Protokoll:
18101

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 101

  • date_rangeDatum: 24. April 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 16:17 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/101 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 101. Sitzung Berlin, Freitag, den 24. April 2015 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 25: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren Drucksache 18/4684 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9653 D b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: 100. Jahresgedenken des Völ- kermords an den Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 – Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöh- nung beitragen Drucksache 18/4335 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9654 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Cem Özdemir, Claudia Roth (Augsburg), Peter Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern – Versöhnung durch Auf- arbeitung und Austausch fördern Drucksache 18/4687 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9654 A Präsident Dr. Norbert Lammert . . . . . . . . . . . 9653 A Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9654 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 9655 B Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) . . . . . . . . 9656 C Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9657 D Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9659 C Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9660 C Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9661 D Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9663 A Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9664 B Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Jutta Krellmann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Programm für gute öffentlich geförderte Beschäftigung aufle- gen Drucksache 18/4449 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9665 C Heike Werner, Ministerin (Thüringen) . . . . . . 9665 C Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9667 D Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9669 D Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9670 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9670 D Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9672 B Kai Whittaker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9674 B Dr. Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9676 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9677 D Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9678 B Dr. Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9678 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 9679 A Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9679 C Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU) . . . . . . 9680 B Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . 9681 D Jutta Eckenbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9683 A Markus Paschke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9684 B Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 9685 C Tagesordnungspunkt 23: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Verbesserung der Zusammenar- beit im Bereich des Verfassungsschutzes Drucksache 18/4654 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9686 D b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über den Umsetzungsstand der Empfehlungen des 2. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages in der 17. Wahlperiode (NSU-Untersuchungs- ausschuss) Drucksache 18/710 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9686 D c) Antrag der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksame Alternativen zum nachrich- tendienstlich arbeitenden Verfassungs- schutz schaffen Drucksache 18/4682 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9686 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele, Irene Mihalic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Zäsur und einen Neustart in der deutschen Sicherheitsarchitektur Drucksache 18/4690 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9687 A Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9687 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9689 B Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9690 B Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9691 B Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9692 B Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 9693 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9695 C Dr. André Hahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9696 C Uli Grötsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9697 D Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9699 B Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9700 B Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9702 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9704 A Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) 9705 A Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9705 C Dr. André Hahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9706 B Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Die NVV-Überprüfungskonferenz zum Erfolg führen Drucksache 18/4685 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9708 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die europäische Sicherheitsstruktur retten – Übereinkommen in Gefahr Drucksache 18/4681 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9708 C Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) . . . . . . . . . . . . 9708 C Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 9709 D Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9710 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9711 D Wolfgang Hellmich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9712 D Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9713 D Dr. Katja Leikert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9714 B Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gute Versorgung am Lebensende sichern – Palliativ- und Hospizversorgung stärken Drucksache 18/4563 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9715 C Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9715 D Emmi Zeulner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9717 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 III Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9718 B Helga Kühn-Mengel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9719 B Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9720 A Bettina Müller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9720 D Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9721 D Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Bestimmungen des Rechts des Energieleitungsbaus Drucksache 18/4655 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9722 D Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9722 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 9723 B Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9724 B Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9725 C Johann Saathoff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9726 C Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes Drucksache 18/4683 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9727 C Johann Saathoff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9727 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 9729 B Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9730 A Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9731 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9732 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9733 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9733 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9653 (A) (C) (D)(B) 101. Sitzung Berlin, Freitag, den 24. April 2015 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9733 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Albsteiger, Katrin CDU/CSU 24.4.2015 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.4.2015 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 24.4.2015 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 24.4.2015 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 24.4.2015 Gröhe, Hermann CDU/CSU 24.4.2015 Groth, Annette DIE LINKE 24.4.2015 Grund, Manfred CDU/CSU 24.4.2015 Hartmann (Wackernheim), Michael SPD 24.4.2015 Hochbaum, Robert CDU/CSU 24.4.2015 Dr. Högl, Eva SPD 24.4.2015 Hunko, Andrej DIE LINKE 24.4.2015 Irlstorfer, Erich CDU/CSU 24.4.2015 Kassner, Kerstin DIE LINKE 24.4.2015 Keul, Katja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.4.2015 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 24.4.2015 Dr. Krings, Günter CDU/CSU 24.4.2015 Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.4.2015 Dr. Lauterbach, Karl SPD 24.4.2015 Dr. von der Leyen, Ursula CDU/CSU 24.4.2015 Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.4.2015 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 24.4.2015 Rebmann, Stefan SPD 24.4.2015 Dr. Rosemann, Martin SPD 24.4.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.4.2015 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 24.4.2015 Schimke, Jana CDU/CSU 24.4.2015 Schlecht, Michael DIE LINKE 24.4.2015 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.4.2015 Vogel (Kleinsaara), Volkmar CDU/CSU 24.4.2015 Werner, Katrin DIE LINKE 24.4.2015 Zertik, Heinrich CDU/CSU 24.4.2015 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 932. Sitzung am 27. März 2015 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Fünftes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzgebung und anderer Gesetze (5. SGB IV- ÄndG) Der Bundesrat hat ferner nachstehende Entschließung gefasst: 1. Der Bundesrat begrüßt, dass im Rahmen der Assis- tierten Ausbildung mit dem vorliegenden Gesetz ein wichtiger Schritt hin zu einer besseren Unterstützung förderungsbedürftiger junger Menschen und deren Ausbildungsbetriebe erfolgt. Dadurch könnten mehr erfolgreiche Abschlüsse der Berufsausbildung er- reicht werde. 2. Die Kammern unterhalten, wie auch gesetzlich fest- gelegt, sogenannte Ausbildungsberater. Der Bundes- rat bittet die Bundesregierung, bei der Umsetzung des Gesetzes dafür Sorge zu tragen, dass die Betreuer der Assistierten Ausbildung während der Berufsaus- bildung mit diesen Ausbildungsberatern verstärkt zu- sammenarbeiten. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 9734 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 (A) (C) (D)(B) – Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst – Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des Diens- tes in der Bundeswehr (Bundeswehr-Attraktivi- tätssteigerungsgesetz – BWAttrakt StG) – Gesetz zur Dämpfung des Mietanstiegs auf ange- spannten Wohnungsmärkten und zur Stärkung des Bestellerprinzips bei der Wohnungsvermitt- lung (Mietrechtsnovellierungsgesetz – MietNovG) Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließung ge- fasst: Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, für eine praxistaugliche Ausgestaltung der im Wirt- schaftsgesetz 1954 (WiStrG 1954) enthaltenen Rege- lungen zur unangemessenen Mietpreisüberhöhung Sorge zu tragen, da es sich hierbei nach wie vor um ein notwendiges Instrument zum Schutz der Mieter vor überhöhten Mieten handelt. Bei der erforderli- chen Überarbeitung bietet sich der Rückgriff auf Zif- fer 8 des Beschlusses des Bundesrates vom 7. November 2014, BR-Drucksache 447/14 (Be- schluss), an. Begründung: Nach § 5 Absatz 1 WiStrG 1954 handelt ordnungs- widrig, wer vorsätzlich oder leichtfertig für die Ver- mietung von Räumen zum Wohnen oder damit ver- bundene Nebenleistungen unangemessen hohe Entgelte fordert, sich versprechen lässt oder an- nimmt. Es handelt sich um ein sogenanntes Verbots- gesetz gemäß § 134 BGB, sodass die Erfüllung des Ordnungswidrigkeitstatbestandes durch den Vermie- ter im Sinne eines umfassenden Mieterschutzes zu- gleich zivilrechtliche Rückzahlungsansprüche des Mieters begründen kann. Die von der höchstrichterli- chen Rechtsprechung für die Bestimmung eines „un- angemessenen Entgelts“ an die Tatbestandsmerkmale „Ausnutzung eines geringen Angebots an vergleich- baren Räumen“ geknüpften Voraussetzungen haben jedoch dazu geführt, dass nach einhelliger Meinung die Norm in der heutigen Fassung für die Praxis un- tauglich ist. Die Überarbeitung der oben genannten Norm ist auch nicht durch die im Mietrechtsnovellierungsge- setz vorgesehenen Neuregelungen im BGB zur Be- grenzung der Wiedervermietungsmiete entbehrlich geworden. Da hiernach selbst der vorsätzlich han- delnde Vermieter eine gesetzeswidrig überhöhte Miete nur zurückzahlen muss, wenn der Mieter einen Verstoß gegen die Regelungen der §§ 556d ff. BGB gerügt hat und die zurückverlangte Miete nach Zu- gang der Rüge fällig geworden ist (§ 556g Absatz 2 Satz 1 BGB), sind zum Schutz der Mieter weitere Regelungen im Wirtschaftsgesetz 1954 geboten. – Gesetz zur Bevorrechtigung der Verwendung elektrisch betriebener Fahrzeuge (Elektromobili- tätsgesetz – EmoG) – Gesetz zu dem Abkommen vom 19. September 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik der Philippinen über Soziale Sicherheit – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 11. April 2014 über die Beteiligung der Republik Kroatien am Europäischen Wirtschaftsraum Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit- geteilt, dass sie den Antrag Internationale Förderung von Kohlekraftwerken beenden auf Drucksache 18/2623 zu- rückzieht. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Zwölfter Bericht der Bundesregierung über die Aktivi- täten des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe und der einzelnen Rohstoffabkommen Drucksachen 18/3725, 18/3890 Nr. 2 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Eine Agenda für den Wandel zu nachhaltiger Entwick- lung weltweit – Die deutsche Position für die Verhand- lungen über die Post 2015-Agenda für nachhaltige Ent- wicklung Drucksachen 18/3604 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/4152 Nr. A.2 Ratsdokument 5096/15 Drucksache 18/4375 Nr. A.1 Ratsdokument 6031/15 Innenausschuss Drucksache 18/3362 Nr. A.3 Ratsdokument 14911/14 Drucksache 18/3362 Nr. A.4 Ratsdokument 14915/14 Drucksache 18/3765 Nr. A.3 Ratsdokument 15783/14 Haushaltsausschuss Drucksache 18/3898 Nr. A.13 Ratsdokument 14886/14 Drucksache 18/4152 Nr. A.4 Ratsdokument 5317/15 Drucksache 18/4152 Nr. A.5 Ratsdokument 5375/15 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9735 (A) (C) (B) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/4375 Nr. A.5 EP P8_TA-PROV(2015)0034 Verteidigungsausschuss Drucksache 18/4152 Nr. A.8 Ratsdokument 17036/1/14 REV 1 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Drucksache 18/1048 Nr. A.15 Ratsdokument 7220/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.55 Ratsdokument 11592/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.56 Ratsdokument 11598/14 Drucksache 18/2845 Nr. A.11 Ratsdokument 12867/14 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 18/3765 Nr. A.14 EP P8_TA-PROV(2014)0066 Drucksache 18/4375 Nr. A.8 EP P8_TA-PROV(2015)0040 (D) Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 101. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 25, ZP 5 Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16 TOP 24 Öffentlich geförderte Beschäftigung TOP 23, ZP 6 Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes TOP 26, ZP 7 NVV-Überprüfungskonferenz (Atomwaffensperrvertrag) TOP 27 Palliativ- und Hospizversorgung TOP 28 Recht des Energieleitungsbaus TOP 29 Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810100000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich zu dieser Plenarsitzung, insbesondere auch die
zahlreichen Gäste, die zum ersten Tagesordnungspunkt
erschienen sind. Dieser Tagesordnungspunkt behandelt
ein herausragendes historisches Ereignis mit nachhalti-
gen Folgen nicht nur für das Nachbarschaftsverhältnis
zwischen der Türkei und Armenien. Schon die Vereinba-
rung dieser Debatte im Deutschen Bundestag hat große
öffentliche Aufmerksamkeit gefunden.

Völkermord ist ein Straftatbestand im Völkerrecht für
Taten mit der Absicht, „eine nationale, ethnische, rassi-
sche oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise
zu zerstören“. Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im
Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen
der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord. Er ist nicht
der letzte im 20. Jahrhundert geblieben. Umso größer ist
unsere Verpflichtung, im Respekt vor den Opfern und in
der Verantwortung für Ursachen und Wirkungen die da-
maligen Verbrechen weder zu verdrängen noch zu be-
schönigen.

