder steigen. Auch ohne Ihre Einwürfe: Es geht aufwärts.
Analysen und Prognosen des Gutachtens weisen aus: Auch der Mittelstand wird im kommenden Jahr verstärkt am Aufschwung teilnehmen. Und das ist besonders erfreulich; denn geht es dem Mittelstand gut, geht es auch den Arbeitnehmern gut. Nur ein wirtschaftlich erfolgreicher Mittelstand, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann das Arbeitslosenproblem lösen.
Bereits heute stellen Handel, Handwerk, freie Berufe und die mittelständische Industrie zwei Drittel aller Arbeitsplätze und 80 % aller Ausbildungsplätze. Die Zahl der Selbständigen, über viele Jahre gesunken, steigt wieder. Auch sie schaffen Arbeits- und Ausbildungsplätze.
Sie sind Ausdruck des Vertrauens für die Regierung Kohl.
Keiner behauptet, daß wir alle Probleme gelöst haben und die Folgen
einer verfehlten SPD-Politik bereits aufgearbeitet haben. Vieles bleibt zu tun. Aber das Gutachten beweist: Wir sind auf dem richtigen Weg.Ich danke Ihnen für das Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kreile.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch ein Wort zur Steuerpolitik. Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute haben in diesem Herbstgutachten 1985 die Finanzpolitik und die Steuerpolitik der Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen nachdrücklich bestätigt. Die Forderung der Institute — ich zitiere —, Anreize so zu verändern, daß es sich für Unternehmen lohnt, in Sachanlagen zu investieren und Arbeitskräfte einzustellen, ist zu einem großen Teil bereits erfüllt. Die Schaffung besserer Rahmenbedingungen wird — auch dies tragen die Institute vor — zur wirtschaftlichen Gesundung und zur Überwindung der Arbeitsmarktkrise beitragen.Die steuerlichen Maßnahmen dieser Legislaturperiode — ich nenne nur die bereits durchgeführte Unternehmensentlastung im steuerlichen Bereich, die Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung der Familien mit Kindern und die Absenkung des Einkommen- und Lohnsteuertarifs — sind verwirklicht worden, ohne daß das vorrangige Ziel, die Haushaltskonsolidierung, dadurch beeinträchtigt worden wäre.Dem Erreichen dieses Ziels dient auch unsere Steuerpolitik, die eine Politik der Steuersenkungen ist. Dabei steht für uns im Vordergrund, daß eine größtmögliche Steuersenkung durchgeführt wird, wobei das beschlossene Volumen wichtiger als die Frage ihrer Umsetzung in einem oder in mehreren Schritten ist.
Die Steuerpolitiker der Koalitionsfraktionen haben sich von Anfang der Diskussion an dafür eingesetzt, die Steuerentlastung mit einem Volumen von 20 Milliarden DM in einem Schritt vorzunehmen. Man hat sich aber aus ernst zu nehmenden Gründen — erinnert sei z. B. an die Finanzierungsproble-
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Dr. Kreileme der einzelnen Länder, auch der SPD-Länder —, aber auch im Zusammenhang mit dem Wegfall der Investitionshilfeabgabe — Dr. Solms hat darauf nachdrücklich hingewiesen — für eine zweistufige Lösung entschieden.Auch wenn es nicht zuletzt wegen der Stetigkeit und Verläßlichkeit der Steuerpolitik, auf welche die Bürger einen Anspruch haben, bei dieser Entscheidung durchaus bleiben kann, ist doch der Hinweis der Institute von großer Bedeutung, daß Wachstumskräfte durch Steuersenkungen gestärkt werden. Die wirtschaftswissenschaftlichen Institute weisen zu Recht darauf hin, daß bei der ersten Stufe der Steuerreform, deren Volumen 11 Milliarden DM beträgt, die Nachfrageeffekte dominieren.
Die Erhöhung dieses Volumens um weitere nahezu 10 Milliarden DM wird dann den erforderlichen Aufschwung in der Konsumnachfrage weiter sichern.Unsere Finanzpolitik trägt damit dazu bei, daß der Anstieg des realen Sozialprodukts in den kommenden Jahren trotz der sich abschwächenden Expansion der Auslandsnachfrage unvermindert anhält. Auf diesem Wege gilt es weiterzugehen und wird von uns auch weitergegangen werden. Demgemäß stimmen wir mit der Forderung der wirtschaftswissenschaftlichen Institute überein, daß eines der Ziele der für die nächste Legislaturperiode geplanten Steuerreform die allgemeine Senkung der Steuersätze sein muß. Aber dies darf nicht das einzige Ziel sein; es kommen noch weitere Ziele hinzu:Erstens geht es zur allgemeinen Kräftigung der wirtschaftlichen Anreize um eine möglichst deutliche Senkung der Grenzbelastung des Einkommens.Zweitens aber geht es um die gezielte Senkung und Neuordnung der Steuern, die direkt oder indirekt auf Investitionen lasten, um einen steuerlichen Beitrag zur Sicherung der Investitionsbedingungen auch jenseits der gegenwärtigen Sonderaktion zu begünstigen.Drittens geht es uns um eine Verstetigung des Steueraufkommens unserer Gemeinden, d. h. um einen Umbau der Gewerbesteuer in Richtung einer vernünftigen, guten Gemeindesteuer, welche die Fehler der die deutsche Industrie in der EG allein belastenden Gewerbesteuer vermeidet.
Viertens geht es — damit bin ich am Ende — um die steuerpolitischen Einfälle, die wir allerdings haben müssen, um dem weiteren Wachstum der Schattenwirtschaft entgegenzuwirken und damit einen Teil des verlorenen Terrains zurückzugewinnen. Kurzum, wir müssen Steuerpolitik betreiben, die auch Subventionsabbau und Steuervereinfachung vorsieht, und es muß eine Steuerstruktur angestrebt werden, die sicherstellt, daß die deutsche Steuerpolitik im Rahmen der EG eine erfolgreiche, leistungsfördernde Steuerpolitik ist.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, bevor ich weiter das Wort erteile, darf ich eine Begrüßung vornehmen.
Auf der Ehrentribüne hat eine Delegation unter Leitung des Vizepräsidenten der Föderalversammlung der CSSR, Herrn Dr. Bohuslav Kucera, Platz genommen.
Im Namen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie, sehr geehrter Herr Präsident, und Ihre Delegation herzlich in der Bundesrepublik Deutschland. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und nützliche Gespräche in unserem Land.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Esters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Jahresgutachten der Forschungsinstitute zeigt in der Tat, wie Herr Kollege Wissmann von Sonnenschein gesprochen hat, eine Reihe von Lichtblicken in der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes.
Wir Sozialdemokraten begrüßen diese Lichtblicke ausdrücklich.
Nur, zu euphorischem Jubel besteht allerdings kein Anlaß.
Was nützen uns höheres Wirtschaftswachstum und niedrigere Preise, wenn immer noch über 2 Millionen Menschen ohne Arbeit auf der Straße stehen und 18 500 Firmenzusammenbrüche und Pleiten erwartet werden?
Herr Kollege Wissmann, da Sie von Seite 32 des Gutachtens zur Wirtschafts- und Finanzpolitik einen Satz zitieren, aber aufhören, wenn es um den staatlichen Teil geht, will ich den gern nachholen. In dem Zitat heißt es weiter:Das heißt aber nicht, daß der Staat aus seiner Verantwortung, Bedingungen für einen höheren Beschäftigungsgrad zu schaffen, entlassen werden darf.Dies ist genau unsere Meinung.
Auch die Institute rechnen für 1986 mit 2,25 Millionen Arbeitslosen. Hierfür trägt im Hinblick auf den Satz, den ich eben zitiert habe, die Bundesregierung ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung.
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EstersWir Sozialdemokraten haben schon im Sommer dieses Jahres kritisiert, daß der Entwurf des Bundeshaushalts 1986, seine Begleitmaßnahmen, aber auch die Finanzplanung keine nachhaltigen Impulse zum wirksamen Abbau der Arbeitslosigkeit leisten.
Wir werden jetzt in diesem Punkt durch die Forschungsinstitute bestätigt.
Sie kritisieren, daß unter die Ausgaben für investive Zwecke auch die Finanzierung von Projekten fällt, die nicht als wachstumsfördernd anzusehen sind. Sie kritisieren auch, daß bei den Maßnahmen zur Förderung der Stadterneuerung in den Fehler der Befristung verfallen wird und — so heißt es wörtlich — hier bereits eine neue Unstetigkeit bei den öffentlichen Investitionen angelegt ist.
Auch die Institute fordern, daß die Wachstumskräfte weiter gestärkt werden müssen.
Mit dieser Forderung stimmen wir überein.
Nicht überein stimmen wir mit dem vorgeschlagenen Weg hierzu. Ein Vorziehen der zweiten Stufe der Steuerentlastung bewirkt konjunktur- und beschäftigungspolitisch überhaupt nichts, weil aus unserer Sicht die Gesamtkonzeption falsch angelegt ist. Nachhaltige Wirkungen wären nur dann zu erzielen, wenn die gesamte Steuerentlastung auf kleine und mittlere Einkommen konzentriert würde. Nur so ist gewährleistet, daß die seit der Wende beschnittene Kaufkraft wieder nachhaltig gestärkt wird. Wir Sozialdemokraten haben vorgeschlagen, den Grundfreibetrag stärker zu erhöhen, die untere Proportionalzone zu verlängern und die Progression im unteren Bereich abzuflachen. Das entlastet dann vor allem die kleinen Einkommen und setzt Kaufkraft frei. Nur auf diese Weise ist eine Steuerentlastung konjunktur- und beschäftigungspolitisch wirksam und trägt zum Abbau der Arbeitslosigkeit bei. Sie ist darüber hinaus noch verteilungsgerecht.
Daneben sind selbstverständlich weitere Anstrengungen zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit notwendig. Wir Sozialdemokraten haben unsere Vorschläge hierzu gemacht. Herr Solms, im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, führen diese Vorschläge nicht in Richtung einer höheren Neuverschuldung. Wir haben unsere Finanzierungsvorschläge jeweils beigefügt.
Das Wort hat der Abgeordnete Scharrenbroich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sollten den Kollegen Mitzscherling und Esters sehr herzlich für die sachliche Art danken, wie sie die Erfolge der Politik der Bundesregierung gewürdigt haben. Herr Ehrenberg, Sie sollten das noch einmal nachlesen, damit Sie mit Ihren beckmesserischen Kassandrarufen aufhören.Nur, einen Satz möchte ich korrigieren. Sie haben gesagt, der Arbeitsminister habe vor, die 58jährigen aus der Arbeitslosenstatistik herauszunehmen. Wissen Sie, was wir machen? Wir bieten es den 58jährigen und älteren Arbeitslosen an, darauf zu verzichten, weiterhin der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen zu müssen.
— Meine Herren von der Sozialdemokratie, wie wenig können Sie sich in das Hirn und das Herz eines Arbeitslosen hineindenken! Sie wissen nicht, was in diesem Menschen vorgeht, wenn er permanent zur Arbeitslosenverwaltung gehen mull. Er ist doch froh, wenn er endlich in Rente gehen kann.
Herr Esters, Sie haben aus dem Steinbruch der Zitate einen Satz auf Seite 32 zitiert. Ich darf noch einen Satz hinzufügen. Es heißt dort:Rezepte zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, die ohne teilweise schmerzhafte Anpassungsprozesse auskommen, gibt es nach wie vor nicht.Auch das steht in dem Absatz auf Seite 32. Ich bitte Herrn Mitzscherling, daß er als ehemaliger Forscher des DIW seinen sozialdemokratischen Freunden behilflich ist, diese Erkenntnis zu übermitteln.
Das ist die Wahrheit, die Helmut Schmidt schon kannte, nach der er aber in seiner Koalition nicht handeln konnte, und das ist die Wahrheit, von der wir uns — auch wenn es schmerzhaft ist — in unserer Regierungspolitik leiten lassen. Und das ist die Wahrheit, die die fünf Forschungsinstitute jetzt übereinstimmend formuliert haben!Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen letzten Satz aus dem Absatz auf Seite 32 zitieren. Dort heißt es nämlich:Der Staat kann und muß die Anreize so verändern, daß es sich für die Unternehmen lohnt, in Sachanlagen zu investieren und Arbeitskräfte einzustellen,
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Scharrenbroichund für die Arbeitnehmer, sich weiterzubilden, Verantwortung zu übernehmen und beruflich regional mobil zu sein.Das ist genau die Mischung, aus der die erfolgreiche Politik unserer Bundesregierung besteht: erstens Wiederbelebung der Wirtschaft als Basis für alle Sozialpolitik, zweitens verstärkter Einsatz der Arbeitsmarktpolitik und drittens Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine beschäftigungspolitisch wirkungsvolle Tarifpolitik. Das ist unsere Politik!
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat dies inzwischen auch akzeptiert, denn in seiner „Aktionswoche" hat er nicht mehr — wie früher immer — den Vorwurf wiederholt, diese Bundesregierung überlasse die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nur den Kräften des Marktes. Er hat inzwischen erkannt, daß wir das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium viel stärker einsetzen, als Sie es vorher gemacht haben.Bei einer sorgfältigen Prüfung der „Aktionswoche" des Deutschen Gewerkschaftsbundes muß man, wenn man alle schädlichen Polemiken beiseite schiebt, feststellen, daß es Lernprozesse gibt.
Ein wirtschaftspolitischer Experte des Deutschen Gewerkschaftsbundes wie das ehemalige Mitglied des geschäftsführenden Bundesvorstandes Pfeiffer, zuständig für Wirtschaftspolitik, hat seinen Freunden auf einer sozialdemokratischen Konferenz gesagt:Die drei Elemente der beschäftigungspolitischen Strategie, die ich Ihnen soeben dargestellt habe — stabilitätsorientierte Geldpolitik, zurückhaltende Lohnpolitik und eine nachfragestützende Finanzpolitik —, bilden ein Ganzes und können nur gemeinsam mit Erfolg verwirklicht werden.Meine Damen und Herren, das sind die Rezepte von intelligenten Gewerkschaftern!
Ich meine, die Gewerkschaften sollten dieses Gutachten heranziehen, wenn sie ihre „Aktionswoche" jetzt sorgfältig analysieren. Eines muß klar sein: Kein verantwortlicher Gewerkschafter sollte jetzt Bedingungen für das Dreier-Gespräch stellen, das wir brauchen. Wir wissen, daß die Arbeitslosigkeit zu hoch ist; wir wollen sie abbauen.
Wir brauchen flankierende Maßnahmen. Deswegen kann ich jeden Gewerkschafter nur bitten, die Latte nicht zu hoch zu legen, denn sonst kommt er nicht mehr drüber und kann an dem Gespräch nichtmehr teilnehmen. Meine Damen und Herren, die Arbeitnehmer, die von den Gewerkschaftsfunktionären zu Demonstrationen aufgefordert worden sind,
erwarten, daß diese Gewerkschaftsfunktionäre jetzt zumindest bereit sind, an einem Gespräch teilzunehmen, um die Politik zu beeinflussen.
Das kann man nämlich nicht über die Straße. Wie erfolgreich das September-Gespräch war, können Sie daran sehen, daß den Arbeitslosen mit der siebten AFG-Novelle eben nur auf Grund dieses Gesprächs so geholfen werden wird, wie es jetzt der Fall sein wird.Danke schön.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, darf ich zunächst einige Mitteilungen machen.Am 14. Oktober 1985 hat der Abgeordnete Funk als Nachfolger für den verstorbenen Kollegen Dr. George die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den uns bereits aus der 9. Wahlperiode bekannten Kollegen herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.
Als Nachfolger für Dr. George hat die Fraktion der CDU/CSU für den Vermittlungsausschuß den Abgeordneten Jagoda als stellvertretendes Mitglied vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist Abgeordneter Jagoda als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden um die Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Erhebung der Künstlersozialabgabe in den Jahren 1986 und 1987 — Drucksache 10/4064 — und um die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP „Sicherung des Sports als Teil einer lebenswerten Umwelt" — Drucksache 10/4074 —. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Vereinten Nationen werden heute 40 Jahre alt. Im Ältestenrat bestand Einvernehmen darüber, daß wir aus diesem Anlaß alsbald eine Aussprache im Plenum des Deutschen Bundestages führen wollen. Heute müssen wir mit Rücksicht darauf, daß sich der Bundeskanzler und der Bundesminister des Auswärtigen zur Stunde in New York aufhalten, davon absehen. Die Fraktionen haben mich aber im Ältestenrat gebeten, den 40. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen mit einigen Sätzen zu würdigen. Diesem Wunsch komme ich gern nach.
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Präsident Dr. JenningerVerehrte Kolleginnen und Kollegen, die am 26. Juni 1945 einstimmig beschlossene Charta der Weltorganisation trat am 24. Oktober 1945 in Kraft, nachdem sie von den fünf Großmächten und der Mehrheit der Gründungsmitglieder ratifiziert worden war. Geschaffen wurden die Vereinten Nationen eigentlich aber noch während des Zweiten Weltkrieges, und zwar von den Kriegsgegnern Deutschlands. Nachdem der in der Folge des Ersten Weltkrieges gegründete Völkerbund den Zweiten Weltkrieg nicht hatte verhindern können, bekräftigten „die Völker der Vereinten Nationen" in der Präambel ihrer Charta den festen Entschluß — wie es wörtlich heißt —,künftige Geschlechter von der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, ...Dementsprechend sind internationale Koexistenz und Kooperation der Kern der in Art. 1 der VN-Charta verankerten Ziele und Grundsätze. Das Gewaltverbot des modernen Völkerrechts wurde in der VN-Charta so umfassend ausgestaltet, daß eine Gewaltanwendung für Einzelstaaten letztlich nur im Rahmen der Selbstverteidigung zulässig ist.Im Gegensatz zum Völkerbund haben die Vereinten Nationen in Gestalt des Sicherheitsrates auch ein zentrales Organ, dem die Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit obliegt. Und mit 159 Mitgliedern haben die Vereinten Nationen wirklich die Universalität — einschließlich aller Großmächte — erreicht, die Voraussetzung für das Funktionieren eines Systems kollektiver Sicherheit ist.Wenn das heutige Jubiläum dennoch kein Anlaß zu Jubelfeiern oder auch nur zu unbeschwerter Rückschau ist, so gibt es dafür eine Reihe von Gründen. Zunächst fällt auf, daß die Zahl der Staaten, die unserem Verständnis von Demokratie entsprechen, im Verhältnis zur Gesamtzahl der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen immer kleiner geworden ist. Das ist sicher kein Fehler der Weltorganisation, erklärt aber vielleicht, warum — entgegen den vielen guten Vorsätzen des Jahres 1945 — seit ihrer Gründung zahlreiche Kriege, Flüchtlingsströme unbekannten Ausmaßes, Hunger, Willkür und Unmenschlichkeit in vielen Teilen der Welt zu beklagen waren, warum Fremdherrschaft, die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts, Folter, Elend und millionenfache Schändung der Menschenwürde noch immer bedauerliche Realitäten in der Welt sind. Und vielleicht liefert der Rückzug der Demokratie in den Reihen der Mitgliedstaaten auch einen Beitrag zur Erklärung der Tatsache, daß eine ganze Reihe von Unterorganisationen der Vereinten Nationen für die Menschheit unersetzliche, j a unschätzbare Dienste leisten, während andere sich hauptsächlich durch Ideologisierung, Bürokratisierung, Mißmanagement und eine beklagenswerte Vergeudung kostbarer Ressourcen auszeichnen.Meine Damen und Herren, ich möchte nicht mißverstanden werden: Ich habe keineswegs die Absicht, alle Übel dieser Welt und alle Defizite der Vereinten Nationen auf die Entstehung zahlreicher neuer Staaten in Afrika und Asien, auf das Entstehen der Dritten Welt und ihr Erscheinen auf der New Yorker Bühne zurückzuführen.Vieles, sehr vieles hat sich — trotz des scheinbaren Stillstands der machtpolitischen Verhältnisse in Europa — in den letzten 40 Jahren grundlegend verändert und unmittelbare Auswirkungen auf die Vereinten Nationen gehabt. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Perez de Cuellar, hat in seinem ersten Jahresbericht zur 37. Sitzungsperiode 1982 die nationalstaatlichen Interessen als die Hauptursache der Schwäche der Vereinten Nationen benannt. Daran ist viel Wahres, aber daran wird sich leider auch in Zukunft nicht viel ändern.Doch wäre Resignation falsch. Vielleicht läßt sich ein fernes Ziel auch mit kleinen Schritten erreichen. Schließlich sind die Vereinten Nationen viel erfolgreicher als der Völkerbund. Das internationale Recht wurde auf ihrer Ebene wesentlich fortentwickelt. Außer dem Gewaltverbot wurden das völkerrechtliche Vertragsrecht, der internationale Menschenrechtsschutz und das Seerecht kodifiziert. Flüchtlinge in aller Welt leben von den Hilfsgütern der Organisation, Kindern wird das Überleben ermöglicht, und Kulturgüter der Menschheit werden vor dem Untergang bewahrt.Meine Damen und Herren, vor 40 Jahren haben die Völker der Welt voller Hoffnung auf die Vereinten Nationen geschaut. Sie tun dies — trotz aller Enttäuschungen und Ernüchterungen — auch heute noch. Wir dürfen den Menschen diese Hoffnung nicht nehmen. Das Weltforum in New York ist nicht nur als Stätte bilateraler und multilateraler Begegnungen, Gespräche und Kontakte nützlich, sondern es ist auch ein Element der internationalen politischen Kultur geworden. Vor allem ist es ein notwendiges Instrument für die Kleinen, die Hilflosen, die Ohnmächtigen, die Gedemütigten. Für sie sind die Vereinten Nationen ein Forum, um Willkür, Unrecht, Gewalt und Mißachtung der Menschenrechte vor den Augen der ganzen Welt — und auch im Angesicht der Mächtigen — beim Namen nennen und anklagen zu können.Ich leugne nicht, daß es dabei auch zu abstrusen, j a manchmal zu absurden Auseinandersetzungen gekommen ist und wohl auch in Zukunft kommen wird. Aber schon allein dieses Forum für die Ohnmächtigen rechtfertigt die Existenz der Vereinten Nationen.Die Weltorganisation ist nicht erst seit gestern in einer Krise; das ist wohl unbezweifelbar. Um so mehr müssen wir uns um Reformen bemühen, damit wir den Postulaten der Charta von 1945 in der Wirklichkeit wieder näher kommen. Mit „Aussteigen", mit Nicht-mehr-Mitmachen ist auch hier nichts getan.Für den Deutschen Bundestag möchte ich feststellen: Die Bundesrepublik Deutschland wird ihr ganzes Gewicht auch künftig in die Waagschale legen, um — entsprechend den Zielen der Weltorganisation — auf der Basis der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker den Frieden zu si-
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Präsident Dr. Jenningerehern, den Menschenrechten internationalen Schutz zu gewähren und die Zusammenarbeit zwischen den Völkern der Vereinten Nationen zur Lösung der internationalen Probleme zu fördern.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Beratung der Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Jugendprotest im demokratischen Staat"— Drucksache 10/2062 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Auswärtiger AusschußInnenausschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und WissenschaftAusschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitIm Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Götzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat". Wie Sie wissen, wurde der Bericht der Enquete-Kommission am 19. Mai 1983 im Plenum des Deutschen Bundestages behandelt und federführend an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und zur Mitberatung an neun weitere Ausschüsse überwiesen. Im Verlauf der weiteren Beratungen verlangte das Parlament mit Beschluß vom 29. Juni 1984 eine Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Bericht. Diese Stellungnahme liegt seit dem 2. Oktober 1984 vor und muß nun, damit sie in den zuständigen Ausschüssen beraten werden kann, an diese überwiesen werden.
Worum geht es in der Sache? Mit dieser Stellungnahme gibt die Bundesregierung Rechenschaft darüber, wie sie mit den Forderungen des EnqueteBerichts umgeht und wie sie sie in politische Initiativen einbringt. Damit haben wir uns heute zu befassen. Es geht also um die Umsetzung der Kommissionsvorschläge durch diese Bundesregierung in praktische Politik. Dazu will ich gleich eines feststellen: Noch nie, meine Damen und Herren, war Jugendpolitik in besseren Händen als bei dieser Bundesregierung.
Jugend hat wieder Zukunft. Die in der vorliegenden Stellungnahme angeführten Maßnahmen und Weichenstellungen belegen dies eindrucksvoll und können durch eine Fülle weiterer Beispiele ergänzt werden.
— Ich lächle über die Unruhe in Ihrem Lager. Ich verstehe sie natürlich sehr gut. Es ist bezeichnend, daß der Auftrag, Wege aus der Krise aufzuzeigen, an die Regierung Kohl gegangen ist, während die Einsetzung der Kommission, die sich mit dem Jugendprotest zu befassen hatte, unter der früheren SPD-Regierung notwendig geworden war. Am Ende der Ära Schmidt, meine Damen und Herren, waren auch die Zukunftsaussichten der jungen Generation am Ende.
Ich bin der festen Überzeugung: Heute würde der
Bericht der Enquete-Kommission anders aussehen.
Sicherlich hat die Abkehr Jugendlicher vom Staat eine ganze Reihe von Ursachen.
— Sie müssen zuhören, sonst können Sie keine Zwischenrufe machen. Gleichwohl ist ganz offenkundig, daß nicht zuletzt die über Jahrzehnte betriebene Politik der maßlosen Versprechungen angesichts der tiefen Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit bei jungen Leuten zur Frustration führen mußte. Das damals von den Herrschenden geförderte sogenannte kritische Hinterfragen seitens der Jugend machte dann auch verständlicherweise vor der eigenen Politik nicht halt. Dies einmal in Erinnerung zu rufen ist notwendig, um die Ausgangssituation zu verstehen, in der sich die Regierung Kohl bei der Erarbeitung ihrer Stellungnahme befand. Was der Bericht dokumentiert, kann sich wahrlich sehen lassen und gibt der Jugend Hoffnung auf eine chancenreiche Zukunft.
Herr Abgeordneter Götzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Wenn sie auf die Zeit nicht angerechnet wird, j a.
Ich rechne sie nicht auf die Zeit an.
Herr Kollege, dem Augenschein nach sind Sie nicht höheren Alters als ich.
Den Vorwurf nehme ich gern auf mich.
Nein, das ist kein Vorwurf, das war eine Kompliment, wenn ich das richtig verstehe. Ich wollte Sie fragen: Würden Sie der Jugend erklären, warum Sie ihr die BAföG-Förderung in einer so rüden Weise genommen haben?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12565
Herr Kollege, ich komme im nächsten Teil meiner Ausführungen auf einen ganzen Katalog von Maßnahmen, die diese Bundesregierung zur Verbesserung der Zukunftschancen der jungen Generation in die Wege geleitet und ergriffen hat. Daß beim BAföG einiges geändert werden mußte — so z. B. die Umstellung teilweise auf Darlehen —, daß im übrigen das August-BAföG wieder eingeführt wurde, das wissen Sie selbst ganz genau. Das gehört korrekterweise und fairerweise in Ihre Frage schon mit hinein. Im übrigen kennen Sie die Finanzsituation, die wir bei Regierungsübernahme vorgefunden haben, ganz gut.
Bildung, Ausbildung, Beruf bilden einen Schwerpunkt in der Stellungnahme der Bundesregierung. Was hat die Bundesregierung getan, um die Chancen der Jugend zu verbessern? Eine ganze Menge, meine Damen und Herren. Ich nenne einige Stichpunkte: Beschäftigungsförderungsgesetz, Vorruhestandsregelung, die zum Jahresende wohl bereits von 30 000 Personen angenommen sein wird, Rückkehrförderung für ausländische Arbeitnehmer, Abbau einstellungshemmender Vorschriften, eine Steigerung der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik von 6,9 Milliarden 1982 auf 9,2 Milliarden 1985, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gerade auch für Jugendliche unter 25 Jahren, wobei die Zahl der Teilnehmer sich von 7 950 im Jahre 1982 auf 24 770 im Jahre 1984 erhöht hat,
und eine Verdreifachung der Mittel im Zeitraum von 1982 bis 1985.
Wir wissen, daß eine höhere Qualifizierung auch eine Verbesserung der Chancen der jungen Leute auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt bedeutet. Deswegen haben wir die Siebente AFG-Novelle geplant, die 745 Millionen DM für Maßnahmen zur Qualifizierung, davon allein 135 Millionen DM für spezifische Maßnahmen für Jugendliche, vorsieht. Ich erinnere an das Benachteiligtenprogramm, an das Bildungsbeihilfenprogramm, an die Maßnahmen zur Fortbildung, Umschulung und Einarbeitung.
Meine Damen und Herren, der Erfolg bleibt nicht aus. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist erstmals gestoppt, die Zahl der Kurzarbeiter drastisch reduziert, die Zahl der offenen Stellen steigt. Wir haben allein in diesem Jahr ungefähr 165 000 neue Arbeitsplätze geschaffen, und es werden bis zum Jahresende 1986 wohl weitere 200 000 neue Arbeitsplätze sein.
— Wir haben bei der Jugendarbeitslosigkeit, Herr Kollege, auch einen leichten Rückgang gegenüber dem September 1982 zu verzeichnen, denn wir haben 1982 im September 187 214 und im September 1985 174 142 arbeitslose Jugendliche gehabt. Freilich sind wir hier noch lange nicht über den Berg. Aber wir können auch dieses Jahr einen Rekord bei neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen vorweisen. Waren es 1982 631 000, so stieg die Zahl 1984 auf 706 000; 1985 erwarten wir den Abschluß von mindestens 730 000 Ausbildungsverträgen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Weisskirchen?
Wenn dieselben Bedingungen wie vorhin gelten.
Es gelten immer dieselben Bedingungen, Herr Kollege.
Lieber Herr Kollege, würden Sie denn auch hinzufügen, wie es mit der Zahl der Ausbildungsplätze, gemessen an den Bewerbern, aussieht, daß wir nämlich sehr viel mehr Bewerber als Ausbildungsplätze haben?
Ich hoffe, Sie wissen, daß wir allein innerhalb der letzten drei Jahre in einer gemeinsamen Anstrengung unserer Wirtschaft 150 000 neue Lehrstellen geschaffen haben, und Sie wissen hoffentlich auch, daß die Zahl der Vermittelten im letzten Jahr bereits zwischen 95 und 99 % lag. Wir rechnen auch heuer damit, daß wir diesen Rekord wieder erreichen können. Da hilft auch alles Miesmachen und alles Krisenherbeireden nichts. Die Zahlen sprechen eine eigene Sprache.
Sie kennen, um einen anderen Bereich zu nennen, die familienpolitischen Maßnahmen: Erziehungsgeld, Kinderfreibeträge, Zuschlag zum Kindergeld, wieder Kindergeld für arbeitslose Jugendliche zwischen 18 und 21, Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, Stiftung „Mutter und Kind", um nur Stichworte zu nennen.Ich nenne den Ansatz für den Haushalt 1986 beim Einzelplan 15, der um 13,3 % gegenüber 1985 gestiegen ist, nämlich von 16,074 Milliarden auf 18,206 Milliarden DM.Ich könnte die Förderung von Existenzgründungen nennen. Ein ganzes Bündel von Programmen existiert hier. Wir haben Programme für ausländische Jugendliche, wir haben umfangreiche Maßnahmen zur Erhaltung unserer Umwelt ergriffen. Auch die Neuordnung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung gehört hierher.Ich will zu dem letzten Punkt noch ein Wort sagen. Wir haben eine Regelung gefunden, die vorsieht, daß in der Entscheidung für den Zivildienst die Probe auf die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung zu sehen ist. Wenn Sie die Zahlen der eingegangenen Anträge auf Kriegsdienstverweigerung 1983 und 1984 vergleichen, dann erkennen Sie, daß unser Gesetz Wirkung zeigt und zu Recht gekommen ist. Die Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung ging von 68 334 im Jahre 1983 auf 43 875 im Jahre 1984 zurück. Dies ist ein überzeugender Beweis für die Richtigkeit dieses Kurses.Meine Damen und Herren, so viel in aller Kürze zu dieser, wie ich meine, imponierenden ersten Bilanz. — Es gibt freilich noch eine Menge zu tun. Es ist auch nicht mit legislativen Maßnahmen und finanzieller Förderung allein getan. Das so oft beklagte Sinndefizit läßt sich nicht mit volleren Taschen ausgleichen und der möglicherweise vor sich gegangene Wertewandel nicht lediglich durch einen
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12566 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
GötzerRegierungswechsel rückgängig machen. Was wir brauchen, meine Damen und Herren, ist ein Geistwechsel.
Und für diesen gibt es auch bereits unübersehbare Anzeichen.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Das Gerede von der Null-Bock- und No-future-Generation ist nahezu verschwunden. Eine große Mehrheit der Jugendlichen sieht heute wieder optimistisch in die Zukunft.
Von Aussteigertum und Verweigerungsmentalität ist kaum noch etwas zu spüren. Leistungsbereitschaft und Engagement für die Gemeinschaft und unsere Umwelt nehmen wieder zu. Immer weniger Jugendliche sind heute bereit, sich von Minderheiten und Randgruppen dominieren und Außenseiter das öffentliche Bild von der Jugend bestimmen zu lassen.
Die Zahl der jungen Männer, die bereit sind, in der Bundeswehr zu dienen und damit einen Beitrag zu unser aller Sicherheit zu leisten, steigt.
Die Mehrheit der jungen Leute wird immer größer, die erkennen, daß Krawalle, Haß und Gewalt die Probleme unserer Tage nicht lösen helfen, sondern nur Bereitschaft zur Toleranz, zum Kompromiß und ein Grundkonsens in den elementaren Fragen unseres Zusammenlebens.Meine Damen und Herren, diese Entwicklung kann freilich nur von Dauer sein, wenn wir der jungen Generation bei der Suche nach Zielen und Orientierungen zur Seite stehen. Ich bekenne mich in diesem Zusammenhang nachhaltig und ausdrücklich zur Aufgabe der im Staat Verantwortung Tragenden, geistig-politische Führung wahrzunehmen. So muß u. a. im Interesse der jungen Generation von den Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft die Frage beantwortet werden, was unser Volk und die Ordnung der Bundesrepublik Deutschland über Bedürfnisse und Interessen hinaus zusammenhält. Es geht darum, zu definieren, worin sich dieses Land substantiell von einem Verein zur Befriedigung des Verlangens nach einem immer angenehmeren, immer sorgloseren Leben unterscheidet. Wer sich dazu bekennt, meine Damen und Herren, kommt freilich um die Präsentation eines überzeugenden Kataloges von bürgerlichen Idealen und Tugenden, die für eine Gemeinschaft unverzichtbar sind und denen wir wieder Geltung verschaffen wollen, nicht herum.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte, kommen Sie zum Schluß.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.
Ich nenne einige: Vertrauen zum Leben und zur Welt, Bereitschaft zur Selbsterhaltung durch eigene Anstrengung, realistisches Welt- und Selbstverständnis, Gemeinsinn, Patriotismus.
Meine Damen und Herren, es ist in den 13 Jahren SPD-Politik viel Vertrauen verspielt worden, das die Jugendlichen in Regierung und Staat gesetzt hatten. Der angerichtete Schaden geht weit über das Parteipolitische hinaus.
Dieses Vertrauen zurückzugewinnen ist unsere Aufgabe und Verpflichtung. Mit dem von uns eingeschlagenen Kurs sind wir auf dem richtigen Weg.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im Demokratischen Staat" entstand auf dem Hintergrund der Jugendproteste von 1981. Er entstand auf einem anderen Hintergrund als dem, den Sie, Herr Götzer, hier beschrieben haben. Mit Ihren verkürzten Aussagen werden Sie den Problemen, die zu diesem Bericht geführt haben, wirklich nicht gerecht;
denn es ging um zwei zentrale Fragen, die man hier nicht mit dem fast buchhalterischen Auflisten von, in dem Zusammenhang, Nebensächlichkeiten bewältigen kann.
— Sehr wohl, genau auf diesen zentralen Punktkomme ich noch einmal zurück. Die Fragen lauten:Erstens. Wie steht die Gesellschaft zur Veränderung von Werteprioritäten?Zweitens. Wie wird die Gesellschaft mit einer tiefgreifenden Umbruchsituation fertig, die die Jugendlichen schon sehr viel schärfer erkannt haben als die Erwachsenenwelt?
Das sind die beiden zentralen Fragen. Die haben Sie mit Ihren — ich will es einmal so sagen — Junge-Union-Parolen nicht erfaßt. Das ist das Problem Ihrer Rede. Ich kann Ihnen nur empfehlen, diese Rede einmal Jugendverbänden bekanntzumachen. Die werden sagen: Mit denen kann man wenig anfangen. Zu Recht!Was war der Auftrag der Enquete-Kommission? Ihr Auftrag war, herauszufinden, welche neuen gesellschaftlichen und politischen Zielsetzungen für politisches Handeln angesichts dieser beiden von mir beschriebenen Grundursachen notwendig sind. Wir sagen: Die Enquete-Kommission hat beachtliche Ergebnisse erzielt. Die Bundesregierung hat diese beachtlichen Ergebnisse fast überhaupt nicht
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Müller
zur Kenntnis genommen, sondern weitgehend totgeschwiegen.
Das ist die Situation. Das kann man an sehr vielen Punkten nachweisen.Man muß sich wirklich auch einmal die Frage stellen: Was nützen Enquete-Kommissionen, die in wichtigen gesellschaftlichen Situationen wie damals beim Jugendprotest entstanden sind, wenn sie, sobald die jeweilige Situation nicht mehr so sehr in den Zeitungsspalten steht, überhaupt keine Rolle mehr im Parlament spielen? Ist das dann nicht eine Alibiveranstaltung? Und fühlen sich nicht die Jugendlichen getäuscht? Wissen Sie nicht auch, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wieviele Jugendverbände bei uns nachgefragt haben, was aus dem Bericht denn eigentlich werde? In den letzten Wochen haben wir wieder eine Reihe von Resolutionen von Jugendorganisationen bekommen, die fragen: Haben Sie das eigentlich nur zur Show gemacht? Wenn man an die Entwicklung der letzten zwei Jahre denkt, muß man diesen Jugendlichen und dieser Kritik recht geben; man muß sie unterstützen. Ich finde, diese Situation ist bedenklich.
— Wenn Sie unserem Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gefolgt wären, dann wäre das schon ein Schritt nach vorn gewesen. Wenn Sie unseren Vorschlägen zur BAföG-Wiederherstellung gefolgt wären, hätten wir das auch sehr begrüßt.Ich will einmal über die intellektuelle Unredlichkeit bei der Aufstellung dieses Programms reden. Da werden in einem Zwischenbericht, der vor der Wende erstattet worden ist, einstimmig Aussagen gemacht, zu denen ich sage: Hut ab; dieses Parlament beschäftigt sich über alle Fraktionen hinweg mit den Problemen der Jugendlichen.Da werden Aussagen gemacht, die weit über das hinausgehen, womit sich ein Parlament, das sehr aktuell bezogen agiert, normalerweise beschäftigt. Da werden Aussagen z. B. in Richtung auf mehr Mitgestaltung, mehr Mitverantwortung von jungen Leuten gemacht. Dazu gibt es ganz konkrete Vorschläge. Da werden Aussagen zu der Zunahme kommerzialisierter Medienangebote gemacht. Da werden Aussagen darüber gemacht, daß man Leistungen in dieser Gesellschaft neu bewerten muß. Da werden Aussagen darüber gemacht, daß man mit Sorge die Zunahme wirtschaftlicher Interessen in politischen Entscheidungen sehe.Dann kommt die Wende. Dann ist das alles nicht mehr wahr. Wenn man vorher die Analyse des Zwischenberichts behandelt hat, der, ich sage es noch einmal, einstimmig verabschiedet wurde, und nun die Forderungen mit den verschiedenen Minderheitsvoten vergleicht, stellt man auf einmal fest: Es war politischer Opportunismus, der zur Einstimmigkeit geführt hat.
So kann man mit Jugendlichen nicht umgehen; um das ganz klar zu sagen.Was sagen Sie, Herr Wissmann, beispielsweise zu den Forderungen, die darin zur überbetrieblichen Finanzierung von Ausbildungsplätzen stehen? Was sagen Sie heute dazu? Heute steht in der Unterrichtung der Bundesregierung: Wir lehnen es ab. Was sagen Sie denn zu Frauenförderungsplänen? Klar, Sie haben nachher ein Minderheitsvotum abgegeben, nachdem Sie im Zwischenbericht dafür waren. Ich kenne das.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wissmann?
Noch einen Augenblick, damit Herr Kollege Wissmann das zusammenfassen kann. — Was sagen Sie denn zu der Mehrheitsempfehlung im Bericht der EnqueteKommission, bei BAföG nichts zu verändern? Was sagen Sie denn dazu, alle Formen der Arbeitszeitverkürzung anzuwenden? Was sagen Sie zu der Forderung, ein modernes Arbeitszeitgesetz zu machen? Was sagen Sie dazu, daß sich der Jugendarbeitsschutz nicht verschlechtern darf, wie es in dem Kommissionsbericht steht. Was sagen Sie zu dem Punkt Förderung von Genossenschaften? Das wollen Sie nicht mehr wahrhaben.
Bitte, Ihre Frage!
Herr Kollege, meinen Sie nicht, daß es sinnvoll wäre, den Bericht etwas weniger polemisch zu behandeln und beispielsweise zur Kenntnis zu nehmen, daß es sowohl im Zwischenbericht wie im Endbericht an einigen der von Ihnen genannten Punkte — beispielsweise bezüglich einer Abgabenlösung für eine überbetriebliche Ausbildungsplatzfinanzierung — einen ausdrücklich festgehaltenen Dissens gegeben hat? Meine Bitte wäre, dies doch zur Kenntnis zu nehmen.
Der Zwischenbericht ist einstimmig verabschiedet worden.
Als Kommissionsvorsitzender sollten Sie, Herr Wissmann, das wissen. Andernfalls wären die Dokumente falsch; dann hätten Sie sie korrigieren müssen. Aber erstens steht in den Dokumenten eindeutig, daß der Zwischenbericht einstimmig verabschiedet worden ist.
Zweitens kann ich Ihnen noch weitere Beispiele bringen. Darin steht beispielsweise auch, daß man sich gegen die Verlängerung und Erschwerung des Zivildienstes wendet. Was haben Sie beispielsweise in der letzten Sitzungswoche gemacht, auch Sie, Herr Wissmann?
Es ist klar, daß man bei Sonntagsveranstaltungenimmer anders redet. Nur, das ist nicht gut, gerade
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Müller
das fördert den Glaubwürdigkeitsverlust, den wir alle gemeinsam nicht haben dürfen.
Es sind auch noch andere Punkte darin, beispielsweise die Unterstützung von Forderungen nach atomwaffenfreien Zonen und vieles anderes mehr.Sie sind da auf einmal nicht mehr beteiligt. Na klar, jetzt ist auch der Druck nicht mehr da. Ich warne aber davor, daß man glaubt, daß sich die Situation bei den Jugendlichen wirklich geändert hat. Ich will das an vier Beispielen dokumentieren.
— Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Wissmann, war ich jahrelang Vorsitzender eines Jugendwohlfahrtsausschusses und habe mich intensiv mit Jugendproblemen in der Praxis und vor Ort beschäftigt. In diesen Konkurrenzkampf lasse ich mich gern mit Ihnen ein!
Erstes Beispiel. Sehen Sie sich die Shell-Studie an: 71 % der Jugendlichen, ein höherer Anteil denn je, hat in der letzten Shell-Jugendstudie gesagt: Die Bundesregierung kümmert sich nicht in dem Maße, wie das notwendig ist, um die Probleme der Jugend. Das ist der höchste Prozentsatz, den es je gegeben hat.Das zweite Beispiel aus der Shell-Studie: Über 70 % der Jugendlichen sind der Auffassung, daß insbesondere zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Verbesserung der Zukunftsperspektiven von jungen Menschen viel zuwenig geschieht. Auch das ist der höchste Prozentsatz, den es bisher gegeben hat.
— Sie sind in einer ganz anderen Sicht wieder zufriedener, weil sie sich nämlich mehr auf sich besinnen
und erkannt haben, daß sie vielfach mit der älteren Generation nicht die Politik machen können, die sie haben wollen. Erinnern Sie sich daran, daß die Shell-Studie den neuen Begriff der „Selbstbehauptung" eingeführt hat, der bedeutet, daß Jugendliche erkannt haben, daß sie sich mehr auf sich selbst stützen müssen.
Ich finde das sehr positiv, aber im Umkehrschluß ist das natürlich ein sehr negatives Zeichen für die Politik von uns allen. Das sollten wir nicht vergessen. Ich halte das zumindest für ein alarmierendes Zeichen.
Ich finde es sehr positiv, wenn Jugendliche selbständiger werden. Das ist völlig klar. Aber die damit verbundenen Negativaussagen gegenüber der Politik und gegenüber Erwachsenen in der Shell-Studie stimmen mich sehr bedenklich. Nehmen Sie die ernst!
— Ich habe ja gesagt: sie sind weiter gewachsen.
— Nein, die sagt nichts anderes. Wir haben uns das gestern abend noch angehört.
Zweiter Punkt. Die Studie „Jugend und Krise", die für die Hans-Böckler-Stiftung erstellt wurde, stellt fest, daß insbesondere die Fragen der Mitgestaltung, der Mitbestimmung, der Selbstbestimmung von Jugendlichen zentrale Zukunftsaspekte sind. Sie sagt: Unsere Form der politischen Organisation trägt dem kaum Rechnung. Auch das ist ein Punkt, über den wir sehr viel intensiver nachdenken müssen,
wo die Politik auch andere Angebote als die bisherigen machen muß.
Ich meine uns alle.Dazu gehört auch die Aussage in der Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung über das ungeheuer angestiegene Mißtrauen gegenüber der Politik, gegenüber staatlichen Institutionen,
gegenüber der privaten Wirtschaft und vieles andere mehr. Ich glaube, wir müssen in der Organisation von Politik darüber nachdenken. Wir können eigentlich kein Interesse daran haben — da gebe ich der Frau Ministerin Süssmuth völlig recht —, Jugendforschung dazu zu benutzen, die Jugend hinzuhalten, sondern wir sollten sie als Anleitung für anderes politisches Handeln benutzen.Das dritte Beispiel, das ich nennen möchte und das uns Angst macht, sind die Unruhen in England. Ich will nicht sagen, daß wir die Unruhen in England auf die Bundesrepublik übertragen können. Das wäre auch gefährlich. Aber wenn wir sehen, daß Arbeitslosigkeit der zentrale Punkt für die Unruhen war, dann müssen wir uns auch deshalb in der Bundesrepublik mehr Gedanken machen, wie wir Jugendlichen helfen können, in Arbeit zu kommen. Daß wir da in großen Bereichen Probleme haben
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Müller
— völlig klar —, das hängt natürlich mit der Entwicklung unserer Wirtschaftssysteme, mit der Veränderung der Industriestruktur zusammen, aber es ist die Aufgabe der Politik insgesamt.Ich meine, zuletzt gehören dazu auch die negativen Ereignisse, die wir insbesondere in den Fußballstadien erleben, nicht nur das spektakuläre Ereignis von Brüssel, sondern auch das, was wir jeden Samstag und Sonntag bei Bundesligaspielen erleben. Auch das muß uns mehr Sorge und Ernsthaftigkeit abringen als bisher.
Lassen Sie mich zuletzt noch einen Satz zur Frau Ministerin sagen. Die Frau Ministerin hat gesagt: Die Jugendforschung kann das Gespräch mit der Jugend nicht ersetzen. Ich finde, dieser Satz ist richtig. Ich finde übrigens auch Ihre kritischen Anmerkungen zu mancher Methode der Studien berechtigt. Bei der Presseerklärung hat sie manche sehr nachdenkenswerte Ansätze gemacht.Aber ich glaube, richtiger ist es zu sagen: Jugendforschung darf politisches Handeln nicht ersetzen. Das muß der Kern für uns alle sein.Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute zwar mit der Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Jugendprotest im demokratischen Staat", lassen Sie mich trotzdem feststellen: Der Bericht der Enquete-Kommission ist noch immer lesenswert. Zwar hat sich seit 1982 einiges gewandelt. Der allgemeine Protest ist weniger lautstark und spektakulär. Bei den auffälligen, medienwirksamen Auftritten einer Minderheit — ich denke an die letzten Ereignisse in Frankfurt und in anderen Großstädten sowie an die Dauerveranstaltung an der Startbahn West in Frankfurt — handelt es sich im Kern um Außenseiter, die nicht für die junge Generation charakteristisch sind.
Aber obwohl es ruhiger geworden ist, bedeutet das noch lange nicht, daß die dem Protest zugrunde liegenden Probleme verschwunden sind. Wenn man den Bericht der Enquete-Kommission aufmerksam liest, findet man eine umfassende Darstellung der Probleme unserer Zeit — ich betone: unserer Zeit. Denn es sind überwiegend Probleme, die die gesamte Gesellschaft unseres Staates betreffen.
Nur bewirken sie bei Jugendlichen eine heftigere Reaktion, da sich junge Menschen noch nicht so leicht mit den Dingen, wie sie nun einmal sind, abfinden. Was viele von uns aus Gewöhnung und Resignation hinnehmen, stößt bei Jugendlichen —ich meine: zu Recht — zumindest auf die Frage nach dem Warum und bei nicht einleuchtender Erklärung auf Protest und Ablehnung.
Die Bereiche, in denen Fragen gestellt und Antworten erwartet werden, berühren jeden Bereich des Lebens, von der Familie mit ihren vielfältigen Beziehungen der Mitglieder untereinander, in die die Beziehungen der Kinder und Jugendlichen zu den Eltern eingebettet sind, über die Stellung des einzelnen im Staat bis hin zu den Beziehungen unseres Staates zu anderen Staaten. Stichworte wie antiautoritäre Erziehung, neue Schulformen, Numerus clausus, Arbeitslosigkeit, Gewaltmonopol des Staates, Glaubwürdigkeit von Politik und Politikern, Friedenssicherung durch durch Bündnisse und Verteidigungsbereitschaft oder durch Abrüstung, Bundeswehr und Wehrdienstverweigerung, um nur einige aus dem Bericht der Enquete-Kommission zu nennen, umfassen jeweils Bereiche, in denen junge Menschen Erfahrungen mit der Gesellschaft machen, die nicht immer positiv sind.Der Bericht der Enquete-Kommission enthält zu fast jedem Problem eine hervorragende Analyse und gibt auch für die Bewältigung wichtige Hinweise und Empfehlungen. Die Stellungnahme der Bundesregierung listet auf, was im einzelnen bereits in Berichten diagnostiziert oder durch Gesetze in die Wege geleitet worden ist. Wir Liberale hoffen sehr, daß die weitere Beratung im Ausschuß noch mehr Anregungen zur Bewältigung der Probleme erbringt.
Aus der Fülle der Themen, die der Bericht der Enquete-Kommission behandelt, möchte ich hier aus Mangel an Redezeit nur einige herausgreifen. Die Bewältigung der Jugendarbeitslosigkeit sehe ich als ein zentrales Problem an, einerseits, weil es von ausschlaggebender Bedeutung für das Leben eines jungen Menschen und seiner weiteren Entfaltung ist, ob er eine seinen Fähigkeiten entsprechende Arbeit findet. Seine Einstellung zu diesem Staat wird davon geprägt werden, ob er in diesem Staat einen Platz findet, der ihm eine selbstverantwortliche Existenz ermöglicht. Die Bewältigung dieses Problems ist andererseits aber auch deshalb so wichtig, weil Jugendarbeitslosigkeit — ich spreche hier von der echten Jugendarbeitslosigkeit und nicht von jenem jungen Mann, der, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtet hat, nicht gewillt ist, von Norddeutschland nach Süddeutschland zu ziehen, um einen Arbeitsplatz zu finden — das Problem der ansonsten doch sehr vielschichtigen Problematik des Arbeitsmarktes ist.Da wir auf diesem Gebiet nicht tatenlos zusehen können, sollten wir mehr Mut zu neuen Ideen und unorthodoxen Formen der Beschäftigung haben. So hat die Enquete-Kommission in ihrem Bericht auch alternative Projekte und Betriebe als Versuche, Arbeitslose nicht nur zu betreuen und zu verwalten, sondern ihnen sinnvolle Beschäftigungs-, Arbeits-
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Frau Dr. Segallund Qualifikationsmöglichkeiten zu eröffnen, gewertet.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, ich habe Ihren sachverständigen Rat im Ausschuß immer geschätzt. Aber tun Sie gut daran, die Jugendlichen so zu qualifizieren, daß Sie sagen, sie seien nicht fähig, dem Arbeitsplatz nachzureisen? Wäre es nicht Aufgabe der Gesellschaft, Arbeit am Ort, in der Region zu schaffen, in der die Familie lebt?
Herr Lutz, das Problem der Mobilität der Arbeitslosen ist ein echtes Problem, über das man einmal in aller Ruhe diskutieren sollte. Sie können nicht in jedem Fall erwarten, daß für jeden Arbeitssuchenden eine Fabrik gebaut wird, die ihm an seinem Ort einen Arbeitsplatz bietet.
Von einem jungen Menschen, der in einer modernen Industriegesellschaft lebt, kann man diese Mobilität doch wohl erwarten. — Wenn ich nur einmal an mich denke, wie oft ich von Ort zu Ort gezogen bin, um einen Arbeitsplatz zu bekommen, und wenn ich daran denke, wie das schon bei der Generation meiner Eltern der Fall gewesen ist, dann meine ich, daß wir hier doch einmal versuchen sollten, uns in aller Ruhe darüber zu unterhalten, ob da nicht bei der Mobilität das Problem liegt. Ich weiß, da kommen die Probleme mit dem Freundeskreis, in späteren Jahren dann die Probleme mit dem Häuschen. Darum habe ich auch nur von den Jugendlichen gesprochen. Also, dieses Beispiel, daß ein junger Mensch nicht bereit ist, einem Arbeitsplatz an einen anderen Ort zu folgen, hat mich erschüttert.
Die Enquete-Kommission setzt sich für die öffentliche Förderung auch von alternativen Projekten ein. Eine solche Förderung könnte, wenn dabei die Mindestanforderungen, die bei der Vergabe von öffentlichen Mitteln gestellt werden müssen, eingehalten werden und eine Kontrolle über die Verwendung der gewährten Mittel erfolgt, durchaus sinnvoll sein. Außerdem ist das Risiko für den öffentlichen Geldgeber nicht sehr groß, wenn man die Förderung degressiv gestaltet und sich vorbehält, bei Projekten, die sich nicht bewähren, die Förderung einzustellen. Die totale Funkstille von seiten der Bundesregierung zu diesen Vorschlägen kann nicht befriedigen.
Einer Rede des Ministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Frau Professor Süssmuth, entnehme ich, daß auch sie für eine stärkere Anerkennung solcher neuen Organisationsformen wie z. B. Selbsthilfegruppen von Jugendlichen für soziale und ökologische Fragen eintritt. Vielleicht ist mit der Obernahme des Ministeriums durch Frau Professor
Süssmuth auf eine positivere Beurteilung und entsprechende Förderung solcher Projekte zu hoffen.
Und noch ein Bereich ist in der Stellungnahme der Bundesregierung nur sehr kurz behandelt worden, obwohl auch er für Jugendliche zu den prägenden Erfahrungen gehört: die Schule. Der Bericht der Enquete-Kommission hat sich ausführlich mit der Problematik der Leistungsbewertung in der Schule befaßt und die Frage gestellt, ob sich aus der derzeitigen Form der Leistungsbewertung ein Entsolidarisierungseffekt ergibt, weil sie Schüler gegen Schüler in ein Konkurrenzverhältnis zwingt. Ich weiß, daß ich hier einen neuralgischen Punkt berühre, der in der öffentlichen Diskussion über unser Schulsystem eine zentrale Rolle spielt. Mir ist auch klar, daß die Bundesregierung wegen der Kulturhoheit der Länder für diese Frage nicht zuständig ist. Dennoch bin ich der Meinung, daß die in dem Bericht dargelegten Zusammenhänge zwischen der Praxis der Leistungsbewertung in unseren Schulen und dem häufig beklagten mangelnden Leistungswillen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch die Bundesregierung veranlassen sollten, sich diesem Problem zu stellen. Daß die Art der Leistungsbewertung häufig auch den weiteren Bildungsweg eines jungen Menschen entscheidend beeinflußt und daß demzufolge falsch gestellte Weichen infolge falscher Leistungsbewertung ein ganzes Leben in die falsche Richtung laufen lassen können, sei hier nur am Rande bemerkt. Protest und Ablehnung allein sind jedoch nicht geeignet, Probleme zu bewältigen.
Insofern ist es tröstlich, daß der Bericht der Enquete-Kommission feststellt, daß es zur Wirklichkeit der Jugend in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor gehört, daß der große Teil der Jugend mit sozialem, gesellschaftlichem und politischem Engagement in den Jugendorganisationen mitarbeitet. Daß unsere Jugend mehrheitlich unserer Gesellschaft positiv gegenübersteht, belegt auch die neueste Shell-Studie „Jugendliche und Erwachsene 1985 — Generationen im Vergleich". Die Wissenschaftler ziehen aus ihren Ergebnissen den Schluß, es handele sich bei der westdeutschen Jugend heute um eine Generation toleranter, liberal gesinnter Demokraten.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Zeitler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Enquete-Bericht, der der Stellungnahme der Bundesregierung zugrunde liegt, wird festgehalten: „Öffentlichkeit und Gesprächspartner aus der jungen Generation nahmen Einsetzung, Auftrag und mögliche Erfolge der Kommissionsarbeit überwiegend skeptisch und kritisch auf." Sie haben, was den Bericht und was die Politik der Bundesregierung anlangt, recht behalten. Das Anliegen der Jugendlichen ist — im Enquete-Bericht scheint es noch manchmal durch — die Forde-
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Frau Zeitlerrung nach Leben, Lebendigkeit, Gemeinsamkeit und Lust, nach Freude und Gerechtigkeit.Diese Anliegen der Jugendlichen werden im Bericht der Bundesregierung konterkariert. Der Bericht, der eigentlich aufzeigen soll, wie weit oder ob überhaupt die Regierung auf die Vorwürfe und Forderungen der Jugendlichen eingeht, liest sich wie eine Anleitung zum Irrewerden, und Sie, Herr Kollege Götzer, leiden offensichtlich schon daran; das haben Sie eben eindrucksvoll bewiesen.
Wenn die Jugendlichen gegen Giftmüllskandale, Lebensmittelvergiftung, Waldsterben, Smog und Verkehrstote protestieren, wenn sie um den Bilderbuchbauernhof trauern, der in der Wirklichkeit zur Legebatterie und zur Fleischfabrik verkommt, wenn sie sich gegen todbringende Raketen, Atomfabriken und Wiederaufbereitungsanlagen wehren, was antwortet die Bundesregierung? Sie „prüft", ob sich „ökonomische Anreize für umweltfreundliches Verhalten finden" lassen, damit „das Eigeninteresse der Wirtschaft am Umweltschutz gestärkt werden" kann,
natürlich an einem Umweltschutz, der auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig verkauft werden kann.
Das ist Bedingung. Wettbewerbsfähig sind moderne Technologien, und deshalb sind sie auch umweltfreundlich. Wer das nicht glaubt — so die Stellungnahme der Regierung und der Kommission —, verallgemeinert eben seine Kritik an Großkonzernen und Regierung, und das tut man doch nicht! Das nenne ich irre.
Für diejenigen, die meinen, in einer am Profit orientierten Gesellschaft käme man vielleicht mit Ge- und Verboten weiter — was die Bundesregierung j a ausdrücklich nicht so gern hat —, zählt der Bericht eine Vielzahl von Verordnungen und Programmen zur Verminderung der Belastung der Umwelt durch Schadstoffe, Abgase und Abwasser auf. Falls einer dann immer noch meint, wir würden nicht in einem Naturschutzgebiet leben, bekommt er damit den Mund gestopft.
Den Jugendlichen, die Angst nicht nur vor dem ökologischen Holocaust, sondern auch noch vor der atomaren Aufrüstung, den Raketen und den Lagern mit chemischen Waffen im Nachbarwäldchen haben, die den Tod auf beiden Seiten der Mauer fürchten und die der Borniertheit, dem Haß und der Kalte-Krieger-Mentalität unserer Kriegspolitiker und Kriegsstrategen mißtrauen,
wird ein „neuer Mangel" attestiert: Sie sind nicht mehr belastbar, sie haben Lebensangst
und die Vorstellung von einer verschlossenen Zukunft.
Der tiefere Grund ist nicht etwa in der täglich erlebbaren realen Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu sehen, sondern in der Ich-Schwäche und der selbstsüchtigen Konzentration auf die eigene Person, die den heutigen Jugendlichen bescheinigt wird. So steht es jedenfalls im Bericht der Enquete-Kommission, den die Bundesregierung an dieser Stelle „sehr ernst" nimmt.Ich kann hier nur eine Schwäche und selbstsüchtige Konzentration bei der Bundesregierung feststellen,
die außer Selbstbespiegelung und Selbstbeweihräucherung nichts leistet und so lange behauptet, wir lebten in einem Zuckertopf, wie im Salz noch ein Zuckerkorn zu finden ist.
Aber noch einmal zurück zur Meinung der Regierung über unsere Jugendlichen: Der „neue Mangel", der unseren Jugendlichen anhaftet, entsteht nämlich laut Enquete-Kommission durch mangelnde Zuwendung, mangelnde persönliche Geborgenheit, mangelndes soziales und gefühlsmäßiges Angenommensein,
und das, obwohl die Bundesregierung feststellt, daß die Familie der Hort der Geborgenheit ist, wo „die Menschen Verhaltensweisen lernen, die unsere Gesellschaft prägen:
Liebe und Vertrauen,
Toleranz und Rücksichtnahme, Opferbereitschaft und Mitverantwortung".
So Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung vom Mai 1983.
Kein Wort über Kindesmißhandlung in Familien,
über geschlagene Frauen, über Tabletten- und Alkoholsucht,
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12572 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
Frau Zeitlerüber die Droge Fernsehen und Video im bundesdeutschen Familienalltag
— auch das! —, kein Wort über die Kürzung des Mutterschaftsurlaubsgeldes
und die Aufweichung des Kündigungsschutzes beim Erziehungsurlaub demnächst. Wer spinnt hier eigentlich?Ich habe mir übrigens mal vorzustellen versucht, wie ein Jugendlicher sein müßte,
der, ermutigt durch partnerschaftliche Erziehung in der Familie — so lautet nämlich die Empfehlung der Kommission —, Reformbewußtsein und Engagement in der Gesellschaft zeigt. Dieser Jugendliche müßte gelernt haben, den Mund zu halten, müßte, ohne zu fragen, funktionieren, egal, wo man ihn hinstellt, und er müßte verantwortungsvoll die Scheiße auslöffeln, die andere ihm eingebrockt haben.
In so einem Fall würde er wohl auch eine Lehrstelle bekommen.
Er würde dann sozial angenommen.
Aber laut Stellungnahme der Bundesregierung gibt es j a keine Reglementierung und Auslese im Bildungs- und Ausbildungsbereich.
Denn die Bundesregierung wahrt laut Bericht die„Freiheit der Bildungsentscheidung des einzelnen".Ist das nicht irre? Trotz 100 000 Jugendlichen, die keine Ausbildungsstelle bekommen, davon zwei Drittel Mädchen,
trotz BAföG-Kahlschlag und Gedränge an den Hochschulen wegen Doppelbelegung: Die Bundesregierung läßt dich frei entscheiden — und dann im Regen stehen.
Ähnlich empfinden wohl auch die jugendlichen Arbeitslosen, die auf das Beschäftigungsförderungsgesetz und den Abbau des Jugendarbeitschutzes verwiesen werden. Mit diesen Gesetzen werden auf dem Rücken der Jugendlichen der Abbau von Arbeitnehmerrechten und die Ausweitung ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse betrieben. An derSchwelle zum Erwachsenwerden, wo Jugendliche ihren Platz in der Gesellschaft suchen, wo sie allmählich fähig und bereit werden, für sich und zunehmend für andere Verantwortung zu übernehmen, werden sie herumgestoßen, herumgeschubst und rausgedrängt. Wenn die Jugendlichen dann von der Gesellschaft und vom Staat enttäuscht sind, ist das kein überzogenes Anspruchsdenken, sondern gesundes Mißtrauen.
Die Enttäuschung der Jugend wächst auch, weil sie der Undurchschaubarkeit der politischen Entscheidungswege gegenüberstehen,
und weil sie erleben, daß sie keine Mitbestimmungs- und Einflußmöglichkeiten auf die Gestaltung der Zukunft haben, die ihre Gegenwart sein wird.Neben die Enttäuschung tritt dann der Verlust an Glaubwürdigkeit von Politikern und Parteien. Wen wundert das angesichts von Parteispendenaffären? Auch das jüngste Beispiel industrieller Einflußnahme, die Androhung von Produktionsverlagerungen hessischer Konzerne bei Zustandekommen einer rot-grünen Koalition,
bestätigt den Jugendlichen den Zusammenhang zwischen Staat und Kapital und ihrer eigenen Ohnmacht.
Die Jugendlichen sehen ihre Lebens- und Zukunftspläne von der Politik dieser Regierung und ihrer Helfershelfer bedroht.
Nicht grundlos stellt die Kommission eine Entfremdung der Jugendlichen vom Staat fest und verweist darauf, daß diese durch kurzfristige taktische Maßnahmen nicht mehr behoben werden kann.Und die Bundesregierung? Sie reagiert auf das Engagement der Jugendlichen für eine lebenswerte Zukunft, für Selbstbestimmung und Verantwortung nur mit Behinderung, Blockierung, Ignoranz, im schlimmsten Fall mit Gewalt in Form von Polizeieinsatz.
Jüngstes Beispiel sind die Vorfälle in Frankfurt, wo anläßlich von Aktionen gegen Neo-Nazis Günter Sare, von Wasserwerfern gehetzt, überfahren wurde.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12573
Frau ZeitlerDie darauffolgenden Proteste und Demonstrationen wurden eiskalt und autoritär zerschlagen.
Das gleiche passierte in München nach der Demonstration gegen die Wiederaufbereitungsanlage — —
— Die Gewalttätigkeiten, die in diesem Zusammenhang von einigen Demonstrationsteilnehmern ausgingen, lehnen wir ab. Das ist nicht unser Weg.
Sonst säßen wir nicht auf diesen harten Bänken. Aber die Ursachen für diese Ausschreitungen hat die Bundesregierung geschaffen. Sie schürt mit ihrer Politik die Ängste der Jugendlichen, und sie unterstützt den Einsatz von Polizeikräften, die bei Auseinandersetzungen brutal durchgreifen, ohne die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren.
Diese Politik, die von den Bürgern nicht mehr als menschlich und gerecht empfunden wird, muß sich — das hat auch die Kommission herausgefunden — nach ihrer Legitimität fragen lassen.
Frau Kollegin — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ein letzter Satz. — Die Jugendlichen, die in jeder Gesellschaft ein Stück Bewegung und Erneuerung bedeuten, stellen diese Frage. Sie haben unsere Unterstützung dabei, denn nicht die Jugendlichen, sondern das System ist krank.
