Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich zu dieser Plenarsitzung, insbesondere auch diezahlreichen Gäste, die zum ersten Tagesordnungspunkterschienen sind. Dieser Tagesordnungspunkt behandeltein herausragendes historisches Ereignis mit nachhalti-gen Folgen nicht nur für das Nachbarschaftsverhältniszwischen der Türkei und Armenien. Schon die Vereinba-rung dieser Debatte im Deutschen Bundestag hat großeöffentliche Aufmerksamkeit gefunden.Völkermord ist ein Straftatbestand im Völkerrecht fürTaten mit der Absicht, „eine nationale, ethnische, rassi-sche oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweisezu zerstören“. Das, was mitten im Ersten Weltkrieg imOsmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augender Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord. Er ist nichtder letzte im 20. Jahrhundert geblieben. Umso größer istunsere Verpflichtung, im Respekt vor den Opfern und inder Verantwortung für Ursachen und Wirkungen die da-maligen Verbrechen weder zu verdrängen noch zu be-schönigen.Wir Deutsche haben niemanden über den Umgangmit seiner Vergangenheit zu belehren. Aber wir könnendurch unsere eigene Erfahrung andere ermutigen, sichihrer Geschichte zu stellen, auch wenn es schmerzt: Dasselbstkritische Bekenntnis zur Wahrheit ist Vorausset-zung für Versöhnung. Dazu gehört, die Mitverantwor-tung des Deutschen Reiches an den Verbrechen vor100 Jahren zu benennen. Obwohl die Reichsleitung um-fassend informiert war, nutzte sie ihre Einflussmöglich-keiten nicht. Das Militärbündnis mit dem OsmanischenReich war ihr wichtiger als die Intervention zur Rettungvon Menschenleben. Diese Mitschuld einzuräumen, istVoraussetzung unserer Glaubwürdigkeit gegenüber Ar-menien wie der Türkei.Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste, Ge-schichte erzwingt jenseits der historischen Fakten eineDeutung. Sie ist damit zwangsläufig politisch. DiesenStreit mag man beklagen. Aber er ist unvermeidlich, under gehört ins Parlament. Seit den beispiellosen Gewalter-fahrungen des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass es kei-nen wirklichen Frieden geben kann, solange nicht denOpfern, ihren Angehörigen und Nachkommen Gerech-tigkeit widerfährt, im Erinnern an das, was tatsächlichgeschehen ist.Auch heute werden Menschen Opfer von Verfolgung,aus politischen, ethnischen und auch aus religiösenGründen, darunter Tausende Christen. Die Türkei leistetmit der Aufnahme von weit über 1 Million Flüchtlingeneine immense, zu selten gewürdigte und manchen in Eu-ropa beschämende humanitäre Hilfe. Diese Bereitschaft,Verantwortung in der Gegenwart zu übernehmen, ver-gessen wir ausdrücklich nicht, wenn wir an das Bewusst-sein auch der Verantwortung für die eigene Vergangen-heit appellieren.Die heutige Regierung in der Türkei ist nicht verant-wortlich für das, was vor 100 Jahren geschah, aber sie istmitverantwortlich für das, was daraus wird. Dass sie ineiner eigenen Zeremonie einen Schritt auf die Nachfah-ren und den Nachbarn zugeht, würdigen wir ausdrück-lich, vor allem aber die vielen mutigen Türken und Kur-den, die sich zusammen mit Armeniern bereits seitJahren um eine ehrliche Aufarbeitung dieses finsterenKapitels der gemeinsamen Geschichte bemühen: Schrift-steller, Journalisten, Bürgermeister, religiöse Führer. Ichdenke an den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamukund an den Journalisten Hrant Dink, der seinen Einsatzfür die historische Wahrheit mit dem Leben bezahlte. Sieverdienen unsere Unterstützung, und sie brauchen sieauch. Dazu wollen wir mit unserer heutigen Debatte bei-tragen.Vielen Dank.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und b sowieden Zusatzpunkt 5 auf:25 a) Beratung des Antrags der Fraktionen derCDU/CSU und SPDErinnerung und Gedenken an die Vertrei-bungen und Massaker an den Armeniernvor 100 Jahren
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9654 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Drucksache 18/4684Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE100. Jahresgedenken des Völkermords anden Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 – Deutschland muss zur Aufarbei-tung und Versöhnung beitragenDrucksache 18/4335Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten CemÖzdemir, Claudia Roth , PeterMeiwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGedenken an den 100. Jahrestag des Völker-mords an den Armeniern – Versöhnungdurch Aufarbeitung und Austausch fördernDrucksache 18/4687Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist fürdiese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu gibtes offensichtlich Einvernehmen. Also können wir so ver-fahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Gernot Erler für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Amheutigen 24. April, an dem 100. Jahrestag des Beginnsder Vertreibung und Massaker an den im OsmanischenReich lebenden Armeniern, verneigen wir uns vor denOpfern, und wir trauern mit ihren Nachkommen. Wir tundies in anhaltender Erschütterung über das Massenhafteund Wahllose des damaligen Tötens und Vernichtensund im Wissen darum, dass heute nicht nur in Jerewanund ganz Armenien, sondern an vielen Orten der welt-weiten armenischen Diaspora an das tragische Schicksalder Opfer erinnert wird.Im gleichen Atemzug bekennen wir uns aber auch zurdeutschen Mitverantwortung für das Geschehen. UndMitverantwortung heißt hier auch historische Mitschuld,die wir rückhaltlos einräumen. Denn längst steht fest– es ist gut belegt –, dass deutsche Diplomaten über dieAusrottung und Vernichtung der christlichen Armeniernach Hause berichteten, dass deutsche Offiziere in türki-schen Diensten beteiligt waren, die Reichsregierung abermit Rücksicht auf die Türkei als Weltkriegsverbündetenkeinerlei Einwände gegen die genozidale Vertreibungs-politik geltend machte, sondern ihr durch Wegschauenund Stillschweigen Deckung verschaffte.Was Deportation damals bedeutete, das hat ArminTheophil Wegner aus dem Stab des berühmten im Otto-manischen Reich eingesetzten Feldmarschalls Colmarvon der Goltz uns in einem nachträglich verfassten Be-richt überliefert. Ich zitiere:Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüstevon Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt,erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt,von Seuchen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, ver-dursteten, verhungerten, verfaulten, wurden vonSchakalen angefressen. Kinder weinten sich in denTod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen,Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen,Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euph-rat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhundertestarben sie.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gedenktage sinddazu da, dass man innehalten kann, dass man Trauerar-beit leistet. Sie dienen gerade bei einem in der Diasporazerstreuten Volk der Identitätsstiftung. Aber sie mahnenauch, sich um eine bessere Zukunft zu bemühen.Vorgestern erreichte uns eine Botschaft des armeni-schen Präsidenten Sersch Sargsjan. Darin wird er wiefolgt zitiert:Es geht um ein wichtiges geschichtliches Datum fürdas armenische Volk und die internationale Ge-meinschaft.Dabei wolle Armenien aber „nicht nur zurückschauenund über historische Fakten nachdenken“. „Niemalswieder“ müsse die Botschaft lauten. Dieser Ansatz ver-dient Unterstützung. Er will ganz offensichtlich das tra-ditionelle armenische Opfervolk narrativ aufbrechen undden engen Rahmen des Memory War verlassen. „Nichtnur zurückschauen“ heißt in der Konsequenz, sich füreine bessere Zukunft Armeniens einzusetzen und dabeidas immer noch verbissen geführte Ringen um die Völ-kermordfrage in einen wirklich von beiden Seiten getra-genen Versöhnungsprozess münden zu lassen. Ohne ei-nen solchen tatsächlich von beiden Seiten ehrlichgeführten Versöhnungsprozess wird das Leiden an derVergangenheit, die Fesselung in den historischen Trau-mata in beiden Ländern nicht aufhören können.Im Oktober 2010 schien der Einstieg in die Normali-sierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern zumGreifen nahe. Die beiden Züricher Protokolle – Produktzweijähriger über die Schweiz vermittelter Geheimver-handlungen – sahen die Aufnahme diplomatischer Be-ziehungen, die Öffnung der seit 1993 geschlossenenGrenzen und den Ausbau der politischen, wirtschaftli-
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Dr. h. c. Gernot Erler
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chen und kulturellen Beziehungen vor, einschließlich ei-ner gemeinsamen Beschäftigung mit der Vergangenheit.Die Züricher Dokumente wurden nicht ratifiziert. Siezerschellten am Widerstand nationalistischer Kräfte inbeiden Ländern. Eine Tragödie! Was wäre angemesse-ner, als dass der große Gedenktag heute zum Ausgangs-punkt eines neuen Normalisierungs- und Aussöhnungs-prozesses wird? Nichts anderes will der hier vorliegendeAntrag der Koalition, der die Bundesregierung nach-drücklich auffordert, einen solchen Prozess zu unterstüt-zen. Dasselbe Ziel hat ein am 15. April beschlossenerAntrag des Europäischen Parlaments.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch auf tür-kischer Seite positive Signale. Schon im vergangenenJahr hat Präsident Erdogan sein Mitleid mit den armeni-schen Opfern bekundet und von unmenschlichen Vertrei-bungen gesprochen. In einem Schreiben von Minister-präsident Davutoglu heißt es – ich zitiere –:Wir gedenken der unschuldigen osmanischen Ar-menier, die ihr Leben ließen, mit Respekt. Wir spre-chen ihren Nachkommen unser Mitgefühl aus.Das sind Anknüpfungspunkte. Sich zu Mitverantwor-tung, ja zur Mitschuld zu bekennen, reicht nicht aus. InDeutschland stehen wir in der Pflicht, unsere Beziehun-gen zu beiden Ländern zu nutzen, um bei der Suche nachAuswegen zu helfen.Wir wissen aber auch um die schwierige Situation derkleinen Republik Armenien: mit den geschlossenenGrenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan, mit dem un-gelösten Konflikt in Nagornij Karabach, an dessenGrenze im Jahr 2014 mehr Verluste an Menschenlebenzu verzeichnen waren als in allen Jahren zuvor, mit denbesonderen Abhängigkeiten, die deutlich geworden sind,als Armenien erst mit der EU ein Assoziierungsabkom-men ausgehandelt hat, dann aber im Herbst 2013 denEntschluss fasste, Mitglied der von Russland geführtenZollunion und heute der Eurasischen Wirtschaftsunionzu werden, und mit der Ausdehnung von Armut im eige-nen Land. Die friedliche Lösung des Karabach-Problemsund die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Je-rewan und Ankara sind die beiden Schlüsselfragen fürdie 3 Millionen Menschen in Armenien. Das Landbraucht gerade an einem Tag wie heute Hoffnung. Vonunserer Debatte sollten eine solche Hoffnung und dasklare Signal unserer Hilfsbereitschaft ausgehen.Vielen Dank.
Ulla Jelpke ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-grüße die Gäste auf der Tribüne, insbesondere die Ver-treterinnen und Vertreter der armenischen und assyri-schen Verbände, die dieser historischen Debatte folgen.
Meine Damen und Herren, wir gedenken heute derOpfer des Völkermordes an den Armeniern im Osmani-schen Reich. Diesem Verbrechen fielen 1,5 MillionenMenschen zum Opfer. Hunderttausende Assyrer und an-dere Christen wurden damals ermordet. Die Armeniersprechen von „Aghet“, der Katastrophe; die Assyrernennen diese Ereignisse „Sayfo“, das Schwert. Wir ver-neigen uns vor den Toten, und ihren Nachfahren drückenwir unser tief empfundenes Mitgefühl aus.Meine Damen und Herren, Völkermord wird von denVereinten Nationen als Handlung mit der Absicht defi-niert – wir haben es eben schon gehört –, „eine nationale,ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solcheganz oder teilweise zu zerstören“. Genau darum ging esden Jungtürken mit ihrem Geheimplan zur – so wörtlich –„Ausmerzung des armenischen Volkes in seiner Gesamt-heit“. Ihr Ziel war die Schaffung eines ethnisch homo-genen Nationalstaates in Anatolien und der Raub ar-menischen Besitzes. Zuerst wurden im Februar 1915armenische Soldaten der osmanischen Armee entwaffnetund erschossen, dann, am 24. April, die armenische Füh-rungselite aus Konstantinopel deportiert. Anschließendwurden bei landesweiten Dorfrazzien die armenischenMänner von der jungtürkischen Sonderorganisation mas-sakriert und Frauen, Kinder und Alte auf Todesmärschegetrieben. Die angeblich kriegsbedingten Deportationenwaren Verbannungen ins Nichts – das hatte Innenminis-ter Talaat Pascha offen eingestanden. Diejenigen Arme-nier, die Angriffe von kurdischen und kaukasischen Räu-berbanden, Krankheiten, Hunger und Durst überlebthatten, wurden im Sommer 1916 in der mesopotami-schen Wüste von Todesschwadronen niedergemetzelt.Ohne jeden Zweifel handelte es sich um einen vorsätz-lich geplanten und durchgeführten Völkermord.An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich denjenigenKolleginnen und Kollegen in den Fraktionen von Unionund SPD danken, die in dieser Frage nie ein Blatt vorden Mund genommen haben.
Denn Ihrem Drängen ist es – gemeinsam mit den deutli-chen Worten des Papstes, aber auch des Bundespräsiden-ten Gauck – zu verdanken, dass im Antrag der Koalitionzumindest das Wort „Völkermord“ enthalten ist. Dochexplizit als Völkermord benannt wird die Vernichtungder Armenier im Koalitionsantrag immer noch nicht.Dieses Verstecken hinter sprachlichen Spitzfindigkeitenist einfach beschämend und diesem Anlass zutiefst un-würdig.Meine Damen und Herren, es geht hier keinesfalls da-rum, Millionen in der BRD lebende türkischstämmigeBürgerinnen und Bürger für die Verbrechen vor 100 Jah-ren in Kollektivhaftung zu nehmen. Doch Kenntnis undEingeständnis historischer Wahrheiten sind die Voraus-setzung für einen Aussöhnungsprozess zwischen Türken
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Ulla Jelpke
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und Armeniern. Es soll hier auch nicht um eine selbstge-rechte Belehrung der Türkei gehen. Denn wer über1915/1916 spricht, der muss auch über unsere eigeneGeschichte sprechen. Schließlich war das Deutsche Kai-serreich der engste Verbündete des Osmanischen Rei-ches. Ohne dieses Kriegsbündnis, das der türkischenFührung den Rücken freihielt, wäre der Völkermord sonicht möglich gewesen. Die Koalition verharmlost diesin ihrem Antrag als „unrühmliche Rolle des DeutschenReiches“, das nicht versucht habe, diese Verbrechen zustoppen. Auch der Grünen-Antrag erkennt nur in diesemeinen Punkt eine deutsche Mitverantwortung. Doch dieverbrecherische Komplizenschaft ging weit über unter-lassene Hilfeleistung hinaus. Es handelte sich vielmehrum Beihilfe zum Völkermord. Der Reichskanzler unter-sagte jede Kritik am türkischen Bündnis. Ich zitiere:Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende desKrieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, obdarüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.Lediglich der sozialistische Abgeordnete KarlLiebknecht protestierte damals im Reichstag gegen dieAusrottung der Armenier. Hohe deutsche Offiziere undDiplomaten in der Türkei befürworteten sogar offen dieVernichtung der Armenier. So notierte der deutsche Chefder osmanischen Flotte, Admiral Souchon – ich zitiere –:Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wennsie den letzten Armenier umgebracht hat, sie würdedann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein.Einige deutsche Offiziere unterzeichneten sogar Depor-tationsbefehle und ließen armenische Stadtviertel be-schießen. Deshalb fordert die Linke heute die Bundes-regierung dazu auf, sich vorbehaltlos zur historischenMitverantwortung des Deutschen Reiches zu bekennen.
Der Bundestag muss – genauso wie das der Präsidentheute bereits gemacht hat – bei den Armenierinnen undArmeniern um Verzeihung bitten.Lassen Sie mich noch ein paar Anmerkungen zur Ge-genwart machen; denn wer Augenzeugenberichte ausden Jahren 1915/1916 über Massaker und Massenverge-waltigungen liest, dem kommen unweigerlich aktuelleBilder aus der Region in den Sinn. Dort, wo vor 100 Jah-ren der Todesgang des armenischen Volkes in der syri-schen Wüste endete, herrschen heute die Schlächter dessogenannten Islamischen Staates und der Al-Nusra-Front. Christen, deren Vorfahren als Überlebende desGenozids nach Syrien flohen, sind heute erneut auf derFlucht. Kirchen werden angezündet, Frauen werden ver-sklavt. Die dschihadistischen Mörderbanden kommenungehindert über die türkische Grenze. Sie erhalten lo-gistische Hilfe, Munition und sogar Feuerschutz ausder Türkei. Die Bundesregierung weiß das, doch sieschweigt dazu. Ihr einziges Ziel scheint zu sein, denNATO-Partner Türkei an ihrer Seite zu halten, gleichgül-tig ob darüber Kurden oder Armenier zugrunde gehen.Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, mitErdogan und seiner Regierung über 1915 und über dieGegenwart endlich Klartext zu reden.Ich danke Ihnen.
Das Wort erhält nun der Kollege Christoph Bergner
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! VerehrteGäste! Heute vor 100 Jahren hat auf Befehl der jungtür-kischen Regierung eine Verhaftung der politischen undkulturellen Elite der Armenier in Istanbul stattgefunden.Sie sind verschleppt und ermordet worden. Dies war derAuftakt zu einer umfassenden Verschleppung und plan-mäßigen Vernichtung der armenischen Untertanen desOsmanischen Reiches. Mit dieser Debatte wollen wiruns in das Gedenken an diese schrecklichen Ereignisseeinreihen. Ich möchte Sie einladen, der Opfer und derVerwüstungen dieses Geschehens zu gedenken, zu ge-denken der Hunderttausenden Armenier, eingeschlossenzahlreiche aramäische, chaldäische und assyrischeChristen, die brutal vertrieben, furchtbar misshandeltund mit planvoller Konsequenz und oft hemmungsloserGrausamkeit getötet wurden. Ich möchte Sie einladen,zu gedenken der jahrhundertealten armenischen KulturAnatoliens, die infolge dieser Ereignisse weitgehendvernichtet wurde, einer Kultur, die sich in langer Koexis-tenz mit anderen Kulturen der Region entwickelt undentfaltet hat und deren Verlust für uns alle dauerhaftschmerzhaft bleibt.Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages habeneine besondere historisch-moralische Verpflichtung, unsan dem weltweiten Gedenken anlässlich des 100. Jahres-tages dieser Ereignisse zu beteiligen und uns zu deut-schen Fehlern und deutscher Schuld zu bekennen. Nebendem Osmanischen Reich war das Deutsche Kaiserreichder am tiefsten involvierte Staat. Aus Rücksicht aufseine militärischen Ziele im Ersten Weltkrieg machte ersich unterlassener Hilfeleistung gegenüber den der Ver-nichtung ausgesetzten Armeniern schuldig. Hierfür bit-ten wir um Entschuldigung. Wir stehen in der Rechts-nachfolge des Deutschen Reiches, und wir habendeshalb hier mit besonderer Ernsthaftigkeit die Debattenzu führen, die seinerzeit den Mitgliedern des Reichsta-ges wegen Zensurmaßnahmen der Reichsregierung nichtmöglich waren.Vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag mit einereinstimmig verabschiedeten Resolution endlich eine90 Jahre dauernde Sprachlosigkeit der deutschen Politikzum Schicksal der osmanischen Armenier beendet. Icherlebte damals die Erarbeitung und Einbringung diesesAntrages, der mit wissenschaftlicher Unterstützung desleider viel zu früh verstorbenen Hermann Goltz entstand.Ich erlebte damals einen vielfältigen türkischen Wider-spruch zu dieser Initiative – von der türkischen Botschaftüber Abgeordnete der AKP, aus dem türkischen Parla-ment bis hin zu CDU-Mitgliedern türkischer Herkunft.Ich erinnere mich besonders an die Worte eines CDU-
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Ortsvorsitzenden aus Berlin – ich führe ihn exemplarischan –, der mir sagte: Ich werde meinem Sohn nie sagen,eine türkische Regierung habe Armenier vertrieben undgetötet; das ist für mich eine Frage der Ehre. – MeineDamen und Herren, spätestens da habe ich begriffen, wieschwierig das Selbstverständnis ist, mit dem wir hier zuringen haben. Das ist ein Ehrbegriff, der sich an demGründungsmythos des türkischen Staates orientiert. Da-mit haben wir uns auseinanderzusetzen. Ich möchte dazueinladen, dass wir dieser Auseinandersetzung nicht aus-weichen
und die Forderung ernst nehmen, die wir in unserem da-maligen Antrag beschlossen haben: Deutschland musszur Versöhnung von Armeniern und Türken beitragen. –Das ist eine Forderung, die nicht an Aktualität verlorenhat.Der Versöhnungsauftrag, den wir uns gegeben haben,bezieht sich nicht nur, so wichtig das ist – Kollege Erlerist darauf eingegangen –, auf das Verhältnis zwischender Türkei und Armenien. Er bezieht sich auch und ins-besondere auf die Diaspora, auf die Menschen armeni-scher und türkischer Herkunft in unserem Land. Er be-zieht sich beispielsweise auf die Kinder türkischer undarmenischer Familien; diese Kinder haben einen An-spruch darauf, in unseren Schulen ein Geschichtsbildvermittelt zu bekommen, das sich von den Ergebnissender historischen Wissenschaft und dem Geiste der Auf-klärung ableitet und durch seine Objektivität für Aus-gleich sorgt.Der deutsche Staat muss ein Interesse daran haben,dass Konflikte, die Zuwanderer als Teil ihrer Identität inunsere Gesellschaft mitbringen, nicht durch beschwich-tigende Zurückhaltung und Indifferenz deutscher Politikauf Dauer unbewältigt bleiben.
Mir liegt ein Aufruf verschiedener türkischer Verbändezu einer Demonstration am morgigen Tag am Branden-burger Tor vor, in dessen Überschrift es heißt: „Der Völ-kermordlüge ein Ende! Nimm Deine Flagge undkomm!“ Es ist das Recht dieser Verbände, für ihre Auf-fassung zu demonstrieren. Aber ist es nicht unserePflicht als frei gewählte Vertreter des deutschen Volkes,klar zu bekennen, welche Deutung der Ereignisse vor100 Jahren uns angemessen und richtig erscheint?
Ich habe Zweifel, dass wir, wenn wir in dieser Dis-kussion überzeugend auftreten und klar Stellung bezie-hen wollen, auf den Begriff „Völkermord“ verzichtenkönnen.
Wir haben in der Koalition um die Angemessenheit die-ses Begriffes intensiv gerungen. Ich verstehe und re-spektiere das Anliegen derer, die um der Verständigungund um des Zieles der Versöhnung willen jede polarisie-rende Wortwahl vermeiden wollen. Aber die Berech-tigung dieses Anliegens endet dort, wo semantischeZurückhaltung zur faktischen Verharmlosung und Rela-tivierung der Tragödie führt, die im Mittelpunkt unseresGedenkens steht.
Es ist richtig: Der Straftatbestand des Völkermordes,geschweige denn der Begriff, existierte vor 100 Jahrennoch nicht. Seine Formulierung und Definition ist erstim Zuge der Erarbeitung der UN-Konvention über dieVerhütung und Bestrafung von Genoziden gefundenworden. Das war 1948, 33 Jahre nach der Vernichtungder osmanischen Armenier. Aber ist es ein Grund, dieVerwendung des Begriffes „Völkermord“ für unange-bracht zu halten? Ist es nicht normaler Ausdruck einerlebendigen Sprachentwicklung, wenn sich zur Beschrei-bung alter Sachverhalte auch jüngerer Begriffe bedientwird? Dies gilt umso mehr, als die Massaker an den Ar-meniern vor 100 Jahren nachträglich zum zentralen Be-zugspunkt der Erarbeitung der Völkermordkonventionwurden. Für Raphael Lemkin, den Schöpfer des Begrif-fes „Genozid“ und Initiator der Völkermordkonventionder Vereinten Nationen, schien dies jedenfalls wichtig zusein; denn er stellt rückblickend fest – ich zitiere Lemkin –:Die Leiden armenischer Männer, Frauen und Kin-der, die in den Euphrat geworfen … wurden, habenden Weg für die Annahme der UN-Genozidkonven-tion vorbereitet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vor zehnJahren die Sprachlosigkeit angesichts des Schicksals derosmanischen Armenier überwinden können. Lassen Sieuns die Beratung dieser Anträge im Ausschuss zum An-lass nehmen, unsere Sprachfähigkeit weiter zu üben undfortzuentwickeln, und lassen Sie uns unter dem Auftraghandeln, den wir uns vor zehn Jahren gegeben haben:Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Armeniernund Türken beitragen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Cem Özdemir für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeGäste! Ich möchte mich zunächst bei unserem Bundes-präsidenten Gauck für seine klaren Worte gestern Abendaus Anlass des Gedenkgottesdienstes zum 100. Jahrestagdes Völkermordes an den Armeniern, Aramäern und As-syrern bedanken. Ich danke unserem Bundespräsidenteninsbesondere für diese gewisse Portion Unbeirrbarkeit,die ihn auszeichnet, für die wir ihn schätzen und lieben.Ich füge nach der heutigen Rede des Bundestagspräsi-
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denten hinzu: Das gilt natürlich in derselben Weise auchfür Sie, Herr Bundestagspräsident.
Leider kann ich die Vertreter der Bundesregierung indieses Lob nicht mit einschließen. Denn wäre es nach Ih-nen gegangen, dann würden wir bis heute das türkischeNarrativ wiederholen, dass es den Völkermord nicht gab.Ich verstehe das nicht; denn ich unterstelle Ihnen guteAbsichten. Auch Sie wollen zur Versöhnung beitragen.Aber diese Haltung trägt nicht zur Versöhnung bei, son-dern stützt diejenigen, die den Völkermord leugnen, unddiejenigen, die Unterstützung brauchen, die Vertreter dertürkischen Zivilgesellschaft, werden im Stich gelassen.Da kenne ich mich, glaube ich, ganz gut aus.
Ich war im März zusammen mit der Kollegin EkinDeligöz in Armenien. Ich habe mit Vertretern der Regie-rung, der Opposition, der Zivilgesellschaft, mit vielengesprochen. Niemand dort bemerkt, dass wir die Mittelfür die Versöhnungsarbeit im Auswärtigen Amt deutlicherhöht haben. Auch unsere Diplomaten beklagen sichdarüber, dass sie diese Mittel gar nicht einsetzen können;denn an Veranstaltungen, wo der Begriff Völkermordauftaucht, dürfen sie nicht teilnehmen. Das versteht nie-mand. Ich hoffe, dass sich das nach dem heutigen Tageändern wird.Ich habe mich, als ich dort im Andenken an die Opferdes Völkermordes den Kranz niedergelegt habe, gefragt:In welcher Eigenschaft mache ich das? Natürlich als Ab-geordneter des Deutschen Bundestages, als Vorsitzendereiner deutschen Partei. Aber wenn man im Ausland un-terwegs ist, zumal in Armenien, und Cem Özdemirheißt, dann reist die Herkunft logischerweise mit. Inmeinem Fall zeigt es die ganze Zerrissenheit der Türkei.Denn ein Teil meiner Vorfahren kommt aus dem Kauka-sus; sie sind tscherkessischer Herkunft. Die Tscherkes-sen haben genauso wie die Muslime auf dem Balkanselber schrecklichstes Leid erfahren, sind vertriebenworden, sind Opfer von Mord und Vernichtung gewor-den. Und dieselben Tscherkessen haben sich in der Tür-kei zum Teil am Völkermord an den Armeniern beteiligt.Ich sage dies auch, weil es endlich Zeit ist, sich an dieOpfer aller Völkermorde, aller Vernichtungen zu erin-nern. Wir sind es den Opfern und ihren Hinterbliebenenschuldig, dass niemand ausgelassen wird und ab heutealles beim Namen genannt wird.
Ich habe gelesen, dass es auch darum geht, dass wirden Versöhnungsprozess nicht unterbrechen. Ich kannSie beruhigen. Ich war gestern in Istanbul. Ich habe aneiner türkisch-armenischen Veranstaltung zum Anden-ken an die Opfer vom 24. April 1915 teilgenommen. Andieser Veranstaltung haben Vertreter der Zivilgesell-schaft, auch türkische Abgeordnete und andere Personenteilgenommen. Alle waren sich einig in der Frage, die siean mich gerichtet haben: Was wird der Deutsche Bun-destag 100 Jahre nach dem Völkermord in dieser Fragemachen? Ich habe dort Folgendes gesagt: Der DeutscheBundestag wird mit all seinen Rednern, mit all seinenFraktionen 100 Jahre danach aufhören, so zu tun, als obwir nichts mit dem Völkermord zu tun gehabt hätten. Erwird ihn anerkennen, und er wird heute eine neue Seiteaufschlagen. – Und wir sind heute Zeugen davon, liebeKolleginnen und Kollegen.Ich habe noch etwas gesagt: Kein deutsches Außen-ministerium, kein deutsches Auswärtiges Amt wirdmehr Formulierungen verwenden wie – ich zitiere –„Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/1916“, um die damals unterlassene Hilfeleistung undMitverantwortung zu verleugnen. Auch das wird mitdem heutigen Tag der Vergangenheit angehören, liebeKolleginnen und Kollegen.
Es ist aber auch für die Türkei selber wichtig, dass dieEreignisse von 1915 aufgearbeitet werden. Denn hättedie Türkei den Völkermord aufgearbeitet, dann hätte1938 nicht das Massaker an den Aleviten in Dersimstattgefunden,
dann hätten die Griechen am 6./7. September 1955 keinPogrom erleben müssen, dann hätte vielleicht derschmutzige Krieg mit den Kurden nicht stattgefunden.Ich bin mir auch sicher: Hätte man sich nicht am Besitzder Armenier bereichert, wäre das Verständnis für dieNormen der Rechtsstaatlichkeit stärker ausgeprägt wor-den.Wie sagte mein ermordeter türkisch-armenischerFreund Hrant Dink: Wären die Armenier heute noch amLeben, die osttürkische Stadt Van wäre heute so etwaswie das Paris des Ostens. – Es ist wichtig, zu verstehen,dass damals Geistliche, Ärzte, Verleger, Journalisten,Anwälte, Lehrer wie auch Politiker umgebracht wordensind. Manche haben sich für sie eingesetzt, beispiels-weise der damalige US-Botschafter Henry Morgenthau,der immerhin durchsetzen konnte, dass der berühmte os-manische – nicht nur armenische, sondern auch osmani-sche – Komponist Komitas gerettet wurde. Er hat nachseiner Rettung nie wieder eine Note angerührt, nie wie-der ein Wort geäußert angesichts des Leids, das er erfah-ren hat.Ich wünsche mir künftige türkische Schulbücher, indenen an das Leid dieser Menschen erinnert wird. Ichwünsche mir in der Türkei Schulbücher, in denen dieKinder etwas darüber erfahren, was dem OsmanischenReich und der Türkei verlorengegangen ist. Ich wünschemir, dass Kinder in der Türkei künftig lernen: NichtTalaat Pascha und Enver Pascha sind die Helden für dieTürken von heute, sondern es war der Gouverneur vonKütahya, der gesagt hat: In meinem Verwaltungsbezirkwird der Befehl aus Istanbul nicht angewendet. Kein ein-ziger Armenier wird angerührt. – Das sollten die Vorbil-der sein, über die unsere Kinder etwas lernen. Dann ler-
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nen sie nämlich auch, dass sich so etwas nie wiederholendarf.
Um auch das klar zu sagen: Es geht hier nicht umÜberheblichkeit. Es geht hier nicht darum, dass wir miterhobenem Zeigefinger sprechen, sondern wir sprechenals Freunde zu Freunden. Wir wollen als Freunde derTürkei sagen: Es liegt auch im türkischen Interesse, dasssich die Grenze zu Armenien öffnet und sich eines Tagesdie Grenze zwischen der Türkei und Armenien so dar-stellt wie heute Gott sei Dank die Grenze zwischenDeutschland und Polen und zwischen Deutschland undFrankreich. Das muss geschaffen werden, das kann ge-schaffen werden, und dazu müssen wir alle unseren Bei-trag leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich will ein Weiteres sagen: Das zweifelhafte Privilegdes ersten Völkermordes in diesem Jahrhundert habenleider wir Deutsche. Denn das, was damals im sogenann-ten Deutsch-Südwestafrika, in unserer damaligen Kolo-nie, mit den Herero und Nama passierte, erfüllt ebenfallsden Tatbestand eines Völkermordes. Auch deshalb eig-nen wir uns nicht als Lehrer, sondern höchstens als Rat-geber,
als diejenigen, die sagen können: Wer sich mit den dunk-len Flecken der eigenen Geschichte beschäftigt, der wirddaran nicht kleiner, sondern – im Gegenteil – wächst da-ran.Es ist darum höchste Zeit, dass wir den Opfern end-lich unser Mitgefühl aussprechen und uns entschuldigen:bei den Armeniern, bei den Aramäern, bei all denen, diedurch das Osmanische Reich damals Leid erfahren ha-ben. Aber auch wir hatten eben ein Deutsches Kaiser-reich, das nichts dafür getan hat, dass diese Menschengeschützt werden. Ich hoffe, dass künftige Generationenin Armenien und in der Türkei wieder die Chance be-kommen, als Nachbarn, als Freunde, als Brüder undSchwestern aufzuwachsen. Heute leisten wir einen Bei-trag dazu.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ichhabe gestern in der Süddeutschen Zeitung einen Hinweisauf ein faszinierendes Internetprojekt gelesen. Nicht mitdem Ziel der Wiederaneignung, sondern als Projekt derAufklärung und Erinnerung werden dort das Leben unddie Geschichte, die Kultur, die religiösen Riten, die fa-miliären Gebräuche der 2 Millionen Armenier auf demGebiet der heutigen Türkei zu Beginn des 20. Jahrhun-derts dargestellt. Man mag gar nicht aufhören, darin zuschmökern, weiterzuklicken und sich das anzusehen,weil es so faszinierend ist. Man bekommt in etwa einBild und einen Eindruck davon, wie das armenische Le-ben in der Türkei heute aussehen könnte, wenn es denVölkermord nicht gegeben hätte.Wir verneigen uns heute vor den armenischen Opferndes Völkermords und gedenken auch der Massaker anund der Vertreibung von Assyrern, Aramäern, osmani-schen Griechen und anderen. Warum tun wir dies? Wirkönnen niemandem das Leben zurückgeben; aber wirkönnen versuchen, ein Stück der Würde zurückzugeben;vielleicht ist auch das eine Chance für armenische Fami-lien und das armenische Volk, das Erlittene zu verarbei-ten.
Und wir warnen – deshalb sind wir es uns schuldig,die Geschehnisse so klar zu benennen –: Niemand aufder Welt, der Auslöschung oder Ausradieren von Bevöl-kerungsgruppen planen könnte – ich fürchte, es gibt sol-che Leute auch heutzutage auf der Welt –, niemand vondenen wird, ohne Rechenschaft dafür ablegen zu müs-sen, davonkommen; das ist auch die Botschaft des heuti-gen Tages.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin Vorsitzendereines Deutsch-Griechisch-Türkischen Städtepartner-schaftsvereins, eines Dreierbündnisses, das dem Gedan-ken des Verständnisses, der Verständigung und der Aus-söhnung verpflichtet ist. Nicht nur deshalb liegt mir dieFreundschaft mit der Türkei und den Türkinnen und Tür-ken besonders am Herzen. Ich versuche die tiefen Ge-fühle und die Verletzungen der Armenier zu verstehen;ich versuche aber auch zu verstehen, warum es eigent-lich in der Türkei so schwierig ist und ihr so schwerfällt,das Ganze zu verarbeiten und auch als Völkermord zubezeichnen.Ich habe eine Zuschrift bekommen von einem tür-kischstämmigen Mitbürger. Er hat geschrieben: Ich binmir sicher, dass meine Vorfahren so nicht gehandelt ha-ben. – Gestern Abend bin ich mit einem Fahrer unter-wegs gewesen, der mir gesagt hat: Wenn Sie da morgensprechen, denken Sie bitte auch an die Türken inDeutschland, die möglicherweise nicht verstehen wer-den, wie Sie die Dinge diskutieren und wie Sie sie be-nennen.
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9660 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Frank Schwabe
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Ich glaube, wir alle versuchen, diese Gefühle zu ver-stehen, wir versuchen, zu verstehen, wie sich Menschenfühlen, und wir versuchen, deutlich zu machen: Es gehtnicht um persönliche Verantwortung – wie könnte es umpersönliche Verantwortung gehen bei einem Völker-mord, der 100 Jahre zurückliegt! –, aber es geht um eineGesamtverantwortung der Türkei, und es geht um eineVerantwortung den Armeniern gegenüber. Deswegen istes richtig, dass wir heute so breit der Aufforderung desEuropaparlaments nachkommen und den Völkermordauch Völkermord nennen, und es ist gut, dass wir das inso großer Übereinstimmung der Institutionen nach einerdurchaus intensiven Debatte in den letzten Wochen tun.
Wir kommen unserer Verantwortung auch nach, weiles – auch das ist angesprochen worden – ein ganz dunk-les Kapitel deutscher Geschichte gibt. Deutschland trägtMitverantwortung, mindestens durch Unterlassung, bisan die Spitze der Reichsregierung. Und Deutschland warauch eingebunden in die Kommandostrukturen des Os-manischen Reiches. Deswegen ist es gut – wir müssendafür danken –, dass es mittlerweile Publikationen zudiesem Thema gibt – man kann das nachlesen – und dassdazu auch weiter geforscht wird.Wir benennen heute die Verbrechen der Vergangen-heit, um in die Zukunft schauen zu können. Was mir da-bei Hoffnung macht, ist, dass es in der Tat – auch das istangesprochen worden – zarte Pflanzen von Verständi-gungsprozessen gibt. So hatten sich – auch das gehörtzur Wahrheit – vor 100 Jahren auch Kurden an der Ver-treibung von und an Massakern an Armeniern beteiligt.Mittlerweile, seit 2011, ist die armenische St.-Giragos-Kathedrale in Diyarbakir wieder renoviert und wurdeauch wieder geweiht, mit Unterstützung der Kurden. Ichfinde, das ist ein gutes Signal, wie Verständigung ausse-hen kann.
Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen, ich komme gerade von der Parlamentari-schen Versammlung des Europarates in Straßburg. Dortgibt es einen Plenarsaal wie hier, und vor dem Plenarsaalsind zwei Ausstellungen zu betrachten, ungefähr 20 Me-ter voneinander entfernt. Vielleicht ist es nicht ganz zu-fällig, dass es genau zwei Ausstellungen gibt. Die einewird von Armenien ausgerichtet zum Thema „100 JahreVölkermord“; Herr Jung nickt, wir waren gemeinsam da.Die von der Türkei ausgerichtete Ausstellung heißt: SafeHarbour Turkey, also Sicherer Hafen Türkei; dabei gehtes darum, was die Türkei geleistet hat während des Ho-locaust, aber auch aktuell in der Syrien-Krise – es ist an-gesprochen worden –, um Menschen zu helfen, um Men-schen bei sich zu beherbergen. Das ist eine wirklichbeachtliche Leistung der Türkei.Ich wünsche mir – das ist, glaube ich, die Hoffnungvon uns allen –, dass wir dort in einigen Jahren eine ge-meinsame Ausstellung betrachten können, in der die bei-den Länder sich gemeinsam der Verantwortung stellen,sich gemeinsam mit dieser Völkermordsituation aus-einandersetzen und daraus Kraft schöpfen für sich selbst,für die Region, für Europa, aber auch für die gesamteWelt.
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Röttgen für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich möchte mich in meinem Beitrag auf die Fragekonzentrieren, warum es so wichtig, ja warum es so not-wendig ist, dass der Deutsche Bundestag in der heutigenDebatte und fortan über den und vor allen Dingen vondem Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahrenspricht. Ich glaube, dazu müssen wir uns bewusst ma-chen bzw. bewusst zu machen versuchen, was eigentlichVölkermord ausmacht, gewissermaßen der Fragestel-lung nachgehen, worin das spezifische Unwesen vonVölkermord liegt.Nach meiner Beobachtung geht es den Organisatorenvon Völkermord regelmäßig darum, durch physischeVernichtung ein Volk für immer zum Schweigen zu brin-gen, es aus der Geschichte zu tilgen, sei es als Ganzesoder als Minderheit in einer Bevölkerung. Völkermordist gewissermaßen die umfassende Negation des Rechtsder physischen Existenz und der Erinnerung an ein Volk.Dieser umfassenden Negation dürfen wir nicht auchnoch die Negation des Verbrechens als solches hinzufü-gen, meine Damen und Herren. Das dürfen wir nicht!
Vielmehr ist es ein zwingendes Gebot der Solidaritätmit den Opfern und ihren Nachfahren, von dem Verbre-chen als einem Völkermordverbrechen zu sprechen. Dasschulden wir den Opfern und ihren Nachfahren.
Gemäß diesem Verständnis ist die Bezeichnung alsVölkermord darum nicht eine Möglichkeit, angemessenvon den damaligen Geschehnissen zu sprechen, sondernnach meiner Überzeugung die einzige Möglichkeit einerangemessenen Sprache über die historischen Gescheh-nisse.
In der Verwendung dieses Begriffes liegt keine Reduk-tion der Geschehnisse auf einen Begriff, sondern die
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Dr. Norbert Röttgen
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Verwendung des Begriffes ist die Beschreibung der Di-mension dessen, was stattgefunden hat. Es ist also genauandersherum.
Wenn das so ist, dann gehört zu einer ehrlichen De-batte heute allerdings auch die Frage: Warum geschiehtdas, auch in Deutschland, erst 100 Jahre später, erstheute?
Es gehört zur Ehrlichkeit, die wir uns selbst schulden,uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich glaube nicht,dass das in Polemik abgehandelt werden sollte. Aller-dings liegt dem ein Argument zugrunde, das ich fürfalsch halte, und ich möchte es aussprechen und michdamit beschäftigen. Das Argument war, dass man abwä-gen müsse. Zwar lägen allen die Fakten vor Augen, dochwir müssten – so lautete das Gegenargument – abwägen,da wir, wenn wir in dieser Weise in die Identität und dasIdentitätsgefühl der Türken eingriffen, möglicherweisekeinen Beitrag zu Aussöhnung und Aufarbeitung leiste-ten. Das lag und liegt bei manchen womöglich noch demArgument der Abwägung zugrunde.Ich bin der Auffassung, dass Abwägung ein Wesens-prinzip demokratischer Politik ist. Dadurch unterschei-det sich demokratische Politik von extremistischen undpopulistischen Auffassungen. Aber, um es etwas untech-nisch zu formulieren: Bei Völkermord hört die Abwä-gung auf, meine Damen und Herren!
Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist dasuniverselle, nicht abwägungsfähige normative Grundbe-kenntnis unserer Verfassung. Es bindet uns politisch undnormativ. Die Anerkennung von Völkermord ist eineFrage der Menschenwürde, meine Damen und Herren.
Es widerspricht jeder Erfahrung, dass durch fortge-setztes Verschweigen ein Beitrag zum Dialog geleistetwerden könnte. Alle Erfahrung belegt das Gegenteil.
Auch wenn es der schwierige, schmerzhafte Schritt seinsoll, wie auch wir aus unserer Erfahrung beitragen kön-nen: Mit dem Aussprechen dessen, was geschehen ist, istdie Chance auf Aussöhnung und Aufarbeitung gegeben.Dieser erste Schritt muss getan werden. Wir wissen, dasses schmerzhaft ist. Es ist nicht zu billigen, es nicht zuschildern; aber wir müssen verstehen, dass dieser Völ-kermord, genauer gesagt, das Bestreiten des Völkermor-des für das nationale Empfinden und für die nationaleIdentität in der Türkei eine besondere Rolle spielt. Dasmacht die Schwierigkeit aus, aber wir dürfen die feh-lende Aufarbeitung nicht durch Verschweigen fortset-zen, sondern müssen versuchen, einen Beitrag zu leisten.Ich will kurz noch aus meiner Sicht betonen: All dasgilt prinzipiell, aber es gilt besonders für Deutsche undDeutschland, weil es von Anfang an deutsche Mitwisser-schaft gegeben hat, weil das Deutsche Reich erheblichEinfluss hätte nehmen können, um dieses Verbrechenaufzuhalten, zu behindern, zu stoppen, und weil es vonAnfang an – darauf hat Professor Wolfgang Seibel vorkurzem hingewiesen – eine Komplizenschaft auch desDeutschen Reiches und Deutschlands beim Verschwei-gen und Vertuschen gegeben hat.
Darum gibt es auch eine besondere deutsche Verant-wortung.Es gab Verschweigen, Verdrängen und Vertuschenvon Anfang an. Heute beenden wir das Verdrängen undVertuschen, aber nicht mit dem Verständnis, dass damitein Ende gesetzt wird, sondern in dem Bemühen, dassdurch das Aussprechen ein Beitrag zu einem Anfang fürAufarbeitung und Versöhnung geleistet wird. Auch100 Jahre danach ist es nicht zu spät. Es ist überfällig,und wir versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten.
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Dietmar
Nietan das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am27. Januar des Jahres 2000 hat hier, an diesem Redner-pult, der große Elie Wiesel zu uns gesprochen. Er hat unsdamals, am Holocaust-Gedenktag, eine Mahnung mitauf den Weg gegeben. Er sagte – ich zitiere –:Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an dieOpfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.Heute sind wir hier in diesem Hohen Hause zusam-mengekommen, um den Opfern des Völkermords an denArmeniern vor 100 Jahren unsere Ehre zu erweisen.Dass nunmehr in den Entschließungsanträgen aller Frak-tionen vom Völkermord gesprochen wird, geschiehtnicht, um Hass zu schüren oder ein befreundetes Landwie die Türkei belehren oder gar beleidigen zu wollen.Vielmehr wollen wir heute deutlich machen – ganz imSinne von Elie Wiesels Mahnung –, dass wir uns ebennicht dazu herbeilassen wollen, die Erinnerung an dieOpfer zu verdunkeln.
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Dietmar Nietan
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Aus diesem Grund, weil wir den unschuldigen OpfernGerechtigkeit widerfahren lassen wollen, haben wir unsdazu entschlossen, die vom damaligen jungtürkischenRegime befohlene systematische Vertreibung und Ver-nichtung der anatolischen Armenier wie auch die derAramäer, Assyrer, der chaldäischen Christen undPontusgriechen als das zu bezeichnen, was diese Verbre-chen ohne Zweifel waren: ein Völkermord.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern Abend hatunser Bundespräsident in einer sehr beeindruckendenRede zu Recht gefordert, dass wir Deutsche uns insge-samt der Aufarbeitung unserer Mitverantwortung odervielleicht sogar Mitschuld beim Völkermord an den Ar-meniern stellen müssen. Wir, die Abgeordneten desDeutschen Bundestages, sollten uns deshalb in allerForm gegenüber dem armenischen Volk für die damaligemoralische Gleichgültigkeit des Deutschen Reiches ent-schuldigen.
Gott sei Dank sind heute viele Menschen in der Tür-kei in der Frage des Umgangs mit diesem Völkermordviel weiter als ihre eigene Regierung. Schauen wir unsnur an, welche wirklich guten zivilgesellschaftlichen Ini-tiativen sich in der Türkei in den letzten zehn Jahren ge-gründet haben, die das Wort „Völkermord“ nicht aus-sprechen, um zu polarisieren, sondern weil eben dieWahrheit die Grundlage der Versöhnung sein muss. Hin-ter dieser beispielhaften, mutigen Arbeit der türkischenZivilgesellschaft sollten wir als Bundestag nicht zurück-bleiben.Was meine ich damit? Ich bin froh, dass die heutevorliegenden Anträge in die Ausschüsse verwiesen wer-den. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass wir heute ei-nen gemeinsamen Antrag vorgelegt hätten.
Ich hoffe sehr, dass in der Ausschussberatung deutlichwird, dass wir die richtige Balance zwischen Eifer undGleichgültigkeit finden.
Es geht nämlich nicht darum, dass der Antrag der besteist, in dem das Wort „Völkermord“ am häufigsten auf-taucht. Es geht nicht darum, etwas zu unterstellen, weilwir eine andere Meinung haben, wie man das Wort auchim offiziellen diplomatischen Gebaren verwendet. Esgeht auch nicht darum, der Bundesregierung zu unter-stellen, dass sie bisher nicht alles getan hat, oft auch hin-ter den Kulissen, damit es zur Versöhnung kommt unddamit sich auch die Türkei der Auseinandersetzung mitdem Völkermord stellt. Vielmehr geht es darum, dasswir eine verantwortungsvolle Arbeit leisten, die nur einZiel haben kann, nämlich Versöhnung, nicht Rechthabe-rei. Das geht nur, wenn wir dabei auch die türkischenFreunde mitnehmen.
An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass esselbstverständlich zu begrüßen ist, wenn es jetzt undauch schon im letzten Jahr Aussagen türkischer Regie-rungsmitglieder gibt bzw. gegeben hat, die den Nachfah-ren der Opfer ihr Beileid aussprechen. Allerdings wer-den in diesen Erklärungen die Verbrechen an denArmeniern gleichzeitig weiter relativiert, indem sie alseine Art unvermeidliche, fast schon natürliche Begleiter-scheinung des Ersten Weltkriegs dargestellt werden. Wiralle, aber auch die jetzige türkische Regierung wissen,dass die Armenier nicht zufällig irgendwelchen Kriegs-wirren, sondern einem eiskalt geplanten Verbrechen desdamaligen türkischen Staates zum Opfer gefallen sind.Dazu muss sich die Türkei bekennen, liebe Kolleginnenund Kollegen.