Wir Deutsche haben niemanden über den Umgang
mit seiner Vergangenheit zu belehren. Aber wir können
durch unsere eigene Erfahrung andere ermutigen, sich
ihrer Geschichte zu stellen, auch wenn es schmerzt: Das
selbstkritische Bekenntnis zur Wahrheit ist Vorausset-
zung für Versöhnung. Dazu gehört, die Mitverantwor-
tung des Deutschen Reiches an den Verbrechen vor
100 Jahren zu benennen. Obwohl die Reichsleitung um-
fassend informiert war, nutzte sie ihre Einflussmöglich-
keiten nicht. Das Militärbündnis mit dem Osmanischen
Reich war ihr wichtiger als die Intervention zur Rettung
von Menschenleben. Diese Mitschuld einzuräumen, ist
Voraussetzung unserer Glaubwürdigkeit gegenüber Ar-
menien wie der Türkei.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste, Ge-
schichte erzwingt jenseits der historischen Fakten eine
Deutung. Sie ist damit zwangsläufig politisch. Diesen
Streit mag man beklagen. Aber er ist unvermeidlich, und
er gehört ins Parlament. Seit den beispiellosen Gewalter-
fahrungen des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass es kei-
nen wirklichen Frieden geben kann, solange nicht den
Opfern, ihren Angehörigen und Nachkommen Gerech-
tigkeit widerfährt, im Erinnern an das, was tatsächlich
geschehen ist.

Auch heute werden Menschen Opfer von Verfolgung,
aus politischen, ethnischen und auch aus religiösen
Gründen, darunter Tausende Christen. Die Türkei leistet
mit der Aufnahme von weit über 1 Million Flüchtlingen
eine immense, zu selten gewürdigte und manchen in Eu-
ropa beschämende humanitäre Hilfe. Diese Bereitschaft,
Verantwortung in der Gegenwart zu übernehmen, ver-
gessen wir ausdrücklich nicht, wenn wir an das Bewusst-
sein auch der Verantwortung für die eigene Vergangen-
heit appellieren.

Die heutige Regierung in der Türkei ist nicht verant-
wortlich für das, was vor 100 Jahren geschah, aber sie ist
mitverantwortlich für das, was daraus wird. Dass sie in
einer eigenen Zeremonie einen Schritt auf die Nachfah-
ren und den Nachbarn zugeht, würdigen wir ausdrück-
lich, vor allem aber die vielen mutigen Türken und Kur-
den, die sich zusammen mit Armeniern bereits seit
Jahren um eine ehrliche Aufarbeitung dieses finsteren
Kapitels der gemeinsamen Geschichte bemühen: Schrift-
steller, Journalisten, Bürgermeister, religiöse Führer. Ich
denke an den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk
und an den Journalisten Hrant Dink, der seinen Einsatz
für die historische Wahrheit mit dem Leben bezahlte. Sie
verdienen unsere Unterstützung, und sie brauchen sie
auch. Dazu wollen wir mit unserer heutigen Debatte bei-
tragen.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und b sowie
den Zusatzpunkt 5 auf:

25 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD

Erinnerung und Gedenken an die Vertrei-
bungen und Massaker an den Armeniern
vor 100 Jahren





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Drucksache 18/4684
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

100. Jahresgedenken des Völkermords an
den Armenierinnen und Armeniern 1915/
1916 – Deutschland muss zur Aufarbei-
tung und Versöhnung beitragen
Drucksache 18/4335
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem
Özdemir, Claudia Roth (Augsburg), Peter
Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gedenken an den 100. Jahrestag des Völker-
mords an den Armeniern – Versöhnung
durch Aufarbeitung und Austausch fördern
Drucksache 18/4687
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu gibt
es offensichtlich Einvernehmen. Also können wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gernot Erler für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1810100100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am

heutigen 24. April, an dem 100. Jahrestag des Beginns
der Vertreibung und Massaker an den im Osmanischen
Reich lebenden Armeniern, verneigen wir uns vor den
Opfern, und wir trauern mit ihren Nachkommen. Wir tun
dies in anhaltender Erschütterung über das Massenhafte
und Wahllose des damaligen Tötens und Vernichtens
und im Wissen darum, dass heute nicht nur in Jerewan
und ganz Armenien, sondern an vielen Orten der welt-
weiten armenischen Diaspora an das tragische Schicksal
der Opfer erinnert wird.

Im gleichen Atemzug bekennen wir uns aber auch zur
deutschen Mitverantwortung für das Geschehen. Und
Mitverantwortung heißt hier auch historische Mitschuld,
die wir rückhaltlos einräumen. Denn längst steht fest
– es ist gut belegt –, dass deutsche Diplomaten über die
Ausrottung und Vernichtung der christlichen Armenier
nach Hause berichteten, dass deutsche Offiziere in türki-
schen Diensten beteiligt waren, die Reichsregierung aber
mit Rücksicht auf die Türkei als Weltkriegsverbündeten
keinerlei Einwände gegen die genozidale Vertreibungs-
politik geltend machte, sondern ihr durch Wegschauen
und Stillschweigen Deckung verschaffte.

Was Deportation damals bedeutete, das hat Armin
Theophil Wegner aus dem Stab des berühmten im Otto-
manischen Reich eingesetzten Feldmarschalls Colmar
von der Goltz uns in einem nachträglich verfassten Be-
richt überliefert. Ich zitiere:

Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste
von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt,
erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt,
von Seuchen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, ver-
dursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von
Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den
Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen,
Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen,
Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euph-
rat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte
starben sie.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gedenktage sind
dazu da, dass man innehalten kann, dass man Trauerar-
beit leistet. Sie dienen gerade bei einem in der Diaspora
zerstreuten Volk der Identitätsstiftung. Aber sie mahnen
auch, sich um eine bessere Zukunft zu bemühen.

Vorgestern erreichte uns eine Botschaft des armeni-
schen Präsidenten Sersch Sargsjan. Darin wird er wie
folgt zitiert:

Es geht um ein wichtiges geschichtliches Datum für
das armenische Volk und die internationale Ge-
meinschaft.

Dabei wolle Armenien aber „nicht nur zurückschauen
und über historische Fakten nachdenken“. „Niemals
wieder“ müsse die Botschaft lauten. Dieser Ansatz ver-
dient Unterstützung. Er will ganz offensichtlich das tra-
ditionelle armenische Opfervolk narrativ aufbrechen und
den engen Rahmen des Memory War verlassen. „Nicht
nur zurückschauen“ heißt in der Konsequenz, sich für
eine bessere Zukunft Armeniens einzusetzen und dabei
das immer noch verbissen geführte Ringen um die Völ-
kermordfrage in einen wirklich von beiden Seiten getra-
genen Versöhnungsprozess münden zu lassen. Ohne ei-
nen solchen tatsächlich von beiden Seiten ehrlich
geführten Versöhnungsprozess wird das Leiden an der
Vergangenheit, die Fesselung in den historischen Trau-
mata in beiden Ländern nicht aufhören können.

Im Oktober 2010 schien der Einstieg in die Normali-
sierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern zum
Greifen nahe. Die beiden Züricher Protokolle – Produkt
zweijähriger über die Schweiz vermittelter Geheimver-
handlungen – sahen die Aufnahme diplomatischer Be-
ziehungen, die Öffnung der seit 1993 geschlossenen
Grenzen und den Ausbau der politischen, wirtschaftli-





Dr. h. c. Gernot Erler


(A) (C)



(D)(B)

chen und kulturellen Beziehungen vor, einschließlich ei-
ner gemeinsamen Beschäftigung mit der Vergangenheit.
Die Züricher Dokumente wurden nicht ratifiziert. Sie
zerschellten am Widerstand nationalistischer Kräfte in
beiden Ländern. Eine Tragödie! Was wäre angemesse-
ner, als dass der große Gedenktag heute zum Ausgangs-
punkt eines neuen Normalisierungs- und Aussöhnungs-
prozesses wird? Nichts anderes will der hier vorliegende
Antrag der Koalition, der die Bundesregierung nach-
drücklich auffordert, einen solchen Prozess zu unterstüt-
zen. Dasselbe Ziel hat ein am 15. April beschlossener
Antrag des Europäischen Parlaments.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch auf tür-
kischer Seite positive Signale. Schon im vergangenen
Jahr hat Präsident Erdogan sein Mitleid mit den armeni-
schen Opfern bekundet und von unmenschlichen Vertrei-
bungen gesprochen. In einem Schreiben von Minister-
präsident Davutoglu heißt es – ich zitiere –:

Wir gedenken der unschuldigen osmanischen Ar-
menier, die ihr Leben ließen, mit Respekt. Wir spre-
chen ihren Nachkommen unser Mitgefühl aus.

Das sind Anknüpfungspunkte. Sich zu Mitverantwor-
tung, ja zur Mitschuld zu bekennen, reicht nicht aus. In
Deutschland stehen wir in der Pflicht, unsere Beziehun-
gen zu beiden Ländern zu nutzen, um bei der Suche nach
Auswegen zu helfen.

Wir wissen aber auch um die schwierige Situation der
kleinen Republik Armenien: mit den geschlossenen
Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan, mit dem un-
gelösten Konflikt in Nagornij Karabach, an dessen
Grenze im Jahr 2014 mehr Verluste an Menschenleben
zu verzeichnen waren als in allen Jahren zuvor, mit den
besonderen Abhängigkeiten, die deutlich geworden sind,
als Armenien erst mit der EU ein Assoziierungsabkom-
men ausgehandelt hat, dann aber im Herbst 2013 den
Entschluss fasste, Mitglied der von Russland geführten
Zollunion und heute der Eurasischen Wirtschaftsunion
zu werden, und mit der Ausdehnung von Armut im eige-
nen Land. Die friedliche Lösung des Karabach-Problems
und die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Je-
rewan und Ankara sind die beiden Schlüsselfragen für
die 3 Millionen Menschen in Armenien. Das Land
braucht gerade an einem Tag wie heute Hoffnung. Von
unserer Debatte sollten eine solche Hoffnung und das
klare Signal unserer Hilfsbereitschaft ausgehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810100200

Ulla Jelpke ist die nächste Rednerin für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810100300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-

grüße die Gäste auf der Tribüne, insbesondere die Ver-
treterinnen und Vertreter der armenischen und assyri-
schen Verbände, die dieser historischen Debatte folgen.


(Beifall)


Meine Damen und Herren, wir gedenken heute der
Opfer des Völkermordes an den Armeniern im Osmani-
schen Reich. Diesem Verbrechen fielen 1,5 Millionen
Menschen zum Opfer. Hunderttausende Assyrer und an-
dere Christen wurden damals ermordet. Die Armenier
sprechen von „Aghet“, der Katastrophe; die Assyrer
nennen diese Ereignisse „Sayfo“, das Schwert. Wir ver-
neigen uns vor den Toten, und ihren Nachfahren drücken
wir unser tief empfundenes Mitgefühl aus.

Meine Damen und Herren, Völkermord wird von den
Vereinten Nationen als Handlung mit der Absicht defi-
niert – wir haben es eben schon gehört –, „eine nationale,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche
ganz oder teilweise zu zerstören“. Genau darum ging es
den Jungtürken mit ihrem Geheimplan zur – so wörtlich –
„Ausmerzung des armenischen Volkes in seiner Gesamt-
heit“. Ihr Ziel war die Schaffung eines ethnisch homo-
genen Nationalstaates in Anatolien und der Raub ar-
menischen Besitzes. Zuerst wurden im Februar 1915
armenische Soldaten der osmanischen Armee entwaffnet
und erschossen, dann, am 24. April, die armenische Füh-
rungselite aus Konstantinopel deportiert. Anschließend
wurden bei landesweiten Dorfrazzien die armenischen
Männer von der jungtürkischen Sonderorganisation mas-
sakriert und Frauen, Kinder und Alte auf Todesmärsche
getrieben. Die angeblich kriegsbedingten Deportationen
waren Verbannungen ins Nichts – das hatte Innenminis-
ter Talaat Pascha offen eingestanden. Diejenigen Arme-
nier, die Angriffe von kurdischen und kaukasischen Räu-
berbanden, Krankheiten, Hunger und Durst überlebt
hatten, wurden im Sommer 1916 in der mesopotami-
schen Wüste von Todesschwadronen niedergemetzelt.
Ohne jeden Zweifel handelte es sich um einen vorsätz-
lich geplanten und durchgeführten Völkermord.

An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich denjenigen
Kolleginnen und Kollegen in den Fraktionen von Union
und SPD danken, die in dieser Frage nie ein Blatt vor
den Mund genommen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn Ihrem Drängen ist es – gemeinsam mit den deutli-
chen Worten des Papstes, aber auch des Bundespräsiden-
ten Gauck – zu verdanken, dass im Antrag der Koalition
zumindest das Wort „Völkermord“ enthalten ist. Doch
explizit als Völkermord benannt wird die Vernichtung
der Armenier im Koalitionsantrag immer noch nicht.
Dieses Verstecken hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten
ist einfach beschämend und diesem Anlass zutiefst un-
würdig.