Danke.
Liebe Frau Kollegin Zeitler, ich bleibe bei meinen Einwendungen gegen Entgleisungen in der deutschen Sprache im parlamentarischen Gebrauch. Ich möchte Ihnen das hier sagen, weil ich das schon öfter getan habe. Man kann die sprachliche Anpassung auch übertreiben, man muß es aber nicht tun.
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Frau Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Zeitler, Sie haben hier ein Bild gezeichnet, das deutlich macht, daß Sie von unserer Verfassung und den Zuständigkeiten der Verfassungsorgane nun absolut keine Ahnung haben.
Frau Kollegin Zeitler, wenn Sie freundlicherweisezuhören könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ichhabe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. — Ich willmich ganz gerne mit Ihnen unterhalten. Ich habe Ihnen eine erste Antwort gegeben; ich möchte Ihnen auch noch eine zweite geben. —Frau Kollegin Zeitler, wenn man hier Äpfel und Birnen in einen Topf wirft, indem man den Bericht, den Mitglieder des Deutschen Bundestages erstellt haben, und die Antworten, die die Regierung darauf zu geben hat, einfach zusammenwirft, dann erhält man eine Nachspeise, die nach meinem Verständnis von der Aufgabe, die das Parlament zu leisten hat und die die Regierung zu leisten hat, absolut nicht mehr schmecken kann.
Ich meine daher, wir sollten hier sehr deutlich auseinanderhalten, was die Kollegen seinerzeit in mühevoller Arbeit zusammengetragen haben, was sie in vielen Diskussionen mit Jugendlichen und nicht gegen sie erreicht haben; man hat nicht über sie geredet, sondern man hat mit ihnen geredet.
— Oh, Sie haben Pech. Liebe Frau Kollegin Zeitler, ich war Mitglied dieser Kommission. Ich bin mit meinen Kollegen von der SPD, der CDU und der FDP durch die gesamte Bundesrepublik Deutschland gereist.
— Das lassen Sie einmal unsere Sorge sein. Wir haben viel gelernt. Ich glaube, durch solch unqualifizierte Zwischenrufe wie die, die Sie gerade gemacht haben, liefern Sie kein Beispiel dafür, wie man Gespräche mit der Jugend führt, um ihr mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Das ist der Stil, den die junge Generation eben nicht will.
— Entschuldigen Sie vielmals, ich kenne Sie nicht, Herr Kollege, und weiß von daher nicht, welche Erfahrungen in Sachen Jugendarbeit und Jugendpolitik Sie haben. Ich nehme für mich allerdings in Anspruch, daß ich nicht über die Jugend rede, sondern mit der Jugend.
Darum möchte ich auch Ihnen den guten Rat geben, wenn ich das darf, nicht pauschal solch unqualifizierte Aussagen zu machen, und zwar unabhängig davon, wer die Regierungsverantwortung hat.
Herr Kollege Müller, wir haben gemeinsam gute Erfahrungen in den Jugendwohlfahrtsausschüssen zweier Großstädte sammeln können. Das tut uns hier im Miteinander der Darstellung von Problemfeldern im Bereich der Jugendpolitik auch gut. Aber ich möchte auch Sie daran erinnern, daß der Deut-
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12574 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
Parl. Staatssekretär Frau Karwatzkisehe Bundestag die Bundesregierung beauftragt hat darzulegen, welche Forderungen in politisches Handeln umgesetzt worden sind, nicht aber, welche Diagnose die Bundesregierung zu diesem Bericht stellt. Wenn wir uns darauf verständigen können, meine ich sagen zu können, Herr Kollege Müller, daß manches, was Sie ausgeführt haben, verkürzt gewesen ist. Aber ich weiß von Ihnen, daß Sie den Bericht sehr eingehend studiert haben. Daher möchte ich annehmen, daß das nicht wissentlich falsch dargestellt worden ist, sondern lediglich auf Grund der Kürze der Zeit etwas verfälscht. Das ist aber nicht als Kritikpunkt gedacht. Vielmehr meine ich, daß wir uns das gegenseitig sagen sollten, wenn es erforderlich ist.Es gäbe noch sehr viel zu sagen, auch an die Adresse von Frau Segall in Sachen Funkstille zur Frage der Selbsthilfegruppen. Frau Kollegin Segall, gerade auf dem Feld der Wirtschaftsförderung gibt es ja viele Programme, mit denen Selbsthilfekräfte akzeptiert, ja animiert werden, etwas zu gestalten. Man kann, glaube ich, Selbsthilfe nicht nur immer begrenzen auf den Bereich von Jugend oder Soziales. Vielmehr muß man Selbsthilfe in all ihrer Vielfalt sehen.Nun zu meiner eigentlichen Stellungnahme. Die Bundesregierung bewertet den Enquete-Bericht in seiner Anlage und in der Vielfalt seiner Gesichtspunkte als ein grundlegendes jugendpolitisches Dokument. Die Stellungnahme der Bundesregierung zum Enquete-Bericht zeigt, daß sie die einmütigen Empfehlungen nahezu vollständig übernehmen und verwirklichen konnte. Erstmals liegt damit auch eine breite Bestandsaufnahme der politischen Aktivitäten des Bundes zugunsten der Jugend und der jungen Erwachsenen vor. Hier schließe ich die vor uns Verantwortung tragende Bundesregierung ein.Die Bundesregierung hat die Hilfen für ausbildungssuchende und arbeitslose Jugendliche, wie sie von der Enquete-Kommission gefordert wurde, ausgeweitet. Mit dem Benachteiligtenprogramm, dem Bildungsbeihilfenprogramm und mit einer Reihe weiterer gesetzlicher Maßnahmen hat der Bund einen Beitrag dazu geleistet, daß im Ausbildungsjahr 1984/85 bis zu 95 % der Jugendlichen, die eine berufliche Ausbildungsstelle suchten, auch eine solche erhalten haben. Angesichts der noch immer schwierigen wirtschaftlichen und auch demographischen Lage ist das eine Leistung vor allem von Industrie und Handwerk, die Dank und Anerkennung verdient.Dabei wissen wir um die Sorgen, die Anstrengungen und auch die Enttäuschungen, die junge Menschen auf der Suche nach Ausbildungsplätzen auf sich nehmen mußten. Wir sehen aber auch einen Silberstreif am Horizont. Der Aufwärtstrend in der Wirtschaft und die demographische Entwicklung werden mit einem gewissen Zeitverzug auch eine Entspannung bei den Ausbildungsplätzen herbeiführen.Nach wie vor große Sorge bereitet uns die Schwelle von der beruflichen Ausbildung ins Erwerbsleben. Der Bund hat deshalb seine Anstrengungen, seinen Aufwand zugunsten arbeitsloser Jugendlicher massiv ausgeweitet. Für das Jahr 1985 ist mit einer weiter steigenden Gesamtteilnehmerzahl in berufsvorbereitenden Maßnahmen, in Maßnahmen zur beruflichen Fortbildung, Umschulung oder betrieblichen Einarbeitung und in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu rechnen. Die Siebente AFG-Novelle wird eine weitere zahlenmäßige Ausweitung der Begünstigten und eine Verbesserung der Leistungen für Jugendliche bringen. Das alles zeigt, daß die Bundesregierung die Bewältigung der Jugendarbeitslosigkeit für ein jugendpolitisches Schlüsselproblem hält.Mädchen und junge Frauen haben nach wie vor erheblich größere Schwierigkeiten bei der Ausbildungs- und Arbeitsstellensuche als junge Männer. Wir verschweigen das nicht. Der steigende Anteil der Frauen in den Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, bei den Sonderprogrammen des Bundes resultiert einerseits aus den besonderen Schwierigkeiten dieser Bevölkerungsgruppe, zeugt aber zugleich auch von dem Bemühen des Bundes um gezielte Hilfen. Vor allem aber beweist er die Bereitschaft der Frauen, Chancen für eine qualifizierte Bildung zu ergreifen und damit ihre Berufschancen zu verbessern.Einmütig ist in dem Enquete-Bericht hervorgehoben worden — ich zitiere —, „daß das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ... im wesentlichen nur im Rahmen einer allgemeinen Wiederherstellung der Vollbeschäftigung gelöst werden kann". Die Bewältigung der Jugendarbeitslosigkeit ist daher letzten Endes keine jugendpolitische Aufgabe, sondern eine der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu einem weiteren Aspekt kommen: Ein wichtiges Instrument der Jugendpolitik und der Jugendförderung des Bundes ist der Bundesjugendplan. Trotz der Notwendigkeiten der Haushaltskonsolidierung des Bundes wurden die Mittel des Bundesjugendplans nicht gekürzt, sondern erhöht. Das Volumen des Bundesjugendplans stieg von 127 Millionen DM im Jahre 1982 auf 135,5 Millionen im Jahre 1985.
Für 1986 ist eine weitere Steigerung auf 138 Millionen DM vorgesehen. Damit wurde auch einer weiteren Empfehlung der Enquete-Kommission entsprochen.Im Bundesjugendplan — sowohl in der institutionellen wie in der Projekt-Förderung — kommt der Jugendverbandsarbeit eine hervorragende Bedeutung zu. Die Bundesregierung bekennt sich zur Autonomie der Jugendverbände, zu einer weltanschaulich und politisch pluralistischen Förderung ihrer Jugendarbeit und zu partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Jugendverbänden und Staat.
Wir müssen aber auch Verständnis dafür einfordern, daß die Bundesregierung für die Verwendung öffentlicher Mittel eine Gesamtverantwortung gegenüber dem Parlament hat. Es ist ein groteskes
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12575
Parl. Staatssekretär Frau KarwatzkiMißverständnis, diese Verantwortung als Zumutung parteipolitischen bzw. regierungsamtlichen Wohlverhaltens zu karikieren. Gerade im Internationalen Jahr der Jugend stelle ich fest: Die Bundesregierung hat ihren Willen, den Jugendaustausch auf der Grundlage der Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit auch mit den kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas auszubauen, wiederholt bekräftigt.
Frau Staatssekretär, würden Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Suhr gestatten?
Ich möchte die Ausführungen zu diesem Aspekt ganz gern noch zu Ende führen, dann ja.
Gut, Sie sagen Bescheid.
Wir sind der Auffassung, daß dies nicht nur jugendpolitisch, sondern auch außenpolitisch wünschenswert ist, weil damit der Verständigung und dem Frieden gedient wird. — Herr Präsident, jetzt wär's mir recht.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Suhr.
Frau Karwatzki, da Sie hier für die Autonomie der Jugendverbände eintreten, möchte ich Sie doch fragen, warum Sie z. B. dem Verband der Jungen Europäischen Föderalisten 300 000 DM an Fördermitteln gestrichen haben, nur weil die ein Sonderheft zu Rüstungsexporten der Bundesrepublik gemacht haben.
Also, Herr Kollege, ich weiß davon nichts, aber ich mache mich sachkundig.
— Nein, das ist nicht traurig. Ich bekenne mich dazu, daß ich nicht alles wissen kann, was in unserem Hause gefördert und gegebenenfalls gestrichen wird. Sie dürfen sicher sein, daß ich Ihnen dies in einem offenen Brief mitteilen werde. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß eine solche Maßnahme in unserem Haus getroffen worden ist.Ich fahre fort: Nach der Novellierung des Jugendschutzgesetzes wird sich das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit dafür einsetzen, daß die rundfunkrechtlichen Jugendschutzregelungen in den entsprechenden Landesgesetzen wirksamer gestaltet und auf möglichst hohem Niveau vereinheitlicht werden und daß innerhalb Europas möglichst bald verbindliche Jugendschutz-normen für den grenzüberschreitenden Rundfunk geschaffen werden.
Gleichermaßen wichtig, als „positiven Jugendschutz", wollen wir die produktive Auseinandersetzung Jugendlicher mit den elektronischen Technologien und den neuen Medien durch Forschungsprojekte und Modellvorhaben zur Medienpädagogik und zum Umgang mit neuen Techniken unterstützen. Wir wollen damit dazu beitragen, daß die Risiken des technischen Fortschritts bewältigt und seine Chancen genutzt werden. Der Jugend-VideoPreis, den wir auf den Weg gebracht haben, ist in diesem Zusammenhang zu sehen.Es ist das große Verdienst der Enquete-Kommission, daß ihr Bericht gegen Pauschalurteile über die junge Generation vorgegangen ist. An deren Stelle hat er eine differenzierte und den verschiedenen Lebenslagen Jugendlicher angemessene Analyse gesetzt. Aber noch immer kann man in der Öffentlichkeit das Schlagwort von der Null-Bock-Generation hören. Gegen diese Abwertung unserer jungen Generation wende ich mich mit aller Entschiedenheit.Die vom Deutschen Gewerkschaftsbund und vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit gemeinsam in Auftrag gegebene Jugendstudie stellt klar, daß von einer Abwendung der Jugend von Beruf und Arbeit keine Rede sein kann. Arbeit und Beruf haben für die meisten jungen Menschen einen zentralen Stellenwert als Kristallisationspunkt ihrer Ansprüche auf ein selbstgestaltetes Leben. Dabei stehen nicht Träume von unrealistischen Berufskarrieren oder Hoffnungen auf das „große Geld" als Motiv der Jugendlichen im Vordergrund. Sie werden vielmehr vom Wunsch nach einer inhaltlich befriedigenden Tätigkeit geleitet, in die sie sich als Person einbringen können, in der sie Anerkennung, Selbstbestätigung und das Gefühl sozialer Integration finden wollen.
Dies gilt für beide Geschlechter. Auch die Mehrheit der jungen Frauen kann sich ihr Leben nicht ohne Berufstätigkeit vorstellen, ohne daß sie deshalb die Perspektive einer Familiengründung aufgeben.Der Rückgang, meine Damen und Herren, rein materieller Motive in Arbeit und Beruf zugunsten des Wunsches, etwas Sinnvolles zu leisten, darf nicht mit dem vielzitierten postmaterialistischen Bewußtsein — also dieses Fachwort mußte ich jetzt leider nennen — und der Hinwendung zur alternativen Kultur und zu alternativen Betrieben verwechselt werden. Unsere Untersuchung ergab, daß man nicht dorthin seine Hoffnung richtet, sondern diesen Anspruch im normalen Arbeitsleben verfolgen will. Sie wollen nicht aussteigen, sondern unternehmen alle Anstrengungen, um einzusteigen. Und wir müssen ihnen dabei helfen.Diese Jugend ist keine verzogene und verhätschelte und der Lust am Konsum hingegebene Generation. Konsumfetischismus ist eher der Vorwurf, den Jugendliche an viele Erwachsene richten. Nartürlich will auch die heutige Jugend keine Not leiden und wünscht sich materielle und soziale Sicherheit. Wir stellen aber einen zunehmend bewußten und überlegten Umgang mit dem Geld fest. Doch läßt man sich mit Geld das Bedürfnis nach mensch-
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12576 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
Parl. Staatssekretär Frau Karwatzkilicher Gemeinschaft, nach Geborgenheit und nach Sinnerfüllung nicht abkaufen. Ich sehe in diesen Befunden nichts von „Null-Bock", sondern den Willen zur Mitarbeit und Integration.Dabei ist es für Jugendliche heute nicht immer leicht, ihren Weg in einer komplexen, dynamischen Industriegesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland zu finden. Die Enquete-Kommission hat daher die gesamtgesellschaftlichen Ursachen von Unbehagen, Unruhe und Protest hervorgehoben. Mit diesen gesamtgesellschaftlichen Ursachen sind nicht nur die offenkundigen Themen und Sorgen wie die Zerstörung der Natur, die Gefährdung des Friedens und der Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen gemeint. Als tieferliegende Ursachen bezeichnet der Enquete-Bericht — ich zitiere — den „neuen Mangel", den Mangel an Zuwendung und persönlicher Geborgenheit, den Mangel an sozialem und gefühlsmäßigem Angenommensein, die Belastung durch Lebensangst und Unsicherheit auf dem Hintergrund von — ich zitiere — „Undurchschaubarkeit und Unpersönlichkeit der modernen Industriegesellschaft". Der Bericht hat zu Recht beklagt, daß „das Gespräch zwischen den Generationen häufig verstummt ist".Politik für die Jugend ist deshalb mehr als Jugendpolitik, meine Damen und Herren. Wir brauchen ein Konzept von Gesellschaftspolitik, das dazu beiträgt, Jugendlichen das Gefühl zu geben, angenommen zu werden, zu Hause sein zu können, Vertrauen erfahren zu dürfen. Wir wollen mit unserer Gesellschafts- und Jugendpolitik dazu beitragen, jungen Menschen jenes Maß an Vertrautheit mit unseren Lebensverhältnissen und an Orientierung in unserer pluralen Kultur zu vermitteln, das sie auf ihrem Wege in die Gesellschaft brauchen. Wir brauchen eine Politik, die nicht auf Ausgrenzung, sondern auf soziale Eingliederung angelegt ist,
eine Politik, die nicht nur auf Emanzipation zielt, sondern Jugendliche auch zu verantwortlicher Bindung hinführt. Wir müssen mit den Institutionen, in denen Jugendliche aufwachsen, behutsam umgehen. Wir wollen sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen. Dazu gehört die Familie, dazu gehören die Kirchen, dazu gehören auch die Schulen und Universitäten, dazu gehören die außerschulischen Einrichtungen der Jugendarbeit und Jugendbildung.Dabei wissen wir aus eigener Erfahrung wie aus empirischen Untersuchungen — wie die jüngste Shell-Studie verdeutlicht —, daß wir, die Erwachsenen, daß die gesellschaftlichen Institutionen nicht mehr auf unbefragte Autorität pochen können. Die unübersehbaren gesellschaftlichen Veränderungen, ja, Brüche stellen an uns neue Anforderungen der Lernfähigkeit. Die Bereitschaft, zuzuhören, zu lernen, ist von beiden Generationen, von jung und alt zu fordern. Ich verstehe diese Bereitschaft als Chance zu einem neuen Gespräch, wenn die Generationen aus ihren jeweiligen Panzern der Selbstgerechtigkeit herauskommen.Bereitschaft zum Zuhören ist nicht zuletzt von den Politikern, den Parteien, den Parlamenten gefordert, weil wir zu selten zuhören, wird auch unsere Sprache vielfach nicht mehr verstanden. Wenn unsere Sprache nicht mehr verstanden wird, kann auch nicht mehr die Sache verstanden werden, um die es geht. Wenn Jugendliche nicht mehr verstehen, was vorgeht, wenn sie sich nur noch als Objekte, nicht als Subjekte der Politik fühlen, kann es nicht verwundern, daß uns manche den Rücken kehren. Die meisten jungen Menschen begreifen unsere gesellschaftlichen Probleme als Herausforderung an den eigenen Gestaltungswillen, als Anstoß zu Engagement, zu Kreativität und zur Mitwirkung im Gemeinwesen. Eine freiheitlich organisierte Gesellschaft braucht die Jugend für ihre Zukunft. Sie kann ihre Mitwirkung nicht erzwingen, sondern muß zu überzeugen suchen und zur Mitverantwortung ermutigen.Meine Damen und Herren, der Wille zur Mitverantwortung drückt sich in einer nahezu unumstrittenen Zustimmung zur Demokratie aus. Antidemokratische, rechts- oder linksextremistische Parteien finden keine Resonanz bei jungen Bürgern. Die demokratische Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland erweist sich als offen und lebendig genug, auch neuen Impulsen und Ideen Jugendlicher Entfaltungsraum zu gewähren.Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit, auch wenn es etwas länger geworden ist.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 10/2062 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Büchner , Lambinus, Amling, Antretter, Dr. Apel, Bachmaier, Bamberg, Bernrath, Frau Blunck, Brück, Büchler (Hof), Buckpesch, Catenhusen, Daubertshäuser, Dr. Diederich (Berlin), Duve, Egert, Dr. Emmerlich, Ewen, Fischer (Homburg), Dr. Haack, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Hauck, Dr. Hauff, Immer (Altenkirchen), Jansen, Kastning, Kiehm, Kißlinger, Klein (Dieburg), Dr. Klejdzinski, Kolbow, Dr. Kübler, Kuhlwein, Lennartz, Lohmann (Witten), Frau Dr. Martiny-Glotz, Meininghaus, Menzel, Müller (Düsseldorf), Müller (Schweinfurt), Dr. MüllerEmmert, Müntefering, Dr. Nöbel, Oostergetelo, Pauli, Dr. Penner, Frau Renger, Reschke, Reuter, Schäfer (Offenburg), Frau Schmedt (Lengerich), Frau Schmidt (Nürnberg), Schmidt (München), Schmitt (Wiesbaden), Dr. Schmude, Dr. Schöfberger, Schreiner, Schröer (Mülheim), Stahl (Kempen),
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12577
Vizepräsident WestphalFrau Steinhauer, Stiegler, Tietjen, Toetemeyer, Vahlberg, Waltemathe, Wartenberg , Weinhofer, Dr. Wernitz, Frau Weyel, Wimmer (Neuötting), Wolfram (Recklinghausen), Zander, Frau Zutt und der Fraktion der SPDSport und Umwelt— Drucksache 10/3650 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Sportausschuß
InnenausschußBeratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPSicherung des Sports als Teil einer lebenswerten Umwelt— Drucksache 10/4074 —Überweisungsvorschlag:Sportausschuß InnenausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind eine gemeinsame Beratung des Tagesordnungspunktes 3 und des Zusatztagesordnungspunktes 4 und eine Aussprache von 60 Minuten vorgesehen. — Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Lambinus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf wohl auch sagen: Liebe Sport- und Umweltfreunde! Die SPD- Fraktion greift mit ihrem Antrag „Sport- und Umwelt" die Sorgen vieler Sportvereine und -verbände, vieler Sporttreibender, aber auch vieler Kommunen auf. Es geht uns in erster Linie um die bedenklich zunehmende Zahl von gerichtlich verfügten Ganz- oder Teilsperren von Sport- und Freizeitanlagen auf Grund sogenannter „Lärmschutzklagen". Wir wollen mit unserer Initiative dazu beitragen, daß Bund, Länder und Gemeinden im Zusammenwirken mit den Sport- und Umweltorganisationen die Grundlagen dafür schaffen, daß es zu einem dauerhaften, wirkungsvollen und sinnvollen Interessenausgleich zwischen Sport und Umwelt kommt. In diesen Zusammenhang gehört auch die große Anfrage meiner Fraktion „Ökologische und Ökonomische Situation im deutschen Alpenraum". Beide parlamentarische Aktivitäten beweisen, wie ernsthaft wir Sozialdemokraten uns in unserer Sport- und Umweltpolitik diesen Problemen widmen und zu Lösungen unseren Beitrag leisten.
Dazu gehören auch die vielfältigen Gespräche, die wir schon bisher mit den Sport- und Umweltorganisationen sowie Wissenschaftlern geführt haben und führen. Wir müssen feststellen, daß der Sport in der Steuergesetzgebung, aber auch die teilweise enormen Probleme im Bereich von Sport und Umwelt für eine große Zahl unserer Sportvereine existentielle Fragen aufwerfen.
Deshalb muß die Bundesregierung kritisiert werden, da sie — wie bereits bei den unerfüllten Versprechungen von Steuererleichterungen — auch bei der Bewältigung der Konflikte zwischen Sport und
Umwelt ausreichende Initiativkraft vermissen läßt. Unsere Sportvereine und Kommunen warten bisher vergebens auf die Hilfe dieser Bundesregierung.
Die Probleme haben sich dramatisch verschärft. Tatsache ist, verschiedene Sportorganisationen und Umweltschutzverbände zeigen mehr Pflichtbewußtsein und Engagement als diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen.
Dies zeigt sich beispielsweise in den umweltpolitischen Grundsätzen des Deutschen Sportbundes, in den zehn Goldenen Regeln des Deutschen SeglerVerbandes, in den Empfehlungen der Naturfreunde Deutschlands, des Deutschen Skiverbandes, des Deutschen Kanu-Verbandes und des Deutschen Alpenvereins, um nur einige Beispiele zu nennen.
Mit großer Sorge verfolgen wir Sozialdemokraten die in den letzten Jahren stark gestiegene Zahl von Gerichtsurteilen gegen den Betrieb von Sportanlagen in wohnnahen Gebieten. Wir wollen und können nicht bestreiten, daß in Fällen nachträglicher Bebauung oder durch unüberlegte Standortwahl Mitbürger tatsächlich über das erträgliche und zumutbare Maß hinaus belästigt werden. In solchen Fällen muß, je nach der Eigentumslage der Sportstätten, auch mit öffentlicher Förderung Abhilfe geschaffen werden.
Doch in sehr vielen Streitfällen zeigen Bürger kein Verständnis für das natürliche Spielbedürfnis unserer Kinder und Jugendlichen, vergessen allzuoft ihre eigene Kindheit und daß sie selbst einmal jung und voller sportlichem Tatendrang waren. Spiel und Sport sind für alle Altersgruppen ein Stück Lebenskultur, ein unersetzbarer Beitrag für eine freudvollere, vitalere und damit positivere Lebensgestaltung. Daran hat sich auch das Umweltschutzbedürfnis zu orientieren.
Wir appellieren deshalb nachdrücklich an unsere Mitbürger: „Toben Sie nicht, wenn Kinder und Jugendliche spielen und Sport treiben, sondern haben Sie mit ihnen Spaß an der Lebensfreude!"
Deshalb muß auch dem Unsinn von Spiel- und Sperrbezirken — etwa auf Wiesen — in Wohngebieten ein Ende bereitet werden. Es ist geradezu schizophren, wenn dem „Gassigang" des Schoßhündchens mehr Verständnis entgegengebracht wird als dem Spiel- und Sportbedürfnis unserer Kinder und Jugendlichen.
Lassen Sie mich zwei Bereiche nennen, die für die SPD herausragend sind.
Augenblick, Herr Kollege Lambinus. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Suhr?
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12578 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
Bitte schön. Unter den üblichen Bedingungen, Herr Präsident!
Herr Kollege, ich frage Sie, ob Sie meine Einschätzung teilen, daß der neue Mittelstürmer der SPD, Johannes Rau, noch etwas orientierungslos auf dem grünen Rasen herumrennt, noch nicht so richtig weiß, ob er nach links oder nach rechts flanken soll.
Ich verstehe den Zusammenhang mit der Problematik hier nicht.
Im übrigen, lassen Sie es mal unsere Sorge sein, wie unser Mittelstürmer spielt.
— Lenken Sie doch nicht von den Problemen ab, die wir hier haben und heute bereden! —
Erstens. Es muß sichergestellt werden, daß auch in Zukunft eine ausreichende Zahl von Spiel- und Sportanlagen im unmittelbaren Wohnumfeld vorhanden ist. Dies ist schon allein aus der Fürsorgepflicht für unsere Kinder und Jugendlichen, für unsere älteren oder behinderten Mitbürger erforderlich. Für sie alle sind die sozialen Werte von Sport und Spiel unverzichtbarer Bestandteil ihrer Lebensqualität. Deshalb müssen im Spannungsfeld zwischen Sport und Umwelt individuelle Belange gegebenenfalls hinter dem Gemeinwohl zurückstehen. Es gibt zudem unzweifelhafte Zwänge, die aus örtlichen Gegebenheiten entstehen.Nehmen Sie das Beispiel Berlin. In anderen Städten, insbesondere den Stadtstaaten, ist die Lage ähnlich. Wenn nicht durch geeignete Maßnahmen neue rechtliche Voraussetzungen geschaffen werden, sind z. B. in Berlin bis zu 50 % aller Sportanlagen in ihrem Betrieb gefährdet.
Ich darf aus dem vorliegenden Antrag zitieren:Geräusche, die sich aus der aktiven Lebensgestaltung der Menschen ergeben, beispielsweise im Zusammenhang mit Sport- und Freizeitaktivitäten, dürfen nicht Industrie- und Motorgeräuschen gleichgesetzt werden.Zweitens. Die SPD hat bereits 1978 die soziale Offensive im Sport entwickelt. Diese Ziele haben inzwischen die volle Unterstützung des Deutschen Sportbundes sowie unserer Sozial- und Jugendorganisationen erhalten. Wir Sozialdemokraten in Bund, Ländern und Kommunen haben also, wie bereits ausgeführt, ein besonders starkes Interesse an der Förderung der sozialen Aufgaben des Sports. Dazu gehören ausreichende Spiel- und Sportanlagen im Wohnumfeld.Wir bitten die Bundesregierung deshalb sehr eindringlich, sich umgehend bei den Bundesländern dafür einzusetzen, daß die Bewertung von Freizeitgeräuschen auf Grund der „Hinweise zur Beurteilung des durch Freizeitaktivitäten verursachten Lärms" — so heißt dieses Ding — so geändert wird, daß Sport- und Freizeitgeräusche, also Geräusche aktiver Lebensfreunde, nicht umweltbelastender eingestuft werden als beispielsweise Industrie- oder Verkehrslärm.
Was fehlt, sind praxisnahe Richtlinien und Zielvorgaben, die Konflikte in Zukunft deutlich reduzieren und zu einem tragfähigen Interessenausgleich zwischen dem Sport- und Freizeitstättenbau und -betrieb einerseits sowie den Umweltschutzbedürfnissen andererseits beitragen.
Die außerordentlich positiven Reaktionen aus dem Bereich der Sport- und Umweltorganisationen auf den vorliegenden Antrag meiner Fraktion bestätigen, wie dringend unsere Initiative ist. Wir wissen, daß von den Mitbürgern und den Sportorganisationen auch die Einsicht erwartet werden muß, daß im Interesse der Erhaltung einer lebenswerten und erlebenswerten Umwelt Einschränkungen hingenommen werden. Unser Antrag enthält dazu, vor allem in den Teilen Motorsport und ähnliche Aktivitäten sowie Sport und Tourismus in der Bergwelt, entsprechende Hinweise.Für die SPD-Bundestagsfraktion darf ich unsere Forderung bekräftigen: Nicht alles, was technisch möglich ist, darf auf Grund kommerzieller Interessen im Winter- und Sommertourismus verwirklicht werden.
Wir möchten in diesem Zusammenhang die konstruktive Haltung des Umweltbundesamts in Berlin würdigen, die in einer hilfreichen Zusammenarbeit mit den Sport- und Umweltschutzorganisationen zum Ausdruck kommt.Erlauben Sie mir noch folgenden Hinweis. Im April 1983 wurde das durch die Bundesregierung im Jahr 1979 in Auftrag gegebene „Aktionsprogramm Ökologie" veröffentlicht. Neben wichtigen und wegweisenden Erkenntnissen wurden auch die ökologischen Folgen von Sportstätten beurteilt. Die Aussagen, die darin getroffen wurden, mußten im wesentlichen ganz zwangsläufig heftige Widersprüche auslösen, nicht zuletzt deshalb, weil bei der Untersuchung die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sportbund unterlassen wurde. Mein Kollege Müntefering wird sich im Verlauf der weiteren Debatte detailliert dazu äußern, ebenso zu den planungs- und städtebaulichen Aspekten des künftigen Sport- und Freizeitstättenbaus.Wir Sozialdemokraten fordern alle Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen sowie in den Sport- und Umweltorganisationen auf, im Sinne des vorliegenden Antrags an der zügigen Bearbeitung einer bundeseinheitlichen Gesamtkonzeption „Sport und Umwelt" mitzuwirken. Wir dürfen es
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12579
Lambinuseinfach nicht länger den Richtern und nörgelnden Nachbarn überlassen, wann, wo und wie unsere Kinder spielen und Erwachsene Sport treiben.
Wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, möchten mit dem vorliegenden Antrag einen weiteren Beitrag zu einer kinder-, spiel- und nicht zuletzt auch sportfreundlichen Gesellschaft in einer gesunden Umwelt leisten.
Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Nelle.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! „Sport und Umwelt", das Thema des SPD-Antrags, signalisiert ebenso wie der von der CDU/CSU und FDP vorgelegte Antrag „Sicherung des Sports als Teil einer lebenswerten Umwelt", daß es ganz offensichtlich eine besondere Beziehung zwischen diesen beiden Lebensbereichen gibt. Wertet man die dazu geführten Diskussionen und besonders die gefällten Gerichtsentscheidungen der letzten Jahre, dann drängt sich der Eindruck auf, als bestehe nicht eine besondere Beziehung, j a Wechselbeziehung, sondern es gehe um den Kampf: Sport gegen Umwelt oder Umwelt gegen Sport.
Wie ist es zu dieser Situation gekommen, wo doch jeder eigentlich weiß, daß ein gesunder Sport nur in einer gesunden Umwelt möglich ist? Geht es wirklich um den Widerstreit zweier Idealvorstellungen „Sport für alle" auf der einen und „Umweltschutz um jeden Preis" auf der anderen Seite?
Aufgeschreckt wurde die Öffentlichkeit durch das BGH-Urteil vom 17. Dezember 1982, das die Untersagung des Spielbetriebs auf einer Tennisplatzanlage zum Inhalt hat. Immer mehr Individualisten fühlten sich dadurch in ihrer Wochenend- oder Feierabendruhe gestört und erhoben Unterlassungsklage, und — man höre und staune — so liegen heute ca. 40 Entscheidungen von Zivil- und Verwaltungsgerichten vor, nach denen die Benutzung von Sportstätten eingeschränkt bzw. da und dort sogar untersagt wurde.
Die Schreckensvision vom Sport als dem Umweltfeind Nr. 1 ging durch unser Land, als sich die Projektgruppe „Aktionsprogramm Ökologie" gar dazu verstieg, Sport als Umweltbelastung einzustufen.
Sportbauten wurden als erhebliche Belastung des
Naturhaushaltes hingestellt und gar ihr Abbruch
empfohlen. In dieser Phase der scheinbaren Sensibilisierung fühlten sich viele berufen, dem Sport seine Grenzen in einer zu schützenden Umwelt aufzuzeigen. Die, die dazu gehörten, waren in dem Länderausschuß „Immissionsschutz" versammelt. Klammheimlich setzten sie Werte für Sportgeräusche fest, die diese noch negativer als z. B. den Straßenlärm oder den Industrielärm erscheinen ließen. Diese Werte, von keinem Parlament beschlossen, sind heute für manchen Richter oder manches Gewerbeaufsichtsamt immer noch gleichsam das „Umweltevangelium". Wir halten es nicht für sachgerecht, Sport- und Freizeitgeräusche wie Verkehrs- und Industrielärm zu bewerten, wie dies der Länderausschuß für Immissionsschutz in seinen Hinweisen zur Beurteilung des durch Freizeitaktivitäten verursachten Lärms unternommen hat.
Die pauschale Einschätzung der Lästigkeit von Geräuschen, die von Sportanlagen ausgehen können, berücksichtigt nicht, daß ein großer Teil der bundesdeutschen Bevölkerung regelmäßig aktiv Freizeitsport treibt und daher nicht nur für die Notwendigkeit von Arbeits- und Verkehrslärm, sondern auch für die von Sportanlagen ausgehenden Geräusche Verständnis hat. Darum frage ich mich: Welchem Idealbild einer intakten Umwelt hängen Menschen an, die das fröhliche Lachen von Kindern nervt, die sich vom Jubel begeisterter Zuschauer einer Sportveranstaltung bedroht fühlen, die das natürliche Geräusch aktiver Sportausübung als krankmachenden Lärm empfinden?
In einer solchen, gleichsam entmenschlichten Welt möchte ich nicht leben. Unsere Mitbürger können ihren gesundheitsfördernden Ausgleichssport nicht auf dem Mond betreiben,
und unsere Leistungssportler sollen nicht zu vollklimatisierten Höhlenmenschen degeneriert werden.
Einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Diskussionen leisteten die Professoren Pikart, Gelzer und Pieper mit ihrem Gutachten über die Umwelteinwirkungen von Sportanlagen.
Hier wurde die vom Sport vertretene Auffassung der Wechselbeziehung und nicht die Auffassung des Gegensatzes unterstützt. Die geltende Auslegung der Nachbarschaftsschutzbestimmung des BGB wurde in Frage gestellt und die Verbindlichkeit von Bauleit- und Flächennutzungsplänen abgeklopft.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lambinus?
Nein.
Um zu verhindern, daß Teilbereiche des Sports zum Erliegen kommen, und um die Unruhe und
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NelleUnsicherheit vor allem bei Sportvereinen, Gemeinden, Bürgern und Gerichten zu beseitigen, sind wir erstens der Auffassung, daß für die Bewertung von Geräuscheinwirkungen der Sportanlagen, die nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz nicht genehmigungsbedürftig sind, eindeutige rechtliche Regelungen geschaffen werden sollten — ich erinnere an das Baurecht.Wir sind zweitens der Auffassung, daß die zitierten Hinweise des Länderausschusses Immissionsschutz überarbeitet werden müssen. Dabei müssen Geräuscheinwirkungen, die von wohnungsnahen Spiel- und Sportanlagen ausgehen, einer neuen Bewertung unterzogen werden. Die eingeführten besonderen Zuschläge, genannt Malus, für die im Umfeld von Sportanlagen entstehenden Geräusche sind zu beseitigen. Die Hinweise des Länderausschusses für Immissionsschutz sollten vorläufig nicht von den Ländern angewandt oder in verbindliche Richtlinien umgesetzt werden.Wir sind weiterhin — drittens — der Auffassung, daß bestehende Sportanlagen nicht auf Grund nachbarschaftlicher Einsprüche stillgelegt oder in ihrer Nutzung wesentlich eingeschränkt werden dürfen. Das gilt vor allem dann, wenn Nachteile bei Kauf oder Anmietung der Grundstücke bereits vorhanden oder vorhersehbar waren.Wir sind schließlich und endlich viertens der Auffassung, daß bei der Erstellung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen die jeweils zuständigen Sportorganisationen und betroffenen Sportvereine frühzeitig an den Beratungen zu beteiligen sind.Aber es geht nicht nur um die sozialen Konflikte zwischen Anwohnern von Sportanlagen und den Sporttreibenden, die wegen der vom Sport ausgehenden Geräusche bzw. anderweitiger Belästigung zu gerichtlichen Auseinandersetzungen mit den bekannten Ergebnissen geführt haben. Es ist zunehmend die nicht anlagengebundene Sportausübung, die im Widerspruch zu den Belangen von Naturschutz und Landschaftspflege gerät. Hierbei geht es um die Benutzung der freien Natur, z. B. durch Trimmpfade, Skiloipen, Reitwege, Golfplätze. Es geht aber auch um die Benutzung von Gewässern durch Wassersport.Der Sport ist einer der wenigen Bereiche, bei denen konstantes Wachstum auch für die Zukunft zu erwarten ist. Er wird als ein Element der Freizeitgestaltung vieler Menschen weiter an Bedeutung gewinnen. Dabei findet der Sport nicht mehr nur allein in den klassischen Kernsportstätten, also auf den Sportplätzen, Sporthallen, in den Frei- und Hallenbädern statt. Die Bedeutung von Anlagen für Einzelsportarten wie Tennis, Reiten, Winter- und Wassersport ist in den letzten Jahren überproportional gestiegen. Bewegung, Spiel und Sport gehen zurück zur Natur. Sie nutzen in zunehmendem Maße auch die freie Landschaft: Rad-, Reit- und Wanderwege, Flüsse, Bäche, Kanäle, Seen, Waldlichtungen, Feldraine und, wie eben schon gesagt, die grüne Wiese.Auf Grund dieser Entwicklung muß mit einer Vermehrung der Probleme und Konflikte im Wechselspiel von Sport und Umwelt gerechnet werden. Bei der günstigen Gestaltung dieses Verhältnisses wird es darum gehen, daß jeder Sportinteressierte in unserem Land genügend Bewegungs- und Spielraum gewinnen kann, ohne dabei mehr als nötig von außen behindert zu werden und ohne dabei seinerseits die Umwelt zu beeinträchtigen. Ich gestehe: ein äußerst schwieriges Unterfangen. Der Sport ist ein wichtiger Teil der Sozialfunktion der Umwelt. Deshalb muß er in Entscheidungen über die Gestaltung der Umwelt einbezogen werden.Sport, Freizeit und Erholung sind öffentliche Belange, die zur Sicherung einer menschenwürdigen Umwelt besonders berücksichtigt werden müssen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schulte .
Herr Präsident! Liebe Sportsfreundinnen und Sportsfreunde! „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt."
Die indianische Weisheit des Häuptlings Seattle, eines amerikanischen Präsidenten, scheint neuerdings auch in die Herzen der Sportler einzudringen. Gründe dafür gibt es genug. In vielen Flüssen und Gewässern können Sie nicht mehr baden, beim Joggen kann man oftmals seine bösen Überraschungen erleben, wenn man mit dem Autogestank in Berührung kommt.
Auch den Sportlern bleibt nicht verborgen, daß die von den Kindern geliehene Erde nicht mehr in Ordnung ist. Der Sport ist sowohl ein Teil dieser Gesellschaft als auch gleichzeitig eine notwendige Folge ihrer spürbaren Auswirkungen. Er ist mit der Industrialisierung entstanden und hat leider parallel die gleichen Konkurrenz- und Wachstumsstrukturen ausgebildet wie unsere profitorientierte Wirtschaftsweise. Während sich die Trennung der Bereiche Arbeit, Leben und Freizeit immer mehr verfestigt, unterwirft sich der Sport wirtschaftlichen Kommerz- und Konsuminteressen.
Als Folge dieser Rationalisierung und Technisierung in Fabrik und Büro soll Sport jedoch die durchgängigen gesellschaftlichen Mängel ausgleichen und auch Mittel für eine bessere Gesundheit sein.Trotz dieser Einbettung des Sports in die gesamte gesellschaftliche Struktur lassen sich nun auch Umweltbelastungen und Umweltstörungen finden, die in erster Linie auf Sport — spezieller: auf massenhaft betriebenen Sport — zurückzuführen sind. Zu nennen wären da die verschiedensten Motorsportarten, aber auch Jagdsport und Schießen sowie Golf und einige Wassersportarten.
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Schulte
Ich möchte an dieser Stelle auf einen besonderen Brennpunkt des Konflikts zwischen Sport und Umwelt hinweisen: den Massenskitourismus in den Alpen. Hier zeigt sich besonders, wie große Bergregionen zerschandelt und einzigartiger Naturraum durch eine neuzeitliche Sportart zerstört wurden. Es sind ja nicht allein die Skilifte und die Pisten. In einem großen Teil des Alpenbereichs wurde die ganze Infrastruktur wie Straßen, Hotelketten, Restaurants und Imbißstuben bis hin zu den Vergnügungsstätten auf den Massentourismus ausgerichtet. Nirgendwo anders in der Bundesrepublik wurden traditionelle Strukturen für einen zweifelhaften Kurzzeitsporttourismus so verändert wie in den Alpen. Und mit den geplanten Olympischen Spielen in Berchtesgaden soll dieser Zerstörungsprozeß auf die Alpspitzen getrieben werden.Überhaupt gilt es nicht nur, die Umwelt vor bestimmten Formen der Sportausübung zu schützen, sondern auch, besonders umweltbelastende Sportarten in Frage zu stellen.
Dazu gehört sicherlich der Motorsport. Hier hat ja der Umweltminister des Saarlandes einen bemerkenswerten Vorstoß unternommen, indem er alle Rallye-Veranstaltungen untersagen wollte. Allerdings blieb es bei dieser Ankündigung.
Von einem Totalverbot kann hier nicht mehr die Rede sein.Auch der SPD-Antrag bleibt in diesem Punkt sehr unverbindlich. Zitat:Gegebenenfalls sind weitere Einschränkungen im Interesse des Umweltschutzes unumgänglich.Abschließend möchte ich noch einige sportpolitische Forderungen der GRÜNEN nennen.
Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln für die Verbesserung der Aufklärung der Bevölkerung zu diesem Thema „Sport und Umwelt", Einstellung von Umweltbeauftragten bei Sportverbänden und -vereinen. Verbot der Sportausübung bei offensichtlichen Verstößen gegen naturschutzrechtliche Forderungen und verstärkte Kontrollen dieser Beschneidungen.
Und schließlich an uns alle die Aufforderung — ob wir nun Sport treiben oder nicht; ich gehöre übrigens zu den aktiv Sporttreibenden —: Sowohl körperlich als auch politisch aktiv werden und sich bewußt mit den ökologischen Fragen auseinandersetzen, die Nähe der Natur suchen, aber dabei immer umweltangepaßt bleiben und Beeinträchtigungen vermeiden sowie für eine andere, eine sanfte Umgehensweise mit uns selbst und mit der Natur eintreten. Da können wir sicherlich noch einiges von dem vorhin erwähnten Indianer lernen, was die Einstellung zur Natur angeht.
Es gibt diesbezüglich schon nachahmenswerte Beispiele auf dem Sportsektor. Die Kanufahrer, die Deutsche Sportjugend, die schon seit über zehn Jahren Umweltschutz zu ihrem Thema gemacht haben, aber auch die Bürgerinitiative in Berchtesgaden, die gegen die Olympiade 1992 zu Felde zieht, um damit eine erstrangige Umweltzerstörung in diesem Gebiet zu verhindern; und last, but not least die Sportlerinnen und Sportler gegen Atomraketen. Denn daß zur Versöhnung mit der Natur der unbedingte Abzug aller Raketen gehört, wird immer mehr Sporttreibenden in unserer Republik Gott sei Dank klar.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir behandeln ein wichtiges Thema auf der Grundlage einer Antwort, die die Bundesregierung auf die Anfrage der Koalitionsfraktionen gegeben hat.
Ich halte diese Antwort für eine sehr gute Grundlage für die Behandlung dieses Themas; wir erhalten wichtige Informationen.
Herr Kollege Waffenschmidt, ich unterstütze auch die Positionen, die die Bundesregierung in ihrer Antwort bezogen hat. Wenn ich mir die Anträge ansehe, Herr Kollege Lambinus, unseren Entschließungsantrag und den Ihren, so denke ich, daß wir bei aller pflichtgemäßen Rhetorik auf Ihrer Seite mit unseren Forderungen gar nicht so weit voneinander entfernt sind.
— Wir haben die Anfrage gestellt, und die Antwort der Bundesregierung läßt sich durchaus sehen. Sie ist sehr gründlich, ist sehr umfassend und macht die Probleme deutlich. Vielleicht kann man sagen, daß wir alle miteinander dieses Problem etwas zu spät diskutiert haben. Wir hätten vielleicht etwas früher anfangen sollen, auch die Verbände, aber wir tun es jetzt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Gerne. Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Baum, wenn es um die Deutung von Gemeinsamkeiten oder Unterschiedlichkeiten geht, ist man natürlich auf den Text angewiesen, u. a. auf den Text Ihres
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Dr. PennerAntrages, und in dem steht unter Ziffer IV folgendes:Sport und Umweltschutz sind öffentliche Belange.Jetzt frage ich Sie: Sind Sie, die FDP oder die Koalitionsfraktionen insgesamt, bereit, dem organisierten Sport mehr als bisher zumindest ein Mitberatungsrecht bei Planungen oder Baumaßnahmen von Städten und Gemeinden einzuräumen?
Ja. Die Antwort ist eindeutig ein Ja. Ich komme gleich darauf zurück.Es gibt beispielsweise die Forderung des DSB, den Sport als Träger öffentlicher Interessen
— ja, oder Belange — in diesen Verfahren — auf Bundesebene geht das ja nicht mit Ausnahme des Baugesetzbuchs, wie wir der Antwort entnommen haben, aber auf Landesebene — anzuerkennen. Ich bin der Meinung, darüber sollte man durchaus nachdenken. Der Sport sollte seine Interessen in Planungen zur Geltung bringen können, wie er es ja auch durch den DSB fordert.
— In Hessen ist das j a durchaus möglich und immer schon möglich gewesen.
Es gibt hier also, meine Kollegen, ein Spannungsverhältnis, und es gibt Konflikte. Wir sind der Meinung, daß wir den Breitensport unterstützen müssen und daß zum Sport auch der Spitzensport gehört. Hier gibt es Wechselbeziehungen. Der Spitzensport darf nicht verteufelt werden. Er ist notwendig. Die Bundesregierung und dieses Parlament unterstützen den Spitzensport.Die weitaus meisten Menschen sind im Breitensport tätig. Die Zahl der Menschen, die das tun, wächst. Wir begrüßen das. Etwa 30 Millionen Menschen in unserem Lande treiben aktiv Sport. Die Zahl wird immer größer. Sportpolitik ist für uns in umfassendem Sinne Gesellschaftspolitik mit engen Bezügen zur Bildungs-, Jugend-, Gesundheits- und Sozialpolitik.Es kommt hinzu, daß der Sport nicht nur auf die klassischen Sportstätten begrenzt ist. Die Menschen gehen in die Natur, sie joggen, sie benutzen unsere Wasserflächen, und daraus ergeben sich eben die Probleme, über die wir hier reden.Es kommt weiter hinzu, daß es sich j a bei beiden Gruppen, bei den Umwelt- und Naturschützern und bei den Sportlern, um Menschen handelt, die in besonderer Weise der Lebensqualität verpflichtet sind.
Hier gibt es auch ein gemeinsames Interesse. Wirsollten also nicht von vornherein sagen, das seienInteressen, die notwendigerweise gegeneinanderlaufen. Das ist im einzelnen Fall durchaus möglich, aber es gibt eine Grundübereinstimmung hinsichtlich der Verbesserung der Lebensqualität des Menschen im umfassenden Sinne, die uns bei der Bewältigung der Zielkonflikte hilft.Es gibt Zielkonflikte, es gibt Probleme, es gibt Spannungen etwa in Wohngebieten mit siedlungsnahen Sportanlagen. Da gibt es die Urteile, die schon zitiert worden sind, und da gibt es auch eine Überempfindlichkeit mancher Bürger gegenüber sporttreibenden Mitbürgern, seien es nun Erwachsene oder Kinder.Ich unterstütze das, was die Vorredner dazu gesagt haben: Hier müssen Verständnis, Toleranz und Rücksichtnahme herrschen. Es ist ja etwas anderes, wenn Kinder zeitweise einen Sportplatz benutzen, als wenn ein Tennisplatz in der Nähe eines Altenheims von früh bis spät bespielt wird. Da gibt es durchaus Unterschiede, und wir sollten an unsere Mitbürger appellieren, aufeinander Rücksicht zu nehmen.Probleme entstehen bei den alten Sportanlagen, wo man nicht vorsorgend hat planen können. Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung, die wir j a auch in unserer Entschließung zum Ausdruck bringen, daß künftig bei den Bauleitplanungen diese unterschiedlichen Belange von vornherein sehr viel stärker zur Geltung gebracht werden müssen. Wenn eine Wohnsiedlung an einen Sportplatz heranrückt, ist das eine andere Situation, als wenn sie schon jahrelang in einem Wohngebiet besteht.
Hier muß man Kompromisse machen. Ich bin durchaus der Meinung, die Sie, Herr Lambinus, hier geäußert haben: Es ist ein Unterschied, ob Kinder bei einem Fußballspiel Lärm erzeugen oder ob eine Maschine in einer Fabrikanlage Lärm erzeugt.
Das muß man deutlich untercheiden. Wir wissen, daß es in Einzelfällen Auflagen gibt, die nicht oder nur mit hohen Ausgaben zu verwirklichen sind, und daß es zu Problemen bei der Sportausübung gekommen ist. Diese Debatte soll ja dazu beitragen, die Lage zu entspannen.Es gibt auch Zielkonflikte bei den Sportarten, die nicht an bestimmte Anlagen gebunden sind. Hier gilt auch unsere Sorge dem, was sich teilweise in den Alpen abspielt. Es gibt eine zu intensive Nutzung durch Skipisten, die nicht nur zu einer vorübergehenden Schädigung, sondern zu einer dauerhaften Schädigung der Natur führt oder führen kann. Es ist also ein großer Unterschied, ob einmal zeitweise Lärm entsteht oder ob Biotope, ökologische Grundlagen unserer Umwelt auf Dauer geschädigt werden, wie es zum Teil durch die intensive Nutzung der Alpen durch Skilauf geschieht. Hier würde ich also eine andere Meßplatte anlegen. Hier gibt es sicher Sorgen, die über die vorgenannten Probleme der Lärmentwicklung weit hinausgehen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12583
BaumIch sehe mit der Bundesregierung jedenfalls im Moment keine Notwendigkeit und auch keine Möglichkeit einer Gesetzgebung auf Bundesebene. Aber ich bin mit der Bundesregierung der Meinung, daß dies durchaus geschehen kann, wenn neue Untersuchungen dies nahelegen sollen. Wenn sich die Lage verschärfen sollte, muß man zu solchen Überlegungen übergehen. Allerdings meine ich, bei dem in Vorbereitung befindlichen Baugesetzbuch sollten diese Belange von vornherein aufgenommen werden. Hier sollte der Sport in gebührender Weise Berücksichtigung finden.
Die Sportverbände selber haben sich der Aufgabe der Konfliktlösung anzunehmen. Sie haben es getan. Ich begrüße das, was hierzu durch den DSB, durch einige Verbände, durch die Deutsche Sportjugend geschehen ist. Der eine oder andere Verband könnte da noch etwas mehr tun; das ist richtig. Ich begrüße es, daß die Verbände, die gesellschaftlichen Gruppen sich untereinander verständigen und daß die Sportverbände mit den Naturschutzverbänden in einen Dialog eingetreten sind. Ich begrüße es, daß die Sportminister der Länder und die Umweltminister der Länder versuchen, zu einem Interessenausgleich zu kommen. Die Aktivitäten des Instituts für Sportwissenschaften sind wichtig, ebenso die kommunalen Spitzenverbände und das Umweltbundesamt.Es hat also im weiten Sinn ein Prozeß des Nachdenkens über die Probleme und Konflikte stattgefunden, und er muß weitergehen.Wir sind der Meinung, daß über die Forderung des Deutschen Sportbundes, den Sport als Träger öffentlicher Belange auf Landesebene anzuerkennen, positiv nachgedacht werden sollte. Der Sport hat ein Anrecht, seine Interessen im Planungsstadium zur Geltung zu bringen.Was die Sperrung von Wasserstraßen angeht, sagt die Bundesregierung ja sehr deutlich: Es kann auch Fälle geben, wo die Sperrung über bestimmte Jahreszeiten hinausgehen muß. Ich teile diese Meinung. Wir müssen also bei Naturschutzgebieten und Landschaftsschutzgebieten diese Sperrung mitunter ertragen, und zwar dauerhaft ertragen.Der Motorsport ist natürlich eine besonders umweltbelästigende Sportart.
Hier gibt es besonders viele Probleme. Ich wehre mich aber dagegen, daß man diese Sportart generell verteufelt. Sie muß unter Bedingungen stattfinden, die erträglich sind. Aber es darf nicht dazu kommen, daß man eine ganze Reihe von Mitbürgern, die diesen Sport gewählt haben, generell verteufelt und sagt: Das wird künftig verboten.
Wir haben eine gemeinsame Entschließung vorgelegt. Wir fordern u. a. die Koordination der verschiedenen Interessen durch verstärkte Einbeziehung der sportlichen Belange in die Raumordnungs- und Bauleitplanung. Wir fordern die Vermeidung der sich gegenseitig ausschließenden Nutzungsansprüche. Wir wollen spezielle umweltschonende Einrichtungen für bestimmte Sportarten schaffen. Wir meinen, daß durch eine wirksame Aufklärung, durch eine wirksame Öffentlichkeitsarbeit die Sensibilisierung der Sporttreibenden für die Belange der Umwelt weiter gestärkt werden muß. Der einzelne Sporttreibende muß eben wissen, ob es angebracht ist, zu einer bestimmten Jahreszeit als Jogger durch jenes Waldgebiet zu laufen oder ob es besser ist, in der Brutzeit bestimmter Vögel und mit Rücksicht auf das Wild dieses Waldgebiet zu meiden.
Da müssen wir aufklären. Das ist keine Frage des Gesetzgebers, sondern der Entwicklung eines allgemeinen Bewußtseins.Ich meine, meine Kollegen, daß wir die Beratungen im Ausschuß fortsetzen sollten. Auf der Grundlage der beiden Entschließungen sehe ich durchaus Gemeinsamkeiten.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Müntefering.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit dem so wie ich es empfinde, wichtigsten Punkt der heutigen Diskussion beginnen. Ich will klarstellen: Wir Sozialdemokraten treten dafür ein, daß der organisierte Sport, daß die Sportverbände als Träger öffentlicher Belange an den Bauleitplanungen in den Städten und Gemeinden und im Lande rechtzeitig und umfassend beteiligt werden.
Das ist die eigentlich entscheidende Forderung, die hier auf den Tisch muß.
Herr Kollege Baum, ich begrüße es, daß Sie das vorsichtig befürwortet haben. Aber im zweiten Teil Ihres Vortrages sind Sie doch ein bißchen allgemein geblieben, nämlich als es darum ging, wann man an die Konkretisierung dieses Vorhabens gehen will. Die schönen Sprüche vom Sonntag allein reichen nicht. Wir wollen das auch konkretisieren.
— Herr Kollege Tillmann, ich will ein Stückchen weiter sein; dann können Sie sich gerne noch einmal zu diesem Punkt melden.
— Bitte schön.
Herr Abgeordneter Müntefering gestattet eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tillmann.
Herr Kollege Müntefering, können Sie mir denn vielleicht sagen, wann das Land Nordrhein-Westfalen seine Ankündigung wahrmachen wird, den Sport als Träger öffentlicher
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12584 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
TillmannBelange in die entsprechende Liste aufzunehmen? Hier ist ja das Land souverän, dies zu tun. Es ist zwar angekündigt worden, aber es ist bisher nicht geschehen.
Ich habe hier für die SPD-Bundestagsfraktion festgestellt, daß wir uns dafür einsetzen, daß die Sportverbände, der deutsche Sport als Träger öffentlicher Belange anerkannt werden. Wenn wir das im Bund miteinander beschließen, dann, denke ich, werden wir uns auch mit den Ländern darauf einigen, daß es bis hin zu den Kommunen durchexerziert wird.
Wir müssen uns ansehen, wie die Konflikte, die es tatsächlich gibt, entstanden sind. In der Zeit der Wachstumsexplosion unserer Gemeinden, in der Zeit der zunehmenden Mobilität und des wachsenden Wohlstandes haben wir zu wenige Gedanken darauf verwendet, wie wir unser Leben in unseren Städten und Gemeinden eigentlich organisieren wollen. Da ist zunächst einmal ohne ausreichende Planung gebaut und entwickelt worden. Daraus sind Gemengelagen entstanden, die man heute einfach nicht mehr zurücknehmen kann, ohne daß die eine oder die andere Seite Abstriche machen muß.Dann haben wir uns vorgestellt, wir könnten unsere Lebensbereiche sauber voneinander trennen. Da gibt es Wohnsiedlungen, Schul- und Bildungszentren, Industriegebiete, die wir „Industrieparks" nennen, da gibt es Einkaufszentren und -straßen, da gibt es auch Sportzentren. Die Vorstellung aber, das Leben sei in solch feine Segmente aufteilbar — man könne hier den Sport betreiben und da finde das Leben an sich, das Wohnen statt — ist falsch.
Immer mehr sehen wir, daß es neben den Stadien und den großen Sportzentren, die es auch geben muß, viele wohnbereichsnahe Angebote für die Freizeit und insbesondere auch für den Sport geben muß.
Ich spreche von den Bolzplätzen, und ich spreche von den kleinen Sportanlagen, die wir brauchen.Da gibt es nun seltsame Dinge bei uns im Land. In der Stadt Sprockhövel scheiterte der Versuch eines Sportvereins, einen Tennisplatz zu errichten. Interessant ist dabei die Meinung des Oberverwaltungsgerichts, die Tennisanlage beeinträchtige öffentliche Belange dadurch, daß sie mit Lärmemissionen bis zu 50 dB(A) die Wohnsituation wesentlich verschlechtere. In Schleswig-Holstein wird ein Tennisclub dazu verurteilt, den Spielbetrieb von seinem Grundstück zu beseitigen oder Emissionsschutz zu betreiben. Es handelt sich um eine Tennisanlage, die bereits vorhanden war, bevor der Kläger gebaut hat. Ein drittes Beispiel: Die Stadt Bochum wird verurteilt, auf einem Sportfeld die Beleuchtungsanlage nach 20 Uhr abzuschalten. Dazu gibt es eine Begründung, die wirklich zitierungsbedürftig ist. Da sagen nämlich die Richter:Überdies ist im Hinblick auf das unmittelbare Nebeneinander von Wohnhaus und Sportanlage eine Nutzung des Platzes durch nicht planvoll betreute anonyme Interessenten, insbesondere Jugendliche und Erwachsene, überhaupt nicht zumutbar.Da werden die jungen Leute — die Ausländer und die arbeitslosen Jugendlichen, die dort spielen und Sport treiben wollen — in den Wald hinausgeschickt, und die Gesellschaft wundert sich, wenn es aus dem Wald zurückschallt.
Wenn wir uns an das halten, was hier Ziel ist — die gute Absicht, den Lärm zu reduzieren —, frage ich einmal: Hat man eigentlich schon davon gehört, daß eine Straße für den Kfz-Verkehr schlichtweg gesperrt wird, weil sie mehr als 50 dB(A) Lärm bringt?
Oder hat man schon gehört, daß Tiefflüge eingestellt werden, weil der von ihnen verursachte Lärm 50 dB(A) übersteigt?
Wenn das alles so ist, denke ich, müssen wir uns dazu bekennen, daß wir den Menschen nicht sagen können: Wo ihr arbeitet, wo ihr Auto fahrt und wo ihr mit dem Flugzeug fliegt, darf Krach sein, aber wenn ihr in der Freizeit Sport treibt, seid bitte still und sorgt dafür, daß ihr keinen Lärm macht. Wir jedenfalls können uns damit nicht einverstanden erklären.Das erste und wichtigste, was erreicht werden muß, ist eine Wandlung des Bewußtseins. Aber genauso wichtig ist, daß wir uns um die ganz konkreten Möglichkeiten kümmern, die es im Detail bei den Instrumenten gibt.Deshalb verwundert es auch — damit komme ich auf das zurück, Herr Baum, was Sie angesprochen haben —, daß im Vorentwurf der Bundesregierung zum Baugesetzbuch die Gesichtspunkte des Sportes und des Umweltschutzes, so wie sie heute aktuell sind, nicht deutlicher angesprochen sind. Im Gegenteil: In § 1 des Entwurfs wird vorgesehen, den Bereich Sport, Freizeit, Erholung — so stand er bisher darin — nicht mehr als einen gesonderten auszuweisen. Vielmehr wird er unter folgendem Spiegelstrich subsumiert: „Bei der Aufstellung der Bebauungspläne sind insbesondere zu berücksichtigen die kulturellen und sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung, insbesondere die Belange des Bildungswesens, der hilfsbedürftigen Personen, der Jugendförderung sowie von Erholung, Freizeit und Sport."Ich weiß nun nicht, was das zu bedeuten und ob das Konsequenzen für die Praxis hat. Ich sage aber: Wir werden als Sozialdemokraten darauf achten, daß der Sport als hochrangige Freizeitform in der nötigen Weise bei der Entwicklung des Baugesetzbuches berücksichtigt wird.
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MünteferingDas ist unverzichtbar, wenn wir wirklich wollen, daß wir in den Städten nicht nur wohnen und arbeiten, sondern auch in der Freizeit leben können.Nun hat das Thema Sport und Umwelt j a nicht nur den Aspekt des Lärms in den Städten und Gemeinden, sondern auch den Aspekt der Lärmbelastung und der Naturbelastung draußen. Sommerskipisten, Sportboote auf Gewässern, Kanuten auf Flüssen, Motorsportveranstaltungen sind die aktuellsten Stichworte. Mancher zählt auch die Jogger dazu, die durch den einsamen Wald rennen. Es geht also um Landschaftsverbrauch, um Landschaftszerstörung, um die Belastung der Gewässer, um Belästigung von Tieren im Wasser und im Wald. Das sind alles wichtige Punkte der Kritik, teilweise auch berechtigt. Der Sport ist nicht gut beraten, wenn er dieses Problem verdrängt. Man muß sich den Spannungsverhältnissen und Zielkonflikten, die es gibt, miteinander stellen und muß versuchen, Lösungen zu finden. Ich denke, das ist möglich.Ein Wort aber dann an die Kollegen Sportfreunde von den GRÜNEN. Herr Schulte, Ihr Hinweis auf den Massentourismus behagt mir nicht; denn vor hundert Jahren gab es noch die Situation, daß die Herren Wohlhabenden im Winter Ski laufen und alle Freizeitmöglichkeiten wahrnehmen konnten, alle anderen aber nicht. Die Sozialdemokraten sind dafür eingetreten, daß auch Otto Normalverbraucher das alles wahrnehmen kann.
Ich bin allerdings dafür, daß wir bei allem, was wir tun, darauf achten, daß die Angebote, die es gibt, allen zur Verfügung stehen, mit der Zielvorgabe, die Natur zu schonen und zu schützen, wo es erforderlich ist. Ich .will Sie nur darauf hinweisen, daß der Begriff Massentourismus einen etwas unguten Klang hat. Vielleicht überlegen Sie einmal, ob man das nicht anders formulieren kann. Das ist Sport für breite Schichten der Bevölkerung. Wir müssen ihn möglich machen.
Vor einer Illusion müssen wir uns hüten. Wir leben in einem dicht besiedelten Land. Wer meint, man könne Breitensport sozusagen heimlich, still und leise und ohne Inanspruchnahme der Natur machen, ist nicht aufrichtig. Natürlich gibt es ein Spannungsverhältnis, und natürlich wird Landschaft gebraucht. Es kommt darauf an, es so zu machen, daß sowohl Sport getrieben werden kann als auch die Landschaft, die Natur bestehen, überleben kann und geschützt werden kann im Rahmen des Möglichen.Deshalb haben die Sozialdemokraten in ihrem Antrag gefordert, daß die Bundesregierung bis zum 30. Juni nächsten Jahres ein Konzept vorlegen soll, das aufzeigt, in welcher Weise wir miteinander diese Ziele zu erreichen versuchen. Da unterscheidet sich unser Antrag allerdings von dem, was von der Koalition vorliegt, die gestern noch — wie ich mir habe sagen lassen — sehr schnell den Antrag nachgeschoben hat.
Wir sagen, daß das bis zum 30. Juni 1986 klar auf den Tisch soll. Wir möchten nicht, daß darüber heute nur mal gesprochen wird und dann in zwei Jahren wieder usw., sondern wir möchten, daß im nächsten halben Jahr geklärt wird, wo die Ansatzpunkte sind und wann wir — wenn es geht, gemeinsam, sonst wir alleine — die nötigen Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg bringen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Herr Waffenschmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Bundesregierung möchte ich ganz zu Beginn meiner Ausführungen gern nachdrücklich feststellen: Echter Sport und echter Umweltschutz sind grundsätzlich keine Gegensätze. Sie dienen beide der Gesundheit der Menschen und der Gesundheit der Umwelt. Darum sollten wir beides als eine gemeinsame Aufgabe und nicht von vornherein als etwas Gegensätzliches ansehen. Auch aus meiner kommunalpolitischen Erfahrung heraus will ich einmal sagen: Kinderlachen beim Ballspielen auch im wohnnahen Bereich braucht j a nicht nur eine Belästigung zu sein, sondern es kann auch eine Medizin für die Menschen sein, die sie froh macht und sie glücklich stimmt.