Generationen von heranwachsenden Menschen in derTürkei wurde in den Schulbüchern ein Bild der Ereig-nisse eingepflanzt – so möchte ich es nennen –, mit demversucht wurde, auch nicht den leisesten Verdacht auf-kommen zu lassen, dass sich der türkische Staat an denArmeniern vergangen hat. Deshalb war es so leicht,Emotionen in der Türkei zu schüren, weil man den Men-schen erzählt hat: All die, die innerhalb und außerhalbder Türkei von Völkermord sprechen, tun das, weil sieden Ruf unseres Landes beschädigen wollen. – Das istfalsch. Leider ist es genau umgekehrt; denn aus dem hin-ter diesem Geschichtsbild stehenden Zwang, die wahrenAusmaße der damaligen Verbrechen und ihre Urheber zuverleugnen, weil man glaubt, sonst die nationale Identi-tät zu verlieren, erwächst am Ende nur erneutes Unrecht.Diesen Zyklus kann nur einer durchbrechen, nämlich dietürkische Regierung.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchteich deutlich machen, dass ich der festen Überzeugungbin, dass am Ende die Menschen in der Türkei selbstwissen wollen, wie ihre Geschichte war, und dass sieauch zu den dunklen Seiten ihrer Geschichte stehen wol-len. Weil das so ist, bin ich fest davon überzeugt, dass eszu einer Versöhnung kommen wird. Immer mehr Men-schen in der Türkei fragen nach ihrer Vergangenheit undentdecken dabei zum Beispiel ihre eigene verschüttetearmenische Geschichte.Deshalb kann man sagen: Der 1915 gestartete Ver-such, das westarmenische Volk und seine Kultur auszu-löschen, ist gescheitert. Er musste scheitern, weil es ei-nen uneinnehmbaren Ort gibt: Er nennt sich Erinnerung.Diesen Ort gibt es nicht nur in den Herzen der Nachfah-ren der Opfer, sondern auch in den Herzen einer wach-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9663
Dietmar Nietan
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senden Zahl von Menschen, die nicht vergessen und ver-tuschen wollen. Das Großartige ist, dass die Zahl dieserMenschen wächst – in einem wunderbaren Land, wel-ches wir Türkei nennen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben uns heute Vormittag hier versammelt, um Anteilan dem Schicksal der Opfer des Genozids im Osmani-schen Reich zu nehmen. Wir haben uns nicht versam-melt, um irgendjemanden an den Pranger zu stellen. Wirwollen derer gedenken, die Opfer geworden sind, unddaraus auch die Lehren ziehen.Auf den Tag genau vor 100 Jahren begann der Völ-kermord an den Armeniern, den Aramäern, den Assy-rern, den Chaldäern und auch den Pontosgriechen imOsmanischen Reich. Es waren alle dort ansässigenchristlichen Religionsgemeinschaften davon betroffen.„Dieses schreckliche Geschehen sollte als das be-zeichnet werden, was es war: ein Genozid“, stellte JosefSchuster, der Präsident des Zentralrats der Juden inDeutschland, mit Recht fest. Und er fügte an: „Hitler hatsich später den Völkermord an den Armeniern quasi zumVorbild für die Vernichtung der Juden genommen“.Prophetisch hat Franz Werfel in seinem Roman „Dievierzig Tage des Musa Dagh“ die Todesmärsche alswandernde Konzentrationslager geschildert. Es kommtnicht von ungefähr, dass Peter Glotz und ich seinerzeit,vor 15 Jahren, den Menschenrechtspreis der Stiftung„Zentrum gegen Vertreibungen“ nach Franz Werfel be-nannt haben, um damit einen Denkstein zu setzen. Dererste Preisträger im Jahr 2003 war Mihran Dabag, derArmenier, der sich mit der Genozidforschung beschäftigthat.Aufarbeitung und Gedenken beginnen mit der Aus-einandersetzung über das Geschehene. Es ist gut, dassKünstler, Intellektuelle und Teile der türkischen Bevöl-kerung längst über das Stadium der stillen innerlichenArtikulation hinaus sind. Die Reflektion erfolgt öffent-lich. Man setzt sich mit dem Schicksal der früheren ar-menischen Mitbürger auseinander und nimmt Anteil da-ran.So haben im Jahr 2008 viele Menschen in der Türkeieine Erklärung veröffentlicht und das unerträgliche lang-jährige Schweigen durchbrochen. Das war ein wichtigerund mutiger Schritt. Denn Mut gehörte damals wie heutedazu, und diesen Mut sollten wir unterstützen. Das lässtsich schon daran ermessen, wie auch heute noch seitensder türkischen Regierung mit diesem Teil ihrer eigenenGeschichte umgegangen wird, wenn beispielsweise Bot-schafter nur deshalb abgerufen werden, weil eine Voka-bel verwendet wurde, mit der man sich nicht auseinan-dersetzen möchte.Unverständlich und für mich unbegreiflich ist die Ve-hemenz, mit der heute noch auch bei uns in Deutschlandin Teilen von Politik und Gesellschaft gegen eine unge-schönte und unrelativierende Benennung dieses Geno-zids als Genozid reagiert wird. Ich kann es nicht verste-hen.In dem vorliegenden Antrag wird mit Fug und Rechtdie seinerzeitige viel zu große Rücksichtnahme der deut-schen Reichsregierung auf den türkischen Bündnispart-ner im Ersten Weltkrieg angeprangert. Frau KolleginJelpke hat darauf hingewiesen: Karl Liebknecht war ei-ner derjenigen, der das öffentlich angeprangert hat. Aberes gab noch jemanden, der das getan hat, und zwar derZentrumspolitiker Matthias Erzberger. Ganze zwei Poli-tiker im Deutschen Reich haben sich öffentlich mit die-ser Thematik auseinandergesetzt.Angesichts der Zurückhaltung, etwas eindeutig zu be-nennen, das eindeutig ist, stellt sich die Frage, ob esnicht auch heute eine unangemessene Rücksichtnahmeauf den NATO-Bündnispartner Türkei ist, die verhindernwill, dass der Genozid im Osmanischen Reich ohne Um-schweife und Verbrämung schlicht und wahrheitsgemäßGenozid genannt wird. Die vorangegangenen Diskussio-nen in den letzten Wochen haben das im Grunde genom-men deutlich gemacht. Was ist denn die Folge daraus?Wir fallen damit den mutigen Kräften in der Türkei inden Rücken. Das kann nicht unser Anliegen sein.Was mit dem Genozid seinerzeit verbunden war, istfür uns unvorstellbar. Es war nicht nur die Tötung einerganzen Gruppe von Menschen; es ging mit einer un-glaublichen Brutalität vor sich. Man massakrierte dieMenschen. Martin Niepage, von 1913 bis 1916 Lehreran der Deutschen Schule in Aleppo, berichtete:Viel entsetzlichere Dinge erzählten die Ingenieureder Baghdad-Bahn, nachdem sie nach Hause zu-rückgekehrt waren. Sie berichteten, dass am Bahn-damm bei Tel Abbait und Rasulain geschändeteFrauenleichen massenhaft herumlagen. Vielen vonihnen hatte man Knüppel in den After hineingetrie-ben.Der deutsche Konsul aus Mosul, Herr Holstein, be-richtete, er habe auf manchen Stücken des Wegesvon Mosul nach Aleppo so viele abgehackte Kin-derhände liegen sehen, dass man damit den ganzenWeg hätte pflastern können.Ja, es war wohl wahr: Kinder und Frauen wurdenauch in die Sklaverei geschickt. Die Zerstörung und dieEntweihung unzähliger Kirchen und Klöster, die Ver-nichtung ganzer Dörfer gehörten zu dem perfiden Plan.Die Vertreibung geschah systematisch zur Vernich-tung der Menschen. Opfer starben auf den Todesmär-schen in der syrischen Wüste. Ein Beamter des deut-schen Konsulats beschreibt die Lage im Juli 1916 ineinem Schreiben an den Reichskanzler – die deutschen
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9664 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Erika Steinbach
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Diplomaten haben immer wieder darauf hingewiesenund gemahnt, aber es ist nichts erfolgt – wie folgt:… die Strecke von Sabkha über Hammam nachMeskene sei mit … Kleidungsstücken übersät; siesähe aus, als ob dort eine Armee zurückgegangenwäre.Er schrieb weiter, dass allein in Meskene 55 000 Arme-nier begraben seien.Von mancher Seite kommt heute der Rat, die Arme-nier und andere Opfergruppen sollten sich auf die Gegen-wart und die Zukunft konzentrieren, statt Kraft darauf zuverwenden, die Staaten der Welt zur Anerkennung desGenozids am eigenen Volk aufzufordern. Die Fragedrängt sich direkt auf, ob die Wirkung eines solchen Ver-brechens an einem Volk alle Zukunftsorientierung überGenerationen hinweg lahmlegt oder sie gar gänzlichnimmt.Ich glaube, dieses Leid zu teilen, es anzuerkennen, esbeim Namen zu nennen, hilft den Nachfahren der Opfer,ihre eigenen Kräfte wieder zu stärken, zu bündeln unddie Zukunft besser zu bewältigen. Man braucht Solidari-tät von anderen, die keine Opfer waren, oder von ande-ren, die auch Opfer waren und sich an die Seite stellen.Das hat Papst Franziskus sehr deutlich gemacht. Ihmzufolge ist das Gedenken eine unabdingbare Pflicht derMenschen; „… denn“, so Papst Franziskus, „wo es keineErinnerung gibt, hält das Böse die Wunde … offen“.Deshalb ist es gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, dasswir uns heute gemeinsam erinnern und an der Seite derNachfahren der Opfer stehen.Danke.
Zum Schluss dieser Aussprache erhält der Kollege
Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! GeehrteGäste! Lassen Sie es mich gleich beim Namen nennen:Wir gedenken heute des Völkermordes an den Armeni-ern, und wir beraten Anträge. Die abscheulichen undbrutalen Ereignisse vor nunmehr 100 Jahren im Osmani-schen Reich sind von meinen Vorrednern bereits be-leuchtet worden. Nicht übersehen dürfen wir hier imDeutschen Bundestag die unrühmliche Rolle des Deut-schen Reiches, das über die Vorgänge bestens informiertwar und nichts dagegen unternommen hat.Daraus erwächst für uns Deutsche heute eine ganz be-sondere Verantwortung. Diese gebietet uns erstens, dasgeschehene Grauen niemals zu vergessen, zweitens, diebedrückende, aber unzweifelhafte historische Wahrheitzu fördern, drittens – und aus meiner Sicht am wichtigs-ten –, die Versöhnung zwischen Armenien und der Tür-kei voranzubringen.Grundlage jeder Versöhnung ist eine wahrheitsgetreue,kritische Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Ge-schichte, eine ungeschönte historische Wahrhaftigkeit.Das wissen gerade auch die deutschen Heimatvertriebe-nen sehr genau. Dazu gehört auch die zutreffende Ein-ordnung der an den Armeniern verübten Verbrechen.Dabei geht es beileibe nicht um bloße juristische Kate-gorisierung. Davon zeugt allein schon die intensive De-batte der vergangenen Tage. Es geht um Anerkennungdes Leides in seinem vollen Umfang.Der Vorwurf des Völkermordes wiegt schwer. Dievölkerrechtliche Definition wurde heute schon mehrfachzitiert. Diese Definition hat übrigens keinesfalls einezeitlich einschränkende Komponente, etwa erst ab In-krafttreten der einschlägigen UN-Konvention im Jahr1951. Diese regelt nämlich nur die Konsequenzen für ei-nen schrecklichen Sachverhalt, der vor Inkrafttreten die-ser Konvention nicht etwa weniger schrecklich gewesenist. Es kommt auch niemand auf die Idee, andere Völker-morde vor 1951 mit dem gleichen Argument zu beschö-nigen.Mit einem solchen Vorwurf geht man nicht leichtfer-tig um. Wenn wir jedoch unserer Verpflichtung zurWahrheitsförderung gerecht werden wollen, müssen wiraus meiner Sicht anerkennen: Die Vertreibung und Er-mordung der Armenier vor 100 Jahren war Völkermord.Eine solche Feststellung ist schon allein deshalb sowichtig, weil sie die Opfer und deren Nachfahren vor derständig präsenten Relativierung oder gar Leugnung desErlittenen befreit und somit angemessenes – auch ge-meinsames – Gedenken und Erinnern ohne Rechtferti-gungsnot ermöglicht. Nicht nur aus diesem Grund binich froh, dass mit dem vorliegenden Koalitionsantrag einWeg begonnen wurde, sich historischen Tatsachen zu nä-hern und diese beim Namen zu nennen. Ich versteheauch den Ansatz hinter der gewählten Formulierung. DieAufarbeitung des Geschehens und die Versöhnung zwi-schen Armeniern und Türken – unsere Hauptanliegen –können nicht bei uns in Deutschland erfolgen. Wir kön-nen dafür aber Impulse geben.Ich sage ganz aufrichtig: Eine klare Formulierunghalte ich für unerlässlich, und dafür plädiere ich. Ob einVölkermord als solcher bezeichnet wird oder nicht,macht das Geschehene um nichts besser. Beschönigun-gen hingegen perpetuieren Unrecht in die Zukunft.Schon deswegen ermuntere ich die Türkei, hier etwasmutiger zu werden. Gleichzeitig liegt mir viel daran,deutlich zu machen, dass sich die Bezeichnung der Ver-brechen als Völkermord in keiner Weise gegen die Tür-kei oder gar ihre Bevölkerung richtet. Es ist kein Angriffauf das Ansehen der modernen Türkei, wenn wir an dasLeid der Opfer des Völkermords an den Armeniern erin-nern und das auch so nennen. Ganz im Gegenteil: EinStaat, der auch zu den dunkelsten Seiten der eigenen Ge-schichte steht, zeigt Stärke und wahre Souveränität.Gerade wir Deutschen haben unsere Erfahrungen mitder Aufarbeitung der eigenen Geschichte gemacht. VorJahrzehnten hätte kaum jemand zu hoffen gewagt, dass
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9665
Dr. Bernd Fabritius
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Deutschland – nach der Schoah und den Verbrechen derNazis – im Jahre 2015 nicht nur mit seinen Nachbarstaa-ten, sondern gerade auch mit Israel in enger Freund-schaft verbunden sein würde. Wir haben gelernt, dass einProzess der Aufarbeitung auch schmerzhafte Erkennt-nisse erfordert. Diese auszuhalten, macht aber stärker.Verzögerung wichtiger Aufklärungsarbeit oder garSchönfärberei begangener Verbrechen hingegen ist si-cher nicht der richtige Weg, um mit der eigenen Vergan-genheit umzugehen.Bedauerlich finde ich, dass in der Türkei diesbezüg-lich eher das Muster „einen Schritt vor, zwei Schritte zu-rück“ zu beobachten war. Das den Armeniern zugefügteLeid wird dort inzwischen zwar offener diskutiert; ermu-tigenden Signalen aus der türkischen Zivilgesellschaftfolgen jedoch allzu oft Rückschläge seitens der Regie-rung. Jenen, die es wagten, die Wahrheit offen auszu-sprechen – und Orhan Pamuk ist nur ein Beispiel –, wur-den Strafen angedroht, und wenn der Papst, dasEuropäische Parlament oder der Europarat den Völker-mord an den Armeniern als solchen benennen, reagiertdie türkische Regierung mit wütenden verbalen Ausfäl-len und mit Drohungen.Die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenenVergangenheit wäre jedoch unabdingbare Voraussetzungfür einen echten, nachhaltigen Versöhnungsprozess mitden armenischen Nachbarn. Von diesen erwarte ich Of-fenheit, Versöhnungsbereitschaft und den Verzicht aufverbale Rache. Die türkische Regierung fordere ich auf,sich offen mit der Vergangenheit des OsmanischenReichs auseinanderzusetzen und eine systematische Auf-arbeitung der Ereignisse vor 100 Jahren anzugehen. Daswäre letztlich auch im Interesse der Türkei selbst.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4684, 18/4335 und 18/4687 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Vorlage auf der Drucksache 18/4335 zum
Tagesordnungspunkt 25 b soll ebenfalls federführend
beim Auswärtigen Ausschuss beraten werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich möchte Sie dann noch darauf aufmerksam ma-
chen, dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sit-
zung darauf verständigt hat, wegen des gesetzlichen
Feiertags am 1. Mai, den wir selbstverständlich nicht auf-
heben wollen, die Frist für die Einreichung von Fragen
zur mündlichen Beantwortung, die üblicherweise freitag-
mittags endet, in der Sitzungswoche vom 4. Mai aus die-
sem Grund auf Donnerstag, den 30. April, 10 Uhr, zu ver-
legen, und frage, ob jemand dagegen Widerspruch
anmeldet. – Das ist nicht der Fall. Dann haben wir auch
das einvernehmlich so festgehalten.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 24:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann , Jutta Krellmann, Klaus
Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Programm für gute öffentlich geförderte Be-
schäftigung auflegen
Drucksache 18/4449
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Einen Wider-
spruch dazu sehe ich nicht.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Landesministerin Heike Werner das Wort.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrteDamen und Herren! Die Beschäftigungslage in Deutsch-land zeichnet sich durch drei Dinge aus: einen hohen Be-schäftigungsgrad, einen hohen Anteil an niedrig entlohn-ter und unsicherer Beschäftigung und einen hohen Anteildauerhaft erwerbsloser Menschen. Trotz der sogenann-ten Hartz-IV-Reformen und der derzeit guten Konjunk-turlage stagniert die Zahl der Menschen, die länger alsein Jahr erwerbslos sind, seit 2011 bei über 1 Million.Sehr geehrte Damen und Herren, hinter dieser Zahlverbergen sich individuelle Biografien von Menschen,die über Jahre hinweg die Erfahrung machen müssen,dass sie in der Arbeitswelt nicht gebraucht werden, dassihr Beitrag zum Wohlstand nicht benötigt wird. Das isteine erniedrigende Erfahrung. Ich denke, darüber sindwir uns in diesem Haus alle einig. Ich gehe auch davonaus, dass wir darin übereinstimmen, dass wir deshalbmehr für diese Menschen tun müssen, als dies in der Ver-gangenheit der Fall war.Es mehren sich auch schon seit längerem die Stim-men, nicht nur in der Linken, die Zweifel an der Agenda2010 äußern; denn, sehr geehrte Damen und Herren, esist vollkommen richtig, dass nicht mehr Menschen des-halb eine Arbeit finden, weil man sie mit Leistungskür-zungen zwingt, miese Jobs anzunehmen. Umgekehrt istes ja wohl so, dass die Reformen mit schlecht bezahlterArbeit gut bezahlte Arbeit verdrängt haben.
Was also tun, wenn der einstige Heilsweg sich als Holz-weg erweist?In den 90er-Jahren hatte sich die richtige Erkenntnisdurchgesetzt, dass die Arbeitsmarktpolitik die kontinu-ierliche Anpassung der beruflichen Qualifikationen andie sich wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt un-terstützen muss. Zum Glück wurde mit Hartz IV dieseaktive Arbeitsmarktpolitik nicht ganz aufgegeben, auchwenn ich hinzufügen muss, dass mit Hartz IV das For-
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Ministerin Heike Werner
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dern eindeutig die Oberhand über das Fördern gewonnenhat.Dabei ist es erwiesen, dass die Instrumente der akti-ven Arbeitsmarktpolitik, also berufliche Qualifizierung,Einarbeitungszuschüsse, Umschulungen usw., in einerbestimmten Situation von Nutzen sein können. Wir wis-sen, dass davon vor allem diejenigen profitieren, dienoch nicht lange erwerbslos sind oder unmittelbar vonder Arbeitslosigkeit bedroht sind. Deshalb sollten wir andiesen Instrumenten festhalten.Aber wir müssen uns auch fragen: Was tun wir fürdiejenigen, die schon seit Jahren raus sind aus dem Job?Viele von ihnen haben Hunderte Bewerbungen geschrie-ben, haben sich weitergebildet oder umschulen lassen.Sie haben Bewerbungstrainings mitgemacht, haben sichin 1-Euro-Jobs verdingt, haben als Leiharbeiter gejobbtoder für ein, zwei Jahre in einem Beschäftigungsprojektgearbeitet. Was sagen wir diesen Menschen? Erzählenwir ihnen weiterhin, dass nur die zweite Beschäftigungs-maßnahme, die dritte Schulung oder das vierte Bewer-bungstraining durchlaufen werden muss und dann ganzbestimmt ein fester Arbeitsplatz da sein wird? Ich bitteSie! Das kann nicht unser Ernst sein. Diese Menschenwissen ganz genau, genauso gut wie wir hier, dass ihneneine weitere Maßnahme nichts nützen wird.
Es ist gut gemeint, wenn es heißt, dass die Arbeits-marktpolitik den Menschen eine Brücke in den erstenArbeitsmarkt bauen soll. Aber in den Ohren derjenigen,die schon über viele dieser Brücken gegangen sind, ohnedass am anderen Ende ein Arbeitsplatz gestanden hat,sind das leere Worte. Ich sage Ihnen: Die Menschen ha-ben damit recht. Sie haben recht, wenn sie sagen, dasssie einen anständigen Arbeitsplatz wollen, an dem siezeigen können, was in ihnen steckt, an dem sie Bestäti-gung erfahren und wo ihre Leistung wertgeschätzt wird.
Wenn es diese Arbeitsplätze weder in Unternehmennoch im öffentlichen Dienst gibt, dann sind wir dazuverpflichtet, anderswo ordentliche Arbeitsplätze zuschaffen.
Manche mögen jetzt einwenden, dass das bereitsgeschieht. Richtig: Wir haben Bürgerarbeit, wir haben1-Euro-Jobs. Aber ist das gute Arbeit? Sind das die Ar-beitsplätze, die die Menschen brauchen? Von einem gu-ten Arbeitsplatz erwarten die Menschen zu Recht, dasser anständig entlohnt ist, dass er voll sozialversiche-rungspflichtig ist, dass er auf Freiwilligkeit beruht unddie Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung bietet. Alldas bieten die diversen Modelle von Bürgerarbeit geradenicht. Auch das neue Programm von ArbeitsministerinNahles für 10 000 geförderte Arbeitsplätze, das wirgrundsätzlich begrüßen, erfüllt diese Anforderungen lei-der nicht. Die zentrale Schwachstelle dieser Programmeist, dass sie denjenigen Menschen, die keine Chance aufdem Arbeitsmarkt haben, keine dauerhafte Beschäfti-gungsperspektive bieten. Mit Beginn ihrer Beschäfti-gung kennen die Menschen schon das Datum, an dem siewieder mit Hartz IV auf der Straße stehen werden. Dasist keine Perspektive.
So sieht das im Übrigen auch der Chef der Bundes-agentur für Arbeit, Herr Weise. Er sagte: „Wir müssenfeststellen, dass für diese Menschen kein Angebot daist.“ Eine wirkliche Perspektive – auch das hat HerrWeise in dieser Woche gesagt – besteht darin, öffentlichgeförderte Arbeitsplätze zu schaffen, die prinzipiell auchvon Dauer sein können. Genau dieser Aufgabe stellenwir uns in Thüringen.Ich möchte dabei eines klarstellen: Mir geht es nichtdarum, Leistungen für Ausbildung, Qualifizierungen,Praktika usw. zurückzufahren. Das ist aber in den letztenJahren im Bund geschehen, was ich ausdrücklich kriti-siere. Wir müssen beides tun: die Vermittlung stärkenund Arbeitsplätze für diejenigen schaffen, die anderwei-tig keine realistische Chance auf einen Job haben. Dassind nicht wenige Menschen. Nach Auffassung der Bun-desagentur für Arbeit hat von den 1 Million Langzeit-arbeitslosen in Deutschland nur rund die Hälfte mithilfevon Qualifizierungs- und Schulungsangeboten eineChance, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Stelle zubekommen. Weitere 300 000 Langzeitarbeitslose bedürf-ten Trainingsmaßnahmen und sind damit vielleicht aufmittlere Frist in eine Stelle zu vermitteln. Weitere200 000 Menschen haben keinerlei Chance auf dem Ar-beitsmarkt, darunter viele Ältere und Menschen mit ge-sundheitlichen Einschränkungen. In Thüringen sind das20 000 Menschen. Sie beziehen seit 2005 durchgängigHartz IV.Dennoch haben viele dieser Menschen immer nochden starken Wunsch, sich über Arbeit in die Gesellschafteinzubringen. Das zeigt die große Nachfrage, die bereitsdie Ankündigung unseres geplanten Beschäftigungspro-gramms für Langzeitarbeitslose ausgelöst hat. Wir müs-sen feststellen, dass unter denjenigen, die nachfragen,vor allem ältere Menschen sind, deren sogenanntes Ver-mittlungshemmnis einzig und allein ihr Alter ist. Wermit 56 oder 57 Jahren erst einmal ein Jahr oder längerraus aus dem Job ist, dem helfen keine Qualifizierungs-maßnahmen. Kommen dann vielleicht noch gesundheit-liche Probleme dazu – zum Beispiel der kaputte Rückenbei einem Handwerker oder einer Krankenschwester –,dann finden diese Menschen schlicht und einfach keinenArbeitsplatz mehr, selbst dann nicht, wenn sie hochmoti-viert und leistungsbereit sind. Diesen Menschen solltenwir mit öffentlich geförderter Beschäftigung eineChance geben, sich produktiv einzubringen.
Die Gesellschaft würde davon profitieren.Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Das ist keineBeschäftigungstherapie, sondern das sind produktive Tä-tigkeiten, die erfüllt werden können, die unserem Ge-meinwohl dienen. In diesem Sinne haben wir in Thürin-gen vor zwei Tagen gemeinsam mit der Bundesagenturfür Arbeit ein Programm für gemeinwohlorientierte Be-schäftigungsförderung auf den Weg gebracht. In diesem
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9667
Ministerin Heike Werner
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Jahr fördern wir gemeinsam mit der Bundesagentur500 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei Kom-munen, Vereinen, Kirchen, Umweltinitiativen und der-gleichen. In den kommenden Jahren wollen wir die Zahlerhöhen. Der Bruttolohn liegt bei 1 100 Euro, und dieBeschäftigungsdauer beträgt bis zu drei Jahre.Jetzt werden Sie sagen: Das ist nicht der große Wurf,und es entspricht auch nicht eins zu eins dem Antrag,den die Linke heute eingebracht hat. – Da kann ich nurantworten: Sie haben recht. Wir würden gern mehr Ar-beitsplätze fördern, mit höheren Löhnen und längererLaufzeit. Dazu braucht es aber Partner. Das gilt für Thü-ringen wie für jedes andere Bundesland. Wir haben inThüringen das Glück, mit der Bundesagentur für Arbeiteinen Partner zu haben, der unsere Sicht teilt. Es ist bes-ser, für diejenigen, die keine Chance mehr auf eine Stellehaben, Arbeit zu finanzieren, als sie mit Hartz IV nachHause zu schicken.
Warum also nicht passive Leistungen aktiv in Löhneumwandeln? Ohne den Bund – das wissen wir alle ganzgenau – kann kein Bundesland auf dem Arbeitsmarktdauerhaft und substanziell etwas bewegen. Darum hattenwir uns über das positive Signal aus dem Bundesarbeits-ministerium im Hinblick auf einen Passiv-Aktiv-Trans-fer gefreut. Jetzt heißt es leider: Finanzminister Schäublezieht nicht mit. Und in der Tat: Es ist so. Frau Kippinghat im Finanzministerium nachgefragt und bekam eineentsprechende Antwort.Nach Auffassung des Staatssekretärs Kampeter lassensich das Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unter-kunft nicht in Lohnkostenzuschüsse umwandeln, weil– ich zitiere – „eine belastbare Einschätzung über dasRealisieren der Einsparungen durch Wegfall dieser Leis-tungen bei ausgewählten Leistungsempfängern nichtmöglich ist“.Zwei Dinge an dieser Antwort sind bemerkenswert:erstens die Auffassung des Finanzministeriums, bei derUmwandlung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne gehees um Einsparungen. Nein, meine Damen und Herren, esgeht um Investitionen. Indem wir Löhne statt Hartz IVauszahlen, schaffen wir Arbeitsplätze.
Mit der Arbeit in Vereinen, in Kirchengemeinden und inKommunen schaffen diese Menschen Werte, die der Ge-sellschaft zugutekommen. Es wäre schön, wenn dasBundesfinanzministerium einmal zur Kenntnis nehmenwürde, dass Arbeit im Gemeinwohlbereich echte Wert-schöpfung ist.
Zweitens. In der Antwort – dieser Aspekt der Antwortist beachtlich – heißt es sinngemäß, es sei recht kompli-ziert, die haushalterischen Auswirkungen der Umwand-lung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne zu bestimmen.Darauf kann ich nur antworten: Sie machen es sich einbisschen einfach. Meine Damen und Herren, wir redenhier darüber, Zehntausenden Menschen eine für sie unddie Gesellschaft sinnvolle Alternative zur Arbeitslosig-keit zu erschließen. Und der Finanzminister lässt mittei-len, es sei ihm zu aufwendig, die notwendigen Berech-nungen anzustellen.
Sehr verehrte Damen und Herren, Ihnen liegt der An-trag der Linken vor, der die Grundzüge eines Programmsfür öffentliche Beschäftigung enthält. Darin machen wireinen konkreten Vorschlag, wie Hartz-IV-Leistungen inLohnleistungen umgewandelt werden können. Dazumüssten nicht einmal die Gesetze geändert werden. Miteinem Haushaltsvermerk über die gegenseitige De-ckungsfähigkeit der verschiedenen Titel der Arbeits-marktpolitik wäre es möglich, dass das bei den passivenLeistungen nicht ausgegebene Geld für aktive Leistun-gen – also die Bezahlung von Arbeit – verwendet wer-den kann.
Die öffentlich geförderte Beschäftigung gemeinwohl-orientierter Arbeit ist eine Win-win-Situation für alleBeteiligten. Die Kommunen könnten davon profitieren,zum einen durch die eingesparten Kosten der Unter-kunft, zum anderen durch die Unterstützung ihrer so-zialen Infrastruktur. Sie profitieren auch, weil Kostengespart werden, die durch die Folgen von Langzeitar-beitslosigkeit entstehen.Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie sehrherzlich, dem Antrag der Linken zuzustimmen; denn ge-meinwohlorientierte Arbeit über einen Passiv-Aktiv-Transfer ist für einen Teil der Langzeitarbeitslosen dereinzige Weg in Beschäftigung. Die soziale Infrastrukturwird durch die erbrachte Arbeitsleistung gestärkt, wasuns allen zugutekommt. Schließlich werden die öffentli-chen Haushalte nachhaltig von den Folgekosten derLangzeitarbeitslosigkeit entlastet. Es wäre also in unseraller Interesse, wenn sich die Union dieser Einsicht nichtlänger verschließen würde.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Zimmer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es istnicht das erste Mal, dass wir aufgrund eines Antrags derLinken über öffentlich geförderte Beschäftigung reden;aber es ist das erste Mal, dass von der Fraktion der Lin-ken zu einem eigenen Antrag niemand das Wort ergreift –ganz so, als ob sie sich des Antrags schämen würde.
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9668 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Dr. Matthias Zimmer
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Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass dieMinisterin offensichtlich keinerlei Anlass sah, über denAntrag zu reden, sondern im Wesentlichen über die Si-tuation in Thüringen gesprochen hat. Das finde ichschon sehr seltsam.
Nichtsdestotrotz: Ein solcher Antrag der Linken er-möglicht es natürlich, über die unterschiedlichen Grund-philosophien nachzudenken. Der Antrag der Linkenverfolgt den Ansatz der öffentlichen Förderung von Be-schäftigung. Wir in der Koalition hingegen sehen in derFörderung der Menschen den richtigen Weg.
Wir wollen die Stärken und Begabungen der Menschenin den Fokus nehmen und helfen, diese weiterzuent-wickeln.
Wir haben, wie Sie selbst im Antrag schreiben, mehrals 500 000 Menschen, die länger als zwei Jahre keineArbeit hatten. Vermutlich ist die Zahl höher. Sie ist si-cherlich höher, wenn wir die Menschen einbeziehen, dieein Jahr oder länger arbeitslos sind. Nun wollen Sie öf-fentlich geförderte Beschäftigung im Umfang von200 000 Stellen schaffen. Die Stellen sollen jedem offen-stehen, der ein Jahr oder länger arbeitslos ist. Eingren-zungen oder Auswahlverfahren finden nicht statt. Ichstelle mir die Frage: Wie stellen Sie sicher, wenn sich500 000 und mehr auf Ihr Programm bewerben, dass die200 000 Stellen auskömmlich sind? Dazu schreiben Sienichts in Ihrem Antrag.
– Ich merke schon aufgrund der Zwischenrufe, dass dasBedürfnis bei der Fraktion der Linken, zu diesem Tages-ordnungspunkt zu reden, groß ist. Aber dann hätten Sienicht die Ministerin reden lassen sollen.
Also, meine Damen und Herren, ich vermute einmal,dass Sie, wenn die 200 000 Stellen nicht auskömmlichsind, ganz schnell 1 Million Stellen fordern. Es gibt ausIhrer Sicht nämlich nichts, was man nicht mit mehr Geldregeln könnte.
Herr Kollege Zimmer, lassen Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Zimmermann zu?
Nein; denn sie hatte die Möglichkeit, selber zu spre-chen, und hat die Ministerin sprechen lassen.
Meine Damen und Herren, hier wird die Differenzzwischen Ihrer und unserer Grundphilosophie deutlich.Die Linke will einfach 200 000 Stellen zur Verfügunghaben. Darauf kann sich jeder bewerben. Die Fallmana-ger mit ihrer Qualifikation und Erfahrung sind nichtmehr gefragt, weil es gar nicht darum geht, Langzeitar-beitslosen zu helfen, passgenaue Maßnahmen zu finden.
Der einzelne Mensch mit seinen Stärken und Schwächenist egal – Hauptsache, öffentlich gefördert. Die Wahrheitaber ist: Sie fördern damit niemanden, sondern Sie ver-stecken Arbeitslosigkeit hinter öffentlich geförderter Be-schäftigung.
Sie machen alle Menschen gleich, weil Ihnen die Unter-schiede egal sind. Mit der gleichen Grundphilosophiehat es schließlich und endlich auch in der DDR keineArbeitslosen gegeben.
Dann enthält Ihr Antrag viel linke Folklore, etwa dasswir nicht die Arbeitslosigkeit bekämpfen, sondern dieArbeitslosen, dass die Hartz-IV-Leistungen unter derArmutsgrenze seien oder die 1-Euro-Jobs perspektivlos.Zu jedem dieser Punkte ließe sich trefflich etwas sagen.Ich versage es mir hier, weil mir schon klar ist: Folkloreist gegen Argumente immun.
Folklore wärmt das Herz, weniger den Verstand.
Aber auf eines will ich schon einmal eingehen: Sie wol-len von den Arbeitgebern eine zeitlich befristete Sonder-abgabe zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit er-heben. Angesichts solcher Forderungen – das ist nichtIhre einzige Forderung – frage ich mich dann schon: Ha-ben Sie denn keine Bedenken, dass Ihnen irgendwanndas Geld anderer Leute ausgehen könnte?
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den letztenJahren zurückgegangen. Insofern war die Arbeitsmarkt-politik der letzten Jahre erfolgreich. Aber auch hier zeigtsich Ihr kreativer Umgang mit Statistiken. Zwischen2009 und 2014, so schreiben Sie, sei der Anteil der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9669
Dr. Matthias Zimmer
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Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen von 33,3 auf37,2 Prozent gestiegen.
Sie verschweigen aber zweierlei: Zum einen ist die An-zahl der Arbeitslosen deutlich gesunken, zum anderenauch die Anzahl der Langzeitarbeitslosen. Von beidenhaben wir heute deutlich weniger als 2009.
Lediglich das Verhältnis von Arbeitslosen zu Langzeitar-beitslosen hat sich geändert, aber auf niedrigerem Ni-veau. Ihre Zahlen hingegen unterstellen, die Zahl derLangzeitarbeitslosen sei irgendwie gestiegen. Das istaber überhaupt nicht der Fall.
Richtig hingegen ist, dass es einen schwer zu vermit-telnden Kern von Erwerbslosen gibt. Hier reichen diebisherigen Antworten vermutlich nicht mehr aus.
Daher ist es richtig, dass wir uns den Werkzeugkastender Arbeitsmarktpolitik noch einmal genauer anschauen.Ich will drei Aspekte exemplarisch nennen, die wir in-nerhalb der Koalition in den kommenden Wochen inten-siver zu erörtern haben.Ein erster Punkt betrifft die Förderung von sozialver-sicherungspflichtiger Beschäftigung. Hier halte ich dieIntegration von Leistungen wie die sozialpädagogischeBetreuung oder auch die Vermittlung von beruflichenKenntnissen, also von Leistungen nach § 45 SGB III, in§ 16 SGB II für sinnvoll, um Leistungen aus einer Handfür die Betroffenen zu ermöglichen. Dazu gehört, dasswir Maßnahme und Begleitung praxistauglich in einemInstrument zusammenfassen und aufeinander abstim-men.Der zweite Punkt betrifft die zeitliche Befristung derFörderung. Es macht meines Erachtens keinen Sinn, er-folgversprechende Fördermaßnahmen mit einer starrenGrenze von zwei Jahren innerhalb eines Zeitraums vonfünf Jahren zulasten der Betroffenen zu begrenzen. Statt-dessen sollten wir über ein Jahresmodell nachdenken,bei dem die Fallmanager vor Ort jedes Jahr neu über dieMaßnahme bzw. die Höhe der Förderung entscheiden,auch für eine Zeit von insgesamt mehr als zwei Jahren.Der letzte Punkt, den ich an dieser Stelle anregenmag: Wir sollten die Kriterien für Arbeitsgelegenheitenüberdenken. Ich meine, dass Maßnahmen, die in ersterLinie den Gedanken der Wettbewerbsneutralität und derZusätzlichkeit und weniger dem Interesse der Langzeit-erwerbslosen entsprechen müssen, eher zu Beschäfti-gungstherapien pervertieren, als dass sie Menschen hel-fen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. MeinPlädoyer ist daher, diese Kriterien abzuschaffen oder zu-mindest so abzuschwächen, dass die Kompetenz der lo-kalen Akteure berücksichtigt wird. Ich höre übrigens,dass es in Berlin Fälle gibt, in denen die Beiräte weitge-hend ignoriert werden. Das geht aus meiner Sicht nicht.Hier muss die Bundesagentur für Arbeit deutlich ma-chen, dass eine erfolgreiche Leitung vor Ort auch ein gu-tes Verhältnis zu den lokalen Akteuren pflegt.Meine Damen und Herren, ich freue mich immer,wenn wir einen Antrag der Linken diskutieren.
– Ich sehe schon an der Unruhe, dass die Freude nur aufmeiner Seite ist; ich dachte zumindest, dass die Freudeauch bei Ihnen durchaus vorhanden ist.
Die halbsozialistische Folklore wärmt vielen dasHerz,
und die Welt ist auf wundersame Weise einfach, ganzähnlich wie in der bösen Karikatur, die einmal in derTitanic gezeigt wurde. Der Untertitel war: „Endlich: DerHunger in der Welt ist besiegt“. In der Zeichnung sahman einen älteren Mann, der lächelnd eine Schöpfkelleschwang und rief: „Einfach mehr essen“.
So kommt mir Ihr Antrag auch daher. Er hilft keinem,weil er der Komplexität des Themas nicht gerecht wird.Er ist schädlich, weil er die Menschen gleichmacht, an-statt nach ihren Stärken zu fragen. Er beruht auf der fal-schen Idee, man könne mit anderer Leute Geld alle Pro-bleme lösen. Das ist Grund genug, den Antrag zudiskutieren, aber auch Grund genug, ihn abzulehnen. Erist nämlich auch irgendwie eine Karikatur.
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin
Zimmermann das Wort.
Lieber Kollege Zimmer, ich habe Ihnen sehr aufmerk-sam zugehört und muss Ihnen ehrlich sagen: Ich binschon sehr enttäuscht,
dass Sie das Thema Langzeitarbeitslosigkeit im Eingangund auch im Abgang Ihrer Rede so in die Lächerlichkeitgezogen haben.
Das ist eine große Schweinerei – ich muss es Ihnenwirklich so deutlich sagen –, denn Ihre Fraktion hat die
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9670 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Sabine Zimmermann
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1 Million langzeitarbeitslosen Menschen in diesem Landschon lange abgeschrieben.
Das ist die Realität, und der sollten Sie sich wenigstenseinmal stellen.
Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass die Landesmi-nisterin zum Thema, zu unserem Antrag, gesprochen hat
und damit gleichzeitig verbunden hat, darzustellen, wiees in der Praxis aussieht, was die Bundesregierung allesnicht tut, warum es im Land Thüringen und in allen an-deren Bundesländern nicht zum Passiv-Aktiv-Transferkommt und Langzeitarbeitslosigkeit nicht wirklich ernst-haft bekämpft werden kann.
Ich muss Ihnen sagen: Es haben hier auch schon CDU-Landesminister gesprochen; das ist nichts Neues. Dassollten Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen.
Sie sagten in Ihrer Rede, der Mensch stehe bei Ihnenim Mittelpunkt. Jawohl! Dazu muss ich sagen: Ministe-rin Nahles hat ein Programm für 43 000 Teilnehmer auf-gelegt. Damit will sie die Langzeitarbeitslosigkeit von1 Million Menschen bekämpfen. Ich muss Ihnen sagen:Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Bei Ihnen stehtnicht der Mensch im Mittelpunkt; das sieht man hierganz deutlich.
Im Übrigen muss ich Ihnen sagen: Die Zahl der Lang-zeitarbeitslosen geht seit 2012 wieder hoch. Die Zahlensind vom Bundesministerium; sie werden sicherlichstimmen. Die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Bezieher istnur um 9,2 Prozent zurückgegangen. Das Geld, das Siein den letzten Jahren eingespart haben, steht dazu in garkeinem Verhältnis.Sie kritisieren, dass 200 000 Stellen geschaffen wer-den sollen. Angesichts der wenigen Arbeitsstellen undder vielen arbeitslosen Menschen – wir haben ein Miss-verhältnis von 1:3 – frage ich mich doch aber: Haben diearbeitslosen Menschen überhaupt eine Chance auf einesolche Stelle? Ihre Argumente sind doch Schwachsinn.Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Die Teilneh-merzahl ist von 2010 bis 2013 von 342 534 auf 110 000zurückgegangen. Daran sehen Sie doch, dass das, wasSie für langzeitarbeitslose Menschen tun, ein Tropfenauf den heißen Stein ist. Damit werden Sie die Langzeit-arbeitslosigkeit in unserem Land nicht bekämpfen.
Zur Erwiderung Herr Kollege Zimmer.
Verehrte Frau Kollegin Zimmermann, für das Erfüllen
Ihrer Erwartungen sind meine Reden sicherlich nicht zu-
ständig. Wenn Sie da enttäuscht gewesen sind, dann liegt
es vielleicht daran, dass ich Argumente vorgebracht
habe, die Sie so noch nicht gehört haben. Insofern mag
es Ihnen vielleicht auch gutgetan haben, der Rede zuzu-
hören.
Allerdings habe ich jetzt auch festgestellt, dass Sie re-
lativ gut vorbereitet gewesen sind.
Ich frage mich schon, warum Sie nicht selber in die Bütt
gegangen sind.
Stattdessen haben wir einer Ministerin zuhören dürfen,
die ganz im Sinne einer präventiven Immunisierung
schon heute erklärt, warum das im Land Thüringen alles
nicht funktionieren wird, nämlich weil am Ende der
Bund schuldig ist. Dass Sie sich hergegeben haben, da-
für eine parlamentarische Plattform zu bilden, das finde
ich ausgesprochen schade.
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrZimmer, vielleicht zunächst ein Wort zu dem Begriff„kreative Statistik“. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist nachIhrer Statistik seit 2010 um 7 Prozent zurückgegangen.Aber wenn Sie die Zahl derjenigen, die Sie schlicht undergreifend ungerechtfertigterweise nicht mitzählen, zumBeispiel die 58-Jährigen, die ein Jahr lang kein Angebotbekommen haben, berücksichtigen – das sind über166 000 Menschen –, dann sind Sie bei einem Rückgangder Langzeitarbeitslosigkeit von 0,6 Prozent. HerrZimmer, wenn Sie an dieser Stelle wirklich eine Debatteüber Statistik führen wollen, dann machen Sie sich ersteinmal ehrlich.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9671
Brigitte Pothmer
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Hören Sie auf, das Problem kleinzureden!
Ich weiß nicht, ob Sie manchmal auch Zeitung lesen.In der Süddeutschen Zeitung vom 22. April stand, dassselbst Herr Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit,der Meinung ist, dass von den 1 Million Langzeitarbeits-losen 500 000 bis auf Weiteres und die Hälfte von diesen500 000 auch langfristig keine Chance haben werden,auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er sagt, siebrauchen mindestens zum Übergang einen zweiten Ar-beitsmarkt. Ich zitiere ihn: „Hier wurde in den vergange-nen Jahren deutlich abgebaut“. Ich ergänze: Es wurdedeutlich abgebaut, und zwar über 200 000 Stellen.Herr Zimmer, Sie wissen, ich schätze Sie, aber heutehaben Sie wirklich nicht den richtigen Ton getroffen.Das war selbstgefällig.
Sie bieten ein ESF-Programm mit 33 000 Plätzen an, dasnur das einst von Frau von der Leyen initiierte Pro-gramm „Bürgerarbeit“ mit ebenfalls 33 000 Plätzen er-setzt. Damit schaffen Sie keinen einzigen zusätzlichenPlatz für die Langzeitarbeitslosen. Dabei geht es hierum, ich wiederhole, 500 000 Menschen!
Im Zuge des Teilhabeprogramms werden 10 000 Plätzegeschaffen. Das Geld für dieses Teilhabeprogramm wirdden Jobcentern aber vorher abgezogen. Das Programm,das hier aufgelegt wird, geht also zulasten von Plätzen inanderen Bereichen. Sie schaffen kein einziges zusätzli-ches Angebot.Was Sie hier heute angedeutet haben, wird der Grö-ßenordnung und der Dimension des Problems in keinerWeise gerecht. Das ist weder quantitativ noch qualitativwirklich ein Angebot.
Wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigung.Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt, und wennwir den finanzieren wollen, dann brauchen wir einenPassiv-Aktiv-Transfer. Darüber sind sich wirklich alleArbeitsmarktexperten und alle Akteure auf dem Arbeits-markt inklusive der BA einig.
Es gab Zeiten, in denen auch die SPD zu den kundigenThebanern gehörte.
Ich glaube allerdings nicht – das will ich an dieserStelle deutlich sagen –, dass die öffentlich geförderte Be-schäftigung so umgesetzt werden könnte und sollte, wiedie Linken das vorschlagen.
Ich finde, Sie fallen sehr weit hinter Erkenntnisse zu-rück, die wir längst haben.
Das Beharren auf dem Kriterium der Zusätzlichkeit führtdazu, dass sehr arbeitsmarktferne Arbeitsplätze geschaf-fen werden. Der Verzicht auf jedes Kriterium bei der Frage,wer in dieses Programm aufgenommen werden soll, führtzu extremen Creaming-Effekten. Wir haben 1 Million Lang-zeitarbeitslose. Sie reden von 200 000 Plätzen. Die Ge-fahr ist sehr groß, dass ausgerechnet die, die das Pro-gramm am dringendsten brauchen, hinten herunterfallen.
Bei einer Fokussierung auf die gemeinwohlorientierteArbeit werden eben nicht die positiven Effekte berück-sichtigt, die zum Beispiel Baden-Württemberg durch dieEinbeziehung privater Unternehmer erzielt.Richtig katastrophal finde ich aber Ihren Vorschlag,allen über 55-Jährigen einen Rechtsanspruch zu geben.Das heißt, Sie halten diese Menschen in einem Sonderar-beitsmarkt. Damit entlasten Sie die Unternehmen von ih-rer Verantwortung, auch für diese Gruppe etwas zu tun.
Ich habe also viel Kritik im Detail. Aber, HerrZimmer, Ihre Kritik wäre glaubwürdiger, wenn Sieselbst etwas anzubieten hätten.
Sie sagen – ich halte das für einen Treppenwitz der Welt-geschichte –, bei Ihnen stehe die Förderung von Men-schen im Fokus. Seit dieser Legislaturperiode, seit Be-ginn der Amtszeit von Frau Nahles haben sich dieChancen der Langzeitarbeitslosen noch einmal ver-schlechtert. Die Aktivierungsquote ist 2014, in IhrerAmtsperiode, mit 17,4 Prozent so niedrig wie seit 2010nicht mehr. Ich finde wirklich, Sie sollten ein bisschenkleinere Brötchen backen.
Sie lassen die Langzeitarbeitslosen wirklich im Stichund nehmen sehenden Auges in Kauf, dass das Teilhabe-versprechen für Langzeitarbeitslose nicht mehr gilt.Das BMAS hat neulich auf einer Tagung der Hans-Böckler-Stiftung auf die Forderung der Länder nach zu-sätzlichen Instrumenten, insbesondere des sozialen Ar-beitsmarktes, gesagt, eine Instrumentenreform würde zuviel Unruhe in die Jobcenter bringen.
Wissen Sie, was die Länder dem BMAS geantwortet ha-ben? Unruhe bringt das ständige Programmhopping. Zi-
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9672 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Brigitte Pothmer
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tat: Hören Sie endlich auf, uns mit Sonderprogrammenzu überfallen. – Ja, hören Sie damit endlich auf.
Ich habe diese Woche mit einem Mitarbeiter aus ei-nem Jobcenter in Bad Segeberg telefoniert. Er hat mirgesagt, mit wie viel Engagement sie das Programm„50 plus“ aufgebaut haben. Dieses Programm läuft über-aus erfolgreich, aber jetzt wird es einkassiert, weil Siemit den Aktivierungszentren um die Ecke kommen. Ichfinde, Sie sollten sich einmal fragen, welchen Sinn Mo-dellprojekte haben, wenn man sie, sobald sie erfolgreichlaufen, wieder einkassiert und eben nicht in die Regel-förderung übernimmt. Das macht doch keinen Sinn.
Richtig verzweifelt sind die Jobcenter übrigens, wennes um den bürokratischen Aufwand für das ESF-Pro-gramm geht. Der Aufwand ist offenbar so groß, undzwar nicht nur bei der Beantragung, sondern auch beider Bewilligung, dass wir immer noch nicht wissen, wasaus diesem Nahles-Programm geworden ist, obwohl diePrüfungen bis Ende März abgeschlossen sein sollten.Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir habenjetzt eine Menge Erfahrung gesammelt und wissen, wel-che Konsequenzen wir ziehen sollten und wie wir mitLangzeitarbeitslosen umgehen sollten. Dazu will ich Ih-nen drei Punkte nennen: Erstens. Die Strategie derschnellen Vermittlung ist gescheitert.
Frau Kollegin Pothmer, das wird ein bisschen schwie-
rig.
Das wird schwierig? – Dann sage ich noch ein Letztes
und zitiere Frau Mast, die eine kluge Kollegin ist: Unter-
stützung für Menschen, die am Rand stehen, gibt es nicht
zum Nulltarif. Wir müssen ausreichend Geld in die Hand
nehmen, um Langzeitarbeitslose zu fördern. – Ich kann
nur sagen: Das war in der letzten Legislaturperiode rich-
tig, und das ist auch in dieser Legislaturperiode richtig.
Aber es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Ich danke Ihnen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarktist außerordentlich gut. Wir alle freuen uns über einesehr stabile wirtschaftliche Situation, und auch der Ar-beitsmarkt zeigt sich erstaunlich robust. Wir sehen guteTarifsteigerungen, und wir haben einen gesetzlichenMindestlohn, der sehr viele Menschen aus dem Hilfebe-zug holt.Es gäbe also einige gute Argumente für Partylaune –zumindest theoretisch. Gleichzeitig sehen wir praktisch,dass sich in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes,gerade im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, seit eini-gen Jahren de facto nichts bewegt. Es ist offenkundig,dass die sehr gute konjunkturelle Lage Hunderttausen-den Menschen in Deutschland nicht hilft, ebenjenenMenschen, die sehr lange arbeitslos sind; sie könnenauch unter diesen tollen Rahmenbedingungen nicht ohneWeiteres zurück auf den Arbeitsmarkt finden.Jetzt gibt es verschiedene Strategien, damit umzuge-hen. Es gibt die Strategie der Vorgängerregierung, derenFokus auf schönen Arbeitsmarktzahlen und guten Nach-richten lag. Man vertraute darauf, dass sich dadurch vonalleine etwas bewegen würde, dass es dadurch leichterwürde, die Arbeitslosen zu vermitteln, und dass in derFolge die aktive Arbeitsmarktförderung reduziert wer-den könnte.Diese Bundesregierung mit Andrea Nahles als Minis-terin für Arbeit und Soziales verfolgt eine ganz andereStrategie. Sie sagt: Uns ist es ganz besonders wichtig,hinzuschauen. Wir anerkennen, dass es eine große He-rausforderung ist, die Menschen, die sehr lange aus demErwerbsleben heraus sind, zurückzuholen in die Gesell-schaft, ihre Teilhabe zu organisieren und sie im bestenFall im ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Das istAndrea Nahles und der SPD ein Herzensanliegen. Wirwerden nicht zuschauen, wie 1 Million Menschen undihre Familien zu Hause sitzen, hinter ihren Gardinen ver-schwinden und weitgehend vom sozialen Leben ausge-schlossen sind.
Das zeigt sich auch daran, dass Andrea Nahles eigentlichbei jeder Grundsatz- oder Haushaltsrede in diesem Ho-hen Hause das Thema Langzeitarbeitslosigkeit als eineihrer Topprioritäten benennt und deutlich macht, was siediesbezüglich plant.Es gibt 1 Million gute Gründe und sehr viele objek-tive Fakten, die zeigen, dass wir mit Blick auf die Ge-sellschaft bei diesem Thema etwas unternehmen müs-sen.