Meine Damen und Herren, es geht hier keinesfalls da-
rum, Millionen in der BRD lebende türkischstämmige
Bürgerinnen und Bürger für die Verbrechen vor 100 Jah-
ren in Kollektivhaftung zu nehmen. Doch Kenntnis und
Eingeständnis historischer Wahrheiten sind die Voraus-
setzung für einen Aussöhnungsprozess zwischen Türken





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

und Armeniern. Es soll hier auch nicht um eine selbstge-
rechte Belehrung der Türkei gehen. Denn wer über
1915/1916 spricht, der muss auch über unsere eigene
Geschichte sprechen. Schließlich war das Deutsche Kai-
serreich der engste Verbündete des Osmanischen Rei-
ches. Ohne dieses Kriegsbündnis, das der türkischen
Führung den Rücken freihielt, wäre der Völkermord so
nicht möglich gewesen. Die Koalition verharmlost dies
in ihrem Antrag als „unrühmliche Rolle des Deutschen
Reiches“, das nicht versucht habe, diese Verbrechen zu
stoppen. Auch der Grünen-Antrag erkennt nur in diesem
einen Punkt eine deutsche Mitverantwortung. Doch die
verbrecherische Komplizenschaft ging weit über unter-
lassene Hilfeleistung hinaus. Es handelte sich vielmehr
um Beihilfe zum Völkermord. Der Reichskanzler unter-
sagte jede Kritik am türkischen Bündnis. Ich zitiere:

Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des
Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob
darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.

Lediglich der sozialistische Abgeordnete Karl
Liebknecht protestierte damals im Reichstag gegen die
Ausrottung der Armenier. Hohe deutsche Offiziere und
Diplomaten in der Türkei befürworteten sogar offen die
Vernichtung der Armenier. So notierte der deutsche Chef
der osmanischen Flotte, Admiral Souchon – ich zitiere –:

Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn
sie den letzten Armenier umgebracht hat, sie würde
dann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein.

Einige deutsche Offiziere unterzeichneten sogar Depor-
tationsbefehle und ließen armenische Stadtviertel be-
schießen. Deshalb fordert die Linke heute die Bundes-
regierung dazu auf, sich vorbehaltlos zur historischen
Mitverantwortung des Deutschen Reiches zu bekennen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Bundestag muss – genauso wie das der Präsident
heute bereits gemacht hat – bei den Armenierinnen und
Armeniern um Verzeihung bitten.

Lassen Sie mich noch ein paar Anmerkungen zur Ge-
genwart machen; denn wer Augenzeugenberichte aus
den Jahren 1915/1916 über Massaker und Massenverge-
waltigungen liest, dem kommen unweigerlich aktuelle
Bilder aus der Region in den Sinn. Dort, wo vor 100 Jah-
ren der Todesgang des armenischen Volkes in der syri-
schen Wüste endete, herrschen heute die Schlächter des
sogenannten Islamischen Staates und der Al-Nusra-
Front. Christen, deren Vorfahren als Überlebende des
Genozids nach Syrien flohen, sind heute erneut auf der
Flucht. Kirchen werden angezündet, Frauen werden ver-
sklavt. Die dschihadistischen Mörderbanden kommen
ungehindert über die türkische Grenze. Sie erhalten lo-
gistische Hilfe, Munition und sogar Feuerschutz aus
der Türkei. Die Bundesregierung weiß das, doch sie
schweigt dazu. Ihr einziges Ziel scheint zu sein, den
NATO-Partner Türkei an ihrer Seite zu halten, gleichgül-
tig ob darüber Kurden oder Armenier zugrunde gehen.
Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, mit
Erdogan und seiner Regierung über 1915 und über die
Gegenwart endlich Klartext zu reden.
Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810100400

Das Wort erhält nun der Kollege Christoph Bergner

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1810100500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte

Gäste! Heute vor 100 Jahren hat auf Befehl der jungtür-
kischen Regierung eine Verhaftung der politischen und
kulturellen Elite der Armenier in Istanbul stattgefunden.
Sie sind verschleppt und ermordet worden. Dies war der
Auftakt zu einer umfassenden Verschleppung und plan-
mäßigen Vernichtung der armenischen Untertanen des
Osmanischen Reiches. Mit dieser Debatte wollen wir
uns in das Gedenken an diese schrecklichen Ereignisse
einreihen. Ich möchte Sie einladen, der Opfer und der
Verwüstungen dieses Geschehens zu gedenken, zu ge-
denken der Hunderttausenden Armenier, eingeschlossen
zahlreiche aramäische, chaldäische und assyrische
Christen, die brutal vertrieben, furchtbar misshandelt
und mit planvoller Konsequenz und oft hemmungsloser
Grausamkeit getötet wurden. Ich möchte Sie einladen,
zu gedenken der jahrhundertealten armenischen Kultur
Anatoliens, die infolge dieser Ereignisse weitgehend
vernichtet wurde, einer Kultur, die sich in langer Koexis-
tenz mit anderen Kulturen der Region entwickelt und
entfaltet hat und deren Verlust für uns alle dauerhaft
schmerzhaft bleibt.

Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben
eine besondere historisch-moralische Verpflichtung, uns
an dem weltweiten Gedenken anlässlich des 100. Jahres-
tages dieser Ereignisse zu beteiligen und uns zu deut-
schen Fehlern und deutscher Schuld zu bekennen. Neben
dem Osmanischen Reich war das Deutsche Kaiserreich
der am tiefsten involvierte Staat. Aus Rücksicht auf
seine militärischen Ziele im Ersten Weltkrieg machte er
sich unterlassener Hilfeleistung gegenüber den der Ver-
nichtung ausgesetzten Armeniern schuldig. Hierfür bit-
ten wir um Entschuldigung. Wir stehen in der Rechts-
nachfolge des Deutschen Reiches, und wir haben
deshalb hier mit besonderer Ernsthaftigkeit die Debatten
zu führen, die seinerzeit den Mitgliedern des Reichsta-
ges wegen Zensurmaßnahmen der Reichsregierung nicht
möglich waren.

Vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag mit einer
einstimmig verabschiedeten Resolution endlich eine
90 Jahre dauernde Sprachlosigkeit der deutschen Politik
zum Schicksal der osmanischen Armenier beendet. Ich
erlebte damals die Erarbeitung und Einbringung dieses
Antrages, der mit wissenschaftlicher Unterstützung des
leider viel zu früh verstorbenen Hermann Goltz entstand.
Ich erlebte damals einen vielfältigen türkischen Wider-
spruch zu dieser Initiative – von der türkischen Botschaft
über Abgeordnete der AKP, aus dem türkischen Parla-
ment bis hin zu CDU-Mitgliedern türkischer Herkunft.
Ich erinnere mich besonders an die Worte eines CDU-





Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)

Ortsvorsitzenden aus Berlin – ich führe ihn exemplarisch
an –, der mir sagte: Ich werde meinem Sohn nie sagen,
eine türkische Regierung habe Armenier vertrieben und
getötet; das ist für mich eine Frage der Ehre. – Meine
Damen und Herren, spätestens da habe ich begriffen, wie
schwierig das Selbstverständnis ist, mit dem wir hier zu
ringen haben. Das ist ein Ehrbegriff, der sich an dem
Gründungsmythos des türkischen Staates orientiert. Da-
mit haben wir uns auseinanderzusetzen. Ich möchte dazu
einladen, dass wir dieser Auseinandersetzung nicht aus-
weichen


(Beifall im ganzen Hause)


und die Forderung ernst nehmen, die wir in unserem da-
maligen Antrag beschlossen haben: Deutschland muss
zur Versöhnung von Armeniern und Türken beitragen. –
Das ist eine Forderung, die nicht an Aktualität verloren
hat.

Der Versöhnungsauftrag, den wir uns gegeben haben,
bezieht sich nicht nur, so wichtig das ist – Kollege Erler
ist darauf eingegangen –, auf das Verhältnis zwischen
der Türkei und Armenien. Er bezieht sich auch und ins-
besondere auf die Diaspora, auf die Menschen armeni-
scher und türkischer Herkunft in unserem Land. Er be-
zieht sich beispielsweise auf die Kinder türkischer und
armenischer Familien; diese Kinder haben einen An-
spruch darauf, in unseren Schulen ein Geschichtsbild
vermittelt zu bekommen, das sich von den Ergebnissen
der historischen Wissenschaft und dem Geiste der Auf-
klärung ableitet und durch seine Objektivität für Aus-
gleich sorgt.

Der deutsche Staat muss ein Interesse daran haben,
dass Konflikte, die Zuwanderer als Teil ihrer Identität in
unsere Gesellschaft mitbringen, nicht durch beschwich-
tigende Zurückhaltung und Indifferenz deutscher Politik
auf Dauer unbewältigt bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mir liegt ein Aufruf verschiedener türkischer Verbände
zu einer Demonstration am morgigen Tag am Branden-
burger Tor vor, in dessen Überschrift es heißt: „Der Völ-
kermordlüge ein Ende! Nimm Deine Flagge und
komm!“ Es ist das Recht dieser Verbände, für ihre Auf-
fassung zu demonstrieren. Aber ist es nicht unsere
Pflicht als frei gewählte Vertreter des deutschen Volkes,
klar zu bekennen, welche Deutung der Ereignisse vor
100 Jahren uns angemessen und richtig erscheint?


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich habe Zweifel, dass wir, wenn wir in dieser Dis-
kussion überzeugend auftreten und klar Stellung bezie-
hen wollen, auf den Begriff „Völkermord“ verzichten
können.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Wir haben in der Koalition um die Angemessenheit die-
ses Begriffes intensiv gerungen. Ich verstehe und re-
spektiere das Anliegen derer, die um der Verständigung
und um des Zieles der Versöhnung willen jede polarisie-
rende Wortwahl vermeiden wollen. Aber die Berech-
tigung dieses Anliegens endet dort, wo semantische
Zurückhaltung zur faktischen Verharmlosung und Rela-
tivierung der Tragödie führt, die im Mittelpunkt unseres
Gedenkens steht.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist richtig: Der Straftatbestand des Völkermordes,
geschweige denn der Begriff, existierte vor 100 Jahren
noch nicht. Seine Formulierung und Definition ist erst
im Zuge der Erarbeitung der UN-Konvention über die
Verhütung und Bestrafung von Genoziden gefunden
worden. Das war 1948, 33 Jahre nach der Vernichtung
der osmanischen Armenier. Aber ist es ein Grund, die
Verwendung des Begriffes „Völkermord“ für unange-
bracht zu halten? Ist es nicht normaler Ausdruck einer
lebendigen Sprachentwicklung, wenn sich zur Beschrei-
bung alter Sachverhalte auch jüngerer Begriffe bedient
wird? Dies gilt umso mehr, als die Massaker an den Ar-
meniern vor 100 Jahren nachträglich zum zentralen Be-
zugspunkt der Erarbeitung der Völkermordkonvention
wurden. Für Raphael Lemkin, den Schöpfer des Begrif-
fes „Genozid“ und Initiator der Völkermordkonvention
der Vereinten Nationen, schien dies jedenfalls wichtig zu
sein; denn er stellt rückblickend fest – ich zitiere Lemkin –:

Die Leiden armenischer Männer, Frauen und Kin-
der, die in den Euphrat geworfen … wurden, haben
den Weg für die Annahme der UN-Genozidkonven-
tion vorbereitet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vor zehn
Jahren die Sprachlosigkeit angesichts des Schicksals der
osmanischen Armenier überwinden können. Lassen Sie
uns die Beratung dieser Anträge im Ausschuss zum An-
lass nehmen, unsere Sprachfähigkeit weiter zu üben und
fortzuentwickeln, und lassen Sie uns unter dem Auftrag
handeln, den wir uns vor zehn Jahren gegeben haben:
Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Armeniern
und Türken beitragen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810100600

Nächster Redner ist der Kollege Cem Özdemir für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810100700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Gäste! Ich möchte mich zunächst bei unserem Bundes-
präsidenten Gauck für seine klaren Worte gestern Abend
aus Anlass des Gedenkgottesdienstes zum 100. Jahrestag
des Völkermordes an den Armeniern, Aramäern und As-
syrern bedanken. Ich danke unserem Bundespräsidenten
insbesondere für diese gewisse Portion Unbeirrbarkeit,
die ihn auszeichnet, für die wir ihn schätzen und lieben.
Ich füge nach der heutigen Rede des Bundestagspräsi-





Cem Özdemir


(A) (C)



(D)(B)

denten hinzu: Das gilt natürlich in derselben Weise auch
für Sie, Herr Bundestagspräsident.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Leider kann ich die Vertreter der Bundesregierung in
dieses Lob nicht mit einschließen. Denn wäre es nach Ih-
nen gegangen, dann würden wir bis heute das türkische
Narrativ wiederholen, dass es den Völkermord nicht gab.
Ich verstehe das nicht; denn ich unterstelle Ihnen gute
Absichten. Auch Sie wollen zur Versöhnung beitragen.
Aber diese Haltung trägt nicht zur Versöhnung bei, son-
dern stützt diejenigen, die den Völkermord leugnen, und
diejenigen, die Unterstützung brauchen, die Vertreter der
türkischen Zivilgesellschaft, werden im Stich gelassen.
Da kenne ich mich, glaube ich, ganz gut aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich war im März zusammen mit der Kollegin Ekin
Deligöz in Armenien. Ich habe mit Vertretern der Regie-
rung, der Opposition, der Zivilgesellschaft, mit vielen
gesprochen. Niemand dort bemerkt, dass wir die Mittel
für die Versöhnungsarbeit im Auswärtigen Amt deutlich
erhöht haben. Auch unsere Diplomaten beklagen sich
darüber, dass sie diese Mittel gar nicht einsetzen können;
denn an Veranstaltungen, wo der Begriff Völkermord
auftaucht, dürfen sie nicht teilnehmen. Das versteht nie-
mand. Ich hoffe, dass sich das nach dem heutigen Tage
ändern wird.