Darin sollten wir uns hier, so finde ich, alle einig sein.Die Antwort der Bundesregierung, auf die hier mit Recht schon hingewiesen worden ist, auf die Anfrage der Fraktionen von CDU/CSU und FDP zur „Sicherung des Sports als Teil einer lebenswerten Umwelt" konnte bereits eine umfassende Darstellung der Gesamtproblematik vorlegen. Ich verweise ausdrücklich auf diese Antwort, weil sie insbesondere in den sehr ausführlichen Antworten zu den Fragen 6, 7 und 8 auf die Wechselbeziehungen von Sport und Umwelt, insbesondere in den wohnnahen Bereichen, eingeht.Herr Kollege Lambinus, Sie haben gesagt — das war wohl auch mehr eine Pflichtübung —, die Bundesregierung hätte vieles noch schneller und besser machen müssen. Das gilt ja dann genauso für Ihre Regierungszeit. Ich darf darauf verweisen, daß das Bundesinnenministerium drei Rechtsgutachten in Auftrag gegeben hat. Sie liegen vor und geben ganz wertvolle Orientierungshilfe a) im Hinblick auf die Rechtsprechung und b) auch im Hinblick auf die Arbeit der Arbeitsgruppe, die die Sportministerkon-
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Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidtferenz und die Umweltministerkonferenz eingesetzt haben.
— Im Augenblick möchte ich meinen Gedankengang zunächst fortführen; vielleicht später. —Ehe ich auf einige Aufgaben, die sich besonders hier im Parlament stellen, eingehe, möchte ich doch gern ein Wort des Dankes für all die freiwilligen Bemühungen sagen — ich denke, wir stimmen da, meine Damen und Herren, quer durch die Fraktionen überein —, Umwelt und Sport miteinander zu koordinieren.
Ich will einige Beispiele nennen: Besonders zu begrüßen sind in diesem Zusammenhang die umweltpolitischen Grundsätze des Deutschen Sportbundes, die im Mai letzten Jahres verabschiedet worden sind. Sie enthalten ein ausdrückliches Bekenntnis des Sportbundes und seiner Mitgliedsorganisationen zu einer umweltgerechten Sportausübung und setzen sich intensiv mit den wechselseitigen Einflüssen von Sport und Umwelt auseinander. Ich will hier für die Bundesregierung deutlich aussprechen: Herzlichen Dank an die Sportorganisationen, daß sie sich dieser Aufgabenstellung von selbst so intensiv zugewandt haben, meine Damen und Herren.
Ich will hier auch einige freiwillige Aktionen ganz besonders hervorheben: Im Jahre 1972 z. B. verfaßte die Deutsche Sportjugend einen Aufruf zur Umweltproblematik unter dem interessanten Motto „Moderner Dreikampf — Kampf um sauberes Wasser, saubere Luft, saubere Umwelt". Ich finde es prima, daß gerade die Deutsche Sportjugend, junge Menschen also, das Empfinden für ihre sportliche Betätigung mit dem Einsatz für Natur- und Umweltschutz verbunden haben. Das ist doch eine verheißungsvolle Sache. Im übrigen ist das auch ein guter Nachtrag zu der Debatte über die Situation der jungen Menschen, die wir soeben geführt haben. Sie sind im Hinblick auf ihr Sportengagement wie auch im Hinblick auf Naturschutz und Umweltschutz verantwortungsbewußt. Ich finde, das sollte man auch in einer solchen Debatte dankbar herausstellen.
Da hat es eine Reihe von einzelnen Bemühungen gegeben — ich denke, die würdigen wir hier gemeinsam —, z. B. die Erarbeitung der „10 goldenen Regeln" für das Verhalten der Wassersportler in der Natur durch den Deutschen Segler-Verband. Ich will an die Mitarbeit von Sportorganisationen erinnern, deren Mitglieder ihren Sport überwiegend gerade in der Natur ausüben und im Deutschen Naturschutzring mitarbeiten, z. B. die Deutsche Reiter-liche Vereinigung, der Deutsche Kanu-Verband sowie der Verband Deutscher Sporttaucher. Weiter ist hier die Gründung des „Verbandes für Naturschutz und Landschaftspflege der Sportschiffahrt" mit dem Ziel zu nennen, durch verstärkte Information der Wassersportler ein umweltbewußtes Verhalten z. B. im Hinblick auf Gewässerschutz zu fördern. Weiter ist hier an die Einsetzung eines Umweltbeirates durch den Deutschen Ski-Verband und seine Bemühungen zu einem freiwilligen Verzicht auf den Skilanglauf abseits der Loipen sowie auf Tiefschneefahren zu erinnern. Dies sind in der Tat wertvolle Initiativen für eine ökologisch richtig verstandene Sportausübung.Aber, meine Damen und Herren — und das hat die Debatte hier ja auch gezeigt —, trotz der positiven Lösungsansätze von seiten des Sports konnte in der Vergangenheit zuweilen der Eindruck entstehen, als sei hier noch immer ein breites Konfliktfeld vorhanden. Ich finde, in der Breite entspricht diese Konfliktbeschreibung nicht den Tatsachen. Man sollte immerhin feststellen, es gibt rund 150 000 Sportstätten bis hin zum kleinsten Fußballplatz in kleinen Gemeinden und Wohngebieten. Ich bedaure diese 40 Prozesse, die stattgefunden haben. Aber wenn man das in der Relation sieht, dann weiß man, daß Millionen Menschen das rechte Verständnis für das Miteinander von Sport und Umwelt haben, und auf dieses sollte man auch bauen. Für viele Menschen ist die Freizeit ohne Sport einfach gar nicht vorstellbar, für sie ist sie Teil einer lebenswerten Umwelt, und das ist gut so.Herr Kollege Lambinus, Sie wollen etwas fragen. Ich bin einverstanden.
Einen Augenblick. Also zuerst der Abgeordnete Lambinus. Dann gibt es noch einen zweiten Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Was Sie vortragen, klingt recht annehmbar. Aber ist Ihnen bewußt, daß das Innenministerium, also Ihr Haus, das Aktionsprogramm „Ökologie" der Steuerungsgruppe „Aktionsprogramm Ökologie" veröffentlicht hat mit einem Vorwort Ihres Innenministers, daß in diesem Gutachten u. a. davon die Rede ist, daß der Sport ein Hätschelkind der Kommunalpolitik sei, und von ähnlichen Dingen — alles nachzulesen —, und daß ausgerechnet dieses Gutachten heute von den Gerichten bei ihrer Rechtsprechung, die wir gemeinsam hier kritisieren, herangezogen wird und daß Ihr Minister in seinem Vorwort sich von diesen sportdiskriminierenden Aussagen im Gutachten nicht distanziert hat?Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Also, Herr Kollege Lambinus, das ist ja eine ganz alte Jacke, die Sie hier vortragen. Sie reißen wieder etwas aus dem Zusammenhang. Ich kann für meinen Minister, für unser ganzes Haus sagen, wir setzen uns als Sportministerium und als Umweltministerium leidenschaftlich dafür ein, daß hier nicht künstlich Gegensätze heraufbeschworen werden, sondern daß wir das miteinander koordinieren. Es würde Ihnen zur Ehre gereichen, wenn Sie sich da nicht mit alten Jacken beschäftigen, sondern die neue Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Koalitionsparteien lesen. Da werden Sie das alles in der Verantwortung des Bundesinnenministers se-
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Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidthen. Ich habe dem gar nichts hinzuzufügen. Das ist die Meinung unseres Hauses: Sport und Umwelt sind beide im Dienste des Menschen, im Dienste der Bürger. Danach handeln wir. Wenn Sie auch der Meinung sind, dann sollten Sie sich doch an dieser Aussage des Bundesinnenministers und dem, was ich hier vortrage, freuen und nicht aus künstlicher Oppositionssucht heraus irgend etwas hervorkramen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, gestatten Sie auch noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ja, auch noch für den bergischen Landsmann, und dann wollen wir fortfahren.
Lieber Kollege Waffenschmidt, Sie haben die 40 Prozesse erwähnt und daraus die Schlußfolgerung gezogen, man solle das ganze Problem nicht zu hoch ansetzen. Würden Sie bereit sein, mit dem organisierten Sport ein Gespräch darüber zu führen, daß die Zuspitzung scheinbar — ich betone: scheinbar — gegensätzlicher Belange von Sport und Umwelt sich nicht allein an den forensischen Ereignissen messen läßt, sondern an dem messen läßt, was tatsächlich vor Ort, da, wo Sport getrieben wird, an Gegensätzen auftritt?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Penner, wir sind in einem intensiven Gespräch mit dem organisierten Sport über viele Fragen, die sich gerade auch auf diesen Bereich, den Sie ansprechen, beziehen. Ich bin gerne bereit, bei den laufenden Gesprächen auch das immer wieder anzuleuchten, was sich außerhalb der forensischen Ereignisse tut. Ich finde, eines ist für uns alle hier wichtig. Wir haben alle Kollegen in den kommunalen Fraktionen. Als langjährig tätiger aktiver Kommunalpolitiker sage ich: Eine Fülle von Fragen, die wir heute hier im Deutschen Bundestag erörtern, kann gut geregelt werden, wenn man in der Planung vor Ort sowohl auf den Sport als auch auf den Umweltschutz eingeht. Ich glaube, darin sollten wir uns alle einig sein.
Nun noch zu einigen Aufgabenstellungen, die sich hier, auch nach dem, was in der Debatte akzentuiert wurde, stellen. Ich finde, wir sollten gemeinsam dafür eintreten — jeder in seinem Verantwortungsbereich —, daß die Arbeitsgruppe, die die Sport- und Umweltministerkonferenz eingesetzt hat, möglichst bald zu einem Ergebnis kommt. Ich begrüße sehr, daß der Sport in diese Arbeiten einbezogen ist. Es ist gut, daß dort nicht nur die Fachleute der Ministerien arbeiten, sondern daß der Sport mit dabei ist. Es ist alles daranzusetzen — das ist die Meinung unseres Hauses —, daß wir hier bald erste Ergebnisse insbesondere für den sehr diffizilen Bereich im Aufgabengebiet Lärmschutz haben. Ich bin der Auffassung, daß wir durch diese Arbeitsgruppe und durch die Gutachten, die wir auf Grund der Initiativen des Bundesinnenministeriums vorlegen konnten, hier bald erste Ergebnisse vorweisen können.
Lassen Sie mich noch zwei Punkte besonders ansprechen. Eine generelle Einbeziehung von Sportanlagen in die Vorschriften des Bundes-Immissionsschutzgesetzes über genehmigungsbedürftige Anlagen wird ja vom Sport, wie wir wissen, nicht angestrebt. Dort sind bisher nur Motorsport und Schießsport erfaßt. Ich will hier auch klar sagen: Meines Erachtens sollte sich die Genehmigungsbedürftigkeit von Sportanlagen nach dem BundesImmissionsschutzgesetz wirklich nur auf besonders umweltrelevante Anlagen begrenzen und nicht darüber hinaus ausgedehnt werden. Ich glaube, hierin sollten wir uns einig sein.
Dann gibt es den anderen Bereich: die Auslegung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Das hat auch bei den erwähnten 40 Prozessen eine Rolle gespielt. Ich habe Verständnis dafür, daß nicht alle bisherigen gerichtlichen Aussagen zu den Begriffen der Ortsüblichkeit, der Wesentlichkeit und der Zumutbarkeit im Rahmen der Auslegung des § 906 BGB auf die Gegenliebe des Sports stoßen können. Es erscheint mir in diesem Zusammenhang ganz wichtig, der Rechtsprechung durch eine entsprechende fachliche Diskussion — dazu kann sicherlich auch die heutige Debatte hier beitragen, ebenso auch die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Koalitionsparteien — zusätzliche sachgerechte Orientierungspunkte zu vermitteln, damit sich dann, wenn wieder das eine oder andere Gerichtsverfahren ansteht, sich auch die dritte Gewalt bemüht, zu einer Koordinierung der berechtigten Interessen des Sports mit den Anforderungen des Umweltschutzes zu kommen.
Ich möchte zusammenfassend sagen: Die Bundesregierung wird alle ihre Initiativen — und sie macht eine Menge in diesem Bereich — an dem Grundsatz ausrichten: Sport und Umweltschutz bilden grundsätzlich keine Gegensätze. Sie verfolgen das gemeinsame Ziel der Gesunderhaltung der Menschen und der Umwelt. Ich möchte hier dazu aufrufen, daß das gesamte Haus und die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit dem Bundestag dem dienen, was wir j a immer wieder als die größte Bürgerinitiative in unserem Lande ansprechen: der sportlichen Betätigung von Millionen Menschen in unserem Lande, und das zugleich mit dem ja auch gemeinsam vorhandenen Wunsch koordinieren, die Umwelt für die Gesundheit der Menschen und der Natur zu schützen!
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen zu dieser Debatte nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell und gemäß einer Vereinbarung im Ältestenrat wird vorgeschlagen, die Anträge auf den Drucksachen 10/3650 und 10/4074 zur federführenden Beratung an den Sportausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß zu überweisen.
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Vizepräsident WestphalGibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über die deutsche Sprache in der Welt— Drucksache 10/3784 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Auswärtiger Ausschuß Auschuß für Bildung und WissenschaftMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 heißt es:Wir werden neue Anstrengungen unternehmen, um die deutsche Sprache im Ausland wieder mehr zu verbreiten.Der Ihnen vorliegende Bericht ist ein wichtiger Schritt zur Realisierung dieser Erklärung.Die Förderung der deutschen Sprache im Ausland war und ist eines der zentralen Anliegen unserer auswärtigen Kulturpolitik. Zuletzt wurde dies 1977 in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Enquete-Kommission „Auswärtige Kulturpolitik" — dieser Enquete-Kommission habe ich einige Jahre angehört — bestätigt. Dort heißt es — ich zitiere —:Die deutsche Sprache ist und bleibt ein zentraler Bestandteil unserer Kultur und ein wichtiger Mittler zur Verständigung zwischen den Völkern. Deshalb kann es nach Meinung der Bundesregierung keine auswärtige Kulturpolitik ohne sinnvolle Sprachpolitik geben. Sie ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben.Und dieser Grundsatz gilt auch weiterhin.
Die Regierungserklärung hat ihn daher nochmals bekräftigt.Mit dem Sprachbericht ist keine Umorientierung der bisherigen Sprachpolitik verbunden. Sprachimperialismus liegt uns fern. Mit der Vorlage dieses Berichts legt die Bundesregierung nicht nur den Grundstein für die Umsetzung der Regierungserklärung, sie kommt auch einem wiederholt geäußerten Informationswunsch aus den Fraktionen nach.Seit Vorlage des ersten Sprachberichts im Jahre 1967 sind nahezu 20 Jahre vergangen. Der vorliegende Bericht beschränkt sich jedoch nicht auf eine Bestandsaufnahme, sondern zeigt auch Wege auf, wie unsere Absicht, die Verbreitung der deutschen Sprache im Ausland zu fördern, verwirklicht werden kann.Meine Damen und Herren, das Interesse an der deutschen Sprache hat, von regionalen Ausnahmen abgesehen, weltweit abgenommen. Heute lernen noch etwa 15 Millionen ausländische Schüler Deutsch. Hinzu kommen etwa 1,4 Millionen Studenten und eine nicht oder nur sehr schwer zu erfassende Zahl von Personen, die Deutsch im Rahmen der Erwachsenenbildung vornehmlich an privaten Sprachenschulen lernen. Diese Zahlen sind zwar beeindruckend, sie sind jedoch, wie ich bereits sagte, rückläufig. 1979 zählten wir noch etwa 1 bis 2 Millionen Schüler mehr, die die deutsche Sprache lernten. Dieser Rückgang, insbesondere auch in einigen wichtigen Partnerländern, ist Anlaß genug, unsere bisherige Politik der Bedarfsdeckung auf eine Politik der Bedarfsweckung umzustellen.
Es gibt eine Reihe von Gründen, warum Deutsch keine überregionale Verkehrssprache ist und warum weniger ausländische Schüler sie lernen. Die Nachkriegszeit brachte einen weltweiten Schub zugunsten der englischen Sprache. Als führende erste Fremdsprache oder gar als Verkehrssprache gilt das Deutsche, anders als vor 1945, nirgends mehr, weder in den Niederlanden oder Skandinavien noch bei unseren östlichen Nachbarn einschließlich der Sowjetunion oder auf dem Balkan. Hier haben die Hitlersche Katastrophenpolitik, die ihr folgende Vertreibung der Deutschen und der Sturz Deutschlands schwere, weithin nicht mehr revidierbare Folgen gehabt. Die Sprache folgt also der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Macht zugunsten des Englischen.Auch Schulreformen in Ländern mit traditionell starkem Deutsch-Unterricht, die zu Lasten des Erlernens einer zweiten Fremdsprache gingen, haben maßgeblich zum Rückgang der Zahl der DeutschSchüler beigetragen. Diese Entwicklung können wir nicht zurückdrehen, aber wir sollten sie aufzuhalten versuchen.Förderung der deutschen Sprache im Ausland heißt in erster Linie Werben für das Erlernen unserer Sprache. Dafür ist das Eigeninteresse des Sprachschülers, seiner Eltern, aber auch das politische und wirtschaftliche Interesse seines Landes, der geeignete Ansatzpunkt. In diesem Sinne wird sich die Bundesregierung in Zukunft auch auf politischer Ebene verstärkt für den Unterricht unserer Sprache an den Schulen unserer ausländischen Partner einsetzen. Mehr noch als bisher werden wir dort, wo dies gewünscht ist, durch entsandtes Fachpersonal, Fortbildungsprojekte und Stipendien unseren Beitrag zur Verbesserung der Qualität und Quantität des Deutsch-Unterrichts leisten.Bei unserem Bemühen, die deutsche Sprache im Ausland wieder mehr zu verbreiten, sind wir auf das Wohlwollen und das Interesse Anderssprachi-
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Staatsminister Möllemannger angewiesen. Dies setzt eine Sprachpolitik mit Augenmaß voraus.Doch Sprachpolitik kann nicht auf einer Einbahnstraße erfolgen. Als Teil unserer durch Dialog, Austausch und Zusammenarbeit auf der Basis gleichberechtigter Partnerschaft geprägten auswärtigen Kulturpolitik setzt eine aktive Sprachpolitik im Ausland auch die Bereitschaft zum Erlernen von Fremdsprachen bei uns selbst voraus.
— Ja, ich würde es sehr wünschen, wenn die arabische Sprache, die eine sehr schöne Sprache ist, in Deutschland mehr gelernt werden könnte. — Aufgeschlossenheit für Fremdsprachen bei uns verleiht unseren Bemühungen um die deutsche Sprache im Ausland mehr Glaubwürdigkeit.Es bedarf nunmehr zusätzlicher konkreter Maßnahmen, wenn wir es mit unserer Absicht, die Sprache Luthers, Goethes oder Einsteins im Ausland wieder mehr zu Gehör zu bringen, ernst meinen. Mehr Goethe-Institute, mehr Deutschlektoren, Lehrer und Fachberater, mehr Stipendiaten und Fortbildungsseminare, Sprachwerbung, der Einsatz moderner Medien für den Sprachunterricht - all dies kostet Geld. Der Bundeshaushalt 1986 wird uns einen ersten Einstieg ermöglichen. Die vollständige Umsetzung des Ihnen vorliegenden, insgesamt 91 Seiten umfassenden Berichts, meine Damen und Herren, liegt also noch vor uns. Es bedarf daher weiterer Anstrengungen auch in den kommenden Jahren. Die Bundesregierung wäre den Fraktionen dieses Hauses dankbar, wenn sie diese Bemühungen unterstützen könnten.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere deutsche Sprache sei die Orgel, so meinte es Jean Paul, unter allen Sprachen. Nun sollen wir diese Orgel, so meinen es der Bundeskanzler und Herr Möllemann, exportieren. So meint es auch der hier zur Diskussion stehende Bericht. Sollen wir da ungeteilten Beifall spenden, ungefragt in Jubel ausbrechen, daß unsere exportsichere Bundesrepublik ihr ältestes Produkt, unsere Sprache, nun verstärkt auf den Weltmarkt wirft und, wie Herr Möllemann eben gesagt hat, „Bedarfswekkung" betreibt? Eine Offensive soll da für Verkauf sorgen, wo Nachfrage zwar behauptet, sinkender Absatz aber konstatiert wird.Gäbe es auch nur die geringste Beziehung zwischen Außenhandel und Sprachexport, dann müßten die Japaner jämmerlich hinter den Portugiesen stehen, und sie würden auf dem Weltmarkt überhaupt kaputtgehen; denn wer kann schon Japanisch!
Nein, meine Damen und Herren, wir sollten prüfen, ob wir so frischfröhlich mit diesem Exportauftrag des Kanzlers umgehen dürfen, wie es der Bericht empfiehlt. Wir sollten einen vielleicht problematischen, weil nicht wirklich durchdachten Plan bremsen, wo er in die Irre geht, und ihn da befördern, wo er richtig liegt.Damit die Abgeordneten auch wissen, wie unser Bemühen um auswärtige Kulturpolitik von weiland höchsten Würden- und Bürdenträgern der Bundesregierung gewürdigt wird, bringe ich hier zunächst ein Zitat des seines dreisternigen Schweizer Nummernkontos wegen aus dem Amt gewiesenen Peter Boenisch im „stern" von heute:Sonntags sind die Abgeordneten in Namibia; die wissen mehr über die Neger als über ihre Wähler.So Peter Boenisch in seinem neuen Vortrag, den er für 10 000 DM allüberall hält. Nach Meinung dieses Kulturphilosophen beschäftigen wir uns also zuviel mit der Welt, zumal mit der Dritten.Wir bleiben bei der Einsicht des Auswärtigen Amts.. Auswärtige Kulturpolitik ist sinnvoll und muß intensiv fortgesetzt werden. Ist aber das, was der Bericht Sprachpolitik nennt — welch bombastisches Wort —, sinnvoll und richtig angelegt?Ralf Dahrendorf hat nach unserer Überzeugung in den Leitsätzen zur auswärtigen Kulturpolitik 1970 den richtigen Gedanken formuliert: „Die deutsche Sprache ist Träger, nicht Ziel unseres Wirkens im Ausland."
Auch die sozialliberale Koalition hat die Förderung des deutschen Sprachunterrichts im Ausland nicht vernachlässigt, sondern hat stets die vielfältigen Bedürfnisse nach deutschem Sprachunterricht gewürdigt und getragen. Aber sie hat doch nicht die Verbreitung der deutschen Sprache als Selbstzweck betrieben, abgekoppelt von der kulturellen Dimension und mit einer wirtschaftspolitischen Begründung.Ich stelle die Frage: Ist die blanke Zahl der Menschen, die in Indonesien oder in Kolumbien Deutsch lernen, wirklich interessant? Ist nicht vielmehr die deutsche Kultur im Ausland ein sehr kompliziertes Gewebe, dessen Material unsere Sprache ist? Muß Sprachpolitik in dieser betonten Form aus unserer Kulturarbeit herausgehoben werden? Ich meine: nein. Beschleicht uns nicht eher traurig stimmende Ironie, wenn die Regierung ungeheuere Anstrengungen macht, die deutsche Sprache im Ausland zu fördern, wo wir bislang noch kein Konzept haben, mit dem wir dem eigenen Sprach- und Wortschwund begegnen,
der nicht nur die Deutschen befallen hat zugunsten von Kürzel-, Fach- und Computersprachen? Ich möchte hier nicht die gemeinsame Basis der Enquete-Kommission von 1977 verlassen, aber ich möchte an uns alle den Appell richten, doch noch einmal ernster darüber nachzudenken, ob unsere Prämissen noch stimmen. Deutschunterricht wird wohl einer der Schwerpunkte der auswärtigen Kul-
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Duveturpolitik bleiben; ein Ziel in sich selbst darf er nicht werden.Wir sollten den senegalesischen Germanisten Mussa Gueye ernst nehmen. Ich zitiere aus seiner Dissertation:Deutsch, eine Sprache des Abendlandes, wird im schwarzafrikanischen Entwicklungsland Senegal unterrichtet. Man mag dafür Gründe ökonomischer oder anderer Art finden; als Selbstverständlichkeit wird es jedenfalls nicht hingenommen.Dies ist eine warnende Stimme eines wichtigen Wissenschaftlers, der mit unserer Hilfe Deutsch gelernt, studiert hat und heute lehrt.Meine Damen und Herren, wir Politiker nehmen selten Gelegenheit, über das zu sprechen, was unser ureigenes Arbeitszeug ist, die Sprache, unsere Sprache. Sie ist in Wahrheit unser einziges Instrument, wenn wir die ritualisierten Tätigkeiten, deren wir uns befleißigen, außer acht lassen. Hammelsprung kann stumm, namentliche Abstimmung mit extrem karger Wortwahl verrichtet werden. Alles andere sind Wörter, ist Sprache.Wehmut überkommt, wer die Autoren unseres famosen Reports über die Erfolge der deutschen Sprache in aller Welt berichten hört,
wer von den nach Zehntausenden zählenden Sprachmeistern liest, die diesen kostbaren Besitz in aller Welt unter die Leute und auf fremde Zungen bringen. Hoffentlich, so denke ich, geraten diese Deutschlehrer nicht allzuoft in unseren Bundestag. Wir haben hier mindestens fünfzig verschiedene Fachsprachen entwickelt, für die wir untereinander schon Dolmetscher benötigen.
Wir erleben Sprachgestalten und Wortgewalten wie die unseres verehrten Herrn Bundeskanzlers, für deren Anwendung und Verständnis es inzwischen schon Fachliteratur gibt.
Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag sollte sich selbst, die Regierung, die Länder und die Kommunen fragen: Wieviel ist uns unsere eigene Sprache wert, wenn wir den Bibliotheken die Mittel kürzen?! Wir sollten fragen: Wieviel ist uns die deutsche Sprache wert, wenn wir in 25jährigem Zusammenleben mit den sogenannten Gastarbeitern keine wirkliche Kraft aufgebracht haben, sie und ihre Familien sprachlich in unsere Kultur zu integrieren?!
Wie sollen unsere Deutschlehrer im Ausland mitÜberzeugung unsere Sprache lehren, wenn wir zuHause der beschädigten Lesekultur von sogenannten Fernsehkindern nichts anderes als die „große Freiheit" der Medienkanäle entgegensetzen?
Damit bin ich wieder beim Bericht des Auswärtigen Amtes. Ist es nicht leichtsinnig, jetzt für die Verbreitung der deutschen Sprache auch von staatlicher Seite aufs Satellitenfernsehen zu setzen, und das nur, um mit den Amerikanern — so wird es begründet — televisionär Schritt zu halten, deren Weltsprache einen uneinholbaren Vorsprung hat? Mit Verlaub, Herr Staatsminister Möllemann, geht es denn um einen Wettlauf von Sprachen in der Welt, wie Sie es in Ihrer Rede angedeutet haben?
Fördert Bonner Regierungsfernsehen über Indien die deutsche Sprache, die deutsche Kultur?Wir haben für die auswärtige Kulturarbeit hervorragende Institutionen, nutzen wir sie! Da stimme ich mit Ihnen überein. Hüten wir das Goethe-Institut oder den DAAD wie unseren Augapfel,
und schützen wir sie davor, daß ihnen auch nur eine Mark zugunsten neuer Fernsehexperimente des Staates genommen wird!Ein Zitat: „Die anderen Nationen werden schon deshalb Deutsch lernen, weil sie innewerden müssen, daß sie sich damit das Lernen fast aller anderen Sprachen gewissermaßen ersparen können." So schreibt Goethe am 14. September 1826 zum Fürsten Pückler. Man muß heute mit Goethe-Zitaten sehr vorsichtig sein, aber dieses stimmt. Dieses wahrlich beneidenswerte, aber ganz und gar überholte Sprachselbstbewußtsein unseres Altmeisters liegt vielleicht auch der Selbstverständlichkeit zugrunde, mit der der Bundeskanzler die Verbreitung der deutschen Sprache in der Welt fordert.Ich meine, wir müssen wesentlich bescheidener werden, als es dieser Bericht ist. Fördern wir Wort- und Lesekultur bei uns, bieten wir allen im Ausland, die sich der deutschen Kultur nähern wollen, Sprachkurse an, aber machen wir nicht so einen Unsinn, Herr Möllemann, wie das, was Sie da soeben gesagt haben: „Bedarfsweckung"! Das ist ökonomisch und hat mit auswärtiger Kulturpolitik überhaupt nichts zu tun.Wir müssen uns vor einer großangelegten Sprachoffensive in der Welt hüten. Das geht nicht. Da haben wir üble Vorgänger. Ich erinnere an die Kulturpolitik von Herrn Haushofer seligen oder unseligen Angedenkens. Wir können hier eine solche Sprachoffensive nicht tun. Ich bin der Meinung, daß dieser Bericht in dieser Form im Ausland nicht diskutiert werden sollte. — Das Ausland wird j a Interesse daran haben: Was ist das für eine Offensive, die die Deutschen da starten?Ich denke, hier muß man noch einmal sehr sorgfältig mit dem Bericht umgehen. Ich will hier niemandem falsche Motive unterstellen. Aber so, wie dieser Bericht angelegt ist, können wir ihn nicht
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Duveakzeptieren, können wir auch vom Ausland das neue Programm zur Förderung der deutschen Sprache in der Welt nicht akzeptiert bekommen.Diese Sprachoffensive ist wirkungslos, geht von falschen Prämissen aus, verkennt den Zustand unserer eigenen Sprache im Lande und wirft ein schräges Licht auf die Motive unserer auswärtigen Kulturpolitik, das sie nicht verdient.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hornhues.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Duve, ich habe Ihre Anmerkungen zum Teil mit erheblicher Verwunderung zur Kenntnis genommen. Ich stelle fest:Erstens. Vieles von dem, was Sie in dem Bericht gelesen haben wollen, steht dort gar nicht drin. Sie haben dort eine ganze Menge von Phantomen entdeckt,
die man wahrscheinlich nur mit einer besonderen Begabung entdecken kann. Das, was Sie an Kulturimperialismus entdecken, steht weithin in Ihrer Phantasie, nicht in dem Bericht.Zweitens. Ich bedaure sehr, daß Sie angekündigt haben, daß Sie in diesem Bericht nicht zustimmen wollen, obwohl er, vielleicht von Nuanchen abgesehen, inhaltlich nichts anderes aussagt als das, was über Jahre hinweg gemeinsame Auffassung der SPD, der FDP und der CDU/CSU gewesen ist.
Ich bedaure, daß das der Fall ist. Das macht es nicht leichter.Lassen Sie mich feststellen, meine Damen und Herren, daß in der Vergangenheit bis zum heutigen Tage, bis zu diesem Bericht wir hier im Plenum des Bundestages und in den Ausschüssen, wenn wir uns damit beschäftigt haben, und die Bundesregierung in Stellungnahmen immer wieder die besondere Bedeutung der deutschen Sprache betont haben. Sie haben recht — insoweit stimme ich Ihnen zu, Herr Duve; aber es hat nie jemand behauptet, es steht nirgendwo —: Deutsche Sprache ist kein Selbstzweck. Gut Deutsch sprechen, die eigene Sprache beherrschen mag für uns wichtig und insoweit Selbstzweck sein. Aber im Ausland die deutsche Sprache als Selbstzweck zu verbreiten, das steht nirgendwo, das will niemand. Sprache ist für uns wichtiger Schlüssel zum Verstehen. Das heißt, derjenige, der im Ausland die deutsche Sprache lernt, nimmt einen Schlüssel in die Hand, der ihm die Chance gibt, uns besser zu verstehen. Angesichts unserer politischen Situation in einem geteilten Land, angesichts unserer spezifischen Probleme, die wir haben, und auch angesichts unserer Geschichte, der alten wie der neuen, bin ich dankbar für jeden, der sich so intensiv damit beschäftigen will, aus welchem Motiv auch immer, daß er unsere Sprache lernt, um unsere Gegenwart und unsere Vergangenheit und unsere Kultur und Geschichte und unser Sein, so wie wir nun einmal sind, näher kennenzulernen. Ich meine, wir sollten jedem, der dies will und den Wunsch hat, dabei helfen und ihm eine Chance geben, diesen spezifischen Schlüssel zu uns zu bekommen.Das ist ein wichtiger Teil für Kulturaustausch, für Wissenschaft, für Kontakte in Zusammenarbeit mit beruflicher Bildung, aber auch — das sei überhaupt nicht verschwiegen - ein wichtiger Punkt für die Anbahnung und Pflege wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Ländern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir können nicht so tun, als seien wir nicht ein Land, das hochgradig vom Export abhängig ist, das eines der größten Exportnationen der Welt ist und wo gegebenenfalls das Beherrschen der deutschen Sprache anderen und uns Chancen und Möglichkeiten eröffnet.In summa möchte ich für uns feststellen — ich bedaure, das nur für meine Fraktion bzw. für die Koalition tun zu können —: Ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland kann auf die politischen, ökonomischen und kulturellen Fernwirkungen des Erwerbs der deutschen Sprache nicht verzichten.
Für uns ist Sprache — um es noch einmal deutlich zu sagen — nicht irgendein Ziel, sondern ein Mittel, um bestimmte Ziele möglichst optimal erreichen zu können.Von daher kann uns die im Bericht festgestellte Abnahme der deutschen Sprache nicht unberührt lassen. Ich begrüße es von daher, daß die Bundesregierung in diesem Bericht ein Instrumentarium zu entwickeln versucht, das dem begegnet. Auch wenn die Bundesregierung in ihrem Bericht feststellt, daß sich Methoden und Instrumente der Sprachförderung im großen und ganzen bewährt haben, so werden wir sie doch — das ist meine Überzeugung — auf den Prüfstand stellen müssen, auch fragen müssen, ist alles optimal, ist die Effizienz hinreichend, liegen die Schwerpunkte richtig; denn weltweit, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben wir sehr heterogene Situationen. Wir haben auch in großen Regionen das Problem einer vorhandenen großen Nachfrage nach dem Erlernen deutscher Sprache, dem wir nicht nachkommen. Wir haben das Problem, daß wir zum Teil Lehrmaterialien haben, die offensichtlich ein sehr seltsames Bild über unser Land vermitteln, wenn ich mich nur an eine Diskussion erinnere, an der Frau Hamm-Brücher teilgenommen hat und in der eine Türkin auf die Frage, welches Deutschlandbild sie sich denn gemacht habe, als sie im Goethe-Institut in Ankara Deutsch gelernt habe — sie habe sich doch da ein Bild gemacht —, und was sie am meisten überrascht habe, als sie hierher gekommen sei, sagte, am meisten habe es sie überrascht, daß es in Deutschland Kühe gebe. Sie hätte zuvor den Eindruck gehabt, dieses Land sei voller Fabriken.
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Dr. HornhuesDies als kleine Anmerkung zur Notwendigkeit, in diesem Zusammenhang auch zu fragen: Was transportieren wir eigentlich über uns mit unseren Materialien?Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße es, daß in diesem Bericht auch ein Punkt angesprochen worden ist, der immer als besonders heikel galt, nämlich die Frage der vielen Millionen Menschen aus unserem Land, die vor Generationen — bis in die jüngste Vergangenheit hinein — unser Land verlassen haben, sich uns aber immer noch ein wenig — mehr oder weniger wenig — zugehörig fühlen, unser Land als ihre Heimat sehen und die sich oft von unserer auswärtigen Kulturpolitik bei ihrem Bemühen, sich deutsche Sprache und Kultur ein wenig zu erhalten, verlassen gefühlt haben. Ich begrüße nachdrücklich, daß dieser Punkt in den Bericht aufgenommen worden ist.Zu den Thesen, die zur Förderung der deutschen Sprache entwickelt worden sind: Wir werden Sie hinterfragen müssen. Wir werden in der Arbeit in den Ausschüssen fragen müssen: Wie können sie Stück um Stück konkret umgesetzt werden? Wie soll was operativ ausgestaltet werden? Dies wird ein wichtiger Teil der Arbeit im Ausschuß sein.Ich möchte allerdings nicht schließen, meine sehr geehrten Damen und Herren, ohne danke schön zu sagen,
Dank zu sagen an die Lehrer und Lehrerinnen an den deutschen Auslandsschulen, an die Tätigen in den Mittlerorganisationen für die Arbeit, die sie für die Verbreitung der deutschen Sprache und damit für das Verständnis für unser Land im Ausland geleistet haben. Ich möchte Danke schön sagen an alle die Personen, die durch ihr Schaffen in Literatur, Musik, in bildender Kunst — gerade auch in den Nachkriegsjahren — wichtige Beiträge dazu geleistet haben, daß unser Platz in der Welt der Platz ist, den wir heute einnehmen können, was Achtung und Ansehen angeht.Den Dank an die Bundesregierung für die Aufbereitung des Materials zu diesem umfassenden Bericht möchte ich nun auch mit einem Zitat schließen — es ist ja heute üblich, es muß Goethe sein; deswegen sage ich schon vorher, daß es Goethe ist —:Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause sei.Dies, meine sehr geehrten Damen und Herren, halte ich für wichtig — das kommt auch in dem Bericht vor —, daß wir uns nämlich, wenn wir über das Problem sprechen, über die Chance, daß andere unsere Sprache lernen, auch mit dem Problem des Lernens anderer Sprachen in unserem Land beschäftigen müssen, um auch andere besser verstehen zu können. Ich halte dies für ebenso wichtig, für einen wichtigen Aspekt auch unseres Bemühens mit Blick auf die vielen Millionen Nichtdeutschen, die in unserem Land leben. Ich hoffe — Herr Duve, trotz Ihrer Anmerkungen, die Sie über dasZurückweisen gemacht haben —, daß es uns gelingt, doch noch zu einer gemeinsamen vernünftigen Arbeit bei der weiteren Beratung zu kommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Borgmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man unseren Bundeskanzler fragen würde, ob er durch seine Auftritte im Ausland Wesentliches zum Ruhm der deutschen Sprache beigetragen hätte, würde er vermutlich in dem ihm eigenen Originalton antworten: „Ich bejahe die Frage rundherum mit Ja."
Weil es hier jedoch nicht nur um das beklemmende Verhältnis eines Regierungschefs zu seiner Muttersprache gehen kann, möchte ich Ihnen die Auswirkungen unionsgeprägter Sprachpolitik im Ausland erläutern. Die 83 er Wende hat sich sehr wohl auch in der auswärtigen Schul- und Sprachpolitik vollzogen. Ich möchte hier besonders darauf hinweisen, daß das generelle Bemühen, Deutsch in anderen Ländern zu fördern, durchaus konsensfähig ist; Ansatzpunkte zu nachhaltiger Kritik ist allerdings die mehr oder weniger gut kaschierte Absicht, eine Rückwendung zu überzogenem Nationalstolz und Deutschtümelei zu praktizieren.
Der Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt, Witte, überschrieb einen vielbeachteten Aufsatz im „Auslandskurier" von März 1985 mit — ich zitiere — „Förderung der deutschen Sprache als Ziel auswärtiger Kulturpolitik". Dieser erstaunlichen Definition möchte ich einen Kernsatz aus den ,,Leitsätzen für die auswärtige Kulturpolitik", die das Auswärtige Amt 1970 veröffentlichte, gegenüberstellen: Die deutsche Sprache ist Träger und nicht Ziel unseres Wirkens im Ausland.
Der geistige Vater dieser reformierten auswärtigen Kulturpolitik, Ralf Dahrendorf, legte damals ungleich größeren Wert auf die Umsetzung gemeinsamer Ziele als auf die Verfolgung nationaler Eigeninteressen, die eine solche Politik angesichts unserer jüngeren Vergangenheit nicht gerade glaubwürdiger macht.
Gerade eine solche Politik, wie sie jetzt von der Bundesregierung praktiziert wird, gilt es hier als rückschrittlich und vernebelnd zu brandmarken. Wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 von Sympathie, Verständigung und Friedensgesinnung spricht, wenn er davon spricht, daß das zutreffende Bild von unserem
Frau Borgmann
Land auch im Ausland lebendig gehalten werden solle, und wenn er dann wörtlich fortfährt:
Wir müssen die deutschen Schulen im Ausland stärker als bisher fördern. Wir werden neue Anstrengungen unternehmen, um die deutsche Sprache im Ausland wieder mehr zu verbreiten...,
dann kann das z. B. angesichts der Ungeheuerlichkeit „Bitburg" nur Betroffenheit auslösen. Hier wird Instrumenten auswärtiger Kulturpolitik ein Stellenwert eingeräumt, den sie bereits zu Zeiten des schlimmsten Kolonialismus besaßen.
Nur Böswillige können angesichts einer weltweiten Notwendigkeit zur Verständigung, angesichts eines anachronistisch anmutenden Krieges auf den Falkland-Inseln, der Versenkung der „Rainbow Warrior" oder eines SS-Treffens in Nesselwang widerlegen wollen, daß Sprache an sich immer weniger, Sprache als Transportmittel aber immer mehr ins Gewicht fällt.
Darüber hinaus löst das ausdrückliche Bekenntnis zur Wirtschaftspflege mittels der deutschen Sprache, das im Bericht der Bundesregierung über die deutsche Sprache in der Welt enthalten ist, einiges Befremden aus. Soll der notleidenden deutschen Industrie eventuell durch Intensivkurse in Wirtschaftsdeutsch am Goethe-Institut in Santiago de Chile wieder auf die Beine geholfen werden? Ich hoffe, nicht!
Hier scheint mir jenseits jeder billigen Polemik ein unseliger Trend zu einer antikulturellen Instrumentalisierung deutscher Schulen und Kulturzentren im Gange zu sein.
Wie erschreckend sich die Wende am konkreten Beispiel darstellt, soll die Schulpolitik der Bundesregierung in Südafrika und Namibia zeigen, Länder, die in dem bereits erwähnten Bericht schamhaft verschwiegen werden — und dies nicht ohne Grund. Die mit bundesdeutschen Steuermitteln finanzierten Schulen sind Ghettoschulen für Deutsche im Ausland. Die Bundesregierung behauptet, daß diese Schulen sich allmählich öffnen und bereit sind, Kinder aller Rassen aufzunehmen, sofern diese über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen und den allgemeinen Leistungsanforderungen der Schulen genügen. Diese Formulierung stellt praktisch eine Nichtaufnahmeklausel für Schwarze dar. Die deutsche Sprache wird hier zum Mittel elitärer Ausgrenzungspolitik.
Das beweisen auch die Zahlen: 43 schwarze Schüler bei einer Gesamtschülerzahl von 3 500. Der angebliche Liberalisierungsprozeß ist eine Farce.
Die christlich-nationale Erziehung, die durch Zucht und Ordnung und durch religiöses Leben — oft im kasernierten Stil — geprägt ist, bereitet die Kinder und Jugendlichen auf die Rolle als Herrenmenschen in einer Unterdrückungsgesellschaft vor.
Finanziert werden die deutschen Schulen nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch durch Spenden aus konservativen und rechtsradikalen Kreisen hier bei uns und durch im Apartheidstaat investierende deutsche Firmen. Das deutsche Schulwesen in Südafrika und Namibia trägt somit eindeutig zur Unterstützung des Apartheidregimes bei, und die Verbreitung der deutschen Sprache ist wieder mit knallharten politischen und wirtschaftlichen Interessen gekoppelt.
Wir sind nicht beunruhigt über den Rückgang der deutschen Sprache im Ausland. Kultur-, Wirtschafts- und Außenpolitik stützen sich nicht zwangsläufig auf die deutsche Sprache im Ausland. Sprachen kann man übersetzen. Wer Völkerverständigung, wer Frieden will, der wird auch Mittel und Wege finden, sich verständlich zu machen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freunde und Förderer der deutschen Sprache in der Welt, zu Hause und hoffentlich auch in dem Hohen Hause! Durch die Einführung des Herrn Staatsministers ist uns allen vielleicht doch ein bißchen deutlicher geworden, als es aus dem Bericht zunächst herauszulesen ist, worum es eigentlich geht.Ich darf sagen: Das findet einesteils Zustimmung bei mir und bei der FDP. Andererseits möchte ich aber doch — erlauben Sie das, Herr Möllemann — einige nachdenklich-kritische Anmerkungen als jemand machen, der sechs Jahre lang Verantwortung in diesem Bereich getragen hat — übrigens mit der Zustimmung und Unterstützung aller Fraktionen, was ich damals für sehr wichtig und sehr gut hielt. Ich hoffe sehr, Herr Duve, daß wir uns nach einer sehr gründlichen Beschäftigung mit diesem Bericht vielleicht doch auf Empfehlungen einigen können, die dann ebenfalls gemeinsam getragen werden können. Denn dieser Bereich eignet sich tatsächlich nicht zur parteipolitischen Auseinandersetzung.In dem sehr lesenswerten Büchlein „Mehr als Worte — Aussagen und Anmerkungen zur deutschen Sprache", herausgegeben vom ehemaligen Intendanten der Deutschen Welle, schreibt der damalige Leiter der Abteilung Kulturpolitik beim Bayerischen Rundfunk, Burghard Freudenfeld —Daß wir 1945 nicht nur vor den Ruinen der Städte, sondern fast noch mehr vor den Ruinen eines öffentlichen Sprachstils standen, hat wohl erwiesen, daß Sprache nicht nur ein kommunikationstechnisches und ästhetisches Phänomen, sondern auch und vor allem eine moralische Kategorie für eine Kulturnation ist.
Wenn wir uns heute, liebe Kollegen, 40 Jahre später in einer — übrigens unserer parlamentarischen Sprachkultur wirklich abträglichen — Stoppuhrdiskussion, die wir uns hier immer aufdrücken lassen, mit den grundsätzlichen und praktischen Pro-
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12594 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
Frau Dr. Hamm-Brücherblemen der Förderung der deutschen Sprache in der Welt auseinandersetzen, geht es doch einfach nicht an, daß wir dieses fortwirkende Dilemma bei der Formulierung und Diskussion eines Konzepts für die Förderung der deutschen Sprache in der Welt nicht wenigstens ansprechen. Ich bin Ihnen, Herr Duve, dankbar, daß Sie das getan haben.Sprache und eine Politik der Sprachförderung haben für uns auch und immer wieder — und sie müssen es doch haben, Herr Möllemann — eine moralische Kategorie. Es ist bedauerlich, daß von dieser Kategorie in dem Bericht der Bundesregierung nicht einmal ein Anklang zu finden ist.
Das Dilemma ist doch — ich komme auf einen der Vorredner zurück daß in der Welt mit der deutschen Sprache eben nicht nur Luther und Goethe und Hermann Hesse und Thomas Mann und Einstein verbunden werden,
sondern auch das Sprachgenie Josef Goebbels und das Wörterbuch des Unmenschen.
Es ist doch leider eine Tatsache, daß sich mit der deutschen Sprache eben nicht nur Empfindungen der Liebe und der Bewunderung, sondern auch Abneigung und sehr, sehr viele Ressentiments verbinden. Das ist es ja, was wir durch eine nicht aggressive Förderung der deutschen Sprache in der Welt abbauen wollen.Thomas Mann schreibt in einem berühmt gewordenen Brief an den Dekan ausgerechnet der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, der ihm in schnödem Amtsdeutsch die Entziehung der Ehrendoktorwürde mitgeteilt hatte, daß für ihn „Erleben immer eins gewesen sei mit reinigend bewahrender Sprache", und er fährt fort:Das Geheimnis der Sprache ist groß; die Verantwortlichkeit für sie und ihre Reinheit ist symbolischer und geistiger Art, sie hat keineswegs nur künstlerischen, sondern allgemein moralischen Sinn, sie ist die Verantwortlichkeit schlechthin, auch die Verantwortung für das eigene Volk ...Ich füge hinzu: und für seine Geschichte. Das wurde 1937 in Küsnacht am Zürichsee geschrieben, und dieses Bekenntnis verband den schon „ausgebürgerten", sich zu seinem Exilschicksal bekennenden deutschen Nobelpreisträger für Literatur mit tausenden — zumindest dreitausend — deutschsprachigen. Schriftstellern im Exil und wahrscheinlich nicht weniger, die im eigenen Land schweigen mußten. Ich frage die Regierung, und ich frage uns: Liegt hier nicht das kulturpolitische Dilemma, das wir weder ausklammern noch — im Sinne der Ansprache des Bundespräsidenten am 8. Mai — verdrängen dürfen?
Wenn wir über deutsche Sprachpolitik in der Welt und — übrigens danke dafür, Herr Duve — auch bei uns zu Hause nachdenken, dann sind wir, lieber Freund Hornhues, doch geradezu verpflichtet, sorgfältig abzuwägen und auszuloten, welche Motive, Inhalte und Ziele die sogenannte Sprachpolitik — ein schlechtes Wort übrigens — hat und vor allem, welche Motive und Ziele sie eben nicht hat und nicht haben kann. Das fehlt mir in diesem Regierungsbericht, offen gesagt, sehr.Ich stelle mit Bedauern fest, daß dieser Bericht, für den wir danken, in dem vieles unsere Zustimmung und Unterstützung findet, diese grundsätzliche Sensibilität für das Dilemma vermissen läßt.
Herr Staatsminister, insoweit ist er wirklich eine Mogelpackung.Es gibt darin leider Passagen, die Fehldeutungen provozieren könnten. Ich lese das jetzt vor, weil Sie das vorhin vermißt haben. Sätze wie:Nur durch eine aktive Politik zur Verbreitung der deutschen Sprache wird die Bedeutung des Deutschen in der Welt erhalten und möglicherweise gesteigert werden können.müssen doch Mißverständnisse auslösen.
— Wir können sie ja korrigieren, Herr Kollege Rose.Lassen Sie mich ein Beispiel für Selbstüberschätzung geben:Das Ausland kann deutsche wissenschaftliche Erkenntnisse nur dann im erforderlichen Maße aufnehmen, wenn Deutsch als internationale Wissenschaftssprache Geltung hat.Das stimmt einfach nicht mehr mit der Wirklichkeit naturwissenschaftlicher Zusammenarbeit überein.Mißverständlich ist der Satz, daß „Sprachpolitik Teil der Außenpolitik" ist. Genau das soll sie nämlich nicht sein,
den sonst wäre es uns in Zeiten, in denen außenpolitische Beziehungen Schwankungen unterworfen sind, nie gemeinsam gelungen, die Kulturbeziehungen weiter zu pflegen, und es wäre nicht möglich gewesen, an die Anfänge demokratischer Entwicklungen neu anzuknüpfen. Ich glaube, über solche Sätze müssen wir nachdenken.
Solche Kostproben können wir dem Lesepublikum in der Welt nicht vorsetzen.Wenn davon gesprochen wird, die Entwicklung sei rückläufig, und auch die Mittel seien nach den Statistiken rückläufig, und wenn Sie außer Werbung keine neuen Maßnahmen vorschlagen, dann — Herr Kollege Möllemann, ich glaube, zu dieser Schlußfolgerung muß man zwangsläufig kommen — muß man feststellen, daß wir überhaupt erst ein-
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Frau Dr. Hamm-Brüchermal den vorhandenen Bedarf decken sollten, bevor wir neuen Bedarf wecken.
Wer sich einmal Sprachunterricht und Sprachlehrer im Ausland angesehen hat, der muß doch leider feststellen, daß es da noch sehr viel zu tun gibt. Wenn eine Weckung des Interesses an der deutschen Sprache in den Vordergrund gestellt wird, dann wird außer ein paar kurzatmigen statistischen Verbesserungen nichts herauskommen. Die völlig unzulängliche Deckung des ohnehin schon vorhandenen Bedarfs kommt viel zu kurz.Ich plädiere deswegen dafür, eine Sprachförderung zumindest so lange nicht auf quantitative Steigerung anzulegen, wie die notwendigen qualitativen Verbesserungen nicht erreicht sind. Ich erinnere mich an einen großartigen Tag, als der damalige Bundespräsident Castens ein Sportfest der deutschen Schulen in Sao Paulo, das wunderschön, lustig und farbig war, besuchte. Am Schluß ging er aufs Feld und wollte mit den Kindern unserer Schulen reden, und fast keiner der Schüler unserer deutschen Begegnungsschule konnte mit unserem Bundespräsidenten deutsch reden. Hier müssen wir ansetzen. Selbst in unseren Begegnungsschulen wird j a außerhalb des Deutschunterrichts kaum noch deutsch gesprochen. Diesen Bedarf müssen Sie dekken, bevor Sie mit Propaganda und Werbung kurzfristig ein paar Leute dazu bewegen, vielleicht einmal ein halbes Jahr in einen Sprachkurs zu gehen.
Frau Kollegin, ich muß Sie leider darauf aufmerksam machen, daß wir eine gemeinsame Vereinbarung haben.
Ich wiederhole zum Schluß, was ich anfangs sagte: Die Sprache und ihre Förderung sind tatsächlich der Schlüssel zur Verständigung und zum Verstehen zwischen Menschen, Völkern und Kulturen. Sie ist ein wichtiges und schönes Medium der Kulturbegegnung. Friedrich Rückert — um einmal nicht Goethe zu zitieren — sagt: „Mit jeder Sprache mehr, die Du erlernst, befreist Du einen bis daher in Dir gefangenen Geist."
Keine Fremdsprache lernt man ohne eigene Anstrengungen, nicht einmal die Muttersprache. Schon deshalb sollten wir auf jedes kultur- oder sprachpolitisch offensives Sendungsbewußtsein verzichten. Sosehr wir uns über jeden freuen, der sich in der Welt um das und mit dem Erlernen der deutschen Sprache müht: Sprachförderung beginnt und endet zu Haus, und nicht zuletzt in unserem Hohen — leider wie immer leeren — Haus.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Möllemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zuvor gehörten Ausführungen veranlassen mich zu zwei Feststellungen. Erstens. Ich habe in meiner Eingangsrede zu diesem Tagesordnungspunkt gesagt, daß uns jede Art von Sprachimperialismus fernliegt, und habe dafür u. a. die besondere Notwendigkeit angeführt, bestimmte Phasen unserer eigenen Geschichte zu berücksichtigen. Ich habe von der Hitlerschen Katastrophenpolitik gesprochen. Man sollte, finde ich, jetzt nicht ohne Not den Eindruck erwecken, als würden diese Phase der deutschen Geschichte und die aus ihr zu ziehenden Schlußfolgerungen von der jetzigen Regierungskoalition oder der jetzigen Bundesregierung nicht voll gewürdigt, nur weil man ihr im Moment nicht angehört. Ich finde das nicht gut, Frau Kollegin Hamm-Brücher.
Ich finde das aus einem zweiten Grund nicht gut — ich will auch das noch einmal unterstreichen —: Ich habe dargelegt, daß das, was ich vorgetragen habe und was Sie in dem Bericht finden, im wesentlichen, in allen Kernpunkten dem entspricht, was die Bundesregierung im Jahre 1977 in ihrer Stellungnahme zum Bericht der Enquete-Kommission „Auswärtige Kulturpolitik" diesem Haus vorgetragen hat. Verehrte Frau Kollegin Hamm-Brücher, damals waren Sie Staatsministerin und haben hier die gleichen Grundsätze vorgetragen, die ich heute begründet habe. Deswegen sind mir Ihre Anmerkungen im Moment nicht begreiflich. Ich lege großen Wert darauf, das festzustellen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rose.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hätte es ein biblisches Ereignis nicht gegeben — nämlich den Turmbau von Babel —, bräuchten wir uns heute nicht die Köpfe heiß zu reden, ob wir denn überhaupt noch die deutsche Sprache benutzen dürfen. Es gäbe keinen Herrenimperialismus, keinen Sprachimperialismus und all das, was hier an bösen Worten gefallen ist.Wir unterhalten uns über die deutsche Sprache nicht anders, als das wahrscheinlich andere Völker über ihre eigene Sprache, über ihre eigene Kultur tun. Warum soll das schlecht sein? Ich möchte erstens betonen: Ich bin sehr dankbar, daß die Bundesregierung diesen Bericht zur deutschen Sprache in der Welt vorgelegt hat. Ich freue mich zweitens darüber, daß wir erstmals, soweit ich es weiß — ich bin seit 1977 im Bundestag —, auch eine Plenardebatte darüber führen, daß die deutsche Sprache in der Welt gefördert werden soll und daß es auch ein gewisses Ansehen dieser deutschen Sprache gibt.
In der Regierungserklärung 1983 hatte es geheißen — das ist schon zitiert worden —:
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Dr. RoseWir werden neue Anstrengungen unternehmen, um die deutsche Sprache im Ausland wieder mehr zu verbreiten.Diesem Satz ist ein anderer Satz vorangestellt:Wir müssen die deutschen Schulen im Ausland stärker als bisher fördern.Da stelle ich mir die Frage: Müssen wir das wirklich? Das kostet ja immerhin einiges an Geld. Man könnte umgekehrt die Frage stellen — sie wird mir auch aus der Bevölkerung gestellt —: Brauchen wir das Geld denn nicht zu Hause; gibt es denn nicht immer mehr Jugendliche im eigenen Lande, die die deutsche Sprache nicht mehr richtig beherrschen? Wenn ich mir manchmal unsere eigenen Resolutionen ansehe, habe ich auch den Verdacht, daß die deutsche Sprache im Inland ebenfalls gefördert werden müßte.
Ich glaube, hier müßte durchaus einiges getan werden.Herr Kollege Duve kommt immer gern auf Bayern zu sprechen.
— Auf den „Bayernkurier", noch besser. Ich danke für die Werbung für den „Bayernkurier". Aber es gibt sicherlich auch andere Gegenden, für die das Gesagte gilt.
nicht aufdrängen, sondern ein Angebot machen. Aber zum Angebot-Machen gehört, daß man den Bedarf wecken darf bzw. muß. Ich finde nicht, daß das Imperialismus ist. Denn wer sich für Vorgänge draußen in der Welt ein bißchen interessiert, weiß doch, daß ein Bedarf an der Beherrschung der deutschen Sprache vorhanden ist, genauso wie das für die englische, die russische oder eine andere gilt. Dieser Bedarf besteht deshalb, weil es eine Reihe interessanter deutscher Schriftsteller gibt, weil es deutsche Wissenschaftler gibt, die auf ihrem Fachgebiet Hervorragendes geleistet haben. Bedarf ist aber auch deshalb vorhanden — wir wollen es doch nicht abstreiten —, weil es eine herausragende deutsche Wirtschaft gibt, so daß es manches Mal nicht falsch ist, daß man die Gebrauchsanleitung auch in der Originalsprache lesen kann. Meine Damen und Herren, wenn Sie das auch schon als Herrenwahn oder sonst etwas bezeichnen, dann sage ich Ihnen: Ich verstehe überhaupt nicht, was das damit zu tun hat.
Ich finde es auch immer sehr schön, wenn ich irgendwo hinkomme — ich glaube, den Kollegen, die ja sicherlich auch häufig verreisen, geht es ähnlich — und die deutsche Sprache höre, sei es schon an den westeuropäischen Grenzen, sei es in Ostanatolien, wo unsere türkischen Gastarbeiter — fast in jedem Dorf — die deutsche Sprache beherrschen, sei es in Namibia — das soll jetzt keine Herrenideologie sein; dort gibt es eben noch viele Deutsche, auch noch schöne Geschäfte, in denen man deutsche Sachen einkaufen kann —, sei es in einem Museum in Taipeh — das hat mich sehr bewegt —, in dem uns der uralte Museumsdirektor, der früher in Deutschland studiert hatte, auf deutsch begrüßte. Ist denn das etwas Schlechtes? Weiter habe ich z. B. in Omsk Wolgadeutsche getroffen, die gerne auch Deutsch gesprochen haben. Ist denn das etwas Schlechtes? Wenn wir die deutsche Sprache dann in Südamerika oder in anderen Ländern der Welt noch fördern wollen, meine Damen und Herren,
dann halte ich das für absolut notwendig. Ich glaube, daß man damit nichts Schlechtes macht.Ich verstehe Deutsch nach wie vor nicht nur als hehres Kulturangebot, sondern ich halte die deutsche Sprache für das Verstehen der deutschen Eigenart, der deutschen Wissenschaften usw. für wesentlich. Deshalb halte ich das Unterrichten der deutschen Sprache — sei es in den Schulen, sei es in den Mittlerorganisationen wie Goethe-Institut, DAAD, Carl-Duisberg-Gesellschaft usw. — für dringend notwendig. Ich hoffe auch, daß wir in der Zukunft mehr Geld dafür einsetzen können.
Ich bin sogar der Meinung, meine Damen und Herren: Mehr als in so manches Entwicklungshilfeprojekt sollten wir das Geld in unsere Schulen oder in unsere Einrichtungen in den Entwicklungsländern stecken, es also dorthin geben, wo Menschen gefördert werden. Also, Menschen fördern! Meine Damen und Herren, hier wirklich mehr Geld auszugeben halte ich für richtig, vor allen Dingen auch deshalb, weil wir wissen, daß aus den deutschen Auslandsschulen oft führende Persönlichkeiten der entsprechenden Länder hervorgegangen sind.Ich hätte also lieber mehr Geld für die Arbeit mit der deutschen Sprache, mehr Geld auch für die Auslandsschulen. Da ich im Haushaltsausschuß bin — Sie haben das vorhin angesprochen —, gebe ich gerne zu, daß uns der große Sprung nach vorn, so wie er in der Regierungserklärung angeklungen ist, noch nicht gelungen ist. Aber im Haushalt 1986 sind doch eine Reihe von Positionen vorhanden, die uns mehr Lektoren beim DAAD bringen, die uns einige zusätzliche Sprachkurse ermöglichen, die uns aber auch Spracharbeit über moderne Medien ermöglichen. Meine Damen und Herren: Was ist denn an einem Sprachkurs im Fernsehen schlecht? Wenn Herr Duve als Lektor für einen Lese-Verlag gegen das Fernsehen ist, so habe ich dafür ja Verständnis.
Aber ich bin dafür, wenn ich einen Fernsehkurs verfolgen kann, in dem ich eine fremde Sprache hören, lernen kann. Ich glaube, daß es anderen auch so geht.
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Dr. RoseNun, meine Damen und Herren, was könnte man noch tun? Die Meinung, die ich hier vertrete, ist, auch auf Grund vieler Erfahrungen im Ausland, belegt: Wir bräuchten mehr Geld für die Lernmittelausstattung. Überall, wohin man hinkommt, stellt man fest, daß man die Sprache vorher zwar gelernt hat, daß man dann aber hinterher keine Bücher, keine Schriften mehr hat und mit aktuellen Zeitungen nicht versorgt wird. Ich wäre dafür, auch eine höhere Prämienausstattung für besondere DeutschLeistungen vorzusehen und — als letztes — auch unsere Auslandsdeutschen, die deutschen Vereine — egal, in welcher Ecke der Welt — zur Verbreitung der deutschen Sprache mehr heranzuziehen.Meine Damen und Herren, ich habe zum Schluß kein Goethe-Zitat. Denn ich kann das sicherlich nicht so großartig wie der Herr Duve. Da es aber das Beispiel Raddatz gegeben hat, daß man eben auch falsch zitieren kann, lasse ich das auch aus diesem Grund.Ich bedanke mich trotzdem für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Verheugen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie werden es mir nicht verdenken, wenn ich den Vorgang, den wir soeben erlebt haben, doch als außergewöhnlich bezeichne:
die Auseinandersetzung zwischen dem jetzigen Amtsinhaber und seiner Vorgängerin, hinsichtlich der wir ja nicht vergessen haben, aus welchen Gründen und unter welchen Umständen sie dieses Amt verlassen hat.
— Nein, das ist keine Retourkutsche, sondern nur eine Bitte um etwas liberaleren Umgang miteinander, Herr Kollege Möllemann;
ich denke, daß die Nachdenklichkeiten der Frau Kollegin Dr. Hamm-Brücher unser aller Nachdenklichkeiten sein sollten.Lassen Sie mich noch einen Hinweis dafür geben, warum der Gegenstand, den wir heute beraten, so behutsam angefaßt werden muß. Mir ist das Problem — lassen Sie mich das aus meiner eigenen Erfahrung schildern — zum erstenmal bewußt geworden, als ich seinerzeit — ich glaube, es war im Jahr 1962 — als 18jähriger mit der ersten Delegation des Ringes Politischer Jugend aus der Bundesrepublik, die nach Israel reiste, erlebt habe, daß Menschen, deren Muttersprache Deutsch ist, sich geweigert hatten, mit uns deutsch zu reden. Ich erwähne das, um zu zeigen, daß wir auch im Zusammenhang mit einer solchen Frage die Last unserer Geschichte nicht loswerden. Etwas mehr von diesem Bewußtsein — Sie haben es in Ihren einführenden Bemerkungen gesagt, Herr Möllemann —, hätte ich mir doch in dem Bericht selbst gewünscht, der — lassen Sie mich das so sagen — in seiner Sprache und Anlage weniger ein politisches Werk als ein Bürokratenwerk ist. Es wird unsere Aufgabe sein, darauf eine politische Antwort zu geben.Bei dieser Antwort können wir als Opposition natürlich nicht anders, als von der Erklärung des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung ausgehen, die hier schon mehrfach zitiert und die auch schon mehrfach kritisch beleuchtet worden ist:Wir müssen die deutschen Schulen im Ausland stärker als bisher fördern. Wir werden neue Anstrengungen unternehmen, um die deutsche Sprache im Ausland wieder mehr zu verbreiten.Herr Kollege Duve und Frau Dr. Hamm-Brücher sowie auch die Kollegin Borgmann haben bereits die Fragen gestellt, ob man das so blank, so frank und frei einfach behaupten kann. Ich möchte noch hinzufügen, daß, gemessen am eigenen Anspruch, also an dem, was die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung selber gesagt hat, das, was sie bisher getan hat und was sie zu tun gedenkt, arg, arg wenig ist. Mein Verdacht ist, wir haben es mit einer von vielen pompösen Ankündigungen zu tun, die in dieser Legislaturperiode nicht mehr ausgeführt werden. Die haushaltsmäßigen Voraussetzungen sind nicht gegeben; das wissen Sie. Entsprechende Anträge meiner Fraktion, z. B. zur Verstärkung der Spracharbeit der Goethe-Institute, sind im vergangenen Jahr von der Regierungskoalition abgelehnt worden. Aber ich will mich gar nicht lange mit den Zahlen aufhalten.Ich halte es für wichtiger, daß die Politik der Bundesregierung auch mitverantwortlich dafür ist, daß die Träger der deutschen Spracharbeit im Ausland in ihrer Arbeit verunsichert worden sind. Der Bundeskanzler selbst ist derjenige, der dafür in erster Linie verantwortlich ist. Seine Einmischungen personalpolitischer Art in die Arbeit des Goethe-Instituts sind bekannt. Die von ihm ausgehende Verunsicherung der Arbeit der Goethe-Institute durch zensurähnliche Kritik hatten wir in diesem Haus schon einmal zu diskutieren. Ich will hier noch einmal sagen, daß diejenigen, die sich draußen mit der deutschen Sprache hauptberuflich beschäftigen, wahrscheinlich größere Sensibilitäten haben als Berufspolitiker. Das muß berücksichtigt werden. Es gibt verschiedene Interventionen. Der Kollege Rose, der gerade vor mir gesprochen hat, ist einer derjenigen — das werden Sie mir sicherlich nicht abstreiten wollen —, der sich in seiner publizistischen Tätigkeit, weniger hier in diesem Haus, an diesen Interventionen beteiligt hat. Mir steht ein Artikel in dem bereits erwähnten „Bayernkurier" noch deutlich vor Augen, in dem Sie den GoetheInstituten mit anderen Worten subversive Aktivitäten vorgeworfen haben. Der Grund, der hinter diesen Interventionen steckt, hat wenig mit der deutschen Sprache zu tun, sondern exakt mit dem, was hier schon mehrfach gesagt worden ist, nämlich damit, daß Sprache das Instrument ist, mit dem etwas vermittelt wird. Und das, was da vermittelt wird, paßt eben dem einen oder anderen nicht. Sprachar-
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Verheugenbeit, lieber Kollege Hornhues, kann nicht wertneutral sein; da sind wir uns sicher einig. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß unsere Spracharbeit im Ausland sich am demokratischen Grundkonsens in diesem Hause orientieren muß. Sie können nicht den literarischen oder politischen Geschmack einer Gruppe, und sei es die derzeitige Mehrheit in diesem Hause, zum Maßstab der Spracharbeit draußen machen.