Da ist natürlich die materielle Armut der Langzeit-erwerbslosen. 84 Prozent der Langzeiterwerbslosen le-ben unter der Armutsrisikogrenze. Erwerbsarbeit ist inDeutschland Grundlage für soziale Teilhabe. Arbeit zuverlieren bedeutet den Verlust sozialer Beziehungen, den
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9673
Daniela Kolbe
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Verlust des sozialen Status, und für viele Menschen ist esauch subjektiv ein ganz massiver Schicksalsschlag.Langzeitarbeitslosigkeit hat gesundheitliche Auswir-kungen. Der Gesundheitszustand der Betroffenen istobjektiv und subjektiv schlechter. 64 Prozent der Be-troffenen haben schwerwiegende gesundheitliche Ein-schränkungen. Das ist kein Henne-Ei-Problem, sonderndas bedingt sich gegenseitig. Wer langzeiterwerbslos ist,wird kränker, und wer kränker wird, hat größere Pro-bleme, aus der Langzeiterwerbslosigkeit herauszukom-men.Es gibt familiäre Probleme, seelische Probleme, kör-perliche Probleme. Die Menschen werden stigmatisiert.Langzeiterwerbslosigkeit hat auch schwerwiegende ge-sellschaftliche Folgen. Wir sehen, dass Kinder in Fami-lien groß werden, in denen die Eltern langzeiterwerbslossind. Wir erleben sozialräumliche Effekte. Ganze Stadt-teile sind massiv von Langzeiterwerbslosigkeit betroffenund auch geprägt. Außerdem verursacht Langzeiterwerbs-losigkeit massive gesellschaftliche Kosten: fehlende Steu-ereinnahmen, hohe Kosten der Arbeitslosigkeit, hoheGesundheitskosten usw.Das sind genügend Gründe, dies anzugehen und auchmit dem Klischee aufzuräumen, dass Langzeiterwerbs-lose nicht arbeiten wollen. Ich kenne in meinem Wahl-kreis sehr viele Betroffene. Sie sagen: Ich will raus. Ichwill etwas Sinnvolles tun. Ich will wieder Sinn undStruktur in meinem Leben haben. Ich will nicht stigmati-sierende, sondern würdevolle Beschäftigung. – Das istes, was ich von den Betroffenen höre. Dabei müssen wirsie unterstützen.
Die Mittel des Bundes für aktive Arbeitsmarktförde-rung sind von der Vorgängerregierung massiv gekürztworden. Erst diese Regierung hat das Thema wiederganz weit nach oben auf die Agenda gesetzt. Dafür ge-bührt Ministerin Andrea Nahles ein großes Lob.
Andrea Nahles reagiert mit einem differenzierten Ansatzund hat damit dem Antrag der Linken, von wem auchimmer er präsentiert wurde, einige Denkschritte voraus.Denn es gibt nicht die eine Gruppe Langzeiterwerbslose,die man mit öffentlich geförderter Beschäftigung be-glückt, und dann ist das Problem gelöst. Wir könnendoch nicht dem Anfang 20-Jährigen, der ein Drogenpro-blem hat und den Anfang seiner Berufskarriere verstol-pert,
mit der Diplom-Ingenieurin vergleichen, die mit Mitte50 durch eine Insolvenz des Unternehmens keine Arbeitmehr hat und keinen Fuß mehr in die Tür bekommt.
– Ich komme gleich dazu, Brigitte, keine Sorge.
Alleinerziehende mit kleinen Kindern und ohne so-ziales Umfeld haben doch ganz andere Probleme als je-mand, der keine Berufsausbildung gemacht hat oder beidem sie ewig lange her ist. Deswegen hat Andrea NahlesEnde letzten Jahres ein ganzes Bündel von Maßnahmenvorgestellt und eben nicht eine Lösung für alle. DieseVielfalt der Maßnahmen wird auch der Vielfalt derGruppe gerecht.Es wird das ESF-Programm „Perspektive in Betrie-ben“ für Langzeitarbeitslose ohne verwertbaren Berufs-abschluss geben. Es wird ein Bundesprogramm für sehrarbeitsmarktferne Langzeiterwerbslose geben.
Darüber hinaus wird es eine viel bessere Betreuung inAktivierungszentren geben. Darüber ist hier überhauptnoch nicht gesprochen worden.
Wir wollen diejenigen 46 Prozent mit gesundheitlichenEinschränkungen in den Fokus nehmen und natürlichauch der Situation der Alleinerziehenden viel mehr ge-recht werden. Dazu haben Sie schon einiges von dieserRegierung gehört.
So sehr wir als Sozialdemokraten öffentlich geför-derte Beschäftigung als wichtigen Aspekt sehen und unsda auch mehr vorstellen und mehr wünschen, an einemPunkt widersprechen wir den Aussagen im Antrag derLinken fundamental. Sie wollen den Zugang zu diesemProgramm einfach so, ohne Kriterien gewähren. Das istja schön und gut gemeint, kann aber im Zweifel mehrSchaden anrichten als nutzen.
Wir reden über eine sehr teure Maßnahme. Ohne Zu-gangskriterien würde es Creaming- und Lock-in-Effektegeben. Dadurch würden Personen in das Programmkommen, denen mit Weiterbildung, mit einer guten Ver-mittlung, mit einer guten Kinderbetreuung viel mehr ge-holfen wäre. Schlussendlich diskreditieren Sie mit demgutgemeinten Ansatz, immer noch eine Schippe draufle-gen zu wollen, ein wirklich sinnvolles Projekt.Schauen Sie sich bitte Ihren Antrag und die Konzepte,die schon auf dem Tisch liegen, noch einmal an. ÜberPassiv-Aktiv-Tausch wollen wir als Sozialdemokratennatürlich sehr gerne reden. Das wollen wir gerne verfol-gen.
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9674 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Daniela Kolbe
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Aber dieser Gut-gemeint-Ansatz, den Sie hier in typi-scher Linken-Manier vorbringen, geht an der Zielgruppevorbei,
die viel diverser ist, als Sie es hier darstellen.
Aber jetzt müssen Sie bitte zum Schluss kommen,
Frau Kollegin Kolbe.
Das tue ich. Das Thema bleibt ja sowieso auf der
Agenda. – Jedenfalls werden wir Sozialdemokraten wei-
ter dafür sorgen, dass Langzeiterwerbslose in unserem
Land eine Chance bekommen.
Bis zum nächsten Mal zu diesem Thema.
Vielen Dank. – Der Kollege Kai Whittaker ist jetzt für
die CDU/CSU-Fraktion der nächste Redner.
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Linksfrak-tion, Sie kennen sich ja bestens mit dem Thema Lang-zeitarbeitslosigkeit aus. Das ist kein Wunder; denn Siebefinden sich ja in einer Art politischen Langzeitarbeits-losigkeit. Seit zehn Jahren sind Sie in der Opposition,und Besserung ist nicht in Sicht.
Wer Ihren Antrag liest, sieht auch keine Perspektive füreine Vermittlung in die Regierung. Deshalb lautet meinVorschlag an Sie: Lassen Sie uns uns gemeinsam Gedan-ken machen, woran das liegen könnte. Welche Vermitt-lungshemmnisse liegen bei Ihnen offenkundig vor?
Schon in meiner ersten Rede hier im Deutschen Bun-destag habe ich bedauerlicherweise feststellen müssen,dass es mit Ihren volkswirtschaftlichen Kenntnissennicht allzu weit her ist. Ihr heutiger Antrag ist der Be-weis, dass Sie auch mit der Lebenswirklichkeit nichtallzu viel anfangen können.
Sie fordern, alle Menschen, die länger als ein Jahr ar-beitslos sind, sollen sich auf einen sozialen Arbeitsplatzbewerben können; das sind mehr als 1 Million Menschenin Deutschland. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem An-trag, dass es – nur – 200 000 solcher Arbeitsplätze gebensoll. Was ist mit den anderen 800 000 Menschen? Wersoll diese 200 000 Arbeitsplätze überhaupt bekommen?Gerade die Antwort auf die letzte Frage bleiben Sieschuldig; denn Sie grenzen die Zielgruppe nicht ein. Da-mit erreichen Sie eben nicht diejenigen, die am weitestenvom Arbeitsmarkt entfernt sind, sondern Sie helfen aus-gerechnet denjenigen, die diese Hilfe nicht brauchen.Da wollen Sie uns immer in das gelobte Land, in demMilch und Honig fließen, führen, und dann bleiben Siemitten in der Wüste Sinai stecken.
Aber in der politischen Wüste sind Sie ja zu Hause.
Tragischerweise machen Sie in Ihrem Antrag genausoweiter. Sie verlangen für die sozialen Arbeitsplätze einenBruttolohn von 1 500 Euro. Das entspricht für den Steu-erzahler einem Betrag von fast 2 000 Euro.
Bei 200 000 Arbeitsplätzen sind das pro Jahr sage undschreibe 4,7 Milliarden Euro, die Sie zusätzlich ausge-ben wollen.
Das ist ein Viertel dessen, was der Bund jedes Jahr fürdas Arbeitslosengeld II ausgibt.Damit nicht genug: Sie schaffen es mit Ihrem Antragauch noch, ein Zweiklassensystem von Arbeitslosen zuinstallieren. Die 800 000 Menschen, die es nicht in IhrProgramm schaffen, bekommen weiterhin Hartz IV. Dieanderen 200 000 Menschen, die in Ihrer Soziallotteriegewonnen haben, bekommen doppelt so viel.
Somit schafft die Linke das, was sie der FDP immer vor-geworfen hat: eine Umverteilung von unten nach obenim Hartz-IV-System.
Man könnte meinen, das sei genug. Aber Sie setzennoch eins drauf: Sie schlagen eine Sonderabgabe von0,5 Prozent der Lohnsumme vor.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9675
Kai Whittaker
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Selbstverständlich sollen die Arbeitgeber sie bezahlen;etwas anderes haben wir von Ihnen auch nicht wirklicherwartet.
Bei Ihrem Vorschlag bleiben Sie aber seltsam vage.Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entwederwollen Sie sich ganz dreist an der Arbeitslosenversiche-rung bedienen. Denn die Arbeitgeber und die Versicher-ten bezahlen jedes Jahr einen 3-prozentigen Beitragssatzan die Arbeitslosenversicherung – das sind ungefähr30 Milliarden Euro im Jahr –, und Ihre 0,5 Prozent Son-derabgabe ergäbe – oh Wunder, oh Wunder! – genau die5 Milliarden Euro, die Sie brauchen.
Nur: Dieses Geld gehört den Versicherten und nicht Ih-rem aufgeblähten Steuerstaat.
Oder aber – das ist die Alternative – Sie wollen eineStrafsteuer für Arbeitgeber einführen; Sie nennen sieeben Sonderabgabe. Für eine solche Abgabe aber musses eine ganz spezifische Verbindung zwischen dem Zah-ler und dem Zweck geben; das schreibt unsere Verfas-sung vor.
Aber die schließen Sie ja aus, weil private Arbeitgeberdie sozialen Arbeitsplätze gar nicht anbieten dürfen.
Kommen wir zu einem weiteren Vermittlungshemm-nis bei Ihnen: zum logischen Denken. In meiner erstenRede im Bundestag ging es um Ihren Antrag im Hin-blick auf einen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde.Damals fand ich Ihren Antrag irgendwie süß.
Denn wir haben uns in der Großen Koalition auf einenMindestlohn von 8,50 Euro verständigt;
seitdem ist Ihnen dieses Thema ja abhandengekommen.Da Sie den flächendeckenden Mindestlohn von 10 Euronicht einführen konnten, haben Sie sich wahrscheinlichgedacht: Jetzt probieren wir es durch die Hintertür, näm-lich bei den Arbeitslosen.
Denn Sie fordern für die sozialen Arbeitsplätze ja einenMindestlohn von 10 Euro.Sie fordern in Ihrem Antrag auch eine 35-Stunden-Woche. Aber darüber möchte ich mich gar nicht be-schweren; das wäre nämlich ein höheres Arbeitspensumals bei Ihnen üblich.
Liebe Linke, nachdem ich Ihr Vermittlungshemmnisjetzt anschaulich beleuchtet habe, möchte ich Ihnen et-was an die Hand geben.
Schließlich ist es ja unser gemeinsames Ziel, Vermitt-lungshemmnisse abzubauen, also auch Ihre. Worum gehtes der Union bei der Integration der Langzeitarbeitslo-sen? Ich habe es schon in meiner letzten Rede hier imDeutschen Bundestag gesagt – ich wiederhole es –:
nicht Integration durch Beschäftigung, sondern Integra-tion durch Arbeit. So bringen wir die Menschen wiederin den ersten Arbeitsmarkt hinein. Wir dürfen die Men-schen nicht vernachlässigen, wir dürfen sie nicht in ir-gendwelchen sozialen Arbeitsmärkten parken, und wirdürfen sie auch nicht aufgeben, sondern wir müssen ihreStärken in den Mittelpunkt stellen. Das Ziel ist ganz klar,sie an den ersten Arbeitsmarkt heranzubringen. Dafürgibt es meiner Meinung nach fünf Ansatzpunkte:Wenn wir die Langzeitarbeitslosen wieder in die Nähedes ersten Arbeitsmarktes bringen wollen, brauchen wirbessere Konzepte statt Maßnahmen. Der Mehrwert dermeisten Maßnahmen geht gegen null. Was diese Men-schen eigentlich brauchen, sind Fähigkeiten, die am ers-ten Arbeitsmarkt gefragt sind. Ein Beispiel wären,glaube ich, die sogenannten Sozial- und Integrationsfir-men; dieses Konzept haben wir im SGB IX bei denMenschen mit Behinderung bereits verankert. Einer derHauptunterschiede zwischen den bestehenden Instru-menten im SGB II und diesen Sozialfirmen ist die Stel-lung der Langzeitarbeitslosen: In einer Maßnahme sindsie nur Teilnehmer; aber in einer Sozialfirma sind sie Be-schäftigte. Ein weiterer Vorteil ist meiner Meinung nach,dass die Sozialfirmen Betreuung aus einer Hand anbie-ten können, und sie bieten insbesondere arbeitsmarkt-nahe Beschäftigung. Dadurch können die Übergänge inden ersten Arbeitsmarkt besser gestaltet werden.Wie können wir diese Übergänge noch erleichtern?Damit wären wir beim zweiten Punkt: Ausbildung för-dern. Über 40 Prozent der Arbeitslosengeld-II-Bezieherhaben keinen Berufsabschluss. In der Vergangenheit ha-ben wir den Fokus zu sehr auf die schnelle Vermittlung
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Kai Whittaker
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gelegt. Wir wollen nicht, dass Langzeitarbeitslose inZeit- und Leiharbeit vermittelt werden, um sich in weni-gen Monaten wieder einen neuen Job suchen zu müssen.
Deshalb muss der Vorrang von Ausbildung vor Vermitt-lung konsequent in die Praxis umgesetzt werden.Ein dritter Ansatzpunkt sind die Jobcenter. Es ist dieAufgabe der Jobcenter, individuelle und passgenaueMöglichkeiten für Langzeitarbeitslose zu finden.
Diesem Anspruch können die Jobcenter nicht immer ge-recht werden. Deswegen sollten wir an dieser Stelle auchdarüber diskutieren, wie wir die freie Förderung refor-mieren, sie flexibler gestalten können. Dies würde denJobcentern die Freiheit geben, eine ganzheitliche Betreu-ung anzubieten.Ein weiterer Aspekt ist die Verbesserung des Arbeit-geberservices. Die Jobcenter müssen ihren lokalen Ar-beitsmarkt viel besser kennen, um passgenau vermittelnzu können.Als Letztes möchte ich noch die Notwendigkeit vonEvaluierungen ansprechen. Meiner Meinung nach müs-sen wir alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente nach ih-rer Einführung regelmäßig überprüfen. Dadurch könnenwir schneller feststellen, was wirkt und was nicht wirktund wo wir nachsteuern müssen.Werte Kollegen, in der Arbeitsmarktpolitik verfolgenwir alle das gleiche Ziel: Wir möchten Menschen wiederin Arbeit bringen. Unsere Wege sind jedoch höchst un-terschiedlich. Leider werden viele Anträge von den Lin-ken immer noch von ideologischen Blaupausen domi-niert,
wie wir heute mehr als einmal festgestellt haben. Darinliegt, denke ich, die Krux der ganzen Sache. DerSchweizer Aphoristiker Paul Schibler hat einmal sehrtreffend und passend formuliert: „Ideologie ist ein Syn-onym für Begrenztheit.“ Ihr Antrag, liebe Linke, ist einSynonym für Begrenztheit. Deshalb lehnen wir ihn ab.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als Nächster hat der Kollege Matthias
Bartke, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ichfinde, dass wir heute einem bemerkenswerten parlamen-tarischen Schauspiel beiwohnen dürfen: Die Linksparteihat einen Antrag geschrieben und ihre gesamte Redezeitan eine Landesministerin aus Thüringen gegeben.
Nachdem die Redezeit verbraucht war, wurde eine Kurz-intervention – eher eine Langintervention – gemacht, dievorbereitet war.
Man kann so etwas als Missbrauch parlamentarischerBräuche beschreiben. Das nur vorab.
Meine Damen und Herren, es ist jedes Mal wiedereine hervorragende Nachricht: Die Arbeitslosenzahlensinken. Dieser Trend setzt sich nun schon seit langemfort. Gleichzeitig – das ist natürlich auch wahr – müssenwir uns aber eingestehen: Bei den Langzeitarbeitslosenhat sich bislang leider zu wenig getan. Auch wenn es an-derslautende Stimmen gibt: Die Zahlen bleiben seit lan-gem auf gleichem Niveau, nämlich bei etwa 1 Millionstehen.Sorgen machen muss uns dabei vor allem die Mi-schung aus strukturellen Bedingungen und persönlichenEinschränkungen, die dahintersteckt. Diese Mischungmacht aus Lebenssituationen Vermittlungshemmnisse,lässt aus Menschen Langzeitarbeitslose werden undführt zur Ausgrenzung aus unserer Gesellschaft.Meine Damen und Herren, wir stellen uns dieser Rea-lität. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat bereitsim vergangenen Jahr ein umfassendes Konzept zum Ab-bau der Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt.
Es ist völlig klar: Die Chance von Langzeitarbeitslosen,im nächsten Monat eine Beschäftigung zu haben, ist mo-mentan viel zu niedrig. Diejenigen, die weniger als einJahr arbeitslos sind, haben eine sechsmal höhere Chance,einen Job zu bekommen. Das macht erschreckend deut-lich, wie gering die Chancen Langzeitarbeitsloser sind.Dieses Problem werden wir angehen. Das ist auch drin-gend notwendig; denn Langzeitarbeitslosigkeit bedeutetnicht nur, kein Geld zu verdienen. Im schlimmsten Fallbedeutet sie auch fehlendes Selbstwertgefühl, fehlendeAnerkennung und fehlende Teilhabe an der Gesellschaft.Viel zu häufig begegnen wir auch Vorurteilen gegen-über Arbeitslosen, die deren mangelndes Selbstwertge-
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Dr. Matthias Bartke
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fühl dann noch verstärken. Natürlich gibt es immer deneinen oder anderen, der keinen Job haben will und sichin der Arbeitslosigkeit scheinbar gut eingerichtet hat.Aber die überwiegende Mehrheit der Langzeitarbeitslo-sen möchte gern arbeiten. Manche – das ist leider auchdie Wahrheit – trauen sich reguläre Arbeit nicht mehr zu,auch wenn sie durchaus noch arbeiten könnten.Die konjunkturelle Entwicklung in unserem Land istmomentan vielversprechend, aber auch ihre Wirkung hatGrenzen. Langzeitarbeitslose sind manchmal nicht mehrarbeitsmarktfähig. Das heißt aber nicht, dass sie arbeits-unfähig sind. Für ihre Probleme gibt es kein Patentre-zept. Vielmehr brauchen wir Angebote, die helfen, diespezifischen Probleme zu bewältigen. Genau dieser An-satz findet sich in dem Konzept von ArbeitsministerinAndrea Nahles zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeitwieder. In den geplanten Aktivierungszentren – meineKollegin Kolbe hat schon darauf hingewiesen – werdenLeistungsberechtigte gebündelt Unterstützungsleistun-gen erhalten. Hier wird auf soziale, psychische und ge-sundheitliche Vermittlungshemmnisse eingegangen.Genauso wird auch an die Bewältigung von Bildungs-defiziten und Alltagsproblemen herangegangen; „maß-geschneidertes Betreuungsprogramm“ ist hier das Stich-wort. Die Aktivierungszentren werden noch in diesemJahr vorbereitet. Anfang nächsten Jahres werden sie ar-beitsfähig sein.Ebenfalls Bestandteil des Konzepts ist das ESF-Pro-gramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungs-berechtigter. Dessen Umsetzung ist bereits gestartet. DieUnterscheidung zwischen nicht arbeitsmarktfähig undarbeitsunfähig wird hier unmittelbar gelebt.Arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose ohne verwert-baren Berufsabschluss werden bei der Integration in denArbeitsmarkt unterstützt. Dabei sind Arbeitnehmercoa-ching auch nach Beginn der Beschäftigung und Lohn-kostenzuschüsse zentrale Elemente; dazu kommt – ganzwesentlich im Programm – die gezielte Ansprache undBeratung der Arbeitgeber, auch wenn das in manchenOhren banal klingt. Fakt ist aber leider, dass nur jederdritte Betrieb bereit ist, Langzeitarbeitslosen im Einstel-lungsprozess überhaupt eine Chance zu geben. Dabeibewertet etwa die Hälfte der Betriebe, die Langzeit-arbeitslose berücksichtigen, deren Motivation und Zu-verlässigkeit als gut oder sogar sehr gut.Denjenigen, die auch nach intensiver Förderung nichtin den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können,bietet das Programm „Chancen eröffnen – soziale Teil-habe sichern“ eine neue Chance. Der Name ist dabeiProgramm: Vorderstes Ziel ist die soziale Teilhabe amArbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben. DurchZuschüsse bis zu 100 Prozent sollen sozialversiche-rungspflichtige Arbeitsverhältnisse gefördert werden.Auch dieses Programm startet noch in diesem Jahr.
Darüber hinaus befürworten wir Sozialdemokratenauch die Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes überden Passiv-Aktiv-Transfer; das ist kein Geheimnis.
Wir wollen auch kein Geheimnis daraus machen, dassdies vom Finanzminister derzeit verhindert wird.Es gibt Dinge, die man schlicht nicht versteht: MeineHeimatstadt Hamburg hat angeboten, bei einem Passiv-Aktiv-Transfer die Finanzierung eventuell notwendigerRestmittel zu übernehmen. Also null Kostenrisiko fürden Bund! Das ist mit dem Finanzminister trotzdemnicht zu machen. Ich frage mich, ob man im Alter wirk-lich immer weiser wird.
Aber, verehrte Frau Ministerin Werner, Ihren Rezeptenkann ich auch nur begrenzt etwas abgewinnen. Mit IhrerSituationsanalyse gehe ich in weiten Teilen mit, bei derTherapie aber nicht. Sie fordern 200 Stellen in einem öf-fentlich geförderten Beschäftigungssektor, auf die sichalle Langzeitarbeitslosen
– 200 000 Stellen – bewerben können. Es ist hier ebenschon gesagt worden: Sie sagen nichts über die Aus-wahlkriterien für die Vergabe dieser Stellen. Dabei istdoch klar, dass bei einem solchen Konzept ein Creamingstattfinden wird. Das heißt, die mit den besten Ver-mittlungsaussichten bekommen die Stellen, und dieSchwächsten der Schwachen gucken wieder einmal indie Röhre.
Herr Kollege Bartke, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Pothmer?
Ja, gern.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege Bartke, Sie haben gerade darauf hinge-
wiesen, dass der Erste Bürgermeister der Hansestadt
Hamburg das Angebot gemacht hat, zur Einrichtung ei-
nes sozialen Arbeitsmarktes eventuell sogar zusätzlich
Geld zur Verfügung zu stellen, und Sie haben den Bun-
desfinanzminister – wie ich finde, zu Recht – kritisiert.
Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass Herr Scholz auch ein-
mal Bundesarbeitsminister war und in seiner Amtszeit
den Passiv-Aktiv-Transfer seinerseits abgelehnt hat?
Das ist schon längere Zeit her. Herr Scholz ist derzeitErster Bürgermeister in Hamburg. Die Diskussion umden Passiv-Aktiv-Transfer hat es damals in dieser Inten-sität ja noch gar nicht gegeben.
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Dr. Matthias Bartke
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Unser Wunsch ist es – das ist ja bekanntermaßen auchbei Teilen der CDU so –, den Passiv-Aktiv-Transferdurchzuführen. Wenn wir das in dieser Legislaturperiodenicht tun, dann werden wir uns bemühen, das in dernächsten Legislaturperiode zu machen. Gute Sachen sollman tun, und wenn man sie nicht heute macht, dannmacht man sie morgen.
Das Konzept des sozialen Arbeitsmarktes und die so-ziale Teilhabe am Arbeitsmarkt richten sich an dieSchwächsten der Schwachen. Das Institut für Arbeits-markt- und Berufsforschung schätzt diese Gruppe auf100 000 bis 200 000 Personen. Für diese eingegrenzteGruppe der ganz Schwachen sollte eine öffentlich geför-derte Beschäftigung geschaffen werden. Sie erhaltendann eine öffentlich finanzierte Beschäftigung, damit sieüberhaupt wieder am sozialen Leben teilnehmen kön-nen, der Tag strukturiert wird und sie Anerkennung fin-den. Die Integration auf den allgemeinen Arbeitsmarktsteht dabei durchaus nicht im Vordergrund.Das Konzept von Andrea Nahles ist ein gutes Kon-zept. Bei der Umsetzung dieses Konzepts haben wir eingutes Stück harte Arbeit zu bewältigen, aber am Endelohnt es sich. Aber auch hier gilt die alte Weisheit vonMarie Curie, die einmal gesagt hat:Man merkt nie, was schon getan wurde; man siehtimmer nur das, was noch zu tun bleibt.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Bevor ich den nächsten Redner auf-
rufe, erteile ich der Kollegin Sitte das Wort, die Gelegen-
heit zu einer Kurzintervention hat.
Recht schönen Dank, Frau Präsidentin. – Ich muss
jetzt doch einmal etwas klarstellen, damit sich das bei
den Zuhörerinnen und Zuhörern nicht falsch einschleift:
Erstens. Kurzinterventionen – ob vorbereitet oder un-
vorbereitet; das schreibt die Geschäftsordnung nicht vor –
sind gängiges Mittel hier im Bundestag.
Herrn Zimmers sonstige Beiträge in diesem Bundestag
haben bei uns nicht den Wunsch ausgelöst, eine vorbe-
reitete Kurzintervention zu bieten. Auch die heutige war
unvorbereitet. Gerade als Vertreter der CDA haben Sie
hier schon ziemlich kluge Beiträge zum Thema Arbeits-
losigkeit und dazu geleistet, wo die Verantwortung der
Gesellschaft liegt. Ihren heutigen Beitrag dazu fand ich
suboptimal, um es einmal so zu beschreiben.
Das Zweite, was ich als Parlamentarische Geschäfts-
führerin gerne anmerken möchte, weil es der Kollege der
SPD für notwendig befunden hat, noch einmal Bezug
darauf zu nehmen: Unser Vorgehen ist übliche Praxis im
Deutschen Bundestag. Artikel 43 Absatz 2 des Grundge-
setzes gibt den Mitgliedern des Bundesrates und der
Bundesregierung sowie ihren Beauftragten nämlich das
Recht, sowohl in den Ausschüssen als auch im Plenum
des Deutschen Bundestages zu sprechen. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, es gibt keine Fraktion, die das hier
nicht schon praktiziert hat. Im Gegenteil: Das ist auch
eine Begegnung mit dem Leben von Landesministerien.
Unser Antrag beschreibt die Probleme auf Bundes-
ebene. Die Diskussion darüber wurde hier um das er-
gänzt, was man in Thüringen tun kann. Das ist doch eine
wirklich gute Verbindung; das muss man nicht beklagen.
Wenn man die Chance dazu hat, dann sollte man sie nut-
zen, und wir hatten die Chance.
Da wir die Landesministerin von Thüringen selbst-
verständlich nicht für einen sechsminütigen Redebeitrag
herholen wollten, hat sie natürlich unsere zwölf Minuten
Redezeit bekommen.
Danke.
Herr Kollege Bartke.
Das Bemerkenswerte an dieser Sache ist doch, dass
Sie selber einen Antrag geschrieben haben, zu dem es in
der Kernzeit eine 96-minütige Debatte gibt, und Ihre ge-
samte Redezeit weggeben und selbst nicht dazu reden.
– Formalrechtlich ist das, was Sie gemacht haben, natür-
lich total zulässig, aber ich habe das als einen Miss-
brauch bezeichnet, und Sie müssen mir auch freistellen,
so etwas zu tun.
Danke.
Zur allgemeinen Verständigung: Generell darf jederParlamentarier hier im Saal das sagen, was er gerne sa-gen möchte, solange er andere nicht beleidigt. Da deramtierende Bundestagspräsident zu der Zeit auch alsoberster Hüter der Geschäftsordnung hier gesessen hat,gehe ich davon aus, dass er sich voll bewusst darüber ge-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9679
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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wesen ist, dass die Geschäftsordnung so ausgelegt wer-den kann, wie Frau Sitte das gerade gesagt hat.Jetzt hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Das Thema ist in der Tat viel zu ernst, alsdass man hier mit solchen merkwürdigen Scharmützelnarbeiten sollte. Ich fand den Stil in manchen Reden vonVertretern der Koalition etwas unangemessen.
Ansonsten bin ich den Linken für ihren Antrag sehrdankbar, weil damit auf ein zentral wichtiges Thema hin-gewiesen wird. Außerdem gibt er uns noch einmal dieMöglichkeit, die unterschiedlichen Ansätze von Linkenund Grünen klar darzustellen. Die Linken machen in ih-rem Antrag sehr deutlich, dass sie zentrale Merkmaleunseres Ansatzes eines grünen sozialen Arbeitsmarktesablehnen. Darauf werde ich jetzt eingehen.Das Ziel der Grünen ist eine Gesellschaft, an der alleMenschen selbstbestimmt teilhaben können. Wir strebeneine Gesellschaft an, in der niemand ausgegrenzt wird.Die Umsetzung der Forderungen im Antrag der Linkenwürde in der Tat eher das Gegenteil bewirken, was ichan ein paar Punkten ausführen möchte.Der erste Punkt ist die Frage: Wer ist eigentlich dieZielgruppe? Da sagen Sie: alle Langzeitarbeitslosen.Alle Langzeitarbeitslosen – so schimmerte es sowohl inder Rede von Frau Werner als auch in Ihrem Antragdurch – hätten überhaupt keine Chance auf dem Arbeits-markt. Das ist eine Stigmatisierung der Langzeitarbeits-losen, die wir unterlassen sollten.
Es ist mitnichten so, dass alle Langzeitarbeitslosenüberhaupt keine Chance haben. Viele Langzeitarbeits-lose sind gut qualifiziert und verfügen über besondereFähigkeiten. Mit einer guten Förderung eröffnen wir ih-nen viele Möglichkeiten. Viele Menschen finden auchnach mehr als einem Jahr Arbeitslosigkeit wieder aus derArbeitslosigkeit heraus.
– Frau Präsidentin.
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?
Ich gestatte sie sehr gerne.
Bitte schön.
Ich habe mich vorbereitet; das wollte ich vorweg sa-gen. – Vielen Dank, Kollege Strengmann-Kuhn.Ich will einfach nur etwas klarstellen. In unserem An-trag steht: Qualifizierung und Weiterbildung haben Vor-rang. – Wenn jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt ver-mittelt werden kann, ist das gut. Deswegen möchte icheinfach klarstellen, dass nicht alle Langzeitarbeitslosenin den öffentlichen Sektor hinein sollen, sondern für unssteht die Vermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt wirk-lich an erster Stelle.
Sie schreiben aber in Ihrem Antrag, dass sich auf die200 000 Plätze alle Langzeitarbeitslosen bewerben kön-nen, und zwar ohne Einschränkungen. Das gilt dannauch für diejenigen, die Chancen auf eine Stelle auf demersten Arbeitsmarkt hätten. Das führt dazu, dass diejeni-gen, die keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben,auch keine Chance auf einen ihrer 200 000 Arbeitsplätzehaben. Das heißt, die Ausgrenzung an dieser Stelle, diewir mit dem sozialen Arbeitsmarkt angehen wollen, be-steht in Ihrem Konzept weiterhin. Die 200 000 Men-schen, die langzeitarbeitslos sind und mehrere Vermitt-lungshemmnisse haben, hätten auch in Ihrer öffentlichgeförderten Beschäftigung keine Chance. Das führt zurAusgrenzung. Das ist ein Punkt, den wir in Ihrem Vor-schlag kritisieren.
Der zweite Punkt ist: In welche Art von Beschäfti-gung kommen diese Menschen? Es ist für uns wichtig,dass Barrieren abgebaut werden und dass wir an die Sa-che inklusiv herangehen. Deswegen sprechen wir nichtvon einem zweiten oder dritten Arbeitsmarkt mit einemhierarchischen Aufbau, sondern wir sprechen von einemsozialen Arbeitsmarkt ohne Barrieren und Hindernissezum normalen Arbeitsmarkt. Die Grenzen zwischen so-zialem Arbeitsmarkt und normalem Arbeitsmarkt sollenfließend sein.Genau diese Grenzen ziehen Sie in Ihrem Antrag wie-der ein, indem Sie sagen: Die Beschäftigung muss zu-sätzlich sein. – Was heißt denn „zusätzlich“? Das heißt,
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Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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es ist keine normale Beschäftigung. Das heißt also, dieBeschäftigung besteht darin, einen Laubhaufen von ei-ner Stelle zu einer anderen zu schieben. Das macht kei-nen Sinn. Wir brauchen normale Beschäftigung, dienicht zusätzlich ist, die allen offensteht und mit der dieMenschen gefördert werden können, die geringe Chan-cen auf dem Arbeitsmarkt haben.Das Gleiche gilt für die Frage, ob es nur um öffentlichgeförderte Beschäftigung gehen soll. Kollegin Pothmerhat schon auf das Modell in Baden-Württemberg verwie-sen, wo explizit und vorrangig private Unternehmen an-gesprochen werden. Das ist genau der richtige Weg. Wirmüssen mit dem sozialen Arbeitsmarkt auch Beschäfti-gung fördern, die der auf dem ersten Arbeitsmarkt ent-spricht und marktgängig ist. Nur dadurch bekommen wires tatsächlich hin, dass die Menschen am sozialen Ar-beitsmarkt nicht in einem Sondersystem sind und stig-matisiert und ausgegrenzt werden.
Es gibt schon gute Beispiele
wie Nordrhein-Westfalen, wo die Grünen an einer rot-grünen Regierung beteiligt sind, und das Baden-Würt-temberger Modell – dort koalieren die Grünen mit derSPD –, wo diese Kriterien enthalten sind. In Hessen ha-ben sich die Koalitionspartner Grüne und CDU dieseWoche auf einen Einstieg in einen sozialen Arbeitsmarktgeeinigt, der auch diesen Kriterien entspricht. Das zeigt:Da, wo Grüne regieren, geht es in die richtige Richtung.Grün wirkt!
Es ist der SPD, die auch Sympathien für den sozialenArbeitsmarkt hat, auf Bundesebene nicht gelungen, dieCDU zu überzeugen.
Das haben wir, wie gesagt, in Hessen geschafft.Ich fordere die Regierungskoalition noch einmal auf,sich einen Ruck zu geben. Nehmen Sie sich ein Beispielan den Bundesländern, in denen die Grünen mitregieren!Denn nur dann, wenn wir es auf Bundesebene schaffen,den Passiv-Aktiv-Transfer umzusetzen, kann es einenflächendeckenden sozialen Arbeitsmarkt geben, bei demdie Dauerarbeitslosen nicht mehr ausgegrenzt werden.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion erhält
jetzt die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich werde teilweise aus NRW-Sicht reden. Vieleswurde schon gesagt. Wiederholungen werden sich wohlnicht vermeiden lassen.Wir haben in Deutschland eine hervorragende Ar-beitsmarktlage, und wir können hohe Beschäftigungs-zahlen vorweisen. In der Gruppe der Langzeitarbeitslo-sen in Deutschland bewegt sich zum Teil weniger, odergenauer gesagt: In diesem Bereich verfestigen sich be-stimmte Personengruppen. Wenn wir gemeinsam fest-stellen, dass wir die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosenmit den vorhandenen Vermittlungsstrukturen nicht odernur unzureichend erreichen können, dann müssen wirdie Vermittlungsstrukturen und den vorhandenen Instru-mentenkasten prüfen und entsprechend anpassen. Zielaller Maßnahmen und Programme muss es sein, denÜbergang in den ersten Arbeitsmarkt und damit in diesozialen Sicherungssysteme zu ermöglichen.Ich glaube aber, dass wir gerade bei diesem Thema,das uns allen wichtig ist, verschiedene Aspekte beleuch-ten müssen. Ob Ihre Vorstellung, Kollegen der FraktionDie Linke, die öffentlich geförderte Beschäftigung mit200 000 Stellen auszubauen, die richtige Lösung für dieBeseitigung von Langzeitarbeitslosigkeit ist, wage ichzu bezweifeln. Wir müssen uns dabei nämlich auch dieFrage stellen, ob wir nicht mitunter diese Personen-gruppe in dem System sogar verfestigen. Es gibt nämlichnicht den Normalfall bei Langzeitarbeitslosen. Es ist Teilder Herausforderung, dass wir es bei den Langzeitar-beitslosen nicht mit einer homogenen Gruppe zu tun ha-ben; es sind vielmehr Menschen, die häufig mehrereVermittlungshemmnisse aufweisen und auch unter-schiedlichen Unterstützungsbedarf haben.Die unterschiedlichen Erwerbslosenbiografien sindbereits angesprochen worden. Circa 1 Million Menschensind schon länger als ein Jahr ohne Arbeit. Fast dieHälfte von ihnen ist länger als zwei Jahre arbeitslos.Dass 20 Prozent vier Jahre oder länger arbeitslos sind, istnicht gut; dem müssen wir entgegenwirken. Wir müssen– die Bundesarbeitsagentur agiert bereits entsprechend –die individuellen Potenziale der Langzeitarbeitslosenverstärkt in den Blick nehmen und nach Talenten undBegabung fragen und den Betroffenen die Möglichkeitgeben, diese weiterzuentwickeln.Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass dieLangzeitarbeitslosen vielfach soziale, gesundheitliche,schulische oder familiäre Probleme haben. Deshalbgehört es für uns in der Union dazu, dass wir die Rah-menbedingungen so gestalten wollen, dass sich Betreu-ungsintensität, Betreuungsqualität und auch Betreuungs-dichte steigern lassen, wobei es einer Abstimmungzwischen den Akteuren, die an diesem Prozess beteiligtsind, bedarf.Sie wissen: Ich habe 30 Jahre im Gesundheits- undSozialbereich gearbeitet. Ich bin der Meinung, dass Un-terstützungsleistungen wie Schuldnerberatung, psycho-soziale Beratung und anderes einen immensen Stellen-wert bei der Begleitung von Langzeitarbeitslosen haben.Häufig scheitert diese Unterstützung aber an zu weitenWegen. Dabei entscheidet sie oft über Erfolg oder Miss-erfolg von Maßnahmen für Langzeitarbeitslose. Wir
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Christel Voßbeck-Kayser
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müssen hier die Rahmenbedingungen so setzen, dass dieräumliche Bündelung besser möglich wird.
Wir schaffen mit dem Instrument der assistierten Be-gleitung eine sinnvolle ergänzende Hilfe. Das ist schonangesprochen worden. Bei der Begleitung oder Beratungkommt es nicht darauf an, ob sie von einem Pädagogenoder einem Sozialpädagogen geleistet wird. Ich habeauch große Sympathien für Menschen, die lebens- undberufserfahren sind, die schon im Ruhestand sind, abersagen: Ich bin fit, ich bringe meine Kenntnisse und Fer-tigkeiten ein, ich übernehme Patenschaften für Men-schen, die arbeitslos sind – ob das nun junge oder ältereLeute sind –, und begleite sie. – Das sind erfolgreicheInstrumente. Deshalb glaube ich auch, dass wir mit die-sem Instrument, das über den Zeitraum einer Maßnahmehinaus eingesetzt werden soll, auf dem richtigen Wegsind.Des Weiteren soll die Vereinbarung von Zwischenzie-len möglich sein, und zwar im Sinne eines Stufensys-tems. Manches Training, ob in einer Berufsbildungsstätteoder in einem Verein, oder auch manches Praktikum, wodurch das Zusammensein mit anderen Menschen kom-munikative Kompetenzen, Kritik- und Teamfähigkeit,aber auch einfache Alltagsstrukturen wie das Einhaltenvon Terminen und Regeln gelebt oder wieder erlerntwerden, ist dabei hilfreich.Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass dieHälfte der Langzeitarbeitslosen leider keinen Berufsab-schluss hat. Also muss es unser Ziel sein, bei den Maß-nahmen zu schauen, wie wir Langzeitarbeitslose ohneBerufsabschluss in eine Ausbildung vermitteln können,anstatt sie einfach irgendwie zu beschäftigen.Ich meine, dass wir bei der Gruppe der Alleinerzie-henden ein gutes Beispiel finden, wie Instrumente, dieschon auf den Weg gebracht worden sind, gut wirken. Ja,es gibt 120 000 Alleinerziehende in der Gruppe derLangzeitarbeitslosen. Für sie ist zum einen notwendig,dass Kinderbetreuungsmöglichkeiten vorhanden sind.Die haben wir mit dem Kitaausbau, mit Betreuungsplät-zen und regionalen Netzwerken vor Ort geschaffen; wirhaben sogar vielfältige Möglichkeiten geschaffen. Aufder anderen Seite müssen wir aber auch die Arbeitgeberso einbinden, dass die Vereinbarkeit von Familie undBeruf möglich ist.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pothmer?
Im Moment nicht. Ich würde gerne erst den Gedanken
zu Ende führen.
Wenn die Redezeit nicht zu Ende ist.
Ein Umdenken wegen offener Azubistellen, die nicht
besetzt werden können, findet bei den Arbeitgebern in
unterschiedlichem Maße schon statt, auch angesichts des
regionalen Fachkräftemangels. Ein Beispiel aus meinem
Wahlkreis: Ein Bäcker, der ein Familienunternehmen be-
treibt, hat einer alleinerziehenden Mutter durch ver-
kürzte Arbeitszeiten, angepasst an die Kitaöffnungszeit,
die Möglichkeit geboten, eine Ausbildung als Bäckerei-
fachverkäuferin zu machen. Das ist ein gutes Beispiel,
das zeigt, dass Instrumente wirken und aufseiten der Ar-
beitgeber, der Handwerksbetriebe und auch der Gewerk-
schaften einiges im Fluss ist.
Sie wundern sich vielleicht, dass ich heute etwas
milde bin, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Thema ist uns allen wichtig. Nur, jetzt muss ich
folgenden Punkt erwähnen: die Finanzierung öffentlich
geförderter Berufstätigkeit. Sie wollen den Eingliede-
rungstitel durch eine Sonderabgabe der Arbeitgeber in
Höhe von 0,5 Prozent der Lohnsumme deutlich erhöhen.
Dazu kann ich nur ein Bild aus der Landwirtschaft neh-
men und sagen: Wie lange wollen Sie eine Kuh melken?
Jeder von uns weiß: Eine gesunde Kuh kann man nur be-
grenzt melken. Auch unsere gesunde Kuh, die deutsche
Wirtschaft und den Mittelstand, kann man nicht unbe-
grenzt melken.
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Langzeitar-
beitslosigkeit ist ein komplexes Problem,
das – darf ich dies noch zu Ende ausführen? – nicht ein-
fach mit neuen Arbeitsmarktprogrammen oder der Aus-
dehnung der öffentlich geförderten Beschäftigung zu lö-
sen ist. Vielmehr ist ein Bündel von Maßnahmen in der
Arbeitsmarktpolitik erforderlich. Es ist ferner nötig, im
Bildungssystem Maßnahmen, die räumlich gebündelt
und vernetzt sind, auf den Weg zu bringen. Ihr Antrag
greift aus unserer Sicht zu kurz, und deshalb lehnen wir
ihn ab.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Waltraud Wolff,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zu-schauertribünen! Letztes Jahr im August haben meineKollegin Daniela Kolbe und ich die Forderung der ost-
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Waltraud Wolff
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deutschen Bundestagsabgeordneten nach einem sozialenArbeitsmarkt vorgestellt. Ganz ehrlich: Wir haben imletzten August nicht geglaubt, dass die Bundesarbeitsmi-nisterin in der Zwischenzeit mehrfach hier im HohenHause diese Forderung unterstützen und sagen würde,sie werde Lösungsmöglichkeiten vorstellen. Wir wissenja, dass wir im Haushalt keine zusätzlichen Mittel haben.Meine beiden Kollegen, Herr Bartke und Frau Kolbe,haben schon dargestellt, welche die Zielgruppen sindund wie wichtig es ist, dass hier etwas passiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist für unsoberstes Gebot, Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zubauen; das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass fürMenschen, die sehr lange arbeitslos sind, die Angeboteder Arbeitsmarktpolitik nicht passen. Richtig ist alsoauch, dass neben der Brücke auf den ersten Arbeitsmarktdie Teilhabe am Erwerbsleben und damit auch am ge-sellschaftlichen Leben ein wichtiges Ziel der Arbeits-marktpolitik sein muss.
Dieses Ziel wird uns gemeinsam immer wichtiger, weilwir die Dringlichkeit und die Not erkannt haben. Da-rüber, muss ich sagen, bin ich persönlich sehr froh. Ichbin auch deshalb sehr froh darüber, weil Arbeit mehr istals Broterwerb. Arbeit ist Grundlage für gesellschaftli-che Teilhabe, und auf diese Teilhabe hat ein Teil derMenschen in unserem Land keine Chance mehr. DiesenMenschen – das haben wir in dieser Debatte schon breitdiskutiert – können wir mit öffentlich geförderter Be-schäftigung helfen. Das halte ich für sinnvoll und not-wendig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im August 2014 ha-ben wir als SPD unseren Vorschlag vorgestellt. Im Okto-ber 2014 hat eine Gruppe von Unionskollegen ihren Vor-schlag zu öffentlich geförderter Arbeit gemacht. Heutediskutieren wir einen Antrag der Linken. Das heißt also,dass es eine breite Unterstützung für einen solchen An-satz gibt. Die gute Nachricht ist: Es bleibt nicht nur beiAnträgen; es bleibt nicht nur bei Lippenbekenntnissen.Es wird auch die Umsetzung dieses Ansatzes geben.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird mitseinem Programm – darüber haben wir auch schon dis-kutiert – 10 000 Menschen einen Einstieg über das ESF-Programm ermöglichen. Das ist ein wichtiger Schritt.
Es ist wichtig, einen Einstieg zu finden.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie ha-ben in Ihrem Antrag deutlich gemacht, dass Ihnen dasnicht weit genug geht. Ich habe dafür Verständnis. Auchmir persönlich und allen, die an dieser Debatte teilneh-men, reicht das nicht.Sie haben in Ihrem Antrag auch die Kosten für diesenAnsatz benannt. Wenn man die Zahlen einmal zusam-menrechnet, sieht man: Es handelt sich um 6 MilliardenEuro. 6 Milliarden Euro! Das ist auch von meinen Kolle-gen aus der Union schon angesprochen worden. Auchdie Sonderabgabe ist erwähnt worden. Ich sehe nicht,überhaupt nicht, dass diese Vorschläge durchsetzbarsind.Wenn wir keine zusätzlichen Mittel im Haushalt ha-ben, ist der Einstieg, den Frau Nahles hier macht, dasBeste, was uns überhaupt passieren kann;
denn ohne zusätzliche Mittel im Haushalt hat MinisterinNahles für dieses Jahr 75 Millionen Euro freigekämpft,und sie hat es möglich gemacht, für das nächste Jahr150 Millionen Euro bereitzustellen. Ich sage noch ein-mal: ohne zusätzliche Haushaltsmittel. Ich glaube, dasses hier einen Anfang gibt, der wichtig ist und mit demman soziale Teilhabe möglich machen kann.
Warum ist der Konsens dazu derart breit? Weil nichtnur wir, sondern auch die Länder diesen Weg mitgehen!Sie haben das für Thüringen gesagt, Frau MinisterinWerner. Nordrhein-Westfalen, Hessen, alle haben sichhier schon geoutet. Dann schaue ich mal zu mir nachHause, nach Sachsen-Anhalt. Ich freue mich, dass ge-rade daran gearbeitet wird, dieses Bundesprogramm vonFrau Nahles um 1 000 Stellen aufzustocken. Sachsen-Anhalt ist nicht gerade ein Land, das mit Reichtum ge-segnet ist. Aber wir nehmen 35 Millionen Euro ESF-Mittel zusätzlich in die Hand und schaffen für die nächs-ten drei Jahre für 1 000 Menschen eine Beschäftigungs-möglichkeit.Menschen brauchen das Gefühl, gebraucht zu wer-den. Die meisten wollen arbeiten. Sie wollen Teil derGesellschaft sein. Sie brauchen die Kontakte, die überdie Arbeit entstehen.Meine Damen und Herren, es gibt gleichzeitig vieleAufgaben, die überhaupt nicht wahrgenommen werden.Es heißt immer: Soziale Arbeit kann nur stattfinden,wenn keine ordentlichen Arbeitsplätze gefährdet wer-den. – Etliche Kommunen in Ostdeutschland schrump-fen. Nicht nur Wohnungen stehen leer, auch Kleingärtenfallen brach. Die gemeinnützigen Gartenvereine könnenes nie im Leben schaffen, hier den Rückbau zu leisten.Da sehe ich eine gute Möglichkeit.
In Krankenhäusern, in Pflegeheimen ist die Einsamkeitgreifbar. Pflegekräfte haben nicht die Zeit, die notwen-dig ist. Das ist eine zusätzliche Aufgabe. In vielen Orten,in vielen Dörfern gibt es nicht einmal mehr Geschäfte,sodass Kommunen sagen: Wir müssen wenigstens einenDorfladen schaffen. – Auch da sind Möglichkeiten vor-
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Waltraud Wolff
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handen. Es gibt tausend Ideen. Die wenigen Beispielesollen zeigen, dass im Rahmen von sozialer Arbeit sinn-volle und wichtige Beschäftigung möglich ist. Dafürmüssen wir eine Unterstützung hinbekommen.Natürlich muss man das vor Ort entscheiden. Ichsage, dass die Beiräte bei den Jobcentern das am bestenentscheiden sollten: Da sind Arbeitgeber. Da sind Ge-werkschaften. Da ist Politik. Es fehlen zwar die Sozial-verbände, aber das sollte keine unüberwindbare Hürdesein.Es heißt immer, meine Damen und Herren: Politik istdie Kunst des Möglichen. Uns eint das Ziel, soziale Teil-habe für alle Menschen zu gewährleisten.
Lassen Sie uns diesen Weg doch gemeinsam gehen!Aber lassen Sie uns dabei auch immer im Blick behalten,was möglich ist! Dann, glaube ich, werden auf diesenersten Schritt weitere Schritte folgen.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Kollegin Jutta
Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Als eine der letzten Rednerinnen und als eine,die heute in diesem Hohen Hause, im Bundestag, schonviele Reden gehört hat, will ich sagen: Eigentlich eintuns Sozialpolitiker vieles. Ich möchte die Unterschiedeaber doch noch einmal deutlich machen.Bei den Linken ist es so: Sie wollen eigentlich denArbeitsplatz, den Arbeitgeber mehr belasten. Ich habedas einmal ausgerechnet. Es handelt sich nicht um Milli-ardensummen. Aber wenn Sie das, was Sie fordern, aufeinen Arbeitgeber beziehen, heißt das, dass er bei 35Mitarbeitern einen Ausbildungsplatz weniger finanzie-ren kann. Da frage ich mich, inwiefern das sozial seinsoll.