Ich habe mich, als ich dort im Andenken an die Opfer
des Völkermordes den Kranz niedergelegt habe, gefragt:
In welcher Eigenschaft mache ich das? Natürlich als Ab-
geordneter des Deutschen Bundestages, als Vorsitzender
einer deutschen Partei. Aber wenn man im Ausland un-
terwegs ist, zumal in Armenien, und Cem Özdemir
heißt, dann reist die Herkunft logischerweise mit. In
meinem Fall zeigt es die ganze Zerrissenheit der Türkei.
Denn ein Teil meiner Vorfahren kommt aus dem Kauka-
sus; sie sind tscherkessischer Herkunft. Die Tscherkes-
sen haben genauso wie die Muslime auf dem Balkan
selber schrecklichstes Leid erfahren, sind vertrieben
worden, sind Opfer von Mord und Vernichtung gewor-
den. Und dieselben Tscherkessen haben sich in der Tür-
kei zum Teil am Völkermord an den Armeniern beteiligt.

Ich sage dies auch, weil es endlich Zeit ist, sich an die
Opfer aller Völkermorde, aller Vernichtungen zu erin-
nern. Wir sind es den Opfern und ihren Hinterbliebenen
schuldig, dass niemand ausgelassen wird und ab heute
alles beim Namen genannt wird.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich habe gelesen, dass es auch darum geht, dass wir
den Versöhnungsprozess nicht unterbrechen. Ich kann
Sie beruhigen. Ich war gestern in Istanbul. Ich habe an
einer türkisch-armenischen Veranstaltung zum Anden-
ken an die Opfer vom 24. April 1915 teilgenommen. An
dieser Veranstaltung haben Vertreter der Zivilgesell-
schaft, auch türkische Abgeordnete und andere Personen
teilgenommen. Alle waren sich einig in der Frage, die sie
an mich gerichtet haben: Was wird der Deutsche Bun-
destag 100 Jahre nach dem Völkermord in dieser Frage
machen? Ich habe dort Folgendes gesagt: Der Deutsche
Bundestag wird mit all seinen Rednern, mit all seinen
Fraktionen 100 Jahre danach aufhören, so zu tun, als ob
wir nichts mit dem Völkermord zu tun gehabt hätten. Er
wird ihn anerkennen, und er wird heute eine neue Seite
aufschlagen. – Und wir sind heute Zeugen davon, liebe
Kolleginnen und Kollegen.

Ich habe noch etwas gesagt: Kein deutsches Außen-
ministerium, kein deutsches Auswärtiges Amt wird
mehr Formulierungen verwenden wie – ich zitiere –
„Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/
1916“, um die damals unterlassene Hilfeleistung und
Mitverantwortung zu verleugnen. Auch das wird mit
dem heutigen Tag der Vergangenheit angehören, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist aber auch für die Türkei selber wichtig, dass die
Ereignisse von 1915 aufgearbeitet werden. Denn hätte
die Türkei den Völkermord aufgearbeitet, dann hätte
1938 nicht das Massaker an den Aleviten in Dersim
stattgefunden,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


dann hätten die Griechen am 6./7. September 1955 kein
Pogrom erleben müssen, dann hätte vielleicht der
schmutzige Krieg mit den Kurden nicht stattgefunden.
Ich bin mir auch sicher: Hätte man sich nicht am Besitz
der Armenier bereichert, wäre das Verständnis für die
Normen der Rechtsstaatlichkeit stärker ausgeprägt wor-
den.

Wie sagte mein ermordeter türkisch-armenischer
Freund Hrant Dink: Wären die Armenier heute noch am
Leben, die osttürkische Stadt Van wäre heute so etwas
wie das Paris des Ostens. – Es ist wichtig, zu verstehen,
dass damals Geistliche, Ärzte, Verleger, Journalisten,
Anwälte, Lehrer wie auch Politiker umgebracht worden
sind. Manche haben sich für sie eingesetzt, beispiels-
weise der damalige US-Botschafter Henry Morgenthau,
der immerhin durchsetzen konnte, dass der berühmte os-
manische – nicht nur armenische, sondern auch osmani-
sche – Komponist Komitas gerettet wurde. Er hat nach
seiner Rettung nie wieder eine Note angerührt, nie wie-
der ein Wort geäußert angesichts des Leids, das er erfah-
ren hat.

Ich wünsche mir künftige türkische Schulbücher, in
denen an das Leid dieser Menschen erinnert wird. Ich
wünsche mir in der Türkei Schulbücher, in denen die
Kinder etwas darüber erfahren, was dem Osmanischen
Reich und der Türkei verlorengegangen ist. Ich wünsche
mir, dass Kinder in der Türkei künftig lernen: Nicht
Talaat Pascha und Enver Pascha sind die Helden für die
Türken von heute, sondern es war der Gouverneur von
Kütahya, der gesagt hat: In meinem Verwaltungsbezirk
wird der Befehl aus Istanbul nicht angewendet. Kein ein-
ziger Armenier wird angerührt. – Das sollten die Vorbil-
der sein, über die unsere Kinder etwas lernen. Dann ler-





Cem Özdemir


(A) (C)



(D)(B)

nen sie nämlich auch, dass sich so etwas nie wiederholen
darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Um auch das klar zu sagen: Es geht hier nicht um
Überheblichkeit. Es geht hier nicht darum, dass wir mit
erhobenem Zeigefinger sprechen, sondern wir sprechen
als Freunde zu Freunden. Wir wollen als Freunde der
Türkei sagen: Es liegt auch im türkischen Interesse, dass
sich die Grenze zu Armenien öffnet und sich eines Tages
die Grenze zwischen der Türkei und Armenien so dar-
stellt wie heute Gott sei Dank die Grenze zwischen
Deutschland und Polen und zwischen Deutschland und
Frankreich. Das muss geschaffen werden, das kann ge-
schaffen werden, und dazu müssen wir alle unseren Bei-
trag leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will ein Weiteres sagen: Das zweifelhafte Privileg
des ersten Völkermordes in diesem Jahrhundert haben
leider wir Deutsche. Denn das, was damals im sogenann-
ten Deutsch-Südwestafrika, in unserer damaligen Kolo-
nie, mit den Herero und Nama passierte, erfüllt ebenfalls
den Tatbestand eines Völkermordes. Auch deshalb eig-
nen wir uns nicht als Lehrer, sondern höchstens als Rat-
geber,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


als diejenigen, die sagen können: Wer sich mit den dunk-
len Flecken der eigenen Geschichte beschäftigt, der wird
daran nicht kleiner, sondern – im Gegenteil – wächst da-
ran.

Es ist darum höchste Zeit, dass wir den Opfern end-
lich unser Mitgefühl aussprechen und uns entschuldigen:
bei den Armeniern, bei den Aramäern, bei all denen, die
durch das Osmanische Reich damals Leid erfahren ha-
ben. Aber auch wir hatten eben ein Deutsches Kaiser-
reich, das nichts dafür getan hat, dass diese Menschen
geschützt werden. Ich hoffe, dass künftige Generationen
in Armenien und in der Türkei wieder die Chance be-
kommen, als Nachbarn, als Freunde, als Brüder und
Schwestern aufzuwachsen. Heute leisten wir einen Bei-
trag dazu.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810100800

Das Wort erhält nun der Kollege Frank Schwabe für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1810100900

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich

habe gestern in der Süddeutschen Zeitung einen Hinweis
auf ein faszinierendes Internetprojekt gelesen. Nicht mit
dem Ziel der Wiederaneignung, sondern als Projekt der
Aufklärung und Erinnerung werden dort das Leben und
die Geschichte, die Kultur, die religiösen Riten, die fa-
miliären Gebräuche der 2 Millionen Armenier auf dem
Gebiet der heutigen Türkei zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts dargestellt. Man mag gar nicht aufhören, darin zu
schmökern, weiterzuklicken und sich das anzusehen,
weil es so faszinierend ist. Man bekommt in etwa ein
Bild und einen Eindruck davon, wie das armenische Le-
ben in der Türkei heute aussehen könnte, wenn es den
Völkermord nicht gegeben hätte.

Wir verneigen uns heute vor den armenischen Opfern
des Völkermords und gedenken auch der Massaker an
und der Vertreibung von Assyrern, Aramäern, osmani-
schen Griechen und anderen. Warum tun wir dies? Wir
können niemandem das Leben zurückgeben; aber wir
können versuchen, ein Stück der Würde zurückzugeben;
vielleicht ist auch das eine Chance für armenische Fami-
lien und das armenische Volk, das Erlittene zu verarbei-
ten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Und wir warnen – deshalb sind wir es uns schuldig,
die Geschehnisse so klar zu benennen –: Niemand auf
der Welt, der Auslöschung oder Ausradieren von Bevöl-
kerungsgruppen planen könnte – ich fürchte, es gibt sol-
che Leute auch heutzutage auf der Welt –, niemand von
denen wird, ohne Rechenschaft dafür ablegen zu müs-
sen, davonkommen; das ist auch die Botschaft des heuti-
gen Tages.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin Vorsitzender
eines Deutsch-Griechisch-Türkischen Städtepartner-
schaftsvereins, eines Dreierbündnisses, das dem Gedan-
ken des Verständnisses, der Verständigung und der Aus-
söhnung verpflichtet ist. Nicht nur deshalb liegt mir die
Freundschaft mit der Türkei und den Türkinnen und Tür-
ken besonders am Herzen. Ich versuche die tiefen Ge-
fühle und die Verletzungen der Armenier zu verstehen;
ich versuche aber auch zu verstehen, warum es eigent-
lich in der Türkei so schwierig ist und ihr so schwerfällt,
das Ganze zu verarbeiten und auch als Völkermord zu
bezeichnen.

Ich habe eine Zuschrift bekommen von einem tür-
kischstämmigen Mitbürger. Er hat geschrieben: Ich bin
mir sicher, dass meine Vorfahren so nicht gehandelt ha-
ben. – Gestern Abend bin ich mit einem Fahrer unter-
wegs gewesen, der mir gesagt hat: Wenn Sie da morgen
sprechen, denken Sie bitte auch an die Türken in
Deutschland, die möglicherweise nicht verstehen wer-
den, wie Sie die Dinge diskutieren und wie Sie sie be-
nennen.





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

Ich glaube, wir alle versuchen, diese Gefühle zu ver-
stehen, wir versuchen, zu verstehen, wie sich Menschen
fühlen, und wir versuchen, deutlich zu machen: Es geht
nicht um persönliche Verantwortung – wie könnte es um
persönliche Verantwortung gehen bei einem Völker-
mord, der 100 Jahre zurückliegt! –, aber es geht um eine
Gesamtverantwortung der Türkei, und es geht um eine
Verantwortung den Armeniern gegenüber. Deswegen ist
es richtig, dass wir heute so breit der Aufforderung des
Europaparlaments nachkommen und den Völkermord
auch Völkermord nennen, und es ist gut, dass wir das in
so großer Übereinstimmung der Institutionen nach einer
durchaus intensiven Debatte in den letzten Wochen tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Wir kommen unserer Verantwortung auch nach, weil
es – auch das ist angesprochen worden – ein ganz dunk-
les Kapitel deutscher Geschichte gibt. Deutschland trägt
Mitverantwortung, mindestens durch Unterlassung, bis
an die Spitze der Reichsregierung. Und Deutschland war
auch eingebunden in die Kommandostrukturen des Os-
manischen Reiches. Deswegen ist es gut – wir müssen
dafür danken –, dass es mittlerweile Publikationen zu
diesem Thema gibt – man kann das nachlesen – und dass
dazu auch weiter geforscht wird.