Ich will Ihnen einen Beleg aus den allerjüngsten Tagen geben, Herr Kollege Hornhues. Wir sind uns einig darüber, daß die Bundesrundfunkanstalten Deutsche Welle und Deutschlandfunk einen sehr wichtigen Beitrag zur Verbreitung der deutschen Sprache im Ausland oder zur Förderung der deutschen Sprache zu leisten haben. Seit 20 Jahren bestand ein Konsens, daß diese beiden Bundesrundfunkanstalten gleichgewichtig in der Führung der Verwaltungsräte von den Regierungsparteien und der jeweiligen Opposition geleitet werden sollen. Gestern ist dieser Konsens zum ersten Mal seit 20 Jahren durchbrochen worden, indem Sie, nachdem Sie bereits den Verwaltungsratsvorsitz des Deutschlandfunks für sich in Anspruch genommen haben, nun absprachewidrig auch den Verwaltungsratsvorsitz der Deutschen Welle mit Ihrer Mehrheit für sich genommen haben. Lassen Sie mich hinzufügen: Daß Sie dafür ausgerechnet den Kollegen Hupka gewählt haben, spricht leider auch für sich.
Es ist hier über Bedarfsdeckung und Bedarfswekkung schon eine Menge gesagt worden. Lassen Sie mich zur Bedarfsdeckung noch sagen, — —
Herr Abgeordneter, bevor Sie zum nächsten kommen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möllemann?
Herzlich gerne.
Herr Kollege Verheugen, habe ich Sie gerade richtig verstanden, daß Sie allen Ernstes die Frage des Parteiproporzes in Rundfunkgremien für die besondere Ausdrucksform der deutschen Sprachkultur halten?
Ja, das habe ich zwar nicht gesagt, aber Sie haben mich richtig verstanden.
Ich halte es für wichtig, daß in den Kontrollorganen solcher Institutionen, die für die Verbreitung und Förderung der deutschen Sprache wichtig sind, der demokratische Grundkonsens auch in der personellen Auswahl repräsentiert ist.
Sie haben das vollkommen richtig verstanden. Ich halte das in dem Zusammenhang für wichtig.Lassen Sie mich noch sagen, daß es zur Bedarfsdeckung nicht nur gehört, dafür zu sorgen, daß Sprache gelehrt werden kann — der Bericht, den wir haben, ist in erster Linie ein Bericht über die Lage des deutschen Sprachunterrichts; so verstehe ich ihn —, sondern daß es natürlich auch darum geht, die lebendige Verbindung mit der deutschen Sprache aufrechtzuerhalten — bei denjenigen, die Deutsch gelernt haben, wie auch immer, oder die außerhalb unserer eigenen Grenzen Deutsch als Muttersprache sprechen. Deshalb ist die Wortarbeit der bereits erwähnten Goethe-Institute so wichtig, deshalb ist es so wichtig, daß wir die Arbeit des Goethe-Institutes verstärken und es in die Lage versetzen, draußen einen umfassenden Überblick über den Stand der deutschen Sprache im eigenen Lande zu vermitteln, also die Kenntnisse über deutsche Literatur, deutsches Theater, deutschen Film in der Welt verbreiten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Bedarfsdeckung ist in der Tat ein sehr komplexes Thema. Ich habe da auch eher meine Bedenken, denke aber, daß das Problem theoretisch ist, weil ich auch hier der Frau Kollegin Hamm-Brücher zustimme und sagen möchte, wir haben noch so viel zu tun, um den tatsächlich vorhandenen Bedarf draußen zu decken, daß wir uns darüber keine großen Gedanken machen müssen.Ich möchte noch ein sehr spezielles und schwieriges Problem ansprechen, die Lage der deutschen Sprachinseln insbesondere dem osteuropäischen Raum und in der asiatischen Sowjetunion. Der Bericht sagt etwas über die Lage, wo Deutsch noch Muttersprache ist, aber die Menschen, die es sprechen, in kultureller Isolierung leben, abgeschnitten vom deutschen Sprachraum. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung aus Siebenbürgen sagen, die Lage der deutschen Sprache wie der Deutschen insgesamt dort ist zutiefst bedrückend. Ich wünschte mir eigentlich klarere Worte in diesem Bericht als den sehr diplomatischen Ausdruck, die Lage der deutschen Sprache dort sei nicht sehr befriedigend. Meine Damen und Herren, dort wird die deutsche Sprache unterdrückt. Das muß gesagt werden,
das muß auch einer Regierung gesagt werden wie der rumänischen, die normalerweise so sehr von Entspannung und Kooperation redet. Was die Förderung, die Erhaltung der deutschen Sprache und Kultur angeht — das sind j a jahrhundertealte deutsche Sprach- und Siedlungsgebiete, ein Stück deutscher Kulturgeschichte —, muß uns das tief, tief besorgen. Vergleichbares gilt für Polen und für die Sowjetunion. Herr Staatsminister, ich denke, das ist ein Thema, das auf dem KSZE-Kulturforum, das zur Zeit läuft, dringend diskutiert werden muß.
Eine letzte Bemerkung, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu unseren Schulen. Je mehr ich von diesen Schulen sehe — ich sage Ihnen das ehrlich —, desto größere Zweifel kriege ich an der Richtigkeit unserer Konzeption. Ich will nur zwei Probleme anreißen.Die erste Frage: Kann es richtig sein, daß wir Lehrer verschiedener Klassen an den amtlich ge-
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Verheugenförderten deutschen Auslandsschulen haben, mit den Problemen, die darin bestehen, daß die Ortskraft, die denselben Unterricht macht, nur einen Bruchteil dessen verdient, was der entsandte deutsche Lehrer bekommt? Meine Damen und Herren, Sie werden es nicht glauben, aber es ist wahr: Es gibt Schulen, in denen es zwei verschiedene Lehrerzimmer für diese unterschiedlichen Klassen von Lehrern gibt. Das kann nicht in Ordnung sein.Es kann auch nicht in Ordnung sein, daß unsere Begegnungsschulen nicht für alle sozialen Gruppen offen sind, sondern daß es Schulen sind, in denen sich in Wahrheit die Einkommenseliten der Länder begegnen, in denen wir diese Schulen unterhalten, die Einkommenseliten, die für die Erziehung ihrer Kinder eigentlich selber aufkommen könnten. Südafrika und Namibia, Frau Kollegin Borgmann, sind ein Beispiel dafür, daß wir mehr Phantasie einsetzen müssen, um die Schulen aus dem ApartheidSystem herauszulösen, in dem sie zur Zeit noch stecken. Aber in vielen anderen Ländern haben wir es mit einer sozialen Apartheidssituation zu tun, was unsere Schulen angeht. Ich denke, das wird eines der wichtigsten Themen in der Behandlung des Berichts sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kollege Duve hat schon gesagt, daß unsere Bedenken bei diesem Bericht überwiegen. Nichtsdestoweniger, Herr Kollege Hornhues, darf ich Ihnen versichern, daß wir engagiert und konstruktiv an der weiteren Beratung mitwirken werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Pohlmeier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wird jetzt zeitlich für mich ein bißchen eng. Es wäre sonst sicher verlockend und auch notwendig, die kritischen Reflexionen, die sprachphilosophischen Betrachtungen und auch die politischen Kontroversen, die hier plötzlich aufgebrochen sind, von denen ich nach unseren Beratungen im Unterausschuß eigentlich angenommen hatte, daß sie, jedenfalls in dieser Form, nicht bestanden, zu behandeln und nun wirklich auszudiskutieren. Ich muß mir das, Herr Präsident, mit dem Blick auf die Uhr versagen.Die kritischen Reflexionen, die Sie, Herr Duve, angestellt haben, sind mir aber in der Tat — das muß ich sagen — zu resignativ, sie sind für mich geradezu defätistisch.
— Herr Kollege Duve, was kann Schlimmes daran sein, wenn wir im Ausland für die deutsche Sprache werben und damit werbend für unser Land auftreten? Genau das wollen wir.
Ich glaube, die Selbstzweifel, die Sie hier ausgesprochen kultiviert haben — auch von anderen sind siegeäußert worden —, wären in einer solchen Debattebei unserem Nachbarn Frankreich, in Großbritannien und in anderen Ländern völlig unvorstellbar.
Herr Kollege Duve, ich verkenne hier nicht, daß wir Belastungen der Geschichte zu tragen haben. Aber wir haben gemeinsam dafür einzutreten, daß wir auch unsere Sprache als ein Medium benutzen, um zur Völkerverständigung zu kommen, um den menschlichen Austausch zu erleichtern und einen kulturellen Austausch zu ermöglichen, wofür es doch immerhin ganz erhebliche Beispiele in den letzten Jahren gegeben hat, die zeigen, wie deutsche Kultur in sehr vielen Ländern der Welt geschätzt, angenommen und aufgenommen wird. Ich bin bisher der Auffassung gewesen, daß ein größeres Stück Gemeinsamkeit dieses Bemühen getragen hätte.Meine Damen und Herren, ich möchte der Bundesregierung noch einmal ausdrücklich für diesen Bericht danken. Er wird in Teilen zu ergänzen und nachzufragen sein. Es sind gewiß Lücken darin. Aber wir betrachten ihn als eine gute, gründliche Ausgangsposition dafür, wie wir, was der Bundeskanzler in der Regierungserklärung 1983 gesagt hat, deutsche Sprache in der Welt befördern können.Gestatten Sie mir, damit zum operationalen Teil unseres Unternehmens noch ein paar Anmerkungen: Die schwierigste Situation, in der sich deutscher Sprachunterricht befindet, finden wir wohl in den Vereinigten Staaten.
Dies ist bemerkenswert, und wir stehen dieser Situation durchaus nicht ohne Sorge gegenüber, wenn man auf der anderen Seite dagegenhält, daß über 9 Millionen junge Menschen in einem einzigen Land der Welt, nämlich in der Sowjetunion, Deutsch lernen. Diese sind mehr als die Hälfte der weltweit überhaupt Deutschlernenden. Deswegen haben wir uns sehr wohl darum zu bemühen, daß wir mit dem Deutschunterricht, mit der Vermittlung von Deutschkenntnissen in den Vereinigten Staaten vorankommen.
Wir haben hier also eine hohe Priorität zu setzen. Ich bitte die Bundesregierung ausdrücklich, diese Priorität zu verstärken. Die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion hat sie dafür.Nun ist das in den Vereinigten Staaten schwierig. Wir brauchen hier ein hohes Maß an Flexibilität. Wir müssen in den Vereinigten Staaten sehr dezentral arbeiten und Mut haben, moderne Medien einzusetzen. Wenn Fernsehkurse für Deutsch speziell für die Vereinigten Staaten vorbereitet würden, könnte das ein Weg sein.Sorgen haben wir auch in Europa. Ich nenne unsere kleinen Nachbarn Niederlande, Belgien und Dänemark, wo die deutsche Sprache durchaus nicht
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Dr. Pohlmeiermehr vorankommt, sondern im Rückgang begriffen ist.
— Selbstverständlich müssen wir danach fragen. Wir müssen dem auch entgegenwirken.
— Herr Kollege Duve, ich gebe Ihnen ja recht, daß das eine bilaterale, eine zweiseitige Angelegenheit ist.
Wir können nicht etwa fordern, daß junge Franzosen in Frankreich mehr Deutsch lernen, wenn wir in deutschen Schulen nicht mehr für das Französische tun. Ich gebe Ihnen darin j a recht.
— Wir müssen natürlich auch im Rahmen der Möglichkeiten bleiben. Selbstverständlich sind wir auch für die Förderung slawischer und anderer Sprachen. Nur haben, Herr Kollege Duve, menschliche Kapazitäten natürlich ihre Grenzen.Ich meine, die Europäische Gemeinschaft kann nur wachsen und weiterkommen, wenn wir in Europa verstärkt auch sprachlich zur Einheit kommen.
Sprachliche Einheit heißt, daß wir etwa fordern müssen, daß jeder junge Europäer neben seiner Muttersprache eine weitere europäische Sprache spricht.
In diesem Rahmen das Deutsche zu entwickeln und zu fördern und, Herr Kollege Duve, werbend dafür einzutreten, sollte unser gemeinsames Ziel sein.
Noch ein Blick auf Osteuropa. Herr Präsident, gestatten Sie mir bitte noch einen Satz dazu. Hier sollten wir zwei Forderungen erheben. Wir dürfen der DDR in den sozialistischen Ländern das Feld weiß Gott nicht allein überlassen, wie es heute weitgehend geschieht. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber den deutschen Sprachgruppen und den Deutschen in Polen und in der Sowjetunion. Herr Verheugen, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie darauf besonders hingewiesen haben. Eine Verpflichtung haben wir auch für die rumänischen und anderen Sprachinseln des Ostens. Unsere Bundesregierung muß sich verstärkt dafür einsetzen, daß hier weiterhin Deutsch gelehrt und Deutsch gelernt wird und daß auch kulturell die Kommunikation in Deutsch erfolgen kann.Meine Damen und Herren, ich glaube, hier wären eine Reihe anderer Schwerpunkte zu entwickeln. Ich biete an, daß wir im Unterausschuß und im gesamten Auswärtigen Ausschuß in einen konstruktiven Dialog mit der Bundesregierung eintreten und die Mittlerorganisationen einschalten. Wir müssen uns auch stärker sachkundig machen, um auf Grund dieses Berichts energisch an der Verbreitung der deutschen Sprache in der Welt zu arbeiten.Ich bedanke mich.
Wenn ich von hier auch einen Vorschlag machen darf: Ich würde mir eine überparteiliche Definition, was „ein Satz" ist — wenn ein Redner die Absicht äußert, noch einen solchen zu sprechen —, wünschen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlage auf Drucksache 10/3784 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Wir treten damit in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit Punkt 5 der Tagesordnung fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Meine Damen und Herren, auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes — Drucksachen 10/4057 und 10/4065 — sowie um die Beratung der Sammelübersichten 108 und 109 des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 10/4075 und 10/4076 erweitert werden. Die vorgenannten Vorlagen werden mit Tagesordnungspunkt 7 bzw. nach Tagesordnungspunkt 15 aufgerufen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes— Drucksache 10/3973 —Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Aussprache von 60 Minuten vorgesehen. — Auch damit ist das Plenum einverstanden.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Spranger. Ich eröffne gleichzeitig die allgemeine Aussprache.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12601
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Umweltschutz gehört unverändert zu den zentralen Aufgaben und Schwerpunkten der Arbeit der Bundesregierung. In allen Bereichen hat die Bundesregierung hier wichtige Maßnahmen und Initiativen eingeleitet, um erkannte Schäden zu bekämpfen oder drohenden Gefahren entgegenzuwirken. Es ist in den letzten Jahren ein umfassendes Instrumentarium zur Überwachung und weitgehenden Eindämmung von Umweltbelastungen aufgebaut worden. In der umweltpolitischen Gesamtkonzeption der Bundesregierung hat auch der Gewässerschutz und hier die Sicherung und die Verbesserung der Gewässerqualität stets hohe Priorität gehabt.Die Belastung der Gewässer mit gefährlichen Stoffen und die Bedrohung des für die Trinkwasserversorgung unentbehrlichen Grundwassers stellen hier die wichtigsten Problembereiche dar. Von den notwendigen Gesetzgebungsmaßnahmen legt die Bundesregierung dem Parlament nunmehr das erste der geplanten Änderungsgesetze zu den Wassergesetzen des Bundes, die fünfte Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz, vor. Sie setzt damit ihre konsequente Vorsorgepolitik im Umweltschutz kontinuierlich fort.Mit dem Gesetzentwurf strebt die Bundesregierung folgende Ziele an: Die Wasserwirtschaft hat künftig die Belange der Gewässerökologie strenger zu beachten. Die Wasserwirtschaft wird stärker als bisher dem Gebot rationeller Wasserverwendung verpflichtet sein. Die bisherigen Anstrengungen zur Reinhaltung der Gewässer müssen erhöht werden. Der Anfall gefährlicher Stoffe in den oberirdischen Binnengewässern und damit auch in der Nord- und in der Ostsee muß vermindert werden. Das Grundwasser als die wichtigste Versorgungsquelle für die Trinkwassergewinnung ist deutlichen Gefahren ausgesetzt. Deshalb muß das rechtliche Instrumentarium zum Schutz des Grundwassers durch den Gesetzentwurf wesentlich verbessert werden.Zur Durchsetzung dieser Ziele gibt der Gesetzentwurf der Wasserwirtschaft ein den heutigen Erfordernissen entsprechendes ordnungsrechtliches Instrumentarium an die Hand, das den Gewässerschutz einen weiten Schritt nach vorne bringen wird. Hierzu darf ich folgendes hervorheben:Erstens. In den zentralen Vorschriften des Wasserhaushaltsgesetzes über die Bewirtschaftung der Gewässer wird gefordert, dem Schutz der Gewässer als Bestandteil des Naturhaushaltes sowie dem Gebot sparsamer Wasserverwendung, insbesondere der Schonung der Grundwasservorräte, besondere Beachtung zu schenken.Zweitens. Gefährliche Stoffe im Abwasser sind durch Anwendung besonders fortschrittlicher Verfahren, die dem Stand der Technik entsprechen, zu vermindern oder zu vermeiden. Zentrale Bestimmung in diesem Zusammenhang ist der neue § 7 a des Wasserhaushaltsgesetzes. Die bisher praktizierten allgemein anerkannten Regeln der Technik gehören damit für viele Bereiche der Vergangenheit an.Drittens. Für die gefährlichen Stoffe enthält das Gesetz erstmals auch eine Rahmenregelung für Einleitungen in öffentliche Abwasseranlagen, die sogenannten Indirekteinleitungen. Zur Eindämmung gefährlicher Stoffe bereits an ihrem Entstehungsort stellt das Gesetz damit ein neues und wirksames Instrument zur Verfügung.Viertens. Der Verbesserung des Grundwasserschutzes dienen strengere Schutzvorkehrungen im anlagenbezogenen Umgang mit wassergefährdenden Stoffen wie auch die Erweiterung der Befugnisse zur Festsetzung von Wasserschutzgebieten.Fünftens. Vereinfachungen in der Planfeststellung und in der Zulassung von Fachbetrieben, die Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen installieren und warten, bringen positive Effekte bei der Entbürokratisierung. Darüber hinaus werden die wasserrechtlichen Verfahrensvorschriften dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht angepaßt.In der anschließenden Debatte wird sicherlich noch auf die Einzelheiten eingegangen werden. Ich darf dazu nur noch zwei Bemerkungen anschließen.Erstens. Die notwendige Verbesserung des Grundwasserschutzes erfordert bei einer Reihe von Vorschriften signifikante Änderungen. Eine wesentliche Quelle von Gefahren für das Grundwasser stellt der Umgang mit den sogenannten wassergefährdenden Stoffen dar. Der unsachgemäße Umgang mit solchen Stoffen in Anlagen zum Herstellen, Behandeln und Verwenden wassergefährdender Stoffe hat in der Vergangenheit mehrfach erhebliche Schädigungen des Bodens und des Grundwassers verursacht. Die strengen gesetzlichen Sorgfaltspflichten sollen daher im Bereich der gewerblichen Wirtschaft und öffentlicher Einrichtungen auf diese bisher nicht vom Wasserhaushaltsgesetz erfaßten Anlagen ausgedehnt werden.Zweitens. Eine weitere bedeutsame Quelle von Gefahren für das Grundwasser ist der Eintrag von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln. Insbesondere soll hier dem Nitratgehalt durch entsprechende Regelungen entgegengewirkt werden. Die Länder sollen deshalb die Befugnis erhalten, in bestimmten gefährdeten Zonen Wasserschutzgebiete auch zur Verhütung des Eintrags solcher Stoffe festzusetzen. Hierdurch können für die Landwirtschaft Einschränkungen in der Nutzung ihrer Anbauflächen entstehen.Dies festzustellen bedeutet aber auch im Hinblick auf die betroffenen Landwirte, ausdrücklich zu betonen: Eingriffe des Staates in das Eigentum, die enteignenden Charakter haben, sind auch dann entschädigungspflichtig, wenn sie im Interesse einer gesunden Umwelt unverzichtbar sind. Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wird deshalb zusammen mit dem Bundesinnenminister und mit den Ländern nach geeigneten Wegen suchen, um für sonstige nicht vertretbare Einkommensverluste der Landwirtschaft, die
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Parl. Staatssekretär Sprangerkeinen Enteignungscharakter besitzen, angemessene Lösungen zu finden.
Denn wir müssen auch hier feststellen, Herr Kollege Göhner: Umweltschutz ist eben nicht zum Nulltarif zu bekommen.
Dies, meine Damen und Herren, weist eindeutig nach, daß die Bundesregierung ihrer Verantwortung für den Gewässerschutz uneingeschränkt gerecht wird. Sie schöpft alle Möglichkeiten aus, die das Grundgesetz ihr in den Grenzen einer Rahmengesetzgebungszuständigkeit zugesteht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf hat sie das klassische ordnungsrechtliche Instrumentarium des Gewässerschutzes den dringenden Erfordernissen einer zeitgerechten und zeitgemäßen Wasserwirtschaft angepaßt.Wie Sie wissen, wird dieses Gesetz durch Veränderungen und Verbesserungen im Bereich des Abwasserabgabengesetzes und auch des Waschmittelgesetzes ergänzt. Damit ist bewiesen, daß die Bundesregierung ihrer Verantwortung für die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen auch im Bereich des Gewässerschutzes nachkommt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kiehm.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Spranger, wir hören das natürlich immer wieder gerne, wenn die Regierung erklärt, der Umweltschutz sei zentrales Politikfeld und Schwerpunkt der Arbeit. Was mich dann so verwundert, ist beispielsweise, daß es die CDU bei diesen Bekenntnissen nicht fertiggebracht hat, mit uns gemeinsam für die Einführung des Staatszieles Umweltschutz zu stimmen, denn das wäre j a in der Tat die Grundlage für viele Maßnahmen, die bedeutenden Charakter haben können.
— Die Sprüche kommen dann meistens aus Ihrem Landesteil und von Ihrer Partei, Herr Schwarz. Davon werden Sie auch heute nicht ablassen.Wenn wir heute das Gesetz vor uns haben, müssen wir uns natürlich fragen: Woran messen wir das, was es hier an Neuerungen gibt? Die Bedeutung und der Erfolg der Wassergesetze früherer Jahre lagen in einem Zusammenwirken von Ordnungsrecht, das im Wasserhaushaltsgesetz angesiedelt war, und — wir sollten das nicht unterschätzen — der Möglichkeit, ökonomischen Druck auszuüben, beispielsweise durch die Einführung einer Abgabe im Abwasserabgabengesetz. Interessant wäre nun einmal, zu wissen, wie es die Regierung nicht nur mit dem Wasserhaushaltsgesetz hält, sondern auch mit dem Abwasserabgabengesetz. Außer Ankündigungen ist hier bislang nichts gewesen.
Das Wasserhaushaltsgesetz formuliert in der Tat zwei neue Ziele, einmal daß Gewässer als Bestandteil des Naturhaushaltes zu behandeln sind und zum anderen, daß eine sparsame Verwendung von Wasser erreicht werden soll. Wer nun aber glaubt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, daß neben den Zielen auch die Mittel benannt würden, mit denen diese Ziele angestrebt werden, der irrt sich. Kein Wort über eine realistische Durchsetzungsstrategie im Hinblick auf diese beiden Ziele.
Wir wissen natürlich, daß der Vollzug — und damit in großem Maße die Verfügung über mögliche Instrumente — Sache der Länder ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß die Probleme zwischen Bundesregierung und Landesregierungen nicht einfach sind. Aber wenn wir wollen, daß die Öffentlichkeit diesen Prozeß einer Abstimmung begleitet, müssen wir das Problem des Vollzuges auch hier im Bundestag diskutieren, auch wenn es vielleicht schwieriger ist, als nur über allgemeine Zielvorstellungen zu reden. Ich lade jedenfalls ein, daß sich der Bundestag dieser Aufgabe stellt und damit Bundesregierung und Landesregierungen unter einen heilsamen Zwang setzt.Ich bedaure es heute, daß die SPD darauf verzichtet hat, darauf zu bestehen, daß ihr Antrag zum Schutz des Wassers im Innenausschuß behandelt wurde. Wir haben es unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten getan. Die Bundesregierung hat versprochen, schnell mit Gesetzen zu kommen. Jetzt liegt unser Antrag seit einem Jahr dort. Von der Regierung kam nichts. Wir hätten mit dieser Debatte Maßstäbe für die Beurteilung der jetzt anstehenden Gesetze gewinnen können.Einige wenige Bemerkungen zu dem Inhalt. Wir begrüßen es, daß bei der Behandlung gefährlicher Stoffe ein neuer Maßstab herangezogen wird, daß das als technisch möglich angesehen wird, was überhaupt auf dem Markt ist, und nicht das, was sich bei einer Mehrheit der Fachleute durchgesetzt hat. Der Begriff „Stand der Technik" scheint uns in der Tat ein Fortschritt zu sein.Ich füge aber hinzu, daß das nach unserem Verständnis keine statische Betrachtungsweise ergeben darf. Deshalb müssen wir sagen: Wer dem Begriff „Stand der Technik" realistische Bedeutung beimißt, muß auch eine intensive Forschungspolitik und Forschungsförderung auf dem Gebiet der Wasserreinhaltung betreiben.
Wir begrüßen auch, daß die Bundesregierung die Verzögerungstaktik des Landes Niedersachsen zurückgewiesen hat und die Rechtsverordnung, die die gefährlichen Stoffe nennt, zeitgleich mit dem Gesetz in Kraft treten lassen will.Nun zu dem Begriff der Indirekteinleiter. Mit der Bundesregierung sind wir der Meinung, daß für die gefährlichen Stoffe bundeseinheitliche Anforderungen an Indirekteinleiter gestellt werden sollen. Unverständlich bleibt uns allerdings, daß nicht formu-
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Kiehmliert wird, daß die Indirekteinleitung der Direkteinleitung gleichgestellt und damit erlaubnispflichtig wird, sondern daß die Länder sicherzustellen haben, daß diese Regelung erfolgt.Meine Damen und Herren, wer sich einmal den Bericht über das Abwasserabgabengesetz angesehen hat und weiß, mit welcher vornehmen Zurückhaltung manche Länder ihren Aufgaben nachgekommen sind, der kann sich auch vorstellen, was mit dieser Regelung in der Praxis bewirkt werden kann. Die Erfahrungen mit dem Abwasserabgabengesetz lassen jedenfalls Böses ahnen.Ich will hier auf einen anderen Umstand aufmerksam machen, der insbesondere unsere Kommunen interessiert. Je inkonsequenter die Indirekteinleiter-Regelung gehandhabt wird, um so größer werden die Kosten für die Kommunen sein. Hier geht es, wie die Regierung selbst angibt, nicht um Millionen-, sondern um Milliardenbeträge. Wenn Sie etwas tun wollen, was konsequent ist, dann machen Sie ein eindeutiges Gesetz, an dem sich Länder und Kommunen auch orientieren können!
Zum Thema „Wassersparen" heißt es in der Begründung:Ziel einer auf größtmögliche Schonung der Umwelt angelegten Wasserpolitik muß daher die rationelle Wasserverwendung ... sein.Das Ziel ist gut. Nur, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, mit welchen Mitteln wollen Sie es erreichen? Sie müssen schon sagen, ob Sie beispielsweise im Sektor der Tarife etwas tun wollen, ob Sie ökonomische Anreize schaffen wollen, und Sie müssen sich klar darüber äußern, ob das sozusagen nur für zukünftige Entwicklungen gilt oder ob Sie von nachträglichen Anordnungen Gebrauch machen wollen.Vom Problem der Landwirtschaft ist hier schon gesprochen worden. Nach dem, was jetzt die Arbeitsgemeinschaft der Rheinwasserwerke formuliert hat, kann ich nur sagen, daß bisher von den im Gesetz angelegten Möglichkeiten, den Schutz des Grundwassers zu betreiben, kaum Gebrauch gemacht worden ist. Es hilft uns allen nicht, wenn wir uns der Illusion hingeben, künftig würden Landesregierungen und denkbarerweise auch nicht zielgerichtet angeleitete Administrationen anders handeln als bisher. Landwirtschaftspolitik zu betreiben, indem man Umweltschutzauflagen vernachlässigt, scheint mir eine zweifelhafte Operation zu sein.
Ich kann Ihnen nur eines sagen — und damit will ich schließen —: Es gibt nicht nur das Problem „Landwirtschaft und Umwelt". Sie können in dem Bericht der Arbeitsgemeinschaft auch nachlesen, daß beispielsweise die Produktionsausweitung, die ja hier allseits gefeiert wird, zu erheblichen Verschlechterungen der Qualität des Rheinwassers geführt hat. Meine Damen und Herren, das muß nicht so sein! Wenn wir uns am Beispiel der Zellstoffindustrie orientieren, die von der Chlorbleiche zur Sauerstoffbleiche übergegangen ist und erhebliche Verbesserungen erreicht hat, sehen wir, daß die Mittel der Wirtschaftspolitik eingesetzt werden müssen, um zu Verbesserungen im Umweltschutz zu kommen.Wir haben versucht, mit einem Programm zur ökologischen Modernisierung der Volkswirtschaft einen Schritt in diese Richtung zu gehen. Ich hoffe nur, daß es klärende Worte zu diesen Fragen gibt. Ich hoffe auf Möglichkeiten sachverständiger Beratung in den Ausschüssen, und ich denke, daß wir bei diesem Kapitel nicht ohne Anhörung auskommen werden. Insbesondere werden wir uns dem Problem des Gesetzesvollzuges widmen. Ich hoffe auch, daß die Koalitionsabreden nicht so eng sind, daß sich sachverständige Beiträge im Gesetz überhaupt nicht mehr niederschlagen können. Wir werden unseren Beitrag leisten, um zu einer Optimierung dieses Gesetzes zu kommen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Göhner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegende Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes dient einer notwendigen Verbesserung des Gewässerschutzes. Herr Kollege Kiehm, bei allem, was Sie an Kritik am Vollzug — der Sache der Länder ist - vorgebracht haben, denke ich, wir könnten hier doch wenigstens so viel Gemeinsamkeit zeigen, daß wir zum Ausdruck bringen, daß dieser Wasserhaushaltsgesetzentwurf ganz sicher eine Verbesserung gegenüber dem alten Recht ist.
Es ist doch unstreitig, daß wir mit diesem Gesetzentwurf drei wesentliche Ziele erreichen werden: Einführung des Standes der Technik bei gefährlichen Stoffen, verschärfte Anforderungen beim Umgang mit wassergefährdenden Stoffen und Anlagen und eine Verstärkung des Grundwasserschutzes.Wenn Sie beim letzten Punkt sagen, das wird aber alles nichts, weil der Vollzug nicht läuft, muß man doch entgegnen: Wir schaffen gerade für den Vollzug mit diesem Gesetz erleichterte Möglichkeiten der Durchführung; wir leisten also einen gesetzlichen Beitrag für einen besseren Vollzug. Und das ist die Aufgabe des Bundes in diesem Bereich, wo er nur eine Rahmenkompetenz hat.Ein Kernstück der Neuregelung betrifft das Einleiten gefährlicher Stoffe. Künftig nicht mehr allgemein anerkannte Regeln der Technik ausreichen zu lassen, sondern im Sinn eines vorbeugenden Umweltschutzes wie bei der Luftreinhaltung den jeweiligen Stand der Technik vorzuschreiben, das ist ein wesentliches Stück der Verbesserung des Wasserrechts. Das wird bei wichtigen Industriebereichen, auch bei denen, die Sie, Herr Kollege Kiehm, ge-
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Dr. Göhnernannt haben, zu erheblichen Investitionen zum Schutze unserer Gewässer führen.Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, möglichst rasch die notwendigen Verwaltungsvorschriften vorzulegen, mit denen die entsprechenden Anforderungen für die Behandlung der Stoffe vor dem Einleiten in die Gewässer für einzelne Industriebranchen konkret festgelegt werden.Wenn Sie, Herr Kollege Kiehm, auf die Meinungsunterschiede zwischen Bundesrat und Bundesregierung in der Frage der Verwaltungsvorschrift hinweisen, so muß ich sagen, das kann man nicht zu einer umweltpolitischen Grundsatzfrage hochstilisieren. Es geht um rein praktische Erwägungen. Deshalb wäre es begrüßenswert, wenn möglichst viele der Verwaltungsvorschriften schon mit der Verabschiedung des Gesetzes vorlägen.In den Neuregelungen ist erstmals die schon von den Vorrednern angesprochene Rahmenregelung für das Einleiten von Abwasser in öffentliche Kanalisationen vorgesehen. Wenn Sie sagen, Herr Kollege Kiehm, Sie prognostizieren ein Vollzugsdefizit bei diesen Indirekteinleitern, man müsse zu konkreteren Regelungen kommen, möchte ich doch auch hier darauf hinweisen: Der Bund hat hier nur eine Rahmenkompetenz. Von vornherein zu unterstellen, die Länder würden dem, was wir ihnen jetzt an zusätzlicher Verpflichtung auferlegen, nicht nachkommen, sich also nicht bundestreu verhalten, halte ich deshalb für abwegig. Sie haben ja selber geschildert, warum die Kommunen ein großes Interesse daran haben werden, gerade bei den Indirekteinleitern den Stand der Technik zu verwirklichen: denn dadurch werden Belastungen der kommunalen Kläranlagen vermindert, und es werden übrigens — ein Nebeneffekt — auch die Belastungen des Klärschlamms vermindert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Ankündigung der Bundesregierung, spätestens 1988 auch eine Verschärfung der Klärschlammverordnung vorzulegen.Wir begrüßen es, daß in Ergänzung dieses neuen Wasserhaushaltgesetzes die Bundesregierung auch dabei ist — Herr Kiehm, Sie wissen das doch —, eine Novellierung des Abwasserabgabegesetzes vorzulegen. Der Referentenentwurf ist bei diesem besonders wichtigen Gesetz in der Abstimmung mit den Ländern und Betroffenen. Hier ist die Abstimmung mit den Ländern, weil sie den Vollzug haben, besonders wichtig. Sie wissen doch, daß die Bundesregierung dabei ist, das noch für das nächste Jahr auf den Weg zu bringen.Das Abwasserabgabegesetz muß in der Tat eine notwendige Ergänzung der Vorschriften des Wasserhaushaltsgesetzes sein, damit ein zusätzlicher Anreiz geschaffen wird, wenn möglich über den Stand der Technik hinaus weitere Maßnahmen zur Gewässerreinhaltung zu erreichen. Die Abwasserabgabe muß sozusagen die abgabenrechtliche Flankierung dieses neuen Wasserhaushaltsgesetzes sein. Aber es ist natürlich erforderlich, daß wir erst dieses Wasserhaushaltsgesetz unter Dach und Fach bringen.Es soll die Möglichkeit der Abgabenreduzierung bis hin zur Abgabenbefreiung geschaffen werden, wenn die Abwasserbehandlungsmaßnahmen ein bestimmtes, über die jetzt verschärften Anforderungen des § 7 Wasserhaushaltsgesetz hinausgehendes Maß erreichen. Damit gestalten wir das neue Wasserhaushaltsgesetz in Verbindung mit der Novellierung des Abwasserabgabengesetzes zu einem marktwirtschaftlichen Instrument der Umweltvorsorge.Mit der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes werden auch die Möglichkeiten der Festsetzung von Wasserschutzgebieten erweitert. Künftig können Wasserschutzgebiete auch außerhalb der Einzugsbereiche von Trinkwassergewinnungsanlagen ausgewiesen werden. Dies ist neu. Es ist auch notwendig, um das Grundwasser z. B. gegen den Eintrag von übermäßigem Dünger oder von Pflanzenbehandlungsmitteln zu schützen. Ich meine, die Notwendigkeit einer Ausweisung von Wasserschutzgebieten ist politisch zwischen allen Beteiligten außer Streit.Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zu Recht darauf hingewiesen, daß die landwirtschaftliche Nutzung in den Wasserschutzgebieten in verstärktem Maß Beschränkungen unterworfen sein wird. Allerdings muß völlig klar sein, meine Damen und Herren: Wir können den notwendigen Schutz des Grundwassers wirtschaftlich nicht allein auf dem Rücken unserer Bauern austragen.
Soweit Nutzungsbeschränkungen für die Landwirtschaft nicht vertretbare Einkommensverluste nach sich ziehen oder sich gar existenzgefährdend auswirken, müssen Ausgleichszahlungen gewährleistet werden. Ich begrüße, was die Bundesregierung durch Herrn Staatssekretär Spranger hier heute dazu gesagt und angekündigt hat.Die derzeitigen Regelungen des Bundes und der Länder reichen nicht aus. Entschädigungen für die betroffenen Landwirte sehen bisher weder das Wasserhaushaltsgesetz noch die eigentlich einschlägigen Landeswassergesetze vor. Entschädigungen werden nur gezahlt, wenn die Opfergrenze des Art. 14 des Grundgesetzes überschritten wird. Dieser Rechtszustand wird sich aber bei einer vermehrten Ausweisung von Wasserschutzgebieten und bei einer verstärkten Beschränkung der landwirtschaftlichen Nutzung nicht aufrechterhalten lassen.Wir brauchen Regelungen über Ausgleichsleistungen, die gewährleisten, daß unvertretbare Einkommenseinbußen ausgeglichen werden. Bliebe es dabei, daß Entschädigungen nur im Falle einer Enteignung bzw. eines enteignungsgleichen Eingriffs gewährt werden, programmierten wir die Vernichtung landwirtschaftlicher Betriebe. Wir wollen das nicht. Ein Landwirt, der mit einem Großteil seiner Fläche in einem Wasserschutzgebiet liegt, könnte nämlich sonst wirtschaftlich ganz schnell ruiniert werden.Ich weise aber nachdrücklich darauf hin, daß schon nach dem gegenwärtigen Recht die Länder
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Dr. Göhnerbestimmen könnten, ob und gegebenenfalls welche Ausgleichsleistungen bei Beschränkungen der landwirtschaftlichen Nutzungen in solchen Wasserschutzgebieten, die noch keine Enteignungen darstellen, zu gewähren sind.Ob nun eine bundesrechtliche Bestimmung über Ausgleichsleistungen im Rahmen der uns nur gegebenen Rahmenkompetenz rechtsstaatlich und rechtssystematisch sinnvoll ist, kann man durchaus bezweifeln. Das Wasserhaushaltsgesetz ist eine Rahmenregelung, die durch länderrechtliche Vorstellungen und Vorschläge und Vorschriften auszufüllen ist. Es scheint mir sinnvoll und notwendig zu sein, daß Bund und Länder noch einmal gemeinsam überlegen, wie und wo eine gesetzliche Regelung über Ausgleichsleistungen für Nutzungsbeschränkungen unterhalb der Enteignungsschwelle geschaffen werden kann. Es ist auch nicht hinreichend, hier sozusagen ein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen den Bundesländern und dem Bund zu beginnen.Die Zunahme des Nitratgehalts in vielen Grundwasservorkommen ist zum Teil zweifellos besorgniserregend. Es kann nicht geleugnet werden, daß die landwirtschaftliche Nutzung oftmals eine wesentliche Ursache hierfür ist. Obwohl Überdüngungen schon aus wirtschaftlichem Eigeninteresse der Landwirte eher die Ausnahme sind, müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die allgemein gestiegene Intensität der landwirtschaftlichen Bodennutzung mit einer Ertragssteigerung und einem verstärkten Stickstoffaufbringen einhergegangen ist.Nun können landwirtschaftliche Maßnahmen oder Betriebsweisen auch schon nach geltendem Recht bestimmten behördlichen Auflagen unterworfen werden. Allerdings erlauben die bisherigen Vorschriften nur ein Vorgehen im Einzelfall. In Gebieten mit bestimmten Standortverhältnissen brauchen wir aber die Möglichkeit zu einer generellen Regelung. Dazu schaffen wir mit der Erweiterung der Wasserschutzgebiete jetzt die Voraussetzungen, weil wir auch außerhalb von Trinkwassergewinnungsanlagen Wasserschutzgebiete ausweisen können. — Ich entnehme dem Zwischenruf des Kollegen Schäfer, daß wenigstens er die Maßnahmen, die die Bundesregierung vorsieht, sehr begrüßt. — Um so dringender ist auch die Klärung der Ausgleichsregelungen für die Landwirtschaft, weil wir eben vermehrt die Möglichkeit der Ausweisung von Wasserschutzgebieten eröffnen.Meine Damen und Herren, mit der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes, mit den im nächsten Jahr im Bundestag zu diskutierenden Novellierungen des Abwasserabgabengesetzes, des neuen Waschmittelgesetzes machen wir deutlich, daß der Gewässerschutz ein wichtiger Teil unserer gesamten Umweltpolitik ist. Wasser, Boden und Luft sind unsere existenznotwendigen, lebensnotwendigen Umweltgüter, die in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem Naturkreislauf stehen und in unserer Umweltpolitik auch diesen untrennbaren Zusammenhang darstellen. Wir mußten in den ersten Jahren den großen Nachholbedarf in der Umweltpolitik bei der Luftreinhaltung erfüllen. Wir mußten erreichen, daß die Belastungen des Bodens und damit des Wachstums von Pflanzen, z. B. auch von Wäldern, durch Luftverschmutzungen vermindert werden. Gleichzeitig haben wir damit auch einen ersten Beitrag zum Gewässerschutz geleistet; denn es ist klar, daß das, was sich von der Luft auf den Boden absetzt, seinen Niederschlag letztlich auch im Grundwasser findet. Beides muß geschehen, und auf beiden Gebieten war der Nachholbedarf, den Sie hinterlassen hatten, besonders groß.
Nach den erfolgreichen Maßnahmen in der Luftreinhaltung, nach den ersten Maßnahmen im Bereich des Bodenschutzes innerhalb unseres Bodenschutzprogrammes sind wir jetzt mit den gesetzlichen Maßnahmen zum Gewässerschutz auch in diesem Bereich dabei, die Prinzipien einer vorsorgenden Umweltpolitik zu verwirklichen. Wenn Herr Kollege Kiehm vorhin in seiner Rede kritisiert hat, daß das alles eigentlich hätte viel schneller kommen müssen, so ist das ein Standpunkt, der nicht besonders verständlich ist angesichts der Tatsache, daß wir in den vergangenen drei Jahren eine solche Fülle von Umweltmaßnahmen durchgeführt haben. Man muß wirklich sagen: Wenn dieses Tempo der Umweltgesetzgebung einige Jahre früher eingesetzt hätte, hätten wir auch im Bereich der Gewässer nicht die heutigen Belastungen.
Das neue Wasserhaushaltsgesetz wird vor allem in dem Bereich, wo es den Stand der Technik vorschreibt und damit eine Verschärfung des derzeitigen Instrumentariums des Gewässerschutzes ermöglicht, sicher zu erheblichen Investitionen bei betroffenen Industriebereichen führen. Das ist auch unsere Absicht. Wir wollen genauso wie im Bereich der Luftreinhaltung nun auch im Bereich des Gewässerschutzes erreichen, daß dadurch, daß wir umweltpolitische Vorgaben machen
— z. B. für das Einleiten von gefährlichen Stoffen —,
Investitionen dort getätigt werden, wo, sozusagen an der Quelle, mit neuen Mitteln nach dem Stand der Technik ein höheres Maß an Gewässerreinhaltung gewährleistet werden kann. Deshalb brauchen wir für diese Art von Umweltinvestitionen kein ominöses Programm wie „Arbeit und Umwelt",
sondern konkrete Gesetzgebungsmaßnahmen und die konkreten Vollzugsmaßnahmen, die auf Grund dieses Wasserhaushaltsgesetzes von den Ländern ergriffen werden können.
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12606 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hönes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das bundesdeutsche Wasserrecht ist eines der besten der Welt, wird vollmundig verkündet. Auf dem Papier mag das stimmen. So ist von der Gesetzeslogik her jede Gewässerbenutzung oder -verschmutzung verboten, es sei denn, sie ist erlaubt. Aber diese Erlaubnis erhält man nicht so ohne weiteres. Vielmehr ist eine Erlaubnis immer verknüpft mit Auflagen; beispielsweise ist ein einzuleitendes Abwasser nach den gegenwärtig anerkannten Regeln der Technik zu reinigen. Ich fasse zusammen: Abwasser darf nur dann eingeleitet werden, wenn die Regeln der Technik eingehalten werden.
Wie Sie sicherlich wissen, ist für das Einleiten von Abwasser eine Abgabe zu zahlen. Die Abgabe richtet sich nach Menge und Schädlichkeit der im Abwasser enthaltenen Stoffe. Nun aufgepaßt: Nach dem Willen des Innenministeriums soll nach wie vor derjenige Abwassereinleiter, der die allgemein anerkannten Regeln der Technik einhält, die Abwasserabgabe nicht voll, sondern nur zur Hälfte zahlen müssen. Ich fasse noch einmal zusammen: Wenn Sie etwas in ein Gewässer einleiten, was Sie nicht einleiten dürfen, müssen Sie die volle Abwasserabgabe zahlen. Wenn Sie nur das einleiten, was Sie auch einleiten dürfen, wird Ihnen die Abwasserabgabe zur Hälfte erlassen.
Sie werden natürlich sagen: So irrsinnig kann kein Gesetzgeber sein. Ich muß Ihnen antworten: So ist er. Begründet wird dieser Unsinn mit dem vielerorts auf Landesebene vorhandenen sogenannten Vollzugsdefizit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Göhner?
Bitte.
Frau Kollegin, haben Sie bei der von Ihnen unterstellten Konstellation für die Abwasserabgabe vielleicht übersehen, daß nach den neuen gesetzlichen Anforderungen, die die Bundesregierung gerade vorgelegt hat, allgemein anerkannte Regeln der Technik nicht mehr ausreichen, sondern der Stand der Technik Voraussetzung ist?
Folgen Sie meinen Ausführungen, dann werden Sie verstehen, warum ich zu diesem Schluß komme.
— Warten Sie ab.
Ich muß Ihnen sagen: Es ist wirklich Irrsinn, was der Gesetzgeber hier verlangt. Begründet wird dieser Unsinn mit dem auf Landesebene vielerorts vorhandenen sogenannten Vollzugsdefizit. An dieser Stelle hätte ich das Wort gern an Herrn Innenminister Zimmermann gerichtet, aber der weilt bei Ge neral Stroessner in Paraguay, während hier im Deutschen Bundestag ein umweltpolitisch wichtiges, zentrales Thema behandelt wird.
— Nun, dann hätte ich das Wort an ihn richten und ihm sagen können, daß er den Schwarzen Peter an die Länder und insbesondere an die Kommunen weiterleitet. — Ich möchte Ihnen hier einmal eine etwas andere Interpretation vom vielzitierten Vollzugsdefizit geben. Das Vollzugsdefizit wird hier in Bonn produziert, meine Damen und Herren.
Mehr noch: Das Vollzugsdefizit ist der Hut, unter den der Innenminister Industrieinteressen und Umweltschützer zu bringen versucht. Für den Umweltschützer ist die Formulierung „Gefährliche Abwässer müssen zukünftig nach dem hohen Stand der Technik gereinigt werden", und für den Bundesverband der Deutschen Industrie sind dann einige hundert Verwaltungsvorschriften, die vielleicht im nächsten Jahrtausend kommen und die insgesamt nicht vollziehbar sein werden.Warum macht es sich denn der Herr Innenminister nicht einfacher, so wie wir es schon vor zwei Jahren beantragt haben? Wir brauchen keinen Nachweis, welche der einzelnen Abwasserinhaltsstoffe der chemischen Industrie besonders schädlich sind und welche weniger schädlich sind. Wir wissen, daß derartige Abwässer in aller Regel besonders problematisch sind.
Dies gilt für Abwässer aus der Zellstoffindustrie wie auch für Abwässer der Metallindustrie. Für all diese Abwässer verlangen wir — ohne langwierige verwaltungsrechtliche Komplikationen — kurzerhand den Stand der Technik. Forschungsergebnisse dürfen allerdings nicht zurückgehalten werden, um die Definition „Stand der Technik" zu manipulieren. Damit man sich hierbei nicht allzuviel Zeit läßt, verlangen wir, daß diese Regelung innerhalb der nächsten drei Jahre eingehalten wird. Dieser technische Umweltschutz dient allerdings nur der kurzfristigen Beseitigung dieser Probleme. Längerfristig muß die Industrie ihre Produktion umstellen.
Und nun zur Nordsee: Die Zunahme der Nährstoffe in der deutschen Nordsee hat sich verzweibis verfünffacht. Diese Nährstoff-Flut führt zu massenhaftem Algenwachstum und zu gefährlichen Sauerstoffdefiziten im küstennahen Bereich. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen und ebenso die Sachverständigengruppe der ostfriesischen Inselgemeinden warnen unüberhörbar. Eine dritte Reinigungsstufe zur Entfernung der Nährstoffe wird gefordert. Von den beinahe 8 000 Kläranlagen der Bundesrepublik weisen ganze 200 eine derartige Phosphatfällung auf.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12607
Frau HönesIch möchte zum Schluß einen weiteren Schwachpunkt der vorliegenden 5. Novelle des Wasserhaushaltsgesetzes ansprechen. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern:
Unser Trinkwasser ist in Gefahr. Rückstände aus der Landwirtschaft gelangen in alle Brunnen. Deshalb werden die GRÜNEN in den nächsten Tagen einen alternativen Gesetzesantrag einbringen, in dem sie verlangen, daß zukünftig das verboten wird, was Grundwasser verschmutzt.Im einzelnen bedeutet dies — ich hoffe, den Wachstumsbauern und den Agrarindustriellen klingen die Ohren —: Verbot der Massentierhaltung, Verbot von Agrargiften, die ins Grundwasser gelangen können, eine Düngeobergrenze von 150 Kilogramm Stickstoff pro Hektar, eine Düngeobergrenze von nicht mehr als 1,5 Düngeeinheiten je Hektar und das Verbot von großflächigen, mehrjährigen Monokulturen wie Mais.
Es geht uns um den Schutz der dezentralen Wasserversorgung, es geht uns um das Recht des einzelnen auf sauberes Wasser.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Herr Kollege Kiehm, die an sich doch milde Kritik der Opposition verleitet mich zu dem nicht ganz fernliegenden Schluß, daß das Gesetz doch nicht ganz so schlecht ist, wie hier der Eindruck erweckt worden ist. Ich habe übrigens dabei die Anregung: Wenn es Ihnen gelingen sollte, lieber Herr Kollege Kiehm, die SPD-regierten Länder dazu zu bringen, dem Bund die Vollkompetenz bei der Wassergesetzgebung einzuräumen, wenn Sie das also — wie bei Salome — auf dem silbernen Tablett servieren könnten, dann werden wir Ihnen sicher einen Wasserlilienkranz spendieren dürfen. Aber im Augenblick sieht es noch so aus, daß Sie sich bei diesem gemeinsamen Überfall von Hamburg und Hannover auf das Heidewasser mit einem sehr trockenen Heidekranz begnügen müssen.
Was die Freien Demokraten auf diesem Gebiet unter Genscher und Baum vorexerziert haben, brauche ich hier nicht weiter darzustellen. Das war das Wasserhaushaltsgesetz, das Abwasserabgabengesetz, das Waschmittelgesetz und eine Fülle von zusätzlichen Rechtsverordnungen. Ich meine, wir haben damit einen guten Grundstock gelegt. Wir bauen diesen Grundstock jetzt sorgfältig aus. Ich bin der Meinung, daß wir das, was der Bundesinnenminister hier vorlegt, als sinnig ansehen dürfen. Frau Kollegin, einen Irrsinn kann man wirklich weder bei genauem Betrachten noch bei flüchtigem Betrachten — das letzte scheint bei Ihnen mehr der Fall zu sein — erkennen.Ich bin vorhin von dem Hearing über die Verhaltensregeln entwichen und habe noch die Anmerkung unseres Vorsitzenden Manfred Schulte mitgenommen, der gesagt hat: „Wenn das Wasser im Wein doch nur rein wäre." Ich möchte Ihnen diese Anmerkung nicht vorenthalten, selbst wenn wir bei der Gewässergütekarte feststellen können, daß die rote Färbung — ich sehe das positiv — weitgehend verschwunden ist und sich in eine gelbliche Färbung verwandelt hat. Alle Kenner wissen, daß es sich dabei um eine Verbesserung an der Gewässergütekarte handelt.
Ich meine aber, wir müssen zu der Betrachtung doch einige Einzelanmerkungen machen. Wir sind der Meinung, Herr Spranger — und ich bitte Sie, das dem Innenminister doch als ernste Anregung zu übermitteln —, daß die nach § 7 a für die Bestimmung der gefährlichen Stoffe notwendige Rechtsverordnung gleichzeitig mit dem Gesetzentwurf in Kraft treten muß. Sonst haben wir hier eine Lücke. Ja, ich gehe sogar noch weiter, es wäre uns bei den Beratungen hilfreich, wenn wir den Text der Rechtsverordnung schon bei den Gesetzesberatungen kennen würden, damit wir vielleicht noch etwas stärker in der Rahmengesetzgebung auf diese Sache einwirken können.Ich begrüße es sehr, daß wir hier auch die EG- Gewässerschutzrichtlinien ansprechen können, die Leitlinien für uns sein sollten und meine, daß die Liste, die die EG dafür aufgestellt hat, Grundlage für die entsprechenden gefährlichen Stoffe sein muß. Ich unterstütze die Indirekteinleiterregelung und meine, daß wir hier den richtigen Weg gehen. Ich wünsche mir, daß dabei für die Kommunen nicht zu viele zusätzliche Verwaltungskosten entstehen, wie ich überhaupt begrüße, daß die Bundesregierung in ihrem Entwurf deutlich macht, daß wir hier zu einer Verwaltungsvereinfachung kommen. Das ist j a ein Ziel, das wir alle haben. Ich hoffe, daß es auch zu einer entsprechenden Entbürokratisierung kommt, und wünsche mir, wie gesagt, sehr, daß wir da keine Klagen von den Ländern und von den Gemeinden bekommen.Ich möchte eine Anmerkung zu der Abwasserabgabenvorstellung des Kollegen Kiehm machen. Ich meine, wir müssen das sehr sorgfältig prüfen. Herr Kollege, Sie sollten mir einen Augenblick das Augen- und Ohrenmerk schenken können! Denn die Frage der Abwasserabgabenregelung ist nicht so uninteressant, wie sie sich bei Ihnen im Augenblick darstellt. Ob wir die entsprechende Abgabe erhöhen sollten oder nicht — ich möchte das für meine Fraktion noch offenlassen —, bedarf einer sehr sorgfältigen Prüfung. Wir haben j a damals diese Abgabe zeitlich und der Höhe nach gestaffelt. Sie wissen,
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Wolfgramm
daß wir im Augenblick bei der Höchstposition angekommen sind. Nun müssen wir sehen, ob wir hier mit einer Anhebung der Abgabe zusätzlich das anregen können, was wir alles wollen, nämlich eine weitere stärkere Position.
— Die Höchstposition bei dieser Sache beträgt immerhin pro Schadeinheit 40 DM, wenn ich Sie aufklären darf, Herr Kollege Schily, und das ist immerhin doch schon einiges. Daran können Sie auch erkennen, daß die Kommunen, die dies natürlich leicht auf ihre Bürger abwälzen können, eine solche Sache nicht so stark in den Griff nehmen wie z. B. die Industrie, die mit spitzem Bleistift „Konkurrenz" rechnen muß.
Das ist ein Punkt, bei dem Sie sich sicher in Ihrer Heimatkommune noch verdienstvoll einschalten können.Ich möchte noch eine Anmerkung machen, die uns, die Freien Demokraten und unseren Fachausschuß beschäftigt: Wir sehen, daß der Entwurf der Regierung zwar die Zielsetzung betont, nämlich den Schutz des Grundwassers, im Ergebnis schlägt sich diese Vorstellung aber nicht ausreichend im Gesetz nieder. Wir meinen, daß wir in § 36b eine Fassung haben sollten, die sagt, daß die Gewässer als „Bestandteil des Naturhaushalts" zu verstehen sind und daß die Grundwasservorräte zumindest „geschont" werden müssen. Ich habe das vorhin an dem Beispiel mit dem Hamburger Durst deutlich gemacht. Ich meine, das ist ein ernstes Anliegen. Dazu kommt, daß wir Anreize geben müssen, daß wir das Brauchwasser stärker in den Wasserkreislauf einschalten und nicht das kostbare Grundwaser dafür einsetzen.Der Kollege Duve hat beim vorhergehenden Tagesordnungspunkt Goethe bemüht. Mir ist bei der Behandlung des Grundwassers bzw. überhaupt des frischen Wassers heute morgen dazu eine Idee gekommen — deswegen wollte ich Goethe nicht bemühen, sondern wollte mich dieser Sache selber unterziehen—:
So zieht das Wasser nächtens seine dunkle Bahn,der Silberstreif des Halbmonds spiegelt wider sich in dem kühlen klaren Lebenselement, doch wir, wir machen alles nieder.
Das war eine Uraufführung, meine Damen und Herren.
Das war die frühe Morgenstunde.
Ich meine, sehr ernst, wir müssen zu Anreizen in der Nutzung des Brauchwassers kommen. Wenn der Wasserversorgungsbericht des BMI vom Jahr 1982 ein jährliches Wachstum um 1,7% bis 1995 prognostiziert, dann läßt sich eine leichte Rechnung aufmachen, wie es dann mit unserem Grundwasser bestellt sein wird. Ich meine, diese Anregung für die Wirtschaft, die Industrie, für die Kommunen, aber auch für den privaten Bereich, die Haushaltungen, sollte sich das Innenministerium sorgfältig und in Abstimmung mit den anderen Ministerien überlegen und uns hierzu Vorschläge machen.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube nicht, daß es jetzt sinnvoll ist, hier eine Aufklärungsvorlesung über das Abwasserabgabengesetz zu halten. Das ist auch nicht das Problem, sonst hätten Sie soeben Zwischenbemerkungen machen müssen. Das heutige Wasserhaushaltsgesetz, um ein Beispiel zu nennen, ermöglicht es in § 36 schon heute, Brauchwassernetze zu legen, wenn man will. Man muß es nur wollen.
Ich will nur dieses Beispiel nennen; ich könnte eine Reihe von Beispielen nennen. Mir zeigt das, daß man die Diskussion nicht auf dieser Ebene führen sollte.
Ich fand richtig, was Sie, Herr Göhner, gesagt haben: daß man bei dem Thema Wasser jetzt nicht einseitig mit Blick auf den Bund diskutieren soll. Es ist vielmehr wirklich wichtig — und ich finde, das ist eine Sache, die uns alle, alle Fraktionen, angeht —, dafür zu sorgen, daß bei diesem sehr wichtigen Thema — Wasser ist der Schlüssel zum ökologischen System, ist ein Schlüssel zum Verhältnis von Mensch, Umwelt und Natur — versucht wird, in den Ländern mehr Problembewußtsein zu schaffen und die Verantwortung nicht einseitig auf den Bund zu verlagern. Das halte ich für richtig. In vielen Bereichen haben die Länder über die Landeswassergesetze die Verantwortung, das bedeutet aber nicht, daß wir beim Bund nichts zu tun brauchen — ganz im Gegenteil! Da muß man aber, glaube ich, schon sagen — das will ich begründen —, daß das, was bisher getan wurde, unserer Auffassung nach nicht ausreicht, ohne jetzt in Einzelheiten zu gehen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wolfgramm?
Ja, natürlich.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Wolfgramm.
Lieber Herr Kollege, Sie haben sich eben mit der Brauchwassersituation beschäftigt: Würden Sie dem Hohen Haus freundlicherweise mitteilen, ob die Regelung trotz nicht vorhandener Anreize ausgereicht hat, daß Sie bei sich eine solche Brauchwasserleitung installiert haben, und kennen Sie andere ökologisch enga-
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gierte Menschen und Institutionen, die das schon getan haben?
Lieber Kollege Wolfgramm, jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, weiß, daß so etwas vor allem im industriellen und gewerblichen Bereich sinnvoll ist und man das da auch über den örtlichen Bebauungsplan ausweisen kann.
Es ist unsinnig, da mit den einzelnen Haushalten anzufangen. Auch das weiß jeder, der in dieser Diskussion ist.
— Tut mir leid, wenn man da so reagieren muß. Ich will das eigentlich gar nicht. Ich möchte vielmehr zum Problem sprechen.Ich glaube, das Entscheidende, was heute beim Thema Wasser zu dokumentieren ist, ist, daß sich in den letzten Jahren hier eine qualitative Verschiebung der Umweltproblematik ergeben hat. Das ist, finde ich, das, worüber wir beim Thema Umweltprobleme und Wasserpolitik gemeinsam diskutieren und beraten müssen.Wenn ich es richtig sehe, war Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre die Ausgangssituation der Wasserschutzpolitik folgende. Man war erstens alarmiert über die akut wasserstoffzehrenden Verschmutzungen der Flüsse. Zweitens mußte man feststellen, daß vor allem die hygienische Situation schlecht war. Drittens — das hängt damit zusammen — erlebten wir überall großes Fischesterben. Ich gestehe zu, daß insbesondere in den 70er Jahren eine Menge von Instrumenten geschaffen worden ist, die zum Teil nicht ausgenutzt worden sind, auch heute noch nicht, die aber, wenn man sie bewertet, insgesamt nicht ausreichen, um dem, was heute in diesem Bereich auf uns zugekommen ist, gerecht zu werden.Wir haben als Ziel Gewässergüteklasse II gesetzt, wir haben als Ziel gesetzt, etwa bis Mitte der 80er Jahre 90% der Abwässer biologisch zu klären. Diese Ziele sind durch die genannten Maßnahmen zu realisieren versucht und in vielen Bereichen auch verwirklicht worden.Heute allerdings — und das ist das Problem — geht es weniger um die großen Schmutzfrachten als um qualitativ andere Stoffe. Heute geht es darum, die stoffliche Umwelt zu beherrschen. Das ist eben nicht die quantitative Betrachtung der Verschmutzung, sondern die Bewertung der einzelnen, insbesondere der polyzyklischen Stoffe — das sind die halogenierten Kohlenwasserstoffverbindungen und ähnliche Stoffe, die man eben mit dem bisherigen Instrumentarium nicht erfassen kann. Das ist das zentrale Problem in der Wasserpolitik heute. Das muß man meines Erachtens begreifen.
Da ist es beispielsweise möglich, das Instrumentarium auf diese Problematik zu orientieren und das mit einer Politik der stofflichen Beherrschung unserer Umwelt zu verbinden. Wie Sie vielleicht wissen, arbeiten wir in diesem Zusammenhang an einem Konzept, das sich Chemiepolitik nennt. Damit wollen wir versuchen, Bewertungskriterien für die stoffliche Seite der Umwelt zu schaffen, um, davon ausgehend, sozusagen eine andere Qualität von Umweltpolitik, die heute notwendig ist, zu realisieren.Ich möchte aber vorweg sagen, daß es auf jeden Fall sinnvoll ist, auch das heutige Instrumentarium weiterzuentwickeln. Im Mittelpunkt steht da das Abwasserabgabengesetz. Wir halten es für eines der wichtigsten Gesetze, die bisher in der Umweltpolitik überhaupt geschaffen worden sind, weil es, bei allen Mängeln, die es hat — das akzeptieren wir —, ein Gesetz ist, das über die Grenzwertephilosophie hinausgeht, zu Zielwerten — das muß immer mehr die zentrale Ausrichtung unserer Umweltpolitik sein —, und weil es in der Tat auch technische Innovationen ausgelöst hat. Wenn man sich beispielsweise nur die Untersuchungen des Wissenschaftszentrums Berlin anguckt, wird man feststellen, daß wir dadurch, daß die Umweltpolitik mit Zielwerten verbunden worden ist, technische Innovationen auf dem Sektor erleben und daß heute im Bereich des Umweltsektors Abwassertechnik Unternehmensziel von mehr als 50 % aller Unternehmen ist. Das ist eine positive Entwicklung. Und es wäre gut, wenn wir das auch für die anderen Umweltbereiche schaffen könnten.Ich glaube aber, daß heute sehr viel stärker die biologisch schwer abbaubaren Stoffe, giftige Schwermetalle vor allem, halogenierte Verbindungen, eutrophierende Stoffe und ähnliche, im Mittelpunkt stehen. Wenn wir das nicht in eine vorsorgende Umweltpolitik einbeziehen, glaube ich, daß wir die Probleme erst dann erkennen, wenn Reparaturen kaum mehr möglich sind. Das ist das große Problem bei den Stoffen, die wir heute haben, die nur unter Langzeitgesichtspunkten zu erfassen sind und bei denen kurzfristige Reparaturmaßnahmen überhaupt nicht in Frage kommen. Hier steht also eine ganz andere Herausforderung an, weil wir mit den bisherigen Methoden der Orientierung an Grenzwerten, an nachträglicher Entsorgung und der Orientierung an Selbstheilungskräften nicht weiterkommen.Was das bedeutet, will ich beispielhaft an einem Stoff wie Nitrat deutlich machen. Nitrat hat nach heutigen Kenntnissen bei unseren Böden in der Regel einen Bodeneintrag von zehn bis zwölf Jahren. Dann ist der Stoff hindurchgegangen und befindet sich im Grundwasser. Über das Grundwasser kommt er zum Menschen zurück. Bei Menschen führt das zu erheblichen Problemen, bei Kleinkindern insbesondere zu Sauerstoffmangel, also zu Blausucht. Bei Erwachsenen führt der Stoff — insbesondere durch die Umwandlung in Nitrosamine — zu Krebs. Diese Gefahren kriegt man nicht mehr in den Griff, wenn der Prozeß der Durchdringung des Bodens gelaufen ist. Das Problem kriegt man nur durch eine vorsorgende Politik in den Griff und durch nichts anderes. Das ist heute unsere Aufgabe
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Müller
sehr viel stärker: die Beherrschung der stofflichen Seite.