Ich will auch Ausbildungsplätze schaffen. Ihr Vorschlagläuft dem aber entgegen.
Sie vertreten die Philosophie – das wurde ja hierschon mehrmals erwähnt –: Ich schaffe einen Arbeits-markt, packe die Menschen dort hinein und – wenn ichFrau Werner aus Thüringen richtig verstanden habe –gebe ihnen 1 100 Euro im Monat, lasse sie drei Jahre ineiner öffentlich geförderten Beschäftigung; danach sindsie ein Jahr in der Arbeitslosenversicherung, und dannstecke ich sie wieder in ein Programm. – Wie lange wol-len Sie das durchziehen?
Es gibt ja kein Andocken an den Arbeitgeber. Sie schaf-fen einen öffentlich geförderten, geschützten Arbeits-raum für drei Jahre. Da frage ich mich: Was ist eigent-lich mit dem, der psychosoziale Schwierigkeiten hat, dergar nicht acht Stunden arbeiten kann? Werden Sie denauch mit 1 100 Euro ausstatten? Das sind für mich ganzwichtige Fragen, wenn es um das Thema Passiv-Aktiv-Transfer geht. Sie wissen, dass auch ich das verfechte.Aber für mich sind noch nicht alle Fragen beantwortet.Ich bekomme nämlich aus diesem System nur denjeni-gen heraus, der voll arbeitsfähig ist. Bei demjenigen, dergroße Schwierigkeiten hat, bin ich sofort wieder bei derAufstockung, weil er nicht aus dem System heraus ist.Uns kann es doch nur darum gehen, die Menschen he-rauszubekommen und an einen Arbeitgeber, in den ers-ten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Was ist dafür notwen-dig? Dafür sind nicht nur die Programme, die FrauNahles jetzt auflegt, notwendig. Frau Nahles hat in derTat die Programme alleine aufgelegt, liebe Kollegen derSPD; denn politisch haben wir diese hier im HohenHause noch nicht beraten. Insofern werden wir – dafreue ich mich auf eine spannende Diskussion – diskutie-ren müssen, wie wir damit umgehen. Aber im Momentist es ein Nahles-Programm und kein Programm derSPD, kein Programm der CDU. Es ist ein Programm derMinisterin.Wenn man sich einmal damit beschäftigt – das habeich getan – und vor Ort schaut, wie das Programm läuft,dann kann man feststellen, dass wir momentan nicht alleStellen besetzt bekommen. Wir haben eigentlich 33 000Stellen, bekommen mit Mühe und Not aber nur 24 000Stellen besetzt. Woran liegt das? Das liegt daran, dasswir die Arbeitgeber brauchen. Das liegt daran, dass wirMenschen befähigen müssen, genau dort, wo sie ge-braucht werden, die Arbeit aufzunehmen. Dazu ist aberein enormer Aufwand an Begleitung erforderlich. Des-wegen ist es wichtig, dass wir darauf achten: Jede Re-gion ist anders; jeder Mensch ist anders. Jeder Menschmuss die Fähigkeiten, die er besitzt, ausbauen. Ich habedas hier einmal mit „Wir müssen die Stärken stärken“umschrieben. Genau das ist es doch, wofür wir bei demEinzelnen zunächst einmal sorgen müssen. Meines Er-achtens müssen wir in der Tat sehr flexibel sein. Wirwerden für Hamburg andere Programme als für dasRuhrgebiet oder Bayern brauchen, wo ganz andere Pro-bleme vorherrschen. Darüber werden wir zukünftig re-den müssen. Vieles haben wir ja probiert.Frau Pothmer, gestatten Sie mir, da Sie behaupten,wir hätten in der letzten Regierung nichts getan, eine Be-merkung – ich habe gerade noch einmal nachgefragt –:Das ganze Programm einschließlich der Systematik, indie Langzeitarbeitslosigkeit zu kommen, ist ein Pro-gramm von Rot-Grün. Ich will das nur richtigstellen.Das Ganze ist letztendlich auf Hartz IV zurückzuführen,weil wir genau an dieser Stelle nicht die richtigen Instru-mente eingeführt haben. Wir sollten also die gegenseiti-gen Schuldzuweisungen lassen. Wir sollten vielleichtauch diese Anträge lassen, die uns vorgaukeln, wir könn-
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Jutta Eckenbach
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ten das Ganze über einen Arbeitsplatz und mit viel Geldsteuern.
Nein, wir brauchen Regionalität. Wir brauchen dieAnerkennung dessen, was der einzelne Langzeitarbeits-lose an unterschiedlichen Fähigkeiten braucht. Geradevor dem Hintergrund, dass wir schon viele Langzeitar-beitslose in Arbeit gebracht haben und es heute mit einerGruppe zu tun haben, die wirklich enorme Hilfe benö-tigt, wird uns das sehr schwerfallen.Wir haben in Essen – um das zum Schluss als Beispielzu nennen – ganz früh eine Joborientierung – aber immerstufenorientiert, also ausstiegsorientiert – genau fürdiese Menschen angeboten. Wir wollen sie befähigen, inden ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Ich glaube, dassdies Maßnahmen sind, die wir in der Tat benötigen. Ichkann für die CDU/CSU-Fraktion hier und heute sagen:Wir werden uns genau daran orientieren.Ich freue mich schon heute auf eine sehr interessanteDebatte, die sich mit den Fragen beschäftigen wird: Wiebeseitigen wir Langzeitarbeitslosigkeit? Wie bringen wirMenschen in Arbeit, die heute noch in der Langzeitar-beitslosigkeit sind? Was muss ich genau für diese Men-schen tun? Wenn wir das alle gemeinsam machen, sindwir, glaube ich, auf einem richtigen Weg. Wir werdendabei Haushaltsdisziplin wahren müssen, und wir müs-sen dabei darauf achten, wie wir die Arbeitgeber mitneh-men können. Aber diese Ziele sollten uns Sozialpolitike-rinnen und Sozialpolitiker hier alle bewegen. Insofernfreue ich mich auf die nächsten Debatten. Sie werden an-strengend genug sein.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Markus Paschke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kol-legin Eckenbach, ich muss das, was Sie eben gesagt ha-ben, doch ein bisschen korrigieren. Die Ministerin hatdieses Programm höchstpersönlich im Ausschuss vorge-stellt. Wir haben intensiv darüber diskutiert. Es würdemich freuen – und ich lade Sie dazu ein –, wenn wir aufdiesem Weg weitergehen würden und den Schwerpunkt,den wir gesetzt haben, nämlich für die Langzeitarbeitslo-sen etwas zu machen, noch stärker ausbauen und weitereMittel dafür zur Verfügung stellen könnten.
Seit zwei Jahren erhalten wir fast monatlich Erfolgs-meldungen wie: „Bester Arbeitsmarkt seit der Wieder-vereinigung“, „Arbeitslosigkeit geht weiter zurück“ oderauch „Viel Arbeit, die Arbeitslosenquote ist so niedrigwie seit langem nicht mehr“.
Ja, es liegt noch viel Arbeit vor uns. Denn wir hörenzwar, dass die Arbeitslosenzahlen gesunken sind. Dasverleitet einige auch dazu, zu denken, alles sei im grünenBereich; es verleitet dazu, zu denken, am Arbeitsmarktsei alles in Ordnung. Aber es ist nicht alles in Ordnung;denn die Joberfolge kaschieren Probleme. So schreibt esdie Börsen-Zeitung, und sie steht wahrlich nicht im Ver-dacht, eine sozialdemokratische Hauspostille zu sein.Fakt ist: Viele Langzeitarbeitslose profitieren nichtvon diesen Erfolgszahlen. Sie haben keinen Anteil anden guten Entwicklungen. Jeder von uns wünscht sich,dass jeder Mensch – ob Mann oder Frau, ob jung oder äl-ter – seinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt findenkann. Die Realität ist aber leider eine andere: Nicht we-nige Menschen in Deutschland bekommen leider keineChance auf dem ersten Arbeitsmarkt.Es gibt definitiv einen Bedarf an individuellen Lösun-gen, die es jedem Menschen ermöglichen, Anteil am ge-sellschaftlichen Leben zu nehmen. Ein wichtiger Be-standteil dieses gesellschaftlichen Lebens ist bei uns dieErwerbsarbeit, das Gefühl, gebraucht zu werden und sei-nen Beitrag für die Gesellschaft leisten zu können.Wir brauchen Lösungen, die die Stärken, aber auchdie Schwächen des Einzelnen berücksichtigen. Wir brau-chen also Angebote für diejenigen, die heute die Chanceauf einen Platz im ersten Arbeitsmarkt nicht haben.Diese Angebote müssen die derzeitige physische undpsychische Situation sowie die Fähigkeiten des Einzel-nen berücksichtigen. Die betroffenen Menschen brau-chen wieder die Chance, Mut zu fassen und ihre Fähig-keiten weiterzuentwickeln. Und sie brauchen vor allenDingen das Gefühl, wieder gebraucht zu werden. Das al-les sollte immer mit dem Ziel vor Augen geschehen, ir-gendwann wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zufassen.Das kann zwei, drei oder fünf Jahre oder auch längerdauern. Wir brauchen ganzheitliche Konzepte, die dieMenschen in den Mittelpunkt stellen. Wir brauchenKonzepte, die dort, wo Hilfe benötigt wird, diese Hilfeauch sicherstellen. Dafür brauchen wir Geld. Denn auchdas gehört zur Ehrlichkeit dazu: Solche ganzheitlichenKonzepte sind nicht kostenlos zu haben. Schon das Wort„Langzeitarbeitslosigkeit“ signalisiert ja deutlich, dasshäufig keine kurzfristigen Maßnahmen sinnvoll sind.Wir dürfen also nicht in Haushaltsjahren rechnen,sondern wir müssen die positiven Wirkungen mittel- bislangfristig betrachten. Deutschland ist schließlich keinDAX-Konzern, der seine Aktionäre befriedigen muss,sondern eine soziale und demokratische Gesellschaft. Indiese Gesellschaft und ihren Zusammenhalt den einenoder anderen Euro mehr zu investieren, sollten wir ruhigbereit sein.
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Markus Paschke
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Die meisten Menschen, die ich kenne, wollen arbei-ten. Warum geben wir ihnen nicht die Chance? Warumfinanzieren wir Arbeitslosigkeit statt Arbeit?
Wie es gehen kann, zeigen Modellprojekte aus Nord-rhein-Westfalen oder Baden-Württemberg.
Nehmen wir das Beispiel Baden-Württemberg. Dortwird als einer von fünf Bausteinen des Landespro-gramms „Gute und sichere Arbeit“ der Passiv-Aktiv-Tausch, also ein sozialer Arbeitsmarkt, erprobt. Statt densogenannten Regelbedarf und die Kosten für die Unter-kunft zu finanzieren, können die verwendeten Gelder alsZuschuss für eine Beschäftigung eingesetzt werden. Ba-den-Württemberg erprobt das in einem Programm mit562 Plätzen, die auch genutzt werden. Eine Evaluationist für 2015, 2016 vorgesehen. Ich bin davon überzeugt,dass es uns Erkenntnisse liefern wird, die unsere Arbeitfür nachhaltige Beschäftigungserfolge für Langzeitar-beitslose voranbringen wird.
In der Bundesregierung ist die Bekämpfung der Lang-zeitarbeitslosigkeit als ein wichtiger Schwerpunkt er-kannt. Das Programm, das Bundesministerin AndreaNahles vor einigen Monaten vorgestellt hat, weist in dierichtige Richtung. Die wesentlichen Bestandteile sindheute mehrfach erwähnt worden. Angesichts der Zeitwerde ich sie nicht wiederholen. Aus meiner Sicht sindes gute und wichtige Schritte. Ich danke der Bundes-ministerin ausdrücklich dafür, dass sie sich dieses The-mas angenommen und es sich auf die Fahnen geschrie-ben hat.
Wir sind also schon einen Schritt weiter, als Ihr An-trag suggeriert. Natürlich wäre mehr wünschenswert.Wir werden auch dafür kämpfen, mehr Geld für die He-rausforderungen auf dem Arbeitsmarkt für Langzeitar-beitslose zur Verfügung zu haben. Das Programm derBundesregierung mit seinen konkreten Vorschlägen istim Gegensatz zu Ihrer Wünsch-dir-was-Liste gut ange-legtes Geld. Es ist wichtig, dass wir mit den Steuergel-dern und den Haushaltsmitteln ordentlich umgehen.Es ist mir zu einfach, zu leicht und zu billig, immermehr zu fordern. Ich finde, die SPD macht eine gutePolitik. Sie sagt nämlich: Im Mittelpunkt unserer Politikmuss der einzelne Mensch stehen. Die, die es amschwersten haben, sind auf unsere Unterstützung undSolidarität angewiesen. Deshalb halten wir die Bekämp-fung der Langzeitarbeitslosigkeit für wichtig. Das Mög-liche machen und weiter für das Wünschenswerte kämp-fen, das ist gute sozialdemokratische Politik, meineDamen und Herren.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Mehr als 1 MillionMenschen in unserem Land sind langzeitarbeitslos –mehr als 1 Million ganz unterschiedliche Schicksale. Oftsind sie langzeitarbeitslos, weil sie neben den Stärken,die selbstverständlich jeder Mensch hat, nicht nur einProblem mitbringen, sondern gleich mehrere. Sie habenkeinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung, siesind krank oder müssen sich um jemanden kümmern, siesind alleinerziehend oder nicht mehr ganz jung, sie ha-ben Schulden, es gibt einfach nicht die passende Stelle,sie sind alkoholkrank oder nehmen Drogen, sie sprechenunsere Sprache nicht, sind nicht belastbar oder motiviert;manche haben Vorstrafen, und andere können oder wol-len nicht umziehen. Wer erst einmal längere Zeit arbeits-los ist, bei dem wird die Langzeitarbeitslosigkeit an sichzum sogenannten Vermittlungshemmnis.Jeder Fall ist anders zu bewerten. Eines jedenfalls istsicher nicht richtig, nämlich dass all diese Menschen fürden ersten Arbeitsmarkt nicht mehr zu gebrauchen sindund von Haus aus für eine öffentlich geförderte Beschäf-tigung infrage kommen. Mit Ihrem Antrag fordern Siegroß angelegte Beschäftigungsprogramme. Sie stellendamit viele, viele Menschen auf das Abstellgleis. DasGleis führt nämlich nicht weiter auf den ersten Arbeits-markt; da ist dann einfach Endstation.
Sie wissen gut, dass wir als Koalition die Bekämp-fung der Langzeitarbeitslosigkeit zu einem unsererobersten Ziele erklärt haben. Ihre Behauptung im An-trag, nicht die Arbeitslosigkeit sei bekämpft worden,sondern die Betroffenen seien bekämpft worden, ist des-halb reichlich verfehlt, liebe Kollegen.
Das Arbeitsministerium hat die verschiedenen Pro-gramme für Langzeitarbeitslose hier bereits vorgestellt,und wir haben auch schon öfter darüber diskutiert. Un-sere Programme eint, dass sie auf eine intensive Bera-tung und Betreuung der einzelnen Betroffenen setzen,dass sie eben die individuelle Lebenssituation der eigen-verantwortlich handelnden Menschen in den Mittelpunktstellen und sie unterstützen, dass sie auf Stärken derMenschen aufbauen und sie dabei unterstützen, eine
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Dr. Astrid Freudenstein
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Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden und zu be-halten.Öffentlich geförderte Beschäftigung kann in so gutenZeiten, wie sie unser Arbeitsmarkt momentan erlebt, im-mer nur für einen sehr kleinen Personenkreis sinnvollsein. Dieser muss sehr genau definiert sein. Auch müs-sen die Tätigkeiten sehr genau definiert sein, damit keineregulären Jobs verdrängt werden. In Ihrem Antrag ist lei-der keiner dieser Punkte berücksichtigt.Um Ihnen das Problem deutlich zu machen, möchteich mit Ihnen einen kurzen Ausflug in die Geschichteunternehmen. Schon im 19. Jahrhundert hatten Städteund Gemeinden versucht, Teile der erwerbslosen Bevöl-kerung mit sogenannten Notstandsarbeiten in Arbeit zubringen. Wie der Name aber schon sagt, wurde dieseForm der Beschäftigung nur in ganz besonders schlech-ten Arbeitsmarktsituationen eingeführt, zum Beispiel beiMissernten oder Konjunktureinbrüchen. Auch in derWeimarer Republik gab es solche Programme, weilbreite Bevölkerungsschichten damals Gefahr liefen, ausder Gesellschaft ausgegliedert zu werden. Das betrafbeispielsweise die vielen Kriegsveteranen und jungeMenschen, die infolge der Wirtschaftskrise von 1923ohne jede Chance auf Arbeit waren.Eine ganz besondere Bedeutung erlangte die öffent-lich geförderte Beschäftigung mit der Wiedervereini-gung. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden inden 90er-Jahren bekanntlich in außerordentlichem Maßeeingesetzt. Sie sollten damals als Brücke fungieren. Dasentstandene Arbeitsplatzdefizit in den neuen Bundeslän-dern sollte damit verringert werden. Die Teilnehmersollten neue Qualifikationen erlangen.Was aber hatten all diese Situationen in der Ge-schichte gemeinsam? Es waren extrem schwere Zeitenauf dem Arbeitsmarkt. Die öffentlich geförderte Be-schäftigung war dafür da, die extremsten Folgen für dieMenschen abzufedern. Sie war noch nie der Königswegder Arbeitsförderung; sie war immer nur die Ultima Ra-tio.Das hat seine Gründe. Vor allem nach der letzten gro-ßen Welle öffentlich geförderter Beschäftigung wurdegeschaut, was diese Maßnahmen denn eigentlich brin-gen, außer dass sie natürlich die Statistik verbessern. Jemehr man forschte, umso deutlicher wurde, dass diepositiven Erfahrungen recht begrenzt waren und die ne-gativen Effekte überwogen. Da gab es Lock-in-Effekte:Menschen, die in öffentlich geförderter Beschäftigungstanden, nahmen seltener eine reguläre Arbeit auf, vorallem deswegen, weil sie weniger Zeit für Arbeitssucheund Bewerbungen hatten. Es gab auch Creaming-Effekte– sie wurden heute schon erwähnt –: Es kamen Men-schen in öffentlich geförderte Beschäftigung, die auch soeine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt gehabt hätten.Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-ken, krankt Ihr Antrag. Aber Sie geben wenigstens zu,dass Ihr Vorschlag richtig teuer ist, mal eben ein paarMilliarden kosten würde. Weil Sie wissen, dass die Fi-nanzierungsfrage zwangsläufig kommt, haben Sie vorge-sorgt und schon einmal grob aufgezeigt, wie das IhrerMeinung nach funktionieren könnte, zum Beispiel da-durch, die Arbeitgeber mit einer Sonderabgabe in Höhevon 5 Milliarden Euro zu belasten. Wenn das so einfachwäre! Der wichtigste Schlüssel zum Abbau von Arbeits-losigkeit ist die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft,die damit neue Arbeitsplätze schafft. Sie schreiben in Ih-rem Antrag selbst, dass die Arbeitslosigkeit durch feh-lende Arbeitsplätze entsteht. Nun wollen Sie aber dieUnternehmen belasten und die Arbeit teurer machen?Das kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Lin-ken, nicht gut gehen. Arbeitslosigkeit können wir nur ge-meinsam mit den Arbeitgebern abbauen,
und sicher nicht, indem wir sie mit 5 Milliarden Euro zurKasse bitten.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/4449 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c sowieZusatzpunkt 6 auf:23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurVerbesserung der Zusammenarbeit im Be-reich des VerfassungsschutzesDrucksache 18/4654Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss Digitale AgendaHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOb) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-desregierungBericht der Bundesregierung über denUmsetzungsstand der Empfehlungen des2. Untersuchungsausschusses des Deut-schen Bundestages in der 17. Wahlperiode
Drucksache 18/710Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenPetra Pau, Jan Korte, Dr. André Hahn, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE
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Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Wirksame Alternativen zum nachrichten-dienstlich arbeitenden VerfassungsschutzschaffenDrucksache 18/4682Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzZP 6 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Hans-ChristianStröbele, Irene Mihalic, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür eine Zäsur und einen Neustart in derdeutschen SicherheitsarchitekturDrucksache 18/4690Überweisungsvorschlag:InnenausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundes-minister Thomas de Maizière für die Bundesregierung.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Im November letzten Jahreshaben wir des dritten Jahrestages – man scheut sich, dasWort „Jahrestag“ zu verwenden – der Aufdeckung derterroristischen Mordserie des sogenannten Nationalso-zialistischen Untergrunds gedacht. Wir haben festgestelltund sind uns einig: Das waren nicht nur einzelne Pan-nen, das waren nicht nur einzelne Ermittlungsfehler, diedafür gesorgt haben, dass diese Mordserie so lange un-entdeckt bleiben konnte. Nein, es waren auch Struktu-ren, es waren Haltungen von Sicherheitsbehörden, vonVerantwortlichen, die dazu führten, dass die Ermittlun-gen so lange – zu lange – auf das Umfeld der Opfer be-grenzt blieben, mit all den Folgen, die wir diskutiert ha-ben und an denen wir noch arbeiten. Es ist deshalbunsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass so etwas in unseremLand nicht mehr passiert.
Der Verfassungsschutz von Bund und Ländern standdamals stark in der Kritik. Das ging bis hin zu der Forde-rung, man solle Verfassungsschutzbehörden abschaffen.Ich halte das für falsch. Das würde die Sicherheit unsererBürgerinnen und Bürger und unseres Landes schädigen.Die aktuelle Bedrohungslage unterstreicht die Bedeu-tung des Verfassungsschutzes für unseren Rechtsstaat,bei islamistischem Terrorismus ebenso wie bei massivenGewaltanwendungen, bei Demonstrationen und den Er-kenntnissen im Vorfeld dazu oder bei rechtsextremisti-scher Hetze zum Thema Flüchtlinge.Der Verfassungsschutz ist und bleibt ein wichtigerTeil unserer Sicherheitsarchitektur. Gerade deshalb abermuss er sich fortentwickeln, weiterentwickeln, sich zu-kunftsorientiert aufstellen. Die Aufklärungsarbeit zumterroristischen NSU, an der der Untersuchungsausschussdieses Hauses in der letzten Legislaturperiode maßgeb-lich beteiligt war, und auch die Debatten in dieser Legis-laturperiode haben das eindrücklich aufgezeigt. Der Ver-fassungsschutz hat diese Herausforderung seit 2012angenommen, sowohl im Verbund der Verfassungs-schutzbehörden von Bund und Ländern als auch beimBundesamt, das seine Binnenreform in 230 Einzelpro-jekten konzentriert betrieben hat, weiter betreibt undweiter betreiben muss.Mit dem heute in erster Lesung zu behandelnden Ge-setzentwurf der Bundesregierung setzen wir diesen Re-formprozess nun auch legislativ um.Das ist richtig. Das haben wir uns in der Koalitionvorgenommen, und das ist sorgfältig mit den Ländernabgestimmt. Auch damit folgen wir den Empfehlungendes NSU-Untersuchungsausschusses.Die zentralen Ziele dieses Gesetzentwurfs sind: Stär-kung der Zentralstelle und des Verbundes, Verbesserungdes Informationsflusses und Ausbau der Analysefähig-keit, Klarheit beim Einsatz von V-Leuten. Lassen Siemich dazu im Einzelnen vortragen.Erstens: zur Stärkung der Zentralstelle. Für eine bes-sere Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund wirddas Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner Zentral-stellenfunktion gestärkt. Es koordiniert das arbeitsteiligeZusammenwirken aller Verfassungsschutzbehörden. Ichsage dazu aber auch: Wichtiger als Paragrafen im Bun-desgesetzblatt ist hier die echte Bereitschaft zu verstärk-ter Zusammenarbeit. Dieser Geist der Zusammenarbeitwird mit diesem Gesetz gefördert. Im Grunde muss eraber von jedem einzelnen Mitarbeiter gelebt werden.Hier ist, ehrlich gesagt, noch ziemlich viel zu tun.
Das wird deutlich, wenn man die Bereitschaft zur Zu-sammenarbeit im Polizeibereich mit der im Verfassungs-schutzbereich vergleicht. Mit dem Gesetzentwurf wirdes jedenfalls ein gesetzlicher Auftrag des BfV, also desBundesamtes, dieses Potenzial zu entwickeln.Zum anderen kann in Zukunft das Bundesamt, wo esnötig ist, bei lediglich regionalen, aber gewaltorientier-ten Bestrebungen im Benehmen mit dem Land selbst indie Beobachtung eintreten. Das haben manche Länderkritisiert, manchmal scharf. Dazu möchte ich hier sagen:Manches an dieser Kritik wundert mich, weil exakt diesGegenstand eines Kompromisses mit zum Teil den In-nenministern war, die das anschließend kritisiert haben.Gut, das mag in der Politik mitunter so sein. Ich willjetzt keine Namen nennen, aber doch sagen, dass michdas jedenfalls gewundert hat.Diese Regelung verdrängt die Länderzuständigkeitnicht. Sie hat vielmehr eine Auffangfunktion, die – daszeigen die Erfahrungen, die wir gemacht haben – ausfachlicher Sicht in der Sache geboten ist. In der Praxiswird schon aus Ressourcengründen nicht leichtfertig da-von Gebrauch gemacht werden. Hinzu kommt: Das Bun-desamt wird nur tätig, wenn es nach dem Benehmen mit
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dem Land gar nicht anders geht, zum Beispiel, wenn einLand sich weigert, eine regional gewalttätige verfas-sungsfeindliche Organisation zu beobachten. Wollen wirwirklich, dass das Verfassungsschutzsystem in einemsolchen Fall blind ist? Wir haben doch gelernt: Beim ge-waltorientierten Extremismus darf es in Deutschlandkeine blinden Flecken geben.
Zweiter Punkt: Verbesserung des Informationsflusses.Der NSU-Untersuchungsausschuss hat gerade hier klareMängel aufgezeigt. Die einen wussten nicht, was die an-deren wussten, und haben nicht weitergegeben, was siewussten, und vieles hätte vielleicht verhindert werdenkönnen. Bund und Länder haben zügig gehandelt, bereitsim Dezember 2011, mit der Einrichtung des Gemeinsa-men Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus. Mitdiesem Gesetzentwurf vertiefen und verbreitern wir jetztdiesen zusammenführenden Ansatz im Verfassungs-schutzverbund. Der NSU-Untersuchungsausschuss hatzum Verfassungsschutz an erster Stelle klipp und klarempfohlen – ich zitiere –: Informationen zentral zusam-menführen und gründlich auswerten. – Das ist eigentlichselbstverständlich. Das ist jetzt wesentliches Kernele-ment des Gesetzentwurfs und trotzdem umstritten.Künftig müssen alle relevanten Informationen zwi-schen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauscht wer-den. Ich wiederhole: Das ist eigentlich selbstverständ-lich. Nun wird das gesetzlich bekräftigt. Dazu gibt es dasVerbundsystem NADIS, Nachrichtendienstliches Infor-mationssystem. Es muss jetzt auch dafür genutzt werden.NADIS ist zugleich das Analysetool, um Beziehungenzwischen Personen und Ereignissen zu erkennen und ge-zielt Strukturen aufzuklären. Bislang war NADIS jedochteils auf einen bloßen Aktennachweis beschränkt. DieseBeschränkung soll entfallen. So vermeiden wir gefährli-che Informationsinseln und gewinnen einen verbessertenbundesweiten Überblick über extremistische Strukturen.Es wäre aus meiner Sicht unverantwortlich, weiter nur inregionaler Abschottung zu operieren. All das, worüberwir hier reden, nämlich die Nutzung von nachrichten-dienstlichen Informationen innerhalb eines Landes, in-nerhalb der Verfassungsschutzbehörden eines Landes, istdort längst selbstverständlich und vollständig unproble-matisch. Die Analyse länderübergreifender Zusammen-hänge erfordert aber eine zentrale Auswertung auf Basisder zusammengeführten Daten. Darum geht es beiNADIS, um nicht mehr und nicht weniger. Das hat derNSU-Untersuchungsausschuss gefordert, und das setzenwir jetzt um.
Diese Erweiterung ist auch datenschutzrechtlich ein-gebettet; denn wir haben einerseits die Zugriffs- undAbfragerechte derer, die darauf zugreifen können, be-schränkt und andererseits eine Vollprotokollierung imGesetz festgeschrieben. Es besteht also eine vollständigeKontrolle auch im Nachhinein, wer welche Informationmit welcher Berechtigung nachgefragt hat.Dritter Punkt – das wird sicher gleich diskutiert wer-den; es ist auch ein schwieriger Punkt –: Einsatz vonV-Leuten. Wir schaffen hier bei einem wichtigen PunktKlarheit. V-Leute – das will ich noch einmal unterstrei-chen – sind keine verdeckten Ermittler, keine Beamten.V-Leute sind mitunter Menschen, mit denen man eigent-lich nicht so gerne zusammenarbeiten möchte. Sie lebenin einer Szene, in der es szenetypisches Verhalten gibt,das wir politisch und häufig auch rechtlich missbilligen.Man braucht sie aber, um an Informationen zu gelangen.Für jeden Nachrichtendienst sind sie ein unverzichtbaresAufklärungsmittel. Bisher gab es zum Einsatz vonV-Leuten nähere Regelungen nur in Verwaltungsvor-schriften. Das ändern wir jetzt, indem wir eine klarerechtsstaatliche Grundlage für den Einsatz von V-Leutenschaffen. Auch das hat der NSU-Untersuchungsaus-schuss gefordert.
Auswahl und Führung von V-Leuten erhalten jetzterstmalig einen klaren gesetzlichen Rahmen und klareGrenzen. Bei der Auswahl gibt es Ausschlusskriterien,zum Beispiel Minderjährigkeit oder Vorstrafen. Es giltder Grundsatz: Verurteilung wegen eines Verbrechensoder zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung schließendie Anwerbung eines V-Manns oder einer V-Frau aus.
Das ist der Grundsatz. Ausnahmen sind möglich, hier je-doch nur durch die Behördenleitung.
Das ist, Herr von Notz, sicher diskussionswürdig,
und auch mir ist es nicht leichtgefallen, das so zu regeln.
Aber wenn wir durch eine solche V-Person Einblicke indie Szene bekommen und dadurch die Möglichkeit er-halten, Schlimmes zu verhindern, dann kann es unsereVerantwortung für die Sicherheit unserer Bürgerinnenund Bürger unter wenigen einzelnen Umständen gebie-ten, auch eine solche Quelle zu nutzen.In der Strafprozessordnung gilt übrigens Ähnliches.Selbst Schwerverbrecher sind geeignete Kronzeugen,
wenn sie zuverlässige Informationen bieten, die zur Auf-klärung oder Verhinderung weiterer schwerer Straftatenführen.
Ein gegenläufiger Rigorismus bei der nachrichtendienst-lichen Informationsbeschaffung ist für mich sachlichnicht überzeugend und wäre im Vergleich dazu auch
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wertungswidersprüchlich. Dazu werden Sie sicher gleichvortragen.Damit hier kein Missverständnis entsteht, möchte ichausdrücklich betonen: Ich habe von der Vorstrafenrele-vanz für eine Anwerbung gesprochen. Im Einsatz selbsterhält die V-Person natürlich keine Befugnis, andere zuschädigen.
Wir legen im Gesetzentwurf konkret fest, was jemandals V-Mann darf und was er nicht darf; auch das gab esbisher nicht. Klar ist: Um strafbare und terroristischeVereinigungen von innen aufzuklären, muss die V-Per-son Mitglied einer solchen Organisation sein könnenoder sich im Unterstützungsumfeld betätigen dürfen.Daher enthält der Gesetzentwurf dazu eine entspre-chende Befugnis. Wenn sich eine solche V-Person in derSzene bewegt, so muss sie sich szenetypisch verhaltenkönnen. Hierbei schaffen wir aber klare rechtliche Gren-zen. Voraussetzung ist, dass das Verhalten zur Akzeptanzin der Szene unerlässlich und nicht unverhältnismäßigist. In der rechtsextremistischen Szene kann das bei-spielsweise die Verwendung verbotener Nazisymbolesein, ein Hitlergruß oder Ähnliches. Das ist szenety-pisch; das kann man noch akzeptieren. Klare Grenze istjedoch: keine Eingriffe in Individualrechte. Sachbeschä-digungen bleiben verboten, egal ob sie szenetypisch sindoder nicht; hier gibt es keine Ausnahmen.
Wenn die V-Person also nicht nur an einer militanten De-monstration teilnimmt, sondern selbst Sachbeschädi-gung begeht, ist und bleibt das strafbar. Es bliebe dannnur, den situativen Bezug und den Einsatzzusammen-hang bei der Frage einer Verfahrenseinstellung zu würdi-gen – das kennen wir im Strafprozessrecht auch –, undauch dafür setzt der Gesetzentwurf klare Grenzen.Alles in allem enthalten die Regelungen zu V-Leutenschwierige rechtsstaatliche Abwägungsentscheidungen.Sie sind im Gesetzentwurf meines Erachtens ausgewo-gen gelungen. Wir können in den Ausschussberatungengerne weiter darüber diskutieren.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ströbele?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Bitte schön, sonst redet er hinterher sowieso.
Herr Kollege Ströbele.
Herr Minister, geben Sie mir recht, dass der von Ihnenvorgelegte Gesetzentwurf in § 9 a – hier soll das Bun-desverfassungsschutzgesetz geändert werden –, der auchin § 9 b Anwendung findet, folgende Regelung enthält:Sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafürbestehen, dass Verdeckte Mitarbeiter rechtswidrig ei-nen Straftatbestand von erheblicher Bedeutung ver-wirklicht haben, soll der Einsatz unverzüglich be-endet werden;– jetzt kommt der entscheidende Satz –über Ausnahmen entscheidet der Behördenleiteroder sein Vertreter.Das heißt, das, was Sie hier so darstellen, als sei esGesetz, hat auch wieder Ausnahmen. Wir wissen, wievon diesem Ausnahmerecht Gebrauch gemacht wird.
Darauf kommen wir nachher noch zu sprechen. GebenSie mir recht, dass das hier drinsteht?Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Ja, natürlich, ich habe das auch genauso vorgetragen.
Diese Ausnahme muss eng begrenzt sein.
– Das können wir da gerne hineinschreiben. Das ist garkein Problem.
Tatsache ist, dass es eine Sollregelung und ein Grund-satz ist. Ein Grundsatz – unter uns Juristen gesprochen,Herr Kollege Ströbele – bedeutet immer, dass alles an-dere eine Ausnahme ist. Das ist bei jeder Sollregelungso. Deswegen kann man trotzdem „Ausnahmen“ hinein-schreiben. Entscheidend ist nur, dass in diesen Fällennicht der V-Mann-Führer alleine entscheiden kann, dieArbeit fortzusetzen, sondern das muss der Behördenlei-ter oder sein Stellvertreter entscheiden.Ich will in diesem Zusammenhang gerne noch etwasanderes sagen. Es geht nicht nur um die V-Leute, wo wiruns einig sind, dass wir vieles von dem, was sie tun,missbilligen, sondern es geht auch um den Schutz derMitarbeiter – es sind überwiegend Beamte – in den Ver-fassungsschutzbehörden. Denn wenn ein V-Mann eineStraftat begeht und der V-Mann-Führer die Arbeit fort-setzt, dann könnte es sein, dass gegen diesen Beamtenein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe eingeleitetwird.
Wenn das der Fall ist, dann, glaube ich, kann man dasV-Mann-Geschäft insgesamt vergessen. Die Linke will
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dies natürlich: entweder den Verfassungsschutz ganz ab-schaffen oder keine V-Leute.
Das ist, wenn man so will, schlüssig, aber falsch.
– Nein, schlüssig, aber falsch. Konsistent ist das, was Sievortragen; dem kann ich nicht widersprechen.
Wenn man aber daran festhält, nicht weil diese Men-schen besonders sympathisch sind oder weil man sie be-sonders schön findet, sondern weil wir ihre Informatio-nen brauchen, um Schlimmeres von der Gesellschaftabzuwenden, wenn man diesen Grundsatz bejaht, dannmuss man sich in den schwierigen Abwägungsprozessbegeben: Was darf der V-Mann, was darf er nicht, undwas bedeutet das für den V-Mann-Führer? Hierzu habenwir einen Vorschlag vorgelegt. Darüber sollten wir inden Ausschussberatungen weiter entscheiden.Meine Damen und Herren, wir ziehen mit diesem Ge-setzentwurf die Lehren aus den festgestellten Mängelnbei der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden. Wir entwi-ckeln den kritisierten Rahmen fort. Wir stellen die Män-gel ab, soweit das mit einem Gesetz geht. Der Reform-prozess im Übrigen bleibt bestehen. Im Reformprozessdes Verfassungsschutzes ist dieses Gesetz ein wichtigerBaustein, beileibe nicht der einzige. Ich bitte um gründli-che und konstruktive Beratungen – dazu sind wir bereit –und dann um eine breite Unterstützung.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Petra Pau, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir reden über ein Gesetz, das Schlussfolgerungen fürden Verfassungsschutz aus dem NSU-Nazi-Mord-Desas-ter verheißt. Ich greife daraus jetzt nur einen Aspekt auf:das V-Mann-Unwesen. Ein Vorzug sei – das stellten Siegerade wieder dar, Herr Bundesinnenminister –, dass diefragwürdige V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehördennunmehr besser geregelt werde. Ich zitiere, was Siekürzlich in einer Befragung der Bundesregierung gesagthaben:Wir haben … Klarheit bei den V-Leuten geschaf-fen. … Szenetypisches Verhalten einschließlichStraftaten ist zulässig. … Die Verletzung von Indi-vidualgütern wie Körperverletzung … nicht …Wenn es im Einzelfall einmal anders ist, muss da-rüber der Behördenleiter … entscheiden.Das klingt gut, ist es aber nicht; denn de facto bleibt allesbeim Alten.Dazu eine exemplarische Geschichte aus dem NSU-Nazi-Mord-Desaster. Carsten S. war ein strammer Naziaus Brandenburg. Gemeinsam mit rechtsextremen Kum-panen versuchte er, einen Nigerianer zu erschlagen, zuverbrennen, zu ertränken. Das Opfer entkam nur knappdem Tod. Carsten S. wurde zu einer mehrjährigen Haft-strafe verurteilt. Von da an wurde er für den Verfassungs-schutz interessant, als V-Mann „Piatto“. Sein V-Mann-Führer vom Verfassungsschutz chauffierte „Piatto“ ver-lässlich aus dem Gefängnis zu Nazikonzerten. So bliebCarsten S. in der Szene und für sie aktiv. Später absol-vierte Carsten S. ein Praktikum. Obendrein hatte er eineFestanstellung in Aussicht.Das beeindruckte offenbar auch eine Richterin. Erwurde vorzeitig entlassen, mit der klaren Auflage, sichkünftig strikt von der Naziszene fernzuhalten. Der Rich-terin wurden allerdings zwei wesentliche Fakten ver-schwiegen: Das gelobte Praktikum hatte „Piatto“ in ei-nem Naziszeneladen absolviert, und seine möglicheFestanstellung sollte in einer neuen Filiale desselbensein – alles von Verfassungsschutzes Gnaden, Täu-schung der Justiz inklusive. Kurzum: Der Verfassungs-schutz half, Verfassungsfeinde aufzubauen, anstatt dieVerfassung zu schützen. Klarer kann sich das Amt nichtdelegitimieren.
Nun zum neuen Gesetz. Es besagt, dass Nazis, diesich schwerer Verbrechen gegen Leib und Leben schul-dig gemacht haben, in aller Regel nicht mehr als V-Leuteangeworben werden dürfen. Sind damit neue „Piattos“ausgeschlossen? Nein; denn „in aller Regel“ bedeuteteben: Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel wenn das Infor-mationsinteresse der Ämter für Verfassungsschutz schwe-rer wiege als die Straftaten von Nazis. In diesen Fällenwerde die V-Leute-Frage zur Chefsache – Sie haben daseben ja auch noch einmal zitiert –, und diese Chefsmüssten dann klug abwägen.Also zurück zu „Piatto“. Ich habe den damaligenV-Mann-Führer von Carsten S. gefragt: Wie sehen Siedas im Rückblick? Glauben Sie nicht auch, dass das einfataler Fehler war? Seine Antwort war unmissverständ-lich: Nein. Wochen später wurde derselbe „Piatto“-Füh-rer Präsident des Verfassungsschutzes im Freistaat Sach-sen. Wenn sich Sachsen entschließen würde, IhrenGesetzentwurf als Landesgesetz zu übernehmen, wäre eralso heute der neue Chefentscheider. Sie sehen: Das Ge-setz hält nicht, was es verspricht. Deshalb wird die LinkeNein sagen.Ich bleibe bei der V-Mann-Kontroverse. Der Thürin-ger Landtag gehört zu den wenigen Parlamenten, diesich intensiv mit dem NSU-Desaster auseinandergesetzthaben. Die rot-rot-grüne Regierung zog Konsequenzen:
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Petra Pau
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Die V-Leute-Praxis soll radikal heruntergefahren wer-den.
Dafür wird sie heftig als Sicherheitsrisiko beschimpft.
– Ich finde: zu Unrecht, Kollege Schipanski.
Denn wer eine Praxis beendet, die Nazis verharmlostund letztlich stärkt, handelt rechtsstaatlich und humanis-tisch. Was sonst?Gestatten Sie mir noch ein, zwei Sätze zu dem An-trag, den die Linke als Alternative vorgelegt hat. ImKern geht es um zwei Vorschläge: Die Ämter für Verfas-sungsschutz sollen als Geheimdienste aufgelöst und ineine transparente Politikberatung umgewandelt werden.Und: Die V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden istumgehend zu beenden. Unser Vorschlag ist weitgehend,grundgesetzkonform und obendrein geeignet, gesell-schaftliches Engagement für Demokratie und Toleranzzu stärken. Ich freue mich auf Ihre Neugier beim Stu-dium dieses Antrags und auf Ihre kluge Zustimmung.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt
Burkhard Lischka das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istkein normaler Gesetzentwurf, den wir heute beraten, undalltäglich ist der Gesetzentwurf erst recht nicht. Er isteine Reaktion auf einen Skandal, der niemals in Verges-senheit geraten darf, einen Skandal, der übrigens nichtnur darin bestand, dass eine rechtsextremistische Terror-gruppe 13 Jahre lang unerkannt mindestens zehn Morde,zwei Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälleverüben konnte, sondern auch darin, dass dieser Terror-zug einherging mit einer Chronik des Versagens unsererSicherheitsbehörden – aller Sicherheitsbehörden, abereben auch des Verfassungsschutzes.Von Dummheit bis Sabotage: Alle Formen vonStaatsversagen sind in den verschiedensten Abschluss-berichten der NSU-Untersuchungsausschüsse festgehal-ten. Wir wissen heute: Möglicherweise könnten Men-schen noch leben, wenn unsere Sicherheitsbehördenverantwortungsbewusst und untadelig gearbeitet hätten.Mit dieser Schuld müssen viele, müssen wir alle leben.Dieser Fall hat unserer Gesellschaft einen Spiegel ihrerschlechtesten Seiten vorgehalten. Dieser Fall ist zugleichVerpflichtung, alles dafür zu tun, dass es einen zweitenNSU-Fall nie wieder gibt.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzent-wurf ist ein kleiner, aber eben auch kein unwesentlicherBaustein, die richtigen Lehren aus dem NSU-Desasterzu ziehen. Die verschiedenen NSU-Untersuchungsaus-schüsse sind vor allen Dingen auch mit einer regelrech-ten Krankheit unserer Verfassungsschutzbehörden kon-frontiert worden: dass man sich nicht austauscht, dassman Informationen für sich behält, dass man sie nichtweiterleitet. Wir wissen heute: Nur etwa 20 Prozent derInformationen, die seit 1998 zu dem NSU-Mördertrio inden Landesämtern für Verfassungsschutz vorlagen, wur-den auch tatsächlich weitergeleitet. Das war fatal; dennso konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen,noch konnte das Bundesamt für Verfassungsschutz sei-ner Koordinierungsfunktion nachkommen. Das NSU-Mördertrio musste nur von einem Bundesland in dasnächste ziehen, und schon verlor sich die Spur. DiesesNeben- und Gegeneinander der Verfassungsschützer, daswir da erlebt haben, gefährdet unsere innere Sicherheit.16 Schlapphutprovinzen, die alle vor sich hin werkeln,können wir uns nicht leisten; damit muss Schluss sein,meine Damen und Herren!
Deshalb ist für uns Sozialdemokraten von entschei-dender Bedeutung, dass künftig die Zentralstellenfunk-tion des Bundesamtes für Verfassungsschutz deutlichgestärkt wird durch einen verpflichtenden Informations-austausch und, ja – da, wo notwendig –, auch mit ei-genen Durchgriffsrechten. Gerade föderale Strukturenverlangen beim Antiterrorkampf klare Führung und Ver-antwortung sowie einen schnellen Daten- und Informa-tionsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg. Ichweiß, dass sich einige Bundesländer mit der Stärkung derZentralstellenfunktion des Bundesamtes sehr schwer-tun. Aber ich sage auch: Für Behördenegoismen darf esnach dem NSU-Skandal keinen Platz mehr geben.
Der NSU konnte auch nur deshalb jahrelang mordendund raubend durch Deutschland ziehen, weil unsere Si-cherheitsbehörden zu wenig miteinander geredet haben.Solche blinden Flecken darf es nicht mehr geben undVerfassungsschutzämter, die im eigenen Saft schmoren,erst recht nicht, meine Damen und Herren.Zweiter wichtiger Aspekt: Der NSU-Skandal ist auchein V-Mann-Skandal. Frau Pau hat es angesprochen: Dawurde ein V-Mann angeworben, der wegen versuchtenMordes an einem Asylbewerber im Gefängnis einsaß.Da gab es Zahlungen an dubiose Informanten, die dasJahresgehalt eines Polizisten bei weitem übersteigen.
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Burkhard Lischka
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All das ist eines Rechtsstaates unwürdig, und zwar ohneWenn und Aber, meine Damen und Herren.Nun gibt es einige, die daraus folgern, man solle aufV-Leute künftig am besten ganz verzichten. Bei allemverständlichen Ärger, der da mitschwingt: Was dieseSicht vollkommen außer Acht lässt, ist der Umstand,dass gerade kriminelle und militante Gruppen ihre Akti-vitäten und Planungen seit jeher nicht offen, sondernkonspirativ und abgeschottet betreiben. Wer da komplettauf V-Leute verzichten will, nimmt zumindest billigendin Kauf, dass sie ungestört Anschläge und schwersteVerbrechen planen können, ohne dass der Staat auch nurden Hauch einer Chance hat, sie dabei zu stören.
Nein, meine Damen und Herren, ein Staat, der ebenauch die Verantwortung für die Sicherheit seiner Bürge-rinnen und Bürger trägt, darf sich nicht vollkommentaub und blind machen, wenn es um feige Morde undAnschläge geht. Das kann nun wirklich nicht die Lehreaus dem NSU-Desaster sein.
Nur, wir dürfen dabei auch nicht den Boden derRechtsstaatlichkeit verlassen. Der Zweck heiligt in ei-nem Rechtsstaat eben nicht jedes Mittel.
Eine Zusammenarbeit mit vorbestraften Schwerstkrimi-nellen darf es niemals geben und auch kein Hintertür-chen im Gesetz, das das zulässt. Darauf werden wir So-zialdemokraten in den weiteren Beratungen achten,meine Damen und Herren.
Insofern sind das wichtige Beratungen, die vor unsliegen, nämlich darüber, den Verfassungsschutz besseraufzustellen und klare rechtsstaatliche Grenzen ohneHintertürchen zu markieren. Das sind zwei Seiten einund derselben Medaille, denen wir uns jetzt akribischwidmen müssen. Das sind wir nicht zuletzt den Opferndes NSU-Terrors schuldig.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Konstantinvon Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir dis-kutieren hier die Zukunft des Verfassungsschutzes, abereben auch den Innen- und Sicherheitsbereich dieses Lan-des, einstmals das vermeintliche Aushängeschild kon-servativer Politik. Und heute? Probleme, Baustellen undSkandale überall.
Trotz der von der Bundeskanzlerin versprochenenrückhaltlosen Aufklärung versuchen derzeit noch fünfUntersuchungsausschüsse in den Ländern – und wahr-scheinlich bald auch wieder einer in diesem Hause –, dievollständige Aufklärung der NSU-Morde zu gewährleis-ten, die bisher leider ausgeblieben ist.Jede Woche gibt es neue Hiobsbotschaften bei denGeheimdiensten, gestern beim BND. Es hat erst eines Be-weisantrages des Untersuchungsausschusses NSA be-durft, um zutage zu fördern, was BND und Bundeskanz-leramt jahrelang bestritten haben. Und es gibt eineweitreichende Verstrickung Deutschlands im völker-rechtswidrigen Drohnenkrieg, der eben auch vom deut-schen Territorialgebiet aus geführt wird. Das ist der Ist-zustand nach zehn Jahren Verantwortung der CDU fürdie Innenpolitik, und so geht es nicht weiter, meine Da-men und Herren.
Ihr Antragspotpourri hier heute ist die Fortsetzungdieser Planlosigkeit. Sie stehen hier ohne einen einzigenVorschlag, Herr de Maizière, zur Verbesserung der parla-mentarischen Kontrolle, ohne jegliche Ansätze für einenbesseren Daten- und Grundrechtsschutz und ohne eineeinzige Idee, wie man im digitalen Zeitalter nachrichten-dienstliche Aufklärung und Bürgerrechte besser mit-einander vereinbaren kann.
Stattdessen haben Sie angekündigt, hier demnächstdie abwegige Weltraumtheorie in Gesetzesform gießenzu wollen. Nach NSU und NSA stocken Sie anlasslosmassenhaft Stellen auf und wollen allen Ernstes diehochproblematische V-Leute-Praxis einfach legalisierenund ausbauen. Darum geht es im Kern bei allen schönenWorten, Herr de Maizière.Das Liken, Twittern und Chatten aller Bürgerinnenund Bürger in diesem Land soll in Echtzeit überwachtwerden können, und das alles auch noch ohne eine kon-krete gesetzliche Rechtfertigung. All das ist mit unsnicht zu machen.
Doch damit nicht genug. Gleichzeitig kommen Sie al-len Ernstes in diesen Tagen wieder mit der Vorratsdaten-speicherung um die Ecke. Herr Innenminister, ich willdie Gelegenheit für folgende Kritik nutzen: Sie habengesagt, Ihr Kompromiss – in Anführungsstrichen – wäreeine Chance, einen jahrelangen, teilweise erbittert ge-führten Streit zu befrieden. Das wäre schön. Die Leitli-nien, die Sie vorlegen, widersprechen den Vorgaben desEuGH und des Bundesverfassungsgerichts aber offen-sichtlich, und das befriedet leider niemanden.
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Noch vor der Sommerpause wollen Sie Ihren Gesetz-entwurf ganz offenbar ohne Anhörung und mit dem Hin-weis, dass es ja eh keine Änderungen mehr durch dasParlament geben dürfe, durch dieses Hohe Haus peit-schen. Auch das ist ein Affront gegen den DeutschenBundestag.
Sie legen seit Jahren – und die SPD macht jetzt fröh-lich mit – einen verfassungswidrigen Gesetzentwurfnach dem anderen vor, und dann beschweren Sie sich,Herr Schipanski, in der letzten Woche aus der Unionauch noch allen Ernstes über das Bundesverfassungsge-richt, das seine verfassungsrechtliche Arbeit macht. DasBundesverfassungsgericht wird beschimpft. Wo sind wireigentlich?
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, die Me-chanismen unserer Verfassung sind Konsequenzen ausunserer Geschichte. Das Bundesverfassungsgericht an-zugreifen, verfassungswidrige Gesetzentwürfe immerwieder billigend in Kauf zu nehmen und hier vorzulegenund das Parlament zu marginalisieren: Das geht einfachnicht, und wir widersprechen dem ausdrücklich.