Wir benennen heute die Verbrechen der Vergangen-
heit, um in die Zukunft schauen zu können. Was mir da-
bei Hoffnung macht, ist, dass es in der Tat – auch das ist
angesprochen worden – zarte Pflanzen von Verständi-
gungsprozessen gibt. So hatten sich – auch das gehört
zur Wahrheit – vor 100 Jahren auch Kurden an der Ver-
treibung von und an Massakern an Armeniern beteiligt.
Mittlerweile, seit 2011, ist die armenische St.-Giragos-
Kathedrale in Diyarbakir wieder renoviert und wurde
auch wieder geweiht, mit Unterstützung der Kurden. Ich
finde, das ist ein gutes Signal, wie Verständigung ausse-
hen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich komme gerade von der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates in Straßburg. Dort
gibt es einen Plenarsaal wie hier, und vor dem Plenarsaal
sind zwei Ausstellungen zu betrachten, ungefähr 20 Me-
ter voneinander entfernt. Vielleicht ist es nicht ganz zu-
fällig, dass es genau zwei Ausstellungen gibt. Die eine
wird von Armenien ausgerichtet zum Thema „100 Jahre
Völkermord“; Herr Jung nickt, wir waren gemeinsam da.
Die von der Türkei ausgerichtete Ausstellung heißt: Safe
Harbour Turkey, also Sicherer Hafen Türkei; dabei geht
es darum, was die Türkei geleistet hat während des Ho-
locaust, aber auch aktuell in der Syrien-Krise – es ist an-
gesprochen worden –, um Menschen zu helfen, um Men-
schen bei sich zu beherbergen. Das ist eine wirklich
beachtliche Leistung der Türkei.

Ich wünsche mir – das ist, glaube ich, die Hoffnung
von uns allen –, dass wir dort in einigen Jahren eine ge-
meinsame Ausstellung betrachten können, in der die bei-
den Länder sich gemeinsam der Verantwortung stellen,
sich gemeinsam mit dieser Völkermordsituation aus-
einandersetzen und daraus Kraft schöpfen für sich selbst,
für die Region, für Europa, aber auch für die gesamte
Welt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810101000

Nächster Redner ist der Kollege Norbert Röttgen für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1810101100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich möchte mich in meinem Beitrag auf die Frage
konzentrieren, warum es so wichtig, ja warum es so not-
wendig ist, dass der Deutsche Bundestag in der heutigen
Debatte und fortan über den und vor allen Dingen von
dem Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren
spricht. Ich glaube, dazu müssen wir uns bewusst ma-
chen bzw. bewusst zu machen versuchen, was eigentlich
Völkermord ausmacht, gewissermaßen der Fragestel-
lung nachgehen, worin das spezifische Unwesen von
Völkermord liegt.

Nach meiner Beobachtung geht es den Organisatoren
von Völkermord regelmäßig darum, durch physische
Vernichtung ein Volk für immer zum Schweigen zu brin-
gen, es aus der Geschichte zu tilgen, sei es als Ganzes
oder als Minderheit in einer Bevölkerung. Völkermord
ist gewissermaßen die umfassende Negation des Rechts
der physischen Existenz und der Erinnerung an ein Volk.
Dieser umfassenden Negation dürfen wir nicht auch
noch die Negation des Verbrechens als solches hinzufü-
gen, meine Damen und Herren. Das dürfen wir nicht!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vielmehr ist es ein zwingendes Gebot der Solidarität
mit den Opfern und ihren Nachfahren, von dem Verbre-
chen als einem Völkermordverbrechen zu sprechen. Das
schulden wir den Opfern und ihren Nachfahren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Gemäß diesem Verständnis ist die Bezeichnung als
Völkermord darum nicht eine Möglichkeit, angemessen
von den damaligen Geschehnissen zu sprechen, sondern
nach meiner Überzeugung die einzige Möglichkeit einer
angemessenen Sprache über die historischen Gescheh-
nisse.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In der Verwendung dieses Begriffes liegt keine Reduk-
tion der Geschehnisse auf einen Begriff, sondern die





Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)

Verwendung des Begriffes ist die Beschreibung der Di-
mension dessen, was stattgefunden hat. Es ist also genau
andersherum.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn das so ist, dann gehört zu einer ehrlichen De-
batte heute allerdings auch die Frage: Warum geschieht
das, auch in Deutschland, erst 100 Jahre später, erst
heute?


(Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, sehr gut!)


Es gehört zur Ehrlichkeit, die wir uns selbst schulden,
uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich glaube nicht,
dass das in Polemik abgehandelt werden sollte. Aller-
dings liegt dem ein Argument zugrunde, das ich für
falsch halte, und ich möchte es aussprechen und mich
damit beschäftigen. Das Argument war, dass man abwä-
gen müsse. Zwar lägen allen die Fakten vor Augen, doch
wir müssten – so lautete das Gegenargument – abwägen,
da wir, wenn wir in dieser Weise in die Identität und das
Identitätsgefühl der Türken eingriffen, möglicherweise
keinen Beitrag zu Aussöhnung und Aufarbeitung leiste-
ten. Das lag und liegt bei manchen womöglich noch dem
Argument der Abwägung zugrunde.

Ich bin der Auffassung, dass Abwägung ein Wesens-
prinzip demokratischer Politik ist. Dadurch unterschei-
det sich demokratische Politik von extremistischen und
populistischen Auffassungen. Aber, um es etwas untech-
nisch zu formulieren: Bei Völkermord hört die Abwä-
gung auf, meine Damen und Herren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist das
universelle, nicht abwägungsfähige normative Grundbe-
kenntnis unserer Verfassung. Es bindet uns politisch und
normativ. Die Anerkennung von Völkermord ist eine
Frage der Menschenwürde, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es widerspricht jeder Erfahrung, dass durch fortge-
setztes Verschweigen ein Beitrag zum Dialog geleistet
werden könnte. Alle Erfahrung belegt das Gegenteil.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD])


Auch wenn es der schwierige, schmerzhafte Schritt sein
soll, wie auch wir aus unserer Erfahrung beitragen kön-
nen: Mit dem Aussprechen dessen, was geschehen ist, ist
die Chance auf Aussöhnung und Aufarbeitung gegeben.
Dieser erste Schritt muss getan werden. Wir wissen, dass
es schmerzhaft ist. Es ist nicht zu billigen, es nicht zu
schildern; aber wir müssen verstehen, dass dieser Völ-
kermord, genauer gesagt, das Bestreiten des Völkermor-
des für das nationale Empfinden und für die nationale
Identität in der Türkei eine besondere Rolle spielt. Das
macht die Schwierigkeit aus, aber wir dürfen die feh-
lende Aufarbeitung nicht durch Verschweigen fortset-
zen, sondern müssen versuchen, einen Beitrag zu leisten.

Ich will kurz noch aus meiner Sicht betonen: All das
gilt prinzipiell, aber es gilt besonders für Deutsche und
Deutschland, weil es von Anfang an deutsche Mitwisser-
schaft gegeben hat, weil das Deutsche Reich erheblich
Einfluss hätte nehmen können, um dieses Verbrechen
aufzuhalten, zu behindern, zu stoppen, und weil es von
Anfang an – darauf hat Professor Wolfgang Seibel vor
kurzem hingewiesen – eine Komplizenschaft auch des
Deutschen Reiches und Deutschlands beim Verschwei-
gen und Vertuschen gegeben hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD])


Darum gibt es auch eine besondere deutsche Verant-
wortung.

Es gab Verschweigen, Verdrängen und Vertuschen
von Anfang an. Heute beenden wir das Verdrängen und
Vertuschen, aber nicht mit dem Verständnis, dass damit
ein Ende gesetzt wird, sondern in dem Bemühen, dass
durch das Aussprechen ein Beitrag zu einem Anfang für
Aufarbeitung und Versöhnung geleistet wird. Auch
100 Jahre danach ist es nicht zu spät. Es ist überfällig,
und wir versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810101200

Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Dietmar

Nietan das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1810101300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am

27. Januar des Jahres 2000 hat hier, an diesem Redner-
pult, der große Elie Wiesel zu uns gesprochen. Er hat uns
damals, am Holocaust-Gedenktag, eine Mahnung mit
auf den Weg gegeben. Er sagte – ich zitiere –:

Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die
Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.

Heute sind wir hier in diesem Hohen Hause zusam-
mengekommen, um den Opfern des Völkermords an den
Armeniern vor 100 Jahren unsere Ehre zu erweisen.
Dass nunmehr in den Entschließungsanträgen aller Frak-
tionen vom Völkermord gesprochen wird, geschieht
nicht, um Hass zu schüren oder ein befreundetes Land
wie die Türkei belehren oder gar beleidigen zu wollen.
Vielmehr wollen wir heute deutlich machen – ganz im
Sinne von Elie Wiesels Mahnung –, dass wir uns eben
nicht dazu herbeilassen wollen, die Erinnerung an die
Opfer zu verdunkeln.





Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)

Aus diesem Grund, weil wir den unschuldigen Opfern
Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, haben wir uns
dazu entschlossen, die vom damaligen jungtürkischen
Regime befohlene systematische Vertreibung und Ver-
nichtung der anatolischen Armenier wie auch die der
Aramäer, Assyrer, der chaldäischen Christen und
Pontusgriechen als das zu bezeichnen, was diese Verbre-
chen ohne Zweifel waren: ein Völkermord.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern Abend hat
unser Bundespräsident in einer sehr beeindruckenden
Rede zu Recht gefordert, dass wir Deutsche uns insge-
samt der Aufarbeitung unserer Mitverantwortung oder
vielleicht sogar Mitschuld beim Völkermord an den Ar-
meniern stellen müssen. Wir, die Abgeordneten des
Deutschen Bundestages, sollten uns deshalb in aller
Form gegenüber dem armenischen Volk für die damalige
moralische Gleichgültigkeit des Deutschen Reiches ent-
schuldigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gott sei Dank sind heute viele Menschen in der Tür-
kei in der Frage des Umgangs mit diesem Völkermord
viel weiter als ihre eigene Regierung. Schauen wir uns
nur an, welche wirklich guten zivilgesellschaftlichen Ini-
tiativen sich in der Türkei in den letzten zehn Jahren ge-
gründet haben, die das Wort „Völkermord“ nicht aus-
sprechen, um zu polarisieren, sondern weil eben die
Wahrheit die Grundlage der Versöhnung sein muss. Hin-
ter dieser beispielhaften, mutigen Arbeit der türkischen
Zivilgesellschaft sollten wir als Bundestag nicht zurück-
bleiben.

Was meine ich damit? Ich bin froh, dass die heute
vorliegenden Anträge in die Ausschüsse verwiesen wer-
den. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass wir heute ei-
nen gemeinsamen Antrag vorgelegt hätten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe sehr, dass in der Ausschussberatung deutlich
wird, dass wir die richtige Balance zwischen Eifer und
Gleichgültigkeit finden.


(Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD])


Es geht nämlich nicht darum, dass der Antrag der beste
ist, in dem das Wort „Völkermord“ am häufigsten auf-
taucht. Es geht nicht darum, etwas zu unterstellen, weil
wir eine andere Meinung haben, wie man das Wort auch
im offiziellen diplomatischen Gebaren verwendet. Es
geht auch nicht darum, der Bundesregierung zu unter-
stellen, dass sie bisher nicht alles getan hat, oft auch hin-
ter den Kulissen, damit es zur Versöhnung kommt und
damit sich auch die Türkei der Auseinandersetzung mit
dem Völkermord stellt. Vielmehr geht es darum, dass
wir eine verantwortungsvolle Arbeit leisten, die nur ein
Ziel haben kann, nämlich Versöhnung, nicht Rechthabe-
rei. Das geht nur, wenn wir dabei auch die türkischen
Freunde mitnehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass es
selbstverständlich zu begrüßen ist, wenn es jetzt und
auch schon im letzten Jahr Aussagen türkischer Regie-
rungsmitglieder gibt bzw. gegeben hat, die den Nachfah-
ren der Opfer ihr Beileid aussprechen. Allerdings wer-
den in diesen Erklärungen die Verbrechen an den
Armeniern gleichzeitig weiter relativiert, indem sie als
eine Art unvermeidliche, fast schon natürliche Begleiter-
scheinung des Ersten Weltkriegs dargestellt werden. Wir
alle, aber auch die jetzige türkische Regierung wissen,
dass die Armenier nicht zufällig irgendwelchen Kriegs-
wirren, sondern einem eiskalt geplanten Verbrechen des
damaligen türkischen Staates zum Opfer gefallen sind.
Dazu muss sich die Türkei bekennen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Generationen von heranwachsenden Menschen in der
Türkei wurde in den Schulbüchern ein Bild der Ereig-
nisse eingepflanzt – so möchte ich es nennen –, mit dem
versucht wurde, auch nicht den leisesten Verdacht auf-
kommen zu lassen, dass sich der türkische Staat an den
Armeniern vergangen hat. Deshalb war es so leicht,
Emotionen in der Türkei zu schüren, weil man den Men-
schen erzählt hat: All die, die innerhalb und außerhalb
der Türkei von Völkermord sprechen, tun das, weil sie
den Ruf unseres Landes beschädigen wollen. – Das ist
falsch. Leider ist es genau umgekehrt; denn aus dem hin-
ter diesem Geschichtsbild stehenden Zwang, die wahren
Ausmaße der damaligen Verbrechen und ihre Urheber zu
verleugnen, weil man glaubt, sonst die nationale Identi-
tät zu verlieren, erwächst am Ende nur erneutes Unrecht.
Diesen Zyklus kann nur einer durchbrechen, nämlich die
türkische Regierung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte
ich deutlich machen, dass ich der festen Überzeugung
bin, dass am Ende die Menschen in der Türkei selbst
wissen wollen, wie ihre Geschichte war, und dass sie
auch zu den dunklen Seiten ihrer Geschichte stehen wol-
len. Weil das so ist, bin ich fest davon überzeugt, dass es
zu einer Versöhnung kommen wird. Immer mehr Men-
schen in der Türkei fragen nach ihrer Vergangenheit und
entdecken dabei zum Beispiel ihre eigene verschüttete
armenische Geschichte.

Deshalb kann man sagen: Der 1915 gestartete Ver-
such, das westarmenische Volk und seine Kultur auszu-
löschen, ist gescheitert. Er musste scheitern, weil es ei-
nen uneinnehmbaren Ort gibt: Er nennt sich Erinnerung.
Diesen Ort gibt es nicht nur in den Herzen der Nachfah-
ren der Opfer, sondern auch in den Herzen einer wach-





Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)

senden Zahl von Menschen, die nicht vergessen und ver-
tuschen wollen. Das Großartige ist, dass die Zahl dieser
Menschen wächst – in einem wunderbaren Land, wel-
ches wir Türkei nennen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810101400

Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1810101500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben uns heute Vormittag hier versammelt, um Anteil
an dem Schicksal der Opfer des Genozids im Osmani-
schen Reich zu nehmen. Wir haben uns nicht versam-
melt, um irgendjemanden an den Pranger zu stellen. Wir
wollen derer gedenken, die Opfer geworden sind, und
daraus auch die Lehren ziehen.

Auf den Tag genau vor 100 Jahren begann der Völ-
kermord an den Armeniern, den Aramäern, den Assy-
rern, den Chaldäern und auch den Pontosgriechen im
Osmanischen Reich. Es waren alle dort ansässigen
christlichen Religionsgemeinschaften davon betroffen.

„Dieses schreckliche Geschehen sollte als das be-
zeichnet werden, was es war: ein Genozid“, stellte Josef
Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in
Deutschland, mit Recht fest. Und er fügte an: „Hitler hat
sich später den Völkermord an den Armeniern quasi zum
Vorbild für die Vernichtung der Juden genommen“.

Prophetisch hat Franz Werfel in seinem Roman „Die
vierzig Tage des Musa Dagh“ die Todesmärsche als
wandernde Konzentrationslager geschildert. Es kommt
nicht von ungefähr, dass Peter Glotz und ich seinerzeit,
vor 15 Jahren, den Menschenrechtspreis der Stiftung
„Zentrum gegen Vertreibungen“ nach Franz Werfel be-
nannt haben, um damit einen Denkstein zu setzen. Der
erste Preisträger im Jahr 2003 war Mihran Dabag, der
Armenier, der sich mit der Genozidforschung beschäftigt
hat.

Aufarbeitung und Gedenken beginnen mit der Aus-
einandersetzung über das Geschehene. Es ist gut, dass
Künstler, Intellektuelle und Teile der türkischen Bevöl-
kerung längst über das Stadium der stillen innerlichen
Artikulation hinaus sind. Die Reflektion erfolgt öffent-
lich. Man setzt sich mit dem Schicksal der früheren ar-
menischen Mitbürger auseinander und nimmt Anteil da-
ran.

So haben im Jahr 2008 viele Menschen in der Türkei
eine Erklärung veröffentlicht und das unerträgliche lang-
jährige Schweigen durchbrochen. Das war ein wichtiger
und mutiger Schritt. Denn Mut gehörte damals wie heute
dazu, und diesen Mut sollten wir unterstützen. Das lässt
sich schon daran ermessen, wie auch heute noch seitens
der türkischen Regierung mit diesem Teil ihrer eigenen
Geschichte umgegangen wird, wenn beispielsweise Bot-
schafter nur deshalb abgerufen werden, weil eine Voka-
bel verwendet wurde, mit der man sich nicht auseinan-
dersetzen möchte.

Unverständlich und für mich unbegreiflich ist die Ve-
hemenz, mit der heute noch auch bei uns in Deutschland
in Teilen von Politik und Gesellschaft gegen eine unge-
schönte und unrelativierende Benennung dieses Geno-
zids als Genozid reagiert wird. Ich kann es nicht verste-
hen.

In dem vorliegenden Antrag wird mit Fug und Recht
die seinerzeitige viel zu große Rücksichtnahme der deut-
schen Reichsregierung auf den türkischen Bündnispart-
ner im Ersten Weltkrieg angeprangert. Frau Kollegin
Jelpke hat darauf hingewiesen: Karl Liebknecht war ei-
ner derjenigen, der das öffentlich angeprangert hat. Aber
es gab noch jemanden, der das getan hat, und zwar der
Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. Ganze zwei Poli-
tiker im Deutschen Reich haben sich öffentlich mit die-
ser Thematik auseinandergesetzt.

Angesichts der Zurückhaltung, etwas eindeutig zu be-
nennen, das eindeutig ist, stellt sich die Frage, ob es
nicht auch heute eine unangemessene Rücksichtnahme
auf den NATO-Bündnispartner Türkei ist, die verhindern
will, dass der Genozid im Osmanischen Reich ohne Um-
schweife und Verbrämung schlicht und wahrheitsgemäß
Genozid genannt wird. Die vorangegangenen Diskussio-
nen in den letzten Wochen haben das im Grunde genom-
men deutlich gemacht. Was ist denn die Folge daraus?
Wir fallen damit den mutigen Kräften in der Türkei in
den Rücken. Das kann nicht unser Anliegen sein.

Was mit dem Genozid seinerzeit verbunden war, ist
für uns unvorstellbar. Es war nicht nur die Tötung einer
ganzen Gruppe von Menschen; es ging mit einer un-
glaublichen Brutalität vor sich. Man massakrierte die
Menschen. Martin Niepage, von 1913 bis 1916 Lehrer
an der Deutschen Schule in Aleppo, berichtete:

Viel entsetzlichere Dinge erzählten die Ingenieure
der Baghdad-Bahn, nachdem sie nach Hause zu-
rückgekehrt waren. Sie berichteten, dass am Bahn-
damm bei Tel Abbait und Rasulain geschändete
Frauenleichen massenhaft herumlagen. Vielen von
ihnen hatte man Knüppel in den After hineingetrie-
ben.

Der deutsche Konsul aus Mosul, Herr Holstein, be-
richtete, er habe auf manchen Stücken des Weges
von Mosul nach Aleppo so viele abgehackte Kin-
derhände liegen sehen, dass man damit den ganzen
Weg hätte pflastern können.

Ja, es war wohl wahr: Kinder und Frauen wurden
auch in die Sklaverei geschickt. Die Zerstörung und die
Entweihung unzähliger Kirchen und Klöster, die Ver-
nichtung ganzer Dörfer gehörten zu dem perfiden Plan.

Die Vertreibung geschah systematisch zur Vernich-
tung der Menschen. Opfer starben auf den Todesmär-
schen in der syrischen Wüste. Ein Beamter des deut-
schen Konsulats beschreibt die Lage im Juli 1916 in
einem Schreiben an den Reichskanzler – die deutschen





Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)

Diplomaten haben immer wieder darauf hingewiesen
und gemahnt, aber es ist nichts erfolgt – wie folgt:

… die Strecke von Sabkha über Hammam nach
Meskene sei mit … Kleidungsstücken übersät; sie
sähe aus, als ob dort eine Armee zurückgegangen
wäre.

Er schrieb weiter, dass allein in Meskene 55 000 Arme-
nier begraben seien.

Von mancher Seite kommt heute der Rat, die Arme-
nier und andere Opfergruppen sollten sich auf die Gegen-
wart und die Zukunft konzentrieren, statt Kraft darauf zu
verwenden, die Staaten der Welt zur Anerkennung des
Genozids am eigenen Volk aufzufordern. Die Frage
drängt sich direkt auf, ob die Wirkung eines solchen Ver-
brechens an einem Volk alle Zukunftsorientierung über
Generationen hinweg lahmlegt oder sie gar gänzlich
nimmt.

Ich glaube, dieses Leid zu teilen, es anzuerkennen, es
beim Namen zu nennen, hilft den Nachfahren der Opfer,
ihre eigenen Kräfte wieder zu stärken, zu bündeln und
die Zukunft besser zu bewältigen. Man braucht Solidari-
tät von anderen, die keine Opfer waren, oder von ande-
ren, die auch Opfer waren und sich an die Seite stellen.

Das hat Papst Franziskus sehr deutlich gemacht. Ihm
zufolge ist das Gedenken eine unabdingbare Pflicht der
Menschen; „… denn“, so Papst Franziskus, „wo es keine
Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunde … offen“.
Deshalb ist es gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
wir uns heute gemeinsam erinnern und an der Seite der
Nachfahren der Opfer stehen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810101600

Zum Schluss dieser Aussprache erhält der Kollege

Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1810101700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geehrte

Gäste! Lassen Sie es mich gleich beim Namen nennen:
Wir gedenken heute des Völkermordes an den Armeni-
ern, und wir beraten Anträge. Die abscheulichen und
brutalen Ereignisse vor nunmehr 100 Jahren im Osmani-
schen Reich sind von meinen Vorrednern bereits be-
leuchtet worden. Nicht übersehen dürfen wir hier im
Deutschen Bundestag die unrühmliche Rolle des Deut-
schen Reiches, das über die Vorgänge bestens informiert
war und nichts dagegen unternommen hat.

Daraus erwächst für uns Deutsche heute eine ganz be-
sondere Verantwortung. Diese gebietet uns erstens, das
geschehene Grauen niemals zu vergessen, zweitens, die
bedrückende, aber unzweifelhafte historische Wahrheit
zu fördern, drittens – und aus meiner Sicht am wichtigs-
ten –, die Versöhnung zwischen Armenien und der Tür-
kei voranzubringen.

Grundlage jeder Versöhnung ist eine wahrheitsgetreue,
kritische Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Ge-
schichte, eine ungeschönte historische Wahrhaftigkeit.
Das wissen gerade auch die deutschen Heimatvertriebe-
nen sehr genau. Dazu gehört auch die zutreffende Ein-
ordnung der an den Armeniern verübten Verbrechen.
Dabei geht es beileibe nicht um bloße juristische Kate-
gorisierung. Davon zeugt allein schon die intensive De-
batte der vergangenen Tage. Es geht um Anerkennung
des Leides in seinem vollen Umfang.

Der Vorwurf des Völkermordes wiegt schwer. Die
völkerrechtliche Definition wurde heute schon mehrfach
zitiert. Diese Definition hat übrigens keinesfalls eine
zeitlich einschränkende Komponente, etwa erst ab In-
krafttreten der einschlägigen UN-Konvention im Jahr
1951. Diese regelt nämlich nur die Konsequenzen für ei-
nen schrecklichen Sachverhalt, der vor Inkrafttreten die-
ser Konvention nicht etwa weniger schrecklich gewesen
ist. Es kommt auch niemand auf die Idee, andere Völker-
morde vor 1951 mit dem gleichen Argument zu beschö-
nigen.