Ich will ein zweites Beispiel nennen, woran deutlich wird, daß wir zu einer vorsorgenden Politik kommen müssen. Das ist das Seveso-Gift. Das Seveso-Gift ist bei der heutigen stofflichen Entwicklung ein Gift, das nirgendwo produziert wird, nirgendwo gebraucht wird, aber durch die Art und Weise, wie wir produzieren bzw. wie wir mit unseren Produktionsprozessen umgehen, anfällt und enorme Probleme bzw. Gefährdung von Mensch und Umwelt hervorruft. Wir können nicht damit weitermachen, erst zu warten, bis so ein Stoff auftaucht, den wir meist nur zufällig entdecken.
Vielmehr müssen wir von vornherein solche Gefahrenpotentiale in die Betrachtungen unserer Umweltpolitik einbeziehen. Wir dürfen diese chemischen Stoffe nicht nur in der herkömmlichen Weise betrachten, sondern müssen auch an die Möglichkeit denken, daß es zu Anreicherungen des biologischen Systems mit diesen Stoffen kommt. Die Böden können davon erfaßt werden. Das biologische System kann davon durchdrungen werden. Es kann zu einer Remobilisierung kommen, und noch anderes kann dahinterstehen. Es handelt sich um eine Vielzahl von Wirkungsfeldern, die man nur mit einer vorsorgenden Politik, nicht mit einer Politik nachträglicher Reparaturen erfassen kann.
Ich habe gesagt, daß Wasser eine Schlüsselfunktion hat, weil im Grunde genommen alle Umweltprozesse oder Umweltgefährdungen im Prinzip in einer wäßrigen Phase entstehen. Das bedeutet, diese Verbindungen, diese Stoffe mit langfristigen Gefahrenwirkungen für Mensch und Umwelt hängen mit dem Schlüsselstoff Wasser zusammen, so daß wir zuerst beim Wasser versuchen müssen, diese neue Qualität von Umweltpolitik deutlich zu machen.Deshalb lassen Sie mich zu Ihrem Entwurf zusammenfassend folgendes sagen. Auch wir sehen natürlich, daß § 7 a ein Fortschritt ist, obwohl er völlig unkonkret gefaßt ist. Wir wissen gar nicht, für welchen Zeitraum, unter welchen Bedingungen usw. das gilt. Aber wir unterstellen einmal guten Willen. Selbst das wird jedoch nicht ausreichen. Wir müssen zu einer vorsorgenden Politik kommen. Das bedeutet, daß wir jetzt handeln müssen, weil wir nicht erst handeln dürfen, wenn die Schäden eingetreten sind und davon insbesondere der Mensch betroffen ist.Schönen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Drucksache 10/3973 zur federführenden Beratung an den Innenausschuß, zur
Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und den Ausschuß für Forschung und Technologie sowie zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist diese Überweisung beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Abrüstungsinitiative aus vier Kontinenten unter Bezug auf die Aktivitäten Frankreichs und dessen Atomversuche am MururoaAtoll
— Drucksache 10/3932 —
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist eine Aussprache mit 10-Minuten-Beiträgen für jede Fraktion vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort hat Frau Abgeordnete Eid.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frankreich bringt heute abend um 20 Uhr mitteleuropäischer Zeit eine weitere Atombombe auf dem Mururoa-Atoll zur Explosion.
Wir GRÜNEN sind fassungslos, daß die Atombombe gezündet wird,
dies unter Mißachtung des Rechts auf menschliche Unversehrtheit der Bewohner jenes Teils der Erde dort. Frankreich kümmert sich nicht um weltweite Kritik. Im Gegenteil, der französische Premierminister Fabius reiste in das Atomtestgebiet, um Entschlossenheit zu demonstrieren, trotz der Proteste der Pazifikstaaten, den Atomtest durchzuführen. Daß die französische Regierung nicht davor zurückschreckt, selbst mit brutalsten Mitteln Proteste gegen ihre menschen- und umweltverachtende Atompolitik zum Schweigen zu bringen, wurde spätestens durch die Versenkung des Greenpeace-Schiffes „Rainbow Warrior" der Öffentlichkeit vor Augen geführt. Wir GRÜNEN können hierzu und zu den Atomtests nicht schweigen.
Der französische Geheimdienst nahm bei dem staatlichen Terroranschlag auf die „Rainbow Warrior" den Tod von Fernando Pereira in Kauf. Durch das Zünden von Atombomben nimmt die französische Regierung ebenso bewußt und kaltblütig den schleichenden Tod ungezählter Menschen und in der Öffentlichkeit namenlos bleibender Menschen sowie die Zerstörung und das Sterben der Natur in Kauf. Die Opfer sind die Bewohner Polynesiens, das Frankreich immer noch sein Überseeterritorium
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Frau Eidnennt und in dem sich die Franzosen in alter Kolonialherrenmanier wie Hausherren aufspielen.
Seitdem dort Atombomben gezündet werden, wird z. B. keine Gesundheitsstatistik mehr veröffentlicht. In den Krankenhäusern arbeiten Armeeärzte. Das Mururoa-Atoll sinkt nach jeder unterirdischen Atomexplosion um einige Zentimeter. Es hat explosionsbedingte Risse, durch die bereits heute Radioaktivität ins Meerwasser austreten kann. Es muß befürchtet werden, daß das Mururoa-Atoll in absehbarer Zeit auseinanderbricht und die angesammelte Radioaktivität der unterirdischen Atomtests das Meer verseucht. Wir selbst wären dann z. B. dadurch unmittelbar betroffen, daß etwa die Hälfte des Thunfisches, den wir hier in Europa verzehren, aus dem Pazifik kommt.Unabhängige Ärzte, Geologen und Ökologen dürfen bisher nicht in das Testgebiet hinein, um die Folgen der Atomtests an Mensch und Umwelt zu untersuchen. Die 500 Bewohner der Insel Mangareva z. B., die unter Spätfolgen der radioaktiven Verseuchung leiden, durften weder die Ärztin empfangen, die mit der Greenpeace zu ihnen kommen wollte, noch die Europa-Abgeordnete der Grünen Dorothee Piermont, die als Europa-Abgeordnete das Recht hat, jedes Territorium eines EG-Landes zu betreten.
Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal ausdrücklich, daß dort Kolonialismus nach altem Muster herrscht.
Atomare Bedrohung und Kolonialismus sind für die pazifischen Inselstaaten zwei Seiten derselben Medaille; denn solange sie nicht selbständig sind, können sie einer weiteren radioaktiven Verseuchung ihrer Meere, ihrer Inseln, ihres Bodens, ihrer Tiere, ihrer Pflanzen und ihrer Menschen durch die Atommächte keinen Einhalt gebieten.Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung von Französisch-Polynesien haben vorige Woche die „Greenpeace" besucht, trotz der Behinderungsversuche durch die französische Marine. Sie haben mit ihrem Besuch eindeutig die Behauptung der französischen Regierung widerlegt, daß es über Atomwaffentests einen nationalen Konsens gebe.Die „Rainbow Warrior" hatte kurz vor ihrer Versenkung die 300 Bewohner des Rongelap-Atolls evakuiert. Die Inseln dieses Atolls sind durch den Fall-out der Atomtests der USA verseucht. Die Regierung der USA, Verursacher des Leidens, hatte es kaltschnäuzig und in menschenverachtender Weise abgelehnt, die Insulaner in Sicherheit zu bringen. Sie leiden unter radioaktiven Folgeschäden wie Krebs, Erblindung, Totgeburten und Mißgeburten. Nur wenige Kinder sind scheinbar völlig gesund. Auch sie können plötzlich todkrank werden.Am Beispiel dieser Menschen sehen wir, was es bedeutet, auf verseuchter Erde zu leben. Sie sind eine ständige Mahnung an uns, eine weitere Verseuchung dieser Erde nicht zuzulassen.
Und jetzt ein Wort an die Adresse von Herrn Kohl. Sie haben vorletzte Woche durch Ihre Begleitung des französischen Präsidenten nach Berlin der deutsch-französischen Freundschaft keinen Dienst erwiesen. Sie haben die Machtdemonstration Mitterrands unterstützt, eine Machtdemonstration, die sicher nicht zufällig nach seinem Besuch des Mururoa-Atolls folgte. Der betont militärische Pomp des Besuches hat viele Berliner abgestoßen. Auch gab es Proteste gegen die französischen Atomtests. Sie, Herr Kohl, haben mit Mitterrand in Berlin eine deutsch-französische atomare und militärische Komplizenschaft demonstriert, keine deutsch-französische Freundschaft.
Ich möchte einige Beispiele für diese Komplizenschaft nennen.Erstens. Die Bundesregierung übernimmt trotz besseren Wissens die offizielle Erklärung der französischen Regierung, daß die Atomtests keinerlei Strahlenschäden hervorgerufen hätten.
Daß das nicht stimmt, dafür haben wir Beweise.
Dorothee Piermont, Europaabgeordnete der GRÜNEN, traf Opfer dieser Strahlenschäden, z. B. in der Gemeinde Teahupoo: Aitoa Tanematea, 60 Jahre, der seit 1965 beim Commissariat pour l'Energie Atomique in Tahiti als Pfleger arbeitete und ab 1976 nach Mururoa geschickt wurde. Ihm wurde zum Verhängnis, daß sich Polynesier traditonsgemäß vorwiegend von Fisch ernähren. 1979 aß er trotz des Verbotes Fische aus der Lagune von Mururoa, bekam Durchfall und hohes Fieber. Wegen des geltenden Verbotes, Fisch zu essen, ging er jedoch zunächst nicht zum Arzt, sondern erst, als zu diesen Symptomen Haarausfall und eitrige Wunden auf der Haut kamen und sich die Haut dann in Fetzen ablöste. Schließlich wurde auch sein rechtes Auge angegriffen, das am Ende herausoperiert werden mußte. Hinzu kamen Gedächtnisstörungen und Sprachschwierigkeiten. Der schließlich konsultierte Arzt hat ihm nie auch nur die kleinste Erklärung über Art und Ursache seiner Erkrankung gegeben, ihn nur ergebnislos mit Medikamenten behandelt.Das zweite Beispiel dieser Komplizenschaft: Der Schnelle Brüter „Super-Phénix" in Frankreich wird mit Plutonium aus der Bundesrepublik und mit Beteiligung der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke AG betrieben. Frankreich hat, wie Ihnen allen bekannt ist, den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet. Die französische Regierung weigert sich auch verbindlich zu erklären, kein Plutonium aus dem Schnellen Brüter „Super-Phénix" zu militärischen Zwecken zu verwenden. Das heißt, es ist möglich, daß deutsches Spaltmaterial bereits heute auf dem Mururoa-Atoll gezündet wird. Wir fragen, ob die Atomwaffenproduktion in Frankreich
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Frau Eidfür die deutsche Atomindustrie bereits ein lukratives Geschäft geworden ist. Wir befürchten, daß Projekte wie der Schnelle Brüter in Kalkar und die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf deswegen forciert werden, um unter dem Deckmantel der deutsch-französischen Freundschaft und über die Westeuropäische Union den Traum von der atomaren Großmacht Westeuropa zu verwirklichen.Ich weise in diesem Zusammenhang auf die Aussagen des Staatssekretärs Rühl im Verteidigungsministerium hin, daß die Bundesregierung eine Ausdehnung des französischen Atomschirms auf die Bundesrepublik befürwortet und daß gemeinsame Manöver der Bundeswehr mit der französischen Streitmacht im nächsten Jahr beginnen würden.
Wir GRÜNEN haben den vorliegenden Antrag eingebracht, weil wir Frieden wollen, einen gerechten Frieden, in dem Frankreich seine Atomtests einstellt und seine Kolonien im Pazifik, nämlich Französisch-Polynesien und Neukaledonien, in die Unabhängigkeit entläßt.
Der Antrag soll Punkt für Punkt abgestimmt werden, denn jeder Punkt ist eine Frage an das Gewissen des einzelnen Abgeordneten.Mit dem vorliegenden Antrag solidarisieren wir uns mit der Abrüstungsinitiative aus vier Kontinenten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lamers.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe immer schon sehr viel von dem außenpolitischen Können des französischen Präsidenten gehalten. Aber die Genialität, Frau Kollegin Eid, Mururoa und Berlin in Zusammenhang zu bringen, habe ich offengestanden nicht durchschaut und sicherlich auch der Bundeskanzler nicht. Wer weiß, ob diese Reise nach Berlin sonst zustandegekommen wäre.
Im übrigen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, lohnt es sich nicht, sich mit dem Antrag der GRÜNEN im sachlichen Detail auseinanderzusetzen.
Was zu der „Rainbow-Warrier"-Affäre zu sagen war, haben meine Kollegen und Staatsminister Möllemann schon in der Aktuellen Stunde am 26. September gesagt. Die Affäre ist von Frankreich so bereinigt worden, wie es den großen freiheitlichen demokratischen Traditionen des Landes entspricht. Der Zusammenhang zwischen Ihrem Antrag und der Abrüstungsinitiative aus vier Kontinenten ist wohl etwas anders. Er besteht darin, daß die beteiligten sechs Länder alle mehr oder minder stark die französische atomare Politik unterstützen und Verständnis für sie haben.
Wir von der Union werden dafür sorgen, daß die Zusammenarbeit mit Frankreich auf allen Gebieten nicht nur nicht abgebrochen, sondern weiter ausgebaut wird.
Aber der Antrag der GRÜNEN ist ein weiterer exzellenter Ausweis für die Berechtigung der Sorge, daß die GRÜNEN nicht nur antiamerikanisch, sondern auch antifranzösisch, ja antiwestlich sind.
Sie sind überhaupt völlig unfähig, westliches Denken nachzuvollziehen. So wie heute die USA in Ihren Augen das Symbol, die Präfiguration, der Vorreiter der westlich-technologischen Zivilisation sind,
so wie sie die Gesellschaft sind, von der Sie sich und der wiedererwachende deutsche Nationalismus abgrenzen, so war es in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Frankreich, das von dem erwachenden deutschen Nationalismus zum Erbfeind gestempelt wurde. In dieser Tradition stehen Sie, die GRÜNEN, mit Ihrem feindseligen Unverständnis für Frankreich.
Wie für den Ayatollah Khomeini sind die USA für Sie der große und Frankreich der kleine Satan.
Herr Abgeordneter Lamers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schily?
Bitte sehr. Vizepräsident Stücklen: Bitte.
Herr Kollege Lamers, weil Sie schon den Ayatollah Khomeini erwähnen: Meinen Sie, daß man, wenn man z. B. die Politik des Ayatollah Khomeini kritisiert, antiiranisch ist?
Nein, das ist man weiß Gott nicht. Das ist aber kein Beweis dafür, daß Sie nicht antifranzösisch sind, denn Sie kritisieren Frankreich in allen Teilen seiner Politik und sind nach meiner festen Überzeugung in der Tat unfähig, überhaupt das Denken unseres französischen Nachbarn zu verstehen.
So ist es kein Wunder, Herr Kollege Schily, daß Sie bei unserem französischen Nachbarn wie in ganz Westeuropa als ein irrlichterndes deutsches Phänomen erscheinen, das die Frage nach dem künftigen Kurs und dem politischen Ort der Bundesrepublik Deutschland hervorruft.
Herr Abgeordneter Lamers, der Herr Abgeordneter Schily möchte noch eine Zusatzfrage stellen.
Danke, ich möchte jetzt fortfahren, Herr Kollege Schily.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12613
LamersSie sind das vorläufig letzte Glied in der langen Kette deutscher Irrationalitäten, die den Westen stets erschreckt und verunsichert haben.
Sie sind ein gottlob schwaches, noch schwaches, mieses historisches Re-Makeup der deutschen Sonderwegsideologie. Sie haben gerade in Frankreich das Gespenst der incertitude allemande wieder zum Leben erweckt. Sie stehen in dem Teil der deutschen Tradition, der in die Katastrophe geführt hat.
Deshalb werden wir Sie mit allen demokratisch legitimen Mitteln bekämpfen. Wir hoffen bei Gott, daß der deutsche Wähler Sie im Januar 1987 zu einer bedeutungslosen — —
Herr Abgeordneter Lamers, einen Augenblick! — Herr Abgeordneter Schily, Sie haben eine Zwischenfrage stellen können. Ich bitte also, die Zwischenrufe nicht in einer Häufigkeit vorzubringen, daß sie den Redner in seinen Ausführungen stören.
Fahren Sie weiter fort, Herr Abgeordneter Lamers.
Der deutsche Wähler wird Sie — da bin ich sicher — im Januar 1987 zu einer bedeutungslosen Episode der deutschen Nachkriegsgeschichte stempeln.
Somit könnte man eigentlich — ein wenig ärgerlich, aber im Grunde doch beruhigt — zur Tagesordnung übergehen,
gäbe es nicht die deutschen Sozialdemokraten, die just vor wenigen Tagen mit diesem Fragezeichen der deutschen Politik, den GRÜNEN,
in einem Bundesland eine Koalition eingegangen sind. Die fatale Folge ist, daß die schon wieder ein wenig gedämpfte Sorge um die deutsche Grundorientierung im Ausland neu entfacht wurde,
leider zu Recht, denn es mag sein, ja, es erscheint sogar wahrscheinlich, daß die Sozialdemokraten die GRÜNEN schlucken werden; sie sind ja ausweislich der letzten Landtagswahlergebnisse schon dabei.
Aber offenbar verdauen sie diesen Bissen nur sehr schwer, und sie infizieren sich an ihm. Die Sozialdemokraten leiden an einer ausgewachsenen sicherheitspolitischen Immunschwäche gegenüber den GRÜNEN.
Dafür ist die übereinstimmende Tendenz der verschiedenen sicherheitspolitischen Ergüsse aus ihren Reihen ein klarer Ausweis. Wie die GRÜNEN betreibt die SPD eine Sicherheitspolitik, die nicht nur mit der Linie der NATO und der USA unvereinbar ist, sondern auch in allen entscheidenden Fragen mit der Politik Frankreichs. Dankenswerterweise hat der Kollege Scheer in schöner Offenheit mehrmals auf diesen Sachverhalt hingewiesen, zuletzt in der Debatte vom 26. September dieses Jahrs, die ich schon erwähnte, wo er zum wiederholten Male etwa entgegen den französischen, aber auch entgegen unseren Interessen die Einbeziehung der atomaren Systeme Frankreichs und die Genfer INF-Verhandlungen gefordert hat,
also übrigens etwas getan hat, was die Sowjetunion
— wie man bei näherem Hinsehen feststellen kann
— schon gar nicht mehr tut.
Er hat gesagt:
Denn wenn ein gemeinsames Westeuropa in der Sicherheitspolitik geschaffen werden soll, wird das nicht mit der Sonderrolle der Force de frappe gehen, sondern nur mit einer aktiven französischen Rolle in der Rüstungskontrollpolitik, und zwar für nukleare Rüstungskontrolle und andere Dinge auch.
Weiter hat er ausgeführt — ich zitiere —,
daß sich Frankreich in der atomaren Rüstungskontrollpolitik stärker auf eine gesamtwesteuropäische Verantwortung zubewegen muß ... und dabei die eigene Betrachtungsweise überwinden muß.
Meine Damen und Herren, das heißt nichts anderes, als daß die Sozialdemokraten erwarten, daß die Franzosen ihre Position, die sie fälschlicherweise als gesamtwesteuropäische ausgeben, übernehmen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, unter diesen Bedingungen wird es niemals eine deutsch-französiche Sicherheitspartnerschaft geben. Da Sie das genausogut wissen wie ich, erweist sich das Schlagwort von der Europäisierung der Sicherheitspolitik als nichts anderes denn als ein Rauchvorhang, hinter dem Sie Ihre Abkehr nicht nur von der NATO und den USA, sondern auch von einer möglichen und sich anbahnenden westeuropäischen Sicherheitspolitik betreiben wollen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Nein, ich bitte darum, das jetzt weiter ausführen zu können; sonst kann ich meinen Gedankengang nicht zu Ende bringen.Wenn es dafür überhaupt noch eines Beweises bedurft hätte, so ist er in dem Dokument der französischen Sozialisten „La Sécurité de l'Europe" vom
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Lamers26. Juni dieses Jahres enthalten. Dort beziehen sich die Sozialisten auf ein Dokument von 1982, das sie bekräftigen und in dem es heißt — ich zitiere —, daß das bestehende konventionelle und nukleare Ungleichgewicht es nicht ermöglichen würde, das Ziel der Errichtung einer atomwaffenfreien Zone in Europa zu erreichen.
Ich glaube, das ist ein sehr klares Dokument.
Im selben Dokument wird übrigens auf Seite 29— das eben Zitierte stand auf Seite 27 — auch eine chemiewaffenfreie Zone ausgeschlossen.
— Herr Kollege Voigt, ich muß die Sozialdemokraten einmal daran erinnern, daß sogar die Sowjetunion jetzt in der vereinbarten Arbeitsstruktur bei der KVAE in Stockholm diese Propagandathemen „chemiewaffenfreie Zone" und „atomwaffenfreie Zone" abgeräumt hat. Sie müssen sich beeilen. Ich fordere Sie auf, diesem sowjetischen Beispiel in diesem Fall zu folgen.
Meine Kollegen von der SPD, das alles mag Ihnen polemisch überspitzt erscheinen. Aber ich bitte Sie, mir zu glauben: Es ist nichts als der Ausdruck meiner ernsten und unruhigen Sorge um eine Wiederholung historischer deutscher Fehler, die uns in die Katastrophe geführt haben. Ich bitte Sie, die sozialdemokratischen Kollegen, darüber nachzudenken, ob die Diskrepanz zwischen Ihnen und Ihren französischen Freunden für Sie nicht ein Menetekel sein muß, das Sie nachdenklich stimmen muß.Eine gemeinsame westeuropäische Sicherheitspolitik ist in der Tat, Herr Kollege Voigt, das Gebot der Stunde. Ich glaube, darin stimmen wir überein. Sie muß auch das Übermaß der Abhängigkeit von den USA relativieren. Aber es muß eine inneratlantische Lösung sein, keine außerhalb der NATO- Allianz.
Herr Abgeordneter Lamers, keine Zwischenfrage mehr. Die rote Lampe leuchtet schon. Sie können keine Zwischenfrage mehr zulassen.
Ja, ich verstehe. — Ich möchte zum Abschluß sagen, Herr Kollege Voigt: Es ist meine feste Überzeugung, daß es eine gemeinsame westeuropäische Sicherheitspolitik mit der Sozialdemokratie, mit ihren derzeitigen sicherheitspolitischen Vorstellungen nicht geben kann. Sie wird und kann es nur mit der Union geben.
Ich bedanke mich.
[SPD]: Der glaubt das selber nicht! —
Rusche [GRÜNE]: Höhepunkt der parlamentarischen Debatte!)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Soell.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Lamers, wenn man Ihr Potpourri, das Sie hier vorgeführt haben, Revue passieren läßt und mit der deutschland-politischen Entschließung und dem Jammertal, in das Sie sich bei dieser Entschließung begeben haben, konfrontiert, dann ist, glaube ich, der Vorwurf der geistigen Immunschwäche, den Sie an andere richten, hier wirklich überflüssig.
Der Antrag der GRÜNEN ist sicher eine Nachlese zur Aktuellen Stunde, die vor vier Wochen zum Thema des kriminellen Anschlags stattgefunden hat, den französische Geheimdienstleute auf ein Greenpeace-Schiff in Neuseeland verübt haben. In der Beurteilung dieses Verbrechens und in der Ablehnung auch französischer Nuklearwaffentests im Südpazifik stimmen wir überein — übrigens auch mit sehr großen Teilen der französischen Öffentlichkeit, und diese steht in der großen demokratischen Tradition des Landes.
Wir haben durch mehrere Initiativen in diesem Haus für einen allgemeinen Teststopp plädiert und halten an dieser Forderung fest.Gleichwohl lehnen wir den Antrag ab, weil dort in Ziffer 2 zumindest fragend unterstellt wird, daß aus der Bundesrepublik spaltbares Material zur Herstellung von Atomsprengköpfen nach Frankreich exportiert wird.
Dies ist eine Behauptung, die um so unsinniger ist, als auch die GRÜNEN wissen müßten, daß der Brennstoffkreislauf in der Bundesrepublik mit einer Intensität wie kaum in einem anderen Land international kontrolliert wird.
Im übrigen geht der Antrag die Probleme, die hinter dem Thema französischer Nukleartests im Pazifik stecken, auf sehr oberflächliche Weise und in einer Sprache an, die absolut ungeeignet ist, bei unseren französischen Freunden und Verbündeten ein Umdenken zu fördern.Ich mache mir dabei allerdings nicht den Vorwurf des deutschen Nationalismus zu eigen, Herr Lamers, weil dies ein sehr abgenutzter Begriff ist, mit dem man sich praktisch gegen vielerlei Arten von Kritik immunisiert. Die Art, in der Sie es getan haben, war der Sache ebensowenig dienlich.Frankreich wegen seiner kolonialen Atompolitik anzuklagen, oder zu behaupten — so der Kollege Suhr vor vier Wochen —, in den überseeischen Territorien Frankreichs habe der Dritte Weltkrieg schon begonnen, ist wenig hilfreich. Es entspricht auch nicht der sehr differenzierten Situation, die z. B. in Neukaledonien existiert. Um Einstellung und politisches Handeln in Frankreich ändern zu können, müssen wir uns zunächst daran erinnern,
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Dr. Soell •daß Frankreich seine Sicherheitspolitik von den Erfahrungen der Niederlage von 1940 aus definiert, während für unsere Überlegungen das Datum 1945 für viele Jahre ausschlaggebend geblieben und noch heute von Bedeutung ist, auch wenn wir selbst immer mehr zu dem Schluß kommen, daß Frankreich die Akzente seiner Sicherheitspolitik erheblich ändern muß — zu ihr gehört auch die zentrale Frage der künftigen Rolle der Nuklearstreitmacht wie auch der Weiterführung der Nuklearwaffentests —, damit die deutsch-französische und die europäische Sicherheitssolidarität Wirklichkeit werden kann. Dies wird nicht möglich sein, wenn die unterschiedlichen historischen Ausgangspunkte und die damit verbundenen Aspekte, Ängste und Gefühle unberücksichtigt bleiben.Gestatten Sie mir dabei eine historische Anmerkung, Herr Lamers. Das Hauptdilemma Frankreichs in den 30er Jahren bei der Gewährleistung seiner Sicherheit gegenüber dem expansiven Hitler-Regime wurde nicht so sehr durch die pazifistischen Strömungen im eigenen Lande verursacht, wie dies Herr Geißler fälschlicherweise behauptet, nicht einmal durch die profaschistischen Sympathien bei einem Teil der französischen Rechten, die j a das Motto hatten: Lieber Hitler als Léon Blum, sondern überwiegend durch eine falsche Militärstrategie. Die nur auf die Maginot-Linie gestützte rein statische Strategie war zwar vor dem Hintergrund der großen Opfer Frankreichs im Ersten Weltkrieg verständlich, entwertete aber völlig die französischen Bündnisgarantien gegenüber den Staaten der Kleinen Entente und gegenüber Polen. Damit war die Zertrümmerung zunächst der Tschechoslowakei und später Polens durch HitlerDeutschland entscheidend erleichtert worden.Vor zwei Jahren hat der damalige Generalsekretär der liberalkonservativen UDF, Michel Pinton, seine Kritik der offiziellen französischen Nuklearstrategie in der Tageszeitung „Le Monde" unter die beziehungsreiche Überschrift „Die neue MaginotLinie" gestellt. Er hat die bei allen politischen Kräften vorhandenen Mythen aufs Korn genommen, mit Hilfe der französischen nuklearen Abschreckungsmacht ließe sich jeder Krieg — auch ein nuklearer — von den französischen Grenzen fernhalten. Die französische Strategie, so Pintons Kritik, deren Kern die Drohung enthalte, bei einem Angriff auf Frankreich die großen Bevölkerungszentren des Angreifers atomar zu vernichten, sei nicht nur eine kaum erträgliche Mischung aus Barbarei und seelischer Schwäche, sondern berge auch einen hohen Grad an Selbstabschreckung in sich. Jeder politische Gegner, der sich dieses Risikos bewußt sei, werde alles versuchen, um die französische Abschreckungsstreitmacht präventiv auszuschalten.
Falls sich diese auf einer Sicherheitsillusion beruhende Strategie nicht in eine Richtung ändere, so heißt es bei Pinton weiter, die die Bekämpfung der angreifenden Streitkräfte zum Ziel habe, würde Frankreich im Falle eines militärischen Konfliktes in eine ähnliche Lage gebracht wie 1870 und 1940.Die französische Bevölkerung habe sich damals mehrheitlich für Verhandlungen mit dem Angreifer entschieden, damit nicht Millionen Franzosen sinnlos geopfert würden. — So weit Pinton.In den letzten Jahren hat in Frankreich auch eine intensive Diskussion darüber begonnen, ob und inwieweit andere westeuropäische Partner, insbesondere die Bundesrepublik, in das französische „Sanktuarium" und in die damit verknüpfte Nukleargarantie einbezogen werden könnten. Diese Diskussion läuft, da sie von der Bundesregierung nicht mit einer bündigen Gesamtvorstellung beantwortet wird, in eine falsche Richtung, insbesondere auch dann, wenn sich Frankreich durch Äußerungen von Regierungsmitgliedern — wie durch Herrn Staatsminister Möllemann in der Debatte am 26. September — in diesem falschen Kurs bestätigt fühlen kann. Er sagte dort, die französische Nuklearmacht füge dem nuklearen Schutz Europas durch die USA eine zusätzliche unabhängige Komponente hinzu.
Es kann weder unser Interesse sein, zu den abstrakten Mystifikationen, ja Unglaubwürdigkeiten gemeinsamer westlicher Abschreckungsdoktrinen, insbesondere was den Ersteinsatz nuklearer Waffen gegen einen konventionell geführten Angriff betrifft, noch eine nationalfranzösische Variante hinzuzufügen, noch gar, uns zum Versuchsfeld sogenannter taktischer Atomwaffen zu machen, deren Sprengköpfe bei den neuesten Versuchen im Mururoa-Atoll offenbar getestet wurden oder noch getestet werden; dabei sollen auch Neutronensprengköpfe sein.Der wichtigste Kitt eines Bündnisses demokratischer Staaten ist die annähernde Gleicheit der Chancen und der Risiken. Diese ist nur herstellbar, wenn Frankreich und die Bundesrepublik gemeinsam ihre konventionellen Abwehrfähigkeiten durch Umrüstung zu verbessern und zu organisieren versuchen, und zwar auf eine. Weise, daß die europäische Verantwortung für die eigene Sicherheit im Bündnis größer, die strukturelle Defensive nach außen hin deutlicher und Rüstungs- und Abrüstungsmaßnahmen auch im konventionellen Bereich endlich ermöglicht werden.
— Nein, das ist eine völlig andere Akzentsetzung. Sie bleiben bei dem, was Sie vorfinden. Sie dringen nicht auf Änderung.In diesen größeren gedanklichen Zusammenhang ist die Forderung nach einem allgemeinen wie speziell französischen Atomteststopp einzureihen. Die Sozialistische Internationale hat vor wenigen Tagen auf ihrer Abrüstungskonferenz in Wien — bei Stimmenthaltung der französischen Sozialisten — den im Sommer des Jahres von den Mitgliedstaaten des Südpazifischen Forums abgeschlossenen Vertrag über eine nuklearwaffenfreie Zone im Südpazifik ausdrücklich unterstützt und empfohlen, daß diese Zone auf weitere Teile des Pazifiks ausge-
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Dr. Soelldehnt wird, in denen die USA wie die Sowjetunion Atom- oder Raketentests durchführen.Diese Zusammenhänge sind es, die wir fördern sollten. Der Antrag der GRÜNEN entspricht den damit verbundenen Ansprüchen in keiner Weise. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion kann ihm auch aus diesem Grunde nicht zustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, wenn Herr Lamers darauf hingewiesen hat, daß wir uns bereits am 26. September 1985 in einer Aktuellen Stunde zu diesem Thema geäußert haben. Ich wundere mich ein bißchen, daß wir heute schon wieder unsere Betroffenheit über die Vorgänge, die wir damals alle bedauert haben — z. B. Rainbow Warrior —,
zum Ausdruck bringen sollen.Ich darf feststellen, daß der französische Staatspräsident Mitterrand von diesem Vorgang inzwischen als von „einer verbrecherischen und absurden Tat" gesprochen hat — so weit gehen Sie in Ihrem Antrag überraschenderweise gar nicht — und daß inzwischen in Frankreich immerhin der Verteidigungsminister und der Chef des Geheimdienstes zurückgetreten sind. Das soll in anderen Ländern nicht so schnell vorkommen. Entschuldigen Sie, das müssen Sie doch zumindest als eine sehr progressive Art, in Frankreich Regierung zu machen, anerkennen.
Ich darf in dem Zusammenhang vielleicht noch eine grundsätzliche Bemerkung zu solchen Anträgen machen. Ihre Popularität bei bestimmten Bevölkerungsschichten oder bei bestimmten Jugendlichen oder späten Jugendlichen ist ja darauf zurückzuführen, daß der Begriff Sachzwänge bei diesen Leuten inzwischen verhaßt ist, und uns unterschoben wird, wir redeten immer von Sachzwängen, während Sie glühende Vorstellungen der Moral zu Papier bringen. Aber in der Politik müßten auch Sie doch langsam zu dem Ergebnis kommen, daß es eben nicht genügt, Anträge zu stellen, von deren Nichtverwirklichung Sie bereits vorher überzeugt sind. Ich finde, das ist wirklich eine Sache, die Sie im Bundestag langsam berücksichtigen sollten.Ich bin nie begeistert gewesen über Leute, die auf Parteitagen und ich glaube, es geht jedem so — Anträge nur deshalb stellen, einige sind berüchtigt dafür —, damit sie am Schluß vor sich selber gerechtfertigt sind, aber nie danach fragen, ob diese Anträge durchsetzbar, verwirklichbar sind. Wissen Sie, das ist nun einmal leider nicht so in der Politik. Sie können Ihre Moral immer wieder in solchen Papieren zum Ausdruck bringen. Aber wenn Sie wissen, daß das Ergebnis solcher Anträge eben nicht zu dem führt, was Sie erhoffen, dann frage ich mich, warum Sie sie stellen.
Warum glauben Sie, mit einer Aufforderung an die französische Regierung erreichen zu können, daß die französische Regierung sagt: keine Atomtests mehr, auch keine Atomwaffen mehr, statt die richtige Adresse zu nennen, nämlich diejenigen, die Frankreich dazu gezwungen haben, Atomwaffen herzustellen? Ich glaube, es geht doch zunächst einmal darum, daß wir uns gegenüber den Großmächten bemühen, daß Atomtests eingestellt werden — das tun wir in Genf seit Jahren; ich gebe zu: bisher noch nicht mit dem Erfolg, den wir uns wünschen —, daß auf Atomtests verzichtet wird. Es ist doch nicht so — das können Sie uns doch nicht unterstellen —, als seien wir möglicherweise aus Komplizenschaft, wie Sie immer so schön zu sagen pflegen, für diese Tests oder als seien wir aus Freundschaft zu Frankreich dafür, all das totzuschweigen.Ich kann nur eines dazu sagen: Die französische Regierung hat immer wieder erklärt — das hat Präsident Mitterrand bei seinem Besuch in Kolumbien jetzt erneut getan —, sie sei jederzeit bereit, auf Atomwaffen zu verzichten, wenn eben entsprechende abrüstungspolitische Vereinbarungen zwischen den Großmächten getroffen werden könnten. Das sollte zunächst einmal unsere Adresse sein. Das tun wir in Genf. Auseinandersetzungen auf einem Nebenkriegsschauplatz sind nicht erforderlich.
Meine Damen und Herren, natürlich wird hier niemand im Saal Greenpeace kritisieren. Wir wissen, daß Greenpeace die Weltöffentlichkeit durch sehr mutige Aktionen immer wieder auf Dinge aufmerksam macht, die es zu verbessern gilt. Das, meine Damen und Herren, bestreitet Ihnen gar niemand; das sehen wir ganz genauso. Natürlich wären auch wir und andere Fraktionen dieses Hauses sehr froh, wenn es eben keinen Grund mehr für Atomtests gäbe und wenn keine Atomexplosionen — sei es in der Südsee, sei es sonstwo — stattfänden. All das ist j a nicht etwas, wovon Sie uns hier zu überzeugen brauchen. Nur müssen Sie sich doch immer wieder die Frage stellen: Ist es sinnvoll, hier Forderungen an die französische Regierung zu richten? Die französische Regierung hat klar dokumentiert, daß sie gezwungen ist, solche Tests weiter durchzuführen, um überhaupt in der Lage zu sein, ihre Sicherheitsvorstellungen zu verwirklichen. Ich sage noch einmal: Kommen wir zu Abrüstungsergebnissen in Genf, kommen wir zu Abrüstungsergebnissen zwischen den Großmächten, dann erleldigt sich diese Frage. Aber Sie können nicht von Frankreich verlangen, daß es hier allein ausschert.Nun reden Sie hier dauernd — so in der Begründung Ihres Antrags, und auch in Ihrer Rede vorhin haben Sie das wieder getan; und da geht doch Ihre Phantasie mit Ihnen gelegentlich durch — vom „Deckmantel der Deutsch-Französischen Freund-
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Schäfer
schaft", der sozusagen darauf abziele, „über die WEU den ,Traum` von der atomaren Großmacht Westeuropa zu verwirklichen." Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Sie fordern auf der einen Seite die Abkoppelung von den Vereinigten Staaten — Sie sagen: Raus aus der NATO! —, auf der anderen Seite werfen Sie uns vor, wir betrieben die atomare Großmacht Europa. Sie befördern doch selbst diese Idee mit Ihrer gegen die NATO gerichteten Politik; genau solchen Ambitionen, sollte es sie geben, dienen Sie doch. Wir wollen uns von den Vereinigten Staaten nicht abkoppeln. Insofern haben wir gar kein Interesse daran, eine atomare Großmacht Westeuropa zu verwirklichen. Das sind Erfindungen, die auch nicht dadurch besser werden, daß Sie sie ständig wiederholen, meine Damen und Herren.Was nun das Sicherheitsbedürfnis, das zu mehr Massenvernichtungswaffen führt, betrifft, so kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben ein solches Sicherheitsbedürfnis nicht. Aber ich sage Ihnen noch einmal: Arbeiten Sie ernsthaft mit! Versuchen Sie wirklich, die Regierung bei ihren Bemühungen in Genf zu unterstützen! Sehen Sie sich bitte einmal an, was die deutsche Regierung z. B. zu der Frage der Verifikation gegenüber der Sowjetunion vorgeschlagen hat, was bisher aber abgelehnt worden ist! Unterstützen Sie uns doch bitte bei unseren Bemühungen, das zu erreichen, statt hier solche Anträge einzubringen, von denen Sie von vornherein wissen, daß sie zwar das deutsch-französische Verhältnis schädigen, aber an dem, was Sie wollen, überhaupt nichts ändern. Das ist doch genau der Punkt, den man Ihnen ständig vorhalten kann.Vielleicht noch ein paar Bemerkungen zu der Behauptung, seitens der französischen Regierung seien keine Möglichkeiten eröffnet worden, die fraglichen Gebiete zu besuchen. Auch das stimmt nicht. Lesen Sie bitte die Ergebnisse der AtkinsonKommission nach. Ich bin ebenfalls der Meinung, daß man hier prüfen muß und daß man radioaktive Schädigungen dieser Gegend auf lange Dauer natürlich nicht fortsetzen kann.
Aber ich meine auch, man sollte bei der Wahrheit bleiben und nicht unterstellen, daß die französische Regierung Wissenschaftskommissionen nicht den Besuch dieser Gegend erlaubt hätte.Im übrigen — als letztes noch —: Der französische Staatspräsident hat auch den Regierungen im Südpazifik vorgeschlagen, dieses Gebiet zu besuchen. Bei seinem letzten Besuch dort hat er die Regierungen der betreffenden Staaten ausdrücklich dazu eingeladen; das ist abgelehnt worden. Sie wissen, daß es inzwischen den Versuch von 13 Regierungschefs des Südpazifik-Forums gibt, den Sie in Ihrem Antrag merkwürdigerweise gar nicht erwähnt haben, einen Vertrag abzuschließen — Stichwort: Rarotonga —, in dem sich die dort betroffenen Staaten bemühen, zu einer atomwaffenfreien Zone im Südpazifik zu kommen. Meine Damen und Herren, wir sollten hier nicht durch spektakuläre Anträge den Anschein erwecken, Dinge erreichen zu können, die diese Staaten angehen.
Ich bin nach wie vor der Meinung: Wir ersparen uns hier viele Frustrationen — Sie mit der Ablehnung Ihrer Anträge, wir mit der Fortsetzung von Debatten, die wir vor vier Wochen schon einmal geführt haben —, wenn Sie Politik etwas realistischer machen, statt hier ständig den Eindruck zu erwecken, Sie seien Träger der Moral und wir hingen sozusagen irgendwelchen atomaren Großmachtträumen nach. Sie wissen doch selbst, daß das nicht stimmt. Also, werden Sie ein bißchen ehrlicher und dann vielleicht politisch auch erfolgreicher.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Staatsminister Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Hochgeschätzter Kollege Voigt! Der heute vorliegende Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN veranlaßt mich, zunächst an meine Ausführungen in der Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages am 26. September zu erinnern.
Ich hatte in meinem damaligen Debattenbeitrag zum Thema der französischen Atomwaffenversuche im Südpazifik maßgebliche Stimmen aus französischen Regierungskreisen, insbesondere Präsident Mitterrand selbst zitiert, der das Attentat auf das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior als kriminell und absurd verurteilte. Ich möchte auf die bekannte Tatsache hinweisen, daß es nicht bei diesen Worten allein geblieben ist, sondern daß die französische Regierung gemäß ihrer demokratischen Grundhaltung drastische Konsequenzen aus dieser — ich zitiere erneut das französische Staatsoberhaupt — verbrecherischen Tat gezogen hat. Es wurden nicht nur eingehende Untersuchungsmaßnahmen durchgeführt, es wurde auch, wie der Kollege Schäfer bereits zutreffend darstellte, der Geheimdienstchef Lacoste entlassen, und Verteidigungsminister Hernu trat zurück. Ich finde, daß diese klare Haltung der befreundeten französischen Regierung keines weiteren Kommentars bedarf. Eine Kritik unsererseits wäre in Anbetracht der genannten Umstände überflüssig und unangebracht.
Auch die Frage des freien Zugangs in die französischen Atomtestgebiete muß Frankreich in Ausübung seiner Souveränität selbst beantworten. Immerhin möchte ich darauf hinweisen, daß im Oktober 1983 die französische Regierung eine Gruppe
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Staatsminister Möllemannunabhängiger Wissenschaftler, darunter auch Australier und Neuseeländer, eingeladen hat, um an Ort und Stelle eine Untersuchung vorzunehmen. Der im Juli 1984 veröffentlichte Atkinson-Bericht kam zu dem Ergebnis, daß auf absehbare Zeit keine Kontaminationsgefahr bestehe, daß aber nicht ausgeschlossen werden könne, daß sich in fernerer Zukunft im Atollsockel Risse bilden könnten, deren Auswirkungen sich zur Zeit noch nicht abschätzen ließen.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Möllemann, Staatsminister: Ja. Vizepräsident Stücklen: Bitte.
Herr Möllemann, wenn Sie jetzt davon ausgehen, daß diese Atomwaffentests offenbar völlig ungefährlich sind, können Sie mir erklären, warum die französische Regierung diese Atomwaffentests nicht auf heimischem Gelände durchführt? Oder wollen Sie demnächst die Lüneburger Heide dafür anbieten?
Möllemann, Staatsminister: Es steht Ihnen frei, Herr Kollege Schily, Ihren zahlreichen Vorschlägen, über die man sich gemeinhin in Deutschland ohnehin schon amüsiert — ich meine nicht Ihre persönlichen, sondern die der GRÜNEN —, auch diesen noch hinzuzufügen. Ich möchte es nicht machen. Sie können meine Ausführungen so nicht bewerten, wie Sie es gerade getan haben. Ich hatte gesagt, daß der Atkinson-Bericht zu dem Ergebnis kam — das ist ein Bericht von Wissenschaftlern auch aus Australien und Neuseeland —, daß auf absehbare Zeit keine Kontaminationsgefahr bestehe, daß aber nicht ausgeschlossen werden könne, daß sich in fernerer Zukunft im Atollsockel Risse bilden könnten. Da ich eine Schlußfolgerung der Art, wie Sie sie angestellt haben, nicht gezogen habe, im Gegenteil auf problematische Aspekte hingewiesen habe, kann ich Ihre Lüneburger-Heide-Empfehlungen schon deswegen nicht teilen, abgesehen davon, daß sie wenig durchdacht sind.
Aber ferner hat Präsident Mitterrand anläßlich seines Besuchs auf dem Atoll am 13. September 1985 die Regierungschefs der 13 Staaten des Südpazifik-Forums eingeladen, sich an Ort und Stelle von der Ungefährlichkeit der Versuche zu überzeugen. Diese Einladung wurde abgelehnt.
Unsere eigene Position zur Frage der Einstellung der Kernwaffenversuche, meine Damen und Herren, ist klar. Wir stehen zu unserem Verzicht auf Kernwaffen und zum Nichtverbreitungsvertrag. Wir befürworten nachdrücklich ein weltweites, umfassendes und nachprüfbares Nukleartestverbot. Diese Frage steht seit Jahren — —
— Herr Präsident, ich finde, daß die GRÜNEN mir zu laut reinquatschen dafür, daß sie vorhin Reden gehalten haben und ich jetzt darauf erwidere. — Ich sagte, die Frage steht seit Jahren auf der Tagesordnung der Genfer Abrüstungskonferenz, und wir haben zu deren Arbeiten in der zentralen Verifikationsfrage konkrete Beiträge geleistet. Ich verweise insbesondere auf unseren Vorschlag eines weltweiten seismologischen Überwachungssystems für Kernsprengungen, dessen Aufbau und fortlaufende Verbesserung noch offene Fragen bei der Erfassung von Kernsprengungen lösen würden. Da geht es darum, daß wir weltweit ein Netz von Stationen aufbauen wollen, mit dem die seismologischen Messungen durchgeführt werden. Mit dem kann man auch kleine Kernsprengungen wahrnehmen.
Unsere Bemühungen um die Erzielung greifbarer Fortschritte in der Frage eines Teststopps sind, denke ich, nachdrücklich und auch bekannt und natürlich auch in Paris bekannt. Ebenso bekannt ist unsere Einstellung zu den Bemühungen um die Schaffung kernwaffenfreier Zonen, denen wir prinzipielle Bedeutung zumessen. Voraussetzung ist freilich — und dies gilt auch für den Südpazifik —, daß alle unmittelbar beteiligten Staaten daran teilhaben und die sicherheitspolitische Stabilität der betroffenen Region nicht in Frage gestellt, sondern erhöht wird.
Zu der im Beschlußantrag aufgeworfenen Frage der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Atomindustrie, insbesondere zur Frage der Beteiligung von RWE am Super-Phénix, hat die Bundesregierung wiederholt und umfassend Stellung genommen, insbesondere auf die Anfrage von Dr. Ehmke — der, glaube ich, jetzt schon rotiert ist — und der Fraktion DIE GRÜNEN. Ich möchte deswegen für die neuen grünen Kollegen noch einmal sagen, was wir damals dargestellt haben, damit Sie darüber informiert sind:
Betreiber des französischen Kernkraftwerks in Creys-Malville ist die französische Firma NERSA, an der mit 16 % auch die Schnellbrüter-Kernkraftwerksgesellschaft SBK beteiligt ist. RWE hält einen Anteil von 70% an der SBK, ist also indirekt mit 11% an der NERSA beteiligt.
Im sogenannten Plutonium-Beistellvertrag dieser Firmen von 1976 haben sich alle Beteiligten verpflichtet, ihren Anteilen entsprechende Mengen von Kernbrennstoffen für die erste und zweite Kernladung des Super-Phénix leihweise zur Verfügung zu stellen. Dieses Plutonium verbleibt also im Eigentum der jeweiligen Partner. Darüber hinaus wird das sich aus dem Brutprozeß ergebende Plutonium aufgeteilt. Die EURATOM-Versorgungsagentur hat an diesem Vertrag mitgewirkt. Die NERSA hat gegenüber EURATOM erklärt, daß Zweck von Super-Phénix eine rein zivile Nutzung, nämlich die Erzeugung von elektrischer Energie ist. Das Kernkraftwerk unterliegt damit uneingeschränkt der EURATOM-Sicherheitsüberwachung, die gewährleistet, daß die Erze, Ausgangsstoffe und besonderen spaltbaren Stoffe, also auch das Plutonium, nicht für andere als für die von den Benutzern deklarierten Zwecke verwendet werden.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat in einer Antwort auf eine Anfrage im Europäischen Parlament erklärt, sie habe keinen Anlaß zu der Annahme, daß die im Super-Phénix erzeug-
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Staatsminister Möllemann
ten besonderen spaltbaren Stoffe nicht auch weiterhin der Sicherheitsüberwachung der EURATOM unterliegen werden.
Bei diesem klaren Sachverhalt verstehe ich nicht, wie Sie hier weiterhin solchen Unsinn verbreiten können betreffend den Transport von deutschem Plutonium nach Mururoa.
Hinsichtlich der internationalen nuklearen Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland sei an dieser Stelle nochmals betont, daß sich die Bundesregierung strikt an die bestehenden internationalen Vereinbarungen hält. Ich verweise dabei insbesondere auf den EURATOM-Vertrag und auf den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Auch die Erklärung von Nizza aus dem Jahre 1976 über die deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der fortgeschrittenen Reaktorsysteme und die Regierungsvereinbarungen vom 10. Januar 1984 über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der natriumgekühlten Brutreaktoren tragen den internationalen Verpflichtungen voll Rechnung. Deswegen werden wir an dieser Zusammenarbeit auch festhalten.
Ich möchte zwei abschließende Bemerkungen zur SPD und zu den GRÜNEN machen. Herr Kollege Soell, es fällt auf, daß im Blick auf die Schlußfolgerungen, die Sie zur Nuklearstrategie und zur Kernwaffenpolitik Frankreichs gezogen haben — das ist Ihr gutes Recht, nur sollte man es hier klarstellen —, auch dies eine Abkehr von der Position ist, die wir gemeinsam in der Regierungszeit von Helmut Schmidt erarbeitet und praktiziert haben.
Ich habe kürzlich in einem der lesenswerten Vorträge von Helmut Schmidt, die ja offenbar von denen, die sie hören, als sehr wertvoll angesehen werden, nachgelesen, daß er sich nach wie vor positiv äußert zur Rolle der französischen Nuklearstreitkraft. Insbesondere habe ich bei ihm nachgelesen, daß die Position zum Ersteinsatz von Nuklearwaffen — die elementarer Bestandteil unserer Triade ist —, daß wir nicht erklären, wann wir unter welchen Bedingungen welches Waffensystem zu unserer Verteidigung einsetzen, nach wie vor für richtig hält.
Zu den GRÜNEN nur folgende Bemerkungen. Frau Eid, ich möchte hier in aller Klarheit feststellen — und ich denke, daß wir, mit Ausnahme der GRÜNEN, dafür auch die Zustimmung des ganzen Hauses haben werden — : Wir danken dem französischen Präsidenten für seine Dokumentation und Demonstration des Schutzes und des Beistandes für Berlin und seine Bürger.
Wir sind froh darüber, daß er dort hingefahren ist und auf diese Art und Weise deutlich gemacht hat, daß Frankreich weiterhin die Sicherheit dieser Stadt gewährleistet.
Herr Staatsminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Staatsminister Möllemann, sind Sie bereit, zuzugeben, daß Helmut Schmidt insbesondere durch seine Vorschläge vom Juni 1984 und in vielen Beiträgen seither den Akzent auf eine sehr viel größere Förderung konventioneller Rüstung und sicherheitspolitischer Maßnahmen Deutschlands und Frankreichs gelegt hat und daß die Nuklearfrage und die Probleme, die darin liegen, für ihn, erklärtermaßen, auch in diesen Beiträgen seit Juni 1984, eine cura posterior sind?
Zum einen ist es ja interessant — das darf ich jetzt mal so ganz allgemein sagen —, festzustellen, wie häufig sich Regierungschefs dann, wenn sie keine mehr sind, etwas gelöster zu bestimmten Problemen äußern. Das scheint aber nicht auf ehemalige deutsche Regierungschefs konzentriert zu sein.
— Herr Soell, wir sind in dem Punkt völlig einer Meinung. Ich teile Ihre Auffassung, daß die konventionelle Kampfkraft des westlichen Bündnisses gesteigert werden muß. Ich bitte die SPD, bei den Haushaltsberatungen die dafür notwendigen Beiträge zur Verfügung zu stellen. Bisher haben wir das noch nicht gehört.
Ich komme noch einmal zu den Äußerungen von Frau Eid, also der Fraktion der GRÜNEN zurück. Wenn man sich das anhört, Frau Eid — mal abgesehen davon, daß es einem manchmal schon schwerfällt, sich anzuhören, was Sie sagen —, fällt auf, daß Sie hier dauernd in einer Art Verbitterung stehen und uns alle immer in einer Art und Weise ansprechen, als hätten wir Ihnen persönlich etwas getan. Verstehen Sie: Sie reden hier so, wie ich mir das Gegenteil zu dem, was in der ersten Bundestagssitzung von Ihrer damaligen Sprecherin angekündigt worden war, nicht krasser vorstellen kann. Damals hatte sie gesagt, Sie wollten eine offene, sanfte, faire Auseinandersetzung. Ich kenne eigentlich keine Fraktion, deren Sprecher uns dauernd krasser, aggressiver, polemischer und unfreundlicher gegenübertreten als die GRÜNEN.
— Das ist so. Das Schlimme ist: Sie merken das schon gar nicht mehr. Man könnte in der Sache sagen: Getretener Quark wird breit und stark.
Sie dürfen sich nicht wundern, daß wir uns eines nicht bieten lassen — das sage ich auch als Mitglied der Regierung. Herr Schily, Sie haben vorhin gerufen: Wir lassen uns nicht beschimpfen. — Dann hören Sie doch in Gottes Namen auf, uns alle hier im Parlament und alle unsere Bündnispartner bei jeder Ihrer Reden auf eine Art und Weise zu be-
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Staatsminister Möllemannschimpfen, die uns auf den Geist geht. Das müssen wir Ihnen in aller Freundschaft noch einmal sagen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Punkt 6 der Tagesordnung.
— Bitte, Herr Abgeordneter Bueb. Das können Sie gleich vom Platz aus machen.
Ich beantrage — —
Sie wollen absatzweise Abstimmung beantragen?
Dieser Antrag bedarf keiner Zustimmung des Hauses. Wir werden also absatzweise abstimmen.Ich rufe I Buchstabe a auf. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt.Ich rufe den Buchstaben b auf. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei denselben Mehrheitsverhältnissen abgelehnt.Ich rufe Buchstabe c auf. Wer ist dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ebenfalls dieselben Mehrheitsverhältnisse.Ich rufe den Buchstaben d auf. Wer ist dafür? — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Mit denselben Mehrheitsverhältnissen abgelehnt.Ich rufe II Buchstabe a auf. Wer ist dafür? — Wer ist dagegen? —
— Entschuldigung. Noch einmal: Wer ist dagegen?— Enthaltungen? — Mit großer Mehrheit bei keinen Enthaltungen abgelehnt.Ich rufe den Buchstaben b auf. Wer ist dafür? — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Keine Enthaltungen. — Mit großer Mehrheit abgelehnt.Ich rufe Buchstabe c auf. Wer ist dafür? — Dagegen? — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen! Mit großer Mehrheit abgelehnt.Meine Damen und Herren, bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich dem Haus folgendes mit: Der Ältestenrat hat in seiner heutigen Sitzung vereinbart, den Annahmeschlußtermin für die Fragen, die in der nächsten Tagungswoche mündlich beantwortet werden sollen, auf Donnerstag, 31. Oktober 1985, 11 Uhr, vorzuverlegen. Der Grund liegt darin, daß Freitag, der 1. November 1985, ein gesetzlicher Feiertag ist. Diese Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde muß nach unserer Geschäftsordnung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder des Bundestages beschlossen werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Erheben sich Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Damit ist die erforderliche Mehrheit vorhanden. Es ist so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:a) Beratung der Sammelübersicht 100 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/3896 —b) Beratung der Sammelübersicht 101 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/3897 —c) Beratung der Sammelübersicht 102 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/3938 —d) Beratung der Sammelübersicht 104 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/4035 —e) Beratung der Sammelübersicht 105 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/4036 —Dazu rufe ich die Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7 auf:6. Beratung der Sammelübersicht 108 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/4075 —7. Beratung der Sammelübersicht 109 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/4076 —Zu Punkt 7 e ist eine Korrektur nachzutragen. In Drucksache 10/4036 — Sammelübersicht 105 -muß auf Seite 7 der Antrag richtig so lauten: „die Petition als erledigt anzusehen — weil dem Anliegen nicht entsprochen werden konnte —". Ich sehe, daß das Haus davon Kenntnis genommen hat.Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Unterpunkte 7 a bis 7 c und ein Beitrag von jeweils 5 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Das heißt, daß zu diesen Unterpunkten drei Debattenrunden stattfinden sollen.Wird zu den Unterpunkten 7 d und 7 e sowie zu den Zusatzpunkten 6 und 7 das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Einen Widerspruch zu der Vereinbarung des Ältestenrats stelle ich auch nicht fest. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. — Zu 7 a hat Frau Abgeordnete Zutt das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zur Erörterung stehende Petition, die auf den unverzüglichen Ausbau einer Autobahnanschlußstelle der A 5 Karlsruhe-Basel bei Herbolzheim drängt, beinhaltet die Anbindung an das nachgeordnete Straßennetz auf einer Trasse, der sogenannten Heuwegtrasse, die umstritten ist. Dennoch soll diese Petition nach dem Willen der Mehrheit des Petitionsausschusses zur Berücksichtigung an die Landesbehörden überwiesen werden.
Dieses Votum bedeutet eine, wenn auch verdeckte Zustimmung zu der umstrittenen Heuwegtrasse, obwohl noch nicht genügend Grundlagenmaterial zur Beurteilung vorliegt.
Eine andere Petition, mit der sich ein Naturschutzverband gegen diese Straßenführung ausgesprochen hat, wurde vom Petitionsausschuß zu einem früheren Zeitpunkt als Material an die zuständigen Landesbehörden überwiesen. Eine solche Ungleichbehandlung halten wir aus formalen wie aus sachlichen Gründen für falsch; wir lehnen sie ab.
— Ich habe von der Mehrheit gesprochen. — Unser Antrag zielt auf Gleichbehandlung der beiden Petitionen. Das heißt: Die zur Debatte stehende Petition soll ebenfalls als Material überwiesen werden.
Zur Begründung folgendes. Aus formalen Gründen drängen wir auf Gleichbehandlung beider Petitionen, also Überweisung als Material, weil eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bislang noch nicht gegeben ist. Erst jetzt liegt eine von den Straßenbauverwaltungen Baden-Württemberg in Auftrag gegebene Verkehrsuntersuchung vor, die in den einzelnen Gremien noch zu erörtern ist. Erst nach Prüfung und eingehender Befassung in den betroffenen Gemeindegremien können Empfehlungen ausgesprochen werden, welcher der Vorschläge zur Trassenführung — es sind insgesamt neun — konsensfähig ist.
In sachlicher Hinsicht befürchten wir, daß eine Ungleichbehandlung der Petitionen Entscheidungen zur Trassenführung präjudizieren könnte, deren Konsequenzen zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen sind.
Die Petentin schlägt nämlich als Anbindung — ich habe das schon gesagt — eine Trassenführung vor, gegen die naturschutzrechtliche Bedenken von Anfang an bestanden und noch bestehen. Hinsichtlich des Bedarfs an der Autobahnanschlußstelle nebst Anbindung an das nachgeordnete Straßennetz besteht weitgehend Übereinstimmung. Aber verkehrsmäßige und kostenmäßige Grundlagen zur Entscheidung sollen durch die im September 1985 fertiggestellte Verkehrsuntersuchung erbracht werden. Solange diese Verkehrsuntersuchung nicht ausgewertet ist, kann das Planfeststellungsverfahren nicht eröffnet werden. Im Sinne einer späteren zügigen Abwicklung des Planungsverfahrens empfiehlt sich eine umsichtigere Handhabung zum gegenwärtigen Zeitpunkt, weil wir aus Erfahrung wissen — das weiß die Frau Vorsitzende auch —, daß Einwände, die im Vorplanungsstadium nicht berücksichtigt werden, in einem späteren Zeitraum zu unkalkulierbaren Risiken werden können.
Daher fordern wir, daß alle Argumente gleichgewichtig gegeneinander abgewogen werden, und beantragen aus diesem Grund die Gleichbehandlung beider Petitionen, d. h. die Überweisung der zur Debatte stehenden Petition als Material.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Rumpf.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Zutt, bei der Petition geht es darum, einen Autobahnanschluß an die A 5 an einer bestimmten Stelle zu erreichen. Dies wird ausführlich mit unzumutbaren Verkehrsverhältnissen während der Saison, mit schlechten Zufahrten zu einem Ferienpark und auch mit wirtschaftlichen Überlegungen begründet. Darüber hinaus wird die Petition mit dem Hinweis schmackhaft gemacht, daß sich die zusätzlichen Geländeinanspruchnahmen in Grenzen halten und trotzdem der gesamte Verkehr außerhalb der Wohnsiedlungen abgewickelt wird. Die Trasse soll auch noch den Vorteil haben, daß neben der Zufahrt zum Europapark, auch noch das Gewerbegebiet einer Gemeinde gleichzeitig mit erschlossen wird. Diesen Angaben wird von seiten des BUND und von anderen Gegnern widersprochen. Der Widerspruch gründet sich auf der Zerschneidung eines Naturgebietes.Meine Damen und Herren, die Frage wird jetzt seit fünf Jahren dort unten diskutiert. Inzwischen werden neun verschiedene Varianten zur Diskussion gestellt. Für die FDP möchte ich dazu feststellen:Erstens. Fünf Jahre Planung sind genug.Zweitens. Es gibt keine Straßentrasse, die allen Ansprüchen gerecht werden kann; es kommt auf die vernünftige Abwägung der verschiedenen Interessen an.Drittens. Bei den Interessen dürfen nur allgemeine Interessen, das öffentliche Interesse, eine Rolle spielen. Das Privatinteresse oder wirtschaftliche Vorteile haben hintanzustehen.Viertens. Wir gehen davon aus, daß der Autobahnanschluß vernünftige Anbindungen an das vorhandene Straßennetz erhält und nicht etwa eine Stelle ausgesucht wird, die zwar im Rhythmus der Autobahnzu- und -abfahrten liegt, sonst aber keiner besonderen Erschließung dient.Fünftens. Wir gehen ferner davon aus, daß Eingriffe in die Landschaft möglichst gering gehalten werden und, wenn unvermeidlich, durch entsprechende Ausgleichsmaßnahmen gemildert werden.Sechstens. Die FDP sieht inzwischen einen Handlungsbedarf, der im öffentlichen Interesse liegt. Wir unterstützen daher den Vorschlag, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung in dem
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Dr. RumpfSinne vorzulegen, daß die Bau- und Planungsbehörden von oben nach unten tätig werden. Das heißt, der Druck soll ausreichen, um eine Entscheidung herbeizuführen. Es wird kein Druck für eine bestimmte Entscheidung ausgeübt.Es gibt ein Recht der Bürger, meine Damen und Herren, für oder gegen etwas eine Petition einzureichen; es gibt aber auch den Anspruch und ein unverbrüchliches Recht der Bürger auf Beendigung eines Schwebezustandes und auf Entscheidung des Staates. Dies entspricht dem staatsrechtlichen Treu-und-Glauben-Grundsatz.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Mann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Professor Rumpf, wenn es einmal so einfach wäre mit dem Grundsatz von Treu und Glauben! Wenn es Ihnen paßt, wird das eingeführt. Wenn es Ihnen nicht paßt — na ja.
Die vorliegende Petition wurde vor etwas über einem Jahr von der Inhaberin eines Freizeitparks eingereicht. Ziel der Petition ist es, wie der Kollege Rumpf bei der Ausschußberatung noch offener erklärt hat, Druck auszuüben. Im vornehm formulierten Beamtendeutsch heißt das jetzt in der Beschlußempfehlung: Der Petitionsausschuß erwartet, „daß sich der Bundesminister für Verkehr mit Nachdruck dafür einsetzt, daß ihm unverzüglich die entscheidungsrelevanten Unterlagen durch die Landesstraßenbauverwaltung vorgelegt werden und er schnellstmöglich die in seiner Zuständigkeit liegenden Entscheidungen trifft".
Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Das bin sicherlich nicht nur ich, sondern wahrscheinlich auch viele der von der Planung betroffenen Bürger vor Ort. Natürlich ist es das gute Recht eines Privatunternehmens, seine Interessen auch mit den Mitteln einer Petition zu vertreten. Anlaß für Ärger und Verstimmung bei dem normalen Bürger, Herr Haungs, entsteht erst dann, wenn die Behandlung der Eingabe durch die Volksvertretung den Eindruck erweckt, einer wirtschaftlich potenten Petentin werde eine Extrawurst gebraten. Dieser Eindruck liegt bei der heute zu behandelnden Petition der Inhaberin eines Freizeitparks nun wahrlich nahe.
Wie in der Begründung unseres Änderungsantrags — auf Erledigung nämlich — näher ausgeführt ist, hat der Bund für die Anlegung der Anschlußstelle bereits 1980 grünes Licht gegeben. Nach meinen bescheidenen Kenntnissen von Straßenbauplanung hat damit der Bund seine Schuldigkeit getan. Die Diskussion und Entscheidung über die möglichen Trassenvarianten — von neun ist die Rede, darunter die kleine und die große Heuwegtrasse, sieben andere sind auch noch im Gespräch — müssen auf der Ebene des Landes Baden-Württemberg erfolgen. In klarer Erkenntnis dieser Sach-
und Rechtslage hatte das Ausschußbüro deshalb zunächst dem Ausschuß u. a. folgende Begründung vorgeschlagen:
Es handelt sich um eine Folgemaßnahme außerhalb des Bereichs der Anschlußstelle im Bereich des nachgeordneten Straßennetzes. Daher kann der Deutsche Bundestag auf Trassenwahl, Planung und Baudurchführung keinerlei Einfluß nehmen. Die Zuständigkeit für eine parlamentarische Prüfung liegt daher beim Landtag von Baden-Württemberg, an den sich die Petentin ebenfalls gewandt hat.
Hinzu kommt, worauf die Kollegin Zutt zu Recht hingewiesen hat, daß kein Grund ersichtlich ist, die sachgleiche Petition des Bundes Naturschutz als Material zu überweisen und die vorliegende Petition eines wirtschaftlich potenten Interessenten zur Berücksichtigung vorzusehen. Deshalb sprach sich das Ausschußbüro auch noch am 15. August 1985 —das ist noch gar nicht so lange her — gegen das hochwertige Votum „Berücksichtigung" aus.