Die Alternative zu Ihrem ideenlosen und grundrechts-feindlichen Weiter-so ist unser Entschließungsantrag.Als Konsequenz aus dem unsäglichen NSU-Skandalfordern wir eine Zäsur beim Bundesamt für Verfassungs-schutz. Das Amt muss aufgelöst und vollkommen neudurchsortiert werden.
Die bisherige V-Leute-Praxis mit all ihren Skandalenmuss endlich ein Ende haben. Weder darf der Staat über-zeugte Nationalsozialisten beschäftigen und finanzie-ren, Herr de Maizière, noch darf man mit schwerenStraftätern vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das istvöllig inakzeptabel.
Statt des Ausbaus der strategischen Internetraster-fahndung brauchen wir effektive grundrechtsschonendeInstrumente, eine gesetzliche Begrenzung der Überwa-chung der digitalen Kommunikation und ein völlig neuesparlamentarisches Kontrollsystem.Die innere und öffentliche Sicherheit und die Men-schen in Deutschland haben Besseres verdient als IhrenGesetzentwurf.Ganz herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Stephan Mayer,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute inerster Lesung über die Novellierung des Bundesverfas-sungsschutzgesetzes und damit über einen wesentlichenBestandteil, wenn es um die Umsetzung der insgesamt47 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschussesaus der letzten Legislaturperiode geht.Bei einer Neujustierung der Sicherheitsarchitekturgeht es auch um eine Verbesserung der Arbeit der Nach-richtendienste, aber nicht nur. Wir haben schon etwasgetan, zum Beispiel, als es darum ging, die Position desGeneralbundesanwaltes zu stärken. Ich sage hier aberauch in aller Deutlichkeit: Nicht nur der Bund ist gefor-dert, auch die Länder müssen ihre Hausaufgaben ma-chen, wenn es darum geht, die Arbeit der Nachrichten-dienste und der Polizeibehörden zu verbessern.
Mit diesem Gesetzentwurf beheben wir Mängel in derSicherheitsarchitektur Deutschlands. Eines sage ich hieraber auch in aller Deutlichkeit – gerade am heutigen Tagund gerade auch im Lichte der aktuellen Debatte überdie Arbeit des Bundesnachrichtendienstes –: Wir brau-chen funktionsfähige und gut ausgestattete Nachrichten-dienste.
Es ist vielleicht nicht populär, sich für Nachrichten-dienste auszusprechen, und es ist immer einfacher, ange-nehmer und bequemer, Nachrichtendienste zu kritisie-ren.
Gerade angesichts der aktuellen Debatte möchte ichaber Folgendes einmal deutlich machen: Der Bundes-nachrichtendienst hat – selbst konservativ berechnet –mit seiner Arbeit in Afghanistan dazu beigetragen,19 konkret geplante Anschläge auf Bundeswehrsoldatenzu verhindern.Das ist nun einmal die Krux bei der Arbeit der Nach-richtendienste: Sie fallen nicht auf, wenn sie gut arbei-ten, weil sich dann Gott sei Dank kein Anschlag ereignet– sei es in Afghanistan gegenüber unseren Angehörigender Bundeswehr, oder sei es auch im Inland, in Deutsch-
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land –, aber sie fallen dann auf, wenn vermeintlich etwasnicht so läuft, wie wir alle uns das wünschen.
Ich sage das hier ganz deutlich auch an die Adresseder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nachrichten-dienste gerichtet und auch ganz bewusst in dem Wissen,dass dies derzeit vielleicht nicht populär ist: Wir stehenzu den Nachrichtendiensten. Wir brauchen gut qualifi-zierte, motivierte und kompetente Mitarbeiter in denNachrichtendiensten.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, da-rin unterscheiden wir uns als CDU/CSU-Fraktion diame-tral von den Linken und auch von den Grünen.
Frau Kollegin Pau, Sie fordern ganz offen die Abschaf-fung des BfV,
die Einführung einer Bundesstiftung, einer politischenBeratung,
die nur noch als Kontaktstelle für die Nachrichtendiensteim Ausland dienen soll.
– Ich spreche von dem Antrag der Linken, Herr Kollegevon Notz.
– Zu Ihnen komme ich noch, Herr von Notz.
Sie haben wenig zu unserem Gesetzentwurf gesagt. Siehaben sich wieder nur – Stichwort: l’art pour l’art – eheran der Oberfläche bewegt.
Das zeigt offenbar, dass der Gesetzentwurf so schlechtnicht ist.Ganz konkret zum Antrag der Linken. Die Linkenfordern die Abschaffung des Bundesamtes, die Einfüh-rung einer politischen Beratung, die nicht einmal öffent-lich zugängliche Quellen auswerten darf.
Wenn man diesem Weg folgen würde, würden wir dieSicherheit Deutschlands sehenden Auges gefährden. Daswäre ein enormes Risiko für die Sicherheitslage in unse-rem Land.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, einWort an die Adresse der Länder. Ich finde es schade,dass kein Vertreter der Länder hier auf der Bundesrats-bank Platz genommen hat.
Es geht doch um einen Gesetzentwurf, der von den Län-dern, egal welcher Couleur, sehr offen und sehr deutlichkritisiert wurde.
Ich bin der festen Überzeugung: Die Bedenken undZweifel der Länder sind unbegründet. Ich möchte, auchwenn kein Vertreter anwesend ist, an die Adresse derLänder deutlich sagen: Dieser Gesetzentwurf wird nichtgegen die Länder, sondern er wird für die Länder ge-macht.
Mit einer Stärkung der Zentralstellenfunktion desBundesamtes für Verfassungsschutz ist mitnichten eineSchwächung der Landesämter verbunden. Die Landes-ämter profitieren von einem starken Bundesamt. Sie pro-fitieren davon, wenn das Bundesamt als Dienstleister ge-stärkt wird. Ich hoffe, dass die weitere Debatte etwassachlicher und objektiver erfolgt;
denn ich bin der festen Überzeugung, dass die Landes-ämter und damit auch die Landesregierungen von den imGesetzentwurf vorgesehenen Regelungen und der stär-keren Koordinierung der Arbeit durch das BfV enormprofitieren können.Es ist richtig, dass es dem BfV im Einzelfall ermög-licht wird, zu handeln, wenn sich nur regional engagierteund tätige Gruppierungen, die aber gewaltbereit sind,breitmachen. Man muss auch ganz offen sagen: DieLeistungsfähigkeit der Landesämter ist nun einmal sehrunterschiedlich. Deswegen bin ich der festen Überzeu-gung: Dieses Gesetz wird dem Verfassungsschutz insge-samt guttun, sowohl auf Bundes- als auch auf Landes-ebene.Ein wichtiger Rückschluss aus den Erfahrungen derschrecklichen Mordserie des NSU-Trios muss sein, dassdie Behörden offener miteinander kommunizieren. Wirbrauchen einen offeneren Austausch zwischen den Lan-desämtern und mit dem Bundesamt. Ich sage hier ganz
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offen: Dafür ist mit Sicherheit auch auf Ebene der Mitar-beiter ein Mentalitätswechsel erforderlich.Wir brauchen auch eine Neuregelung des Zugangszum Nachrichtendienstlichen Informationssystem,NADIS. Ein Verfassungsschutz ohne ein vernünftigesInformationssystem macht definitiv keinen Sinn. Ichsage auch angesichts der Kritik bezüglich der Neurege-lung des Zugangs zu NADIS ganz deutlich: Diese Neu-regelung erfüllt höchste datenschutzrechtliche Anforde-rungen, zum einen, wenn es darum geht, die Befugnisderer, die auf die Daten zugreifen können, zu begrenzen,und zum anderen, wenn es darum geht, eine umfangrei-che Protokollierungspflicht aufzuerlegen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, einwesentlicher Bestandteil dieses Gesetzentwurfes ist, wieschon im Vorfeld diskutiert wurde, die Neuregelung fürden Einsatz von V-Leuten. Um dies klar zu sagen: Wirbrauchen V-Leute in den Verfassungsschutzämtern. DieArbeit ist ohne V-Leute nicht möglich. Das ist mit Si-cherheit nicht angenehm. Das ist auch nicht immer appe-titlich. Die V-Leute, mit denen man dabei zu tun hat,sind auch keine angenehmen Zeitgenossen.Aber es ist richtig, in der Frage, wer für die Arbeit alsV-Mann infrage kommt, höhere qualitative Anforderun-gen gesetzlich festzulegen. Zur Erinnerung: Bisher wardie Frage, wer V-Mann werden konnte, nur auf derEbene der Verwaltungsvorschriften geregelt. Jetzt wirdeine gesetzliche Normierung vorgenommen. Dies istauch richtig so.Es ist klar, dass Minderjährige nicht in Betracht kom-men, dass Parlamentarier nicht in Betracht kommen unddass diejenigen, die als V-Mann in Betracht kommen,nicht allein von den ihnen zugewendeten Geld- undSachleistungen ihren Lebensunterhalt bestreiten dürfen.Es kommen auch keine Personen in Betracht, die in Aus-steigerprogrammen sind. Und um es noch einmal klar zusagen: Es dürfen auch definitiv keine Personen in Be-tracht kommen, die sich schwerer Straftaten schuldig ge-macht haben.Frau Kollegin Pau, Sie haben den Fall „Piatto“ ange-sprochen. Dazu habe auch ich eine ganz klare Einschät-zung: Wenn das Gesetz so das Licht der Gesetzeswirk-lichkeit erblicken würde, wie es heute im Entwurfvorliegt, wäre der Fall „Piatto“ – dessen bin ich mir defi-nitiv sicher – nicht mehr möglich.
Im rechts- und linksextremistischen Bereich wollenwir mit derartigen Straftätern nichts zu tun haben. Siewerden auch in Zukunft nicht mehr als V-Leute in Be-tracht kommen. Es gibt aber, offen gesagt, einen anderenBereich, in dem man möglicherweise in ganz eng be-grenzten Ausnahmefällen durchaus auch auf derartschwere Jungs zurückgreifen muss: Das ist der salafisti-sche und islamistisch motivierte Bereich.Sie alle wissen, dass es bisher noch keinen einzigenbekannten Aussteiger aus der dschihadistischen Szenegibt. Ich glaube, wir täten insgesamt gut daran, wenn un-sere Verfassungsschutzämter endlich jemanden fänden,der sich traut, aus dieser schwierigen Szene auszustei-gen. Ich muss ganz offen sagen: Wenn er dann etwasmehr auf dem Kerbholz hat,
dann sind es mir die Sicherheit Deutschlands und dieVerhinderung eines Anschlags in Deutschland wert, ineinem derart eng begrenzten Ausnahmefall auch auf ei-nen V-Mann zurückzugreifen.
Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Bitte schön, Herr Kollege Ströbele.
Danke, Herr Kollege Mayer. – Ich lege immer Wert
darauf, dass wir eng am Gesetz entlang diskutieren.
Sie haben gerade selber darauf hingewiesen, dass keine
erheblich Vorbestraften eingesetzt werden dürfen. Im
Gesetzentwurf steht aber ein ganz wichtiges Wort:
„grundsätzlich“. „Grundsätzlich“ heißt: Es geht auch an-
ders. Man muss auch die Begründung lesen. Wann sollen
Ausnahmen möglich sein? Auch bei erheblichen Strafta-
ten? Wenn die Personen als zuverlässig erscheinen?
Wenn sie einen großen Wert für die Arbeit bedeuten?
Danach wäre „Piatto“, von dem Frau Pau vorhin gespro-
chen hat und den der Verfassungsschutz im Gefängnis
angeworben hat, nachdem er sich dazu bereit erklärt hat
– aus Sicht des Verfassungsschutzes war er zuverlässig –,
auch nach dem grauenhaften Mordversuch nach wie vor
ein Kandidat, den Sie wieder einstellen können.
Das heißt, der Gesetzentwurf geht völlig an dem vorbei,
was Sie hier vortragen.
Herr Kollege Ströbele, ich danke Ihnen ganz herzlichfür diese konkretisierende Nachfrage. Mir ist sehr wohlbewusst, wie das Wort „grundsätzlich“ auszulegen istund dass es Ausnahmemöglichkeiten zulässt. Ich habeaber auch an die Adresse der Kollegin Pau deutlich ge-sagt, dass es in der links- und rechtsextremistischenSzene durchaus andere Möglichkeiten gibt, an V-Leute
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heranzukommen, sodass in diesem Bereich die Hürdefür eine mögliche Ausnahme von der grundsätzlichenBestimmung so hoch gelegt ist, dass man es in diesenFällen auch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßig-keit mit Sicherheit nicht rechtfertigen kann, auf einenderart „schweren Jungen“, wie es Carsten S. alias „Pi-atto“ war, zurückzugreifen.
– Falls Sie nicht zugehört haben: Ich habe ganz bewusstden islamistischen Bereich und vor allem die dschihadis-tische Szene genannt. Wir sind beide im Parlamentari-schen Kontrollgremium. Insofern sind wir zur Geheim-haltung verpflichtet, aber selbst der Präsident desBundesamtes für Verfassungsschutz, Maaßen, hat dieseWoche noch einmal öffentlich klargemacht, dass diesalafistische Szene in Deutschland mittlerweile auf7 300 Personen angewachsen ist. Sie hat sich in den letz-ten drei Jahren verdoppelt.Ich hoffe, dass wir uns einig sind, Herr KollegeStröbele, dass es, wenn es gelänge – ich spreche bewusstim Konjunktiv –, einen der aus Syrien zurückkehrendenDschihadisten – mittlerweile sind ungefähr ein Drittelbzw. etwa 200 Personen derer, die aus Deutschland nachSyrien gereist sind, zurückgekommen – dazu zu bewe-gen, sich als V-Mann zur Verfügung zu stellen, um dieSzene besser aufklären zu können, in diesem konkretenAusnahmefall unter Wahrung der Verhältnismäßigkeitaus meiner Sicht angemessen und gerechtfertigt wäre,diese Person als V-Mann anzuwerben, selbst wenn er et-was mehr auf dem Kerbholz hat.
Um es klar zu sagen: Ich beziehe mich nicht auf denlinks- oder rechtsextremistischen Bereich, sondern ichbeziehe mich in aller Deutlichkeit auf den islamistischenTerrorismus, der nun einmal – das hat die Vergangenheitgezeigt – für Deutschland eine große Gefahr darstellt.
Mit diesem Gesetz wird ferner die Analysefähigkeitdes Bundesamtes gestärkt und die Möglichkeit für dieLänder geschaffen, gemeinsam Landesämter für Verfas-sungsschutz einzurichten. Ich glaube, die sollten sichüberlegen, von dieser Öffnungsklausel Gebrauch zu ma-chen. Wir schaffen eine gesetzliche Grundlage für dieelektronische Akte und verbessern die Möglichkeit desZugriffs auf justizielle Register und das europäischeVisa-Informationssystem. Genauso konkretisieren wir inUmsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichtsdie Befugnis des Bundesamtes für Verfassungsschutzhinsichtlich der Weitergabe von Informationen an Poli-zeibehörden.Uns liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor,der intensiv mit den Ländern vorberaten wurde. Auchdas ist ein Unikum. Noch kein Gesetzentwurf ist im Vor-feld, schon vor der Kabinettsbefassung, so intensiv mitden Ländern besprochen worden. Ich glaube, wir tun gutdaran, mit sehr viel Sorgfalt diesen Gesetzentwurf zu er-örtern. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Ge-setz eine gute Grundlage dafür ist, die Sicherheitsarchi-tektur in Deutschland zu stärken und insbesondere diequalitative Arbeit sowohl des Bundesamtes für Verfas-sungsschutz als auch der Landesämter für Verfassungs-schutz zu heben.In diesem Sinne freue ich mich auf konstruktive undsachliche Beratungen.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat André Hahn
von der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auchdie Linke ist für den Schutz der verfassungsmäßigenOrdnung.
Wir sind aber anders als die übergroße Mehrheit in die-sem Haus der Meinung, dass wir dafür weder eine Be-hörde mit geheimdienstlichen Befugnissen noch staat-lich bezahlte V-Leute brauchen.
Die von uns aus guten Gründen geforderte Auflösungdes Verfassungsschutzes als Geheimdienst ist hier imParlament derzeit nicht durchsetzbar. Deshalb müssenauch wir uns mit dem Gesetzentwurf der Bundesregie-rung auseinandersetzen, obwohl wir schon den Grundan-satz für falsch halten.
Statt zu versuchen, den seit langem heftig umstrittenenEinsatz von V-Leuten oder von ihnen begangene Strafta-ten irgendwie auf rechtliche Grundlagen zu stellen,sollte der Bund vielmehr dem Beispiel von Thüringenfolgen und die derzeit noch aktiven V-Leute schnellst-möglich abschalten,
im Übrigen auch, um das laufende NPD-Verbotsverfah-ren nicht weiter zu gefährden.
Wir halten es für völlig falsch, dass im GesetzentwurfStraftaten durch V-Leute legitimiert werden sollen. Dasist der falsche Weg und schon gar nicht die Umsetzungder Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses.
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Dr. André Hahn
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Ich habe den Minister in der Fragestunde gebeten, docheinmal einen Fall zu nennen, bei dem V-Leute schwereVerbrechen verhindert haben. Er konnte keinen einzigenFall hier im Bundestag nennen. Auch das ist bezeich-nend für die Arbeit der V-Leute.Zurück zum Gesetzentwurf. Sie, Herr de Maizière,haben auf einige Punkte hingewiesen, zum Beispiel da-rauf, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Bundes-amt und den Landesämtern verbessert werden soll. Daserscheint auf den ersten Blick sogar sinnvoll. Unklaraber bleibt, durch wen das künftig parlamentarisch kon-trolliert werden soll; denn das Parlamentarische Kon-trollgremium des Bundestages erhält keine Auskunftüber die Tätigkeit der Landesämter, und die Kontroll-kommissionen der Länder erhalten keine Auskunft undkeine Akten über den Bund. Das heißt, die Unterlagenüber die geplante verstärkte Kooperation schwebenquasi in einem kontrollfreien Raum. Im Gesetzentwurfder Regierung gibt es dazu keine Regelung.Problematisch ist für mich als Vorsitzender des Parla-mentarischen Kontrollgremiums auch der Zeitpunkt,Herr de Maizière, zu dem die Bundesregierung ihren Ge-setzentwurf einbringt. Das Gremium hat zu Beginn derLegislaturperiode entschieden, nicht nur aktuelle Vor-gänge zu prüfen, sondern auch präventiv zu arbeiten.Derzeit befasst sich eine Arbeitsgruppe mit der V-Leute-Praxis beim Verfassungsschutz und will noch in diesemJahr Empfehlungen für die künftige Arbeit mit den soge-nannten Vertrauenspersonen vorlegen. Das weiß dieBundesregierung, und sie hätte deshalb auch aus Res-pekt gegenüber dem Parlament die Ergebnisse abwartenund nicht vorschnell einen eigenen Gesetzentwurf vorle-gen sollen.
Ich füge hinzu, Herr Kollege Lischka: Guter Stil siehtmit Sicherheit anders aus.Wieder zurück zum Gesetzentwurf. Obwohl geradedie Verfassungsschutzämter von Bund und Ländernbeim Thema NSU nahezu vollständig versagt haben undauch die V-Leute nichts gebracht haben oder deren In-formationen aus Quellenschutzgründen zurückgehaltenwurden, soll das Bundesamt nunmehr mit 261 zusätzli-chen Planstellen de facto belohnt werden. Das kostet17 Millionen Euro. Dem werden wir definitiv nicht zu-stimmen.
Zudem – dies hatte hier schon eine Rolle gespielt –soll die Begehung von Straftaten von V-Leuten künftigoffiziell ermöglicht und gegebenenfalls von der Verfol-gung durch Staatsanwaltschaften freigestellt werden. Ichfrage: Wo sind wir eigentlich hingekommen? Wir wissenaus dem NSU-Skandal – Frau Pau hat das erwähnt –,dass selbst wegen versuchten Totschlags verurteilte Per-sonen vom Verfassungsschutz als Spitzel angeworbenwurden. Die Bundesregierung will das nun auch nochper Gesetz zulassen. Herr Kollege Mayer, der Fall„Piatto“ könnte sich aufgrund der von Ihnen vorgesehe-nen gesetzlichen Ausnahmeregelung betreffend den Be-hördenleiter wiederholen.
Natürlich soll die Zusammenarbeit bei schwerenStraftaten beendet werden, wenn es um eine Haftstrafevon mehr als einem Jahr und ohne Bewährung geht. Dasist aber nur als Sollvorschrift festgehalten, und es gibtdie besagte Ausnahme. Wenn man schon eine solche Re-gelung betreffend den Behördenleiter aufnimmt – waswir für falsch halten –, dann sollte man aber zumindestfestlegen, dass das Parlamentarische Kontrollgremiumdes Bundestages unterrichtet werden muss; denn dasBehördenhandeln und die Entscheidungen des Behör-denleiters müssen kontrolliert werden. Hier fehlt eineentsprechende Regelung. Das bedarf dringend der Kor-rektur.
Die Redezeit reicht leider nicht, um alle Kritikpunkteanzuführen. Fazit: Das Gesetz löst keine Probleme, son-dern schafft neue. Deshalb kann der Entwurf nicht un-sere Zustimmung finden.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
Uli Grötsch von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In diesen Tagen gedenken wir alle der unzähligen Men-schen, die den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkriegzum Opfer gefallen sind. In vielen Orten in Deutschlandfinden auch an diesem Wochenende Gedenkveranstal-tungen anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung derKonzentrationslager statt, so auch bei mir zu Hause inder KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Es ist mir wichtig,dies auch in dieser Debatte einleitend zu sagen: Wir allehaben die große Verantwortung und auch die Verpflich-tung gegenüber den Opfern des Holocaust, dass sich soetwas niemals wiederholt.
Um es mit den Worten von Max Mannheimer, einemÜberlebenden des Holocaust und einem wichtigen Zeit-zeugen, zu sagen:Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah.Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.Im Jahr 2011 mussten wir mit unsagbarer Fassungslo-sigkeit feststellen, dass die Neonazi-Szene in Deutsch-land größer, besser vernetzt und viel brutaler ist, als wir
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Uli Grötsch
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alle es uns jemals hätten vorstellen können. Was abermindestens genauso schlimm ist, ist die Tatsache, dassder Nationalsozialistische Untergrund erst so spät aufge-deckt wurde. Ich denke, alle Bürgerinnen und Bürger indiesem Land, jeder hier in diesem Haus und im Beson-deren die Mitglieder der Parlamentarischen Untersu-chungsausschüsse haben sich gefragt, wie das eigentlichpassieren konnte. Schließlich haben wir gleich mehrereBehörden, die eben genau solche schrecklichen Gewalt-taten wie die des NSU verhindern sollen. Gerade derVerfassungsschutz hat im Bund und in den Ländern anvielen Stellen ganz klar und auch unbestritten versagt.Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,da kann man sich schon fragen, ob der nachrichten-dienstlich arbeitende Verfassungsschutzverbund aufge-löst werden sollte, so wie Sie es in Ihrem Antrag fordern.
Ich sage aber: Wir brauchen das Bundesamt für Ver-fassungsschutz, gerade weil wir es in Deutschland mitimmer mehr im Untergrund agierenden Organisationender verschiedensten Strömungen und Ausprägungen zutun haben, die wir in den Griff bekommen müssen. EineKoordinierungsstelle, die lediglich die Aufgabe hat, Un-terlagen zu sammeln, ohne handlungsfähig zu sein,reicht da nicht aus. Transparente Beratung allein wirdnicht genügen.
Nein, die Lösungen, die Sie hier vorschlagen, führennach unserer Überzeugung nicht zu einem effektiverenVerfassungsschutz. Das BfV hat sehr wohl seine Da-seinsberechtigung. Ja, ich halte es in Deutschland für un-verzichtbar, und ich halte es im Grunde für eine Behördemit höchster Intelligenz. Schwarz-Weiß-Denken hilftuns auch in diesem Bereich nicht weiter.
Aber – das sage ich auch ganz deutlich – das BfV mussaus seinen Fehlern lernen und daraus Lehren ziehen.
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die 47 Emp-fehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses noch indieser Legislaturperiode umzusetzen. Ich bin der festenÜberzeugung, dass wir uns dahin gehend auf einem sehrguten Weg befinden.
Die bereits umgesetzten Handlungsempfehlungen zei-gen, wie ernst die Große Koalition und wie ernst alleAbgeordneten, die sich ernsthaft und sachlich mit dieserMaterie befassen, die Ergebnisse aus dem Abschlussbe-richt des NSU-Untersuchungsausschusses nehmen.Einer der wichtigsten Bausteine ist dabei meines Er-achtens die Reform des Bundesverfassungsschutzgeset-zes. Deshalb begrüße ich ganz ausdrücklich den Gesetz-entwurf der Bundesregierung zur Verbesserung derZusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes,um den es hier heute geht. Im NSU-Untersuchungsaus-schuss hat sich gezeigt, dass die einzelnen Behörden un-genügend oder schlichtweg gar nicht zusammengearbei-tet haben. Fast täglich hören wir inzwischen aus denNSU-Untersuchungsausschüssen der Länder oder ausdem Gerichtsverfahren in München, wie schlecht derAustausch von Informationen tatsächlich abgelaufen istund wie Berichtspflichten regelrecht ignoriert wurden.Erst vorgestern hat sich in München bei der Aussage dessächsischen Verfassungsschutzpräsidenten wieder ein-mal gezeigt, wie unzureichend der Informationsflusszwischen den einzelnen Behörden war. Es ist also not-wendig – und ich finde es auch richtig –, dass im Zugeder Reform die Zentralstellenfunktion des BfV gestärktwird und ein effektiver Informationsaustausch unum-gänglich wird.
Konkurrenzdenken und Eitelkeiten, wie sie der Untersu-chungsausschuss zum Teil festgestellt hat, müssen end-lich passé sein und dürften damit auch passé sein.Eine zweite zentrale Änderung wird beim Einsatz derV-Leute vorgenommen, oder, besser gesagt, der Einsatzwird überhaupt erst geregelt; meine Vorredner habenschon darauf hingewiesen. Im Gegensatz zu meinenKolleginnen und Kollegen von den Grünen bin ich fürden Einsatz von V-Leuten. Viele Informationen aus derSzene sind nur durch geheime Quellen, durch Insideralso, zu erlangen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wirohne die V-Leute so direkte Einblicke in die Szene be-kommen sollen.
Aber wie schon erwähnt, der Einsatz muss auf einerRechtsgrundlage beruhen, und das wird zukünftig auchso sein. Es muss unmissverständlich klar sein, dass dieangeworbenen Personen dem Staat dienen und sich dem-entsprechend verhalten müssen. Auch wenn es sich imersten Moment vielleicht eigenartig anhören mag, sageich: V-Personen müssen unter dem Strich innere Sicher-heit produzieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ob und inwieweit die Regelungen zum Einsatz vonV-Leuten im Gesetzentwurf ausreichen, das müssen wirjetzt im weiteren parlamentarischen Verfahren sehr ge-nau prüfen. Ich danke Ihnen, Herr Bundesinnenministerde Maizière, dass Sie bereits heute weitere Gesprächsbe-reitschaft angekündigt haben. Ich persönlich hätte mirnoch strengere Regelungen zur Einsatzbefugnis vonV-Leuten gewünscht. Die Einbindung der G 10-Kom-mission halte ich hier nach wie vor für sinnvoll.Ich wünsche mir mehr Transparenz und einen echtenMentalitätswechsel. Der Schlapphut, liebe Kolleginnenund Kollegen, muss endlich im Kleiderschrank verstautwerden.
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Dazu gehört – auch wenn sich das bei einem Geheim-dienst vielleicht etwas eigenartig anhören mag – eineverbesserte Öffentlichkeitsarbeit. Noch wichtiger ist, in-nerhalb des BfV für mehr Sensibilität und Kommunika-tion zu sorgen; denn bei den Fehlern rund um den NSUhandelt es sich ja nicht nur um mangelnden Informa-tionsfluss zwischen den Behörden. Auch innerhalb derBehörden gab es – man muss es so offen sagen – ein ech-tes Problem der Wahrnehmung von gefährlichen Tätern.Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in denVerfassungsschutz wiederherzustellen, ist die geplanteReform natürlich nicht alles. Aber sie ist ein erster wich-tiger Schritt. Ich möchte sagen: Das ist auf diesem Wegein wahrer Meilenstein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Zum Ende meiner Rede möchte ich sagen, dass wirdie Reformprozesse, die im Bundesamt für Verfassungs-schutz in den letzten Jahren in Gang gesetzt wurden,durchaus zur Kenntnis nehmen; auch das darf hier ein-mal gesagt werden. Aber sie dürfen nicht ins Stocken ge-raten. Das muss ein kontinuierlicher Prozess sein, beidem der Deutsche Bundestag das Bundesamt für Verfas-sungsschutz im Rahmen der parlamentarischen Kon-trolle und der Gesetzgebung begleiten muss und auchbegleiten wird. Wir Parlamentarier können nur einen ge-setzlichen Rahmen schaffen, in dem sich das Bundesamtfür Verfassungsschutz dann bewegen muss. Für ein ech-tes Umdenken, für einen Mentalitätswechsel im Denkenund Tun ist das BfV selbst zuständig. Um am Endenochmals auf das eingangs erwähnte Zitat von MaxMannheimer zurückzukommen: Auch das BfV ist vor al-lem selbst dafür verantwortlich, dass Derartiges wie inder Vergangenheit in Zukunft nie wieder passiert.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Irene
Mihalic von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor drei Jahren hat die Bundeskanzlerin denFamilien der NSU-Opfer versprochen, alle zuständigenBehörden in Bund und Ländern würden mit Hochdruckan der Aufklärung arbeiten. Heute wissen wir, wie dieserHochdruck aussieht. Fast jeden Tag tauchen neue Fragenund Widersprüche auf, aber nicht etwa weil sie von denSicherheitsbehörden aufgedeckt wurden, sondern weilsie durch Untersuchungsausschüsse und den unabläs-sigen Einsatz von zivilgesellschaftlichen Initiativen,Journalisten, Wissenschaftlern und Vertretern der Ne-benklage im Münchener NSU-Prozess aufgedeckt wer-den. Ihnen allen kann man gar nicht genug danken.
Aber nicht nur bei der Aufklärung tritt die Bundesregie-rung auf der Stelle. Auch bei den Konsequenzen ausdem NSU-Skandal geht es einfach nicht voran. Deshalbwaren wir alle sehr gespannt auf diese große Verfas-sungsschutzreform, die uns angekündigt wurde. Wir ha-ben ja eigentlich nicht zu hoffen gewagt, dass Sie tat-sächlich eine grundsätzliche Zäsur und einen Neustartwagen, so wie wir Grüne uns das eigentlich immer vor-gestellt haben. Aber ein paar echte Reformanstöße hätteich nach all den Erkenntnissen doch schon erwartet.
Einer Ihrer wichtigsten Punkte ist die Stärkung derZentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfas-sungsschutz. Was Sie dabei von den Reformen in denLändern halten, haben Sie schon deutlich gemacht – dasmachen Sie auch mit dem Gesetzentwurf allzu deut-lich –, nämlich gar nichts. Jedenfalls erschließt sich mirnicht, wie Sie die Länder für Ihren Ansatz gewinnenwollen. Inhaltlich finde ich es grundsätzlich richtig, dassder Bund versucht, das Handeln aller Verfassungsschutz-ämter, so gut es geht, zu koordinieren;
denn der mangelnde Informationsaustausch war ja einesder zentralen Probleme beim NSU. Aber wenn ich nunin Gesprächen mit dem Bundesamt für Verfassungs-schutz höre, dass zum Beispiel in Sachen V-Leute-Re-gister – auch einer der Reformschritte – nicht vorgese-hen ist, die Klarnamen der V-Leute zentral zu erfassen,um auszuschließen, dass diese in den Ländern oder beimBund doppelt abkassieren, und dass es bei diesem Regis-ter eigentlich nur darum geht, Quellenlücken zu schlie-ßen, dann muss ich ganz klar feststellen: Ihnen fehlt da-bei jegliches Problembewusstsein.
Denn das Problem des V-Leute-Einsatzes rund um denNSU war ja nicht etwa die mangelnde Quellendichte– V-Leute gab es ja reichlich –, sondern, dass dieser völ-lig aus dem Ruder gelaufen ist. Nur, daraus ziehen Siekeinerlei Konsequenzen.
Herr Lischka, als Sie sich mit Frau Högl im Januar füreine echte Reform des Verfassungsschutzes ausgespro-chen haben, hatte man noch etwas Anlass zur Hoffnung.Sie haben damals in Ihrem Papier immerhin ein paarganz klare Kriterien für den V-Leute-Einsatz formuliert.Da Sie diese Regierung mittragen, habe ich gehofft, dassSie die Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs entsprechendbeeinflussen werden. Doch offensichtlich hat sich derBundesinnenminister für Ihr Papier überhaupt nicht in-teressiert; denn Regelungen für die Einsatzdauer vonV-Leuten findet man im Gesetzentwurf zum Beispiel
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Irene Mihalic
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nicht. Kriterien zur Führung von V-Leuten? – Fehlan-zeige! Regeln, die wirksam verhindern, dass schwereStraftäter eingesetzt werden? – Fehlanzeige! Denn imZweifelsfall entscheidet eben der Behördenleiter, und esgilt auch nur grundsätzlich. Herr Mayer, auch wenn Siehier gebetsmühlenartig wiederholen, wie „grundsätz-lich“ zu verstehen ist: Es steht so nicht im Gesetz, unddas ist der Fehler.
Da muss ich einfach feststellen: Die Bundesregierunghat offensichtlich gar nichts aus den Fehlern gelernt, diebei den „Piattos“ und Tino Brandts dieser Welt sowie beianderen V-Leuten gemacht wurden, und nicht verstan-den, dass der Staat dadurch rechtsextreme Strukturenmindestens mitfinanziert und somit aufgebaut hat. AllenKolleginnen und Kollegen hier im Haus, die intensiv ander NSU-Aufklärung mitgearbeitet haben und das nochheute tun, muss es doch in der Seele wehtun, dass dieBundesregierung an diesem Problem so völlig vorbei-läuft.
Deshalb bitte ich Sie dringend, jetzt im Gesetzgebungs-verfahren nicht lockerzulassen. Lassen Sie sich mit die-sem Gesetzentwurf nicht abspeisen! Sorgen Sie mit unsgemeinsam dafür, dass eine echte Reform des Verfas-sungsschutzes auf den Weg gebracht wird.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Tankred
Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der heutigen Debatte befassen wir uns mit der Um-setzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungs-ausschusses. Wir haben den tadellosen Entwurf einesGesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit des Ver-fassungsschutzes vor uns liegen. Ich bin ein ganzesStück weit entsetzt über die Empörungsrhetorik, die hiervonseiten der Grünen und der Linken bei einem so sen-siblen Thema dargeboten wird.Meine Damen und Herren, noch nie haben eine Bun-desregierung und ein Parlament so planvoll und detail-liert auf Ergebnisse eines Untersuchungsausschusses re-agiert und seine Empfehlungen umgesetzt.
Lassen Sie mich einmal den Gesamtkontext und die Zei-tenfolge in Erinnerung rufen. Am 26. Januar 2012 habenalle fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses den NSU-Un-tersuchungsausschuss eingesetzt. Bereits als der Aus-schuss tagte bzw. arbeitete, gab es erste gesetzgeberischeMaßnahmen. Entsprechende Stichworte wurden heute inder Debatte schon genannt: Errichtung des Gemeinsa-men Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums so-wie die Errichtung der gemeinsamen Verbunddatei ge-gen Rechtsextremismus. Alle fünf Fraktionen diesesHohen Hauses haben in der letzten Legislaturperiode– am 23. August 2013 – 50 Handlungsempfehlungenvorgelegt. Am 2. September 2013 debattierten wir dannüber diese unter den Augen der Angehörigen der Opferdes NSU und des Bundespräsidenten. Unser Parlamenthat die Handlungsempfehlungen in der 18. Legislaturpe-riode am 20. Februar letzten Jahres noch einmal bekräf-tigt. Der Schlüsselbegriff in der damaligen Debatte war„Änderung der Arbeitskultur unserer Sicherheitsbehör-den“. Am 26. Februar 2014 legte die Bundesregierungihren Umsetzungsbericht vor, der an Transparenz undKlarheit nicht zu überbieten ist. Dieser Umsetzungsbe-richt ist wie eine To-do-Liste gegliedert. Er stellt für unsein hervorragendes parlamentarisches Monitoring dar.Am 5. November letzten Jahres gab es die Debatte zumdritten Jahrestag der Aufdeckung des NSU. Am 14. No-vember letzten Jahres wurde der Gesetzentwurf des Jus-tizministeriums – Kollege Mayer hat es angesprochen –mit den wesentlichen Änderungen vorgelegt, die wirvorgenommen hatten.Heute findet folgerichtig die Debatte über ein Gesetzstatt, welches die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehör-den optimieren wird und klare Standards für ihre Arbeitfestsetzt. Das nenne ich vorbildliche Parlaments- undRegierungsarbeit. Dies hat nichts mit einem Peitschendurch das Parlament zu tun, sondern das ist Diskutierenund Debattieren, wie es sich für einen Deutschen Bun-destag gehört.
Ich kann – genauso wie meine Kollegen – nur dazuaufrufen, dass sich alle Beteiligten bzw. Verantwortli-chen – allen voran auch die in den Ländern – genausovorbildlich verhalten, wie es Legislative und Exekutiveim Bund tun. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf be-trifft meines Erachtens den Kernbereich – ich möchte sa-gen: das Herzstück – der Aufklärungsarbeit des Untersu-chungsausschusses in der letzten Legislaturperiode.Bereits in der Sachverständigenanhörung zur deut-schen Sicherheitsarchitektur am 29. März 2012 stelltenwir uns die Frage, ob es nicht vielmehr eine Unsicher-heitsarchitektur ist. Die Sachverständigen zeigten unsZuständigkeitsvielfalt und Kompetenzkonflikte auf. Siezeigten uns eine Informationskultur und Informations-verteilung der Nachrichtendienste auf, welche von einerRisiko-, Geheimnis- und Abschottungskultur geprägtwar. Es ist umso dramatischer, dass sich all das, was inder Theorie bekannt war, dann wirklich bei der NSU-Verfolgung bestätigt hat.Mehr noch: Die Werthebach-Kommission stellte inihrem Abschlussbericht mit dem Titel „Signale für eineneue Sicherheitsarchitektur“ im Dezember 2010 – alsonoch vor der Aufdeckung des NSU – fest:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9701
Tankred Schipanski
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Eine erfolgreiche Sicherheitspolitik – insbesonderein einem föderal organisierten Staat – setzt eine in-tensive Kooperationsbereitschaft der Sicherheitsbe-hörden voraus. Diese spiegelt sich gerade in Infor-mationspflichten auf allen Ebenen wider. VieleDefizite in der Zusammenarbeit der Behörden ent-stehen durch unzureichende Information und Ko-operation.Meine Damen und Herren, genau diese Erkenntnisseder Werthebach-Kommission aus dem Jahr 2010 und dieErkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses ausdem Jahr 2013 greift nun der Gesetzentwurf, über denwir in erster Lesung beraten, auf. Ich möchte jetzt nichtin die juristische Debatte einsteigen. Die juristischenFeinheiten können Sie – Kollege Ströbele hat das schongemacht – in der Gesetzesbegründung nachlesen. Ichmöchte einfach drei Schlüsselbegriffe herausgreifen.§ 5 Bundesverfassungsschutzgesetz. Es gibt eineklare Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Landes-ämtern für Verfassungsschutz und dem Bundesamt fürVerfassungsschutz. Wir haben jetzt eine Reservezustän-digkeit – das wurde angesprochen –, und das BfV wirderstmalig als Zentralstelle bezeichnet, die eine Koordi-nierungsfunktion wahrnehmen kann. Erstmalig be-kommt diese Zentralstelle auch eine Unterstützungs-funktion für die Landesämter als gesetzliche Aufgabezugewiesen. Der Kollege von der SPD sagte es bereits:Das ist ein Meilenstein.§ 6 Bundesverfassungsschutzgesetz. Dort werden ge-genseitige Unterrichtungsregeln aufgestellt und zusam-mengefügt. Relevante Informationen müssen nunmehrzwischen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauschtwerden; das ist verpflichtend. Eine gemeinsame Datei,eine gemeinsame Software von allen Landesämtern unddem Bundesamt für Verfassungsschutz – der Name fielschon –, NADIS, ist unerlässlich und wichtig. Ich habemir das im Landesamt für Verfassungsschutz in Thürin-gen angesehen. Natürlich wird damit die Analysefähig-keit des Verfassungsschutzes stark und richtigerweiseausgebaut. Daher kann man das nur vollumfänglich be-grüßen. Das ist wiederum ein Meilenstein, von dem diePolizei noch ein ganzes Stück entfernt ist.Die IMK hat 2012 beschlossen, auch für die Polizeieinen Informations- und Analyseverbund namens PIAVeinzurichten. Leider Gottes lässt er noch auf sich warten.Daher lautet meine herzliche Bitte in dieser Debatte, die-ses Verbundsystem entschieden voranzutreiben.§§ 9 a und 9 b wurden schon angesprochen. Es gehtum verdeckte Mitarbeiter und Vertrauensleute, ein wich-tiges nachrichtendienstliches Mittel. Hier führen wirzum ersten Mal gesetzliche Mindeststandards ein. DieVorgaben des NSU-Untersuchungsausschusses werdenfaktisch eins zu eins umgesetzt. Hier erhalten sie im Zu-sammenhang mit V-Leuten sogar Gesetzesrang. In ande-ren Bereichen unserer föderalen Ordnung wie dem Bil-dungsbereich sind wir davon noch weit entfernt. DieKultusministerkonferenz diskutiert seit JahrzehntenStandards, Koordinierung, Zentralstellen und verpflich-tende Zusammenarbeit. All das verwirklicht dieses Ge-setz für den Bereich der inneren Sicherheit. Das ist fürunseren föderalen Staat sehr wichtig und sehr gut.Meine Damen und Herren, umso beunruhigter bin ichvon dem – das wurde schon angesprochen –, was in ein-zelnen Bundesländern passiert. Einzelne Bundesländerleisten keinen Beitrag zur Sicherheitsarchitektur. Sieverstoßen im weitesten Sinne gegen den Grundsatz derBundestreue und der Amtshilfe. Aus ideologischenGründen werden V-Leute abgeschafft bzw. abgeschaltet.Somit wird im Freistaat Thüringen die Sicherheit derBürgerinnen und Bürger gefährdet. Thüringen begibtsich in eine Isolation im gesamtdeutschen Sicherheits-verbund. Mich entsetzt auch, dass nach zwei Jahrenkonsensualer Arbeit mit Blick auf die Umsetzung derEmpfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses dieGrünen von diesem gemeinsamen Pfad abweichen, sichden Linken anschließen und erklären: V-Leute, das istganz furchtbar. – Sie wollen im weitesten Sinne sogardie Sicherheitsorgane abschaffen. Das ist schon sehrüberraschend.Wir haben den V-Mann „Piatto“ in dieser Debatte an-gesprochen; die Kollegin Pau hat ihn erwähnt. Ich willeinmal anführen, was der Zeuge Meyer-Plath im Unter-suchungsausschuss gesagt hat: Im Jahre 1994 gab es inBrandenburg faktisch keine V-Leute. Die in Branden-burg vorhandenen Erkenntnisse waren nur Nebenprodukteanderer Behörden. Durch den Einsatz von V-Leuten er-öffneten sich erstmals Einblicke in die extremistischenStrukturen, in Brandenburg, im Bund und international.Das Lagebild verbesserte sich. Es war ein Quanten-sprung. Ähnliches berichteten auch andere Zeugen.Durch den Einsatz von V-Leuten wurde man sehend, woman vorher blind war. Natürlich war es katastrophal, fürwelchen V-Mann man sich entschieden hat; das ist völligrichtig.Aber warum? Weil man vorher überhaupt keine V-Leute hatte, war man darauf angewiesen, einen solchenMann wie diesen Carsten S. zu nehmen. Das ist nichtrichtig. Das jetzt vorliegende Gesetz – wir sollten darandenken, dass hier eine Ermessensausübung der Behör-denleitung vorgesehen ist – würde das letztlich ein gan-zes Stück weit verhindern.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich finde die Wort-wahl, die die Grünen und die Linken heute in den Anträ-gen und in der Debatte mit Blick auf die V-Leute wäh-len, unangemessen.
– Nein, nein, Herr Ströbele.Ich kann nur sagen: Die Koalition setzt weiterhin die50 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusseseins zu eins um. Wir werden uns der sachlichen, notwen-digen Arbeit weiter stellen und uns durch die von der
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9702 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Tankred Schipanski
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Opposition vorgelegten Anträge nicht vom richtigenWeg abbringen lassen.
Wir stärken die Sicherheitsarchitektur in unserem föde-ralen Bundesstaat. Ein herzliches Dankeschön geht andie Innenminister von Bund und Ländern, die auf der In-nenministerkonferenz 2012 faktisch den Grundstein fürdieses Gesetz gelegt haben. Ich freue mich auf die weite-ren Beratungen im Bundestag.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang
Gunkel von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letz-ter Redner meiner Fraktion und als später Redner in derDebatte ist es natürlich unheimlich schwierig, nun nichtalles zu wiederholen, was die Vorredner schon gesagthaben.
Herr Schipanski, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie aufein Problem aufmerksam gemacht haben, was die Poli-zeibehörden anbelangt. Ich als ehemaliger Polizeibeam-ter habe natürlich großes Interesse daran, dass die Poli-zei nicht gegenüber dem zurücksteht, was andereBehörden für sich in Anspruch nehmen.Ich glaube aber auch – das hat der Minister in seinerRede sehr schön gesagt –, dass nicht nur der Gesetzes-text von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch,was die Personen tun, wie sie das ausfüllen und wie dasgehandhabt wird. Ich glaube nach wie vor: Der NSU-Skandal basiert in erster Linie auf einem riesigen Kom-munikationsproblem beim Gedanken- bzw. Informa-tionsaustausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei.An dieser Stelle muss ich sagen: Die Bundesrepublik hatschon seit Jahren das Problem, dass diese beiden Behör-den sehr häufig
nebeneinanderher gearbeitet haben und ihr Verhältnisnicht gerade von gegenseitigem Vertrauen geprägt war.Das hat auch seine Gründe, warum das so ist.Ich nenne nur ein Beispiel: Wenn man als Polizeibe-amter Verantwortung trägt, eine Einsatzbewältigung vorsich hat und dann am Freitagnachmittag um 15 Uhr ir-gendeine Horrormeldung präsentiert bekommt, die vomVerfassungsschutz stammt und die niemand mehr verifi-zieren kann, weil man nicht rückfragen kann, man alsonicht nachvollziehen kann, was die Quelle ist, dann weißman: Es ist dreimal besser, wenn die Polizei ihre eigeneAufklärung betreibt. Das hat mir dann immer weiterge-holfen; denn ich habe dann die Informationen bekom-men, die nötig waren, um eine Einsatzlage zu bewälti-gen.Nichtsdestotrotz: Was hier jetzt erarbeitet worden ist,ist Ausfluss und Umsetzung der Folgerungen, die derNSU-Untersuchungsausschuss gezogen hat; und dasfinde ich richtig. Ich kann also keineswegs erkennen,warum man die Informationsquelle Verfassungsschutznun unbedingt abschalten muss oder außer Kraft setzensollte. Mit den jetzt vorgesehenen Änderungen lehntman sich ja auch ein bisschen an die Regelungen an, diedas BKA-Gesetz vorsieht. Wir haben dem BKA in der16. Legislaturperiode weitreichende Kompetenzen beider Terrorismusbekämpfung eingeräumt, indem es erst-malig ermöglicht wurde, die Ermittlungen der Länderzusammenzufassen und zu leiten. Hier geschieht Ähnli-ches, jedoch nur auf dem Informationsweg, also indemInformationen zusammengefasst und über die Länderkoordiniert werden.Was mich an dem Gesetzesentwurf ein klein wenigstört – Herr Minister, ich würde gerne darüber diskutie-ren –, ist die Frage der verdeckten Mitarbeiter, die imneuen § 9 a Absatz 1 des Bundesverfassungsschutzge-setzes geregelt werden soll. Die verdeckten Mitarbeiterwären mit den verdeckten Ermittlern der Polizei ver-gleichbar. Deren polizeiliche Tätigkeiten sind sehr starknormiert und geregelt, nämlich im Zusammenhang mitder Strafverfolgung in § 110 a der Strafprozessordnung,wo klar festgelegt wird, zu welchem Zwecke verdeckteErmittler eingesetzt werden sollen und dass Einverneh-men mit der Staatsanwaltschaft herzustellen ist. Dasheißt, sie können nicht frei operieren. Als Vollzugsbe-amte sind sie zusätzlich auch noch an § 163 StPO gebun-den, sie müssen also Strafverfolgung betreiben und dür-fen nicht selbst unbegrenzt Straftaten begehen; es istihnen nicht einmal gestattet, solche zu begehen. An die-ser Stelle sieht man ganz deutlich, dass das ein begrenz-ter Auftrag ist.Was verdeckte Tätigkeiten im Verfassungsschutz be-deuten, ist mir nicht so ganz klar, insbesondere nicht, woda die Grenzen liegen. Im Urteil des Bundesverfassungs-gerichts heißt es, dass eine Trennung zwischen Nach-richtendienst und Polizei nach wie vor erforderlich istund auch grundgesetzkonform ist. Die Polizei wäredurchaus in der Lage, verdeckte Ermittlungen zu erledi-gen, aber man ist an die entsprechenden Regelungen ge-bunden; und das wollen wir so beibehalten. Die Vergan-genheit hat gezeigt, dass das sonst zu sehr großemBehördenballast führt und dass die Befugnisse Einzelnerdann weit über das hinausgehen, was unsere Rechtsord-nung vorsieht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9703
Wolfgang Gunkel
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– Danke für den Beifall.Die Begründung des Entwurfs ist aus meiner Sicht einbisschen verschwurbelt, Herr Schipanski. An der Stellewürde ich gerne noch einmal nachforschen. Ich kannnicht erkennen, was im Einzelnen gemeint ist, und dasstört mich ein wenig. Ansonsten kann ich den vorliegen-den Gesetzentwurf nur unterstützen.Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Die Links-partei, die sonst relativ gute Vorschläge macht
– ich habe mir die Punkte aufgeschrieben, damit ich siezitieren kann –, fordert die Umwandlung des BfV in eine„Koordinierungsstelle zur Dokumentation gruppenbezo-gener Menschenfeindlichkeit“, die aber keine Ermittlun-gen führen oder sich irgendwo Informationen besorgendarf. Sie darf im Grunde nichts machen. Wir hätten dannnoch mehr beamtete Zeitungsleser; davon haben wiraber schon genug.
Ich glaube, jeder Lagedienst kann diese Aufgabe über-nehmen und die Ergebnisse entsprechend auswerten.Des Weiteren fordern Sie eine Bundesstiftung zur Be-obachtung und Erforschung gruppenbezogener Men-schenfeindlichkeit. Damit schaffen Sie eine weitere Be-hörde, die parallel zu der gerade genannten arbeitet.Diese könnte letzten Endes keinerlei Informationen lie-fern, die für die konkrete Arbeit der Verfassungsschutz-ämter und vor allen Dingen der Polizei, die ja nach wievor Strafverfolgungsbehörde ist, wichtig wären. DasGanze ist also, wie ich glaube, sehr abgehoben, und hatnur im Sinn, den Begriff Verfassungsschutz zurückzu-drängen.In Thüringen bricht nun nicht gleich die Welt zusam-men, weil Sie dort ein paar V-Leute abschalten, aber ichhalte das nicht für richtig. Die Zukunft wird zeigen, wiesich das Ganze entwickelt.