Mit einem solchen Vorwurf geht man nicht leichtfer-
tig um. Wenn wir jedoch unserer Verpflichtung zur
Wahrheitsförderung gerecht werden wollen, müssen wir
aus meiner Sicht anerkennen: Die Vertreibung und Er-
mordung der Armenier vor 100 Jahren war Völkermord.
Eine solche Feststellung ist schon allein deshalb so
wichtig, weil sie die Opfer und deren Nachfahren vor der
ständig präsenten Relativierung oder gar Leugnung des
Erlittenen befreit und somit angemessenes – auch ge-
meinsames – Gedenken und Erinnern ohne Rechtferti-
gungsnot ermöglicht. Nicht nur aus diesem Grund bin
ich froh, dass mit dem vorliegenden Koalitionsantrag ein
Weg begonnen wurde, sich historischen Tatsachen zu nä-
hern und diese beim Namen zu nennen. Ich verstehe
auch den Ansatz hinter der gewählten Formulierung. Die
Aufarbeitung des Geschehens und die Versöhnung zwi-
schen Armeniern und Türken – unsere Hauptanliegen –
können nicht bei uns in Deutschland erfolgen. Wir kön-
nen dafür aber Impulse geben.

Ich sage ganz aufrichtig: Eine klare Formulierung
halte ich für unerlässlich, und dafür plädiere ich. Ob ein
Völkermord als solcher bezeichnet wird oder nicht,
macht das Geschehene um nichts besser. Beschönigun-
gen hingegen perpetuieren Unrecht in die Zukunft.
Schon deswegen ermuntere ich die Türkei, hier etwas
mutiger zu werden. Gleichzeitig liegt mir viel daran,
deutlich zu machen, dass sich die Bezeichnung der Ver-
brechen als Völkermord in keiner Weise gegen die Tür-
kei oder gar ihre Bevölkerung richtet. Es ist kein Angriff
auf das Ansehen der modernen Türkei, wenn wir an das
Leid der Opfer des Völkermords an den Armeniern erin-
nern und das auch so nennen. Ganz im Gegenteil: Ein
Staat, der auch zu den dunkelsten Seiten der eigenen Ge-
schichte steht, zeigt Stärke und wahre Souveränität.

Gerade wir Deutschen haben unsere Erfahrungen mit
der Aufarbeitung der eigenen Geschichte gemacht. Vor
Jahrzehnten hätte kaum jemand zu hoffen gewagt, dass





Dr. Bernd Fabritius


(A) (C)



(D)(B)

Deutschland – nach der Schoah und den Verbrechen der
Nazis – im Jahre 2015 nicht nur mit seinen Nachbarstaa-
ten, sondern gerade auch mit Israel in enger Freund-
schaft verbunden sein würde. Wir haben gelernt, dass ein
Prozess der Aufarbeitung auch schmerzhafte Erkennt-
nisse erfordert. Diese auszuhalten, macht aber stärker.
Verzögerung wichtiger Aufklärungsarbeit oder gar
Schönfärberei begangener Verbrechen hingegen ist si-
cher nicht der richtige Weg, um mit der eigenen Vergan-
genheit umzugehen.

Bedauerlich finde ich, dass in der Türkei diesbezüg-
lich eher das Muster „einen Schritt vor, zwei Schritte zu-
rück“ zu beobachten war. Das den Armeniern zugefügte
Leid wird dort inzwischen zwar offener diskutiert; ermu-
tigenden Signalen aus der türkischen Zivilgesellschaft
folgen jedoch allzu oft Rückschläge seitens der Regie-
rung. Jenen, die es wagten, die Wahrheit offen auszu-
sprechen – und Orhan Pamuk ist nur ein Beispiel –, wur-
den Strafen angedroht, und wenn der Papst, das
Europäische Parlament oder der Europarat den Völker-
mord an den Armeniern als solchen benennen, reagiert
die türkische Regierung mit wütenden verbalen Ausfäl-
len und mit Drohungen.

Die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen
Vergangenheit wäre jedoch unabdingbare Voraussetzung
für einen echten, nachhaltigen Versöhnungsprozess mit
den armenischen Nachbarn. Von diesen erwarte ich Of-
fenheit, Versöhnungsbereitschaft und den Verzicht auf
verbale Rache. Die türkische Regierung fordere ich auf,
sich offen mit der Vergangenheit des Osmanischen
Reichs auseinanderzusetzen und eine systematische Auf-
arbeitung der Ereignisse vor 100 Jahren anzugehen. Das
wäre letztlich auch im Interesse der Türkei selbst.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810101800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4684, 18/4335 und 18/4687 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Vorlage auf der Drucksache 18/4335 zum
Tagesordnungspunkt 25 b soll ebenfalls federführend
beim Auswärtigen Ausschuss beraten werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich möchte Sie dann noch darauf aufmerksam ma-
chen, dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sit-
zung darauf verständigt hat, wegen des gesetzlichen
Feiertags am 1. Mai, den wir selbstverständlich nicht auf-
heben wollen, die Frist für die Einreichung von Fragen
zur mündlichen Beantwortung, die üblicherweise freitag-
mittags endet, in der Sitzungswoche vom 4. Mai aus die-
sem Grund auf Donnerstag, den 30. April, 10 Uhr, zu ver-
legen, und frage, ob jemand dagegen Widerspruch
anmeldet. – Das ist nicht der Fall. Dann haben wir auch
das einvernehmlich so festgehalten.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 24:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann (Zwickau), Jutta Krellmann, Klaus
Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Programm für gute öffentlich geförderte Be-
schäftigung auflegen

Drucksache 18/4449
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Einen Wider-
spruch dazu sehe ich nicht.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Landesministerin Heike Werner das Wort.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810101900

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte

Damen und Herren! Die Beschäftigungslage in Deutsch-
land zeichnet sich durch drei Dinge aus: einen hohen Be-
schäftigungsgrad, einen hohen Anteil an niedrig entlohn-
ter und unsicherer Beschäftigung und einen hohen Anteil
dauerhaft erwerbsloser Menschen. Trotz der sogenann-
ten Hartz-IV-Reformen und der derzeit guten Konjunk-
turlage stagniert die Zahl der Menschen, die länger als
ein Jahr erwerbslos sind, seit 2011 bei über 1 Million.

Sehr geehrte Damen und Herren, hinter dieser Zahl
verbergen sich individuelle Biografien von Menschen,
die über Jahre hinweg die Erfahrung machen müssen,
dass sie in der Arbeitswelt nicht gebraucht werden, dass
ihr Beitrag zum Wohlstand nicht benötigt wird. Das ist
eine erniedrigende Erfahrung. Ich denke, darüber sind
wir uns in diesem Haus alle einig. Ich gehe auch davon
aus, dass wir darin übereinstimmen, dass wir deshalb
mehr für diese Menschen tun müssen, als dies in der Ver-
gangenheit der Fall war.

Es mehren sich auch schon seit längerem die Stim-
men, nicht nur in der Linken, die Zweifel an der Agenda
2010 äußern; denn, sehr geehrte Damen und Herren, es
ist vollkommen richtig, dass nicht mehr Menschen des-
halb eine Arbeit finden, weil man sie mit Leistungskür-
zungen zwingt, miese Jobs anzunehmen. Umgekehrt ist
es ja wohl so, dass die Reformen mit schlecht bezahlter
Arbeit gut bezahlte Arbeit verdrängt haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Was also tun, wenn der einstige Heilsweg sich als Holz-
weg erweist?

In den 90er-Jahren hatte sich die richtige Erkenntnis
durchgesetzt, dass die Arbeitsmarktpolitik die kontinu-
ierliche Anpassung der beruflichen Qualifikationen an
die sich wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt un-
terstützen muss. Zum Glück wurde mit Hartz IV diese
aktive Arbeitsmarktpolitik nicht ganz aufgegeben, auch
wenn ich hinzufügen muss, dass mit Hartz IV das For-





Ministerin Heike Werner (Thüringen)



(A) (C)



(D)(B)

dern eindeutig die Oberhand über das Fördern gewonnen
hat.

Dabei ist es erwiesen, dass die Instrumente der akti-
ven Arbeitsmarktpolitik, also berufliche Qualifizierung,
Einarbeitungszuschüsse, Umschulungen usw., in einer
bestimmten Situation von Nutzen sein können. Wir wis-
sen, dass davon vor allem diejenigen profitieren, die
noch nicht lange erwerbslos sind oder unmittelbar von
der Arbeitslosigkeit bedroht sind. Deshalb sollten wir an
diesen Instrumenten festhalten.

Aber wir müssen uns auch fragen: Was tun wir für
diejenigen, die schon seit Jahren raus sind aus dem Job?
Viele von ihnen haben Hunderte Bewerbungen geschrie-
ben, haben sich weitergebildet oder umschulen lassen.
Sie haben Bewerbungstrainings mitgemacht, haben sich
in 1-Euro-Jobs verdingt, haben als Leiharbeiter gejobbt
oder für ein, zwei Jahre in einem Beschäftigungsprojekt
gearbeitet. Was sagen wir diesen Menschen? Erzählen
wir ihnen weiterhin, dass nur die zweite Beschäftigungs-
maßnahme, die dritte Schulung oder das vierte Bewer-
bungstraining durchlaufen werden muss und dann ganz
bestimmt ein fester Arbeitsplatz da sein wird? Ich bitte
Sie! Das kann nicht unser Ernst sein. Diese Menschen
wissen ganz genau, genauso gut wie wir hier, dass ihnen
eine weitere Maßnahme nichts nützen wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist gut gemeint, wenn es heißt, dass die Arbeits-
marktpolitik den Menschen eine Brücke in den ersten
Arbeitsmarkt bauen soll. Aber in den Ohren derjenigen,
die schon über viele dieser Brücken gegangen sind, ohne
dass am anderen Ende ein Arbeitsplatz gestanden hat,
sind das leere Worte. Ich sage Ihnen: Die Menschen ha-
ben damit recht. Sie haben recht, wenn sie sagen, dass
sie einen anständigen Arbeitsplatz wollen, an dem sie
zeigen können, was in ihnen steckt, an dem sie Bestäti-
gung erfahren und wo ihre Leistung wertgeschätzt wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn es diese Arbeitsplätze weder in Unternehmen
noch im öffentlichen Dienst gibt, dann sind wir dazu
verpflichtet, anderswo ordentliche Arbeitsplätze zu
schaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Manche mögen jetzt einwenden, dass das bereits
geschieht. Richtig: Wir haben Bürgerarbeit, wir haben
1-Euro-Jobs. Aber ist das gute Arbeit? Sind das die Ar-
beitsplätze, die die Menschen brauchen? Von einem gu-
ten Arbeitsplatz erwarten die Menschen zu Recht, dass
er anständig entlohnt ist, dass er voll sozialversiche-
rungspflichtig ist, dass er auf Freiwilligkeit beruht und
die Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung bietet. All
das bieten die diversen Modelle von Bürgerarbeit gerade
nicht. Auch das neue Programm von Arbeitsministerin
Nahles für 10 000 geförderte Arbeitsplätze, das wir
grundsätzlich begrüßen, erfüllt diese Anforderungen lei-
der nicht. Die zentrale Schwachstelle dieser Programme
ist, dass sie denjenigen Menschen, die keine Chance auf
dem Arbeitsmarkt haben, keine dauerhafte Beschäfti-
gungsperspektive bieten. Mit Beginn ihrer Beschäfti-
gung kennen die Menschen schon das Datum, an dem sie
wieder mit Hartz IV auf der Straße stehen werden. Das
ist keine Perspektive.


(Beifall bei der LINKEN)


So sieht das im Übrigen auch der Chef der Bundes-
agentur für Arbeit, Herr Weise. Er sagte: „Wir müssen
feststellen, dass für diese Menschen kein Angebot da
ist.“ Eine wirkliche Perspektive – auch das hat Herr
Weise in dieser Woche gesagt – besteht darin, öffentlich
geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, die prinzipiell auch
von Dauer sein können. Genau dieser Aufgabe stellen
wir uns in Thüringen.