Warum der plötzliche Meinungsumschwung? Es ist ganz einfach. Natürlich, Herr Kollege Haungs, habe ich dafür Verständnis, daß Sie als Wahlkreisabgeordneter, der das Ziel der Petition unterstützt, sich für das Anliegen der Petentin einsetzen. Was mich verstimmt und verdrossen macht, ist der Umstand, daß Sie den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages dazu mißbrauchen, hier politischen Druck auszuüben,
wo überhaupt keine Zuständigkeit auf Bundesebene mehr gegeben ist. Die notwendige sachliche Auseinandersetzung, z. B. über die verschiedenen Trassenvarianten und die vom Lande Baden-Württemberg in Auftrag gegebene, seit September 1985 — ich betone: endlich — vorliegende Verkehrsuntersuchung auch hinsichtlich der grundsätzlichen Notwendigkeit einer weiteren Anschlußstelle an der A 5, gehört in den Kreis und in die Region, nicht in den Bundestag.
Aus diesem Grunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ich um Ihre Zustimmung zu unserem Änderungsantrag.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Haungs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier muß natürlich versucht werden, in fünf Minuten einiges zurechtzurücken. Wir hatten zwei Petitionen zu behandeln. Es waren zwei unterschiedliche Petitionen von unterschiedlichen Petenten. Deshalb haben wir auch sachgerecht entschieden. Ich bin natürlich stolz darauf, daß wir vor der Intervention der Frau Zutt eine große, eine überwältigende Mehrheit im Petitionsausschuß dafür hatten, daß wir mit Nachdruck darauf drängen, daß hier endlich eine Entscheidung getroffen wird. Denn, lieber Kollege Mann, der Bundesminister für Verkehr hat natürlich seine Schuldigkeit nicht ge-
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Haungstan, indem er seine grundsätzliche Bereitschaft erkennen läßt, sondern erst dann, wenn dieser Bereitschaft auch Taten gefolgt sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Unmut und Zorn in der Bevölkerung sind verständlich. Unsere durch Lärm- und Geruchsbelästigung geplagten Anlieger werden seit acht Jahren vertröstet." Und weiter — hören Sie zu! —: „Der schwankende Bund trägt die volle Verantwortung, wenn unsere Bürger im kommenden Jahr auf die Barrikaden gehen, die Straßen blockieren und somit zur Selbsthilfe greifen."
Es ist deshalb ein Märchen, wenn versucht wird, klarzumachen, daß ein wirtschaftlich potenter Petent mehr erreichen wird als jeder andere. Wir behandeln jede Petition sachgerecht, und die Bürger um den Europapark haben ein Recht darauf, daß jetzt endlich gehandelt wird.
Der Ausschuß — um diesem Märchen vorzubeugen — hat sich auf keine Trasse festgelegt. Der Ausschuß hat lediglich mit Mehrheit entschieden, daß von seiten des Bundes jetzt das getan werden muß, was Bundessache ist. Es ist eben falsch, diese Petition dem Landtag von Baden-Württemberg zu überweisen, denn für den Bau eines Autobahnzubringers ist der Bund zuständig. Deshalb müssen wir als Petitionsausschuß des Bundestages für „Berücksichtigung" plädieren. Gleichzeitig haben wir dafür plädiert, daß dem Land Baden-Württemberg endlich von seiten des Bundes gesagt wird, daß diese Verzögerung nicht länger hingenommen werden kann.
Ich verstehe nicht, Frau Kollegin Zutt, warum Sie mir in der Presse vorwerfen, ich würde die Mehrheit des Ausschusses mißbrauchen. Wenn es mir gelingt, durch bessere Argumentation und durch bessere Ortskenntnis die Kollegen zu überzeugen, daß jetzt gehandelt werden muß, bin ich damit zufrieden. Dies ist sicherlich kein Mißbrauch der Mehrheit.
Und wenn Sie mir vorwerfen, ohne Kenntnis der neuesten Untersuchungsergebnisse zu argumentieren: Liebe Frau Kollegin Zutt, diese Untersuchungsergebnisse sind seit Frühsommer bekannt. Das Gutachten habe ich schon im Juni gelesen. Ich hätte es Ihnen gerne zur Verfügung gestellt, wenn Sie mich gefragt hätten. Auch wenn Sie behaupten, die Durchsetzung wirtschaftlicher Belange ginge über die Interessen des Umweltschutzes, kann man nur sagen: Der flüssige Verkehr ohne Stau, die Entlastung von mehreren Ortsdurchfahrten ist eben praktischer Umweltschutz. Ich überlasse es Ihrem Argumentationsgeschick, den Bürgern und Wählern im Ortenaukreis und im Landkreis Emmendingen zu erklären, daß aus formalen Gründen jetzt nicht gehandelt werden soll.
Das Gutachten sagt ganz eindeutig, daß es zu der Autobahnausfahrt bei Herbolzheim gar keine Alternative gibt. Das ist durch Zahlen belegt. Die Verkehrsuntersuchung hat den gesamten Raum zwischen Rhein, Kenzingen, Herbolzheim und Ringsheim zur Betrachtung. Diese Autobahnausfahrt wird natürlich nicht wegen des Europaparks, natürlich nicht aus wirtschaftlichen Interessen gebaut. Die Zählungen sind außerhalb der Saison — also bevor der Europapark besucht wird — gemacht worden. Sie haben eben ganz eindeutig zum Ziel, die B 3 in verschiedenen Orten zu entlasten. Dann werden dort keine Ortsdurchfahrten notwendig. Bei dieser Gelegenheit werden natürlich auch die unhaltbaren Verkehrsverhältnisse des Europaparks mit gelöst.
Herr Abgeordneter, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Senfft zu?
Selbstverständlich. Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr.
Herr Abgordneter Haungs, würden Sie uns vielleicht einmal erklären können, inwieweit der fließende Verkehr auf unseren Straßen ein Beitrag zum Umweltschutz ist?
Ja, das erkläre ich Ihnen gerne. Ich hoffe, daß Sie mit mir übereinstimmen, daß es kein Beitrag zum Umweltschutz ist, wenn auf der Straße durch einen Ort, in dem Menschen wohnen, fünf Kilometer lange Verkehrsschlangen stehen. Es ist kein Beitrag zum Umweltschutz, es ist kein Beitrag zur Verkehrssicherheit,
wenn auf einer Autobahn Rückstaus und Schlangen entstehen. Es ist sicherlich ein Beitrag zum Umweltschutz, wenn bei geringem Landschaftsverbrauch die Möglichkeit genutzt wird, sowohl Ortsumgehungen zu bauen und die Bürger zu entlasten als auch Staus zu vermeiden und einen fließenden Verkehr mit weniger Abgasen durchzuführen. Ich hoffe, daß ich Ihre Frage damit beantwortet habe.
Ich möchte zum Schluß kommen und Ihnen allen, die Sie daran zweifeln, daß diese Entscheidung des Petitionsausschusses richtig ist, das Verkehrsgutachten, das vorliegt, zum Lesen empfehlen.
— Wenn Sie Wert darauf legen, Herr Kollege Kirschner, werde ich gern den Petitionsausschuß einladen, in den Europapark zu gehen, um an Ort und Stelle zu sehen, daß dort Verkehrsprobleme zu lösen sind.Aber lassen Sie mich hier nicht auf einem falschen Gleis argumentieren: Die Ausfahrt wird zur Entlastung der umliegenden Ortschaften und zur besseren Erschließung des Industriegebiets von Herbolzheim gebaut, und zwar unter Verzicht auf
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Haungsden Bau von ursprünglich geplanten Ortsumgehungen der B 3, der neben der Autobahn einzigen NordSüd-Verbindung. Ich hoffe, daß wir nach fünf Jahren den Bürgern jetzt tatsächlich beweisen können, daß der Petitionsausschuß zu dem in der Lage ist, was die Straßenbauer zu tun nicht in der Lage waren.Vielen Dank.
Ich möchte das Haus darauf aufmerksam machen, daß ich über die beiden Änderungsanträge, die zu diesem Punkt vorliegen, am Schluß der Beratungen über Tagesordnungspunkt 7 geschlossen abstimmen lassen werde.
Nunmehr eröffne ich die Aussprache über Tagesordnungspunkt 7 b. Das Wort hat die Abgeordnete Wagner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anlaß dieser Debatte ist die Petition zum Export von Pestiziden und Pharmaka in die Länder der sogenannten Dritten Welt. Vorwegschicken möchte ich eines: Gute Medikamente, richtig angewendet, können eine wichtige Rolle für die Gesundheitsversorgung auch der Dritten Welt spielen; sie können aber kein Ersatz für strukturelle Veränderungen wie die Sicherstellung ausreichender Ernährung, Zugang zu sauberem Wasser und Hygienemaßnahmen sein, und sie sollten traditionelle Heilmethoden nicht verdrängen.Zu oft sind allerdings Medikamente aus Gründen zugelassen, die mit der Gesundheit der Menschen nichts oder nur sehr wenig zu tun haben und lediglich der Umsatz- und Gewinnsteigerung der Pharmaindustrie dienen. Medikamente sollten helfen, nicht aber ökonomischen Interessen dienen.
Die Realität sieht in den Ländern der Dritten Welt jedoch anders aus. Auf die Geschäftspraktiken bundesdeutscher Pharmakonzerne in der Dritten Welt hat vor allem der Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen immer wieder hingewiesen. Gefährliche, mit schlechten Informationen versehene oder überflüssige Medikamente werden in die Dritte Welt exportiert. Wenn es darum geht, den Absatz zu steigern, scheuen sich die multinationalen Pharmakonzerne nicht, bei uns verbotene oder vom Markt genommene Medikamente zu verkaufen. Arzneimittel, die bei uns wegen ihrer Risiken nur bei wenigen seltenen Krankheiten zugelassen sind, werden in den Entwicklungsländern als Allerweltsmittel mit hervorragender Verträglichkeit angepriesen und häufig am Straßenrand oder in Bars verkauft.Für die Unverfrorenheit der Pharmaindustrie bei ihren Vermarktungsstrategien möchte ich einige Beispiele nennen: Erstens. Für das Potenzmittel Tonovan der Firma Schering AG wird in Ostafrika mit dem Satz geworben: Gibt einem Mann das gewisse Extra. — Dazu gibt es ein Bild, auf dem drei Weiße abgebildet sind. Das ist rassistisch.Zweites Beispiel, auch ein Potenzpräparat der Firma Schering betreffend: Unfruchtbarkeit und Potenzstörungen können ein quälendes Problem sein. Auf die Fruchtbarkeit in einem Land der Dritten Welt anzuspielen, in dem täglich unzählige Kinder verhungern, ist schon reichlich unverschämt.
Dies sind Beispiele für überflüssige Medikamente, die in der Dritten Welt aggressiv vermarktet werden.Ein anderes Beispiel; man könnte es „Pillen bei schlechtem Allgemeinzustand" oder auch „Anabolika bei Unterernährung" betiteln. Anabolika sind Hormonpräparate, die bei uns als Dopingmittel bekannt sind. In der Dritten Welt wird durch Werbung für Vitamine und Anabolika Wunderwirkung suggeriert, wo ausreichende Ernährung die richtige Therapie wäre. Anabolika haben, wenn überhaupt, nur bei sehr seltenen Krankheiten ihr Anwendungsgebiet; ansonsten haben sie erhebliche Nebenwirkungen, vor allem für Kinder. Doch auf dem Beipackzettel des Medikaments Fortabol der Firma Schering z. B. in Indonesien und auf den Philippinen finden sich folgende Indikationen: Fortabol verbessert den Allgemeinzustand, vergrößert den Appetit, erhöht die Kapazität für Arbeit und Konzentration, stimuliert die Körperabwehr. — Hier wird ein zumindest fragwürdiges Geschäft mit der Unterernährung betrieben.Ich könnte die Reihe der Beispiele noch fortsetzen, doch soll dies genügen, um Ihnen einen Einblick zu verschaffen.Wenn wir aber nun geglaubt haben, daß die Bundesregierung etwas gegen die Geschäftspraktiken der Pharmaindustrie unternimmt, so sehen wir uns getäuscht.Nicht einmal ein Exportstopp bei uns verbotener Medikamente ist vorhanden oder wird erwogen.
Ich möchte zu dem Argument der Bundesregierung Stellung nehmen, das sie wohl als das wichtigste ansieht, da es immer wieder in diesem Zusammenhang aufgeführt wird. Da heißt es dann: In Entwicklungsländern mit hohem Krankheitsvorkommen, mit geringem und häufig noch unzureichend ausgebildetem medizinischen Personal sowie mit Mangel an anderen therapeutischen Möglichkeiten hängt die Anwendung von Arzneimitteln mit einer höheren Nebenwirkungsrate von einer Nutzen-Risiko-Abwägung ab, die eine autonome Entscheidung eines jeden importierenden Landes ist.Das bedeutet im Klartext: Medikamente mit erheblichen Nebenwirkungen können in diese Länder problemlos exportiert werden, da dort sowieso viele Menschen auf Grund der unzureichenden Lebensbedingungen sterben.
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Frau WagnerZwei Informationen möchte ich der Bundesregierung zu ihrem Verweis auf die autonome Entscheidung eines jeden importierenden Landes geben.
Erstens. Offensichtlich ist der Bundesregierung nicht bekannt, daß Pharmaka in Länder der Dritten Welt der Markt durch hohe Bestechungsgelder erschlossen wird, die die Pharmaindustrie an die zuständigen Beamten zahlt.Zweitens ist ihr wohl nicht das verlogene Argument, mit dem dies gerechtfertigt wird, bekannt. So sagt die Pharmaindustrie, daß Bakschischgaben in diesen Ländern üblich seien und sie damit auch einen Beitrag zum Erhalt kultureller Sitten dieser Länder leiste. Diese Verlogenheit
ist wahrlich unübertreffbar. Die Bundesregierung täte gut daran, sich nicht einzureihen, sondern Wege zu überlegen, diesen Praktiken das Handwerk zu legen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Der Petitionsausschuß hat mehrheitlich vorgeschlagen, die Petition eines kirchlichen Arbeitskreises Dritte Welt zum Komplex „Export von Pflanzenschutzmitteln und Medikamenten in die Dritte Welt" der Bundesregierung als Material zu überweisen und den Fraktionen zur Kenntnis zu geben.Der Petent hatte gefordert, derartige Giftexporte, wie er sie nannte, zu verhindern. In den letzten Jahren sind solche Forderungen immer wieder im Deutschen Bundestag erhoben worden, auch von dem Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen.Wenn man Sie hörte, Frau Wagner, könnte man glauben, die bundesdeutsche Pharmaindustrie hätte überall in der Dritten Welt ihre einzelnen Verkaufsstellen und würde so versuchen, die Medikamente dort unter das Volk zu bringen.Sehr oft werden solche Eingaben damit begründet, daß Pflanzenschutzmittel und Arzneimittel in die Dritte Welt exportiert werden, die in der Bundesrepublik wegen bestimmter Nebenwirkungen aus dem Markt genommen wurden; so auch von Ihnen, Frau Wagner.
Hierzu ist folgendes festzustellen. Bei dem Export dieser Stoffe in die Dritte Welt sind auch die Verhältnisse in den Entwicklungsländern zu sehen.
Es ist durchaus möglich, daß in diesen Ländern der therapeutische und der agrarwirtschaftliche Nutzen so groß ist, daß er die Risiken der Nebenwirkungen bei weitem übersteigt.
Die Gefährdung durch Hunger, durch Seuchen, durch Infektionen ist dort wahrscheinlich wesentlich größer als manche Belastungen, die von einzelnen dieser Stoffe ausgehen können.
In diesen Ländern kann es durchaus sinnvoll sein, z. B. größere Behandlungsrisiken in Kauf zu nehmen, als es in den Industrieländern vertretbar wäre.
Ob Medikamente, auch Pflanzenschutzmittel, mit Nebenwirkungen angewendet werden sollen, hängt von der Nutzen-Risiko-Abwägung ab, die nur die Entwicklungsländer auf Grund ihrer konkreten Situation treffen können. Ein Exportverbot derartiger Stoffe wäre gleichbedeutend mit einer Bevormundung dieser Entwicklungsländer.
Bei diesen Ländern sind die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Problemstellungen sehr häufig anders als hier bei uns in Europa. Solche Exportverbot-Forderungen negieren die Fakten in den Entwicklungsländern. Sie enthalten im Grunde genommen eine Art neokolonialistischer Bevormundung der Länder.
Diese sind durchaus selber in der Lage, zu entscheiden, wie und mit welchen Arzneimitteln und Pflanzenschutzmitteln sie ihre medizinischen und agrarwissenschaftlichen Bedürfnisse befriedigen wollen und können.
Sie tun dies auch, oft auch mit anderen Ergebnissen, als wir sie uns vorstellen und auch wünschen. Ich erinnere nur an das DDT-Verbot bei uns von 1972 und an das Verhalten vieler Entwicklungsländer, die heute nach wie vor DDT herstellen und anwenden.Die Entwicklungsländer erhalten für ihre Nutzen-Risiko-Abwägung auch alle benötigten Entscheidungshilfen. Sie können sie über die Weltgesundheitsorganisation, über die Zulassungsbehörden der Ursprungsländer und auch von den Herstellern selbst erhalten und sich bei den Herstellern und bei den anderen Organisationen eingehend über das Produktprofil und die Nachteile und Vorteile dieser Mittel informieren. Die derzeit bestehenden internationalen und nationalen Kontroll- und Informationsmechanismen sowie die freiwilligen Maßnahmen der Industrie — denn die Industrie führt solche auch durch — dürften derzeit ausreichen, um Mängel in Einzelfällen abzustellen. Trotzdem bleibt dieser Komplex sensibel.
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Dr. Becker
Daher haben wir die Petition zur Überweisung als Material vorgeschlagen. Die Berücksichtigung, wie Sie sie fordern, lehnen wir ab.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirschner.
Die Petition aus der Sammelübersicht 101, die wir jetzt beraten und bei der es um das Verbot des Exports von Pharmaka und Pflanzenschutzmitteln in die Dritte Welt geht — DIE GRÜNEN haben beantragt, sie der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen — hat eine sachgleiche Vorgängerin. Der deutsche Bundestag hat diese damalige Petition auf Vorschlag des Petitionsausschusses im Mai dieses Jahres der Bundesregierung als Material und den Fraktionen zur Kenntnis überwiesen. Wir haben es uns damit keineswegs leichtgemacht; wir halten das vielmehr für die richtige Behandlung dieses sehr ernsthaften Anliegens. Ich meine, wir sollten dies auch bei dieser Petition beibehalten. Die Fraktionen sind damit im Prüfzwang.
Wir sollten doch zugeben — das ist doch kein Eingeständnis irgendwelcher Schwäche —, daß wir als Mitglieder des Petitonsausschusses die fundierte Arbeit der Fachausschüsse nicht ersetzen können und auch nicht ersetzen wollen. Ich möchte dies mit aller Deutlichkeit sagen.
Frau Kollegin Wagner, Sie haben hier einen sehr engagierten Beitrag geleistet. Sie sind Mitglied des Gesundheitsausschusses. Sie und nicht der Kollege Mann tragen hier die Position der GRÜNEN vor. Durch diese Aufgabenteilung stützen Sie diese Meinung, welche ich auch schon bei der letzten Debatte hierzu im Plenum deutlich gemacht habe. Damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Das Beratungsrecht nach § 112 unserer Geschäftsordnung bleibt davon unberührt. Ich meine auch, Ihr Debattenbeitrag, Frau Kollegin Wagner, der wesentlich über den Inhalt des mit der Petition verfolgten Anliegens hinausging, macht die gesamte Komplexität nur in Ansätzen deutlich. Das möchte ich klar herausstellen.
Deshalb, meine ich, sind wir gut beraten, wenn wir dies an den Fachausschuß geben.
— Ach, Herr Kollege Mann, mit der von Ihnen praktizierten Aufgabenteilung bestätigen Sie doch im Grunde das, was ich hier sage. Es geht hier doch nicht darum — das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen —, ein Thema abzuwürgen, sondern es geht darum, daß wir diese Petition der Bundesregierung als Material und den Fraktionen zur Kenntnisnahme überweisen.
— Entschuldigen Sie bitte, es geht uns darum, daß
wir im Petitionsausschuß uns nicht einbilden können, wir fungierten als Ober- oder Überausschuß gegenüber den Fachausschüssen.
Herr Kollege Mann, Sie wissen, daß ich Ihre Beiträge schätze. Aber es geht uns hier darum, daß wir hier — das hat auch der Beitrag von Frau Kollegin Wagner deutlich gemacht — ein sehr komplexes Thema zu bewältigen haben, das an den Fachausschuß überwiesen gehört, und wenn wir es zusätzlich den Fraktionen zur Kenntnis geben, dann sind diese letzten Endes auch im Prüfzwang.
Bei dieser Petition geht es — lassen Sie mich das auch sagen, damit es nicht untergeht — um den Export von Pflanzenschutzmitteln. Ich darf an dieser Stelle daran erinnern, daß derzeit im Ernährungsausschuß des Deutschen Bundestages eine Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes behandelt wird. Ich will auch deutlich machen, daß eine Überweisung dieser Petition an die Bundesregierung zur Berücksichtigung keinen Sinn hätte, da die Bundesregierung im jetzigen Stadium der Beratungen ja gar nicht mehr Herr des Gesetzgebungsverfahrens ist, denn das ist jetzt das Parlament.
Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle auf manches Unbefriedigende unseres Petitionsverfahrens hinzuweisen. Die Frage ist nämlich: Wie verfährt die Bundesregierung mit überwiesenen Petitionen zu später anstehenden Gesetzen oder Gesetzesänderungen? Die Vielzahl der Petitionen — ungefähr 12 000 pro Jahr — macht es uns unmöglich, und zwar allen, den Weg der Petitionen nach Abschluß der parlamentarischen Beratung weiter zu verfolgen. Unser Kollege Eugen Glombig, der Vorsitzende des Sozialausschusses — im Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung fallen bekanntermaßen mehr als ein Viertel aller Petitionen an —, hat vorgeschlagen, daß in Zukunft bei jeder Gesetzesnovellierung oder bei jedem neuen Gesetz, das ansteht und das von der Bundesregierung eingebracht wird, bei der Ausschußberatung oder in sonstiger geeigneter Form von seiten der Bundesregierung darüber zu berichten ist, was mit der dann überwiesenen Petition geschehen ist. Ich halte das für einen sehr sachlichen und sehr konstruktiven Beitrag, dem wir nähertreten sollten.
Herr Abgeordneter Kirschner, lassen Sie die Zwischenfragen der Abgeordneten Mann und Frau Berger zu?
Gern.
Dann hat zunächst der Abgeordnete Mann die Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen. Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Kirschner, ist es richtig, daß die Petenten darauf hingewiesen haben, daß das Problem seit 13 Jahren bekannt ist, ohne daß sich daran etwas geändert hat, und meinen Sie nicht auch, daß es Aufgabe des Petitionsausschusses als des Sprachrohrs der Bürger ist — ungeachtet der richtigen Ausführungen zur Kompetenz der
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MannFachausschüsse —, der Regierung, die z. B. unter dem Druck der wirtschaftlichen Interessenten steht, auch einmal mit Nachdruck zu sagen, daß dem Verlangen der Bürger Rechnung getragen wird und nach 13 Jahren endlich etwas passiert?
Ich schlage vor, daß wir jetzt die Frage der Abgeordneten Frau Berger hören, damit Sie dann beide Fragen beantworten können. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege Kirschner, ist Ihnen bekannt, daß sich der Vorschlag des Kollegen Glombig mit dem Vorschlag des Kollegen Jagoda deckt?
Sicher, ich war ja an der Beratung beteiligt. Nur, der Brief, der an den Geschäftsordnungsausschuß gegangen ist, ist vom Kollegen Glombig bzw. vom Ausschußvorsitzenden unterzeichnet worden. Natürlich hätte ich auch Herrn Jagoda erwähnen können. Hätte ich vielleicht auch noch mich erwähnen sollen?
— Quatsch. Hier geht es doch um die Sache und nicht um eine parteipolitische Auseinandersetzung.
— Das kann ich nicht sagen, da die FDP und DIE GRÜNEN gar nicht an der Besprechung teilgenommen haben. Das ist kein Vorwurf. Ich will das nur erwähnen.
Die meisten Petitionen fallen in den Bereich des Sozialausschusses. Das ist doch unbestritten. Ich weiß nicht, was das Kleinkarierte jetzt soll. Wenn der Ausschußvorsitzende in diesem Zusammenhang einen Brief schreibt, unterstützen wir das um der Sache willen. Das ist der entscheidende Punkt.
Herr Kollege Mann, zu Ihnen: Sie interpretieren mich falsch. Es geht mir zum ersten darum, daß die Bundesregierung das als Material bekommt. Damit kann das nicht unter den Tisch fallen. Zum zweiten — —
— Entschuldigen Sie bitte: Sie haben im November 1983 — wenn ich es richtig im Kopf habe — eine Kleine Anfrage gestellt. Sie haben darauf die Antwort der Bundesregierung zum Thema Pharmaexport in die Dritte Welt bekommen.
— Was haben Sie denn getan? Haben Sie denn einen Gesetzentwurf vorgelegt? Ich meine, so einfach kann man es sich nicht machen. Ich will es uns auch nicht einfach machen. Das ist kein Vorwurf an Sie. Vielmehr meine ich, daß hier auch das Parlament mit gefordert ist. Ich will das noch einmal deutlich machen. „Zur Kenntnis" heißt, daß damit auch die Fraktionen in Prüfzwang kommen. Die
Fraktionen können — Sie kennen die Geschäftsordnung — jederzeit Initiativen ergreifen.
Was soll das also?
Auch der Beitrag von Frau Kollegin Wagner, die weit über den Antrag der Petenten hinausgegangen ist, zeigt doch die ganze Komplexität des Themas auf. Darum geht es uns: Wir sollten uns als Petitionsausschuß nicht in eine Arbeit sozusagen hineinhängen, die ausschließlich unter Verantwortung der Fachausschüsse zu erledigen wäre. Dort sitzen die Fachleute. Das Recht, sich mit dieser Arbeit zu befassen, sollten wir den anderen Ausschüssen nicht wegnehmen.
— Ach, Frau Kollegin. Ich habe meine Meinung dazu gesagt. Sie haben eine andere. Das soll Ihnen auch zugestanden sein. Ich will damit nur deutlich machen, daß wir bei der Beschlußempfehlung des Ausschusses bleiben und den Antrag der GRÜNEN ablehnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Rumpf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Herrn Kirschner wirklich dankbar, daß er klargestellt hat, wie die Zuständigkeiten hier sind. Mit dem Pflanzenschutzgesetz, Herr Kirschner, habe ich mich z. B. im Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, mit dem Export von Medikamenten in der Humanmedizin im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu befassen. Dorthin und in den Gesundheitsausschuß, Herr Mann, gehören diese Themen, aber nirgendwo anders hin. Sie sind nämlich in der Tat zu kompliziert und zu vielschichtig, als daß wir sie hier ausloten könnten.
Frau Wagner und Herr Mann, fragen Sie doch Ihre GRÜNEN-Kollegen in den Ausschüssen. Oder konnten sie Ihnen etwa keine Auskunft geben?
— Ich weiß, die GRÜNEN sind beim Einbringen Kleiner Anfragen immer ganz groß, aber ganz klein, wenn es an die große Arbeit geht.
Und die große Arbeit findet nun einmal in den Ausschüssen statt, in denen wir Stunde um Stunde sitzen, um neue Gesetze zu formulieren;
da aber fehlen Sie.
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Dr. RumpfIch will zum Fragenkomplex nur folgendes feststellen: Die Bundesregierung hält sich strikt an die Vorschriften der Weltgesundheitsbehörde; das ist klar. Die Pflanzenschutzmittel müssen ausführlich gekennzeichnet sein. In verständlicher Form, in einer Form, wie es den Ländern der Dritten Welt entspricht, müssen die sachgerechte Anwendung, die schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch, Tier, Wasser, Boden, Luft usw., die Vorsichtsmaßnahmen, die Soforthilfemaßnahmen bei Unfällen und die sachgerechte Beseitigung angegeben werden; das steht alles darauf. Pharmaka- und Medikamenteninformationen für Ärzte und Patienten, also Informationen, die exportiert werden, entsprechen dem Standard, der in der Bundesrepublik auch gilt.
Die Bundesregierung unterstützt den Aufbau der eigenen Produktion von Basisarzneimitteln in den lokalen Gesundheitsbehörden in der Dritten Welt und gibt außerdem Hilfestellung zur Verbesserung der Qualitätskontrolle, und zwar sowohl von Pflanzenschutzmitteln als auch von Arzneimitteln in den Entwicklungsländern.Bei der Forderung der reinen Lehre, meine Damen und Herren von der sogenannten GRÜNEN- Fraktion, sollten Sie immer bedenken und abwägen: Was nützt den Entwicklungsländern denn am meisten: Pflanzenschutzmittel mit möglichen Restsubstanzen, die aber die Ernte garantieren, oder verhungern, Heuschreckenplagen bekämpfen, die Tsetsefliege vertilgen, Viehbestände retten, Schlafkrankheit vermeiden oder dahinsiechen, an verschiedenen epidemischen Krankheiten zugrunde gehen oder durch Arzneimittel gerettet werden, deren positive Wirksamkeit die nachträglichen Folgewirkungen bei weitem übertrifft? Das hat Herr Kollege Becker hier schon gesagt.Allgemeine Exportbeschränkungen können nicht in Frage kommen. Eine flexible Exportregelung ist im Pflanzenschutzgesetzentwurf, den Sie j a gar nicht kennen, weil Sie nicht mitarbeiten, vorgesehen. Die Einzelfallregelungen sind um so sachgerechter, je stärker die Forschung voranschreitet und je spezialisierter die Mittel werden, z. B. ganz bestimmte Mittel für ganz bestimmte Insektenarten oder Pilzkrankheiten. Das gleiche hat für die Pharmaka zu gelten.Zum Schluß will ich sagen: Die FDP wird die Entwicklungsländer nicht bevormunden, spricht sich aber für ein internationales Abkommen und für internationale Kodizes aus; daran wird gearbeitet. Deshalb fordern wir auch folgerichtig: Materialüberweisung an die Bundesregierung.Danke schön.
Wir kommen nun zu der Aussprache über Tagesordnungspunkt 7 c. Das Wort hat der Abgeordnete Mann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegende Petition ist in mehrfacher Hinsicht von hohem Interesse. Ihr Gegenstand ist eine Investition der Bundespost von 120 Millionen DM. Übrigens ist in einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin vorgetragen worden, ein Beamter der Bundespost habe gegenüber Bezirksbürgermeister Klemann angegeben, der Bau der Erdfunkstelle koste ungefähr 200 Millionen DM.
Durch die geplanten acht riesigen Parabolspiegelantennen wird, wenn die Mehrheit dieser Volksvertretung in letzter Minute nicht doch noch anderen Sinnes wird, das Landschaftsbild eines der wichtigsten Erholungsgebiete Berlins, nämlich in Berlin-Wannsee — da ist übrigens auch der Rentnerweg, Frau Berger —, weithin sichtbar verunstaltet und damit für Erholungszwecke praktisch unbrauchbar.
Lassen Sie uns also einen kleinen Blick auf die Art und Weise und den Inhalt post- und umweltpolitischer Entscheidungen im Hause Schwarz-Schilling werfen. Ich möchte an dieser Stelle auch sagen, Herr Windelen, ich finde es außerordentlich unbefriedigend, daß, wenn hier Bürgeranliegen diskutiert werden, die Bundesregierung durch einen Minister oder durch einen Staatssekretär vertreten ist, der für die Fachfragen, um die es hier geht, überhaupt nicht zuständig ist.
Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf einige besonders interessante Gesichtspunkte der hier verdeckt getroffenen Industriesubvention für die neue Medienmetropole Berlin.
Herr Abgeordneter Mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hoffie?
Ja, natürlich.
Herr Kollege Mann, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ausgerechnet der Minister, den Sie hier angesprochen haben, nicht nur Mitglied des Postverwaltungsrates war, sondern auch dessen Arbeitsausschußvorsitzender.
Wunderbar. Ich nehme das gern zur Kenntnis. Trotzdem glaube ich, daß Herr Windelen für die gesundheitspolitische Frage, um die es vorher ging, und hinsichtlich der Straßenfrage in keinem dieser Räte sitzt.
— Inzwischen ist noch jemand gekommen. Aber er war eben nicht da, Herr Hoffie, als über diese Petition geredet wurde. Das ist bezeichnend für das Verständnis dieser Regierung von der Bedeutung dieses Parlaments und von den Anliegen von Bürgern, die wir als Petition hier behandeln. Das wollte ich an dieser Stelle einmal sagen.Erstens. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung, die diesen Namen verdient, hat hier nicht stattgefunden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12629
Herr Abgeordneter, jetzt möchte der Abgeordnete Dr. Becker eine Zwischenfrage stellen.
Im Moment keine weiteren Zwischenfragen; vielleicht nachher.
Angesichts von Planungen der vorliegenden Größenordnung erscheint es möglich und sachgerecht, auf Bundesebene für ein Unternehmen wie die Bundespost Vorschriften für eine Umweltverträglichkeitsprüfung zu erlassen.
Zweitens. Das Fehlen derartiger Richtlinien sowie die Scheuklappen Berliner Flächennutzungsplanung haben eine ernsthafte Prüfung von alternativen Standorten mit einer geringeren schädigenden Wirkung auf die Umwelt, wie sie z. B. bei einem Standort in Lichterfelde-Süd gegeben wäre, verhindert. Frau Berger, es tut mir leid, daß ich mich als Mensch aus dem Ruhrgebiet mit den Berlinern intensiver in dieser Frage auseinandergesetzt habe, als Sie das, wie ich vermute, getan haben.
Drittens. Die Bundespost hat bis heute nicht schlüssig den Bedarf für die geplante Erdefunkstelle nachgewiesen. Nach der beim Bundespostminister Schwarz-Schilling inzwischen üblichen Manier werden wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Überlegungen durch eine neurotisch anmutende neue Medieneuphorie ersetzt. Die betroffenen Bürger zumindest haben den Eindruck gewonnen, von der Deutschen Bundespost während des gesamten Planungsverfahrens mit Fehlinformationen versehen worden zu sein. So war ursprünglich in einer Information der Bundespost davon die Rede, Berlin brauche dringend seine Erdefunkstelle, da die bestehenden Nachrichtenverbindungen in Kürze voll ausgelastet seien. Nur durch die Erdefunkstelle könne sichergestellt werden, daß das Telefonieren von Berlin nicht schon am Besetztzeichen scheitere und daß die Wirtschaft alle modernen Kommunikationsdienste benutzen werde. Diese Postargumentation ist spätestens nach der am 15. März 1985 mit der DDR abgeschlossenen Vereinbarung über Richtfunk- und Glasfaserverbindung in sich zusammengebrochen. Zwar räumt die Bundespost dies in einem Schreiben an den Bezirksbürgermeister von Berlin-Zehlendorf am 15. April ein, doch flugs schiebt sie neue Gründe für einen erheblichen Bedarf nach. Ich erspare mir jetzt aus Zeitgründen, diese Gründe im einzelnen aufzuführen. Ich verweise noch auf die anhängigen Klagen der Petenten vor den Verwaltungsgerichten. Wir wollen jedoch die Verwaltungsgerichte nicht überfordern. Wenn schon die gewählten Repräsentanten des Berliner Abgeordnetenhauses, die auch über eine Petition zu entscheiden hatten, und, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abgeordneten dieses Deutschen Bundestages nicht willens und in der Lage sind, die demokratisch gebotene Kontrolle über die Deutsche Bundespost auszuüben, wen wundert es dann noch, daß die Partei- und Staatsverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger immer mehr zunimmt? Ein schwacher Trost: gegenüber den von Schwarz-Schilling in den Sand gesetzten Kabel-Milliarden fallen die 120 oder 200 Millionen DM für die Fehlplanung der Erdefunkstelle in Berlin-Wannsee nur durch die riesigen Parabolspiegelantennen auf. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, nutzen Sie die Antennen demnächst einmal sinnvoll und erkennen Sie in diesen Spiegeln Ihre verfehlte Umwelt- und Postpolitik.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Rumpf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ludwig Thoma hat in den Filser-Briefen geschrieben: „Da bin i da in das Parlament in Bonn gewählt worden, und da brauche i keine langen Reden nicht zu halten, sondern nur das Maul."
Vor meinem vierten Beitrag am heutigen Tag und nach dem, was Sie gesagt haben, meiner lieber Herr Mann, sage ich in Abwandlung von Ludwig Thomas „Filser": „Da bin i da in das Parlament gewählt worden, muß dauernd lange Reden halten, dabei tät i lieber das Maul halten."
Die vorliegende Petition ist schwierig zu durchschauen. Sie enthält einen eigenartigen Widerspruch. Die Anlage der Post soll in einem Naherholungsgebiet gebaut werden. In diesem Gebiet liegt auch eine große ehemalige Müllkippe. Von der Petentin wird jetzt argumentiert, daß hochgiftiger Sondermüll aus dieser Müllkippe austreten könnte, wenn da ein Parabolspiegel draufgebaut wird. Sie verlangt deshalb, daß die ganze Müllkippe Naherholungsgebiet bleibt und man darin herumlaufen kann.
Da ist ja wohl irgendwo ein Widerspruch. Ich verstehe das nicht. Da halte ich es doch tatsächlich lieber mit dem Filser und mein Maul. Oder soll ich sagen wie er: „Ihr von der Opposition, Ihr seid's ja vielleicht gar die Klügeren, aber mir von der Regierung, mir san die Mehreren."
Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es so simpel wäre, wie Dr. Rumpf es darstellte, könnten wir alle nach Hause gehen. Ich glaube aber, wenn hier Bürgeranliegen vorgetragen werden, müssen wir uns ein bißchen ernsthafter damit auseinandersetzen, als Sie das eben getan haben.
Das Gebiet ist eine ehemalige Müllkippe. Es ist inzwischen ein Naherholungsgebiet, das begrünt worden ist. Wie gut der Standort in Berlin ist, darüber haben wir jetzt gar nicht zu sprechen, das ist
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Wartenberg
eine Sache des Berliner Abgeordnetenhauses, das auch darüber entschieden hat. Wir haben uns eine Meinung über die Investition zu bilden. Das Problem liegt bei dieser Investition darin, daß in Berlin bis jetzt die Übertragungen überwiegend oder fast ausschließlich über Richtfunk liefen. Im Augenblick wird ein Glasfaserkabel verlegt. Jetzt, wo das Glasfaserkabel verlegt wird, soll zusätzlich die Erdefunkstelle gebaut werden. Alleine durch das im Augenblick verlegte Glasfaserkabel kommt eine Kapazitätszunahme von über 100 % zustande, mehr als im Bedarfsplan der Bundespost bis zum Jahre 2000 angenommen worden ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Wartenberg, ist es richtig, daß die Parteifreunde von Herrn Rumpf in Berlin selbst Zweifel an dem Sinn dieser Planung haben und entsprechende Anfragen im Berliner Abgeordnetenhaus eingebracht haben, von denen der Kollege Rumpf offenbar keine Kenntnis hat?
Auf jeden Fall hat die zuständige Berliner Abgeordnete der FDP, Frau Schmidt-Petri, Bedenken.
Das, was wir hier überhaupt beschließen können bzw. worüber wir diskutieren können, ist die Frage: Ist die Investition im Vergleich zu den anderen Investitionen, die jetzt getätigt werden, überhaupt sinnvoll? Da muß man allerdings sehr große Bedenken haben, weil Richtfunk und Glasfaserkabel alles das leisten können, was die Erdefunkstelle leisten kann. Der Markt für die Erdefunkstelle ist überhaupt nicht da. Die Angaben, die die Bundespost nachgeschoben hat, zeigen die Unsicherheit, die bei der Bundespost selbst besteht. Die Bundespost ist im Zugzwang, zu argumentieren, wie man die Erdefunkstelle jetzt überhaupt auslasten kann. Insofern sind die Zweifel außerordentlich berechtigt, die das in Frage stellen.
Wir stehen als Petitionsausschuß allerdings in der schwierigen Situation, daß wir eine solche Investition nicht fachlich ausreichend beraten können, weil wir die Fachleute dazu nicht haben. Die Bundespost macht Angaben, die ich nicht voll akzeptieren kann.
Wir haben als Petitionsausschuß auch nicht die Möglichkeit, so etwas in einem Hearing zu klären. Da wir andererseits die Petition mehrfach angehalten haben, immer neue Fragen an die Bundespost gestellt haben, immer wieder die gleichen Antworten bekommen haben, wird es auch wenig bringen, sie im Ausschuß noch einmal zu beraten. Deswegen halte ich den Antrag für nicht sehr hilfreich.
— Reden Sie doch keinen Quatsch, Herr Göhner. Sie waren doch selbst nicht da.
Der entscheidende Punkt für mich ist: Die Darlegungen sind der Bundespost nicht so überzeugend, daß man diese Investition voll akzeptieren könnte. Deswegen werden wir für die Überweisung als Material mit der Auflage plädieren, diese Investition nicht zu tätigen, solange das Glasfaserkabel nicht verlegt ist, und, wenn das Glasfaserkabel in nächster Zeit verlegt sein wird, abzuwarten, wieweit der Markt damit befriedigt werden kann. Dann muß erneut geprüft werden. — Diese dreifache Investition zur Nachrichtenübermittlung zu überprüfen ist auch unter dem Aspekt des Zwanges, sparsam mit den Haushaltsmitteln umzugehen, für die Bundesregierung notwendig. Die Bundesregierung müßte doch wohl unter dem Sparsamkeitsgesichtspunkt solche dreifachen Investitionen vermeiden. Deswegen sind wir für die Zurückstellung, bis das Glasfaserkabel verlegt worden ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Hedrich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, der hier vorliegende Fall ist genauso zu werten wie die vorhergehende Petition, nämlich in dem Sinne, daß es absurd ist, daß Sie hier anfangen, eine Sachdiskussion zu führen. Dazu ist auch der Petitionsausschuß nicht das richtige Gremium, sondern alle Fraktionen sind aufgerufen, das dort zu behandeln, wo es wirklich hingehört.Wenn der Kollege Wartenberg, den ich ansonsten sehr schätze, darauf hinweist, daß der Herr Dr. Göhner hier Quatsch geredet habe, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß die Aussage zutreffend ist, daß wir Ihretwegen, Herr Kollege, die Petition zweimal verschoben haben. Sie hatten also ausreichend Zeit, sich damit zu beschäftigen.Es geht also nicht darum, daß wir hier eine Diskussion über Großprojekte der Deutschen Bundespost führen und uns damit in eine medienpolitische Debatte verstricken, sondern es geht darum, das Anliegen der Petentin zu behandeln.Die Petentin, eine Bürgerinitiative, weist darauf hin, daß nach ihrer Auffassung die Umweltverträglichkeit einer Erdefunkstelle der Deutschen Bundespost in Berlin-Wannsee, aber auch die Bedarfsanalyse zu behandeln seien. Beide Gesichtspunkte sind nach unserer Auffassung in einem ausreichenden und sachgerechten Maße durch die zuständigen Gremien der Bundespost und der Verwaltung in Berlin geprüft worden.Bezüglich des Standortes inmitten eines Erholungsgebietes ist anzumerken, daß der angesprochene Volkspark Glienicke etwa 1,5 km entfernt liegt.
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Hedrich Probebohrungen auf dem in Frage kommenden Bauplatz, einer ehemaligen Kiesgrube, sowie die Untersuchung von 30 Alternativstandorten sprechen für eine intensive und verantwortungsvolle Beachtung aller umweltpolitischen Gesichtspunkte bei der anstehenden Entscheidung. Herr Kollege Mann, ich wiederhole: 30 Alternativstandorte sind untersucht worden. Da können Sie nicht sagen, man sei über die Bedenken mit einer Handbewegung hinweggegangen.Da aber die abschließende Prüfung der Fragen des Planungsrechts und des Umweltschutzes letztendlich in die Zuständigkeit des Berliner Abgeordnetenhauses fällt und da es wohl auch in dieser Frage hier im Hause keinen Streit gibt, gehe ich davon aus, daß sich mit diesem Punkt weder der Ausschuß noch das Plenum weiter zu befassen haben. Ich weise noch einmal darauf hin: Das Abgeordnetenhaus hat mit großer Mehrheit dieser Planung zugestimmt. Auch die Bedenken, die seitens einzelner Kollegen, auch von der FDP, geäußert worden sind, sind im Planungsverfahren beseitigt worden.Die Petentin weist in ihrer Kritik darauf hin, daß die Erdfunkstelle am Bedarf in Berlin vorbeigehe. Sie verweist auf die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR getroffene Vereinbarung über eine Glasfaserverbindung zwischen Berlin und der Bundesrepublik hin. Gerade aber auf Grund der Insellage Berlins kann die Glasfaserverbindung keine Alternative zur Satellitenmehrwegeführung sein, da die Übertragungskapazität nicht als alleiniges Entscheidungskriterium herangezogen werden kann, sondern auch die Sicherung des Fernmeldeverkehrs berücksichtigt werden muß. Die Deutsche Bundespost sichert so ihr Fernliniennetz ganz allgemein gegen Totalausfälle, vor allem durch Mehrwegeführungen über alle einsetzbaren Medien. Gerade nach Berlin konzentrieren sich die Fernmeldeverbindungen auf wenige Verbindungswege. Ich glaube, wer die Berliner Landschaft ein bißchen kennt, muß sagen: Es kann gar nichts schaden, wenn die Berliner Bürger auch noch die weiteren Möglichkeiten haben, sich Informationen zu bedienen. Dagegen kann niemand etwas haben.Vor diesem Hintergrund ist die Bundespost gut beraten — gerade im Interesse der Berliner Bürger müssen wir daran interessiert sein —, alle Möglichkeiten von Informationswegen auszuschöpfen.Wir bitten deshalb, dem Antrag des Petitionsausschusses auf Erledigung der Petition zuzustimmen.
Weitere Wortmeldungen zu Tagesordnungspunkt 7 liegen mir nicht vor.Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst zu Punkt 7 a, wozu Änderungsanträge vorliegen.Als erstes lasse ich über den Änderungsantrag der GRÜNEN Drucksache 10/4054 abstimmen. Wer diesem Änderungsantrag der GRÜNEN zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. —Wer stimmt dagegen? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Ich lasse nunmehr über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 10/4067 abstimmen. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Antrag abgelehnt.Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 10/3896 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nunmehr zu den Abstimmungen zu Tagesordnungspunkt 7 b.Zunächst stimmen wir über den Änderungsantrag der GRÜNEN Drucksache 10/4055 ab. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Wer nunmehr der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 10/3897 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Jetzt lasse ich über Tagesordnungspunkt 7 c abstimmen. Zunächst rufe ich den Änderungsantrag der GRÜNEN auf Drucksache 10/4056 auf. Wer dem Änderungsantrag der GRÜNEN zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 10/3938 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen.Jetzt ist noch über die Tagesordnungspunkte 7 d und 7 e sowie über die Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7 abzustimmen. Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 10/4035, 10/4036, 10/4075 und 10/4076 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit sind diese Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses angenommen.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNENEinstellung der Bauarbeiten zur Kanalisierung der Saar— Drucksache 10/3348 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr InnenausschußAusschuß für WirtschaftHaushaltsausschußZur Begründung hat der Abgeordnete Senfft um das Wort gebeten. Herr Abgeordneter, mit Rück-
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Vizepräsident Cronenbergsicht auf die Gesamtzeit bitte ich um eine kurze Begründung, damit Sie noch Ihren Debattenbeitrag leisten können. Ich hoffe, daß zwischen uns Einverständnis darüber besteht.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich selbstverständlich an die in der Geschäftsordnung vorgesehene Zeit zur Begründung halten.
Mit der Kanalisierung der Saar wird das neben dem Rhein-Main-Donau-Kanal volkswirtschaftlich unsinnigste und ökologisch verheerendste Wasserstraßenprojekt seit Bestehen der Bundesrepublik vorangetrieben und soll auch weitergeführt und beendet werden. Die teilweise verheerenden, in jedem Fall nicht wiedergutzumachenden ökologischen Schäden durch die Kanalisierung der Saar haben bei der Gesamtbewertung dieses Projekts nie eine angemessene Berücksichtigung gefunden. So kann bis heute weder die Bundesregierung noch die hauptsächlich betroffene Landesregierung des Saarlandes in Rheinland-Pfalz konkrete Ausführungen darüber machen, wie die erhebliche Verschlechterung der Wasserqualität von Saar und Mosel nach Fertigstellung des Saarkanalprojekts ausgeglichen werden soll.
In einem im Auftrag der rheinland-pfälzischen Landesregierung erstellten Gutachten wird hierzu vom Landesamt für Wasserwirtschaft festgestellt — ich zitiere —:
Mit der derzeitigen Verschmutzung wäre die Belastung des Sauerstoffhaushaltes zwischen Mettlach und Konz durch Abbau von Kohlenwasserstoffverbindungen voraussichtlich so stark, daß der mittlere Sauerstoffgehalt trotz künstlicher Belüftung in Mettlach sehr schnell wieder auf Werte um 0,5 Milligramm pro Liter abfallen würde. Dieser Umstand ist aus wasserwirtschaftlicher Sicht nicht tragbar.
Das ist also die offizielle Stellungnahme. Zahlreiche weitere Untersuchungen belegen, daß die Saar nach Abschluß der Kanalisierungsarbeiten nicht mehr als ein biologisch totes Abwasserabflußsystem sein wird.
Hinzu kommt eine erhebliche Zerstörung der teilweise einmaligen Landschaft in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Bereits jetzt schon sind durch die bisherigen Arbeiten weit über 100 000 Bäume Opfer dieses Baus geworden. Die Ausgleichsmaßnahmen sind ein Hohn und entsprechen noch nicht einmal der Zielsetzung des Bundesnaturschutzgesetzes.
Hinzu kommt, daß die immer wieder hervorgehobenen angeblichen ökonomischen Vorteile, die sich aus der Kanalisierung der Saar ergeben, einer seriösen Betrachtung überhaupt nicht standhalten. Bereits vor der endgültigen Entscheidung über den Bau des Saar-Kanals wurde 1970 im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums in einem Gutachten zur Kosten-Nutzen-Analyse eines Wasserstraßenanschlusses für das Saarland festgestellt, daß eine Kanalisierung der Saar auf alle Fälle mit erheblichen volkswirtschaftlichen Nettoverlusten verbunden wäre. Trotzdem wurde 1973 dem Bau des SaarKanals zugestimmt, und trotzdem soll er auch heute noch beendet werden.
Dabei muß berücksichtigt werden, daß die jährliche Frachtkostenersparnis, die der saarländischen Industrie durch die Kanalisierung der Saar entsteht, lediglich etwa den Kosten entsprechen, die allein für die Unterhaltung des Saar-Kanals jährlich aufgewendet werden müssen.
Es ist also ein ökologisch und ökonomisch unsinniges Projekt, und zwar nicht nur damals, sondern nach wie vor. Aus diesem Grunde haben wir diesen Antrag in den Bundestag eingebracht, daß der SaarKanal-Ausbau wenigstens heute gestoppt wird, daß dieser ökologischen Katastrophe jetzt ein Ende gesetzt wird und daß die Gelder, die noch ausgegeben werden sollen, etwa 300 bis 500 Millionen DM, dem Saarland zur Verbesserung der Abwassersysteme zugute kommen.
Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der GRÜNEN auf Einstellung der Bauarbeiten beim Ausbau der Saar zur Großschiffahrtsstraße stützt sich auf vermeintlich wirtschaftliche und ökologische Argumente, die zum Teil halbwahr, zum Teil unwahr, zumindest aber widersprüchlich sind. Ich werde nicht die Zeit haben, alles das, was hier in der Begründung gesagt worden ist, zu widerlegen.Ich habe der Lokalpresse entnommen, Herr Kollege Senfft, daß Sie vor etwa vier Wochen dagewesen sind. Ich lade Sie aber noch einmal ein, um Ihnen etwas ausführlicher die Problematik dort darzustellen. Ich habe die Ehre, die Region, von der hier die Rede ist, in diesem Hohen Hause zu vertreten, und kann nur von der außerordentlich hohen Akzeptanz der Bevölkerung für diese Maßnahme berichten, und dies trotz der erheblichen Beeinträchtigungen durch die Baumaßnahme.Verehrte Kollegen der GRÜNEN, diese Akzeptanz steht damit in einem umgekehrten Verhältnis zu den Wahlergebnissen der GRÜNEN in den betroffenen Gemeinden, die für Sie ziemlich schlecht sind.
Diese Akzeptanz, meine Damen und Herren, ist deshalb so groß, weil die Menschen spüren: Der Ausbau der Saar ist notwendig, um die erdrückenden Probleme der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes zu lindern. Deshalb ein Wort zu den wirtschaftlichen Aussagen Ihres Antrages. Hier wird ein Prognos-Gutachten aus dem Jahre 1970 herangezogen. Dies war noch vor der ersten' großen Ölkrise; seit-
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Müller
her haben sich die gesamtwirtschaftlichen Parameter erheblich verändert. Dies berücksichtigen Sie überhaupt nicht. Fast alle Werke der Schwerindustrie in Deutschland liegen an Wasserstraßen. Allein schon aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit ist die Schiffbarmachung notwendig. Sie ist auch notwendig, weil es allemal vernünftiger ist, notwendige Zukunftsinvestitionen vorzunehmen, als irgendwann die finanziellen Lasten einer hohen Dauerarbeitslosigkeit tragen zu müssen. Der Ausbau der Mosel hat die raumfüllende Kraft einer solchen Investition mehr als deutlich bewiesen.
— Ich komme in einem anderen Zusammenhang dazu.Wenn sich aber die Dillinger Hütte derzeit erfolgreich bemüht, einen neuen Markt für großformatige Bleche aufzubauen, die aber ausschließlich auf Wasserwegen zu transportieren sind,
so ist dies nur ein Fall von vielen, der aufgelistet werden könnte.Von der Problematik der Gewährung von Wettbewerbstarifen seitens der EG, die im Falle des Baustopps neu aufbricht, sei hier nur am Rande gesprochen.
Es muß in einer solchen Debatte, sehr verehrter Herr Kollege Schreiner, auch auf die bemerkenswerte Haltung der SPD-Landesregierung eingegangen werden.
Vor der Landtagswahl hat Lafontaine gesagt, der Saar-Ausbau sei nur bis Dillingen nötig. Mit diesen und anderen Aussagen hat er die GRÜNEN erfolgreich unter 5% gedrückt.
Jetzt rückt er, nicht zuletzt auf Druck der mitfinanzierenden rheinland-pfälzischen Regierung, davon ab und läßt seinen Wirtschaftsminister einen Vorschlag machen, der durchaus Beachtung verdient, einen Vorschlag, der einen Schritt weg von der früheren Ablehnung darstellt, der größeren Gesichtsverlust vermeidet, um doch für die Zukunft richtigerweise alles offenzuhalten. Ich wünsche dem Wirtschaftsminister den Mut, zur Position der Vorgängerregierung zurückzufinden.
Ein paar Bemerkungen zu den ökologischen Auswirkungen der Baumaßnahmen.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?
Ja, bitte.
Herr Kollege Müller, können Sie vielleicht in Ihre Ausführungen die Frage der Sinnhaftigkeit des Saar-Kanals einfließen lassen, wenn, wie hier nicht ausgeschlossen werden kann, die Bundesregierung eventuell bereit ist, Arbed-Saarstahl in Konkurs gehen zu lassen?
Die Bundesregierung wird in der Frage, die Sie aufwerfen, nach wie vor zu den eingegangenen Verpflichtungen stehen. Ich bin davon überzeugt, wenn die SPD-geführte Landesregierung unter ihrem Ministerpräsidenten Lafontaine die Hausaufgaben macht, daß der von Ihnen postulierte Fall nicht eintreten wird.
Eine Bemerkung zu den ökologischen Auswirkungen dieser Baumaßnahme. Übereinstimmend sagen alle Fachleute, daß mit hohem Aufwand eine Verbesserung der derzeitigen Wasserqualität erreicht wird. Erwähnt seien nur die flankierenden Kläranlagenbauten, die umweltfreundlichen Laufkraftwerke, die Sauerstoffzufuhr bei Bedarf und vieles andere mehr. Hauptziel ist dabei die Reduktion der Ammoniumkonzentration und der Abbau der Kohlenwasserstoffverbindungen.Meine Damen und Herren, denjenigen, die die angebliche Landschaftszerstörung beklagen, empfehle ich eine Exkursion zu dem Saarabschnitt, der schon ausgebaut ist.
Zwar sind der Natur Wunden geschlagen worden, aber die landschaftspflegerischen Begleitpläne und deren Umsetzung erreichen, daß nach kurzer Zeit die Schönheit der Landschaft zwar anders, aber nicht weniger reizvoll neu entsteht.
Flachwasserzonen werden zu Biotopen, standortgerechtes Pflanzgut in heimischer Vielfalt wird angebaut, Saar-Altarme werden der Naherholung zugeführt, Fischpässe werden in den Staustufen vorgesehen.
— In der Tat, es lohnt sich wirklich, dort Urlaub zu machen.Die Öffentlichkeit vor Ort erkennt das auch völlig an. Naturschutzbeauftragte arbeiten konstruktiv mit. Ich erwähne hier ausdrücklich die Mitarbeit der Pflanzensoziologen Dr. Paul Haffner und seines Sohnes Richard Haffner.Schließlich ein Wort zur angeblichen Trinkwassergefährdung. Hier macht der Antrag der GRÜNEN eine Aussage, die nicht auf dem neuesten Stand ist. Ich empfehle Ihnen deswegen, sich noch einmal vor Ort sachkundig zu machen.
Sie werden dort feststellen, daß man zu einer durchaus akzeptablen Lösung gekommen ist.
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Müller
Das gleiche gilt auch für den Aushub. Man kann sich schon jetzt davon überzeugen, daß er landschaftsgerecht außerhalb der Flußaue eingebaut wird.Meine verehrten Damen und Herren, zum Schluß möchte ich darauf hinweisen, daß schon Napoleon die Saar durch einen Kanal mit dem Rhein verbinden wollte. Auch im Dritten Reich gab es solche Pläne. Endlich können wir jetzt Mitte der 80er Jahre der Vollendung dieser Dinge entgegensehen.Meine Damen und Herren, gestern vor 30 Jahren, am 23. Oktober 1955, hat sich die saarländische Bevölkerung für die Rückkehr zur Bundesrepublik Deutschland entschieden. Der Saar-Ausbau hilft uns, auch wirtschaftlich in der Bundesrepublik auf Dauer mithalten zu können.Ich bedanke mich, daß Sie mir zugehört haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Brück.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Vorbereitung dieser Debatte habe ich im Handbuch des Deutschen Bundestages nachgeschaut, ob nicht ein Mitglied der Fraktion DIE GRÜNEN in Schilda geboren sei;
denn dann wüßte ich, wer der Verfasser dieses Antrages zur Einstellung der Bauarbeiten zur Kanalisierung der Saar in der Fraktion der GRÜNEN ist.
Nun nehme ich an, Herr Kollege Senfft, nachdem ich Sie gehört habe, Sie sind in Schilda geboren. Denn es käme einem Schildbürgerstreich gleich, würde man jetzt die Bauarbeiten zur Schiffbarmachung der Saar einstellen. Es wäre ein Schildbürgerstreich sowohl aus ökonomischer wie auch aus ökologischer Sicht.
Ökonomisch wäre es ein Schildbürgerstreich, weil der größte Teil der für die Schiffbarmachung der Saar erforderlichen Investitionen bereits getätigt ist. 1,2 Milliarden DM wären umsonst ausgegeben worden, würde man die Bauarbeiten jetzt einstellen.
Ökologisch, meine Herren von den GRÜNEN, wäre es ein Schildbürgerstreich,
weil die größten Eingriffe in die Natur, die zur Schiffbarmachung der Saar notwendig waren, bereits geschehen sind. Würde man die Bauruinen in der Landschaft herumstehen lassen, würde man die befestigten Ufer ohne Wasser lassen, wäre die Natur in der Tat in einem schlimmen Zustand.Wenn man über die Wasserstraße Saar spricht, darf man den ökonomischen Nutzen, den diese Wasserstraße der saarländischen Wirtschaft und damit auch den saarländischen Arbeitnehmern bringt, nicht unterschätzen.
Ich sage Ihnen: Dieser Vorteil wurde auf rund 30 Millionen DM jährlich geschätzt.Wenn Sie jetzt „Dillinger Hütte" dazwischenrufen, muß ich Sie fragen: Was würde aus Arbed-Saarstahl werden, wenn die Erzfrachten zu teuren Tarifen transportiert würden, und was würde sogar aus der Dillinger Hütte werden, einem jetzt noch gesunden Stahlunternehmen? Diese Frage muß man doch stellen.
Nun kann man darüber streiten, ob der Vorteil für die saarländische Wirtschaft dadurch entsteht
— Vielleicht hören Sie einmal zu! —, daß die Güter auf der Saar transportiert werden oder zu Wettbewerbstarifen von der Bundesbahn, und zwar zu Tarifen, die die Bundesbahn dann, wenn die Saar nicht schiffbar gemacht würde, nicht gewähren dürfte. Das ist nämlich unser Problem im Saarland.
Denn Sie können ja auch nicht an europäischen Verträgen vorbei. Diese europäischen Verträge schreiben eben vor, daß Unterstützungstarife durch die Eisenbahn nur mit Genehmigung der Kommission gewährt werden dürfen.
Eben diese Tarife sind von der Kommission abgelehnt worden. Deshalb fährt die Deutsche Bundesbahn jetzt auch nicht mehr zu diesen Tarifen.Man kann, meine lieben Kollegen von den GRÜNEN, über die Weisheit der Formulierung in den europäischen Verträgen trefflich streiten.
Man kann trefflich darüber streiten, ob man zuerst eine Wasserstraße bauen muß, damit die Bundesbahn dann zu Wettbewerbstarifen fahren darf.
Aber dieser Streit hilft den Menschen an der Saar nicht.
Von den führenden saarländischen Politikern ist zu der Zeit, da man die Entscheidung traf, die Saar
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Brückbis zur Mosel schiffbar zu machen, immer wieder darauf hingewiesen worden, daß Wasserstraßen in den Boden gegrabene Tarife sind, die uns niemand mehr wegnehmen kann. Wer sich heute über diese Wasserstraße mokiert, muß sich auch die Situation der Arbeitnehmer und der Wirtschaft im Saarland klarmachen.
Gerade sie haben immer wieder den Anschluß der Saar an das deutsche Wasserstraßennetz gefordert, denn es gibt ja schon einen Anschluß — das wissen Sie wahrscheinlich nicht, weil Sie sich dort nicht auskennen; Sie sind ja dort nicht zu Hause —
an das französische Netz, wenn auch nur für Penichen mit 250 t Ladefähigkeit, die übrigens dann durchfahren können.
Ich sage Ihnen zum Schluß: Wir Sozialdemokraten werden einem so törichten Antrag, wie ihn die GRÜNEN gestellt haben, nicht zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Senfft, aber bitte kurz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erlaube mir, auf einige Punkte kurz einzugehen. Wenn der Herr Abgeordnete Brück den betreffenden Herrn aus Schilda sucht, soll er sich an die wenden, die damals dieses Projekt beschlossen haben,
denn das sind diejenigen, die diesen Schildbürgerstreich gemacht haben. Dort sind sie zu suchen.
Ich möchte noch einige Ausführungen zur ökonomischen Situation machen, damit einmal deutlich wird, welcher ungeheure Blödsinn dahintersteckt. Wir haben das beim Rhein-Main-Donau-Kanal erlebt, beim Elbe-Seiten-Kanal. Nicht anders wird es bei dem Dollart-Hafenprojekt ablaufen.
Der Ausbau der Saar, die Saarkanalisierung, wird bis zur Fertigstellung insgesamt etwa 2 Milliarden DM verschlingen; 2 Milliarden DM werden dort ins Wasser gesetzt. Wenn man damals schon angefangen hätte, diese 2 Milliarden Mark für eine Umstrukturierung der saarländischen Wirtschaft hin zu sozial und ökologisch sinnvollen Produktionsstätten zu verwenden, hätte man heute nicht diese riesigen Probleme im Saarland. Der Kanal wird nichts zur Beseitigung dieser Probleme beitragen.
Es sieht nämlich so aus, daß es zwei Möglichkeiten gibt: Entweder wird der Hafen in Dillingen gebaut,
was wir nicht möchten, und demnächst wird das Montangut auf Binnenschiffen abtransportiert. Und was passiert dann? Herr Brück, Sie sprachen die Arbeitsplätze an. Ja, dann entfällt das Aufkommen bei der Deutschen Bundesbahn — mit der Folge, daß mit Sicherheit das Ausbesserungswerk der Bundesbahn in Saarbrücken endgültig dichtgemacht wird und daß dort die Arbeitsplätze verlorengehen.
— Fragen Sie einmal Ihren Kollegen Ernst Haar, worauf sich die Kapazität im Ausbesserungswerk in Saarbrücken stützt;
das sind keine Personenwagen, sondern Güterwagen stützen dort das Aufkommen.
Die Situation ist so, daß letztendlich 30 Millionen Mark — —
— Ich glaube nicht, daß das mit der Redezeit stimmt. Ich habe noch keine fünf Minuten geredet, sondern habe erst ein paar Sätze hinter mir.
Herr Abgedordneter, wir hatten uns ursprünglich im Ältestenrat auf eine Runde mit Beiträgen à fünf Minuten verständigt.
Sie haben eine ausführliche Begründung gehabt. Ich werde mit Ihnen um eine Minute auch nicht streiten, aber ich bitte Sie schon, sich einigermaßen an die Vereinbarung zu halten.
Ich gebe Ihnen noch zwei Minuten, aber dann muß ich Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich werde mich an die zwei Minuten halten, Herr Präsident.Das gleiche ist ja schon einmal mit dem Elbe-Seiten-Kanal passiert. Wie sieht es dort aus? Es sind Milliardenbeträge in diesen Kanal investiert worden. Wo findet heute der Transport statt? Die Montangüter — z. B. das Erz — werden weiterhin — ich habe mich davon selber überzeugen können — vom Hamburger Hafen aus — Gott sei Dank! — mit der Bundesbahn transportiert; der Kanal ist leer. Das war eine Maßnahme, die voll in den Sand gesetzt wurde, ökonomisch vollkommen unsinnig!Bei der Saar nicht anders! Die laufenden Unterhaltungskosten werden im Jahr 20 bis 30 Millionen DM betragen. Das ist etwa der gleiche Betrag wie
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12636 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
Senfftdie Frachtkostenbeihilfe. Das ist also ein ökonomisch und ökologisch unsinniges Projekt.