– Das muss man abwarten. Ich will nicht vorwegneh-men, was da passiert.
Vielleicht machen sie es ja indirekt auf andere Art undWeise, etwa so wie das die Grünen formuliert haben.Die Grünen haben in ihrem Antrag sehr gute Anhalts-punkte herausgearbeitet, die ich durchaus teilen kann.
Ich möchte insbesondere einen Aspekt aus Ihrem Antragaufgreifen: Die beste Voraussetzung für Terrorbekämp-fung ist eine gut ausgebildete und ausgestattete Polizei. –Diesbezüglich haben Sie meine volle Zustimmung.
– Moment, nicht alles. – Aber letztendlich kommen auchSie zu dem Schluss – es erscheint mir ein bisschen sehrkrampfhaft, wie Sie unbedingt dies sagen wollen –: Wirwollen den Verfassungsschutz nicht mehr. Sie wollenstattdessen eine „Inlandsaufklärung“, also eine Stelle,„die Spionageabwehr und die Aufklärung genau be-stimmter gewaltgeneigter Bestrebungen“ leisten soll.Nun weiß ich nicht, was „genau bestimmte gewaltge-neigte Bestrebungen“ sind. Sie sollten einmal genauererklären, was man darunter verstehen soll. Im Wesentli-chen ist das, etwas abgespeckt, auch eine Tätigkeit, dieman im Prinzip mit Aufklärung und nachrichtendienstli-cher Gewinnung in Zusammenhang bringen kann; eswird nur etwas anders genannt.Wir als Regierungskoalition können also beiden An-trägen nicht zustimmen. Der Gesetzentwurf der Bundes-regierung ist, unter Berücksichtigung der Ausnahmen,die ich genannt habe, meiner Ansicht nach im Großenund Ganzen gelungen. Der Minister hat angedeutet, dassdarüber noch diskutiert werden kann. Ich hoffe, dass wirden einen oder anderen Punkt noch einarbeiten können.Ein letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte,sind die sogenannten V-Leute. Jeder weiß – die Landes-gesetze geben es her –, dass auch die Polizei Vertrauens-leute einsetzt. Ich befürchte, dass sich dann, wenn solcheEinsätze im Übermaß gefördert werden, die V-Leute vonPolizei und Verfassungsschutz gegenseitig umrennen.Man müsste schon dafür Sorge tragen, dass die eine Be-hörde von der anderen Behörde weiß, was jeweils dieandere im Einzelnen beabsichtigt. Man kann in der Tatauf die V-Leute nicht verzichten, aber es darf zu keinerDoppelbelegung kommen und erst recht nicht dazu, dassdie Arbeit der einen Behörde die Arbeit der anderenpraktisch aufhebt. Ich denke, dass man diesen Punkt be-achten sollte. Von daher: Information und Kommunika-tion sind eigentlich alles. Die Menschen, die in diesemBereich arbeiten, sollten eigentlich die Leistungsträgerbei der Terrorismusbekämpfung sein.Da meine Zeit abläuft, möchte ich es dabei belassen.
Ich hoffe, dass die Gesetze, die demnächst beschlossenwerden, zu dem Ergebnis führen, das wir alle uns erhof-fen.Schönen Dank.
Die Redezeit war abgelaufen, aber nicht deine Zeit,lieber Wolfgang.
Hans-Christian Ströbele spricht als nächster Rednerfür Bündnis 90/Die Grünen.
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9704 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
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Danke, Frau Präsidentin. – Herr Minister, es stimmt,dass wir uns in der letzten Legislaturperiode in diesemHause einig waren, dass man die Neonazis, die National-sozialisten, und zwar nicht nur die im Untergrund, be-kämpfen muss. Wir hatten uns auch vorgenommen, vie-les gemeinsam zu machen. Diesen Weg verlassen Siejetzt, indem Sie hier einen Gesetzentwurf vorlegen, mitdem Sie, sofern Sie überhaupt etwas regeln, nur Regeln,die es bisher in Form von Verwaltungsvorschriften gaboder die in Übung waren, ins Gesetz schreiben.
Damit werden diese Regeln aber nicht besser. Damit ver-hindern Sie so schreckliche Straftaten wie die, die hierzehn Jahre lang verübt worden sind, nicht.Vielleicht muss ich erst einmal mit dem Begriff auf-räumen: Vertrauensleute sind nicht Leute, die Vertrauenverdienen. Sie haben gesagt, man müsse keine Sympa-thie für diese Leute empfinden. Kollege Lischka hat ge-sagt, das müssen keine sympathischen Leute sein. Ausden Reihen der SPD wurde dann aber sogar gesagt, mansolle den V-Leuten die Sicherheit in diesem Staate an-vertrauen.
Darf ich Sie darauf hinweisen, dass es sich bei diesenV-Leuten, um die es hier geht, die diese schrecklichenVerbrechen mit möglich gemacht haben – auch das Ver-sagen bei der Führung dieser V-Leute hat daran natürlichAnteil –, um Rechtsextreme, Rassisten, Neonazis undbekennende Nationalsozialisten gehandelt hat? Ich willdoch die Sicherheit in diesem Land nicht solchen Leutenanvertrauen. Wo kämen wir denn da hin?
Sie dürfen ebenfalls nicht übersehen – das konnte mansogar im Fernsehen sehen –, dass Leute wie „Piatto“, TinoBrandt oder „Corelli“ nicht nur irgendwelche Informa-tionen geliefert haben, sondern bei Demonstrationen undKundgebungen auch die führenden Einpeitscher derNeonazis gewesen sind. Man konnte sehen, wie sie sicham Mikrofon aufgespielt und Leute aufgehetzt haben.Und denen wollen Sie die Sicherheit in diesem Landeanvertrauen? Das ist ein unmöglicher Gedankengang.
Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. Hätte esgeholfen, wenn das, was Sie jetzt vorgelegt haben, schondamals Gesetz gewesen wäre?
Tino Brandt – er ist ja jetzt wieder in Haft genommenworden – hat sich gerühmt, dass er die vielen Hundert-tausend Euro für die Organisation, für den ThüringerHeimatschutz eingesetzt hat.
Wäre das durch so ein Gesetz verhindert worden? Nein!– Gegen Tino Brandt liefen 35 strafrechtliche Ermitt-lungsverfahren, von denen nicht ein einziges zu einemProzess, geschweige denn zu einer Verurteilung geführthat. Würde das jetzt anders sein? Nein!Mit diesem Gesetz schaffen Sie quasi eine gesetzlicheGrundlage, um V-Leute, die während ihrer Einsatzzeitals V-Leute Straftaten begehen, dafür nicht strafrechtlichzur Rechenschaft zu ziehen. Sie geben dem Staatsanwaltdie Möglichkeit, das Verfahren einzustellen. Was bisherhalblegal, im Verborgenen passiert ist, stellen Sie jetztauf eine gesetzliche Grundlage.Nehmen Sie „Piatto“. „Piatto“ war nicht nur ein we-gen eines grauenhaften Mordversuches Verurteilter. Erist trotzdem nicht nur angeworben worden, sondern ihmwurde auch noch die Möglichkeit gegeben, aus dem Ge-fängnis in Brandenburg heraus Neonazi-Zeitschriftenwie Der Weiße Wolf herauszugeben. Als die Gefängnis-leitung eingeschritten ist, hat der Verfassungsschutz ge-sagt: Unser Mann muss weiterarbeiten können,
den holen wir weiter täglich mit dem Dienstwagen abund fahren ihn zum nächsten Neonazi-Treff.
Wäre so etwas ausgeschlossen, wenn Ihr Gesetz in Krafttritt?
Das wäre doch nicht ausgeschlossen, Herr Minister. Wiesoll dieses Gesetz dagegen helfen?
– Das ist keine Ermessensausübung,
sondern das ist die Ideologie, die dahintersteht:
dass die Verfassungsschutzbehörden der Meinung sind,sie stünden außerhalb des Gesetzes und sie könnten ma-chen, was sie wollen, Hauptsache, die Quelle sprudelt.Und denen ist völlig egal, welche Quelle da sprudelt.Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, so et-was zu ermöglichen. Deshalb kann man diesen Gesetz-entwurf nur ablehnen. Er hilft nämlich überhauptnicht gegen die Missstände, gegen die wir gemeinsammit einschränkenden Gesetzen vorgehen wollten. Das
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9705
Hans-Christian Ströbele
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vorliegende Gesetz ist aber kein einschränkendes Ge-setz, das dieses Versagen in Zukunft verhindern würde.
Deshalb sind wir dagegen.Ich kann nur dringend an Sie appellieren: Packen Siedas, was Sie uns hier vorgelegt haben, wieder ein, undtreten Sie in vernünftige Diskussionen ein! Wir habendas ja eine ganze Legislaturperiode lang nach dem Mottopraktiziert: Die Gemeinsamkeit der Demokraten musssich auch in Gesprächen über das, was man in Zukunftmacht, niederschlagen und entsprechend artikuliert wer-den. Das ist in dem von Ihnen vorgelegten Law-and-Or-der-Gesetz, das völlig daneben ist, nicht der Fall.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Armin
Schuster von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Ströbele, es ist der Debatte – das haben
viele gesagt – nicht angemessen, wenn Sie hier von ei-
nem Law-and-Order-Gesetz sprechen. Ich glaube, wir
sollten uns bei allen Unterschieden zwischen den Anträ-
gen und unserem Gesetzentwurf bewusst machen, dass
heute wieder einmal ein extrem positives Signal aus dem
Plenarsaal des Deutschen Bundestages ins Land ausge-
sendet wird.
Die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses
haben im September 2013 hier ein dickes Papier abge-
liefert, und wir lassen Taten folgen – bei aller Unter-
schiedlichkeit unserer Ideen. Aber wichtig ist: Dieser
NSU-Untersuchungsausschuss hat dazu geführt, dass
wir in Deutschland Schritt für Schritt Reformen vorneh-
men, und auf diesem Weg ist der heute vorliegende Ge-
setzentwurf – das haben schon viele vor mir gesagt – ein
großer Meilenstein.
Drehen Sie uns bitte nicht das Wort im Mund herum.
Niemand – nicht der Minister und auch sonst niemand –
hat behauptet, dass die V-Leute für die Sicherheit in
Deutschland verantwortlich wären. Das ist nicht fair.
Jetzt drehe ich einmal mein ganzes Manuskript um
und fange mit den V-Leuten an – Dr. Hahn ist jetzt ge-
rade leider nicht da –: Es ist auch ein bisschen unfair – –
Herr Kollege Schuster, Sie sehen, dass der Wunsch
nach einer Zwischenfrage besteht.
Logo; dafür sind wir ja hier.
Gut.
„Dafür sind wir hier“, sehr gut! Da Sie, Herr Schuster,
Ihr Manuskript gerade sowieso umgedreht haben, ist es
nett, dass Sie meine Frage zulassen. – Bitte sagen Sie
einmal anhand von folgendem Beispiel etwas zu dem
Thema – Beispiele werden ja oft bemüht –: Nehmen wir
an, es kommt jemand zurück, der in Syrien schwere
Straftaten begangen, der, um das einmal zuzuspitzen,
enthauptet hat. Kann es allen Ernstes sein, dass der deut-
sche Staat mit solchen Leuten zusammenarbeitet? Kann
es allen Ernstes sein, dass wir hier qua Gesetz legalisie-
ren, dass solche Leute vom Staat Geld bekommen
und wir mit diesen Straftätern zusammenarbeiten?
Der Gesetzentwurf regelt ja, dass wir grundsätzlichmit solchen Leuten nicht zusammenarbeiten.
Das heißt auch – ich bin nicht Jurist, aber das weiß auchich –: Ausnahmen sind möglich.
Es sind eng begrenzte Ausnahmen. Ich habe Vertrauen indie Menschen – im Gegensatz zu Ihnen; Sie versuchendas immer durch Regeln herzustellen.
Ich habe ein großes Vertrauen auch in Menschen, dieeinmal Fehler gemacht haben. Ihre moralingeschwän-gerte Verurteilung des gesamten BfV geht mir einfach zuweit.
Ich habe Vertrauen, dass ein BfV-Präsident in der Lageist, in so einem Fall eine Güterabwägung vorzunehmen.Herr Dr. Hahn, Sie sind PKGr-Vorsitzender. Es warunfair,
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9706 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Armin Schuster
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hier zu sagen, Sie hätten noch nie ein Beispiel für dieSinnhaftigkeit eines V-Leute-Einsatzes gehört.
– Der Minister kann Ihnen diese Frage nicht beantwor-ten; Sie wissen doch, dass er darüber schweigen muss.
Sie haben in dieser Woche im PKGr live gehört – jetztbewege ich mich dicht an der Grenze –, dass ein V-Mannzu weit über 20 hochgradigen Verurteilungen echter Ter-rorgefährder beigetragen hat. Aber hier tun Sie so, als obes das nicht gäbe.
Meine Damen und Herren, es gibt handfeste Belegefür die Wirkung von V-Leuten, über die wir hier leideroder Gott sei Dank nicht sprechen dürfen. Aber dass Sieverunglimpfen, dass mit diesen Leuten gearbeitet wird,ist ein Stück weit unfaire Verhandlungsführung. Dasmuss ich Ihnen sagen.
Herr Schuster, auch Herr Hahn möchte eine Zwi-
schenfrage stellen.
Herr Dr. Hahn.
Sehr geehrter Herr Kollege Schuster, würden Sie bitte
zur Kenntnis nehmen, dass ich den Minister in der Fra-
gestunde gefragt habe, ob er mir konkrete Beispiele für
Verbrechen, die durch V-Leute, auch durch V-Leute, die
strafbar geworden sind, verhindert worden sind, nennen
kann? Er hat keinen Fall nennen können. Das hat nichts
mit dem PKGr zu tun.
Im vorliegenden Fall ging es um Mitgliedschaften – das
kann man ja sagen – in terroristischen Strukturen oder
verbotenen Organisationen. Das war etwas anderes als
das, was ich gefragt habe. Die Frage nach konkreter Tä-
tigkeit von V-Leuten und der Verhinderung von Verbre-
chen hat der Minister nicht beantworten können, und das
habe ich in meiner Rede kritisiert.
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das noch einmal klar-stellen. Vielleicht auch für die Zuschauer: PKGr heißtParlamentarisches Kontrollgremium. Herr Dr. Hahn istim Moment der ehrenwerte Vorsitzende und weiß des-halb wahrscheinlich am besten in diesem Parlament,dass der Minister zu keiner Gelegenheit in einer Frage-stunde einem Fragesteller – mag dieser noch so hochmö-gend sein – darauf antworten darf.
Das darf er nicht. Ich bin Gott dankbar, dass er es nichtgetan hat. Wo kämen wir denn hin, wenn wir jetzt imdeutschen Parlament die V-Leute-Einsätze besprechenwürden? Das wissen Sie ganz genau.
– Wenn Sie nicht aufhören, unfair zu sein, dann rede ichjetzt gleich noch viel schlimmer über Sie.
Meine Damen und Herren, vom heute vorgelegtenGesetzentwurf geht ein deutliches Signal aus, aber wirbrauchen nicht nur Aktivitäten im Bund, sondern auch inden Ländern. Alleine schaffen wir das nicht. Im Fall desNSU-Terrors wären tiefere Einsichten in dem einen oderanderen Land hilfreich. Deshalb ist es nur zu begrüßen,dass Sachsen, Thüringen, Bayern, Nordrhein-Westfalen,Hessen und endlich auch Baden-Württemberg in eigenenUntersuchungsausschüssen weiter aufklären.Herr Dr. von Notz,
es ist mir völlig schleierhaft, wieso Sie sich hier hinstel-len und mit extremer Hybris über uns herziehen, wäh-rend man eine grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg zum Jagen tragen musste. Anfangs hatteman dort doch überhaupt keine Lust, diesen Fall aufzu-klären.
Entschuldigen Sie bitte, aber würde ich Ihre Rede jetztnach Baden-Württemberg schicken, müsste HerrKretschmann knallrot werden; denn das trifft alles aufihn zu, aber nicht auf uns. Wir haben aufgeklärt. Er hatmonatelang bestritten, dass das überhaupt notwendig sei,und stolpert jetzt von einer Krise in die nächste.
Ich will Ihnen einmal eines sagen – ich beruhige michwieder –: Das, was in Baden-Württemberg abläuft, zeigtuns, dass es durchaus eine interessante Idee sein kann,über einen NSU-Untersuchungsausschuss 2.0 im Bundnachzudenken. Es gibt jedenfalls genügend Kollegen,die dieser Meinung sind. Darüber müssen wir weiter dis-kutieren.Meine Damen und Herren, die Innenminister arbeitenschon seit der letzten Wahlperiode intensiv an demSchritt-für-Schritt-Konzept. Wir wollen alles wahrma-chen, was wir in den Katalog geschrieben haben. Wir
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9707
Armin Schuster
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schütten aber nicht das Kind mit dem Bade aus. LiebeKolleginnen und Kollegen von den Linken und von denGrünen, unsere Sicherheitsbehörden zu reformierenheißt – jedenfalls wenn man regiert –:
Wir müssen unter akuter Terrorbedrohung für diesesLand und mit extrem hohen Belastungen der Sicherheits-behörden, quasi unter vollen Segeln aller Behörden,
die Reformschritte vollziehen, die wir im NSU-Untersu-chungsausschuss empfohlen haben. Das ist eine ganzschwierige Aufgabe. Sie ist aber garantiert nicht dadurchzu meistern, dass ich da jetzt etwas auflöse, hier Stiftun-gen schaffe und dort radikale Reformvorschläge mache.Das Land braucht jetzt funktionierende Sicherheitsbe-hörden.Uns gelingt es, in vernünftigen Schritten und in einersinnvollen Dosis zu reformieren. Ich denke an das Terro-rismusabwehrzentrum und an die Rechtsextremismusda-tei. Ich danke dem Justizminister für ein umfangreichesGesetzespaket, in dem er die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses umgesetzt hat. Heute dankeich dem Bundesinnenminister für vier klare und wichtigeSchritte – das alles sind Empfehlungen des NSU-Unter-suchungsausschusses –: Zentralstellenfunktion des Bun-desamtes stärken, Informationsfluss verbessern, dieAnalysefähigkeit von NADIS ausbauen sowie den Ein-satz von V-Leuten klarer regeln. Wir haben immer ge-sagt: Nicht das Ob, sondern das Wie muss geregelt wer-den.
Das können Sie auch im Empfehlungskatalog nachlesen.
Ihrem Befund, Kolleginnen und Kollegen von Grünenund Linken, kann ich folgen.
Wir waren uns ja einig: Es gab strukturelle Defizite,Missstände, Versagen, allzu häufig kleinliches Kompe-tenzgerangel; manchmal meine ich, dass mir, wenn ichdie Innenminister der Länder höre, da etwas im Ohr klin-gelt. Aber wir hatten diese Defizite bei allen Beteiligten:bei Staatsanwaltschaften, bei Gerichten, bei der Polizei,beim Verfassungsschutz;
nicht einmal den Innenausschuss des Deutschen Bundes-tages hat dieser Fall jemals erreicht. Wollen Sie die ei-gentlich alle auflösen?
Diesen Vorschlag habe ich noch gar nicht gehört: Dashat nicht funktioniert, also lösen wir die auf. – MeineDamen und Herren, das ist doch nicht die Lösung.Wenn man Ihrem Vorschlag bzw. Ihrer Therapie kon-sequent folgen würde, dann müsste man sagen: Weg mitallen! – Das tun wir nicht. Man merkt, ich bin nachsich-tig mit Ihnen. Sie haben ja – Gott sei Dank – noch nie einInnenministerium in diesem Land geleitet;
deswegen üben wir Nachsicht. Eigentlich müsste manIhre Anträge als Sicherheitsrisiko bezeichnen; aber dastue ich natürlich nicht.
Meine Damen und Herren, bei der Verfassungsschutz-reform geht es um zwei Aspekte – eigentlich um drei,aber den dritten bekommen wir noch nicht hin –: Esmuss besser kommuniziert werden, es muss vernetzterkommuniziert werden, und es muss koordiniert werden.
Und – das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen –: Wennman den NSU-Fall betrachtet und KriminaldirektorGeier aus Bayern, dem Leiter der BAO, folgt, dann hättees auch einer einheitlichen Führung bedurft. Wir habenin unserem Empfehlungskatalog aber nie gesagt, dassder Bund das tun soll – das muss man den Ländern viel-leicht noch einmal zurufen –, sondern wir haben gesagt:In Ausnahmelagen wie Terrorserien, in solchen Fällen,in denen unsere föderale Struktur den Tätern in dieHände spielt oder in denen sie von ihnen gar bewusst ge-nutzt wird, müssen wir eine zentrale Führung gewähr-leisten. Wir haben auch gesagt: Sichergestellt werdensoll dies entweder durch ein Land – das hätte im NSU-Fall Bayern sein können; das hätte auf der Hand gele-gen – oder durch den Bund, aber bitte einheitlich.Ich glaube nicht – da bin ich ganz ehrlich –, dass un-ser föderales System ins Wanken gerät, wenn wir in ex-tremen Ausnahmelagen wie im Fall von Terror die Füh-rung in eine Hand legen. Wenn ich an die Ereignisse inParis, Brüssel, Kopenhagen, Dresden, Braunschweigund Bremen denke – führen Sie sich die Kommunika-tionsprobleme, die es bei den Ereignissen in Braun-schweig gab, mal vor Augen; das geschah ja an einemWochenende; um Gottes willen! –, glaube ich nicht, dassder Verweis auf die Verfassung und die Polizeihoheit derLänder bei unseren Diskussionen der Weisheit letzterSchluss sein kann.Wir brauchen überregionale Verfahren für hochflexi-ble Ermittlungsgruppen über Ländergrenzen hinweg.Damit will ich nicht im Ansatz das föderale System an-tasten; ich will es für Ausnahmesituationen krisenfest
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9708 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Armin Schuster
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machen. Ich will Tätern nicht die Chance geben, unsvorzuführen, nur weil 16 Länder Verfassungsschutz undPolizei organisieren, wovon ich in Wirklichkeit ein gro-ßer Anhänger bin. Deshalb widerspreche ich den aktuel-len Aussagen einiger Landesinnenminister, da ich sie fürgrenzwertig halte – Zitat –:Die Gefahrenabwehr in einem föderalen System istSache der Länder …Dass eine Bundesbehörde … eingreife oder gar denEinsatz übernehme, sei „völlig unvorstellbar“.Ich nenne den Namen und die Partei des Betreffendennicht.Für mich war im Untersuchungsausschuss oft einigesunvorstellbar. Dabei ging es aber nicht darum, dass indiesem Land eigenartig geführt wird. Wo sind wir denn?
Deshalb, meine Damen und Herren, empfehle ich vor al-len Dingen den Nicht-NSU-Tatortländern, sich endlicheinmal mit diesem Fall zu beschäftigen und ihre eigeneLeistungsfähigkeit an dem zu spiegeln, was wir dortfestgestellt haben.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir in dieRichtung – das ist für mich ein großer Schritt –, uns mitden Ländern enger abzustimmen, notfalls auch ohne de-ren Einverständnis. Ich weiß, das ärgert die. Allerdingsist dieser Kompromiss auf einmalige Art und Weise zu-stande gekommen. Ich habe an der Besprechung mitdem Bundesinnenminister, zu der auch die Länder einge-laden waren, teilgenommen. Ich fand, das war sehr ko-operativ.Ein Landesinnenminister sagte vor einer Woche – Zi-tat –: „Das ist eine Aushebelung des Föderalismus“.Nein, das ist es nicht. Wer dem Föderalismus eine Zu-kunft geben will, der darf ihn nicht einmauern, sondernmuss ihn weiterentwickeln und krisenfest machen,meine Damen und Herren. Ich glaube, wir dürfen des-halb dem Bundesinnenminister für all die Kämpfe, die ermit den Länderkollegen geführt hat, danken. Ich sehenoch die von diesem Fall Betroffenen vor mir, die imSeptember 2013 oben auf der Tribüne gesessen haben.Wir haben ihnen zugerufen: Wir versprechen euch, dasswir Wort halten. – Durch das, was der Minister vorgelegthat, können wir Wort halten. Dafür bedanke ich mich,und ich freue mich auf die Beratungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4654, 18/710, 18/4682 und 18/4690
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Ich frage Sie: Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den nächsten Tagesordnungspunkt auf
– das ist der Tagesordnungspunkt 26 – sowie den Zu-
satzpunkt 7:
26 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Die NVV-Überprüfungskonferenz zum Er-
folg führen
Drucksache 18/4685
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die europäische Sicherheitsstruktur retten –
Übereinkommen in Gefahr
Drucksache 18/4681
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen, und wir können mit der Aussprache begin-
nen; die Kollegen sitzen auch bereits.
Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Ute Finckh-Krämer von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf denTribünen! Anlass der heutigen Debatte ist die Überprü-fungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die amMontag beginnt und alle fünf Jahre stattfindet.Vor fünf Jahren gab es im Deutschen Bundestag einenfraktionsübergreifenden Antrag. Leider ist es diesmalnicht gelungen, wieder einen fraktionsübergreifendenAntrag zustande zu bringen. Ich möchte ausdrücklichbetonen, dass das nicht an den Kolleginnen und Kolle-gen aus dem Unterausschuss Abrüstung liegt.Die SPD wollte gerne konventionelle und nukleareRüstungskontrolle und Abrüstung gemeinsam betrach-ten, auch über die Themen hinaus, die voraussichtlichbei der NVV-Überprüfungskonferenz behandelt werden.Das wurde leider von den Verantwortlichen in der Unionabgelehnt.Nun hat interessanterweise die Deep Cuts Commis-sion, die aus Wissenschaftlern aus Deutschland, ausRussland und aus den USA besteht, in ihrem zweitenBericht, den sie rechtzeitig zur Überprüfungskonferenzvorgelegt hat, genau das vorgeschlagen: die eskalieren-den Konflikte in Europa und konventionelle und nu-kleare Abrüstung und Rüstungskontrolle gemeinsam zubetrachten. Dass der Leiter der Münchener Sicherheits-konferenz, Wolfgang Ischinger, genau diesen Ansatz inseinem Vorwort zu diesem Bericht der Deep CutsCommission für richtig und wichtig erklärt, zeigt, dassdie Arbeit der Deep Cuts Commission auch für die klas-sischen Sicherheitspolitiker in Deutschland interessantist. Ischinger verweist darauf, dass die Beobachtungs-flüge, die im Rahmen des Open-Skies-Vertrages, also
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9709
Dr. Ute Finckh-Krämer
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unter dem OSZE-Regime, gemacht werden, in derUkraine-Krise einen wichtigen Beitrag zur Deeskalationgeleistet haben, was für uns wichtig werden wird, wennwir in den Haushaltsberatungen über die Beschaffung ei-ner deutschen Open-Skies-Plattform diskutieren werden.Das Problem, vor dem wir mit der Überprüfungskon-ferenz zum Nichtverbreitungsvertrag stehen, ist, dasssich seit dem Inkrafttreten des New-START-Vertragesam 5. Februar 2011 im Bereich der nuklearen Abrüstungnicht viel getan hat. Allerdings ist – und das ist gut undrichtig so – eine Debatte um die humanitären Konse-quenzen des Einsatzes von Atomwaffen in Gang gekom-men, eine erneute Debatte; denn wir wissen seit dem Ab-wurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki,wie katastrophal die Konsequenzen eines Atomwaffen-einsatzes sind.Alexander Kmentt, der Leiter der Abteilung für Ab-rüstung, Rüstungskontrolle und Non-Proliferation im ös-terreichischen Außenministerium, formuliert daher zuRecht – ich zitiere –:Die Schlussfolgerungen des humanitären Diskursessollten zu einer tiefgreifenden Überprüfung der Ab-schreckungstheorie führen. Die Annahme über denSicherheitsgewinn, den die Existenz von Atomwaf-fen mit sich zu bringen behauptet, kann angesichtsder Erkenntnisse über die schwerwiegenderen Aus-wirkungen und größeren Risiken kaum aufrechter-halten werden. Das Beharren auf Nuklearwaffen istein letztlich unverantwortliches Glücksspiel, dasauf einer Illusion von Sicherheit aufbaut. Das Ver-trauen der „Abschreckungs-Realisten“ auf dieseIllusion ist daher die eigentliche „Utopie“, währendein klarer Fokus auf Prävention und nukleare Ab-rüstung als die einzig nachhaltige und „realpoli-tisch“ vernünftige Konklusion gelten muss.Die Ungeduld der Staaten, die auf ihrem Territoriumkeine Atomwaffen dulden, wächst daher zu Recht undebenso die Ungeduld internationaler Organisationen wieder Internationalen Kampagne zur Abschaffung vonAtomwaffen – ICAN –, der International Physicians forthe Prevention of Nuclear War – IPPNW –, der Mayorsfor Peace, aber auch des Internationalen Komitees vomRoten Kreuz, die sich intensiv mit den Risiken des er-neuten nuklearen Wettrüstens auseinandersetzen, oderauch der Global-Zero-Bewegung, die von hochrangigenPolitikern und Diplomaten aufgrund ihrer Erfahrungenaus dem Kalten Krieg mit initiiert wurde.Ich möchte an dieser Stelle daher all denen danken,die sich in diesen und vielen weiteren Organisationenmeist ehrenamtlich für eine Welt ohne Atomwaffen en-gagieren.
Ihr Engagement und ihre Fachkunde sind unverzichtbarfür alle, die sich in Regierungen und Parlamenten für nu-kleare Rüstungskontrolle und Abrüstung einsetzen.Ebenso möchte ich denjenigen danken, die als Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler Vorschläge zu nu-klearer Rüstungskontrolle und Abrüstung erarbeiten.Die Verhandlungen um das iranische Nuklearpro-gramm zeigen, was geduldige und hartnäckige diploma-tische Bemühungen bewirken können. Wir können stolzdarauf sein, dass neben den fünf offiziellen Atommäch-ten auch Deutschland daran beteiligt war und ist.Wenn – wie in den letzten Jahren – Konflikte eskalie-ren, werden Rüstungskontrolle und Abrüstung nichtüberflüssig, sondern – im Gegenteil – notwendiger alszuvor. Das ist eine der Lehren, die Politikerinnen undPolitiker in aller Welt aus dem Kalten Krieg gezogen ha-ben. Ich hoffe, dass auf der Überprüfungskonferenz die-jenigen Gehör finden, die sich im Sinne von AlexanderKmentt als Realpolitiker erweisen, also konstruktiveVorschläge machen, wie wir dem Ziel einer Welt ohneAtomwaffen näherkommen können.Ich bitte daher um Zustimmung zum gemeinsamenAntrag der SPD und der Union. Ich bin aber dafür, dasswir den Antrag der Linken ablehnen, der sich sehr vielstärker mit dem befasst, was von Politikern und Diplo-maten in letzter Zeit an unsinnigen Forderungen aufge-stellt worden ist, als mit dem, was konstruktiv zum Er-folg der Überprüfungskonferenz beitragen kann.Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Inge Höger
von der Linken das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 70 Jahrenach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Na-gasaki gelingt es immer noch nicht, diese schrecklichenMassenvernichtungswaffen endlich abzuschaffen. Dasliegt in erster Linie an den fünf offiziellen Atommäch-ten. Es liegt an den USA, Russland, Frankreich, Großbri-tannien und China, die an ihren Bomben festhalten. Esliegt auch an den inoffiziellen Atomwaffenstaaten, diedurch den Besitz dieser Bomben ihren Einfluss in derWelt vergrößern wollen.Es ist bezeichnend, dass die Koalitionsfraktionen inihrem Antrag eine gemeinsame europäische Positioneinfordern. De facto bedeutet das nichts anderes, als dassman sich der Abrüstungsverweigerung der RegierungenFrankreichs und Großbritanniens anschließt. Da machtdie Linke nicht mit,
und wir sind uns da mit den Friedensbewegungen inFrankreich und England einig.Nun ist es leicht, von diesem Pult aus den mangeln-den Abrüstungswillen anderer Staaten zu kritisieren.Doch Abrüstung beginnt vor der eigenen Haustür.
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9710 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Inge Höger
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Union und SPD erzählen in ihrem Antrag viel überDeutschlands Anstrengungen für Abrüstung, Rüstungs-kontrolle und andere hehre Ziele. Doch wenn es konkretwird, ist davon überhaupt nichts mehr zu sehen. Immernoch lagern in Büchel 20 US-Atomsprengköpfe. Sie ha-ben jeweils eine Sprengkraft von 20 Hiroshima-Bom-ben. Anstatt sie endlich zu vernichten, werden sie in denkommenden Jahren modernisiert, um sie leichter ein-satzfähig zu machen. Für den Ernstfall hält die Bundes-wehr Tornado-Flugzeuge vor, die Atomwaffen transpor-tieren und abwerfen können. Bundeswehrsoldatenwerden eigens für den Zweck eines Atomkrieges ausge-bildet.Solange die Bundesregierung auf diese Art und Weiseden USA Beihilfe zu einem potenziellen Atomkrieg leis-tet, so lange bleiben Ihre rhetorischen Anstrengungen,die Sie hier oder in New York ableisten, pure Heuchelei.Sorgen Sie endlich dafür, dass alle Atomwaffen ausDeutschland abgezogen werden!
In den Feststellungen des Koalitionsantrages singenSie das schon oft gehörte Lied von den Bösen und denGuten – und natürlich von der ganz besonders gutenBundesregierung, die sich überall in der Welt fleißig fürAbrüstung einsetzt. Dass davon wenig zu halten ist, habeich eben skizziert.Aber auch Ihre Geschichte von den bösen Russen undder guten NATO fällt typischerweise sehr einseitig aus.Zur Eskalation gehören immer zwei Seiten. Bitte verges-sen Sie nicht, dass die NATO durch ihre Osterweiterungund aktuell durch die Stationierung von Truppen im Bal-tikum maßgeblich zur gespannten Situation in Osteuropabeiträgt.Den Antrag der Koalitionsfraktionen lehnen wir ab.Frieden und Abrüstung erreicht man nur durch konkreteAbrüstungsschritte.Es ist schon interessant: CDU/CSU und SPD weisenin ihrem Antrag darauf hin, dass die Ukraine 1994 nurgegen die Garantie ihrer territorialen Integrität auf ihreAtomwaffen verzichtet hat.
– Ich lege großen Wert darauf. – Ich kann mich noch guterinnern, dass das Geschrei groß war, als Kriegsgegne-rinnen und Kriegsgegner 1998 anmerkten, die NATOwürde Belgrad vielleicht nicht bombardieren, wennJugoslawien Atombomben hätte. So ändern sich die Zei-ten.Auf eines ist allerdings Verlass: Die Linke lehnt jedenVölkerrechtsbruch ab und setzt sich auch weiterhin fürdie Abschaffung aller Atomwaffen ein.
Es freut mich, dass die Koalition die massenvernich-tungswaffenfreie Zone im Nahen Osten voranbringenwill. Aber auch hier würde ich mir statt der bisherigenSprechblasen ein beherztes Handeln von der Bundesre-gierung wünschen. Für einige Staaten – das wissen Siealle – hängt der Fortbestand des Atomwaffensperrvertra-ges von Fortschritten bei diesem Thema ab. Es wird beider Überprüfungskonferenz in New York von zentralerBedeutung sein, ob es im Nahen und Mittleren Osten zueiner atomwaffenfreien Zone kommt.Ein echtes Zeichen für Deeskalation und Abrüstungist es, wenn Sie gleich für den Antrag der Fraktion DieLinke stimmen.
Wir bleiben dabei: Atomwaffen gehören auf den Müll-haufen der Geschichte. Es wäre wünschenswert, wenndie New Yorker Konferenz in den nächsten Wochen ei-nen Schritt in diese Richtung macht.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat Dr. Andreas Nick von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor fast genau 70 Jahren, im August 1945, beendete dererstmalige Einsatz von Atomwaffen in Hiroshima undNagasaki auch in Asien den Zweiten Weltkrieg. Hunder-tausende Menschen starben; viele leiden teilweise bisheute unter den Folgen. Vier Jahre später zündete auchdie Sowjetunion ihre erste Atombombe.Das Gleichgewicht des Schreckens der folgenden40 Jahre zwischen den beiden atomaren Supermächten,der nukleare Friede, beruhte letztlich auf der glaubhaftenAndrohung wechselseitiger Vernichtung, der Mutual As-sured Destruction, deren Kürzel „MAD“ wohl nicht zu-fällig dem englischen Wort für „verrückt“ entspricht.Spätestens mit der Kuba-Krise 1962 wurde deutlich,wie nah sich die Welt am Abgrund einer atomaren Ver-nichtung bewegte. Die Atommächte trugen damit einebesondere Verantwortung. Trotz aller Gegensätze warein hohes Maß an Berechenbarkeit und Vertrauensbil-dung auf beiden Seiten gefordert. In der Folge – nichtzuletzt der Kuba-Krise – kam es 1968 dann zum Ab-schluss des Vertrages über die Nichtverbreitung vonKernwaffen mit drei zentralen Pfeilern:Erstens. Die Zahl der Nuklearmächte sollte weltweitnicht weiter ansteigen und auf die fünf ständigen Mit-glieder des UN-Sicherheitsrates begrenzt bleiben.Zweitens. Im Gegenzug wurde den atomwaffenfreienStaaten das uneingeschränkte Recht auf friedliche Nut-zung der Kernenergie eingeräumt.Drittens. Die Atommächte selbst verpflichteten sich,Verhandlungen mit dem Ziel einer vollständigen nuklea-ren Abrüstung zu führen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9711
Dr. Andreas Nick
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Die Abrüstungsverträge über nukleare Mittelstreckenra-keten INF und über strategische Trägersysteme STARTwaren wichtige Meilensteine in der Beendigung des Kal-ten Krieges.Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen. In ei-ner multipolaren Welt mit einer Vielzahl von Akteurenist die Gefahr regionaler nuklearer Rüstungswettläufedeutlich angestiegen. Inzwischen gibt es mindestens vierzusätzliche Staaten, die über Atomwaffen verfügen. Ins-besondere der indische Subkontinent mit den beiden ri-valisierenden Atommächten Indien und Pakistan, aberauch Ostasien mit Nordkorea und nicht zuletzt der Mitt-lere Osten bergen ein großes Konflikt- und Eskalations-potenzial.Mit der Verfügbarkeit sogenannter taktischer Nu-klearwaffen droht eine Absenkung der Einsatzschwellemit der Gefahr, dass ein vermeintlich begrenzter nuklea-rer Krieg führbar erscheinen könnte. Umso bedenklicherist, dass mit Russland auch eine der Atommächte injüngster Zeit seine substrategischen Nuklearwaffen mo-dernisiert und Drohungen mit nuklearen Waffen offenbarwieder Teil der russischen Außenpolitik zu werdenscheinen.Vor allem aber ist die Entwicklung in der Ukraine einmassiver Rückschlag für das Ziel der Nichtverbreitungvon Kernwaffen. Im Gegenzug zur Abgabe der früherensowjetischen Atomwaffen war der Ukraine im Budapes-ter Memorandum von 1994 die Achtung ihrer territoria-len Integrität sowie die Wahrung ihrer politischen undwirtschaftlichen Unabhängigkeit zugesichert worden,auch unmittelbar durch Russland. Mit der völkerrechts-widrigen Annexion der Krim und dem militärischen Vor-gehen im Osten der Ukraine hat Russland diese Verein-barung in eklatanter Weise verletzt.Meine Damen und Herren, wenn aber internationaleVereinbarungen wie das Budapester Memorandum kei-nen verlässlichen Bestand mehr haben, dann ist dochkaum zu erwarten, dass künftig noch irgendein Staat aufder Welt freiwillig auf den einmal erreichten Besitz vonAtomwaffen verzichten wird. Im Gegenteil: Wenn sichder Eindruck weiter verstärkt, nur dies würde sie in dieLage versetzen, ihre staatliche Souveränität und territo-riale Integrität dauerhaft zu sichern, dann werden insbe-sondere kleinere Staaten mehr und mehr versucht sein,Kontrolle über Atomwaffen zu erlangen. Nuklearwaffenwären quasi die ultimative Währung nationaler Souverä-nität.Dies verdeutlicht einmal mehr: Nukleare Abrüstungund Nichtverbreitung von Kernwaffen können nicht iso-liert erreicht werden, sondern nur, wenn sie in eine ver-lässliche globale Friedensordnung und in ein robustesSystem regionaler Sicherheitsstrukturen eingebettetsind.Es gibt aber auch ermutigende Entwicklungen. Dazugehört zweifelsohne, dass nach langjährigen Bemühun-gen in Lausanne eine Einigung über die Eckpunkte einerVereinbarung im Hinblick auf das iranische Atompro-gramm erzielt werden konnte, nicht zuletzt auch durchden beharrlichen Einsatz unserer Bundesregierung, derwir dafür ausdrücklich unseren Dank aussprechen. Wenndamit der Anreiz zu einem nuklearen Wettlauf in der Re-gion erheblich gesenkt werden kann, wäre dies ein wich-tiger Schritt zu der vorgeschlagenen Errichtung einermassenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren Os-ten. Zusammen mit unseren Partnern in der EU und derNichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative NPDI wer-den wir auf die baldige Umsetzung hinarbeiten.Die Vereinbarungen von Lausanne zeigen aber auchdie zentrale Bedeutung der internationalen Atomenergie-behörde IAEO bei der Überwachung der zivilen Nut-zung der Kernenergie. Dabei geht es gar nicht nur umdie Nichtverbreitung von Atomwaffen, sondern insbe-sondere auch um die Überwachung des Verbleibs spalt-baren Materials; denn es muss uns klar sein: Auch einemit nuklearem Material versetzte sogenannte schmutzigeBombe könnte in den Händen von Terroristen oder ande-ren nichtstaatlichen Akteuren verheerende Folgen ha-ben.Meine Damen und Herren, die von Nuklearwaffenausgehenden Bedrohungen für den Fortbestand derMenschheit sind weiterhin gewaltig. Eine weltweitevollständige nukleare Abrüstung, das auch von PräsidentObama eingeforderte Global Zero, muss deshalb unserlangfristiges Ziel bleiben.Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaf-fen ist dafür ein wichtiger Meilenstein der internationa-len Ordnung. Gemeinsam mit unseren Partnern wird sichDeutschland daher aktiv für einen positiven Abschlussder Überprüfungskonferenz im kommenden Mai einset-zen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat AgnieszkaBrugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dasWort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In vierTagen beginnt die Überprüfungskonferenz zum Nicht-verbreitungsvertrag. Es ist das wichtigste Regime in derinternationalen Abrüstungspolitik. Die Verhandlungenstehen leider unter keinem guten Stern, und die Erwar-tungen sind mehr als bescheiden. Man hofft darauf, dassman das, was man vor fünf Jahren erreicht hat, noch ein-mal festschreiben kann und dass es überhaupt zu einerEinigung kommt.Liebe Kollegin Höger, ich meine, man kann an die-sem Koalitionsantrag zu Recht viel kritisieren, aber dieForderung, dass sich die EU mit Blick auf diese so wich-tige Konferenz um eine gemeinsame Position bemühensolle, ist richtig und unterstützenswert. Ich finde, es wäreein Drama, wenn die Europäische Union in dieser wich-tigen Frage keine einheitliche Haltung hätte. Das wäre
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9712 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Agnieszka Brugger
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ein großer Rückschritt für die internationale Abrüstungs-politik.
Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass sich die in-ternationalen Rahmenbedingungen für Abrüstung in denletzten Jahren – gerade im Zusammenhang mit derUkraine-Krise – verschlechtert haben, dann sollte mannicht so darauf reagieren wie die Bundesregierung undnur lethargisch die Achseln zucken. Genau das machenSie von der Koalition mit Ihrem Antrag. Vielmehr sollteman sagen: Gerade weil die Lage so schlecht ist, mussman Ausschau halten, wo es neue Ideen und Initiativengibt und wo neue Dynamik entsteht.Es gibt beispielsweise, aus der Zivilgesellschaft ange-stoßen, die Humanitäre Initiative, die die fatalen ökolo-gischen, aber auch humanitären Folgen eines Atomwaf-feneinsatzes kritisiert. Mittlerweile sind 155 Staatendieser wichtigen Initiative beigetreten, die viel Dynamikund Hoffnung in die Debatte gebracht hat. Deutschlandwar aber mit Verweis auf seine NATO-Mitgliedschaftbisher nicht dazu bereit.Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, for-dern jetzt in Ihrem Antrag, dass Deutschland sich weiteran den Diskussionen beteiligen soll. Kleiner geht eswohl nicht mehr.
Wie weitere konkrete Ideen aussehen könnten und wasDeutschland selbst tun könnte, um neue Bewegung indas Thema hineinzubringen, haben wir schon vor Wo-chen in unserem grünen Antrag deutlich aufgezeigt. Eswäre gut gewesen, wenn Sie ihn noch einmal gelesenund sich ein bisschen daraus bedient hätten. Denn Ihrelustlose und ideenlose Haltung zur Humanitären Initia-tive ist nur ein Beispiel, warum Ihr Antrag wenig über-zeugend ist.Ihr Antrag bedeutet auch einen Rückschritt. Vor fünfJahren hat sich der gesamte Bundestag nach langen Ver-handlungen auf eine gemeinsame Position verständigenkönnen. Es war ein sehr wichtiges Zeichen, das von die-sem Parlament aus auch bis in die Verhandlungen derÜberprüfungskonferenz hineingestrahlt hat, was interna-tional sehr breit wahrgenommen wurde. Wir waren zuVerhandlungen bereit. Es gab auch erste Gespräche. Siesind ausgestiegen. Ich finde das parteipolitisch kleinka-riert. Das ist die Arroganz dieser Großen Koalition.
Sie hätten noch einmal den alten, guten Antrag lesensollen. Wir haben uns damals auf die Forderung geei-nigt, dass die 20 US-amerikanischen Atombomben, diesich derzeit noch in Büchel in Rheinland-Pfalz befinden,abgezogen werden sollen. Ein atomwaffenfreies Deutsch-land ist doch ein wichtiges Ziel, gerade wenn man auf in-ternationaler Ebene glaubwürdig für nukleare Abrüstungstreiten will. Das ist, finde ich, das Schlimmste an IhrerInitiative: In dem von Ihnen vorgelegten Antrag findetsich diese Forderung nicht mehr. Sie haben sich damitoffensichtlich von diesem Ziel verabschiedet. Das istvöllig falsch.
Ihr Antrag wirft uns damit um Jahre zurück. Ich kannauch nicht verstehen, wie eine Partei wie die SPD, dieden Anspruch an sich hat, Friedens- und Abrüstungspar-tei zu sein, so etwas unterstützt. Das ist mir wirklichschleierhaft.Ebenso schleierhaft ist mir auch, warum der KollegeCarsten Müller aus der Union in der letzten Debatte zuunserem grünen Antrag vom „sicheren Schoß der nu-klearen Teilhabe der NATO“ gesprochen hat. Das ist indoppelter Hinsicht Humbug: Diese Waffen haben keinenmilitärischen Zweck, und Atomwaffen bzw. Massenver-nichtungswaffen machen die Welt nicht sicherer. NurAbrüstung bringt am Ende des Tages mehr Frieden undSicherheit für alle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,es wäre besser gewesen, wenn Ihre ideenlose und mut-lose Initiative den Bundestag nicht erreicht hätte. Dennsie revidiert eine zentrale Position und bringt uns keinenSchritt weiter in der Forderung nach einem Deutschland,das frei ist von Atomwaffen. Wer so wenig Engagementin dieser Frage zeigt, kann sich zwar den Erfolg derÜberprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertragwünschen. Er muss sich aber auch fragen lassen, was erselbst dazu beigetragen hat.Wir Grüne werden weiter dafür streiten, dassDeutschland der Humanitären Initiative beitritt und sichfür die weltweite Ächtung der Atomwaffen einsetzt unddass die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen wer-den. Wir werden auch weiter gegen einen gefährlichenModernisierungskurs bei diesen Massenvernichtungs-waffen streiten.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang
Hellmich von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut,dass der Bundestag in vielen Debatten immer wieder diegemeinsame Position deutlich gemacht hat: Wir wolleneine Welt ohne Atomwaffen. Ich denke, diese Aussageeint uns.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9713
Wolfgang Hellmich
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Wir waren in dieser Frage schon einmal wesentlichweiter. Ich denke an das Jahr 2010, in dem dieser Bun-destag einen gemeinsamen Beschluss – ich glaube, da-mals ohne die Linken – gefasst hat, in dem eine gemein-same Position für die Überprüfungskonferenz formuliertwurde. Das hat die Konferenz im Jahr 2010 vorange-bracht.Wir sollten uns darum bemühen, dass wir durch einengemeinsamen Beschluss dieses Parlaments auch zu derjetzt anstehenden Konferenz Ideen einbringen und demProzess einen Schub verleihen, damit die Konferenz, diein der Tat – mehrere haben es hier beschrieben – untereinem nicht gerade guten Stern steht – sie steht vielmehrunter einem schlechten Stern; ich erinnere an die ver-schärfte internationale Lage –, trotzdem zu guten Ergeb-nissen in einem Abschlussdokument kommt, die dieKonferenz weiterbringen und die das System von Abrüs-tungsverträgen als Kern einer weltweiten Friedensord-nung am Leben erhalten bzw. weiterbringen.Wir leben in einem Jubiläumsjahr. Es ist daran erin-nert worden: Vor 70 Jahren gab es den ersten Abwurfvon Atombomben, vor 100 Jahren die erste Anwendungvon Giftgas im Ersten Weltkrieg. Wir leben in einemJahr, in dem viele schreckliche Ereignisse ihren Jahres-tag haben. Wir können in diesem Jahr aber auch deutlichmachen: Ohne internationale Verträge und ohne das ge-meinsame Formulieren gleicher Ziele, ohne den Willen,zu Abrüstungsschritten zu kommen, werden wir aus derRüstungsdynamik nicht herauskommen. Wir müsseneine Dynamik hin zu mehr Abrüstung erreichen. In die-sem Zusammenhang spielt die Überprüfungskonferenzeine wichtige Rolle. Es müssen dort Schritte vereinbartwerden, damit der gemeinsame Wille zur Abrüstungdeutlich wird.Die Kernaufgabe liegt bei den Großen in dieser Welt,bei denjenigen, die entscheidend über die Frage vonAtomwaffen verhandeln. Von denen erwarten viele Staa-ten gerade im Zuge der Konferenz, dass man bei denVerhandlungen weiterkommt. Das betrifft auch die Ver-handlungen über den Abzug von Atomwaffen ausEuropa. Das ist keine unilaterale Veranstaltung, sonderndas ist eine bilaterale Frage, die in den Verhandlungenzwischen Russland und den USA geklärt werden muss.Das muss im Mittelpunkt der Gespräche auch dieserKonferenz stehen, damit klar ist, wo die Verantwortungliegt. Es geht auch darum, den Staaten, die auch Unter-zeichner des NVV sind und die keine Atomwaffen ha-ben, aber vielleicht danach streben, deutlich zu machen,dass wir auf dem Weg zur Abrüstung atomarer Waffenklare und deutliche Fortschritte erzielen wollen.