Mit einem Schlußsatz möchte ich noch darauf hinweisen, daß leider nichts dazugelernt worden ist. Wir hatten gestern im Verkehrsausschuß die Beratung über ein ähnliches Projekt, den Dollarthafen. Wir haben den Antrag gestellt, daß die aktualisierte Kosten-Nutzen-Analyse sowie die Umweltverträglichkeitsprüfung vorgelegt werden. Der Antrag wurde gegen meine Stimme abgelehnt. Mit anderen Worten, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages interessieren sich noch nicht einmal dafür, welche Kosten-Nutzen-Analysen und welche Auswirkungen auf die Umwelt vorliegen.
So wird ein weiteres 2-Milliarden-Mark-Projekt in den Sand gesetzt.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoffie.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer an der Saar etwas in den Sand gesetzt hat, sind die GRÜNEN.
Diese Debatte hier ist ja schon kurios. Jetzt heben Sie ein Thema auf die Bundesebene, das Sie im Landtagswahlkampf an der Saar zur Abstimmung gestellt haben. Wer dort im Wahlkampf war, der weiß, daß die GRÜNEN erklärt haben: Seid ihr für oder gegen den Kanal? Wir, die GRÜNEN, sind dagegen, deswegen sollt ihr uns wählen. — Bekommen haben Sie dafür 2,5%. Die Menschen an der Saar wollen diesen Kanal, weil sie wissen, welche wirtschaftliche Bedeutung er hat.
Sie, meine Damen und Herren, wollen sich mit einer getroffenen Mehrheitsentscheidung, die demokratisch zustande gekommen ist, wieder einmal — wie schon so oft — nicht abfinden.
— Weil ich nur fünf Minuten habe, keine Zwischenfrage, es sei denn am Ende, wenn ich dazu noch Zeit bekomme.
Herr Abgeordneter, Sie werden die Zeit bekommen; Sie können sich darauf verlassen.
Ich kann hier für die FDP nur feststellen, daß wir jedenfalls an dem 1974 zwischen dem Saarland, dem Land Rheinland-Pfalz und dem Bund geschlossenen Ausbauvertrag festhalten werden. Daran gibt es nichts zu rütteln, und es gibt viele Gründe, genügend Gründe, die für den SaarAusbau sprechen. Eine Reihe davon ist hier schon genannt worden.Ein leistungsfähiger Anschluß an das europäische Wasserstraßennetz ist für die saarländische Montanindustrie lebenswichtig. 16 Jahre lang ist versucht worden, die unbestreitbaren Standortnachteile der Wirtschaft an der Saar mit den sogenannten Als-ob-Tarifen der Deutschen Bundesbahn auszugleichen.
Und nun wird gesagt: Die Bundesbahn wird Schäden haben, wenn der Kanal kommt. Wer das Beispiel der Schiffbarmachung der Mosel ansieht, muß anhand der Zahlen zur Kenntnis nehmen, daß anschließend das Güteraufkommen für die Bahn nicht kleiner, sondern größer war. Auch die Gutachten erklären übereinstimmend: Die Bahn wird keine Nachteile davon haben.Allein weil dieser Sondertarif, den wir bei der Bundesbahn hatten, durch die Europäische Kommission nicht verlängert wurde, bedeutet dies für die Wirtschaft an der Saar gegenüber dem Verkehrsmittel Binnenschiffahrt Transportmehrkosten in Höhe von 50 Millionen DM jährlich. Insgesamt rechnet man im saarländischen Wirtschaftsministerium bei Verzicht auf den Saar-Ausbau mit Kostennachteilen für die saarländische Wirtschaft in der Größenordnung von 4 Milliarden DM, z. B. deshalb, weil ohne den Saar-Ausbau der Kohleabbau im Bereich der Staustufe Luisental durch die Saarbergwerke nicht möglich ist, weil im Bereich der Stadt Völklingen die geplanten Abwasseranlagen um einen Betrag billiger gebaut werden können, der dem Baukostenanteil des Saarlandes entspricht, oder weil viele Städte und Gemeinden — das scheint den GRÜNEN völlig gleichgültig zu sein —, u. a. die 45 000-Einwohner-Stadt Völklingen, im Zug dieser Schiffbarmachung der Saar zum ersten Mal überhaupt eine kommunale Kläranlage erhalten.
Natürlich ist mit der Schiffbarmachung eines Flusses ein Eingriff in die Natur verbunden. Das kann niemand abstreiten. Aber die widerstreitenden Interessen sind im Planfeststellungsverfahren sorgfältig abgewogen worden, und es ist festgelegt worden, welche Ausgleichsmaßnahmen für die Eingriffe in die Natur geschaffen werden müssen. Sicher ist auch: Die Fließgeschwindigkeit der Saar wird geringer; auch die Selbstreinigungskräfte des Flusses werden sich verringern. Aber gleichzeitig wird endlich ein vollständiges System der Abwasserreinigung an beiden Seiten des Flusses eingerichtet — mit der Folge, daß die Belastungen für die Gewässer drastisch zurückgehen. Das sollten gerade die GRÜNEN hier nicht verleugnen.Darüber hinaus ist durch Sachverständigengutachten inzwischen nachgewiesen, daß auch der Bau des Hafens in Dillingen keinen Einfluß auf das Grundwasser oder die Trinkwasserqualität hat.
Wer — was man von den GRÜNEN nach dieserDarstellung hier nicht sagen kann — Arbeitsplätze
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Hoffiean der Saar erhalten oder schaffen will, der kommt an dieser Schiffbarmachung der Saar nicht vorbei.
Wir stehen zu dem Ausbauvertrag. Wir können uns auch, meine Damen und Herren von der SPD, damit abfinden, wenn entsprechend den Wünschen der neuen saarländischen Landesregierung der Ausbau für die Großschiffahrt zunächst nur bis Völklingen erfolgt, wobei von dem 76 km Ausbaustrecke 40 km ja bereits fertig und 36 km bereits in Bau sind. Unsere Überzeugung bleibt: Die Reststrecke bis Saarbrücken/Sankt Arnual sollte später ebenfalls voll ausgebaut werden.
Und nun, wenn ich die Zeit noch habe, bitte Ihre Fragen, Herr Senfft.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Ich habe eine Reihe von Fragen. Ich werde mich auf die erste, die ich stellen wollte, beschränken. Herr Hoffie, Sie sagten, allein dadurch, daß die saarländischen GRÜNEN den Saarkanal-Ausbau zu einem Wahlkampfthema gemacht haben, komme das einer Abstimmung der Bevölkerung gleich.
Können Sie sich vorstellen, daß es Bürger gibt, die außer einem Wahlmotiv eine Reihe anderer Wahlmotive haben und ihre Entscheidung nicht nur nach einer Aussage einer Partei treffen, sondern nach einer Reihe von Parteiaussagen der GRÜNEN?
Oder würden Sie sagen: Diese Aussage ist allein — —
Herr Abgeordneter, die Fragen sollen kurz und präzise sein. Ich bitte darum.
Ich beantworte es gern, wenn Sie fertig sind.
Mehr als 90 % der Saarländer haben mehr Motive gehabt, als Ihrem Motiv zu folgen, Sie zu wählen, weil Sie den Kanal nicht wollen. Und das ist gut so. Und Sie haben in der Tat die Schiffbarmachung der Saar zum Thema einer Volksabstimmung gemacht.
Sie haben überall im Wahlkampf erklärt: Wir sind gegen die Schiffbarmachung, und deswegen wollen wir gewählt werden. Dafür haben Sie 2,5 % bekommen.
Dies zeigt: Die Bevölkerung des Saarlandes hat
eine Entscheidung getroffen, mit der sich abzufinden Sie nicht bereit sind. Weil Sie dort im Landtag nicht sind, heben Sie das Thema hierher. Und auch hier bekommen Sie dafür im nachhinein keine Mehrheit.
Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag auf Drucksache 10/3348 an den Ausschuß für Verkehr — zur federführenden Beratung — und an den Innenausschuß, an den Ausschuß für Wirtschaft und an den Haushaltsausschuß — zur Mitberatung — zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes
— Drucksache 10/3563 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu fünf Minuten pro Fraktion beschlossen worden. — Es erhebt sich kein Widerspruch, wie ich sehe. Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist auch nicht der Fall.
Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Mann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verfolgen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Ziel, den gerichtlichen Rechtsschutz für die über 61 000 in Gefängnissen der Bundesrepublik untergebrachten Strafgefangenen gegen Maßnahmen der Anstaltsleitung zu verbessern. Das vor annähernd zehn Jahren verabschiedete Strafvollzugsgesetz normierte zwar erstmalig die Rechte des Strafgefangenen und erfüllte damit eine Auflage des Bundesverfassungsgerichts, die Durchsetzung dieser Rechte stößt aber in vielen Fällen auf enorme Schwierigkeiten. So erfahren Strafgefangene oftmals, daß sie mit einer Klage gegen eine Maßnahme der Anstaltsleitung vor Gericht zwar recht bekommen, dies aber nicht durchsetzen können, weil ihnen im Gegensatz zum freien Bürger keine gesetzlichen Mittel zur Vollstreckung eines solchen Urteils gegenüber der Anstaltsleitung zur Verfügung stehen.Nur beispielhaft möchte ich einen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1985 — das ist also ganz aktuell — erwähnen. Ein Strafgefangener hatte bereits im September 1978 Urlaub aus der Haft nach § 13 Strafvollzugsgesetz beantragt. Die Vollzugsbehörde benötigte sage und schreibe 18 Monate, um über diesen Antrag ablehnend zu entscheiden. Im Laufe des darauf folgenden Rechtsstreits gab das Oberlandesgericht dem
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MannStrafgefangenen recht und verpflichtete die Anstaltsleitung eindeutig, ihm Urlaub zu gewähren. Erst im November 1983, nachdem also weitere 20 Monate vergangen waren, durfte der Strafgefangene endlich in Urlaub fahren. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete dieses Verhalten der Anstaltsleitung und ihrer Aufsichtsbehörde mit Recht als ungesetzlich und verfassungswidrig.Dieses Beispiel wie viele andere Fälle, die unserer Fraktion vorliegen, zeigt, daß hier eine Gesetzesänderung dringend erforderlich ist, die dem einzelnen Strafgefangenen zur Durchsetzung seines verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz verhilft. Es ist nicht einzusehen, warum jeder Bürger, der nicht inhaftiert ist, das Recht hat, ein obsiegendes Urteil auch zu vollstrecken und die Behörde damit zu zwingen, den Urteilsanspruch in die Tat umzusetzen, während einem Strafgefangenen, der ohnehin in einer besonders abhängigen und hilflosen Situation ist, zugemutet wird, bedingungslos auf die Rechtstreue der Behörde zu vertrauen.Angesichts immer wieder auftretender Verschleppungstaktiken und juristischer Ausweichmanöver der Anstaltsleitungen kann man eben nicht immer von einer solchen Rechtstreue ausgehen. Ich möchte betonen, daß wir den Anstaltsleitungen hier nicht generell unterstellen, sie hielten sich nicht an solche Beschlüsse. Verfassungsrechtlich garantiert Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes jedem Bürger einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle, wie es das Bundesverfassungsgericht im 35. Band ausgeführt hat. Hierbei müssen die Gerichte nicht nur verfassungswidrige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Positionen unterbinden, sondern vor allen Dingen auch die Grundrechte selbst durchsetzen helfen. Ein Mittel zur Durchsetzung ist nun einmal das Verfahrensrecht, welches in allen anderen Bereichen außerhalb des Strafvollzugs die Möglichkeit einer Zwangsvollstreckung auch gegen die öffentliche Hand vorsieht. Diese Rechtslage diskriminiert also erneut Strafgefangene als Rechtssubjekte zweiter Klasse, spricht dem Resozialisierungsgedanken, der ja gerade auf einer Anerkennung des einzelnen und seiner Entfaltungsmöglichkeiten beruht, Hohn.Ich meine, daß die von uns vorgeschlagene Lösung, die sich nahtlos in vorhandene gesetzliche Regelungen einreiht, der geeignete Weg ist, um den auf diesem Gebiet bisher völlig benachteiligten Strafgefangenen auch zur Durchsetzung rechtskräftiger und zu seinen Gunsten ergangener Beschlüsse der Strafvollstreckungskammern zu verhelfen und so die doch recht häufige Erniedrigung durch das Gefühl, zwar im Recht zu sein, aber nicht recht zu bekommen, zu vermeiden.Das Gegenargument, unser Vorschlag verhindere eine sinnvolle Behandlung des Strafgefangenen im Vollzug, ist zynisch und kann eine Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Gerade das besondere Gewaltverhältnis des Strafvollzuges erfordert eine zügige Durchführung gerichtlicher Entscheidungen, zu denen die Gewalt ausübende Behörde verurteilt wurde. Nur wer selbst Gerichtsentscheidungen unverzüglich in die Tat umsetzt, darf von den ihm anvertrauten Personen eine ebensolche Rechtstreue erwarten.Da die Obergerichte nach der bisherigen Rechtslage dem Strafgefangenen keine Möglichkeit zur Zwangsvollstreckung zubilligen, ist die vorliegende Initiative zur Gesetzesänderung dringend erforderlich. Es geht nicht an, den Gefangenen, der nach gerichtlicher Entscheidung von der Anstaltsleitung immer wieder hingehalten wird, z. B. auf den Weg der Dienstaufsichtsbeschwerde oder sein Petitionsrecht — das hat das Kammergericht in Berlin getan — zu verweisen. Das hätte langwierige neue Verfahrensgänge zur Folge, in denen einzig und allein um eine Selbstverständlichkeit gestritten würde, nämlich die Pflicht, gerichtliche Entscheidungen unverzüglich zu befolgen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf. Ich freue mich auf die Beratung im Rechtsausschuß. 15 Worte des Gesetzgebers und Zehntausende von Gefangenen würden ein Stück Glauben an den Rechtsstaat gewinnen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird das Anliegen der Fraktion DIE GRÜNEN, d. h. den Gesetzentwurf zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes sachgerecht und umfassend prüfen, wie ich das gestern versprochen habe, wenn hier sachgerecht vorgetragen wird.Es geht — wenn ich das Anliegen richtig verstanden habe — um Fälle, bei denen rechtskräftige Beschlüsse der Strafvollstreckungskammern zugunsten des Gefangenen von der Anstaltsleitung nicht oder nur zögerlich verwirklicht werden. Die Strafprozeßordnung, die hier nach dem bisher geltenden § 120 des Strafvollzugsgesetzes anzuwenden ist, sieht keine Möglichkeit vor, zugunsten der Gefangenen ergangene Entscheidungen zwangsweise durchzuführen. Wir wollen nun prüfen, ob die vorgeschlagene Änderung, nämlich die Verwaltungsgerichtsordnung anzuwenden, überhaupt geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen.Das Oberlandesgericht Frankfurt kommt nämlich in einem Beschluß vom 10. März 1983 zu dem Ergebnis, daß gegen eine Strafvollzugsbehörde kein Zwangsmittel eingesetzt werden kann, selbst wenn die Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung herangezogen würden. Es ist sicher wichtig, daß nach den verfahrensrechtlichen Vorschriften bestimmte Behörden durch gerichtliche Entscheidungen zur Vornahme einer Amtshandlung oder zur Durchführung einer Maßnahme verpflichtet werden können. Entscheidungen dieser Art ergehen aber regelmäßig durch Beschluß und ohne mündliche Verhandlung. Ich zitiere nun wörtlich: „Es fehlt also die das Urteilsverfahren kennzeichnende besondere Verfahrensgarantie. Außerdem haben Be-
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Seesingschlösse im Gegensatz zu Urteilen nur eine eingeschränkte Rechtskraftwirkung."Das Oberlandesgericht stellt also fest, daß Zwangsmittel, die die Verwaltungsgerichtsordnung zur Verfügung stellt, nur greifen, wenn Urteile vorliegen. Im Strafvollstreckungsverfahren handelt es sich jedoch regelmäßig nur um Beschlüsse.
— Natürlich, das ist rein formal.Wenn auch das Bundesverfassungsgericht den Anspruch jedes Gefangenen, als Rechtsträger behandelt zu werden, anerkannt hat, so hat es aber auch die bestehende Regelung als verfassungsmäßig bezeichnet. In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 28. Mai 1981 — es ging damals um eine Forderung nach Einsicht in die eigene Gefangenenpersonalakte; die Forderung ist abgelehnt worden — heißt es — ich zitiere: „Wenn die Gerichte die in § 120 StGB vorgesehene entsprechende Anwendung von Vorschriften der StPO auf das in den §§ 109ff. StVollzG geregelte gerichtliche Verfahren beschränkt haben, so entspricht das dem Sinn und der systematischen Stellung dieser Vorschrift und kann nicht als sachwidrig oder gar willkürlich verfassungsrechtlich beanstandet werden." Dabei ist das Verfassungsgericht davon ausgegangen, daß die Erwägungen, mit denen die Gerichte die Ermessensentscheidung der Strafvollzugsbehörde gebilligt haben, an den gesetzlichen Aufgaben des Strafvollzuges orientiert sind und Grundrechtsverletzungen nicht erkennen lassen.Wegen der Sachnähe zum Strafprozeß könnte mir die bestehende Regelung auch sinnvoll erscheinen. Das gilt besonders für die Anwendung der Beweisregeln der Strafprozeßordnung. So hat das Oberlandesgericht Hamm in einem Beschluß vom 26. Juli 1984 ausdrücklich darauf hingewiesen, daß eine Anlehnung an zivilprozessuale Verfahrensweisen im Verfahren nach §§ 109 ff. des Strafvollzugsgesetzes nicht statthaft ist. Die Strafvollstreckungskammern seien zu einer eingehenden Beweiserhebung verpflichtet. Das gilt weiter auch für die Regelungen zum Verteidigerrecht.Ich gestehe zu, daß hinsichtlich Einzelfragen noch höchstrichterliche Zweifel und eine unterschiedliche Rechtsprechung bestehen. Weitgehend ist jedoch eine gefestigte Rechtsprechung zu beobachten. Das alles würde aufgegeben, und die Auslegungsprobleme würden von neuem beginnen, wenn eine Regelung Gesetz würde, wie sie in dem Entwurf auf Drucksache 10/3563 vorgeschlagen wird. Man könnte auch auf den Gedanken kommen, bei einer solchen Regelung nicht mehr die Strafvollstreckungskammern, sondern die Verwaltungsgerichte für zuständig zu erklären.Wegen dieser offenen Fragen wollen wir das Anliegen ernsthaft prüfen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird das Problem auf einer Anhörung der Fraktion zu Fragen des Strafvollzugs erörtern. Ich will dem Ergebnis dieser Überlegungen nicht vorgreifen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Schwenk.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, daß Fragen des Strafvollzugs auch im Hohen Hause gelegentlich wieder einmal zu Wort kommen. Es gibt manche Lebensbereiche, die hier öfter angesprochen werden könnten. Dazu gehört auch der Lebensbereich derer, denen Freiheitsentzug droht oder die dem Freiheitsentzug bereits unterworfen sind.Herr Kollege Mann, ich bin allerdings nicht der Auffassung, daß der Glaube von rund 10 000 Strafgefangenen — das ist eine Globalzahl — an Recht und Gesetz davon abhängig ist, ob der Streit zwischen einer Strafvollzugsanstalt und einer Kammer zum guten Ende durch eine Vollstreckung erledigt wird oder nicht. Die Hauptsache ist, daß das Strafvollzugsgesetz lebendig angewendet wird. Da haben wir hier schon bei anderer Gelegenheit, nämlich im Zusammenhang mit den Fragen der Psychiatrie im Strafvollzug, gesagt, daß wir leider feststellen müssen, daß das Strafvollzugsgesetz nicht in dem Geiste angewendet wird, den es haben sollte und hatte, als es hier nach meiner Erinnerung 1975 verabschiedet worden ist.Da hier das Wort vom besonderen Gewaltverhältnis gebraucht worden ist, möchte ich noch einmal daran erinnern, daß sich die SPD-Fraktion seinerzeit ausgiebig darum bemüht hat, den schwammigen und sehr unbestimmten Begriff des besonderen Gewaltverhältnisses durch das Strafvollzugsgesetz auszufüllen und eine wesentlich verbesserte Grundlage für den Strafgefangenen, seine Rechte, seine Chancen zu schaffen. Aber leider wird das Strafvollzugsgesetz mit dem Hinweis auf fehlende Mittel immer wieder nicht in dem Sinne ausgefüllt, wie wir das gerne sehen würden.Nun zurück zu dem Sachverhalt, den Sie geschildert haben: Ich frage mich sehr, ob es wirklich so viele Fälle gegeben hat, daß eine Strafvollstrekkungskammer einen Beschluß gefaßt hat, der von der betroffenen Anstalt nicht sofort umgesetzt worden ist. Im übrigen dürfte es sich um einen Beschluß gehandelt haben, nach dem die Anstalt neu bescheiden soll. Denn wenn es ein glasklarer Beschluß dahin gewesen wäre, der Gefangene ist auf Zeit zu entlassen, und die Anstalt das nicht täte, dann hätten wir es mit dem Tatbestand der Freiheitsberaubung zu tun.
Bei der Überlegung, einen Beschluß, nach dem neu zu bescheiden ist, vollstreckbar zu machen, taucht die nächste Frage auf: Wie soll der Beschluß eigentlich vollstreckt werden? Wenn wir Ihrem Vorschlag folgen, schaffen wir in Wahrheit neuen Behördenkonflikt, jedoch noch keine handfeste Änderung für den Strafgefangenen selbst. Wir werden zunächst einmal nachfragen; das werden wir im
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Dr. Schwenk
Ausschuß natürlich noch tun. Alles das, was Herr Seesing vorgetragen hat, eignet sich besser für die noch vor uns liegende präzise Ausschußberatung. Dort kann der Sache wissenschaftlich nachgegangen werden; das ist völlig klar. Wir werden nachfragen: Ist es nicht Aufgabe der jeweils übergeordneten Behörden, dafür zu sorgen, daß einem Beschluß auch Folge geleistet, daß dem auch Nachdruck verliehen wird, statt daß wir hoffen, der Strafgefangene werde selbst den Gerichtsvollzieher gegen den Anstaltsleiter in Gang setzen? Dann gibt es nur wieder neue Gründe, warum alles nicht in seinem Sinne gemacht werden kann.Ich fürchte, mit Ihrem Entwurf geben Sie Steine statt Brot. Wir werden uns mehr darauf konzentrieren, immer wieder neu zu fordern, daß dem Strafvollzugsgesetz besser entsprochen wird, daß Resozialisierungsvollzug durchgeführt wird, daß dem Rückfall in den Schließer-Vollzug, der von den Anstalten und dem Personal selbst beklagt wird, Einhalt geboten wird. Damit tun wir mehr für die Strafgefangenen, als wenn wir an dem Strafvollzugsgesetz jetzt herumbasteln und die Kammern auch noch ins Verwaltungsrecht hineinschicken, sie damit mit neuer Arbeit belasten. Ich weiß nicht, ob wir damit wesentlich weiterkommen. Ich möchte aber noch einmal sagen, daß Fragen des Strafvollzuges hier im Hohen Hause öfter zur Sprache kommen sollten und daß wir erneut die Forderung stellen, für die Strafgefangenen einen zukunftsgerichteten Vollzug und keinen rückwärts gerichteten zu betreiben.Und dann kann ich nur noch sagen: auf in die Ausschußberatung.
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Fraktion der GRÜNEN hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der auf den ersten Blick plausibel erscheint und auch sicherlich einiges für sich hat. Man gerät in die Versuchung, zu sagen, dies sei ein Vorhaben, dem man zustimmen könne, diese Initiative entspreche dem ernsthaften Bemühen von Parlamentariern, eine wirkliche Verbesserung der Rechtsstellung der Gefangenen und Untergebrachten zu erreichen, und sei einmal frei von großartigen Schaueffekten.
Allerdings, meine Damen und Herren, bei näherem Hinsehen kommen mir Zweifel, ob das auch wirklich so ist. Betrachtet man nämlich die Begründung des Entwurfs, dann wird man wohl eines Besseren belehrt.
Dort wird angeführt, daß die gegenwärtige Rechtslage nicht nur unbefriedigend sei, sie begegne auch schwerwiegenden rechtlichen Bedenken. Nun gut, darüber kann man gewiß geteilter Auffassung sein. Ich meine jedenfalls, daß die augenblickliche Gesetzeslage zwar Fragen aufwirft und auch Lücken erkennen läßt, bin aber nicht der Überzeugung, daß dadurch die verfahrensrechtliche vor allem die verfassungsrechtliche Situation der Strafgefangenen tangiert wird. Aber, wie gesagt, man kann das auch anders sehen.
Unsere Übereinstimmungen hören aber dann gänzlich auf, wenn in der Begründung des Entwurfs behauptet wird — und ich zitiere wörtlich —, „diese Rechtslage diskriminiert erneut die Gefangenen als Rechtssubjekte zweiter Klasse". Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, wir wollen auf dem Teppich bleiben. Diese nach meinem Verständnis von Recht und Gerechtigkeit im Strafvollzug unvertretbare Anschuldigung ist nicht nur eine Ohrfeige für alle am Strafvollzug Beteiligten, sondern schlichtweg eine Unterstellung, die man so nicht stehenlassen kann und die zudem auch noch sachlich falsch ist. Was heißt hier „erneute Diskriminierung"? Seit Jahren hat der Gesetzgeber in diesem Bereich Regelungen geschaffen, die die Lage und vor allem auch die Rechtsstellung des Gefangenen stetig verbessert haben. Es ist doch einfach falsch, so zu tun, als sei nichts geschehen.
Was heißt hier „Rechtssubjekt zweiter Klasse"? In meinen Augen ist es heute nicht mehr vertretbar, in diesem Bereich von Subjekten und von Klassenunterschieden zu reden und damit zu suggerieren, der Strafgefangene werde zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt, der Staat mache sich also im Strafvollzug der Verletzung der Menschenwürde schuldig.
Zudem gebe ich zu bedenken, daß der Gefangene aus einem ganz bestimmten Grund hinter Schloß und Riegel sitzt. Er hat nämlich gegen allgemeingültige Regeln unserer Gesellschaft verstoßen. Die Konsequenzen hieraus hat er nun zu tragen. Dazu gehört es eben auch, daß ihm gewisse Rechte genommen sind. Er hat also weniger Rechte als diejenigen, die die Regeln eingehalten haben. Das ist völlig natürlich und hat nichts mit Menschen zweiter Klasse zu tun.
Darüber hinaus sollte derjenige, der so schwerwiegende Beschuldigungen erhebt, zunächst einmal überlegen, wo die praktische Notwendigkeit und vor allen Dingen die Dringlichkeit solcher Neuregelungen liegt. Bei derartig gravierenden Vorwürfen darf das Parlament verlangen, daß der Gesetzesinitiator konkret und an Hand von Beispielen, die nicht nur Einzelfälle betreffen, so wie von Herrn Kollegen Mann vorgetragen, darlegt, worin genau die Beeinträchtigung der Rechtsstellung des Strafgefangenen oder Untergebrachten zu sehen ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann?
Nein, meine Zeit ist gleich um, ich bedaure.Der pauschale Vorwurf, die Nichtvollstreckbarkeit von Entscheidungen der Strafvollstreckungsgerichte führe zu unhaltbaren Zuständen, führt da wenig weiter. Ebensowenig hilfreich ist die in dem Entwurf vorgenommene, für mein Gefühl etwas schiefe Darstellung der einschlägigen Literatur und der Rechtsprechung. Es gibt auch ganz andere ge-
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Beckmannwichtige Kommentare und Stimmen wie z. B. den Großkommentar von Maunz-Dürig-Herzog, die den bestehenden Rechtszustand billigen. Ich will mir das Zitat ersparen. Sie aber, meine Herren von den GRÜNEN, gehen auf diese Kommentare nicht ein.Lassen Sie mich abschließend noch einige wenige Stichpunkte erwähnen. Haben Sie sich eigentlich überlegt, daß mit Ihrem Entwurf eine umfassende Neuorientierung der Vorschriften für den Rechtsschutz im Strafvollzug vorgenommen wird, ohne daß Sie die Folgen im einzelnen durchdenken und klären? Mir erscheint es jedenfalls nicht so, denn Sie haben das auch in Ihrer Begründung hier nicht belegt. Haben Sie darüber hinaus auch untersucht, wie die Wirksamkeit eines Zwangsgeldes im Verhältnis zu den bereits vorhandenen Mitteln der Dienstaufsichtsbeschwerde und der Petition einzuschätzen ist? Auch hier fehlt eine sachliche Behandlung des Problems.Ich glaube allerdings, daß wir die aufgeworfenen Fragen im zuständigen Ausschuß sorgfältig beraten werden und daß man sich dann überlegen wird, wie eine sachgerechte Lösung gefunden werden kann. Deswegen stimmt auch meine Fraktion dem Überweisungsbeschluß zu.Vielen Dank.
Da mir weitere Wortmeldungen nicht vorliegen, kann ich die Aussprache schließen. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/3563 an den Rechtsausschuß zu überweisen. — Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist dies so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern
— Drucksache 10/3972 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates Finanzausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Im Ältestenrat ist eine Vereinbarung getroffen worden, daß die Aussprache 60 Minuten dauern soll. — Widerspruch des Hauses höre ich nicht. Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Zunächst hat zur Begründung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Voss das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Umsatzsteuerverteilung sowie für die Bundesergänzungszuweisungen ab 1986 ist eine Anschlußregelung erforderlich. Bis 1985 beträgt nach dem geltenden Finanzausgleichsgesetz der Umsatzsteueranteil des Bundes 65,5%, der Länder 34,5 %. Ferner gewährt der Bund nach den Bestimmungen dieses Gesetzes den leistungsschwachen Ländern 1,5% des Umsatzsteueraufkommens als Bundesergänzungszuweisungen.Bund und Länder hatten die entsprechenden Verhandlungen bereits zu Beginn dieses Jahres aufgenommen, um die von den Ländern geforderte Parallelität mit dem Steuersenkungsgesetz 1986/88 zu gewährleisten. In den Verhandlungen zur Umsatzsteuerneuverteilung hatten die Länder die Einnahmeausfälle von Ländern und Gemeinden durch das Steuersenkungsgesetz zum zentralen Punkt gemacht. Sie forderten einen Ausgleich für ihre Ausfälle und machten ihre Zustimmung zum Steuersenkungsgesetz von einer entsprechenden Neuverteilung der Umsatzsteuer abhängig. Um das Steuersenkungsgesetz termingerecht in Kraft setzen zu können, hat der Bund dem Kompromiß zugestimmt, wie er in dem vorliegenden Gesetzentwurf enthalten ist. Für die Jahre 1986 und 1987 erhöht sich der Anteil der Länder am Umsatzsteueraufkommen von 34,5% auf 35% und sinkt der Anteil des Bundes entsprechend von 65,5% auf 65%. Das sind pro Jahr rund 600 Millionen DM mehr für die Länder und damit entsprechend weniger für den Bund.Bund und Länder haben ferner vereinbart, daß der Bund in den Jahren 1986 und 1987 leistungsschwachen Ländern Ergänzungszuweisungen in Höhe von 1,5% des Umsatzsteueraufkommens gewähren wird. Das sind für 1986 rund 1,78 Milliarden DM und für 1987 rund 1,88 Milliarden DM, die wie bisher zu Lasten des Umsatzsteueranteils des Bundes gehen.Hinsichtlich der Verteilung der Bundesergänzungszuweisungen ist die Bundesregierung dem Mehrheitsvotum der Ministerpräsidenten gefolgt. Damit wird jetzt auch Bremen an den Ergänzungszuweisungen beteiligt und erhält 1986 94,4 Millionen und 1987 99,4 Millionen DM. Weitere Änderungen werden bei den Bundesergänzungszuweisungen zur Zeit nicht verfolgt, da die Regelung der Bundesergänzungszuweisungen neben weiteren Vorschriften des Finanzausgleichs durch Normenkontrollanträge zur verfassungsrechtlichen Überprüfung gestellt ist.Zur richtigen Bewertung des Bundesanteils am Umsatzsteueraufkommen muß man allerdings wissen, meine Damen und Herren, daß keinesfalls 65 in den Kassen des Bundes bleiben. Der 65%-Anteil steht dem Bund sozusagen nur formal zu; denn zunächst zahlt der Bund daraus, wie bisher, 1,5 Prozentpunkte als Bundesergänzungszuweisungen an leistungsschwache Länder. Zusätzlich muß der Bund in den nächsten beiden Jahren mindestens weitere 11,5 Prozentpunkte an die EG als sogenannte Eigenmittel abführen, so daß ihm zur Erfüllung der Bundesaufgaben nur 52 Prozentpunkte verbleiben. Der dem Bund tatsächlich verbleibende Anteil ist damit von 62,6 % noch im Jahre 1976 um mehr als 10 Prozentpunkte gesunken. — Aus der Sicht des Bundes ist die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Neuregelung des Beteiligungsverhältnisses in der Sache daher wenig befriedigend.Für die Anspruchsposition des Bundes gibt es nach wie vor gute Gründe. Ich nenne hier nur als Stichworte die stark angewachsene Belastung des Bundes durch die Zahlungen an die EG einerseits und die stark verbesserte Finanzlage der Länder
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Parl. Staatssekretär Dr. Vossund insbesondere der Gemeinden auf der anderen Seite. So betrug die Kreditfinanzierungsquote des Bundes 1984 trotz der erzielten Konsolidierungserfolge immer noch 11,2 %, diejenige der Länder einschließlich Gemeinden demgegenüber nur 5,6 %, wobei die Gemeinden 1984 sogar einen Finanzierungsüberschuß von 1,5 Milliarden DM erzielt haben.Nach der bisher abzusehenden Entwicklung werden sich diese Unterschiede in der Finanzausstattung der beiden Ebenen 1985 und in den Folgejahren eher noch zu Lasten des Bundes verstärken, u. a. weil der Bund die weniger dynamischen Steuern hat und der Steueranteil des Bundes deshalb nur unterproportional zunimmt. So stiegen die Steuereinnahmen des Bundes in diesem Jahr bis einschließlich September im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum um 4,4 %, diejenigen der Länder hingegen um 5,9 %.Die SPD-geführten Länder haben dennoch im Bundesrat — dort allerdings von der Mehrheit der Länder abgelehnt —, den Antrag gestellt, den Länderanteil an der Umsatzsteuer zum Ausgleich der Ausfälle durch das Steuersenkungsgesetz über die im Gesetzentwurf bereits vorgesehene Anhebung hinaus für 1986 und 1987 noch um einen weiteren halben Prozentsatz anzuheben.Die Haltung der Bundesregierung zu solchen Forderungen ist ganz eindeutig: Eine weitere Anhebung des Länderanteils kann angesichts der hier skizzierten, für den Bund nachteiligen Finanzausstattungen der beiden Ebenen nicht in Betracht kommen. Zudem besteht zu einer weiteren Anhebung, auch mit Blick auf die Einnahmenausfälle durch das Steuersenkungsgesetz, angesichts der Relationen der Ausfälle zwischen dem Bund und den Ländern einschließlich Gemeinden nicht die geringste Veranlassung. Auf Länder und Gemeinden entfallen nämlich gemäß ihren Anteilen an der Einkommensteuer 57,5 % der Gesamtausfälle. Dieser Anteilssatz entspricht nahezu exakt ihrem Anteil von 58 % an den Gesamtausgaben aller Gebietskörperschaften. Das heißt, die Proportionen der Ausfälle sind nahezu identisch mit den Proportionen der Haushaltsvolumina, so daß es zu keinen Verschiebungen hinsichtlich der relativen Finanzausstattung kommt. Es gibt deshalb kein Ausgleichserfordernis bei Rechtsänderungen im Einkommensteuerbereich. Das gilt auch für die Abschreibungserleichterungen bei Wirtschaftsgebäuden, obgleich Herr Finanzminister Posser aus Nordrhein-Westfalen das ständig fordert.
— Nicht zu Recht, meine Damen und Herren.
Im übrigen bedeutet Beteiligung der Länder und Gemeinden an der dynamischen Einkommensteuer logischerweise auch Beteiligung an den von Zeit zu Zeit notwendigen Steuerentlastungen. Die Forderung auf Rückgabe der sogenannten heimlichen Steuererhöhungen richtet sich nicht nur gegen den Bund, sondern auch gegen die anderen Begünstigten.Die Belastung des Bundes durch die EG nimmt ab 1986 besonders deutlich zu. Mit dem Beschluß des EG-Rats vom 7. Mai 1985 wird die Finanzausstattung der Gemeinschaft im Zusammenhang mit dem Beitritt von Spanien und Portugal vergrößert. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer-Eigenmittelplafonds der Europäischen Gemeinschaft von bisher 1 auf 1,4 % der Bemessungsgrundlage führt zu erheblichen zusätzlichen finanziellen Belastungen der Bundesrepublik Deutschland. Schon 1986 wird der Bund zusätzlich rund 4 Milliarden DM, in den Jahren danach noch weiter ansteigende zusätzliche Abführungen an die Gemeinschaft zu leisten haben. Der Bund muß sich daher vorbehalten, bei künftigen Verhandlungen über die Umsatzsteuerneuverteilung auf diesen Aspekt zurückzukommen.Gestatten Sie abschließend noch ein Wort zu dem Verfahren in Karlsruhe. Die Bundesregierung bedauert, daß eine Reihe von Bundesländern erstmals bei diesem politisch zentralen Thema des Länderfinanzausgleichs das Bundesverfassungsgericht angerufen hat. Bisher war es immer möglich, die politischen Interessenunterschiede zwischen den Ländern und mit dem Bund durch einen politischen Kompromiß zu lösen.
Jetzt muß das höchste Gericht entscheiden. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Abgeordnete Schlatter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem vorliegenden Gesetzentwurf wird behauptet, daß zwischen Bund und Ländern Einvernehmen erzielt worden sei, den Anteil der Länder am Umsatzsteueraufkommen wie vorgeschlagen zu regeln. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Staatssekretär, daß Sie diese Behauptung im Gesetzentwurf in Ihrer Begründungsrede korrigieren; denn diese Behauptung ist falsch. Sie haben sie in Ihrer Begründungsrede auch nicht weiter aufrechterhalten.Richtig ist, daß die SPD-geführten Länder im Bundesrat deutlich gemacht haben, daß aus ihrer Sicht von einem Einvernehmen wirklich keine Rede sein kann. Die Mehrheit der Länder hat entschieden, und eine Minderheit, nämlich die SPD- geführten Länder, hat die Auffassung vertreten, daß der Bund den Ländern und Gemeinden keinen angemessenen Ausgleich für die Einnahmeausfälle angeboten hat, die durch das Steuersenkungsgesetz hingenommen werden müssen.Die beschlossenen Senkungen bei der Lohn- und Einkommensteuer belasten zu 57,5 % Länder und Gemeinden. Das wird durch die vorgeschlagene Erhöhung des Länderanteils an der Umsatzsteuer von einem halben Prozentpunkt bei weitem nicht ausgeglichen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12643
SchlatterDas behauptete Einvernehmen zwischen dem Bund und allen Ländern wäre dann erzielt worden, wenn der Länderanteil an der Umsatzsteuer um 1% für die Jahre 1986 und 1987 sowie um 2 % für das Jahr 1988 angehoben würde.Herr Staatssekretär, Sie sind auf die Vorgeschichte des Gesetzentwurfs eingegangen. Ich denke, es lohnt sich in der Tat, die Vorgeschichte, die zu den jetzigen Kompromissen geführt hat, in Erinnerung zu rufen, weil dann sehr schnell deutlich wird, daß die Vorschläge der Bundesregierung ein fauler Kompromiß sind, und daß dies der kleinste gemeinsame Nenner war, auf den sich Kohl und Strauß Anfang Juli 1985 haben einigen können.
Das Ergebnis ist aus meiner Sicht auch kein Ruhmesblatt, sondern mehr ein Armutszeugnis für den bundesstaatlichen Föderalismus.
Denn wieder einmal haben die betroffenen Ministerpräsidenten der CDU die Parteiräson vor die Interessen der von ihnen vertretenen Länder gestellt.Ich will zur Vorgeschichte noch ein paar Anmerkungen machen. Dazu gehört, daß in der ersten Beratung des von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs zur Steuersenkung 1986/88 die Länder im Bundesrat ein Junktim zwischen Steuerentlastung und Finanzausgleich hergestellt haben.Die Länder haben — übrigens einmütig — auch quantifiziert, was sie unter einem angemessenen Ausgleich für ihre überproportionalen Ausfälle verstehen, nämlich einen um 2 % höheren Anteil an der Umsatzsteuer ab 1986 gegenüber dem Ansatz in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundesfinanzministers von 33,5%. Wenn es überhaupt einmal das behauptete Einvernehmen zwischen den Bundesländern gegeben hat, dann in dieser gemeinsamen Forderung gegenüber dem Bundesfinanzminister; denn der hatte das Beteiligungsverhältnis bereits auf 33,5% gesenkt, ohne sich mit den Ländern darüber abzustimmen. Das war schlechter Stil,
und der Bundesrat hat zu Recht daran erinnert, daß die bereits früher durch das Steuerentlastungsgesetz 1984 entstandenen überproportionalen Steuerausfälle für Länder und Gemeinden vom Bund auch künftig auszugleichen sind.Daß die Gründe für die damalige Erhöhung auf 34,5% Länderanteil auch über das Jahr 1985 hinaus fortwirken, muß ich hier nicht weiter erläutern; dem Bundesfinanzminister waren und sind die Gründe bekannt. Dennoch hat er seine mittelfristige Finanzplanung mit unrealistischen Ansätzen vorgelegt und sie damit bereits am Tag der Veröffentlichung zur Makulatur werden lassen.
Ich halte dem Bundesfinanzminister nicht vor, daß er eine Verhandlungsposition aufbaut — das ist sein gutes Recht —, aber ich kritisiere, daß er dem Deutschen Bundestag und der Öffentlichkeit beider Vorlage seiner mittelfristigen Finanzplanung verheimlicht, daß in ihr unrealistische Ansätze stecken.Nach Auffassung des Bundesfinanzministers ist das jetzt im Gesetz festgeschriebene Ergebnis auch für ihn unbefriedigend, und Sie, Herr Staatssekretär, haben das im einzelnen begründet. Sie machen geltend, daß es eher einen Umverteilungsanspruch des Bundes gegenüber den Ländern gibt, und Sie behaupten, daß die Ansprüche des Bundes nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Für diese Position haben Sie auch heute wieder die Belastung des Bundes durch die Zahlungen an die EG einerseits angeführt und die stark verbesserte Finanzlage von Ländern und Gemeinden auf der anderen Seite geltend gemacht. Zur Begründung wird außerdem die Kreditfinanzierungsquote des Bundes herhalten müssen, im Vergleich zu den Kreditfinanzierungsquoten der Länder und der Kommunen.Ich könnte für diese Argumentation noch Verständnis aufbringen, wenn Sie hier nicht mit einem Taschenspielertrick arbeiteten; denn bei allen früheren Verhandlungen ist nicht die Kreditfinanzierungsquote, sondern die Deckungsquotenberechnung als Methode zugrunde gelegt worden. So haben die Länder natürlich konsequenterweise die neue Berechnungsbasis des Bundesfinanzministers zurückgewiesen und die auch verfassungsrechtlich gebotene Berechnungsgrundlage der Deckungsquote für ihre Position gewählt.Auch die Belastungen des Bundes durch Zahlungen an die EG sind im Finanzplan berücksichtigt und finden damit Eingang in die Deckungsquotenvergleiche.Natürlich mußte sich der Bundesfinanzminister gefallen lassen, durch die Länder daran erinnert zu werden, daß in seinem Finanzplan die Bundesbankgewinne nur unzureichend berücksichtigt worden sind. Dies hätte zur Abrundung des Bildes der Klage des Bundes auch vielleicht aus Ihrem Munde, Herr Staatssekretär, erläutert werden müssen.
Alles in allem war die Verhandlungsposition des Bundes nicht gerade überzeugend und deshalb muß es schon verwundern, daß der Bund ein Ergebnis erzielen konnte, das weit unterhalb der Forderungen der Länder liegt; denn die Länder konnten bereits auf der Basis des gesamten Steuerentlastungspakets 1986/88 einen notwendigen Ausgleich für die überproportionale Belastung im Vergleich zu ihren Anteilen am Gesamtsteueraufkommen von plus 2,3 Umsatzsteuerpunkten errechnen.Berücksichtigt man die Zusage des Bundeskanzlers an die Länder und Gemeinden, sie nur anteilig mit einem Steuerentlastungsvolumen von 17 Milliarden DM statt 20 Milliarden DM zu belasten — übrigens wiederum ein gebrochenes Kanzlerversprechen — ergäbe sich sogar ein rechnerischer Ausgleichsanspruch von 3,2 % mehr an Umsatzsteuerpunkten.Ich will es bei diesen Hinweisen belassen; denn sie machen überdeutlich, daß das Nein der SPD-
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Schlattergeführten Länder zu dem nun vorliegenden Ergebnis mehr als begründet ist. Das Nein ist um so mehr begründet, wenn man in die Bewertung die morgen im Deutschen Bundestag anstehende Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzes über Abschreibungserleichterungen für Wirtschaftsgebäude einbezieht. Die Länder und Gemeinden — die Zahlen haben Sie hier nicht genannt, Herr Staatssekretär, und deshalb hole ich das nach — haben von dieser Vorlage wiederum überproportionale Einnahmeausfälle in Milliardenhöhe zu erwarten. 1988 werden es über 2,4 Milliarden DM an Steuerausfällen bei den Ländern gegenüber nur 1,3 Milliarden DM beim Bund sein. Damit ist die Ausgangsbasis der Länder für einen angemessenen Finanzausgleich weiterhin verschlechtert worden.Lassen Sie mich die Diskussion um das richtige Verhältnis bei der Beteiligung von Bund und Ländern am Umsatzsteueraufkommen nutzen, um einige grundsätzliche Anmerkungen zum bundesstaatlichen Finanzausgleich zu machen. Herr Staatssekretär, Sie haben das vorhin ebenfalls in die Debatte eingeführt. Ich denke, es lohnt sich, auf Ihre Argumente einzugehen.Der horizontale Länderfinanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen stehen auf dem politischen und verfassungsrechtlichen Prüfstand. Es gibt also nicht nur Verteilungsstreitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern, sondern es hat sich zusätzlich in den letzten Jahren auch ein ernster Streit über die Verfassungsmäßigkeit der Länderfinanzausgleichspraxis entwickelt. Das Grundgesetz spricht in seinem Art. 107 von der Pflicht, die Finanzkraft der Länder auszugleichen. In der Staatspraxis haben sich die Länder zwar im wesentlichen mit einem Steuerkraftausgleich begnügt, in der Annahme, daß das Aufkommen aus nichtsteuerlichen Einnahmen bei der Bestimmung der Finanzkraft vernachlässigt werden könnte. Am Beispiel der Einnahmen aus der bergrechtlichen Förderabgabe hat sich gezeigt, daß der Ausgleich der Steuerkraft keine verfassungsrechtliche Grundlage zur Bemessung des Finanzausgleichs sein kann. Die nur teilweise Einbeziehung des Förderzinses, und zwar ab 1983 zu einem Drittel und ab 1986 zur Hälfte, ist keine tragfähige Lösung. Denn sie berücksichtigt nicht, daß vielen Bundesländern auf der Ausgabenseite Belastungen erwachsen, die anderen Ländern nicht entstehen. Ich nenne nur den Stahlbereich; ich nenne die Kohlelast.Der Widersinn der zur Zeit praktizierten Ausgleichsregelung zeigt sich auch darin, daß die dem Lande Niedersachsen zufließende Förderabgaben zu Mindereinnahmen bei den gezahlten Körperschaftsteuern führen, mit dem Ergebnis des Absinkens der maßgeblichen Steuerkraft für dieses Land und einer entsprechenden Anhebung des Finanzausgleichsanspruchs für Niedersachsen. Also Förderabgaben, ein Mehr an Einnahmen, führen zu einem Sinken der Steuerkraft und zu einem Plus im Finanzausgleich. So kann man aus einer Einnahme zwei machen.Und weiter. Im Rahmen des Deckungsquotenverfahrens sollen die Einnahmen aus der Umsatzsteuer so auf Bund und Länder verteilt werden, daß das Verhältnis zwischen den laufenden Einnahmen und den notwendigen Ausgaben auf den beiden Ebenen insgesamt etwa gleich ist. Im Rahmen dieser Berechnung werden natürlich die bergrechtlichen Förderabgaben, die ganz überwiegend nur einem Bundesland zufließen, der Ländergesamtheit angelastet. Das ist auch nicht zu kritisieren. Dadurch verschlechtert sich die Anspruchsgrundlage der Länder um 2 Milliarden DM. Das schlägt sich als Minus von 0,8 %-Punkten an der Umsatzsteuer bei der Aufteilung nieder. Damit aber nicht genug. Die Kohlelast von derzeit immerhin rund 1 Milliarde DM jährlich, die das Land Nodrhein-Westfalen alleine für die Sicherung der einheimischen Energiereserven zu tragen hat, geht als Belastung der Länder in die Deckungsquotenberechnung ein. Das bedeutet ein Plus von 0,4 %-Punkten an der Umsatzsteuer für die Ländergesamtheit. Das heißt, die übrigen Länder profitieren bei der Umsatzsteuerneuverteilung mit dem Bund von den Sonderlasten Nordrhein-Westfalens, ohne daß aber beim Finanzausgleich zwischen den Ländern diese Sonderlasten Nordrhein-Westfalens diesem Land auch wieder gutgeschrieben würden.Ich denke, eine Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen den Ländern ist dringend geboten. Dennoch gelingt es den Bundesländern bis heute nicht, diese Neuordnung aus eigener Kraft zu schaffen. Das ist der Grund für die anhängigen Normenkontrollklagen beim Bundesverfassungsgericht. Ich stimme Ihnen zu, Herr Staatssekretär, es ist keine Ruhmestat des Föderalismus, wenn eine so gewichtige Frage wie die Verteilung von Geld politisch nicht mehr entschieden werden kann. Aber wenn Sie das mit mir zusammen beklagen, muß ich Sie daran erinnern, daß auch der Bundesfinanzminister Handlungsunfähigkeit demonstriert, wenn er sich weigert, für seinen Teil die Länder bei der Verteilung seiner Finanzmittel nach gleichen Maßstäben zu behandeln. Nach seiner Auffassung hat sich die Bundesregierung bei der Aufteilung der Bundesergänzungszuweisung an der Mehrheitsauffassung der Länder zu orientieren. So jedenfalls hat sich Dr. Stoltenberg bei der Beratung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 im Bundesrat geäußert.Statt Verfassungsgrundsätze zu beachten, beschränkt sich der sonst nicht konfliktscheue Bundesfinanzminister auf die Rolle des Notars. Diese Haltung — das sage ich Ihnen offen — ist enttäuschend. Bei der vom Grundgesetz bestimmten Sachlage kann die Bundesregierung doch nicht sagen: Der Bund zahlt Ergänzungszuweisungen in Höhe von 1,8 Milliarden DM, und die Länder mögen sich untereinander über die Verteilung dieser Gelder aus dem Bundeshaushalt einigen. Die Bundesregierung ist unmittelbar aufgefordert, ein Konzept für die Verteilung der Ergänzungszuweisungen vorzulegen. Daß es dem Bundesfinanzminister nicht an Einsicht, wohl aber am politischen Willen mangelt, ist wohl inzwischen durch den Vorschlag offensichtlich geworden, der in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf zur Regelung für das Land Bremen ge-
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Schlattermacht worden ist. Im Wege des Vorwegkompromisses erhält Bremen im Jahre 1986 und 1987 an der Bundesergänzungszuweisung mit 5,3% jährlich immerhin seinen berechtigten Anteil. Das ist zu begrüßen.Aber ich will darauf hinweisen, daß der Anteil von Bremen nach einem Fehlbetragsschlüssel ermittelt wurde, von dem ich sage: Er ist finanzausgleichssystematischen Überlegungen entsprungen und gerecht. Diesen Fehlbetragsschlüssel bei der Aufteilung der Bundesergänzungszuweisungen insgesamt zugrunde zu legen und — darauf weise ich hin — auch die Förderzinseinnahmen in den Verteilungsschlüssel einzubeziehen, wäre aus meiner Sicht eine Lösung, die eine gerechte Verteilung für alle Bundesländer bewirken würde.Das Ergebnis der bisherigen Verteilung der Bundesergänzungszuweisungen ist ja in der Tat grotesk. So erhält das Land Bayern z. B. 1984 mit 345 Millionen DM das 8,3f ache an Bundesergänzungszuweisungen im Verhältnis zum Landesfinanzausgleich. 1985 wird es das 26,5 fache dieser Summe sein. Wenn ich die Zahlen richtig interpretiere, wird auch das Land Rheinland-Pfalz in eine ähnliche Situation geraten. Geht man davon aus, daß die Ergänzungszuweisungen nur zur abschließenden Feinsteuerung im Rahmen des von Art. 107 Grundgesetz vorgegebenen Ausgleichssystems zu dienen bestimmt sind, dann meine ich, darf sich das Volumen der Ergänzungszuweisungen nicht vom Volumen der Ausgleichszuweisungen in dem von mir beschriebenen Umfang abheben. Wenn es dazu kommt, sind entweder die Ergänzungszuweisungen zu hoch angesetzt oder der systematisch vorangegangene Zwischenländerausgleich war unangemessen.Ich bleibe dabei: Für die Verteilung der Bundesergänzungszuweisungen auf die einzelnen Länder sind verfassungsrechtlich nicht beliebige Maßstäbe zulässig. Um so mehr ist es zu bedauern, daß die Bundesregierung dem gesamtstaatlichen Auftrag, selbst nach einer angemessenen Lösung zu suchen, bis heute nicht nachgekommen ist. Ein gutes Verhältnis zwischen Bund und allen Ländern, zwischen der Bundesregierung und allen Landesregierungen setzt voraus, daß der Bund die Aufgaben, die die Länder nicht zu lösen vermögen, anpackt und dabei der ehrlichen und der gegenseitigen Anerkennung von Pflichten und Rechten eine erfolgreiche Basis verschafft. Dazu kann ich Sie heute anläßlich der Lesung des Gesetzes zum Finanzausgleich nur nachdrücklich auffordern.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Uldall.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Wenn ich den Kollegen Schlatter höre, kann ich im Grunde genommen nur sagen, daß das, was Sie gesagt haben, j a eigentlich nur ein verstecktes Lob für Minister Stoltenberg gewesen ist, denn, Herr Schlatter, wenn Sie aus der Sicht der Länder die Verhandlungsführung des Bundesministers kritisieren, dann kann ich als Mitverantwortlicher für die Bundeskasse im Grunde genommen nur sagen: Dann wird er ja wohl richtig verhandelt haben. Hellhörig hätte ich werden müssen, wenn die Bundesländer jetzt plötzlich dem Bundesfinanzminister Beifall geklatscht und gesagt hätten: Der hat uns ja mehr gegeben, als wir haben wollten. Dann wäre ich als Parlamentarier, als Angehöriger des Bundestages, stutzig geworden und hätte fragen müssen, ob die Bundesfinanzen eigentlich richtig vertreten worden wären. Wenn Sie aber in dieser Form den Bundesfinanzminister loben, kann ich Ihnen, lieber Herr Schlatter, im Grunde genommen nur zustimmen. Denn ich meine j a auch, daß die Bundesländer mit dem Gesetzentwurf der Regierung sehr zufrieden sein können; es handelt sich hierbei nämlich bereits um die dritte Erhöhung des Mehrwertsteueranteils der Länder seit der Regierungsübernahme durch die CDU.
Zunächst hat es eine Erhöhung im Jahre 1982 gegeben, dann eine im Jahre 1983, und jetzt kommt eine weitere Erhöhung noch einmal um einen halben Prozentpunkt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Kollege Uldall, stimmen Sie mir zu, wenn ich formuliere, daß die Nichtanwesenheit des Bundesrates bei dem Thema des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern ein Skandal ist?
Herr Kollege, da kann ich Ihnen wirklich nur beipflichten.
Ich meine auch, daß die Herren des Bundesrates bei einer so eminent wichtigen Frage, die von ihnen so hochstilisiert worden ist, eigentlich hätten da sein müssen. Das gilt natürlich vor allen Dingen für die Länder, die mit dieser Regelung nicht einverstanden sind und deren Interessen heute ausnahmsweise von Herrn Kollegen Schlatter wahrgenommen werden mußten. Besser wäre es gewesen, wenn deren Vertreter selber hier gewesen wären. Aber ich sage auch: Der Herr Kollege Schlatter ist j a ein sehr tüchtiger Abgeordneter, der die Interessen der SPD-Länder sehr gut vertreten hat.Nun, meine Damen und Herren, die Erhöhung des Mehrwertsteueranteils der Länder in den vergangenen Jahren hat dazu geführt, daß die Bundesländer insgesamt 3 Milliarden DM mehr bekommen, als wenn man den Verteilungsschlüssel anwenden würde, der in der SPD-Regierungszeit gegolten hat. Schon deswegen, Herr Kollege Schlatter, ist die Kritik der SPD an diesem neuen Verteilungs-
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12646 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
UldallSchlüssel, wie er von der Bundesregierung vorgeschlagen wurde, nicht zu rechtfertigen. Wir müssen eben erkennen, daß sich die Steuern des Bundes bei weitem nicht so dynamisch entwickeln, wie die Steuern der Länder es getan haben. Sie als Fachmann wissen doch, daß die heimlichen Steuererhöhungen zum überwiegenden Teil eben in den Kassen der Länder gelandet sind. Wenn mit der Steuerreform die heimlichen Steuererhöhungen zurückgegeben werden sollen, Herr Schlatter, heißt das natürlich, daß auch die Hauptnutznießer dieser heimlichen Steuererhöhungen sie zurückgeben müssen.Also kann ich nur sagen: Die Klage über den mangelnden Widerstand der Länder gegen die Tarifreform im Bundesrat, die Sie eben erhoben haben, ist im Grunde genommen doch nichts anderes als eine Klage über die Steuerreform als solche. Machen wir uns doch nichts vor: Es zeigen sich hier wieder die unterschiedlichen Positionen in der Grundfrage. Sie sträuben sich gegen die Steuererleichterungen; wir dagegen wollen eine Steuersenkung für die Bürger durchsetzen. Nur bei einer Verringerung der Steuerlast der Bürger schaffen wir die Voraussetzungen, die wir brauchen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu setzen und um die Beschäftigung bei uns in der Bundesrepublik zu steigern.
Um dieses Ziel zu erreichen, verzichtet die Bundesregierung — bis an die Grenze des Vertretbaren gehend — noch einmal auf 600 Millionen DM. Wir wissen, daß dieser Verzicht die Voraussetzung dafür war, die Tarifreform zu realisieren, und deswegen erfolgt dieser Verzicht der Bundesregierung trotz der Risiken, die mit der EG verbunden sind und die der Staatssekretär gerade noch einmal so eindrucksvoll dargelegt hat, und trotz der hohen Verschuldungsquote, die beim Bund immer noch zu großer Besorgnis Anlaß geben muß. Welchen Stellenwert wir als Regierungskoalition der Steuersenkung im kommenden Jahr und im Jahre 1988 einräumen, ersehen Sie also bitte daraus, daß wir nochmals bereit sind, in diesem großen Umfang Mittel an die Bundesländer weiterzugeben.Nun muß ich allerdings eines festhalten: Ohne die Konsolidierungspolitik der Bundesregierung wäre eine Verbesserung des Länderanteils nicht möglich gewesen. Wenn die SPD-Länder jetzt noch einmal eine Anhebung ihres Anteils um 0,5 Prozentpunkte haben wollen, kann ich im Grunde genommen nur sagen, daß sie die Ergebnisse der Konsolidierungspolitik und damit die Ergebnisse einer Politik, die sie bekämpft haben, bekommen wollen. Eines muß ich Ihnen von den Sozialdemokraten dann entgegenhalten: daß es natürlich völlig unmöglich ist, die Früchte einer Politik in seine Scheuern fahren zu wollen, die man selber bekämpft hat. So geht es nicht! Sie müssen dann konsequent sein und die Konsolidierungspolitik der Bundesregierung auch mit unterstützen.Am schlimmsten ist es aber, wenn einige Bundesländer jetzt die Auseinandersetzung mit dem Bund führen, ganz offensichtlich um von ihrem eigenen Versagen in der Finanzpolitik abzulenken.
Das wird am deutlichsten beim Hamburger Bürgermeister von Dohnanyi, der seit Wochen versucht,
durch eine nebulöse Darstellung von Problemen des Länderfinanzausgleichs den Eindruck zu erwecken,
als wenn alle Finanzprobleme Hamburgs und die katastrophale Finanzlage der Hansestadt gelöst würden, wenn nur die Bestimmungen des Länderfinanzausgleichs etwas geändert würden. Er lenkt ganz bewußt von dem eigentlichen Hauptthema, nämlich der Verschuldung, ab. Hamburg mit 1,3 Milliarden Neuverschuldung würde im besten Fall ein Zehntel dieser Neuverschuldung durch eine Neuregelung des Länderfinanzausgleichs bekommen können. Es ist doch überhaupt nicht zu fassen, daß sich hier die politische Diskussion auf ein Zehntel des Problems konzentriert und die übrigen neun Zehntel unseres hohen Defizits außer acht läßt. Da kann ich nur sagen: Ein Politiker, der so etwas tut, darf nicht ernst genommen werden. Ein Unternehmer, der so verfahren würde, würde sein Unternehmen in den Bankrott treiben. Ich kann als Hamburger nur sagen: Ich hoffe, daß das mit unserem Hamburger Stadtsenat nicht der Fall ist.Das gleiche gilt für den Ministerpräsidenten Johannes Rau in Nordrhein-Westfalen.
Vor Übernahme der Regierung durch Johannes Rau war Nordrhein-Westfalen ein Zahlerland im Länderfinanzausgleich. In seiner Regierungszeit hat es sich soweit entwickelt, daß er jetzt sogar versucht, Ergänzungszuweisungen zu bekommen.
Da sieht man einmal, wie stark der finanzielle Abstieg des größten und industriell stärksten Bundeslandes in der Regierungszeit von Johannes Rau gewesen ist. Wir alle wünschen uns, daß dies in der Bundesrepublik insgesamt nicht realisiert wird.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Herr Präsident, ich bin gern dazu bereit. Ich will nur darauf hinweisen, daß ich schon mindestens zwei Minuten auf die Beantwortung der ausführlichen Frage von Herrn Schlatter verwendet habe. Auch hierauf werde ich ausführlich antworten.
Wir notieren das hier ganz genau. Bitte.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985 12647
Ich bedanke mich für Ihre Großzügigkeit, Herr Kollege. Ich wollte fragen, wie Sie denn die Situation in einem anderen Montanbundesland, wo im März dieses Jahres die Regierung gewechselt hat, vor dem Hintergrund eines Jahreshaushalts von 4 Milliarden DM und einer Schuldenlast von etwa 8 Milliarden DM, beurteilen.
Der große Wundermacher an der Saar, Herr Lafontaine, der große Wundermacher vor der Wahl, hatte nach der Wahl nichts Eiligeres zu tun, als einen Bittgang nach Bonn anzutreten. Alle seine Wunderrezepte, die er vorher verkauft hatte, galten nach der Wahl plötzlich nicht mehr. Ihm fiel nichts anderes ein als dem Bürgermeister von Bremen, der, nachdem er die Regierung übernommen hat, jetzt auch nichts anderes weiß, als festzustellen, daß er ohne Unterstützung aus Bonn seine Finanzen in Bremen nicht in Ordnung bringen kann.
Aber ich sehe da noch einen saarländischen Kollegen.
Gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage?
Bitte.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Brück.
— Einen Augenblick! Herr Schreiner, Sie wollten eine Zusatzfrage stellen?
Herr Kollege, können Sie bitte auch sagen, wer in den letzten 30 Jahren im Saarland regiert hat und wer für das Schuldenmachen verantwortlich ist?
Lieber Herr Kollege Brück, ich sagte eben bereits, daß die ganzen Wunderrezepte des großen Starpolitikers an der Saar, des Herrn Lafontaine, nach der Wahl überhaupt nicht mehr gegolten haben und daß auch ihm kein besseres Rezept einfiel, als die Bundesregierung um Hilfe anzugehen.
Ich werde mir ein Vergnügen bereiten, liebe Kollegen. Ich werde einmal die Finanzprobleme der SPD-regierten Länder auflisten und darauf hinweisen, daß alle diese Länder nur einen Weg aus ihrer Verschuldungskrise kennen,
nämlich die Bundesregierung um Hilfe zu bitten. Deswegen wird Ihre Aufgabe als Bundestagsfraktion darin liegen, daß Sie mit dafür sorgen, daß diese Hilfestellung von der Bundesregierung gewährt werden kann. Damit die Bundesregierung diese Hilfestellung gewährt, muß von seiten Ihrer Fraktion die Konsolidierungspolitik der Bundesregierung mit gestützt werden. Sonst haben weder Lafontaine noch der Kollege von Dohnanyi, noch der neue Bürgermeister in Bremen die Möglichkeit, aus dem Füllhorn der Bundesregierung zu schöpfen.
Diese Forderung aufzustellen reicht allein nicht. Es muß in dem Füllhorn, das sie anzapfen wollen, auch etwas drin sein.
Ich sage noch einen Satz. Wenn der Holger Börner in Hessen so weitermacht, werden wir erleben, daß auch der noch hier anklopft und um Hilfe der Bundesregierung bittet.
Einen Moment, bitte. — Wenn ein Redner schon so viele Fragen zuläßt,
dann sollte man ihm von seiten des Plenums aus Respekt zollen und seine Rede ansonsten ungestört ablaufen lassen.
Wollen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mitzscherling zulassen?
Ja, ich lasse sie sehr gern zu, denn ich hoffe, daß bei Ihnen ein gewisser Ernüchterungsprozeß einsetzen wird.
Herr Kollege Uldall, sind Sie bereit, zuzugestehen, daß die Schwierigkeiten in den Haushalten einzelner Bundesländer auch auf die Probleme der Wirtschaftsstruktur des jeweiligen Bundeslandes zurückzuführen sind und daß Sie deshalb Schwierigkeiten haben, eine Antwort im Fall des Saarlandes zu geben, daß Sie insoweit den Vorwurf gegen sich gelten lassen müßten, den Sie heute gegenüber Herrn Rau erheben?