Es ist richtig: Gespräche über atomwaffenfreie Zonenim Nahen Osten und in anderen Regionen der Welt zuführen, muss auch das Bestreben der Bundesregierungsein. Wenn ich die Gespräche, auch die Beratungen imUnterausschuss, richtig verstanden habe, ist es nicht so,dass unsere Regierung die Hände in den Schoß legt; viel-mehr bemüht sie sich in vielen Gesprächen und auf vie-len internationalen Konferenzen, in dieser Frage einStück weit weiterzukommen. Sie setzt sich dafür ein, dieFinanzierung der Internationalen Atomenergie-Organi-sation so zu gestalten, dass sie auch als Verifikationsor-gan gestärkt wird. Sie bemüht sich – das ist ein wesentli-cher Punkt –, den NVV nicht isoliert zu betrachten,sondern ihn in andere Abrüstungs- und Vertragssystemeeinzubeziehen, den Atomteststoppvertrag CTBT weiter-zuentwickeln und weitere Unterzeichner für diesen Ver-trag zu gewinnen.Wir müssen in der Tat zu einem gemeinsamen euro-päischen Standpunkt kommen. Ich denke, im Kern dereuropäischen Strategie, die zu formulieren ist, wird auchdie Frage der atomaren Abrüstung und der Weiterent-wicklung der Abrüstungsregime eine zentrale Rolle spie-len müssen. Auch in dieser Hinsicht bemüht sich dieBundesregierung, die Diskussion weiterzubringen. Be-richte liegen auf dem Tisch. Ich denke, das ist ein Punkt,wo die Bundesregierung unter Beweis stellt, dass siesich aktiv dafür einsetzt, dass es zu weniger atomarerRüstung kommt.Es gibt aber einen Zusammenhang, den wir sehen undden wir diskutieren müssen. Wir können den NVV undandere Verträge nicht losgelöst von der konventionellenRüstung sehen. Wenn in der Militärdoktrin der Russi-schen Föderation steht, Russland behalte sich das Rechtvor, als Antwort auf den Einsatz von Atomwaffen oderanderen Massenvernichtungswaffen gegen sie und/oderihre Verbündeten sowie bei einer Aggression gegen dieRussische Föderation unter Einsatz konventionellerWaffen Atomwaffen einzusetzen, dann sieht man denZusammenhang zwischen dieser Strategie und denAtomwaffen.Ich komme zum Schluss: Die Fortsetzung des KSE-Prozesses, die Aufnahme weiterer Gespräche, die Be-kräftigung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Platt-form zur Rüstungskontrolle im Rahmen des Wiener Do-kumentes – das sind die richtigen Signale. Damit leistenwir auf der europäischen Ebene die Beiträge, die wirdringend brauchen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. StimmenSie bitte diesem Antrag zu. Ich fordere alle, die in NewYork bei den Diskussionen dabei sein werden, auf, diesaktiv zu vertreten.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Hans-
Peter Uhl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Am kommenden Montag kommen die Teil-nehmer zur neunten Überprüfungskonferenz zum Atom-waffensperrvertrag in New York zusammen. Die Bilanzist aus heutiger Sicht durchwachsen. Die letzte Überprü-
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9714 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Dr. Hans-Peter Uhl
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fungskonferenz im Jahr 2010 sendete noch positive Si-gnale aus. Erstmals seit 2000 konnte man sich wiederauf ein Abschlussdokument verständigen. Zudem wurdeein Aktionsplan verabschiedet. Die Vorbereitungen fürdiese Konferenz im Jahr 2015 zeigen jedoch: Trotz derpositiven Signale aus dem Jahr 2010 ist es nicht zu einerstärkeren Annäherung der Teilnehmer gekommen. Beivielen Themen liegen die Positionen diametral auseinan-der.Die aktuelle weltpolitische Lage belastet die Konfe-renz in der Tat zusätzlich. Die Annexion der Krim durchRussland bedeutet einen schweren Rückschlag für denBereich der nuklearen Abrüstung. Russland verletzt mitder Annexion das Völkerrecht. Das wird allgemein sogesehen. Insbesondere aber der Bruch des BudapesterMemorandums von 1994 ist ein schwerer Schlag. In die-sem Memorandum wurden der Ukraine die Unabhängig-keit und die politische Integrität garantiert. Im Gegenzugverpflichtete sich Kiew, dem Atomwaffensperrvertragbeizutreten und die Rückführung aller Atomwaffen nachRussland durchzuführen. Russlands Vertragsbruch ist fa-tal. Sein Verhalten ist kontraproduktiv für die weltweitenBemühungen, eine neue Dynamik nuklearer Aufrüstungzu vermeiden. Hinzu kommt, dass Moskau in jüngsterZeit seine Nuklearwaffen nicht abrüstet, sondern moder-nisiert und deren Einsatzschwelle absenkt. Drohungenmit nuklearen Mitteln gehören wieder zur russischenRhetorik.Umso erfreulicher sind die positiven Signale aus Lau-sanne von Anfang April. Die Verhandlungen zu einemgeordneten Atomprogramm mit dem Iran sind auf einemguten Weg. Die Verständigung über Eckpunkte ist auchdem unermüdlichen Einsatz des deutschen Außenminis-ters Frank-Walter Steinmeier zu verdanken, und dassollte hier erwähnt werden. Alle Unterstützung muss nuneinem erfolgreichen Verhandlungsabschluss mit demIran bis zum Sommer gelten.Der Atomwaffensperrvertrag ist als Stabilitätsankerheute wichtiger denn je. Deutschland ist bereit, mehr au-ßenpolitische Verantwortung zu übernehmen. Dazu ge-hört auch, dass wir international weiterhin eine wichtigeund aktive Rolle bei Abrüstung und Nichtverbreitungvon Atomwaffen einnehmen. Deshalb muss die deutscheDelegation ihr ganzes diplomatisches Verhandlungsge-schick nutzen, um trotz schwieriger Bedingungen ver-nünftige Abrüstungsvereinbarungen zu erreichen.Ich bedanke mich.
Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte
hat Dr. Katja Leikert, ebenfalls von der CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn es ein internationales Rüstungskontroll-regime gibt, für das wir uns starkmachen sollten, dann istdas allen voran das Nichtverbreitungsregime. Durchseine klaren Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahrenhat der NVV die Spielregeln zwischen den Staaten mitBlick auf Erwerb und Entwicklung von Kernwaffen so-wie die zivile Nutzung von Nukleartechnologie unmiss-verständlich festgelegt. Für mich steht fest, dass er inden letzten 45 Jahren unsere Welt sicherer gemacht underheblich zu mehr Vertrauen zwischen den Staaten bei-getragen hat.Beachtliche 190 Staaten haben das Vertragswerk mitt-lerweile unterzeichnet. Lediglich Indien, Israel, Pakistanund Südsudan sind keine Mitglieder, und Nordkoreazähle ich nicht mehr dazu. Iran gehörte hingegen zu denersten Unterzeichnerstaaten im Jahr 1968.In wenigen Tagen beginnt die Überprüfungskonferenzzu diesem sogenannten Atomwaffensperrvertrag, und esliegt an uns, dass wir uns für ein erfolgreiches Gelingeneinsetzen; denn es bestehen weiterhin große Herausfor-derungen, bis wir die Global Zero, also eine Welt ohneAtomwaffen, erreichen. So verfügen heute Indien, Pakis-tan und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Nordkoreaüber Atomwaffen.Neben dem Problem der Weiterverbreitung ist auchdas Thema „Abrüstung bei Kernwaffenstaaten“ nach wievor aktuell. Immerhin ist die Zahl der weltweit statio-nierten Atomsprengköpfe in den letzten fünf Jahren ummehr als ein Viertel gesunken: von 22 000 auf 16 000.Aber erstens sind das natürlich immer noch viel zu vieleSprengköpfe, und zweitens arbeiten die Atomwaffen-staaten nach wie vor an der Modernisierung ihrer Nukle-arsysteme, allen voran Russland. Gerade mit Blick aufdie unverhohlenen Drohungen mit dem Einsatz nuklea-rer Mittel durch Russland kann ich die Putin-Verstehereinmal weniger verstehen. Wer sich über sämtliche Be-stimmungen des Völkerrechts hinwegsetzt, ist nicht im21. Jahrhundert angekommen.
Da manche Staaten zur Sicherung ihres Überlebens nachwie vor auf Realpolitik der alten Schule setzen wie Auf-rüstung und Expansion, bleibt die Bemühung um inter-nationale Regeldurchsetzung gerade in dem hochsen-siblen Bereich der Kernwaffen für mich so aktuell wievor 45 Jahren.Jetzt steht die nächste Überprüfungskonferenz zumNVV an. Wir von der schwarz-roten Koalition nehmendies zum Anlass, die Bundesregierung aufzufordern,verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, damit eineneue Dynamik nuklearer Aufrüstung und eine Weiter-verbreitung von Atomwaffen vermieden werden.Es wäre jetzt natürlich leicht, angesichts dieser globa-len Dimension zu sagen: Die Herausforderungen sind zugroß. Man sollte die Erwartungen an die Überprüfungs-konferenz so niedrig wie möglich hängen. – Da ist es na-türlich wie immer im Leben: Wenn man keine Erwartun-gen hat, dann kann man auch nicht enttäuscht werden.So einfach können wir uns das nicht machen.
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Dr. Katja Leikert
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Bei allen Schwächen eines internationalen Regimesgibt es auch sehr viel Positives. Iran ist das beste Bei-spiel. Ich bin überzeugt davon, dass überhaupt nur durchdie offenen Kommunikationskanäle, die das NV-Regimebietet, der aktuelle Verhandlungserfolg erzielt werdenkonnte. Natürlich waren wir alle skeptisch. Ich denke je-doch, dass angesichts der Verhandlungen Optimismusnun umso mehr begründet ist.Dank der auch von deutscher Seite so engagiert ge-führten Verhandlungen ist der Weg Irans zur Atom-bombe nun langfristig ausgeschlossen. Teheran ver-pflichtet sich ganz konkret, in den kommenden zehnJahren mehr als zwei Drittel der bestehenden Urananrei-cherungskapazitäten stillzulegen. Über 95 Prozent desbereits angereicherten Urans sollen entweder verdünntoder außer Landes gebracht werden. Was die kommen-den Jahre angeht, so sollen die Anreicherung und For-schung ausschließlich zu zivilen Zwecken und nur in en-gen Grenzen erlaubt sein – bei engmaschigen Kontrollendurch die IAEO.Der Hebel, mit dem die E3+3 den Durchbruch bei denNuklearverhandlungen erzielt haben, sind ganz klar diewirtschaftlichen Anreize. Dazu werden die Sanktionenschrittweise gelockert. Wir sehen also ein ganz realpoli-tisches Geben und Nehmen. Vielleicht ist das auch eineBlaupause für all diejenigen Staaten, die bisher demNVV noch nicht viel abgewinnen konnten.Was wir aus den E3+3-Verhandlungen ebenfalls mit-nehmen können: Deutschland kommt seiner internatio-nalen Verantwortung als westlicher Nichtnuklearwaffen-staat erfolgreich nach und sollte dies weiterhin verstärkttun. Ich finde, wir haben eine besondere Vermittlerrollezwischen den Nuklearwaffenstaaten und den Nichtnuk-learwaffenstaaten. Ich sage dies ganz bewusst mit Blickauf die anstehende Überprüfungskonferenz und auch vordem Hintergrund der hier im Hause geführten Diskussio-nen der vergangenen 25 Jahre über Deutschlands Rollein der Welt: Es gibt keinen Grund für eine Zurückhal-tung mit unseren Positionen. Der multilaterale Kurs insämtlichen Bereichen unserer Außenpolitik, auch in derAbrüstungspolitik, ist richtig. Die umsichtige und zu-gleich unmissverständliche Art und Weise unseres Au-ßenministers, der hier schon öfter zu Recht gelobtwurde, verkörpert diesen Ansatz sehr treffend.
Das Ziel „Eine Welt ohne Atomwaffen“ ist kein poli-tisches Pathos. Es ist aber nur durch gemeinsames politi-sches Handeln erreichbar. Hier liegt es an uns, sich im-mer wieder für dieses Ziel einzusetzen. Daher freuen wiruns über die Unterstützung für unseren Antrag.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-mit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den An-trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck-sache 18/4685 mit dem Titel „Die NVV-Überprüfungs-konferenz zum Erfolg führen“. Wer stimmt für diesenAntrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalitiongegen die Stimmen der Opposition angenommen wor-den.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4681 mit demTitel „Die europäische Sicherheitsstruktur retten – Über-einkommen in Gefahr“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Wer stimmt dagegen? – Damit ist dieser Antrag mit denStimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die Grünengegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehntworden.Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27:Beratung des Antrags der AbgeordnetenElisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGute Versorgung am Lebensende sichern –Palliativ- und Hospizversorgung stärkenDrucksache 18/4563Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dagegenWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das auchso beschlossen.Wir beginnen mit der Aussprache. Als erste Rednerinhat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg von Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Viele Menschen haben große Angst vor derletzten Lebensphase. Diese ganz natürliche Angst vordem Sterben verstärkt sich noch durch die Angst, einsamzu sterben: einsam in einem Krankenhaus, einsam in ei-nem Pflegeheim. Wir alle haben Angst davor, vielleichtder Familie zur Last zu fallen oder sogar der ganzen Ge-sellschaft. Wir haben Angst davor, Schmerzen ertragenzu müssen, Schmerzen, die vielleicht niemand lindernkann.Natürlich können wir, das Parlament, diese Ängstehier nicht einfach auf Knopfdruck beseitigen. Wir kön-nen aber dafür sorgen, dass sich jeder schwerstkranke
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Elisabeth Scharfenberg
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und auch jeder sterbende Mensch auf eine gute und wür-dige Versorgung am Lebensende verlassen kann.
Dabei darf es keine Rolle spielen, ob ein Mensch in derStadt oder auf dem Land lebt. Es darf keine Rolle spie-len, ob es sich um ein Kind oder um eine Bewohnerin ineinem Pflegeheim handelt. Zum Glück für uns alle istdie Palliativ- und Hospizversorgung in unserem Land inden letzten Jahren viel besser geworden. Problematischist aber, dass diese Versorgung nicht allen Menschen zu-gänglich ist. Deshalb ist es grundsätzlich gut, dass Ge-sundheitsminister Gröhe vor kurzem einen Referenten-entwurf für ein Hospiz- und Palliativgesetz vorgelegthat. Wir Grüne im Bundestag bringen heute unsere Vor-schläge dazu ein.Ich werde gleich auf die Inhalte eingehen. Zuerst habeich aber noch eine Bitte an die Vorstände der Koalitions-fraktionen. Ich bitte Sie ganz herzlich: Gehen Sie diesesfür uns alle so wichtige Thema doch bitte etwas vorsich-tiger und sensibler an. In Ihrem Vorstandsbeschluss zurHospiz- und Palliativversorgung vom 16. April 2015vermengen Sie dieses Thema mit der sogenannten akti-ven Sterbehilfe. Das ist nicht sonderlich hilfreich. Dasstiftet nur Verunsicherung bei den Menschen. DasThema „aktive Sterbehilfe“ hat weder etwas mit Pallia-tiv- und Hospizversorgung noch mit der Debatte um denassistierten Suizid zu tun.
Die Debatte zur Hospiz- und Palliativversorgung ist vonhoher symbolischer Bedeutung.Wir alle müssen hier unsere Worte sehr gut wählen.Ganz besonders wichtig ist: Wir dürfen uns nicht daraufzurückziehen, nur schöne, empathische Worte zu finden.Es darf nicht nur bei symbolischen Maßnahmen bleiben!
Diesen Eindruck habe ich aber leider bei manchenRegelungen, die im Entwurf von Herrn Gröhe vorgese-hen sind. Es gibt in dem Entwurf einiges, das wir sofortunterschreiben können. Darin ist zum Beispiel auch vonder Stärkung der allgemeinen ambulanten Palliativver-sorgung, der sogenannten AAPV, die Rede. Es gibt darinaber auch einige Allgemeinplätze. Die zentralen Fragenumschiffen Sie. Sie unternehmen nichts gegen den dra-matischen Personalmangel in der Pflege, und Sie tunnichts zur Verbesserung der leider rückständigen deut-schen Forschung in diesem Bereich. Ebenfalls nichts tunSie zur Verbesserung der Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Wir Grüne wünschen uns von der Großen Koalition hierweniger Kleinmut und mehr Weitblick.
Dabei geht es nicht nur um mehr Geld, sondern auch umDinge, die erst einmal ganz unerheblich wirken, ver-meintlich kleine Dinge, die dann aber am Ende des Ta-ges eine ganz große Wirkung haben.Wir müssen die Angehörigen sterbender Menschenviel besser unterstützen. Dazu sagen Sie kaum etwas.Wir fordern in unserem Antrag, dass die Krankenkassenkünftig auch Angebote der Trauerbegleitung für Ange-hörige mitfinanzieren. Das wird übrigens nicht viel Geldkosten. Viele Angehörige fühlen sich schon während ei-ner Sterbebegleitung alleine gelassen. Für viele kommtaber die richtig harte Zeit erst danach. Dann gibt es Ein-samkeit und Erschöpfung, und dann gibt es natürlichauch die Ängste vor dem eigenen Sterben. Das kannkrank machen. Häufig leiden Trauernde in der Folge anDepressionen. Hier ist eine gezielte Prävention enormhilfreich, und Trauerbegleitung ist ein Teil davon.
Ein ganz elementarer Punkt ist die Personalsituationin der Pflege. Sie schreiben in Ihrem Entwurf, Ziel seies, die Versorgung Sterbender vor allem in stationärenPflegeeinrichtungen zu verbessern. Dieses Ziel ist rich-tig. Häufig aber ist das weder fachlich noch kulturellnoch finanziell zu stemmen. Es fehlt oft an allen Eckenund Enden an Personal. So können Pflegekräfte einfachkeine würdige Pflege für die Sterbenden leisten. DiePflegekräfte selbst leiden doch auch sehr unter dieser Si-tuation.Viele Einrichtungen haben einfach nicht genügendLeute, um eine gute Pflege sowie eine gute Palliativ- undHospizversorgung zu leisten. Darauf geben Sie im Mo-ment noch keine Antwort. Das dürfen wir aber nicht län-ger so laufen lassen! Deswegen fordern wir in unseremAntrag die Einführung von „verbindlichen Personalbe-messungsinstrumenten“.
Ich weiß, „Personalbemessungsinstrument“ ist ein sper-riges Wort. Es geht hierbei darum, in Pflegeheimen undKrankenhäusern objektiv festzustellen, wie viel Personalfür welche Tätigkeit gebraucht wird. Uns allen hier istdoch klar: Schon für die Pflege an sich, aber auch für diePalliativ- und Hospizversorgung brauchen die Einrich-tungen einfach viel mehr Hände, als derzeit da sind.
Das wird Geld kosten. Wir Grüne sagen schon seit vielenJahren: Für eine bessere Pflege darf der Einsatz vonmehr Finanzmitteln kein Tabu sein. Das gilt genauso fürdie Palliativ- und Hospizversorgung.Gute Pflege kostet Geld. Wir werden sie nicht zuDumpingpreisen bekommen. So denken nicht nur wirhier im Parlament. Die breite Mehrheit der deutschenBevölkerung sieht das doch genauso. Uns muss wirklichnoch einmal deutlich werden: Gute Pflege geht uns allean!
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Elisabeth Scharfenberg
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Meine Damen und Herren, genau jetzt ist der Zeit-punkt, genau jetzt kann die Hospiz- und Palliativversor-gung verbessert werden! Wir Grüne wirken sehr gernekonstruktiv daran mit.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Emmi
Zeulner von der CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ichfreue mich, dass Sie uns heute einen Anlass geben, überdie Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung inDeutschland zu diskutieren. Die Verantwortlichen in Ih-rer Fraktion haben einen sehr guten Antrag ausgearbei-tet. Viele Ihrer Vorschläge finden sich in unserem Eck-punktepapier wieder. Auf der Grundlage dieserEckpunkte werden wir in Kürze einen Gesetzentwurfeinbringen.Bei der Erarbeitung dieses Entwurfs haben wir engund konstruktiv mit dem Ministerium zusammengear-beitet. Ich möchte mich ausdrücklich bei MinisterHermann Gröhe und Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz für die vertrauensvolle und zielorientierte Zusam-menarbeit bedanken.Es ist unser Anspruch, schwerstkranken und sterben-den Menschen die Errungenschaften der Hospiz- undPalliativversorgung unabhängig von ihrem Wohnort undihrem Versichertenstatus zugänglich zu machen. Geradevor dem Hintergrund der Debatte um die Suizidbeihilfeist eine Stärkung so wichtig. Denn egal wie die Gesetz-gebung dort ausfällt: Für eine selbstbestimmte Entschei-dung am Lebensende gilt, zuerst alle Möglichkeiten derHospiz- und Palliativversorgung ausschöpfen zu können.
Deshalb ist die Aufklärung in diesem Bereich so wich-tig.Mit dem Gesetz werden wir die Krankenkassen in diePflicht nehmen, ihre Versicherten über entsprechendeLeistungen zu informieren. Zudem werden wir Versor-gungsplanungen für die letzte Lebensphase in Pflegehei-men auch erstattungsfähig machen. Das ist eine Antwortauf die berechtigte Sorge von Pflegebedürftigen und ih-ren Angehörigen, dass bei den heutigen medizinischenMöglichkeiten eine Übertherapie stattfindet. Gerade dieskonterkariert den Gedanken der Hospiz- und Palliativ-versorgung.So ist es mir auch ein großes Anliegen, dass wir beider Finanzierung der Palliativstationen nachbessern. DasFallpauschalensystem, wie es in Krankenhäusern üblichist, belohnt ein Mehr an Leistung mit mehr Geld. Daspasst einfach nicht für Palliativstationen. TagesgleichePflegesätze hingegen machen die Vergütung unabhängigvon erbrachter Therapie. Wenn ein Sterbenskrankerkeine Musiktherapie mehr haben möchte, dann sollte dasohne einen finanziellen Nachteil für die Station möglichsein. Zukünftig wollen wir eine echte Wahlmöglichkeitzwischen den Systemen schaffen. Es wird Krankenhäu-sern per Gesetz das Recht zugesprochen, gegenüber denKassen die Abkehr vom DRG-Entgeltsystem auf Pallia-tivstationen zu erklären, wenn sie es wollen.Des Weiteren halte ich es wie Sie für unbedingt not-wendig, die Hospizbewegung mit ihren Einrichtungennoch mehr zu unterstützen; denn dort wird unschätzbarwertvolle Arbeit erbracht, vieles davon ehrenamtlich. Sowerden künftig Erwachsenenhospize bei den zuschussfä-higen Kosten mit Kinderhospizen gleichgestellt, und derkalendertägliche Mindestzuschuss wird von 7 auf 9 Pro-zent angehoben.Auf ambulante Hospizdienste kommt eine Vielzahlvon Aufgaben zu, zum Beispiel die Betreuung von An-gehörigen. Ihre Aufgaben umfassen zudem zum einendie palliativpflegerische Beratung, zum anderen die Ge-winnung, Schulung, Koordination und Unterstützung derehrenamtlich tätigen Personen, die für die Sterbebeglei-tung zur Verfügung stehen. Auch die Netzwerkarbeitzwischen den vielen Akteuren wird von den Hospiz-diensten bewältigt. Bei der Erfüllung dieser vielfältigenAufgaben stoßen die Dienste oftmals an ihre Kapazitäts-grenzen. Es ist uns ein Anliegen, diese bei ihrer wertvol-len Arbeit weiter zu unterstützen. Deshalb werden wiralles daransetzen, Finanzierungslücken, die es tatsäch-lich gibt, zu schließen.
Auch Ärzte, die besonders qualifiziert sind und inter-professionell mit anderen Leistungserbringern kooperie-ren, sollen künftig eine Zusatzvergütung erhalten. Damitschaffen wir Anreize für eine Weiterbildung der bereitspraktizierenden Mediziner. Dass die Kooperation undVernetzung zwischen den einzelnen Akteuren weiterausgebaut werden muss, ist als dringendes Handlungs-feld erkannt. Nicht nur in Pflegeheimen, auch in Kran-kenhäusern möchten wir ambulanten Hospizdiensten dieMöglichkeit eröffnen, Sterbebegleitung zu leisten. Zu-dem soll die ärztliche Versorgung in Pflegeeinrichtungenausgebaut werden.Schließlich gilt es, den Ausbau der SAPV weiter zuforcieren. Gerade in ländlichen und strukturschwachenRegionen gibt es noch weiße Flecken. Insbesondere dieMöglichkeit, schwerstkranke Kinder und Jugendliche zuHause zu versorgen, ist heute noch ungenügend. DenAbschluss von SAPV-Verträgen wollen wir durch Ein-führung eines Schiedsverfahrens künftig erleichtern.Ich stimme schließlich mit Ihnen überein, liebe Frak-tion Die Grünen, dass die Forschung im Bereich derHospiz- und Palliativversorgung ausgebaut werdenmuss. Wir brauchen mehr Evidenzbasierung, auch imBereich der Trauerbegleitung. Um dem Anspruch einerhochwertigen Palliativversorgung gerecht zu werden,
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Emmi Zeulner
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müssen wir im Bereich der Forschung noch deutlichmehr tun. Aber dazu stehen wir auch im Austausch mitdem Forschungsministerium und dem ParlamentarischenStaatssekretär Müller sowie den Vertretern der Chartazur Betreuung schwerstkranker und sterbender Men-schen.Wenn wir uns anschauen, woher wir kommen – vonder Hospizbewegung zu den Hausärzten, die schon im-mer Begleiter sterbender Menschen waren und sind, zurspezialisierten ambulanten Palliativversorgung, die erst2007 als Leistungsbestandteil in die gesetzliche Kran-kenversicherung aufgenommen wurde, bis hin zum Fest-schreiben der Palliativmedizin als Pflichtfach im Medi-zinstudium im Jahr 2009 –, dann sind wir schon einenlangen Weg gegangen. Die von unten gewachsene Struk-tur umfasst sehr viel Qualität und sehr viel Engagementund Einsatz der Beteiligten. Es ist uns ein Anliegen,diese weiter zu fördern und zu unterstützen.Ich würde mich freuen, wenn wir miteinander an denbestmöglichen Lösungen arbeiten könnten. Denn es ist –wie auch Sie, liebe Kollegin Scharfenberg, gesagt haben– ein Thema, das jeden von uns ganz persönlich betrifft.Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Pia
Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Würde des Menschen ist unantastbar,und das gilt für alle Menschen in diesem Land.
Alle Menschen, unabhängig von Alter, Lebenslage undLebensverlauf, müssen ein gesetzlich und praktisch gesi-chertes Anrecht darauf haben, frei zu wählen, ob sie inder letzten Phase ihres Lebens zu Hause, im Hospiz oderin einer Pflegeeinrichtung ihren Bedürfnissen entspre-chend palliativmedizinisch versorgt und palliativ ge-pflegt werden wollen.
Meine Damen und Herren, es geht hier um ein Men-schenrecht; es geht um die „Dreieinigkeit“, die staatlichePflicht, die Menschenrechte zu achten, zu schützen undzu gewährleisten.Aus den Erfahrungen meiner langjährigen Tätigkeitin der Pflege kann ich bestätigen: Der vorliegende An-trag der Grünen bietet Ihnen von der Großen Koalitionein gutes Angebot, Ihre bisherigen Positionen zu über-prüfen, zu erweitern und die bestehenden Ungleichhei-ten aufzuheben.Ihr Antrag, geschätzte Kolleginnen und Kollegen vonden Grünen, ist in einigen Fragen allerdings noch aus-baufähig. Angesprochen haben Sie zum Beispiel dieHospiz- und Palliativversorgung in stationären Pflege-einrichtungen. Wir sind der Auffassung, dass sicherge-stellt werden muss, dass in allen Einrichtungen einefachlich hochwertige palliative Pflege- und Hospizarbeitangeboten werden kann.
Wir sagen auch, dass dies nicht zu zusätzlichen Kostenfür die Menschen mit Pflegebedarf führen darf. GutePflege darf auch hier nicht vom Geldbeutel abhängigsein.
In deutschen Pflegeeinrichtungen – das ist noch einKnackpunkt – leben 764 000 Menschen; viele von ihnensind chronisch krank, schwerbehindert oder erkranken inder letzten Phase ihres Lebens schwer. Genau dieseMenschen haben aber so gut wie gar keinen Anspruchauf Hospizversorgung. Denn in der Rahmenvereinba-rung zu § 39 a Absatz 1 SGB V steht Folgendes – ich zi-tiere –:Die Notwendigkeit einer stationären Hospizversor-gung liegt grundsätzlich nicht bei Patientinnen undPatienten vor, die in einer stationären Pflegeeinrich-tung versorgt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das heißt, wir haben inDeutschland eine gravierende Ungleichbehandlung vonMenschen in der letzten Lebensphase. Diese Zweiklas-senbetreuung ist nicht hinnehmbar.
Eine ähnliche strukturelle Ungleichbehandlung gibtes bei der palliativmedizinischen Versorgung vonSchmerzpatienten in Pflegeeinrichtungen, und das trotzdes bestehenden Rechtsanspruchs auf spezialisierte am-bulante Palliativversorgung. Das liegt an der fachärzt-lichen und palliativmedizinischen Unterversorgung inAlten- und Pflegeheimen und daran, dass diese Einrich-tungen noch immer nicht ausreichend Schmerzmittel fürAkutsituationen vorhalten dürfen. Hier setzt der Antragvon den Grünen wiederum die richtigen Akzente.Meine Damen und Herren, in den letzten zehn Jahrenhat sich die Zahl der Ehrenamtlichen in der Hospiz- undPalliativversorgung auf 100 000 verdoppelt. Dieses En-gagement ist nicht hoch genug zu bewerten. An dieserStelle gilt den Ehrenamtlichen mein besonderer Dank.
Aber das Ehrenamt muss eine Ergänzung bleiben. Bür-gerschaftliches Engagement ist kein Ersatz für fehlendeFachkräfte und aufsuchende Pflege. BürgerschaftlichesEngagement darf nicht missbraucht werden, um vorhan-dene strukturelle Defizite zu verschleiern. Wir benötigeneine verbindliche Personalbemessung in gesetzlicherForm.
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Pia Zimmermann
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Ich teile daher diese Forderung im Antrag der Grünenausdrücklich, vermisse aber konkrete Vorschläge.Einig sind wir darin, dass die Hospiz- und Palliativ-versorgung eine besonders professionalisierte Pflegear-beit ist und dass es mehr Beratung, hospizliche Sterbebe-gleitung, Palliativteams und Pflegezeit geben muss. Dasgilt sowohl für Kliniken als auch für Pflegeeinrichtun-gen. Dafür braucht es aber eine konkrete Personalbemes-sung. Wir fordern mindestens zwei Vollzeitstellen pro100 Bewohnerinnen und Bewohner zusätzlich. Doch dasdarf nicht zu höheren Kosten für die Bewohnerinnen undBewohner führen.Auf den Punkt gebracht heißt das: Wer wirklich allenMenschen in Deutschland die Hospiz- und Palliativver-sorgung zugänglich machen will, muss den Einrichtun-gen den finanziellen Spielraum dafür bieten, muss dasPersonal, welches dafür benötigt wird, besser kalkulie-ren und die Ungleichheiten zwischen stationärer und am-bulanter Pflege sowie den Hospizen aufheben.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Helga Kühn-Mengel von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen von den Grünen, Sie legen heuteeinen Antrag vor, den wir in vielen Punkten unterstützenkönnen. An vielen Stellen sind seine Forderungen de-ckungsgleich mit denen der SPD. Das Entscheidende istaber: Wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen, den wirin der nächsten Zeit behandeln, vertiefen und sicherlichan manchen Stellen auch noch verändern werden.
Wir tun das – es ist schon mehrfach gesagt worden –,weil die Menschen Sorge darüber haben, was Selbstbe-stimmung, Würde und Wertschätzung auf der letztenWegstrecke des Lebens bedeuten. Wir müssen uns mitder Angst der Bürger und Bürgerinnen auseinanderset-zen, im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung ge-nau diese zu verlieren. Sie haben Angst davor, Schmer-zen zu haben, allein zu sein und womöglich anderen– auch dies ist schon gesagt worden – zur Last zu fallen.Die hospizliche und die palliative Versorgung kannmit der Besonderheit, dass dort haupt- und ehrenamt-liche Kräfte tätig sind, vieles leisten. Wir wissen vonjenen, die dort arbeiten, dass durch Schmerz- undSymptomkontrolle, durch Zuwendung und durch Beglei-tung der Wunsch nach Sterben häufig in den Hintergrundtritt, dass der Suizidgedanke aufgegeben wird – das istnicht nur durch Erfahrung, sondern auch durch Studienbelegt – und dass manche – so paradox es klingt – sogarwieder Lebensmut schöpfen. Deshalb muss man – ichbetone das ausdrücklich – zu den aktuellen Äußerungender Strafrechtslehrerinnen und -lehrer zu diesem Themaetwas sagen – ich will nicht vertieft darauf eingehen,weil ich nur wenige Minuten Redezeit habe –; denndiese haben den Kern der hospizlichen und palliativenVersorgung überhaupt nicht verstanden.
Sie differenzieren nicht, sie vermischen die Begrifflich-keiten, sie kritisieren die wirklich hervorragende Arbeitder Menschen in den Hospizen und auch im ambulantenBereich, und sie vernebeln das, was sie wirklich wollen.In den letzten Jahren wurden viele Verbesserungen er-reicht: die Förderung der ambulanten und stationärenHospizarbeit, die Stärkung des Ehrenamtes – natürlichals Ergänzung und nicht als Ersatz –, die Weiterentwick-lung der Schmerztherapie, die Einführung der speziali-sierten ambulanten Palliativversorgung mit einhergehen-der Qualifizierung der Ärzte und nicht zuletzt – auch dasist ganz wichtig – ein gesellschaftlicher Bewusstseins-wandel und eine ganz andere Auseinandersetzung mitdiesem Thema.Jetzt müssen wir mit den guten Angeboten und denrichtigen Weichenstellungen in die Fläche gehen. DerGesetzentwurf setzt Schwerpunkte bei der Weiterent-wicklung der ambulanten palliativen Versorgung, bei derVernetzung und Koordination in der Region, gerade imländlichen Raum, bei der Verbesserung der Finanzierungambulanter und stationärer Hospize, bei der Finanzie-rung der Palliativstationen, bei der Patientenberatungund bei Informationen zu Fragen der hospizlichen Ver-sorgung und Begleitung.Durch das Gesetz würde ein neuer Rechtsanspruchgeschaffen. Dieser neue Rechtsanspruch – die Kolleginhat es schon erwähnt – ist ein großer Fortschritt für dieVersicherten; denn eine bessere Aufklärung und Infor-mation der Betroffenen und ihrer Angehörigen ist wich-tige Voraussetzung für einen gerechten Zugang zu diesenVersorgungsangeboten, unabhängig vom sozioökonomi-schen Status und unabhängig von dem Ort, an dem dieMenschen in ihrer letzten Lebensphase versorgt werden.Es gibt Hinweise darauf, dass nur ein Fünftel der Pa-tienten und Patientinnen Zugang zu diesen Angebotenhat. Viele wissen gar nichts darüber. Es ist wichtig, dassdie Finanzierung der stationären und ambulanten Hos-pize verbessert wird und Zuschüsse angehoben werden.Wichtig ist aber auch, dass keine Vollfinanzierung vor-genommen wird, weil über das Ehrenamt und über dieSpenden das Thema in die Gesellschaft getragen werdensoll.Wir werden ausreichend Gelegenheit haben, den Ge-setzentwurf vertiefend zu behandeln und noch einmal ei-nen Blick auf die palliativpflegerische Versorgung in sta-tionären Einrichtungen wie Pflegeheimen zu werfen. Vorallem werden wir noch einmal den Bereich der ambulan-ten Krankenhausversorgung beleuchten. Das ist nämlichauch ein ganz wichtiger Punkt. Wir wissen, dass46,6 Prozent der Menschen, also knapp die Hälfte, in
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Helga Kühn-Mengel
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Krankenhäusern sterben. Wir müssen diesen ganzen Dis-kussionsprozess mit dem Charta-Prozess verbinden.Zum Schluss will ich zitieren, was ich auf einer Ver-anstaltung gehört habe: Hospiz ist kein Ort, Hospiz isteine Haltung.
Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Seit Einführung der Pflegeversicherung hat
die Pflegepolitik noch nie so viel Aufmerksamkeit erfah-
ren wie in dieser Legislaturperiode. Ich denke an die bei-
den Pflegestärkungsgesetze, an den Bürokratieabbau, an
die Neugestaltung des Pflege-TÜVs oder die Reform der
Pflegerausbildung. Aber auch das Versorgungsstär-
kungsgesetz und sogar das Präventionsgesetz kann man
im Kontext der Pflegeversicherung sehen. Die laufende
Legislaturperiode steht im Zeichen der Pflege. Es gibt
kein Gesetz im Gesundheitsbereich, das nicht direkt oder
mittelbar die Pflege in Deutschland verbessert. Das ist
eine wirklich gute Sache.
Der Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung ge-
hört folgerichtig ebenfalls zu unserer Pflegegesetzge-
bung. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag ja ver-
bindlich vereinbart, die Hospize weiter zu unterstützen
und die Versorgung mit Palliativmedizin auszubauen.
Ich gehe davon aus, dass der entsprechende Gesetzent-
wurf der Koalition bald den Weg ins Plenum finden
wird. Wir werden dann selbstverständlich auch die Vor-
schläge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in die Be-
ratung einbeziehen.
Es liegt auf der Hand, dass die Aufgaben der Pallia-
tiv- und Hospizversorgung, das Thema Patientenverfü-
gung und die Diskussion über die Sterbehilfe sich wech-
selseitig berühren und teilweise überschneiden. Der
Debatte über die Sterbehilfe möchte ich nicht vorgreifen.
Es geht heute um die Belange schwerstkranker und ster-
bender Menschen, und deren Belange sind ein eigenstän-
diges Anliegen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die beson-
dere Bedeutung von Patientenverfügungen hinweisen.
Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass wir den ge-
setzlich Versicherten zusammen mit der Information zur
Organspende künftig ab dem 50. Lebensjahr auch eine
entsprechende Information über Patientenverfügungen
zukommen lassen. Ich persönlich bin ein entschiedener
Anhänger und Verfechter der Patientenverfügung.
Sehr viele Menschen in unserem Land – wahrschein-
lich die meisten – lehnen eine medizinische Überversor-
gung dezidiert ab. Sie wollen nicht gegen ihren Willen
künstlich am Leben erhalten werden.
Diesen Wunsch nach einem Sterben in Würde haben
wir zu respektieren. Das entspricht einer humanen Ge-
sellschaft. Umgekehrt gilt: Niemand sollte sich den Tod
wünschen, um anderen nicht zur Last zu fallen. Und nie-
mand sollte dies müssen, weil er unter unerträglichen
Schmerzen leidet.
Deshalb ist der Ausbau der modernen Palliativmedi-
zin so wichtig und ein zentrales Ziel unserer Gesund-
heitspolitik. Die Antwort auf die Nöte Schwerstkranker
und Sterbender muss in einer umfassenden ärztlichen,
pflegerischen und psychosozialen Begleitung bestehen.
So sehen das übrigens auch die beiden großen Kirchen,
die gerade in diesen Tagen die „Woche für das Leben“
proklamiert haben und unter dem Motto „Sterben in
Würde“ zur Stärkung der Palliativ- und Hospizversor-
gung aufrufen.
Mir liegt vor allem am Herzen, auch im ländlichen
Raum das Leistungsangebot auszubauen, die palliative
Pflege in Heimen und in der häuslichen Umgebung
nachhaltig zu stärken sowie insbesondere die Vernetzung
und Kooperation zwischen den Akteuren voranzubrin-
gen. Es ist gut und richtig, wenn es hier mehr Geld für
Ärzte und Kliniken geben wird. Wünschenswert er-
scheint mir darüber hinaus aber auch, zusätzliche Mittel
für die eigentliche Pflegearbeit bereitzustellen.
Meine Damen und Herren, wir wollen das Verspre-
chen des Koalitionsvertrags einlösen und den Menschen
in Deutschland Zugang zu einer spürbar besseren Hos-
pizarbeit und einer flächendeckenden Palliativversor-
gung verschaffen. Wir möchten eine Kultur der Hilfe im
Sterben anbieten, die es erlaubt, die letzte Lebensphase
selbstbestimmt und bestmöglich begleitet zu verbringen.
Vielen Dank.
Nun hat die Kollegin Bettina Müller für die SPD-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Über die Versorgung schwerkranker und sterbenderMenschen wird in diesem Jahr viel diskutiert. Die Stär-kung der Hospiz- und Palliativversorgung ist für die Ko-alition ein wichtiges Anliegen.In diesem Bereich gibt es bereits viele Angebote,sowohl in Form der allgemeinen als auch in Form derspeziellen ambulanten Palliativversorgung. Aber vieleMenschen sind immer noch sehr schlecht über die vor-handenen Strukturen informiert. Zudem reichen die An-gebote bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken.Gründe dafür sind die demografische Entwicklung, dieAuflösung der Familienverbände, Singlehaushalte undder Wunsch der Menschen nach adäquater Versorgungam Lebensende, möglichst in der häuslichen Umgebung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9721
Bettina Müller
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Daher hat sich die Koalition entschlossen, einen Ge-setzentwurf noch vor dem Sommer ins Parlament einzu-bringen. Es ist gut, dass auch die Grünen die Notwendig-keit des Ausbaus der Palliativversorgung sehen. Wirmüssen hier fraktionsübergreifend arbeiten. Beim Ster-ben geht es nicht um Parteizugehörigkeit.Als Signal nach außen möchte ich jedoch deutlichmachen: Der beste gesetzliche Rahmen reicht nicht aus,wenn er nicht durch Akteure vor Ort mit Angeboten undVerträgen ausgestaltet wird. Zum Wohle der Patientenmuss auch auf dieser Ebene mit allen Beteiligten zusam-mengearbeitet werden. Es kommt also auf die Kranken-kassen, die Ärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen,die SAPV-Vertreter, die Kommunen, die Kreise, die Ein-richtungsträger und die vielen Ehrenamtlichen an, umdie Versorgung sinnvoll und zielgerichtet zu stärken.Konkurrenzdenken, wie es an manchen Stellen nochvorhanden ist, ist hier völlig fehl am Platz.Wichtig ist: Bei der Versorgungsplanung darf nichtnach Schema F vorgegangen werden. Die regionalen Be-sonderheiten, die schon vorhandenen Strukturen, die Ak-tivitäten von Ärzten und Kassen und die Zahl der Ehren-amtlichen sind nämlich von Bundesland zu Bundeslandsehr unterschiedlich. Hier gilt es, funktionierende Ver-sorgungsstrukturen nicht zu zerschlagen, sondern vor-handene Netze zu stärken und weiter auszubauen.Palliative Versorgung sollte zudem immer wohnort-nah möglich sein, damit die Betroffenen so oft wie mög-lich von ihren Angehörigen und von ihren Freunden be-sucht werden können. Zurzeit ergeben sich Probleme beiSAPV und AAPV, also der allgemeinen ambulanten Pal-liativversorgung, vor allem im ländlichen Raum. Gründedafür sind zu geringe Bevölkerungszahlen und zu großeFlächen, sodass die SAPV nicht kostendeckend arbeitenkann. Darüber hinaus sind die Strukturanforderungenvon SAPV und Palliativstationen im Krankenhaus inländlichen Regionen die gleichen wie in Ballungsge-bieten, obwohl dort natürlich viel weniger Patienten zuversorgen sind. Für onkologische Zentren und Kranken-häuser in größeren Städten ist es viel leichter, die Ein-richtung einer Palliativstation mit mindestens fünf Bet-ten zu organisieren. In ländlichen Regionen mit deutlichweniger Patienten kann eine eigenständige Abteilunghingegen nicht kostendeckend betrieben werden.Ein wichtiges Ziel der Koalition ist deshalb, im länd-lichen Raum Anreize für den Ausbau des Leistungsange-botes zu schaffen. Ein wesentliches Thema ist hierbeidie Erhaltung und der Ausbau der hausärztlichen pallia-tiven Versorgung. Abgesehen davon, dass es in vielenBereichen bereits einen Ärztemangel gibt, ist die Versor-gung durch weite Wege sowie häufige und nicht lukra-tive Bereitschaftsdienste viel aufwendiger als in Bal-lungsgebieten. Gerade die Hausärzte, die oft einenjahrelangen und sehr intensiven Kontakt zu den schwer-kranken Menschen haben, sollten aber eine wesentlicheRolle in der Versorgung von Palliativpatienten spielen.
Wichtig ist hier, nicht zu hohe Hürden und zu teureStrukturen zu basteln, die in der Praxis zu Problemenführen. Angesichts des rasant steigenden Bedarfs wer-den wir ganz schnell ganz viele Ärzte und Pflegendebrauchen, die auch in Alteneinrichtungen und Klinikeneingesetzt werden können. Ein gelungenes Beispiel stelltin meinen Augen das Modell in Westfalen-Lippe dar, beidem Hausärzte in enger Zusammenarbeit mit SAPV-Teams eine flächendeckende palliative Versorgung ge-währleisten.Für Patienten, aber auch für Leistungserbringer müs-sen der Zugang und die Teilnahme zur Versorgung nied-rigschwellig sein. Wer mithelfen will, Sterbenden eingutes und erträgliches Lebensende zu bereiten, muss esauch tun können. Dazu müssen die Akteure miteinanderhandeln und nicht gegeneinander. Platzhirschdenken undVersorgungswettbewerb am Sterbebett wären fatal.
Umsetzung und Verträge brauchen aber viel Zeit, diedie schwerkranken Menschen sehr oft nicht haben. Da-her gilt es, die Beratungen jetzt zügig durchzuführen unddie Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Versor-gungsstruktur zu schaffen. Machen wir uns an die Ar-beit!Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Roy Kühne für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debat-tieren heute Nachmittag über ein ganz wichtiges Thema,das in den letzten Minuten einen sehr großen Raum be-kommen hat und das in unserer Gesellschaft eines nochgrößeren Raums bedarf. Ich begrüße den Vorschlag derGrünen, und ich denke, dass es dringend notwendig ist,über Palliativversorgung zu reden, bedarfsgerechteStrukturen zu definieren und eine bessere finanzielleAusstattung zu organisieren. Es geht darum, dass wirMenschen bis ans Ende ihres Lebens würdevoll beglei-ten.Die Auseinandersetzung mit lebensbedrohendenKrankheiten und mit dem Sterben ist aber nicht nur fürden Betroffenen selbst, sondern auch für viele Angehö-rige, für das familiäre und berufliche Umfeld eine sehrschwere Angelegenheit und verlangt viel Kraft. Die Ge-sellschaft sollte an dieser Stelle verantwortungsvoll da-mit umgehen und Mittel und Strukturen bereitstellen, umdie damit verbundenen Belastungen aufzufangen. Nie-mand sollte in der letzten Phase des Lebens allein sein,weder derjenige, der jemanden begleitet, noch derjenige,der sich in der selbigen Situation befindet. Wir haben in
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9722 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Dr. Roy Kühne
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Deutschland ein weltweit anerkanntes gutes Gesund-heitssystem. Ich denke, es ist wertvoll, dass wir genaudiese Versorgungsstandards, die wir pflegen, wirklichbis zum Ende des Lebens beibehalten. Damit erweisenwir Respekt und Würde bis zum Tod.Eine Befragung des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes aus dem Jahre 2012 hat aber leider ergeben,dass nur rund die Hälfte der Deutschen den Begriff „Pal-liativmedizin“ überhaupt kennt und nur etwa ein Drittelweiß, was sich dahinter ungefähr verbirgt. In vielen Ge-sprächen, die ich mit Bürgerinnen und Bürgern geführthabe, wurde des Öfteren klar und deutlich gefragt: Wasist das eigentlich? Genau hier liegt unsere Herausforde-rung: Wir wollen mit dem Gesetzentwurf, den die Bun-desregierung erarbeitet, einen weiteren Beitrag zur wert-vollen Hospiz- und Palliativversorgung leisten. Ichdenke, dass gerade diesem Gesetzentwurf eine große Be-deutung zukommt. Wir wollen damit die Versorgungderjenigen verbessern, die eine Begleitung der Schmerz-therapie und am Lebensende benötigen, und vor allenDingen das Wissen der Bevölkerung um den Wert dieserMaßnahmen stärken.Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sind vielegute Punkte enthalten, die auch von der Koalition bereitsaufgegriffen wurden. Ich denke, es herrscht großer Kon-sens, dass hier Einigkeit erzielt wird; auch die bereits ge-haltenen Reden machen dies deutlich. Wir wollen Ände-rungen herbeiführen, und wir müssen Änderungenherbeiführen. Sie müssen genau dort ankommen, wo siegebraucht werden: bei den Menschen.Wie die Erkenntnisse des Deutschen Hospiz- und Pal-liativVerbandes zeigen, muss eine Verbesserung derTransparenz, der Information und der Beratung stattfin-den. Es gibt Versorgungsangebote, die wesentlich dazubeitragen, dass es besser wird. Diese müssen kommuni-ziert werden. Natürlich müssen am Schluss auch dieKrankenkassen die entsprechenden Kapazitäten dafürschaffen. Wir werden in einem nächsten Schritt sicher-lich die Vernetzung der Teilnehmer verbessern müssen.Wir alle wissen, dass gerade die Zusammenarbeit im Ge-sundheitssystem ein ganz wichtiger Faktor ist, um er-folgreich zu sein. Wir müssen Kooperationen fördernund die Vergütung spezifisch qualifizierter Vertragsärzteanpassen.Darüber hinaus werden wir die Bedeutung der häusli-chen Krankenpflege für die Palliativversorgung heraus-stellen – sie wurde bereits angesprochen – und durcheine bessere finanzielle Ausstattung die Hemmnisse fürdie ambulanten Hospizdienste abbauen. Es ist nach mei-ner Meinung sehr wichtig, dass wir die multiprofessio-nelle Arbeit – ich betone das noch einmal –, also die Zu-sammenarbeit der Menschen, die sich mit diesemSachgebiet auseinandersetzen, was sicherlich nicht ein-fach ist, stärken, sowohl im ambulanten als auch im sta-tionären Bereich. Zudem werden wir die Sterbebeglei-tung – sie wurde vom Kollegen schon angesprochen – inden stationären Hospizen finanziell fördern und die am-bulante Hospizarbeit in stationären Pflegeeinrichtungenebenfalls stärker berücksichtigen.Weiterhin geht es darum, die Finanzierung von Maß-nahmen im Hinblick auf die ambulante Versorgung inder Fläche bereitzustellen. Wir sind in Deutschland oft-mals so aufgestellt, dass wir in vielen Bereichen eineFlächenversorgung gewährleisten müssen. Auch da sindwir gefordert.Gerade in strukturschwachen und ländlichen Regio-nen sind regionale Initiativen zu fördern. Wir brauchensie vor Ort. Mit dem kommenden Gesetzgebungsverfah-ren werden wir in diesem Jahr die Weichen dafür stellen,die Folgen der demografischen Entwicklung für dieGesundheitsversorgung – sie ist nicht aufzuhalten – ab-zumildern. Wir müssen auch auf die zukünftigen Be-darfe reagieren. Besonders in Verbindung mit demPflegestärkungsgesetz, dem GKV-Versorgungsstärkungs-gesetz und dem Gesetz zur Verbesserung der Hospiz-und Palliativmedizin werden wir, so denke ich, einenwichtigen Schritt zur Verbesserung der Gesundheitsver-sorgung in Deutschland machen. Damit können wir auchim Hinblick auf die letzte Phase des Lebens einen wür-devollen Beitrag leisten.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4563 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung von Bestimmungen des Rechts des Ener-
gieleitungsbaus
Drucksache 18/4655
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer.