Herr Kollege, natürlich sind die strukturellen Probleme in keinem Land hinwegzudiskutieren. Nur, ich möchte eines auch einmal sagen: Sehen Sie sich bitte einmal die Finanzprobleme in den von der SPD und in den von der CDU geführten Bundesländern an. Dann werden Sie eines feststellen: Alle von der CDU geführten Bundesländer stehen im Schnitt besser da. Und dann sagen Sie: Das sind immer nur Strukturfragen? Dem kann ich nicht folgen. Man muß eines sehen: Wenn Sie die Bundesländer vergleichen, dann werden Sie feststellen, daß wir kein Süd-Nord-Gefälle, sondern ein Links-Rechts-Gefälle haben, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Abschluß gern noch einiges zu den Ergänzungszuweisungen sagen. Herr Schlatter, die Ergänzungszuweisungen wurden zwischen den Bundesländern — wenn auch mit Mehrheit — festgelegt. Ich sehe daher keinen Anlaß, daß sich der Bundestag noch ein-
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12648 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 168. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Oktober 1985
Uldallmal mit dieser Frage beschäftigt. Wenn die sich in dieser Frage geeinigt haben, dann sollte es so bleiben. Nur, eines möchte ich festhalten: Das häufig vorgetragene Argument, die von der SPD regierten Länder würden bei den Ergänzungszuweisungen benachteiligt, trifft nicht zu. Bremen ist neu in die Ergänzungszuweisungen aufgenommen worden. Um Bremen bei den Ergänzungszuweisungen etwas zukommen zu lassen, mußte irgend jemand anderem etwas abgeknapst werden. Das wurde vor allem den CDU-Ländern — an der Spitze Bayern —weggenommen, während das Saarland mit einer frischen SPD-Regierung weitestgehend ungeschoren geblieben ist.Ich habe einmal eine Berechnung vorgenommen, wie hoch die Beträge je Einwohner sind, die den Ländern im Rahmen der Ergänzungszuweisungen zufließen. Mit Abstand an der Spitze steht das Saarland mit 163 DM je Einwohner. Das Saarland ist, wie wir schon hörten, SPD-regiert.
Dann folgt Bremen mit 142 DM. Dann folgt — als erstes CDU-Land — mit großem Abstand Schleswig-Holstein.
Das Schlußlicht bildet Bayern mit 28 DM. — Ich meine, daß man eine derartige Behauptung wirklich nicht aufrechterhalten kann.Wissen Sie, das Schöne in der Finanzpolitik ist ja, daß man hier nicht verfahren kann wie in der Bildungspolitik oder in sonstigen Bereichen, indem man nur philosophiert und Meinungen austauscht. Hier zählen die Zahlen, und die Zahlen in der Finanzpolitik sprechen ganz eindeutig für unsere Bundesregierung. Deswegen meinen wir, daß dieser Gesetzentwurf sehr gut ist. Unsere Fraktion fordert den Bundesminister Stoltenberg nachdrücklich auf, seinen konsequenten Kurs in der Finanzpolitik unbeirrt weiterzusteuern.
Herr Abgeordneter Brück, ich hätte den Redner schon unterbrochen, aber seine Redezeit war schon abgelaufen.
— Nein, das wollen wir nicht einführen. Wir werfen sonst den ganzen Zeitplan über den Haufen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Vogel . Bitte sehr.
Herr Präsident! Liebe Damen und Herren! Lieber Kollege Uldall, ich bin Ihnen recht dankbar, daß Sie wenigstens ein bißchen Stimmung in eine Debatte über diesen Gesetzentwurf gebracht haben. Man beginnt ja schon fast selbständig mit Schnarchbewegungen, wenn man den Titel dieses Gesetzentwurfs liest.
Nur haben Sie sich im weiteren Verlauf Ihrer Rede vielfach nicht an den Gesetzentwurf gehalten.Worum geht es? Der Gesetzentwurf besteht aus zwei Teilen.Erstens soll sich der Umsatzsteueranteil der Länder in den Jahren 1986 und 1987 um ein halbes Prozent auf 35 % des Umsatzsteueraufkommens erhöhen. Damit steigen die Einnahmen der Länder aus dem Umsatzsteueraufkommen um 594 Millionen DM im nächsten Jahr und um 625 Millionen DM im übernächsten Jahr. Das muß man einmal ins Verhältnis setzen zu dem Gesetzentwurf, der morgen behandelt wird; Herr Schlatter hat ja dankenswerterweise darauf hingewiesen. Durch den Gesetzentwurf zur Verbesserung der Abschreibungsbedingungen für Wirtschaftsgebäude werden sich die Steuereinnahmen der Länder im übernächsten Jahr um 893 Millionen DM verringern, die der Gemeinden um 523 Millionen DM. Der vorliegende Entwurf läßt sich also wirklich nicht als Ausgleich von Mindereinnahmen der Länder feiern, von den Steuermindereinnahmen durch das Steuerentlastungsgesetz, das ab 1986 wirksam wird, ganz zu schweigen.Es ist auch äußerst problematisch, daß die Mindereinnahmen der Gemeinden durch eine Veränderung in der Aufteilung des Umsatzsteueraufkommens zwischen dem Bund und den Ländern berücksichtigt und insoweit ausgeglichen werden sollen. Es ist nämlich naiv, anzunehmen, daß dieser Ausgleich bei den Gemeinden auch ankommt. Das hat man ja insbesondere auch in Nordrhein-Westfalen gesehen, wo Herr Rau nach seiner Wiederwahl zum Ministerpräsidenten als eine der ersten Maßnahmen die Verbundquote, also den Anteil der Gemeinden am Steueraufkommen, verringert hat. Auch für den Finanzausgleich bewahrheitet sich also das Sprichwort: Den Letzten beißen die Hunde, und in diesem Fall sind das halt die Gemeinden.Zweitens. Die besondere Brisanz an dem vorliegenden Entwurf zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes liegt in der Verteilung der Ergänzungszuweisungen des Bundes aus dem Umsatzsteueraufkommen. Das zeigt sich daran, daß der Verteilungsschlüssel an Hand der Steuerkraftmerkmale der Jahre 1968/69 entwickelt wurde und daß demzufolge z. B. Bayern dort nach wie vor enthalten ist. Herr Uldall, ein bißchen unwahrhaftig sind Sie schon, wenn Sie sagen, die CDU-regierten Bundesländer stünden besser da. Dann schaut man sich einmal an, wie sich das aufteilt. Dort steht: Bayern, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein, wobei Bremen dieses Jahr erstmals aufgenommen wurde. Von sechs Bundesländern, die diese Ergänzungszuweisungen überhaupt kriegen, sind also vier CDU- bzw. CSU-regierte Länder. Und das Saarland war bis vor kurzem auch ein CDU-regiertes Bundesland.
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Vogel
Man muß sich einmal folgendes überlegen: Bayern z. B. — das wurde auch von Herrn Schlatter angesprochen — erhält dieses Jahr 356 Millionen DM an Ergänzungszuweisungen. Damit kann man natürlich Wiederaufbereitungsanlagen finanzieren. Wenn man dann andererseits immer wieder von dem Nord-Süd-Gefälle hört, davon, daß Bayern mit die niedrigste Arbeitslosigkeit hat: Ja, wie verträgt es sich dann, daß Hamburg, die Stadt, aus der Sie kommen, überhaupt keine müde Mark aus diesen Ergänzungszuweisungen bekommt?
— Sie können gern eine Zwischenfrage stellen, in der Sie das erklären.Die Brisanz dieser Verteilung zeigt sich aber auch daran, daß von sechs Bundesländern Normenkontrollklagen zum horizontalen Finanzausgleich anhängig sind, u. a. bezüglich der Förderzinsen von Niedersachsen.Hessen gehört — um das auch einmal vor dem Hintergrund der Kapitalfluchtdrohungen zu erwähnen —
zu den Ausgleich zahlenden Bundesländern — aber darüber werden wir j a morgen sprechen —, obwohl oder vielleicht auch weil dort die GRÜNEN im Landtag vertreten sind.
Zu der Frage, ob die Förderzinsen einzubeziehen sind: Wir sind selbstverständlich der Auffassung, daß sie einzubeziehen sind.Nordrhein-Westfalen möchte eine besondere Belastung des Landes als Stahlstandort und als Kohlerevier geltend machen. Deswegen beansprucht es auch einen höheren Anteil an den Ergänzungszuweisungen.
— Sie möchten gern erstmals einen haben. — Sie begründen das damit, daß auch die Lasten aus den Seehäfen in Bremen, Hamburg und Niedersachsen im Finanzausgleich besonders berücksichtigt werden. Hier zeigt sich sehr deutlich, wie begrenzt die Kriterien für die Verteilung der Ergänzungszuweisungen auf Fragen der industriellen Wirtschaft sind. Wir meinen, daß es eine bessere Weichenstellung wäre, wenn gerade eine solche Änderung der Finanzkraft eines Landes zu Ausgleichszahlungen führen würde, die sich daraus ergibt, daß auf die weitere Ausbeutung der Natur zugunsten von deren Schutz verzichtet wird, z. B. zum Schutz des Wattenmeeres. Es wäre viel angebrachter, den Ländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein für die Erhaltung des Wattenmeeres, für den Verzicht auf industrielle und wirtschaftliche Nutzung des Wattenmeeres einen Ausgleich zu zahlen anstatt für besondere Industrialisierungspolitik.
Ich möchte zum Schluß noch darauf zu sprechen kommen, daß jetzt erstmals auch Bremen Ergänzungszuweisungen erhält, und zwar in Höhe von 94,4 Millionen DM. Da ist zunächst einmal zu fragen: Welchen Preis hat Bremen dafür gezahlt, daß es erstmals bei den Ergänzungszuweisungen berücksichtigt worden ist? Ich darf daran erinnern, daß das Land Bremen im Bundesrat erst kürzlich dabei geholfen hat, zwei umstrittene Entscheidungen der Bundesregierung durchzusetzen: zum einen die Frühpensionierung der Offiziere, zum anderen die Zahlungen für die Wiederaufbereitungsanlage. Ich stelle mir hier schon die Frage, inwieweit dieses Wohlverhalten des Landes Bremen dazu geführt hat, daß ihm jetzt erstmals Ergänzungszuweisungen bewilligt worden sind.Unserer Meinung nach ist es an der Zeit, daß die Verteilung der Ergänzungszuweisungen aus der Einflußnahme der Bundesregierung herausgenommen wird. Um im Finanzausgleich ein wenig bessergestellt zu werden, darf nämlich nicht der Ausverkauf der Natur, der Ausverkauf des Gesundheitsschutzes der Bürger als Preis verlangt werden, auch wenn die Koalitionsparteien wie auch die SPD bereit sind, ihn weiter zu zahlen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der leider nicht mehr unter uns weilende Kollege Struck hat auf die mangelnde Beteiligung des Bundesrates hingewiesen. Als überzeugter Föderalist möchte ich das mit ihm bedauern,
muß aber gleichzeitig sagen: Nach der Besetzung dieses Hauses zu urteilen, scheint auch der Deutsche Bundestag nicht gerade vor Neugier zu platzen, was die einzelnen Fraktionen zu dem vorliegenden Gesetz zu sagen haben. Das liegt an einem Gewöhnungsprozeß, und der Gewöhnungsprozeß besteht darin, daß ein Bundesstaat ohne Streit zwischen Bund und Ländern über die Finanzverteilung gar nicht zu denken ist. Solange es einen Bundesstaat gibt, wird das umstritten sein. Die Fronten haben gewechselt: Zu Bismarcks Zeiten waren die Matrikularbeiträge ein Instrument, um das Budgetrecht des Reichstags zu beschränken. Heute versuchen wir, mit dem Länderfinanzausgleich nicht die mehr oder weniger geglückte oder verfehlte Haushaltspolitik eines Landes, sondern, wie es so schön heißt, die unterschiedliche Finanzkraft der Länder auszugleichen.Da ist die erste Frage: Ist denn der Anteil von weiteren 0,5 % — auf deutsch: 600 Millionen DM pro Jahr — richtig bemessen, oder müßte der Bund den Ländern einen höheren Anteil geben? Da muß man einfach zugeben, daß die Finanzentwicklung der Länder im Durchschnitt nicht schlecht ist. Die Ausgaben sind um 2,5 % gestiegen — immer im Durchschnitt —, die Einnahmen um 4,3 %, die Steuerein-
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Dr. Hirschnahmen der Länder um 5,1 %. Das heißt, sie haben von den progressionsbedingten Steuereinnahmen mehr profitiert als der Bund. Sie haben damit die Nettokreditaufnahme immerhin senken können. Die Kreditfinanzierungsquote der Länder ist von 9,8 % auf 8,6 % gesunken und liegt damit unter der des Bundes. Dazu haben auch die Haushaltsbegleitgesetze des Bundes — viel geschmäht — mit beigetragen.Wir sind der Meinung, daß dieses halbe Prozent der durchschnittlichen Länderfinanzentwicklung jedenfalls angemessen ist: zum einen deswegen, weil — darauf haben Sie, Herr Uldall, hingewiesen — die Quote schon in den vergangenen Jahren, zuletzt 1984, angehoben worden war, zum anderen, weil die Länder an der Steuerprogression beteiligt waren und weil der Bund schließlich Ausgaben übernehmen muß, an denen die Länder nicht beteiligt sind, also ab 1986 z. B. 4 Milliarden DM a conto der Europäischen Gemeinschaft.In der Tat, wir müssen uns bei der Betrachtung der Entwicklung davor hüten, unser Urteil an der aktuellen Haushaltslage oder an der Finanzpolitik eines Landes auszurichten. Da stimme ich dem zu, Herr Kollege Uldall, was Sie über Nordrhein-Westfalen gesagt haben. Sie sind ja in völliger Übereinstimmung mit Finanzminister Posser, der gesagt hat, daß sich das Land Nordrhein-Westfalen seit Anfang 1980 — also nicht seit der Regierungsübernahme durch Rau, sondern seit der absoluten Mehrheit der SPD in Nordrhein-Westfalen — im Jahr um 3 bis 4 Milliarden DM weniger hätte verschulden dürfen, wenn es im Durchschnitt der Schuldenentwicklung der Länder hätte bleiben wollen. Das ist in der Tat zutreffend. Nordrhein-Westfalen nimmt in diesem Jahr allein 7 Milliarden DM auf. Das gibt eine Zinsbelastung von 500 Millionen DM pro Monat. Das Ganze hat sich nicht mal auf den Arbeitsmarkt segensreich ausgewirkt. Denn die Folge dieser Haushaltspolitik ist, das das Land NordrheinWestfalen über 9 000 Planstellen im nächsten Haushaltsjahr streichen und wegfallen lassen muß.Man muß sich also fragen, wie die Auswirkung auf die unterschiedliche Finanzkraft ist, nicht auf die Haushaltspolitik eines Landes. Es ist hier darauf hingewiesen worden, daß Bremen aufgenommen worden ist. Das Saarland bekommt von den Bundesergänzungszuweisungen nahezu 10 %. Man muß aber fairerweise auch sagen, Herr Kollege Uldall, daß die Frage, ob man ein Nehmerland oder ein Geberland ist, offenkundig — so müßten Sie argumentieren — nicht allein die Folge der Regierungskunst einer Regierung ist. Denn sonst wäre es ja kaum erklärlich, warum Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein seit Jahrzehnten unverändert Nehmerländer des Bundes sind. Das hängt also sicherlich nicht allein von der Zusammensetzung einer Regierung ab.Es ist hier erwähnt worden, daß sechs Länder zum erstenmal gegen den Länderfinanzausgleich klagen. Aber sie klagen im Grunde genommen nicht gegen den Bund, sondern sie klagen wegen der Verteilung untereinander. Die einen sagen, daß die Sonderlasten nicht angemessen berücksichtigt werden, und die anderen sagen, daß die Sondereinnahmen nicht angemessen berücksichtigt werden, also z. B. die hohe Belastung Nordrhein-Westfalens im Bereich der Kohle, wo Nordrhein-Westfalen im Interesse einer nationalen Energiereserve hohe Kosten aufwendet, während auf der anderen Seite Niedersachsen mit dem Förderzins aus der Erdölförderung nur schrittweise und nur unvollständig auf der Einnahmeseite im Länderfinanzausgleich berücksichtigt wird. Das ist auch nach unserer Meinung nicht in Ordnung. Wir glauben, daß der Finanzausgleich der Länder untereinander nicht befriedigend ist. Aber es hat wenig Sinn, wenn der Bund ein Gesetz vorlegt, mit dem er die Mehrheit der Länderkammer nicht erreicht. Das hat in der Tat wenig Sinn. Ich finde, es ist kein Ruhmesblatt des kooperativen Föderalismus, wenn die Länder diese Frage, die politisch gelöst werden muß, einem Gericht zuschieben, zum erstenmal einem Gericht zuschieben, weil das eine Frage ist, die nicht in der Verfassung steht, sondern die politisch durch die Bereitschaft der Länder gelöst werden muß, fair miteinander umzugehen. Ich kann nur wiederholen, wir halten sowohl die Entscheidung zu klagen wie aber auch die Verteilung der Bundesergänzungszuweisungen für unbefriedigend. Wir wären dankbar, wenn die Länder — schade, daß niemand der Herren hier ist — bereit wären, im Laufe dieses Gesetzgebungsverfahrens in dieser Frage aufeinander zuzugehen und gemeinsam zu prüfen, ob sie nicht durch vernünftige Entscheidungen die Durchführung des Rechtsstreites erübrigen können. Unsere Fraktion wird sich darum bemühen, daß dieser Gesetzentwurf sobald wie möglich verabschiedet werden kann.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/3972 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. — Andere Vorschläge gibt es anscheinend nicht. Dann darf ich voraussetzen, daß die Vorschläge des Ältestenrates akzeptiert sind.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten AKP-EWG-Abkommen von Lomé vom 8. Dezember 1984 sowie zu den mit diesem Abkommen in Zusammenhang stehenden Abkommen— Drucksache 10/3960 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
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Vizepräsident StücklenMeine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Dies ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Köhler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf zum dritten Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und den 66 Staaten Afrikas, der Karibik und des pazifischen Raums, das am 8. Dezember 1984 unterzeichnet wurde, ist von großer außen-, handels- und entwicklungspolitischer Bedeutung. Es stellt einen weiteren wichtigen Schritt der Entwicklung der Beziehungen der Gemeinschaft zur Dritten Welt dar, von deren Staaten nun über die Hälfte unsere Vertragspartner sind.Die Gemeinschaft leistet mit diesem Abkommen einen bedeutenden Beitrag zum Abbau von Konflikten und damit zur Erhaltung des Friedens. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft haben bei den Verhandlungen von Lomé III Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit in einem wichtigen außen- und integrationspolitischen Bereich bewiesen. Sie legen Zeugnis ab von ihrer Verbundenheit mit den AKP-Partnerstaaten und zeigen, daß sie bereit und in der Lage sind, ihrer weltweiten Verantwortung gerecht zu werden.Die Bundesregierung hat zum Zustandekommen dieses Vertrages einen wichtigen Beitrag geleistet. Unter unserer Präsidentschaft konnten im ersten Halbjahr 1983 wichtige Vorarbeiten für die Verabschiedung eines Verhandlungsmandats der Gemeinschaft abgeschlossen werden. Es ist uns gelungen, ein in seinen handelspolitischen und entwicklungspolitischen Komponenten ausgewogenes Abkommen abzuschließen.Ich möchte die Vorlage dieses Gesetzentwurfes zum Anlaß nehmen, einen Blick auf die Entwicklungspolitik der Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit zu werfen. Die Bundesregierung unterstützt die Entwicklungszusammenarbeit der Gemeinschaft nach Kräften. Sie erkennt in ihr eine willkommene Ergänzung ihrer eigenen Bemühungen, zur Linderung der Not in der Dritten Welt beizutragen und auf einen friedlichen Ausgleich zwischen Nord und Süd hinzuwirken.Der Beitrag zur EG-Entwicklungszusammenarbeit ist für uns auch ein wichtiges Stück Europapolitik. Ich darf Sie daran erinnern, daß die Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaft nicht als eigenständiger Politikbereich in den Römischen Verträgen aufgeführt ist. Sie hat sich als Annex der Handelspolitik und der Beziehungen einiger Mitgliedstaaten zu ihren ehemaligen Kolonien zum zweitbedeutendsten Politikbereich neben der Agrarpolitik entwickelt. Insofern ist das Zusammenwirken der Mitgliedstaaten und der EG-Kommission bei der Formulierung und Durchführung einer gemeinsamen Politik gegenüber den Entwicklungsländern eine Stärkung der europäischen Integration. Sie dient der einheitlichen Darstellung Europas auf einem zentralen Feld der Außen- und Friedenspolitik.Im Haushaltsjahr 1984 wurden aus Brüssel über 4 Milliarden DM an Entwicklungsländer ausgezahlt. Dazu kommen noch 1,6 Milliarden DM von der Europäischen Investitionsbank. Wenn man das mit dem Volumen unseres Bundeshaushalts für Entwicklungshilfe in Beziehung setzt, wird klar, daß schon allein diese Größenordnung Lomé III zu einem wichtigen Bestandteil unserer Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt macht.Die Abkommen von Lomé gelten als der Kernbereich der EG-Entwicklungspolitik. Mit dem ersten Abkommen von Lomé wurde 1975 Neuland beschritten, als zum ersten Mal eine Gruppe von Industrieländern den Versuch unternahm, mit einer Gruppe von Entwicklungsländern alle Bereiche, die für ihre Zusammenarbeit von Bedeutung sind, in einem einheitlichen Vertragswerk völkerrechtlich verbindlich zu verankern. Auf diese Weise wurden für einen Zeitraum von fünf Jahren Handelspräferenzen, Finanzhilfen und als originellste Neuerung ein System zur Stabilisierung der Exporterlöse festgelegt.Neben diesen Instrumenten wurden auch die Grundideen, die das Vertragswerk prägten, fortgeschrieben und im zweiten Abkommen in erweiterter Form verankert, dazu besonders das Recht der AKP-Staaten auf eigenständige Festlegung der Ziele und Prioritäten ihrer Entwicklung und die Partnerschaftlichkeit und Verantwortungsteilung bei der Durchführung der Zusammenarbeit.Auf der Basis dieser Grundgedanken wurden in das dritte Abkommen von Lomé Anpassungen und Verbesserungen aufgenommen, die als Reaktion auf ein tiefgreifend verändertes entwicklungspolitisches Umfeld erforderlich waren. Wesentlich deutlicher als in der Vergangenheit wird künftig die Entwicklung des ländlichen Raumes und die Nahrungsmittelproduktion in den Vordergrund gestellt. Die Konzentration auf die Ernährungssicherung folgt der Erkenntnis, daß sich Entwicklungskonzepte zur Industrialisierung und Integration im Welthandel als sehr begrenzt, ja zum Teil als schädlich erwiesen haben. Die Verstärkung der Anstrengungen zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln ist nicht nur aus humanitären Gründen geboten, sondern auch aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht Grundvoraussetzung für jegliche Fortentwicklung in anderen Sektoren.Die zweite wichtige Neuerung ist die Herausstellung des Dialogs als Methode der Zusammenarbeit, auch wenn das Wort Dialog so nicht in der von uns gewünschten Deutlichkeit im Vertrag zum Ausdruck kommt.Die Bundesregierung hat sich für die Aufnahme dieses Prinzips, das sie auch in ihrer bilateralen Zusammenarbeit verfolgt, mit Nachdruck eingesetzt, weil wir glauben, auf diese Weise zu einer bes-
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Parl. Staatssekretär Dr. KöhlerSeren Herstellung entwicklungspolitisch sinnvoller Rahmenbedingungen und damit auch zu einer höheren Wirkung des Mitteleinsatzes zu kommen.Die Finanzausstattung des dritten Lomé-Abkommens wurde um über 50 % gesteigert und beläuft sich nun auf 19 Milliarden DM. Der deutsche Anteil beträgt 4,4 Milliarden DM oder 26 %.Dies allein bietet natürlich noch keine Gewähr dafür, daß die Zusammenarbeit mehr Wirkung erzielt. Aber genau das ist das vorrangige Ziel, das wir im Auge behalten müssen, um Hungerkatastrophen, die die Weltöffentlichkeit immer wieder erschüttern und die Entwicklungshilfe auf eine schwere Probe stellen, besser vorzubeugen.Dialog — das möchte ich noch einmal ganz klarstellen — heißt nicht Eingriff in die Entscheidungsautonomie der Empfängerländer. Sie bestimmen nach wie vor die Ziele und Inhalte ihrer Entwicklung. Die Praktizierung des Dialogs, aber mit dem Ziel, die Hilfe dort zu konzentrieren, wo mögliche Erfolge erreichbar erscheinen, liegt im vorrangigen Interesse der Entwicklungsländer und auch der europäischen Steuerzahler, die die öffentlichen Mittel aufzubringen haben.Auch die Aufnahme einer Menschenrechtsklausel in das neue Lomé-Abkommen ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Der Entwicklungsprozeß kann nur dort den Menschen erreichen und in eine echte Verbesserung seiner Lebensbedingungen einmünden, wo die Ausübung persönlicher Grundfreiheiten, die Partizipation am Entwicklungsprozeß, die Ausübung mindestens der grundlegendsten Grundrechte ansatzweise, aber möglichst darüber hinausgehend und zunehmend, möglich ist.
Die Bundesregierung bewertet das dritte LoméAbkommen positiv. Die von der Europäischen Gemeinschaft für die Zusammenarbeit mit den AKP- Staaten entwickelten Instrumente und Verfahren haben sich im Grundsatz bewährt. Dies hat zuletzt die Soforthilfe für die von der Dürre betroffenen Länder Afrikas bewiesen, die von der Europäischen Gemeinschaft koordiniert wurde. Durch die Vorhersehbarkeit und Verläßlichkeit der Hilfe der Europäischen Gemeinschaft konnten die Folgen der wirtschaftlichen Rezession für die AKP-Staaten gemildert und sie auf ihrem Weg zu mehr wirtschaftlicher und politischer Eigenständigkeit gestärkt werden.Dieser positive Gesamteindruck kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch die Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaft verbesserungsfähig ist. Die Bundesregierung wirkt darauf hin, daß diese Entwicklungszusammenarbeit der Gemeinschaft nicht in ihrer auf historischen Gründen beruhenden Konzentration auf Afrika verharrt, sondern sich gegenüber anderen entwicklungsbedürftigen Regionen in Lateinamerika und Asien zunehmend öffnet.Zu einem einheitlichen Konzept ihrer DritteWelt-Politik gehört auch, daß die Europäische Gemeinschaft die Widersprüche, die sich aus ihren verschiedenen Politiken ergeben, auflöst. Ich denke dabei insbesondere an die Konfliktfelder zwischen der Handels- und Agrarpolitik auf der einen Seite und der Entwicklungspolitik auf der anderen.Schließlich sind auch in der Verwaltung der Hilfe durch die Kommission der Europäischen Gemeinschaft nach unserem Urteil Verbesserungen denkbar und möglich. Wir meinen: Insbesondere sind die Delegationen der Kommission in den AKP-Ländern personell zu verstärken und mit mehr Entscheidungskompetenz auszustatten. Wenn ich gerade die Leistung der Delegation in Äthiopien bei der Hungerbekämpfung sehe — und ich möchte unserem Landsmann, der dort als Delegierter gearbeitet hat, bei dieser Gelegenheit unseren hohen Respekt und unsere Anerkennung aussprechen —,
dann zeigt das, was mit der Möglichkeit zu selbständiger Entscheidung vor Ort in Notsituationen getan werden kann. Dieser Erfahrung sollte man Rechnung tragen.Die Bundesregierung ist bei der Diskussion über eine Verbesserung der Abläufe und der Verwaltung der Hilfe gern bereit, ihre eigenen, aus der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit gewonnenen Erfahrungen zur Verfügung zu stellen.
Die Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaft liegt uns am Herzen. Wir nehmen unsere Verantwortung für Europa auch in dieser Hinsicht sehr ernst und werden diese Politik weiterhin in konstruktivem Geist — das kann auch heißen: mit kritischen Bemerkungen — begleiten und mitgestalten, aber immer mit dem Ziel, zu besseren Ergebnissen zu kommen.Es wäre jetzt notwendig und wünschenswert, das Abkommen rasch in Kraft zu setzen. Die Bundesregierung würde es daher vor allem auch im Interesse der Partnerstaaten sehr begrüßen, wenn der Entwurf des Zustimmungsgesetzes vom Deutschen Bundestag zügig beraten werden könnte.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Brück.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will es gleich zu Beginn sagen: Die SPD-Fraktion wird dem Gesetz zu dem Dritten AKP-EWG-Abkommen von Lomé vom 8. Dezember 1984 zustimmen.
Dieses Abkommen ist weitgehend identisch mit dem Abkommen von Lomé aus dem Jahr 1979, das noch von der Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung abgeschlossen worden ist.Das Abkommen von Lomé III verbindet heute insgesamt 76 Staaten miteinander, in denen rund 670 Millionen Menschen leben. Es schließt 10 der
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Brückwichtigsten Industriestaaten mit mehr als der Hälfte aller Entwicklungsländer zusammen. Seine fast 300 Artikel regeln die wirtschafts-, handels- und entwicklungspolitischen Beziehungen zwischen den Vertragspartnern in bisher nicht gekanntem Umfang. Schon aus diesen Gründen gilt noch immer: Das Abkommen kann Modellcharakter für eine künftige leistungsfähige, gerechte und soziale Weltwirtschaft haben.Hier aber setzt trotz unserer grundsätzlichen Zustimmung unsere Kritik an dem neuen Abkommen ein. Verhandlungen über die Fortschreibung der bisherigen Abkommen von Jaunde und Lomé bieten immer noch die Möglichkeit, dem Nord-Süd-Dialog insgesamt zusätzliche Impulse zu geben. Dies ist mit dem neuen Abkommen nicht erreicht worden. Bedenkt man, daß die politische und ökonomische Situation der meisten Mitgliedstaaten in Afrika, der Karibik und des Pazifiks heute ernster ist als zur Zeit des Lomé-I-Vertrages und auch des Lomé-Il-Vertrages, so bedeutet die Fortführung der Lomé-Il-Politik einen Stillstand, wenn nicht einen Rückschritt.Nun will ich die Schuld daran nicht allein der Europäischen Gemeinschaft oder ihren Mitgliedstaaten zuschreiben. Sicher ist auch die andere Seite nicht immer sehr beweglich gewesen. Eine ganze Reihe Defizite von Lomé III gehen jedoch ganz klar auf das Konto der Gemeinschaft, zum Teil auf das der Bundesregierung. Das wird an zwei Beispielen deutlich. Im Handelsbereich sind nur marginale Zugeständnisse gegenüber früheren Abkommen gemacht worden. Die Entwicklungsländer stehen vor offenen Märkten nur dort, wo sie kaum konkurrenzfähige Produkte anbieten können. Sie stehen aber vor unüberwindlichen Schranken im Agrarbereich, wo sie natürlich Standortvorteile besitzen.Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Der Einfuhr von Computern aus Burkina Faso oder dem Tschad stehen keinerlei Zollhemmnisse entgegen. Nur werden solche Gegenstände in diesen Ländern nicht produziert. Anders sieht es bei Tomaten oder Zwiebeln aus. Hier gibt es Zollhemmnisse, Kontingentierung, und da sind wir nur im Winter liberal, wenn diese Produkte bei uns nämlich nur unter Glas wachsen.Vielleicht wird an diesem Beispiel auch mancher Widersinn der europäischen Agrarpolitik deutlich. Wir produzieren in Mitteleuropa unter Glas mit hohem Energieaufwand beispielsweise Tomaten, die zwar wunderschön aussehen, aber nach allem schmecken, nur nicht nach Tomaten. Warum importieren wir nicht aus Nordafrika in der Sonne gereifte Tomaten in dem Ausmaß, wie bei uns Bedarf vorhanden ist?Ein zweiter Punkt. Bei der Ausstattung der europäischen Finanzhilfe für die AKP-Staaten haben sich die Europäer, allen voran die Bundesregierung, von ihrer knauserigsten Seite gezeigt. Die Mittel für den europäischen Entwicklungsfonds sind von 5,7 Milliarden ECU auf lediglich 7,4 Milliarden ECU angestiegen, für fünf Jahre weniger als die Hälfte dessen, was allein 1984 für den europäischen Agrarmarkt aufgewendet worden ist. Der deutsche Anteil am europäischen Entwicklungsfonds ist dabei um fast 2% auf 26% gefallen.Schließlich muß man auch kritisch sehen, daß es keinen Fortschritt in der Koordinierung der Zusammenarbeit der Gemeinschaft selbst und ihrer Mitgliedstaaten mit den Entwicklungsländern gibt. Nach wie vor steht das Instrumentarium der Gemeinschaft neben dem Instrumentarium der Mitgliedstaaten. Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung hatte schon 1975 versucht, einen Stufenplan in der Europäischen Gemeinschaft durchzusetzen. Sie wollte eine bessere Koordinierung der Entwicklungspolitiken der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft untereinander in der ersten Stufe. In der zweiten Stufe sollten diese Politiken harmonisiert werden, um schließlich in der dritten Stufe, ganz auf die Gemeinschaft überzugehen. Dies hat jetzt auch das Europäische Parlament in seinem Vertragsentwurf für eine Europäische Union gefordert. Entwicklungspolitik soll in einer Union nur noch Aufgabe dieser Union sein. Ich halte dies für ein erstrebenswertes Ziel. Wettbewerb ist im Prinzip wünschenswert und belebend. Der Wettbewerb aber, wie er zur Zeit zwischen den Geberländern in der Entwicklungspolitik um die besten Projekte in den Entwicklungsländern stattfindet, ist schädigend. Es ist außerdem eine Überforderung der Verwaltungen der Entwicklungsländer, mit sovielen Verwaltungen in den Geberländern zu verhandeln.Wäre Entwicklungspolitik nur Sache der Gemeinschaft, dann hätten die Empfängerländer statt jetzt viele Partner nur noch einen Partner in der großen Europäischen Gemeinschaft, nämlich die Kommission. Deshalb hatte ich es für wünschenswert, daß die Bundesregierung hier über ihren Schatten springt, noch einmal einen Vorstoß unternimmt, um die entwicklungspolitische Zusammenarbeit zu europäisieren. Hier hat sie dann die volle Unterstützung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, und wir werden — ich will es zum Schluß noch einmal sagen — auch diesem Vertragsentwurf zustimmen.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Höffkes.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Anfang Dezember 1984 unterzeichneten die EWG und ihre mittlerweile 65 Partnerstaaten — davon 44 in Afrika, 13 in der Karibik und 8 im südlichen Pazifik, die sogenannten AKP-Staaten — in der togolesischen Hauptstadt Lomé eine neue Konvention, die unter Lomé III jetzt vorliegt und mit der die Partnerstaaten vom März 1985 bis Februar 1990 ihre handels- und entwicklungspolitischen Beziehungen zueinander regeln.Wie die vier vorangehenden Konventionen, nämlich Jaunde I und II sowie Lomé I und II, so hat mithin auch Lomé III nur eine begrenzte Laufzeit, entsprechend den Vorstellungen der AKP-Länder.
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HöffkesDas vorliegende Lomé-III-Abkommen ist der ernsthafte Versuch, die Zusammenarbeit mit der Dritten Welt künftig noch wirksamer zu gestalten. Die traditionell partnerschaftlichen Beziehungen zu den AKP-Staaten werden durch dieses neue Abkommen fortgesetzt und intensiviert. Die Vereinbarungen gehen von der Respektierung der Souveränität der Entwicklungsländer aus, die für die Festlegung von Zielen und Prioritäten bei konkreten Projekten selbst verantwortlich sind.Als vordringlich werden die Entwicklungen der ländlichen Gebiete und die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung angesehen. Nahrungsmittelhilfe kann zwar zur Überbrückung dienen, wichtig ist jedoch die Förderung der Selbstversorgung, was durch einen umfangreichen Maßnahmenkatalog unterstützt wird. Ein verbesserter Zugang der AKP- Staaten zur Agrarforschung soll darüber hinaus die Grundlage für eine wirkungsvolle ländliche Entwicklung bieten.Erstmals wird in einem Lomé-Abkommen auch ausdrücklich auf die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen eingegangen. Überlegungen zur Bekämpfung von Dürre und Wüstenbildung sollen zukünftig in Maßnahmen der ländlichen Entwicklung einbezogen werden.Wie Lomé II enthält das neue Abkommen Regelungen über den freien Zugang zum Gemeinschaftsmarkt.Meine Damen und Herren, 99 % aller Ursprungswaren der AKP-Staaten sind zollfrei und ohne mengenmäßige Beschränkung zur Einfuhr in die EG zugelassen. Das neue Abkommen beinhaltet zusätzlich eine Toleranzregelung, die den EG-Markt auch für einen Teil der gewerblichen Güter öffnen soll. In der landwirtschaftlichen Erzeugung wären aus der Sicht der Entwicklungsländer noch Verbesserungen möglich. Die AKP-Staaten überschätzen jedoch die Bedeutung, die eine vollständige Freigabe von Exporten haben würde. Bereits bestehende Freigrenzen können aus Vermarktungsschwierigkeiten oft nicht genutzt werden. Trotzdem wurde das Verfahren für einen Marktzugang landwirtschaftlicher Erzeugnisse erleichtert.Kernstück des Abkommens ist das STABEX-System, welches Ausgleichszahlungen vorsieht, wenn Erlöse aus dem Export wichtiger Agrarprodukte zurückgehen. Diese bewährte Zahlungsbilanzhilfe soll verhindern, daß entwicklungspolitische Maßnahmen der Empfängerländer durch Exporterlösausfälle gefährdet werden. Gegenüber Lomé II konnten Verbesserungen des STABEX-Systems vereinbart werden.Erstens. Die Produktliste der AKP-Staaten wurde um 5 Erzeugnisse erweitert: Muskatnüsse, Karitenüsse und -öl, Mangofrüchte sowie getrocknete Bananen. Somit sind es jetzt 48 Produkte.Zweitens. Das STABEX-System wurde finanziell verstärkt. Der Fonds von 557 Millionen ECU — gleich 1,242 Milliarden DM — wurde auf 925 Millionen ECU — das sind 2,67 Milliarden DM — aufgestockt.Drittens. Bedingungen für die Gewährung von Transfers wurden günstiger gestaltet, z. B. durch die Möglichkeit, geschuldete Beträge in nationaler Währung zurückzuzahlen.Viertens. Der bisher unzureichenden Transparenz der Mittelverwendung wird durch die Forderung nach Verwendungsberichten begegnet. Liegen innerhalb von zwölf Monaten keine Angaben vor, dann können Transferzahlungen ausgesetzt werden.Auf die Förderung des Bergbaus im SYSMIN- System wird größeres Gewicht gelegt. Der Sonderfonds wird von 280 Millionen ECU — das sind 624 Millionen DM — aufgestockt auf 415 Millionen ECU .Neu ist die Ausnahmeregelung, welche den Empfängerkreis ausweitet. Der größte Teil der 7,5 Milliarden ECU des europäischen Entwicklungsfonds entfallen auf finanzielle Zusammenarbeit. Den am wenigsten entwickelten Staaten werden besonders günstige Bedingungen, nämlich ein Zinssatz von 0,5 %, eine Laufzeit von 40 Jahren bei 10 tilgungsfreien Jahren, gewährt. Das sind Konditionen, von denen sonst jeder nur träumen kann.Neben traditionellen Investitionsvorhaben sieht Lomé III die verstärkte Förderung von Sektorprogrammen vor, desgleichen stärkere Betonung von Kleinstprojekten sowie Soforthilfemaßnahmen im Flüchtlingsprogramm. Private Investitionen werden durch Investitionsschutzabkommen sowie verstärkten Informationsaustausch begünstigt. Dadurch wird der Zufluß privaten Kapitals aus der EG in die AKP-Staaten erleichtert.Erstmals ist der intensive Meinungsaustausch zwischen AKP-Staaten, EG-Kommission und den EG-Mitgliedstaaten ausdrücklich gefordert. Dieser „Politik-Dialog" soll zu mehr Effiziens in der Zusammenarbeit und zur besseren Projektabstimmung führen.Das Anliegen der EG-Mitgliedstaaten, die Menschenrechtsklausel im Vertrag zu verankern, hatte Erfolg. Es wäre wünschenswert, daß sich Lomé III auch auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten auswirkt.Daß die EG dem Abkommen größte Bedeutung beimißt, zeigt die Mittelaufstockung um 50 % von 11,6 Milliarden DM auf 16,725 Milliarden DM. Die Bundesrepublik ist absolut und prozentual mit dem größten Beitrag aller EG-Staaten hieran beteiligt, nämlich mit 4,4 Milliarden DM, dies sind 26,06 %.Im ganzen gesehen ist Lomé III in wichtigen Punkten ein beachtenswerter Fortschritt. Wenn auch nicht alle Wunschvorstellungen erfüllt werden können, muß man beachten, daß noch jeder einzelne EG-Mitgliedstaat seine eigene Entwicklungspolitik macht und dabei umfangreiche Finanzmittel einsetzt.Noch ein Wort zu dem, was mein Herr Vorredner, der Herr Kollege Brück, gesagt hat: Die Zusammenfassung übernationaler und nationaler Finanzmittel wäre durchaus zu begrüßen, aber erst dann,
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Höffkeswenn die Befürchtungen vor einer gewaltigen Entwicklungsbürokratie in Brüssel aus der Welt geschafft werden könnten, was sicherlich noch lange auf sich warten läßt.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Volmer.
Herr Präsident! Meine irrelevanten Damen und Herren!
— Irrelevant sind Sie genauso wie ich bei dieser Debatte, weil wir bei dem, was im Moment verhandelt wird, nicht mehr das geringste mitzubestimmen haben.Die Verträge sind festgelegt. Wir können noch ratifizieren, wir können noch ja oder nein sagen. Aber es reicht im Grunde, wenn wir in der dritten Lesung unsere Ablehnung oder Zustimmung kommentieren. Wir sollten doch nicht so tun, als könnte unser Beitrag heute die Beratungen noch irgendwie beeinflussen oder modifizieren. Aber sei es drum, erfüllen wir unsere Pflicht und kommentieren wir ein Gesetz, das sicherlich verabschiedet wird, und zwar genau in der Form, wie es hier vorliegt.Wer bei Lomé-I und Lomé-II noch die Hoffnung hatte, daß damit grundsätzliche strukturelle Veränderungen weltwirtschaftlicher Zusammenhänge zumindest zwischen einzelnen Regionen erreicht werden könnten, hat damals schon ziemlich viel Spott geerntet. Wenn man sich aber anschaut, was bei Lomé-III herausgekommen ist, muß man sagen: Selbst wenn man eine erheblich nüchternere Sicht an den Tag gelegt hat, ist das, was dabei herausgekommen ist, doch ziemlich desillusionierend.
Zugegeben: Es gibt schlimmere Gesetze im entwicklungspolitischen Bereich. Von der Bundesregierung sind wir da sehr viel Kummer gewöhnt. Dieser Gesetzentwurf der Europäischen Gemeinschaften ist sicherlich ein Fortschritt gegenüber dem, mit dem wir ansonsten hier behelligt werden.Aber es ist trotzdem nicht alles Gold, was glänzt, auch wenn meine Vorredner sich bemüht haben, die positiven Seiten herauszustreichen.Ich will auf einige Punkte eingehen, die sehr kritisch zu beleuchten sind. Diese Punkte betreffen die einzelnen Aspekte der Gesetzgebung, nämlich die Handels- und Zollpräferenzen, das STABEX- und SYSMIN-Projekt,
den Entwicklungsfonds und die Investitionsbank.Die Handels- und Zollpräferenzen können — so nett sie gemeint sein mögen - eins nicht leisten, nämlich die Strukturen, die zum Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd geführt haben, aufbrechen. Die Strukturen werden damit lediglich gefestigt, auch wenn den Drittweltländern tatsächlich die Chance eingeräumt wird, innerhalb dieser Strukturen zu gewissen Verbesserungen zu kommen. Nach wie vor laufen 95% der AKP-Exporte als Rohstoffexporte in die Industrieländer, während die EG zu 85% Fertigwaren liefert. Das heißt, das koloniale Austauschmuster „Rohstoffe gegen Fertigwaren" wird beibehalten, nicht etwa abgebaut, was eigentlich politische Notwendigkeit wäre.Die EG läßt zwar die Zollschranken für einige Produkte fallen; man muß aber sagen, daß dies für die EG ziemlich leicht zu verschmerzen ist, da der Außenhandel mit den AKP-Staaten nur 7% des EG- Außenhandels ausmacht. Darüber hinaus wird, wie Vorredner schon ausgearbeitet haben, der freie Marktzugang auf die Agrarprodukte eingeschränkt, die nicht unter die EG-Agrarmarktordnung fallen. Als Drittweltländer versucht haben, hier Einbrüche zu ihren Gunsten zu erzielen, sind die gleichen Lobbyisten davor gewesen, die auch ansonsten dafür sorgen, daß die Großbauern in Europa gefördert werden und die Kleinbauern sowohl hier als auch in der Dritten Welt in die Röhre gucken müssen, und haben den Drittweltländern die Tür vor der Nase zugeknallt.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Absurdität des Handels mit agrarischen Stoffen bietet der Handel mit Zucker. Die Europäische Gemeinschaft hat zwar festgelegt, daß sie 1,3 Millionen t aus den Drittweltländern importiert; gleichzeitig wirft sie aber 3,6 Millionen t pro Jahr im Export auf den Markt. Sie kann damit den Markt überschwemmen, sie kann die Preise diktieren, und was dann über STABEX an Ausgleichszahlungen geleistet wird, ist nur ein Bruchteil dessen, was die Drittweltländer durch die übermächtige Weltmarktkonkurrenz der Industrieländer allein im Zuckerbereich verlieren. Die Handels- und Zollpräferenzbestimmungen sind also überhaupt nicht geeignet, grundsätzliche Verbesserungen zugunsten der Drittweltländer zu erzielen.Ähnlich ist es im Bereich STABEX und SYSMIN. Sicherlich ist es ein anerkennenswertes Ziel, den Drittweltländern Erlösstabilisierung und Preisstabilisierung zu bieten. Wir wissen und haben oftmals darüber diskutiert, daß die Preise ungerecht sind und daß gerechte Preise im Welthandel ein lohnendes politisches Ziel sind.
Die Mittel, mit denen Lomé-III diesen Problemen beizukommen versucht, sind allerdings sehr, sehr unzureichend; sie bleiben hinter den Methoden zurück, die z. B. im integrierten Rohstoffabkommen gefunden wurden. Die Haftung, die STABEX für Erlösausfälle zu leisten vorgibt, erweist sich im Endeffekt als eine Versicherung mit sehr beschränkter Haftung. Der Preisverfall von Rohstoffen, der seit 1980 festzustellen ist, wird nicht einmal zur Hälfte durch dieses STABEX-Programm ausgeglichen, und die Ausfallentschädigung kommt nicht
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Volmerdenen zugute, die am meisten unter dem Preisverfall zu leiden haben, nämlich den Produzenten in den Drittweltländern, speziell den Kleinbauern.Letztlich dient dieses STABEX-Programm dazu, die Rohstoffflüsse aus den Drittweltländern in die Industrieländer zu gewährleisten. Das wird von den Eliten in den Drittweltländern gern in Anspruch genommen, da ihnen dadurch ermöglicht wird, zumindest in gewissem Umfang die Devisen zu erwirtschaften, die sie brauchen, um die riesigen Schulden, die sie aufgenommen haben, zu begleichen. Hier zeigt sich der Zusammenhang von Handelspolitik und Finanzpolitik. Die Drittweltländer werden in die Verschuldung getrieben, und die Möglichkeiten, über Devisenerwirtschaftung die Schulden zu begleichen, sind, wie dieses Lomé-Abkommen auch zeigt, minimal.Ein weiteres Problem des STABEX-Modells besteht darin, daß damit einseitig ein Sektor in den Entwicklungsländern gefördert wird. Es wird der Exportsektor gefördert. Herr Kollege Brück, wenn ich zu der tomatenpolitischen Debatte, die Sie heute hier eingeführt haben, Stellung nehmen darf, so muß ich sagen: Ich kann überhaupt nichts Positives daran finden, daß die Drittweltländer Tomaten produzieren und sie auch im Sommer, wenn sie in Konkurrenz zu den europäischen Tomatenproduzenten treten, hier auf dem Markt plazieren. Meines Erachtens wäre es doch wichtiger, die Drittweltländer würden Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzieren.
Wenn in Tunesien statt Tomaten vielleicht Sorghum produziert und dann auf dem afrikanischen Kontinent verteilt würde, wäre das besser, als hier den europäischen Markt zu überschwemmen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brück?
Bitte.
Herr Kollege Volmer, stimmen Sie mir zu, daß es so einfach nicht ist und daß es oft besser ist, ein Kilo Tomaten zu verkaufen und dafür 10 Kilo Getreide einkaufen zu können?
Herr Kollege Brück, ich sehe nur, daß genau diese Methode des Außenhandels in den letzten Jahren gescheitert ist. Wir sehen doch, daß die Weizenlieferungen an afrikanische Staaten überhaupt nicht in der Lage sind, die Ernährungssicherung einigermaßen zu leisten. Ganz im Gegenteil. Die agrarischen Strukturen werden dadurch weiterhin zerstört; die Dritte-Welt-Länder werden in stärkerer Abhängigkeit von Getreide- und Nahrungsmittelimporten gehalten; und es gibt nicht die geringste Perspektive dafür, daß sich strukturell einiges daran ändert.
Die Handelspolitik müßte doch darauf angelegt
sein, strukturelle Veränderungen hervorzubringen,
die langfristig und perspektivisch den Dritte-WeltLändern erlauben, ihren eigenen Bedarf zumindest produktiv sicherzustellen
und nicht auf eine Handelspolitik angewiesen zu sein, die letztlich auch bei einigem Wohlwollen doch von den Industrieländern bestimmt wird.
Ich möchte hier das wenige Pulver, das, bezogen auf den Lomé-III-Vertrag, zu verschießen ist, für die wichtigere Debatte aufsparen.
Zum Abschluß möchte ich zusammenfassend ein Zitat des Dritte-Welt-Hauses Bielefeld, das eine sehr interessante Studie verfaßt hat, bringen. Das Haus kommt zu dem Ergebnis:
Auf der Seite der AKP-Länder sind in den meisten Fällen die Handlungsspielräume, die das Abkommen bietet, und seine finanziellen Ressourcen nicht mit einer Wirtschaftspolitik verbunden worden, die auf eine Verminderung der Exportabhängigkeit und den Aufbau eigenständiger Wirtschaftsstrukturen ausgerichtet wäre. Und auf der Seite der EG stehen ihre aggressive Handelspolitik und die Agrarpolitik im absoluten Zielkonflikt mit einer Entwicklungspolitik, die sich die Bekämpfung des Hungers zur obersten Priorität setzt. Weder die Importe in noch die Exporte aus Entwicklungsländern können in der jetzigen Weise aufrechterhalten werden, wenn tatsächlich die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln das entscheidende Ziel ist, wie es im Lomé-III-Vertrag und im Sonderprogramm zur Bekämpfung des Hungers in der Welt der EG-Kommission formuliert ist.
Gäbe es tatsächlich noch eine Einflußmöglichkeit dieses Parlaments auf den Entscheidungsprozeß, dann würde ich jetzt fordern, daß sich die befaßten Ausschüsse genau dieser Thematik annehmen und versuchen, Passagen in den Vertragsentwurf hineinzuformulieren, die sicherstellen können — nicht nur unverbindlich anstreben —, daß die Ernährungssicherung für die Dritte-Welt-Länder gewährleistet ist. Da dies aber nicht der Fall ist, wünsche ich Ihnen nur eine gute Nacht.
Mit der guten Nacht müssen Sie noch einen Augenblick warten.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Rumpf. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat mich natürlich überhaupt nicht überrascht, daß Sie, Herr Volmer, diesen Vertrag auch nicht ratifizieren würden und daß Sie anderer-
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Dr. Rumpfseits verlangen würden, daß 76 Staaten ihn ablehnen oder nicht ratifizieren.
Ich möchte auf die Einzelheiten nicht eingehen. Es ist alles gesagt worden. Ich möchte mit uns selbst beginnen: mit den Europäern. Da Frau Hellwig noch da ist, will ich mich darauf geradezu ein bißchen konzentrieren. Wir müssen uns vor Augen führen, daß die Europäische Gemeinschaft draußen in der Welt und gerade bei den Entwicklungsländern anders gesehen wird, als wir es selbst tun. Von außen sieht man uns viel stärker als eine Einheit. Wir dagegen sehen vor allem unsere internen Probleme. Die Länder der Dritten Welt aber sehen in uns eine wirtschaftliche und politische Einheit, einen großen Handelspartner und eine bedeutende Wirtschaftsmacht.Sie verbinden damit vielfältige Erwartungen und Hoffnungen. Die politischen Hoffnungen richten sich darauf, daß die EG den Ost-West-Gegensatz ebenso zu überwinden in der Lage wäre wie den Nord-Süd-Konflikt. Die EG gilt als ideologisch unvoreingenommen. Sie ist in den Augen ihrer Partner imperialismusfrei.Diesem Anspuch muß die EG gerecht werden. Die wirtschaftlichen Hoffnungen richten sich
auf die Großzügigkeit der Europäischen Gemeinschaft. Was die politischen Hoffnungen und Erwartungen angeht, so ist das Lomé-Abkommen für uns ein Ansporn. Immerhin haben Länder wie Angola und Mosambik, die als marxistisch-kommunistisch gelten, die Berlin-Klausel akzeptiert. Das ist für uns Deutsche außenpolitisch von Gewicht. Der Ansporn geht also sowohl nach außen als auch nach innen. Die Innenwirkung könnte die sein: Bis heute ist der Europäische Entwicklungsfonds noch nicht Teil des europäischen Gesamthaushalts geworden. Dies wäre eine Gelegenheit, um die Befugnisse des Europäischen Parlaments zu erweitern. Ich sage das auch in Richtung auf die Bundesregierung. Die FDP befürwortet jedenfall eine solche Einbeziehung ausdrücklich. Dem Europäischen Parlament wäre so eine echte Mitwirkungsmöglichkeit im Rahmen seiner bereits heute bestehenden Haushaltsrechte gegeben.Ein weiterer Punkt wird meines Erachtens im entwicklungspolitischen Diskurs immer zu wenig beachtet. Das ist die Außenwirkung. Die EG gibt den Partnern ein Beispiel dafür, wie ein freiwilliger Zusammenschluß souveräner benachbarter Staaten sowohl den Frieden in der Region sichert als auch die wirtschaftliche Prosperität garantiert. Das neue Lomé-Abkommen enthält deshalb folgerichtig auch Übereinkünfte zur Förderung der Verkehrswege und des Kommunikationswesens zwischen den AKP-Staaten untereinander; es enthält Mittel zur Förderung des Handels und der regionalen Zusammenarbeit. Dem politischen Anspruch wird die EG in diesem Abkommen also weitgehend gerecht.Die EG kann auch deshalb als politisch handlungsfähig gelten, weil sie vor der Weltöffentlichkeit — es wurde von Herrn Staatssekretär Köhler hervorgehoben — in der Menschenrechtsfrage einen Durchbruch erzielt hat. In der Präambel des Dritten Abkommens von Lomé wird der Menschenrechtspassus aus der Charta der Vereinten Nationen verankert, und im Vertragstext selbst ist eine Verbindung zwischen Entwicklung und Menschenwürde hergestellt worden. Meine Damen und Herren, im Vierten Abkommen von Lomé müßte dann folgerichtig der Zusammenhang zwischen Rüstung und Entwicklung verankert werden.Was die wirtschaftlichen Hoffnungen und die Großzügigkeit der EG angeht, so waren unsere Partner enttäuscht. Das Finanzvolumen wurde zwar um 60 % erhöht, aber die Erwartungen waren noch höher. Aus heutiger Sicht erscheint das Finanzvolumen aber angemessen.Im weltweiten Vergleich verdient auch die Weiterentwicklung eines wichtigen Eckpfeilers dieser Konvention besondere Erwähnung, nämlich die schon mehrfach erwähnten Fonds zur Stabilisierung der Rohstoffpreise für Importe aus den Entwicklungsländern. Diese Fonds wurden finanziell verstärkt, sie wurden ausgebaut, sie wurden auf mehr Länder gerechter und ausgewogener verteilt, und außerdem wurde auch das Instrumentarium verbessert. Damit ist sichergestellt, Herr Volmer, daß die Mittel nicht zur Erhaltung unrentabler Produktionsstrukturen oder zur Beibehaltung von Monokulturen verwendet werden können.
Für uns Liberale ist dabei wichtig, daß der Markt- und Preismechanismus auf den Rohstoffmärkten gleichzeitig intakt bleibt, anders als bei den anderen Rohstoffabkommen; insofern unterscheiden wir uns ganz grundsätzlich.Meine Damen und Herren, 99 % der Ausfuhr der AKP-Staaten in die EG ist von Zöllen, Abgaben und mengenmäßigen Beschränkungen befreit. Das klingt zunächst gut und großzügig. Dennoch ist es für viele der Partner mehr als ein Ärgernis, daß für die Marktordnungsprodukte unseres gemeinsamen Agrarmarktes die Ausfuhrbeschränkungen aufrechterhalten werden. In diesem sensiblen Bereich müssen wir uns den Vorwurf des Protektionismus gefallen lassen. Dies wird uns in der nächsten GATT-Runde nicht gerade sehr hilfreich sein.Auf der anderen Seite aber — das verdient wirklich hervorgehoben zu werden — ist es ermutigend, daß die AKP-Staaten 1984 für insgesamt 18,84 Milliarden DM mehr Waren in die EG geliefert haben, als diese dorthin exportiert hat. Die Einfuhren der Zehn erhöhten sich von 44,42 Milliarden DM auf 55,52 Milliarden DM. Die Steigerung des Handelsvolumens und das seit Jahren wachsende Handelsbilanzdefizit der EG können von dieser mit Fug und Recht als Beitrag zur Stärkung der wirtschaftlichen Lage der Entwicklungsländer ins Feld geführt werden.
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Dr. RumpfEine ganz andere Dimension hat das Dritte Lomé-Abkommen durch den intensiven partnerschaftlichen Dialog enthalten. Man mag gegen das Wort Dialog empfindlich sein, aber, meine Damen und Herren, wir sind doch mittendrin. Die politische Vernunft gebietet uns, eine wirksamere und zugleich aussichtsreichere Entwicklungspolitik zu verfolgen. Das Lomé-Abkommen liefert ein entsprechendes Instrumentarium hierfür.Meine Damen und Herren, Hunger ist kein Ereignis, dem man rasch abhelfen kann. Er ist vielmehr eine endemische Krankheit, die von Grund auf geheilt werden muß. Massiv und kontinuierlich gewährte Hilfe oder gar Nahrungsmittelhilfe führt zu der perversen Konsequenz, daß die Stadt Lebensmittel an das Land verkauft und damit den Anreiz zur Eigenversorgung abwürgt. Sie lähmt schließlich völlig das Interesse der Selbsthilfe. Der eigentliche Akteur der Entwicklung ist der Bauer, nicht der Partner, mit dem verhandelt wird, und nicht die öffentliche Verwaltung. So schreibt Edgar Pisani. Hier ist meines Erachtens der neue Ansatz im Abkommen mit dem Schwerpunkt in der ländlichen Entwicklung eindeutig richtig.Entwicklung ist biologisch gesehen eine Angelegenheit des Gewebes und nicht der Organe. Wenn das Gewebe nicht funktioniert, sterben die Organe ab. Nichts ist einfacher, als Projekte zu finanzieren. Aber nichts ist schwieriger, als eine chancenreiche Politik zu entwerfen. Diesen Anspruch erhebt jetzt auch das neue Lomé-Abkommen.Durch den partnerschaftlichen Dialog sind die Entwicklungsländer aufgefordert, ihre eigene Rolle zu definieren. Wir bauen darauf, daß das gegenseitige Vertrauen zwischen EG und AKP-Staaten inzwischen so weit gediehen ist, daß der Einwand der Einmischung in innere Angelegenheiten keine Rolle mehr spielt.Ein letzter Gedanke erscheint mir noch wichtig. Neben den Politikdialog muß stärker der kulturelle Dialog treten. Nur so können rechtzeitig die sozialen und gesellschaftlichen Folgen der Entwicklung bedacht werden. Auch hier bietet Lomé eine Chance. Kultur ist der Regulator der Entwicklungen.
— Für Sie ist das zu hoch; das wußte ich. — Die Entwicklung ihrerseits begünstigt und bereichert schöpferische Tätigkeiten oder macht sie erst möglich.Die entsetzlichen Fehlentwicklungen der Vergangenheit, die Landflucht, Urbanisierung, Mammutprojekte, ökologische Katastrophen, Abholzungen, Entwaldungen, Verwüstungen, Überweidungen und vor allem die unkontrollierte Bevölkerungsentwicklung können in Zukunft nur vermieden werden, wenn Erziehung, Bildung und Kultur originell und auch originär mit in den Dialog einfließen. Wir müssen uns immer vor Augen halten: Transfer von Technologie ist unter kulturellen Aspekten gesehen immer auch eine Übertragung von Wertvorstellungen, von Anschauungen, von Einsichten. Es ist so etwas wie eine Transfusion geronnener Kultur, die aber meistens nicht absorbiert wird. Mit der Übertragung muß eigentlich zugleich auch ihr allmähliches Verschwinden organisiert werden.In vielen Dingen können wir von den sogenannten Entwicklungsländern auch noch etwas lernen. Wir Europäer sollten uns dafür jedenfalls offener zeigen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/3960 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß, zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist der Überweisungsvorschlag beschlossen.Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Juni 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksache 10/3971 —Das Wort wird nicht gewünscht.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/3971 zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Gibt es andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag beschlossen.Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenVeräußerung des bundeseigenen Geländes in München, Ingolstädter Straße 172— Drucksachen 10/3619, 10/3975 —Berichterstatter:Abgeordnete Wieczorek Dr. HackelKleinert
Das Wort wird nicht gewünscht.Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/3975, der Veräußerung zuzustimmen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthal-
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Vizepräsident Stücklentungen? — Bei Enthaltungen der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags des Bundesministers der FinanzenVeräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in Bonn— Drucksache 10/4028 —Das Wort wird nicht gewünscht.Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Drucksache 10/4028 an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 und 16 auf:15. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Zweiundneunzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz —— Drucksachen 10/3617, 10/3944 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schwörer16. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Achtundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 10/3618, 10/3945 —Berichterstatter:Abgeordneter Wolfram
Das Wort wird nicht gewünscht.Der Ausschuß empfiehlt, die Aufhebung der Verordnungen nicht zu verlangen. Die Beschlußempfehlungen sind im Ausschuß einvernehmlich verabschiedet worden.Ich lasse über die Vorlagen gemeinsam abstimmen. Wer den Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft auf den Drucksachen 10/3944 und 10/3945 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen der GRÜNEN mit Mehrheit angenommen.Herr Abgeordneter Tatge möchte eine Erklärung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung abgeben. Bitte sehr.
Sehr geehrte Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich Ihre Zeit noch ganz kurz in Anspruch nehme. Ich möchte eine persönliche Erklärung zur Abstimmung abgeben.
Ich lehne diese Beschlußempfehlungen des Wirtschaftsausschusses mit der Mehrheit meiner Fraktion ab, weil ich der Meinung bin, daß die COCOM-
Embargobestimmungen das zentrale Ziel haben, die Warschauer-Pakt-Staaten wirtschaftlich zu schwächen. Diese sollen von der westlichen Entwicklung, u. a. im Bereich der Hochtechnologien, ferngehalten werden.
Die wirtschaftliche Schwächung der Gegenseite ist integraler Bestandteil der westlichen Strategie; Aufrechterhaltung und Verschärfung der Blockkonfrontation. Der Bundesregierung geht es dabei nicht in erster Linie um eine prinzipielle Unterbindung von Rüstungsexporten, sondern — dies zeigt das Beispiel China — sie setzt dies ein, wie ihr das poltisch opportun erscheint. Auch am Fall Südafrika wird deutlich, daß die westlichen Staaten — trotz gegenteiliger Beteuerungen — ins Rüstungsgeschäft voll verwickelt sind.
Die COCOM-Bestimmungen spielen außerdem eine wichtige Rolle im Wettbewerb zwischen US- und westeuropäischen Konzernen bei ihrem Kampf um Lieferanteile auf Drittmärkten. Es wird von westeuropäischer Seite immer wieder der Vorwurf erhoben, daß die US-Wirtschaft die Exporteinschränkungen benutzt, um die traditionellen Handelsbeziehungen Westeuropas zu den WarschauerPakt-Staaten und zu China zu stören.
Die Bundesregierung ist, wie auch das aktuelle Beispiel der Rüstungslieferungen nach Saudi-Arabien zeigt, unglaubwürdig in dem Anspruch, Rüstungsexporte zu beschränken. Meine Fraktion und ich treten für den — —
Herr Abgeordneter, es geht hier nicht um „meine Fraktion und ich", sondern es geht um eine Erklärung, die Sie persönlich abgeben. Ich bin sowieso so großzügig gewesen und habe eine Diskussion nachträglich noch laufen lassen.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident.
Bitte, kommen Sie jetzt also zum Schluß.
Ja, ich komme zum Schluß. — Wir treten also für einen sofortigen Stopp aller Rüstungsexporte ein. Diese Zielsetzung ist so wichtig, daß wir bei den einzelnen Regelungen
— ich bitte Sie, da noch zuzuhören —, die sich gezielt gegen Rüstungsexporte wenden, restriktive Bestimmungen für jedes Land, d. h. selbstverständlich auch für alle Warschauer-Pakt-Staaten, für richtig, sinnvoll und notwendig halten. Dies ist jedoch bei der vorliegenden Beschlußempfehlung und den darin enthaltenen Regelungen nicht der Fall.
Danke schön.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes
— Drucksachen 10/4057 und 10/4065 —
Vizepräsident Stücklen
Das Wort wird nicht gewünscht.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/4057 zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Verkehr sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Damit ist diesen Vorschlägen zugestimmt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Aufhebung von Zollzugeständnissen und zur Erhöhung der Zölle des Gemeinsamen Zolltarifs für bestimmte Erzeugnisse mit Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika
- Drucksachen 10/3788 Nr. 9, 10/4052 -
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Haussmann
Das Wort wird nicht gewünscht.
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 10/4052 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltungen der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Erhebung der
Anlage zum Stenographischen Bericht
Anlage
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich
Dr. Ahrens * 25. 10.
Dr. Abelein 24. 10.
Bastian 25. 10.
Berschkeit 25. 10.
Dr. Blüm 25. 10.
Böhm ** 25. 10.
Breuer 25. 10.
Eimer 24. 10.
Franke 24. 10.
Gerstl ** 25. 10.
Haase * 24. 10.
Handlos 25. 10.
Dr. Hauff 25. 10.
Dr. Hennig 25. 10.
Herterich 25. 10.
Künstlersozialabgabe in den Jahren 1986 und 1987
- Drucksache 10/4064 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß
Das Wort wird nicht gewünscht.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/4064 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen.
Auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung sollen der Antrag der Fraktion der SPD betreffend Sport und Umwelt - Drucksache 10/3650 - und der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP betreffend Sicherung des Sports als Teil einer lebenswerten Umwelt - Drucksache 10/4074 -, die in der heutigen Sitzung dem Sportausschuß zur Federführung und dem Innenausschuß zur Mitberatung überwiesen wurden, nachträglich auch dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur Mitberatung überwiesen werden. Wenn Sie damit einverstanden sind, bitte ich um Ihre Zustimmung. - Ich sehe keine gegenteilige Äußerung. Damit ist dieser Vorschlag angenommen.
Wir sind am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. Oktober 1985, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.