U
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Akzeptanz ist ein entscheidendes Stichwort,wenn es um den dringend notwendigen Ausbau unsererStrom- und Gasnetze geht. Wir wollen Planern und Be-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9723
Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer
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hörden mehr Möglichkeiten geben, Erdkabel unter be-stimmten Voraussetzungen auf Pilotstrecken in technischund wirtschaftlich sinnvollen Abschnitten zu testen.Durch eine maßvolle Erweiterung der Möglichkeiten zurTeilerdverkabelung wollen wir mehr Erfahrung mit die-ser Technologie sammeln. Neben den bisherigen Pilot-vorhaben, zu denen auch die geplanten neuen Strom-autobahnen in Nord-Süd-Richtung gehören, werden nunweitere Pilotverfahren und -vorhaben eingeführt.Zudem erweitern wir die Kriterien dafür, wann einErdkabel verlegt werden darf: Neben dem Abstand zuSiedlungen, der durch eine Freileitung nicht gewahrtwürde, kommen nun Naturschutzgründe und die Que-rung von großen Bundeswasserstraßen wie Rhein oderElbe in Betracht.Damit die Möglichkeiten weit vorangeschrittenerProjekte nicht gebremst werden, kann der Vorhabenträ-ger bei laufenden Verfahren wählen, ob er von der neuenRegelung Gebrauch macht oder nicht. Diese Übergangs-regelung für bereits beantragte Planfeststellungsverfah-ren betrifft vor allem die EnLAG-Vorhaben.Wir wollen dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnenund Bürger künftig stärker in den vielschichtigen Pro-zess der Netzplanung einbringen und die damit einherge-henden Entscheidungen besser einordnen können.Mit dem Gesetz soll der bisher jährliche Turnus derNeufassung der Netzentwicklungspläne im Strom- undGasbereich durch einen zweijährigen Planungszeitraumabgelöst werden. Mit dieser von vielen Akteuren undauch Umweltverbänden geforderten Veränderung desRhythmus sollen die komplizierten parallelen Planungs-prozesse der Vergangenheit künftig vermieden werden.Darüber hinaus haben alle Beteiligten, vor allen Din-gen auch die Bürgerinnen und Bürger, ausreichend Zeitfür die Konsultation der jeweiligen Entwürfe. Damit er-höht die Bundesregierung die Transparenz und auch dieNachvollziehbarkeit der Verfahren zur Ermittlung desBedarfs für den Aus- und Umbau der Strom- und Gas-netze.Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Ausbauder Stromnetze ist für eine erfolgreiche Energiewendedringend erforderlich. Wir wollen hier vorankommen.Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Bau-stein dafür.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Bundesregierung will jetzt die Bedingungen für dieErdverkabelung lockern, unter anderem um Akzeptanzzu schaffen. Das klingt erst einmal nicht schlecht; aberwenn man sich das genau anschaut, muss man feststel-len: Auch die Erdverkabelung ist nicht ganz unproble-matisch:Erstens eröffnete dieses Gesetz die Möglichkeit, Tras-sen durch empfindliche Naturräume zu legen, die dafürbislang nicht infrage kamen. Unter Naturschutzgesichts-punkten, Stichwort „Biodiversität“, ist es ganz wichtig,auf diesen Punkt zu achten.
Zweitens gibt es die falsche Vorstellung, Erdkabelwären naturverträglich. Doch man muss bedenken, wasmit der Erdverkabelung auch zusammenhängt: alle900 Meter ein Zugangsschacht, eine kaum nutzbareSchneise und 40 Tonnen schwere Kabelrollen, die ir-gendwie zur Baustelle im sensiblen Gebiet gelangenmüssen.Drittens bekomme ich ein ungutes Gefühl, wenn beieiner kritischen Infrastruktur wie dem Übertragungsnetzvon technischer Erprobung die Rede ist.Trotzdem sehen wir auch Vorteile der Erdverkabe-lung: wenn es um den Landschaftsschutz geht. Aber be-vor jetzt alle „Hurra!“ zur Erdverkabelung rufen, wäre eswichtig, über den Sinn und Zweck des Netzausbaus ge-nerell nochmals nachzudenken. Was wissen wir eigent-lich über die Notwendigkeit des Netzausbaus? Wir wis-sen, was die Übertragungsnetzbetreiber als Bedarfausgerechnet haben. Wir wissen, dass der marktwirt-schaftliche Rahmen dafür auf unbestimmte Zeit so blei-ben soll wie heute. Wir wissen, dass sie von einemwachsenden und ungehemmten Stromhandel in Europaausgehen. Und wir wissen, dass ihre Modellrechnungendie Emissionsziele der Bundesregierung verfehlen. Waswir aber auch wissen, ist, dass die Bundesregierungnichts weiß.
Wie will die Bundesregierung der Bevölkerung glaub-haft machen, dass der Netzausbau genau so vonstatten-gehen muss, wenn sie die bestehenden Netzkapazitätennicht einmal beziffern kann und keine Ahnung hat, inwelchem Zustand sich das bestehende Netz befindet? –Das hat sie zumindest auf eine Kleine Anfrage meinerFraktion geantwortet.Alles, womit die Bundesregierung argumentiert, istdas Ergebnis einer Modellrechnung, die Geschäftsge-heimnis der Übertragungsnetzbetreiber ist und zweifel-hafte Annahmen für die Zukunft zugrunde legt.Wenn wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf dieBedingungen für die Erdverkabelung lockern und denNetzentwicklungsplan auf einen Zweijahresturnus um-stellen, dann lassen Sie uns doch noch mehr beschließen:Sorgen wir dafür, dass die Bevölkerung, wir Abgeord-nete und auch die Bundesregierung wissen können, wo-mit der Netzbedarf überhaupt errechnet wird.
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9724 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Eva Bulling-Schröter
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Die Netzbetreiber sollen ihre Lastflussdaten und ihre Be-rechnungsmethodik öffentlich machen. Dann kann mandas nachvollzeihen, und wir können auch besser streiten.Die Linke begrüßt es, den Netzbetreibern mehr Zeitfür die Erstellung der Netzentwicklungspläne einzuräu-men. Die Netzbetreiber sollten diese zusätzliche Zeitnutzen, um Szenarien auszurechnen, mit welchen Maß-nahmen der Netzausbau minimiert werden könnte. Dasist wichtig.
Dann könnten wir den Rahmen an die Erfordernisse an-passen und müssten nicht – wie jetzt – einen Netzausbaufür eine überholte Energiepolitik voller Fehlallokationenvorsehen. Denn das möchten die Bürgerinnen und Bür-ger nicht – vor allem die in Bayern nicht –, und deshalbbekommt die Bundesregierung auch keine Akzeptanz fürihre Mammuttrassen. Eine sinnlose Stromtrasse kannman zwar verlegen – lieber am Nachbarort vorbei oderdurch ein anderes Bundesland führen, man kann sieoberirdisch führen oder auch vergraben –, das ändertaber nichts daran, dass sie weiterhin sinnlos ist.Danke.
Das Wort hat der Kollege Karl Holmeier für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die Energiewende ist eines unserer größten energiepoli-tischen Projekte und zugleich eine große Herausforde-rung. Wir werden sie bewältigen, aber der Erfolg derEnergiewende hängt ganz wesentlich auch von der Ak-zeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern, den Men-schen in unserem Land, ab.Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kern-energie und der starke Ausbau der erneuerbaren Energienführen dazu, dass Strom vermehrt dezentral und damitfernab der Verbrauchsstellen erzeugt wird. So erforderndie Energiewende und der wachsende europäischeStromhandel in den kommenden Jahren einen umfassen-den und beschleunigten Ausbau des deutschen Höchst-spannungsnetzes. Auch hinsichtlich der Gasfernleitungs-netze stehen erhebliche Veränderungen an.Ein zentraler Bestandteil der Energiewende ist natür-lich die Versorgungssicherheit; sie ist notwendig. Diesekann durch neue Höchstspannungsnetze erreicht werden.Hier gilt, meine sehr verehrten Damen und Herren: Sowenig Netzausbau wie möglich, so viel wie nötig.Beim Leitungsausbau stehen Optimierung und Nut-zung von Bestandsnetzen vor einem Neubau. Maßstabder Union ist: was Deutschland nutzt, was unsere Wirt-schaft braucht und was den Menschen im Land hilft.Energiepolitik ist Mittel zum Zweck und kein Selbst-zweck. Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung derKernenergie ist beschlossene Sache. Wir haben die Wei-chen in Richtung klimafreundliche Energieversorgunggestellt und müssen den Weg nun konsequent fortsetzen.Dazu bedarf es allerdings einer Anpassung der Leitungs-infrastruktur. Hier besteht erheblicher Nachholbedarfbeim gezielten Ausbau der Energieleitungen.Beim Umstieg zu einer umweltschonenden, bezahlba-ren und sicheren Energieversorgung müssen wir vor al-lem eines im Auge behalten: die Akzeptanz bei den Bür-gern. Es ist daher richtig und wichtig, dass der DeutscheBundestag mit den vorliegenden Änderungen des Ener-gieleitungsausbaugesetzes verstärkt auf die Informationder Menschen setzt. Wie schon gesagt: Wir werden dieEnergiewende nur mit den Bürgerinnen und Bürgern un-seres Landes schaffen.Der Bau eines modernen und leistungsfähigen Ener-gieleitungsnetzes muss den Anforderungen und Bedürf-nissen der nahen Zukunft entsprechen und angepasstwerden. Da gibt es noch einiges zu tun.Um den Netzausbau schneller zu realisieren, müssenwir zum einen die Akzeptanz in der Öffentlichkeit fürden Ausbau erhöhen und zum anderen die Errichtungdes Netzes durch den Einsatz neuer Technologien er-leichtern und damit beschleunigen. Eine verstärkte Erd-verkabelung ist dabei ein zentrales Element zur Erhö-hung dieser Akzeptanz und erleichtert den erforderlichenNetzausbau.Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderungvon Bestimmungen des Rechts des Energieleitungsbausleiten wir diese Schritte nun ein. Konkret sieht der vor-liegende Gesetzentwurf zum Beispiel folgende wesentli-che Änderungen vor:Erstens. Bereits angesprochen wurde ein Turnus-wechsel der Netzentwicklungsplanung für den Strom-und für den Gasbereich. Insgesamt hat sich das Systemder Netzentwicklungsplanung bewährt. Bei der Bedarfs-ermittlung in der Praxis zeigt sich allerdings, dass es zuzeitlichen Überschneidungen bei der Entwicklung desSzenariorahmens und des Netzentwicklungsplans kommt.Das wollen wir in Zukunft vermeiden, weshalb wirden Turnus für den Strom- und Gasbereich von einemEinjahresrhythmus auf einen Zweijahresrhythmus um-stellen. Das führt positiv dazu, dass die Komplexität derBedarfsermittlung verringert wird. Zudem werden dieVerfahren für alle Beteiligten generell transparenter –insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger.Die Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiberwerden verpflichtet, in den Kalenderjahren, in denenkein Netzentwicklungsplan vorzulegen ist, einen Umset-zungsbericht vorzulegen. Der Umsetzungsbericht soll imWesentlichen eine Fortschreibung der Umsetzungsbe-richterstattung aus den Netzentwicklungsplänen sein.Mit diesen Änderungen werden Anregungen aus derÖffentlichkeitsbeteiligung und von der Agentur für dieZusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden inEuropa aufgegriffen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9725
Karl Holmeier
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Zweitens. Wir erleichtern die Möglichkeiten zur Teil-erdverkabelung. Bisher wurde der Einsatz von Erdka-beln nur auf einige Pilotprojekte beschränkt. Die restrik-tive Zulassung der Erdverkabelung wurde zu Rechtkritisiert. Aktuell ist eine Teilerdverkabelung bei vier Pi-lotprojekten von insgesamt 23 im EnLAG genanntenLeitungsprojekten möglich – und dies auch nur „auftechnisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnit-ten“. Dies ist zu wenig.Bislang erfolgte die Genehmigung für eine Erdverka-belung nur unter der Voraussetzung einer Siedlungsan-näherung auf 200 bis 400 Meter. Eine Ergänzung derKriterien ist erforderlich. Erdkabel sollen künftig in denFällen vorgesehen werden können, in denen eine Freilei-tung gegen bestimmte Bestimmungen des Naturschutzesverstoßen würde. Dies dient dem Arten- und dem Ge-bietsschutz. Zudem soll eine Erdverkabelung möglichsein, wenn die Leitung eine große Bundeswasserstraßeüberqueren soll.Es sollten darüber hinaus weitere geeignete Projektebezüglich einer möglichen Erdverkabelung geprüft wer-den. In dem heutigen Gesetzentwurf werden noch zu we-nige Projekte zur Erdverkabelung vorgesehen. Die Erd-verkabelung muss bei allen Trassen möglich sein – zumSchutz von Mensch, Tier und Natur.Neben der Erweiterung der Kriterien sollen weitereVorhaben als Pilotstrecken für die Erdverkabelung fest-gelegt werden. Hier sollte vor allem die Möglichkeit inBetracht gezogen werden, die Erdverkabelung auf einemtechnisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnittvorzunehmen. Das sollte auch im Fall eines Ersatzneu-baus von Stromtrassen möglich sein und gelten. Dahergeht der Gesetzentwurf in die richtige Richtung, da erdarauf abzielt, die Erdverkabelung auf technisch undwirtschaftlich effizienten Teilabschnitten auch auf Basisder gewonnenen Erkenntnisse weiterzuentwickeln undzu erleichtern.Zudem ist es sehr erfreulich und ein wichtiger Fort-schritt, dass es künftig grundsätzlich möglich sein soll,auch auf einer längeren Strecke – zum Beispiel von biszu 20 Kilometern – ein Erdkabel zu verlegen. Ob diesnur als Pilotvorhaben im Rahmen einer 10 bis 20 Kilo-meter langen Teststrecke getestet werden soll, werdenwir im parlamentarischen Verfahren zu klären haben.Weiterhin wird durch eine Erweiterung des Erdkabel-begriffs zukünftig die Möglichkeit geschaffen, im Rah-men der vorgesehenen Pilotvorhaben für Teilverkabe-lung auch Erfahrungen hinsichtlich anderer technischerLösungen zur unterirdischen Verlegung von Höchstspan-nungsleitungen zu sammeln. Ziel der Bemühungen isteine Beschleunigung des Netzausbaus insgesamt.Bereits weit fortgeschrittene Verfahren sollen durchUmplanungen nicht beeinträchtigt werden. Für bereitslaufende Planungsverfahren ist daher eine Übergangsre-gelung vorgesehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes-regierung arbeitet zielstrebig an der Energiewende. Wirwerden Deutschland nachhaltig stärken und den Men-schen und der Wirtschaft in unserem Land Versorgungs-sicherheit geben.Ich freue mich daher auf die anstehenden parlamenta-rischen Beratungen und wünsche Ihnen ein schönes Wo-chenende.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Holmeier, Sie haben in Ihrer Redezeit von zehn Mi-nuten vieles Richtige gesagt; da will ich gar nicht wider-sprechen. Sie haben auch viel Grundsätzliches gesagt.Da Sie schon grundsätzlich über den Netzausbau spre-chen, hätte mich die Antwort auf die Fragen, die dieganze Debatte bewegen, interessiert: Wie geht es in Bay-ern mit der Formel „2 minus x“ weiter?
Ist das, was Sie hier vorgetragen haben, die Position derUnion? Sonst redet ja niemand von der Union.
Die Antworten auf diese Fragen fände ich spannend.Aber um die Antwort drücken Sie sich herum.Man muss sich nichts in die Tasche lügen. Aber es istdoch so: Wir hatten – da muss man in der Vergangen-heitsform sprechen – mit dem Bundesbedarfsplangesetzhier einen großen Konsens über den Netzausbau erzielt,und zwar trotz aller Unzulänglichkeiten, die das habenmag.
Aber diesen Konsens gab es, und er war grundsätzlich.Nun wird er infrage gestellt. Man kann sich hier überviele Detailfragen unterhalten. Aber solange diese grund-sätzliche Frage nicht gelöst ist, wird im Rahmen desNetzausbaus wenig oder fast gar nichts gelingen.
Das ist Ihre Verantwortung als Große Koalition. Darummüssen Sie sich insgesamt kümmern.
Ich habe hier im Jahr 2012 gestanden und gesagt: Wirbrauchen Erdkabel nicht nur für Pilotstrecken, sondernwir brauchen sie im Bundesbedarfsplangesetz, und wirbrauchen sie auch im EnLAG. Man kann die Erdverka-
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9726 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015
Oliver Krischer
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belung nicht auf Pilotstrecken beschränken. Das kannman den Menschen nicht erklären.Für diese Forderung bin ich damals beschimpft wor-den: von allen, auch von euch.
Es hieß damals, diese Forderung wäre unverantwortlich.Ich bin froh, dass ein Kollege der CSU hier wörtlichsagt: Wir brauchen überall die Möglichkeit der Erdver-kabelung. – Das ist ein Erkenntnisfortschritt. Wenn Siedas schon 2012 erkannt hätten, dann hätten wir uns vieleAuseinandersetzungen sparen können, und es hätte vieleAkzeptanzverluste beim Netzausbau nicht gegeben. Dassollten Sie sich an dieser Stelle einmal merken.
Vielleicht sind Sie aber mit Ihren Erkenntnissen insge-samt etwas spät dran.Jetzt legen Sie Ihren Gesetzentwurf vor. Darin stehtmanches Richtige. Ich will mich aber auf die Erdkabelkonzentrieren. Anstatt es so zu machen, wie es der Kol-lege Holmeier vorschlägt, also zu sagen: „Bei jedemEnLAG-Projekt, das nicht schon in Bau ist, führen wirdie Möglichkeit der Erdverkabelung ein“, machen Siedas nur an drei Teilstrecken.Das führt zu folgendem Sachverhalt. Ich nenne ein-mal ein Beispiel: EnLAG-Projekt Nr. 16 in Gütersloh.Dort soll ein Teilbereich erdverkabelt werden können.Das ist okay. Aber im nächsten Teilabschnitt soll dasnicht so sein. Deswegen haben wir alle Post vom Land-rat bekommen, der uns fragt: Warum macht ihr das nichtauch im nächsten Teilabschnitt? – Eine Begründung da-für finden Sie im Gesetzentwurf nicht.Sie finden auch keine Begründung dafür, warum esaber bei anderen Leitungen gemacht wird. Ich will jetztgar nicht vom Wahlkreis von Sigmar Gabriel reden.
Das ist eine andere Debatte. Aber warum nur bestimmteStrecken für die Erdverkabelung ausgewählt werden,statt zu sagen: „Wir geben diese Möglichkeit allen“, daskann ich nicht nachvollziehen.Völlig irrsinnig wird es dann im schönen Hürth beiKöln. Da gibt es die Leitung Nr. 15: Osterath-Weißen-thurm. Auch dieses EnLAG-Projekt ist kein Pilotprojekt.Es handelt sich bei dieser Gegend um eine extrem dichtbesiedelte Region, in der keine Erdverkabelung möglichist. Selbst der Netzbetreiber sagt, er würde das gerne ma-chen. Aber nach den gesetzlichen Regelungen geht dasnicht. Stattdessen wird dort jetzt eine Freileitung gebaut.Hinzu kommt die Bundesbedarfsplanleitung. Nach derRechtslage wäre jetzt prinzipiell eine Erdverkabelungmöglich. Das geht aber nicht, weil da schon die EnLAG-Leitung als Freileitung gebaut wird.Meine Damen und Herren, diese Dinge können Sieden Menschen vor Ort nicht mehr erklären. Ich nehmewahr, dass das auch die Abgeordneten der Großen Koali-tion vor Ort nicht mehr erklären können und sich teil-weise dagegen aussprechen. Deshalb werden wir uns mitdiesen Fragen auseinandersetzen müssen. Ich sage Ih-nen: Das, was Sie in diesem Gesetzentwurf vorgelegt ha-ben, ist keine Antwort auf diese Frage.Wenn Sie das anpacken, dann möchte ich den Kolle-gen Holmeier beim Wort nehmen. Das heißt in der Kon-sequenz: Wenn wir uns für die Erdverkabelung entschei-den, dann sollten wir sie für alle EnLAG-Projekteermöglichen. Das wäre ein Beitrag zur Akzeptanz fürden Netzausbau. Da könnten wir vorankommen.Ich bin gespannt, ob das in den Ausschussberatungenvorgeschlagen wird. Wir stehen für konstruktive Debat-ten zur Verfügung. Sie können an dieser Stelle beweisen,ob Sie es mit dem Netzausbau ernst meinen oder ob Siesich weiter hinter Paragrafen verstecken und vor Ort eineganz andere Politik als hier in Berlin machen.Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Johann
Saathoff das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr Krischer, heute beraten wir denGesetzentwurf in erster Lesung. Es ist also nicht so, dasswir heute darüber abstimmen müssen, sondern wir sindnoch in der Entscheidungsfindung. Ich nehme Ihr Ange-bot eines konstruktiven Dialogs gerne auf, und ichdenke, dass wir in den nächsten Wochen und Monatensicherlich noch sehr viel darüber sprechen werden.Klar ist: Wer die Energiewende will, muss auch denLeitungsausbau wollen.
Das ist untrennbar miteinander verbunden und wirdüberall anerkannt. Es geht also nicht darum, ob wir dieLeitungen ausbauen, sondern darum, wie.Frau Kollegin Bulling-Schröter, wenn Sie von einersinnlosen Leitung sprechen – ich weiß nicht, ob ich esrichtig verstanden habe, dass Sie damit SuedLink mei-nen –, dann macht mir, ehrlich gesagt, die Allianz inBayern langsam Sorge.
Egal von welcher Fraktion es kommt: Von sinnlosen Lei-tungen zu sprechen und gleichzeitig die Energiewendezu fordern, ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung.Ich habe auch etwas anderes nicht richtig verstanden.Sie sagten, Erdkabel seien nicht wirklich sinnvoll, Stich-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9727
Johann Saathoff
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wort: 40-Tonnen-Schwerlaster. Wenn wir keine Kabellegen und keine Überlandleitungen bauen dürfen, dannmüssen Sie mir erklären, wie wir den Strom aus derNordsee zu Ihnen nach Bayern bringen sollen.Was genau soll geregelt werden? Das hätte ich gernenoch einmal deutlich gemacht, aber ich glaube, das ha-ben wir heute schon dreimal gehört. Deswegen will ichmich auf die zentralen Punkte beschränken.Die zentralen Punkte im Artikelgesetz sind erstens dieErweiterung der Strecken – sie ist für die Energiewendedringend notwendig – und zweitens die breitere Mög-lichkeit des Einsatzes von Erdverkabelung. Ich habe inden letzten Wochen eine ganze Menge Gespräche mitBürgerinitiativen geführt. Ob Sie es glauben oder nicht:In diesen Gesprächen kam immer heraus, meist gleichim ersten Satz: Wir akzeptieren, dass durch DeutschlandLeitungen gelegt werden müssen; aber bitte akzeptierenSie dann auch, dass wir diese Leitungen so verlegt habenwollen, dass wir gut damit leben können. – Das ist dieForderung nach Erdkabeln.Die Erdkabel sind eine wesentliche Voraussetzung fürdie Bürgerakzeptanz. Das ist mittlerweile, glaube ich, al-lenthalben bekannt. Der Gesetzentwurf schlägt den Wegzu einer Verlegung von mehr Erdkabeln ein. Das ist dierichtige Richtung. Die Gründe dafür sind bekannt: ge-sundheitliche Auswirkungen von Stromleitungen, Wert-erhalt der Grundstücke, Erhalt der Wertschöpfung derRegionen, insbesondere für den Tourismus, und Erhaltdes Landschaftsbildes.Dass die Verlegung von Erdkabeln kein großes Pro-blem ist, kann ich am Beispiel meiner Heimat Ostfries-land deutlich machen. Dort werden derzeit viele Erdver-kabelungen aus den Offshorewindparks durchgeführt.Dazu gibt es null negative Resonanz aus der Bevölke-rung.
Wenn man den Erhalt des Landschaftsbildes, derWertschöpfung beim Tourismus und des Wertes derGrundstücke in die Diskussion um die Mehrkosten derVerkabelung einbezieht, dann, denke ich, wird es einefaire Diskussion. In Ostfriesland würde man sagen: Deeen hett Knippke, un de anner hett dat Geld.Folglich sollten wir prüfen, ob nicht noch weitere Kri-terien für die Erdverkabelung aufgenommen werden sol-len. Vielleicht sollten wir sogar – ich weiß, dass ich michdabei ein bisschen auf dünnem Eis bewege – zumindestbei HGÜ über ein Primat der Erdverkabelung als mögli-cherweise besseren Weg nachdenken.
Das wäre jedenfalls bei der Gesamtbetrachtung allerKosten, angesichts einer möglichen Verzögerung derUmsetzung, die sich ergeben kann, wenn Menschen vorOrt die Leitung nicht wollen, und in Bezug auf die Ver-fügbarkeit zu überlegen. Wir sollten uns zwischen derersten und der zweiten Beratung die Zeit nehmen, uns ineiner öffentlichen Anhörung die Sicht vor Ort vor Augenzu führen und über die weiteren Entscheidungen nachzu-denken.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Energiewendewird von den Bürgerinnen und Bürgern getragen. Sorgenwir also dafür, den Leitungsausbau so zu gestalten, dasser von den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiertwerden kann!Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4655 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes Zweiten Gesetzes zur Änderung des Er-
neuerbare-Energien-Gesetzes
Drucksache 18/4683
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe wiederum dem
Kollegen Johann Saathoff für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nun wissen Sie auch, warum ich gerade nicht schon einschönes Wochenende gewünscht habe. Seien Sie gewiss:Für mich ist es genauso ungewöhnlich wie für Sie, zweiReden hintereinander zu halten. Wir versuchen es, undwir bekommen es miteinander hin.Die Energiewende ist ein Projekt, das man nicht ein-fach einmal per Gesetz beschließt, und dann wird allesgut. Das erzähle ich immer wieder, wenn wir Besuchvon ausländischen Delegationen bekommen, die teilssehr euphorisch zu uns in den Wirtschaftsausschusskommen. Erst fragen sie: Meint ihr das eigentlich ernstmit der Energiewende? – Wenn wir das bejahen, dannfragen sie: Wie bekommt ihr das eigentlich hin? – DieEuphorie wird leicht gebremst, wenn man darüber be-
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richten muss, dass es nicht reicht, ein Gesetz zu verab-schieden, damit die Energiewende stattfindet, sonderndass man während des Prozesses der Energiewende stän-dig nachjustieren muss. Wir haben es bei der Energie-wende ganz oft mit Anpassungsbedarfen zu tun, abernicht deshalb, weil das Gesetz etwa schlecht wäre, wasman ab und an hört, sondern weil sich die Rahmenbedin-gungen auch aufgrund des guten Gesetzes, das vorherverabschiedet wurde, verändern.Was soll in diesem Rahmen neu geregelt werden? Wirwerden zwei Branchen in die Besondere Ausgleichsre-gelung wieder aufnehmen, nämlich solche, die sich mitder Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanz-teilen, also der Wärmebehandlung von Stahl, befassen.Das betrifft insbesondere die Unternehmen der Umfor-mung, zum Beispiel den in Deutschland wichtigen Ka-rosseriebau. Diese Branchen erfüllen nach den neuestenErkenntnissen die Voraussetzungen, die wir im letztenJahr formuliert haben: Sie haben nämlich eine Handels-intensität von 4 Prozent und eine Stromkostenintensitätvon 20 Prozent. Die Branchen, die diese Voraussetzun-gen erfüllen, dürfen nicht schlechtergestellt werden. Esist nur gerecht, dass sie mit aufgenommen werden.Der zweite Bereich, den wir ändern wollen, ist die an-teilige Direktvermarktung. Auch darüber haben wir imletzten Jahr – ich kann mich gut erinnern – im Sommerlange miteinander gesprochen.
Mehrere Anlagen werden zum Beispiel in einem Wind-park an einem Netzverknüpfungspunkt angeschlossen.Bisher war nur die Direktvermarktung insgesamt mög-lich; man konnte es nicht aufteilen. Nun ist das auch an-teilig möglich. Die durch die alte Regelung, durch dieVerhinderung der anteiligen Direktvermarktung, entstan-denen wirtschaftlichen Nachteile sollen nun ausgegli-chen werden. Auch das ist nur mehr als gerecht.
Die weiteren Regelungsinhalte sind eher unspannend.Dabei haben wir im Moment gar keinen Mangel an span-nenden Themen. Deswegen will ich dazu etwas sagen.Zuerst zum nationalen Klimabeitrag. Das 40-Prozent-Ziel war Konsens; es steht im Koalitionsvertrag. DieEinsparung von 22 Millionen Tonnen CO2 ist seit demKabinettsbeschluss vom Dezember bekannt. Im Dialogmit der Kraftwerkswirtschaft haben wir Lösungen zufinden. Dieser Dialog hat endlich begonnen. Das ist et-was, was wir begrüßen können. Klar ist: An der zusätzli-chen Einsparung von 22 Millionen Tonnen führt keinWeg vorbei. Wie bei den Energieleitungen würde ichaber auch hier sagen: Es geht nicht um das Ob, sondernum das Wie. Um das Wie ausreichend beleuchten zukönnen, fehlen im Moment die Alternativvorschläge.Fragen sind zwar besser als Antworten – Stichwort:„Günther Jauch“ –, aber das reicht nicht.Wir alle wissen, dass dieses Wochenende zwei großeDemonstrationen in Berlin und in der Lausitz stattfin-den. Wir werden diesen Menschen verantwortungsvollgegenübertreten müssen, und wir werden mit ihnen zu-sammen eine Lösung finden müssen. Wir werden die Al-ternativvorschläge, die von diesen Menschen kommen,bewerten und abwägen müssen, um gemeinsam zu einerLösung zu kommen. Wir wollen nämlich nicht, dassdurch die Einsparung von 22 Millionen Tonnen CO2,wie von vielen befürchtet – die Sorgen muss man ernstnehmen –, Strukturbrüche entstehen. Die tatsächlichendirekten Auswirkungen auf jedes der 1 500 Kraftwerkein Deutschland sind noch nicht kalkuliert. Sie müsstendie Grundlage für eine faire Bewertung jedes Vorschla-ges bilden.Wir wollen die Menschen, die in der Stromversor-gung arbeiten, mitnehmen. Das sind wir ihnen schuldig.Darauf können sie sich auch verlassen. Deswegen sindAlternativvorschläge gerne gesehen, Alternativvor-schläge von der Wirtschaft, von den Gewerkschaften,von den Umweltverbänden und auch von den Bürgerin-nen und Bürgern.Durch die Diskussion zum Klimabeitrag gerät dieDiskussion zum Strommarktdesign völlig in den Hinter-grund. Man kann sich fragen: Ist dies gut, oder ist esschlecht? – Das Grünbuch liegt vor; wir sind in derPhase, in der die Reaktionen ausgewertet werden. Wirstehen vor der Erarbeitung des Weißbuches durch dasMinisterium, und ich habe bisher in der gesamten Dis-kussion keine grundsätzlichen Bedenken gegen denStrommarkt 2.0 vernommen. Es gibt einige, die grund-sätzliche Bedenken haben; jedoch haben sie diese ausmeiner Sicht nicht ausreichend begründet.Einigkeit besteht in großen Teilen bei den sogenann-ten Sowieso-Maßnahmen: Die Spot- und Regelleistungs-märkte sollen weiterentwickelt werden. Wir alle wissen:Dort steckt Potenzial. Ferner ist die EU-Marktkopplungzu vergrößern. Darüber sind wir uns weitestgehend ei-nig. Alternative Anbieter von Regelleistungen sollen zu-gelassen werden. Dafür würde ich eine breite Mehrheitprognostizieren wollen. Es geht außerdem darum, dieBilanzkreisverantwortung zu stärken und dadurch Effi-zienz zu schaffen. Ich glaube, hier sind wir uns im Gro-ßen einig. Dann sollen die Stromnetze ausgebaut wer-den, und dabei ist auch auf die Bürgerakzeptanz zuachten. Darüber haben wir gerade gesprochen. Schließ-lich soll die einheitliche Preiszone erhalten bleiben, unddie europäische Kooperation soll intensiviert werden.Auch hier kann ich, so glaube ich, eine breite Mehrheitim Hause sehen.Die energiepolitische Gemengelage ist derzeit nichteinfach, keine Frage. Darüber, dass sie nicht einfach ist,können wir uns einig sein. Trotzdem sollten wir dieDinge, bei denen Einigkeit besteht – ich habe sie geradebenannt –, zügig abarbeiten und nicht warten, bis end-gültig weißer Rauch bei allen Fragen aufsteigt. Dass wirjetzt in der Energiewende zügig weiterarbeiten, das kön-nen die Bürger von uns erwarten; denn sie haben dieEnergiewende insgesamt eben auch gewollt.Dazu gehört auch das KWKG. Die Positionen liegenaus meiner Sicht nicht weit auseinander. Herr Krischer,bevor Sie eine Zwischenfrage stellen, sage ich es liebergleich: Wir haben einen doppelten CO2-Einspareffekt.
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Ich habe schon in meiner letzten Rede dazu über dieMöglichkeit eines Wärmebonus gesprochen. Auf jedenFall müssen wir das Potenzial des KWKG in der Verbin-dung mit den regenerativen Energien sehen und das stär-ken. Ich könnte mir also vorstellen, dass zu KWKG-An-lagen auch thermische Solaranlagen mit Speicherngehören. Diese Speicher können auch eine nicht unbe-deutende Rolle bei der Energiewende spielen, nämlichdann, wenn wir zu viel Strom im Netz haben.Die Themen sind kompliziert. Normal ist, dass dieOpposition und die die Regierung tragende Koalition un-terschiedliche Ansichten vertreten. Beide sind gut bera-ten, einander gut zuzuhören. De een kann rieden, un deanner hett dat Peerd, heißt es in Ostfriesland, wenn Ent-scheidungen getroffen werden. Viele Entscheidungenwollen gut abgewogen und gut überlegt sein. Einigekönnen wir bereits jetzt treffen, damit wir die von denBürgerinnen und Bürgern gewünschte Energiewendeweiter fortführen können.Und nun wünsche ich Ihnen ein schönes Wochen-ende. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Frak-
tion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eigentlich hätten die Industrierabatte beim Ökostrom zu-rückgefahren werden sollen, so hieß es vor gut einemJahr, kurz vor der EEG-Reform 2014. Damals hatte EU-Kommissar Almunia wegen der Industrieprivilegien dasganze EEG als unerlaubte Beihilfe infrage gestellt.Gabriel und Almunia einigten sich schließlich, aber dasErgebnis war eine böse Überraschung: Die Industriepri-vilegien sind nicht beschränkt, sondern sogar noch aus-geweitet worden. Zum Tausch wurde das EEG gefled-dert: Ausschreibungen für die Erneuerbaren ohne Notschon ab 2017 und die Pflicht zur Direktvermarktung.So wurde im EEG quasi die eigene Abschaffung festge-legt. Ich finde, das war ein zu hoher Preis.
Aber die Industrie sollte ja um jeden Preis ihre Vor-teile behalten. 90 Prozent des produzierenden Gewerbeskönnen heute Anträge stellen. Wer 4 bis 10 Prozent Han-del mit dem Ausland treibt und als stromintensiv gilt, be-kommt bei der EEG-Umlage Rabatte. Die so privilegier-ten Hersteller können also mit staatlicher Unterstützungdiejenigen Hersteller niederkonkurrieren, die nur für dasInland produzieren. Für gerecht halte ich das nicht.
Die 4,8 Milliarden Euro Industrieentlastung werdenvon den übrigen Verbraucherinnen und Verbrauchern ge-stemmt – auch an dieser Stelle ein Sozialprogramm fürdie Industrie sondergleichen. Man hätte die EEG-Reform nutzen können, um die Industrieprivilegien aufein sinnvolles Maß zurückzustutzen; darüber haben wirx-mal diskutiert. Das ist total versäumt worden. Stattdes-sen halten immer mehr Branchen die Hand auf, nun auchdie Hersteller von Türklinken und Armaturen und aller-lei Stanz- und Prägeteilen. Sigmar Gabriel wird dieGeister, die er selber rief, nicht mehr los. Es ist nur ge-recht, wenn die dann auch etwas fordern und bekommen.Hunderttausende Arbeitsplätze in der energieintensi-ven Industrie seien sonst gefährdet, so redete Gabrieldamals. Wenn jemand mit 100 000 Arbeitsplätzen argu-mentiert, dann, finde ich, sollte man immer sehr hellhö-rig sein.
Allmählich muss man sich schon fragen, ob nicht auchdie Existenz der energieintensiven Friseurbetriebe, derfamiliengeführten Kleinstbäckereien und, und, und ge-fährdet ist, weil sie den Strompreis vielleicht nicht zah-len können. Wie soll man rechtfertigen, dass sie keinePrivilegien bekommen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen?
Just in diesen Tagen fliegen Minister Gabriel wiederangebliche 100 000 Arbeitsplätze um die Ohren. Dies-mal mobilisieren Kohlelobby, IG BCE und Verdi. Auchdies sind, sage ich, die Geister, die der Minister selberrief. Wenn morgen hier in Berlin von den Gewerkschaf-ten mit der angeblichen Gefährdung von 100 000 Ar-beitsplätzen Stimmung gegen die Klimaabgabe gemachtwird, ist das genauso schief, wie es damals Gabriels Ar-beitsplatzzahlen bei der energieintensiven Industrie wa-ren.Der Klimabeitrag ist eine notwendige Abgabe für diedreckigsten und ältesten Kohlemeiler, um einen beschei-denen Beitrag dazu zu leisten, die Klimakatastrophe auf-zuhalten; die trifft uns alle. Die Mobilisierung der Koh-lelobby gegen den Klimabeitrag ist umso absurder, wennman weiß, dass auch die Braunkohletagebaue nach wievor privilegiert sind. Sie sind aufgrund von Eigenver-brauch komplett von der EEG-Umlage befreit. Das sindjährlich Hunderte Millionen Euro Subventionen für dieklimaschädlichste Form der Stromerzeugung, und das istschlicht unfassbar.
Nichtsdestotrotz ist klar: Wir müssen für alternativeArbeitsplätze sorgen. Ich verstehe die Probleme undSorgen der Kolleginnen und Kollegen. Wir müssenwirklich etwas tun
und ihnen auch die Ängste nehmen, um das hier nocheinmal klar und deutlich zu sagen.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Andreas Lenz das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FrauBulling-Schröter, nur kurz zu den Begrifflichkeiten.Konkurrenz kann nur bestehen, wenn man im Wettbe-werb steht. Ich habe noch nicht erlebt, dass Härtereienmit Friseuren im Wettbewerb stehen. Dies vielleicht zurKlarstellung der Begrifflichkeiten, sodass man in der Sa-che diskutieren kann.
Mit dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sor-gen wir dafür, dass energieintensive Unternehmen ausden Branchen Schmieden, Oberflächenveredelung undHärtereien die Besondere Ausgleichsregelung in An-spruch nehmen können. Damit können die betroffenenUnternehmen von der EEG-Umlage entlastet werden. Esgeht um rund 80 Unternehmen, für die wir so Planungs-und Investitionssicherheit schaffen. Zudem enthält derGesetzentwurf eine Klarstellung zur anteiligen Direkt-vermarktung.Mit der Reform des EEG im vergangenen Jahr sindwir bei der Energiewende einen wichtigen Schritt voran-gekommen. Wir haben einen planbaren und verlässli-chen Ausbaupfad geschaffen. Wir werden bis 2025 einenAnteil der erneuerbaren Energien im Strombereich von40 bis 45 Prozent und bis 2035 von 55 bis 60 Prozent ha-ben.Das Sinken der EEG-Umlage auf 6,17 Cent pro Kilo-wattstunde sowie der Rückgang der Strompreise sindgute Signale. Millionen von privaten Haushalten profi-tieren davon.Der Erfolg der Energiewende muss sich aber auch da-ran messen lassen, dass Deutschland ein wettbewerbsfä-higer Wirtschafts- und Industriestandort bleibt. Dazusind Sonderregelungen für die stromintensiven Indus-trien schlichtweg erforderlich. Die europafeste Refor-mierung der Besonderen Ausgleichsregelung war des-halb ein Schwerpunkt bei der Novelle des EEG. Wirkümmern uns um den Industriestandort Deutschland.Uns sind die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätzeim Industriebereich wichtig.Oft wird gesagt, die Industrie leiste keinen Beitrag fürdie Energiewende. Das ist weit gefehlt. Die deutsche In-dustrie zahlt 7,4 Milliarden Euro EEG-Umlage. Das istnahezu so viel, wie die privaten Haushalte insgesamt be-zahlen. Die Industrie trägt somit knapp ein Drittel derGesamtkosten der EEG-Umlage. Übrigens bezahlen dieIndustrie, der Handel und das Gewerbe über die Hälfteder EEG-Umlage.Ohne die Besondere Ausgleichsregelung für strom-intensive Unternehmen würde die EEG-Umlage für2014 lediglich um 1,36 Cent pro Kilowattstunde gerin-ger ausfallen. Hinsichtlich der jetzt zu treffenden Ände-rungen für die Härtereien würde die Minderbelastung le-diglich bei etwa 0,001 Cent pro Kilowattstunde liegen.Die zusätzliche Belastung für die übrigen Umlagezahlerhält sich also in engen Grenzen. Der Nutzen für die be-troffenen Unternehmen und die damit verbundenen Ar-beitsplätze ist dafür umso höher. Ohne die BesondereAusgleichsregelung würde ein privater Haushalt zwar imSchnitt circa 55 Euro pro Jahr weniger bezahlen, wegender zu erwartenden Wohlstandsverluste würde das realverfügbare Einkommen jedoch im Durchschnitt um rund500 Euro pro Jahr sinken.Gerne wird auch die Mär verbreitet, Deutschlandhabe im Vergleich niedrige Industriestrompreise. LassenSie mich dazu aus dem kürzlich vorgelegten Fortschritts-bericht zur Energiewende zitieren:Die durchschnittlichen Strompreise für Industrie-kunden liegen in Deutschland in weiten Teilen überdem EU-Durchschnitt und deutlich über den Strom-preisen in den USA.Es besteht die Gefahr, dass hohe Stromkosten zu einerschleichenden Deindustriealisierung und zu Arbeits-platzverlusten in Deutschland führen. Bereits heute istdie Investitionstätigkeit der energieintensiven Industriein Deutschland chronisch schwach. Wie eine Studie desInstituts der deutschen Wirtschaft zeigt, wurde im ver-gangenen Jahrzehnt nicht einmal ausreichend investiert,um den Verschleiß der Produktionsstätten auszuglei-chen.Wir brauchen also gerade für energieintensive Unter-nehmen einen verlässlichen Rahmen für Investitionen.Diesen haben wir durch die Besondere Ausgleichsrege-lung europarechtlich sicher geschaffen. Auch für Härte-reien und Schmieden liegen die entsprechenden Voraus-setzungen vor. Deshalb weiten wir jetzt endlich auch dieBesondere Ausgleichsregelung auf diese Branche aus.Es ist übrigens Unsinn, in diesem Zusammenhang vonDienstleistungen zu sprechen. Die Branche verfügt übereine hohe industrielle Wertschöpfungstiefe.Es gibt auch andere Branchen, die die Kriterien erfül-len könnten. Dies gilt es, jetzt im Gesetzgebungsverfah-ren zu prüfen. Was bedeutet die Aufnahme der Härte-reien konkret? Ich habe hierzu in dieser Woche miteinem betroffenen Unternehmer aus Schwaben gespro-chen. Aus der AG habe ich ja nun hinreichende Schwä-bischkenntnisse und habe den Gesprächspartner dement-sprechend auch verstanden.
Das Unternehmen hat seit über einem Jahr eine Bauge-nehmigung für eine weitere Fertigungshalle. Pläne wur-den bis jetzt auf Eis gelegt. Nach Aufnahme wird dieHärterei jetzt 200 neue Arbeitsplätze schaffen und zu-sätzlich Arbeitsplätze sichern können. Bei einem Strom-verbrauch von 50 Millionen Kilowattstunden beträgt dieEntlastung für das Unternehmen rund 500 000 Euro imJahr, Geld, das jetzt für Zukunftsinvestitionen für den
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Dr. Andreas Lenz
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Erhalt und Aufbau von Arbeitsplätzen zur Verfügungsteht. Wir finden das richtig.Mit dem Änderungsgesetz ist auch eine Klarstellungim Bereich der anteiligen Direktvermarktung verbunden.Auch zukünftig wird es möglich sein, bei der anteiligenDirektvermarktung eine gemeinsame Messeinrichtungzu verwenden. Gerade Windparks profitieren davon.Missbrauchsgefahren entstehen dadurch nicht. Daher istes richtig, dass wir nun diese Klarstellung im Gesetzvornehmen. Ansonsten hätten einzelne Betroffene auchhier massive Einschnitte zu erwarten gehabt. Daran se-hen wir: Wir betreiben eine ausgewogene Energiepolitik.Wir kümmern uns um sachgerechte Lösungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen dieEnergiewende voranbringen, ohne dabei Bürgerinnenund Bürger sowie Unternehmen in unserem Land zuüberfordern. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung ste-hen hinter der Energiewende. Das soll auch so bleiben.Das Änderungsgesetz ist ein wichtiger und sinnvollerBeitrag zur langfristigen Planung und zur Investitions-sicherheit für die energieintensive Industrie in Deutsch-land. Künftig müssen wir die erneuerbaren Energiennoch mehr an den Markt heranführen. Die Ergebnisseder ersten Ausschreibungen im Photovoltaikbereich sindvielversprechend. Wir werden diese jedoch genau prü-fen.Zudem gilt es, die Systemdienlichkeit stärker zu be-rücksichtigen: Wo macht der Zubau welcher erneuerba-ren Energien Sinn? Die Kraft-Wärme-Kopplung mussauch zukünftig eine wichtige Rolle im Konzert der Maß-nahmen für das Gelingen der Energiewende spielen.Herr Saathoff hat das natürlich schon ausgiebig formu-liert. Das war eines der wenigen Dinge, die ich verstan-den habe. Beim Friesischen war ich nicht so – –
– Beim Plattdeutschen – da fängt es schon an – war ichnicht so kundig.
– Genau! Aber es gibt ja Hoffnung, dass ich auch beimPlattdeutschen noch Erkenntnisgewinne erlangen werde.Weiterhin beschäftigt uns – wir haben das schon ge-hört – die Ausgestaltung des künftigen Strommarktde-signs in Deutschland. Die ersten Vorschläge dazu liegenhier auf dem Tisch. Es gilt nun, intensiv zu diskutieren.Da gibt es durchaus noch Diskussionsbedarf.Wir sollten den Mut zu marktwirtschaftlichen Ansät-zen für die Gewährleistung der Versorgungssicherheithaben. Gleichzeitig ist die damit verbundene Kapazitäts-reserve so auszugestalten, dass die notwendigen Kapazi-täten auch flächendeckend verteilt vorhanden sind.Bei allen nationalen Anstrengungen ist zudem eineenge Koordinierung auf europäischer Ebene notwendig.Es gibt nach wie vor viel zu tun. Wir stellen uns denAufgaben und finden – wie jetzt bei den Härtereien undder anteiligen Direktvermarktung – verantwortliche Lö-sungen.Ein schönes Wochenende! Für mich war es die letzteRede! Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrteDamen und Herren! Vor nicht einmal einem Jahr habenwir bzw. Sie als Große Koalition die Änderungen des Er-neuerbare-Energien-Gesetzes verabschiedet. Heute müs-sen wir uns schon wieder mit einer Änderung dieses Ge-setzes befassen. Wieder geht es darum, dass dieIndustrieprivilegien ausgeweitet werden, also mehr Un-ternehmen als bisher bei der EEG-Umlage begünstigtwerden.Ich erwarte, dass die Bundesregierung ab sofort mehrElan an den Tag legt und sich bei den energiepolitischenThemen, wo auch die Bürgerinnen und Bürger profitie-ren – zum Beispiel diejenigen, die sich für die Energie-wende engagieren –, mehr einsetzt. Es gäbe wirklichgenug Bedarf, beim Erneuerbare-Energien-Gesetz nach-zusteuern.
Weil die Zeit knapp ist, nenne ich Ihnen beispielhaftnur drei Punkte:Erstens. Sie haben uns einen Ersatz für das weggefal-lene Grünstromprivileg versprochen. Zurzeit kann Öko-strom aus deutschen EEG-Anlagen nicht als solcher ver-kauft werden. Das heißt, der wertvolle Grünstromverschwindet im diffusen Graustrom. Für die Akzeptanzder Energiewende – auch für Integration der erneuerba-ren Energien – ist aber ein Grünstromvermarktungsmo-dell wichtig. Es liegen inzwischen mehrere Vorschlägevor. Deshalb frage ich Sie von der Bundesregierung,wann Sie hier endlich aktiv werden.Es gab zweitens auch noch den Vorschlag eines Mie-terstrommodells, bei dem auch Mieter, die sich keine ei-gene Solaranlage auf das Dach setzen können, mehr vonder Energiewende profitieren. Auch hierzu hören wirvon der Regierung nichts.Drittens besteht dringender Handlungsbedarf bei derPhotovoltaik. Der Ausbau ist inzwischen auf 1 800 Me-gawatt im Jahr eingebrochen. Wenn wir nur die letztensechs Monate betrachten, ergibt sich noch etwas Gravie-renderes. Es wäre dann, hochgerechnet auf das Jahr, nurnoch ein Ausbau von 1 200 Megawatt. Eigentlich wolltedie Bundesregierung das Doppelte pro Jahr erreichen.Das heißt also, Sie müssen Maßnahmen ergreifen, umüberhaupt Ihr eigenes, selbstgestecktes Ziel zu erreichen.Wir erwarten da Vorschläge von Ihrer Seite. Es ist drin-gend nötig, bei der Energiewende voranzukommen, weilwir den Mix aller erneuerbaren Energien brauchen.
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Dr. Julia Verlinden
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Grundsätzlich scheint bei Ihnen in der Koalition ge-rade so einiges schiefzulaufen. Kaum macht MinisterGabriel einen halbwegs vernünftigen Vorschlag zur Be-grenzung des CO2-Ausstoßes in der Energiewirtschaft,schon malt die Braunkohleindustrie den drohenden Ver-lust von Zehntausenden Arbeitsplätzen an die Wand. Dassind wirklich abenteuerliche Berechnungen.Die CDU – namentlich Herr Fuchs und Herr Kauder –stellten sich gegen diese Pläne auf. Nun stehen Sie voreinem Problem; denn die Braunkohle emittiert allein ge-nauso viel CO2, wie im Rahmen des CO2-Budgets fürdas Jahr 2050 überhaupt nur vorgesehen ist. Das heißt,die Abschaltung der Braunkohlekraftwerke ist unaus-weichlich, wenn Sie denn Ihre eigenen Klimaziele nichtaufgeben wollen.
Es ist jetzt Ihre Pflicht, den Strukturwandel einzuleitenund zu gestalten, statt wie Rumpelstilzchen mit dem Fußaufzustampfen und Nein zu schreien.
Heute war in der Zeitung zu lesen, dass die Energie-wende unter dem Strich viele neue zusätzliche Arbeits-plätze bringt. Besonders hilfreich sei, wenn am dezentra-len Ausbau des Ökostroms vor allem kleine und mittlereUnternehmen beteiligt sind. Wenn die Bundesregierungim Bereich Wärme- und Energieeffizienz endlich einmalaus den Puschen kommen würde, könnten hier noch sehrviel mehr Jobs entstehen, heißt es in dieser zitierten Stu-die.Der notwendige Strukturwandel kommt sowieso.Deswegen sollte die Politik ihn nun aktiv gestalten, aucharbeitsmarktpolitisch. Es wäre doch Ihre Aufgabe, aufdie Sorgen der Menschen einzugehen, ihnen ganz kon-krete Angebote zu machen. Doch stattdessen gießt dieUnion ständig neues Öl ins Feuer, missbraucht ganzpopulistisch die Angst der Menschen und hintertreibt diePläne ihres eigenen Koalitionspartners. Da sind Sie vonder Union ausnahmsweise einmal auf einer Linie mit denGewerkschaften, die in dieser Debatte mit Zahlen ope-rieren, die wirklich jeglicher Grundlage entbehren.
– Ja.
– Ja. Schauen Sie einmal in die Studie des Umweltbundes-amtes, die heute Morgen in der Zeitung stand: 4 700 Ar-beitsplätze.
Laut Koalitionsvertrag wollen Sie beide – SPD undUnion – die Energiewende. Aber dann überzeugen Siedie Menschen! Nehmen Sie sie mit!Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksacke 18/4683 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 6. Mai 2015, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich schließe mich all den
guten Wünschen für das Wochenende an.