Ich möchte dabei eines klarstellen: Mir geht es nicht
darum, Leistungen für Ausbildung, Qualifizierungen,
Praktika usw. zurückzufahren. Das ist aber in den letzten
Jahren im Bund geschehen, was ich ausdrücklich kriti-
siere. Wir müssen beides tun: die Vermittlung stärken
und Arbeitsplätze für diejenigen schaffen, die anderwei-
tig keine realistische Chance auf einen Job haben. Das
sind nicht wenige Menschen. Nach Auffassung der Bun-
desagentur für Arbeit hat von den 1 Million Langzeit-
arbeitslosen in Deutschland nur rund die Hälfte mithilfe
von Qualifizierungs- und Schulungsangeboten eine
Chance, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Stelle zu
bekommen. Weitere 300 000 Langzeitarbeitslose bedürf-
ten Trainingsmaßnahmen und sind damit vielleicht auf
mittlere Frist in eine Stelle zu vermitteln. Weitere
200 000 Menschen haben keinerlei Chance auf dem Ar-
beitsmarkt, darunter viele Ältere und Menschen mit ge-
sundheitlichen Einschränkungen. In Thüringen sind das
20 000 Menschen. Sie beziehen seit 2005 durchgängig
Hartz IV.

Dennoch haben viele dieser Menschen immer noch
den starken Wunsch, sich über Arbeit in die Gesellschaft
einzubringen. Das zeigt die große Nachfrage, die bereits
die Ankündigung unseres geplanten Beschäftigungspro-
gramms für Langzeitarbeitslose ausgelöst hat. Wir müs-
sen feststellen, dass unter denjenigen, die nachfragen,
vor allem ältere Menschen sind, deren sogenanntes Ver-
mittlungshemmnis einzig und allein ihr Alter ist. Wer
mit 56 oder 57 Jahren erst einmal ein Jahr oder länger
raus aus dem Job ist, dem helfen keine Qualifizierungs-
maßnahmen. Kommen dann vielleicht noch gesundheit-
liche Probleme dazu – zum Beispiel der kaputte Rücken
bei einem Handwerker oder einer Krankenschwester –,
dann finden diese Menschen schlicht und einfach keinen
Arbeitsplatz mehr, selbst dann nicht, wenn sie hochmoti-
viert und leistungsbereit sind. Diesen Menschen sollten
wir mit öffentlich geförderter Beschäftigung eine
Chance geben, sich produktiv einzubringen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Gesellschaft würde davon profitieren.

Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Das ist keine
Beschäftigungstherapie, sondern das sind produktive Tä-
tigkeiten, die erfüllt werden können, die unserem Ge-
meinwohl dienen. In diesem Sinne haben wir in Thürin-
gen vor zwei Tagen gemeinsam mit der Bundesagentur
für Arbeit ein Programm für gemeinwohlorientierte Be-
schäftigungsförderung auf den Weg gebracht. In diesem





Ministerin Heike Werner (Thüringen)



(A) (C)



(D)(B)

Jahr fördern wir gemeinsam mit der Bundesagentur
500 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei Kom-
munen, Vereinen, Kirchen, Umweltinitiativen und der-
gleichen. In den kommenden Jahren wollen wir die Zahl
erhöhen. Der Bruttolohn liegt bei 1 100 Euro, und die
Beschäftigungsdauer beträgt bis zu drei Jahre.

Jetzt werden Sie sagen: Das ist nicht der große Wurf,
und es entspricht auch nicht eins zu eins dem Antrag,
den die Linke heute eingebracht hat. – Da kann ich nur
antworten: Sie haben recht. Wir würden gern mehr Ar-
beitsplätze fördern, mit höheren Löhnen und längerer
Laufzeit. Dazu braucht es aber Partner. Das gilt für Thü-
ringen wie für jedes andere Bundesland. Wir haben in
Thüringen das Glück, mit der Bundesagentur für Arbeit
einen Partner zu haben, der unsere Sicht teilt. Es ist bes-
ser, für diejenigen, die keine Chance mehr auf eine Stelle
haben, Arbeit zu finanzieren, als sie mit Hartz IV nach
Hause zu schicken.


(Beifall bei der LINKEN)


Warum also nicht passive Leistungen aktiv in Löhne
umwandeln? Ohne den Bund – das wissen wir alle ganz
genau – kann kein Bundesland auf dem Arbeitsmarkt
dauerhaft und substanziell etwas bewegen. Darum hatten
wir uns über das positive Signal aus dem Bundesarbeits-
ministerium im Hinblick auf einen Passiv-Aktiv-Trans-
fer gefreut. Jetzt heißt es leider: Finanzminister Schäuble
zieht nicht mit. Und in der Tat: Es ist so. Frau Kipping
hat im Finanzministerium nachgefragt und bekam eine
entsprechende Antwort.

Nach Auffassung des Staatssekretärs Kampeter lassen
sich das Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unter-
kunft nicht in Lohnkostenzuschüsse umwandeln, weil
– ich zitiere – „eine belastbare Einschätzung über das
Realisieren der Einsparungen durch Wegfall dieser Leis-
tungen bei ausgewählten Leistungsempfängern nicht
möglich ist“.

Zwei Dinge an dieser Antwort sind bemerkenswert:
erstens die Auffassung des Finanzministeriums, bei der
Umwandlung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne gehe
es um Einsparungen. Nein, meine Damen und Herren, es
geht um Investitionen. Indem wir Löhne statt Hartz IV
auszahlen, schaffen wir Arbeitsplätze.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mit der Arbeit in Vereinen, in Kirchengemeinden und in
Kommunen schaffen diese Menschen Werte, die der Ge-
sellschaft zugutekommen. Es wäre schön, wenn das
Bundesfinanzministerium einmal zur Kenntnis nehmen
würde, dass Arbeit im Gemeinwohlbereich echte Wert-
schöpfung ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. In der Antwort – dieser Aspekt der Antwort
ist beachtlich – heißt es sinngemäß, es sei recht kompli-
ziert, die haushalterischen Auswirkungen der Umwand-
lung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne zu bestimmen.
Darauf kann ich nur antworten: Sie machen es sich ein
bisschen einfach. Meine Damen und Herren, wir reden
hier darüber, Zehntausenden Menschen eine für sie und
die Gesellschaft sinnvolle Alternative zur Arbeitslosig-
keit zu erschließen. Und der Finanzminister lässt mittei-
len, es sei ihm zu aufwendig, die notwendigen Berech-
nungen anzustellen.


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Sehr verehrte Damen und Herren, Ihnen liegt der An-
trag der Linken vor, der die Grundzüge eines Programms
für öffentliche Beschäftigung enthält. Darin machen wir
einen konkreten Vorschlag, wie Hartz-IV-Leistungen in
Lohnleistungen umgewandelt werden können. Dazu
müssten nicht einmal die Gesetze geändert werden. Mit
einem Haushaltsvermerk über die gegenseitige De-
ckungsfähigkeit der verschiedenen Titel der Arbeits-
marktpolitik wäre es möglich, dass das bei den passiven
Leistungen nicht ausgegebene Geld für aktive Leistun-
gen – also die Bezahlung von Arbeit – verwendet wer-
den kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Die öffentlich geförderte Beschäftigung gemeinwohl-
orientierter Arbeit ist eine Win-win-Situation für alle
Beteiligten. Die Kommunen könnten davon profitieren,
zum einen durch die eingesparten Kosten der Unter-
kunft, zum anderen durch die Unterstützung ihrer so-
zialen Infrastruktur. Sie profitieren auch, weil Kosten
gespart werden, die durch die Folgen von Langzeitar-
beitslosigkeit entstehen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie sehr
herzlich, dem Antrag der Linken zuzustimmen; denn ge-
meinwohlorientierte Arbeit über einen Passiv-Aktiv-
Transfer ist für einen Teil der Langzeitarbeitslosen der
einzige Weg in Beschäftigung. Die soziale Infrastruktur
wird durch die erbrachte Arbeitsleistung gestärkt, was
uns allen zugutekommt. Schließlich werden die öffentli-
chen Haushalte nachhaltig von den Folgekosten der
Langzeitarbeitslosigkeit entlastet. Es wäre also in unser
aller Interesse, wenn sich die Union dieser Einsicht nicht
länger verschließen würde.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810102000

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Zimmer für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1810102100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist

nicht das erste Mal, dass wir aufgrund eines Antrags der
Linken über öffentlich geförderte Beschäftigung reden;
aber es ist das erste Mal, dass von der Fraktion der Lin-
ken zu einem eigenen Antrag niemand das Wort ergreift –
ganz so, als ob sie sich des Antrags schämen würde.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Da kam das Leben daher! Eine Sozialministerin!)






Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass die
Ministerin offensichtlich keinerlei Anlass sah, über den
Antrag zu reden, sondern im Wesentlichen über die Si-
tuation in Thüringen gesprochen hat. Das finde ich
schon sehr seltsam.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das muss doch nicht sein! Stimmt gar nicht!)


Nichtsdestotrotz: Ein solcher Antrag der Linken er-
möglicht es natürlich, über die unterschiedlichen Grund-
philosophien nachzudenken. Der Antrag der Linken
verfolgt den Ansatz der öffentlichen Förderung von Be-
schäftigung. Wir in der Koalition hingegen sehen in der
Förderung der Menschen den richtigen Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das muss jetzt aber nicht sein!)


Wir wollen die Stärken und Begabungen der Menschen
in den Fokus nehmen und helfen, diese weiterzuent-
wickeln.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Wie denn?)


Wir haben, wie Sie selbst im Antrag schreiben, mehr
als 500 000 Menschen, die länger als zwei Jahre keine
Arbeit hatten. Vermutlich ist die Zahl höher. Sie ist si-
cherlich höher, wenn wir die Menschen einbeziehen, die
ein Jahr oder länger arbeitslos sind. Nun wollen Sie öf-
fentlich geförderte Beschäftigung im Umfang von
200 000 Stellen schaffen. Die Stellen sollen jedem offen-
stehen, der ein Jahr oder länger arbeitslos ist. Eingren-
zungen oder Auswahlverfahren finden nicht statt. Ich
stelle mir die Frage: Wie stellen Sie sicher, wenn sich
500 000 und mehr auf Ihr Programm bewerben, dass die
200 000 Stellen auskömmlich sind? Dazu schreiben Sie
nichts in Ihrem Antrag.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der LINKEN: Besser als 500 000 Arbeitslose!)


– Ich merke schon aufgrund der Zwischenrufe, dass das
Bedürfnis bei der Fraktion der Linken, zu diesem Tages-
ordnungspunkt zu reden, groß ist. Aber dann hätten Sie
nicht die Ministerin reden lassen sollen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das müssen Sie sich nicht antun! Das ist wirklich lächerlich!)


Also, meine Damen und Herren, ich vermute einmal,
dass Sie, wenn die 200 000 Stellen nicht auskömmlich
sind, ganz schnell 1 Million Stellen fordern. Es gibt aus
Ihrer Sicht nämlich nichts, was man nicht mit mehr Geld
regeln könnte.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben Sie echt nicht nötig, auf der Ebene zu argumentieren!)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810102200

Herr Kollege Zimmer, lassen Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Zimmermann zu?


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1810102300

Nein; denn sie hatte die Möglichkeit, selber zu spre-

chen, und hat die Ministerin sprechen lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zurufe von der LINKEN)


Meine Damen und Herren, hier wird die Differenz
zwischen Ihrer und unserer Grundphilosophie deutlich.
Die Linke will einfach 200 000 Stellen zur Verfügung
haben. Darauf kann sich jeder bewerben. Die Fallmana-
ger mit ihrer Qualifikation und Erfahrung sind nicht
mehr gefragt, weil es gar nicht darum geht, Langzeitar-
beitslosen zu helfen, passgenaue Maßnahmen zu finden.


(Beifall der Abg. Jutta Eckenbach [CDU/ CSU])


Der einzelne Mensch mit seinen Stärken und Schwächen
ist egal – Hauptsache, öffentlich gefördert. Die Wahrheit
aber ist: Sie fördern damit niemanden, sondern Sie ver-
stecken Arbeitslosigkeit hinter öffentlich geförderter Be-
schäftigung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Hartz IV ist besser?)


Sie machen alle Menschen gleich, weil Ihnen die Unter-
schiede egal sind. Mit der gleichen Grundphilosophie
hat es schließlich und endlich auch in der DDR keine
Arbeitslosen gegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dann enthält Ihr Antrag viel linke Folklore, etwa dass
wir nicht die Arbeitslosigkeit bekämpfen, sondern die
Arbeitslosen, dass die Hartz-IV-Leistungen unter der
Armutsgrenze seien oder die 1-Euro-Jobs perspektivlos.
Zu jedem dieser Punkte ließe sich trefflich etwas sagen.
Ich versage es mir hier, weil mir schon klar ist: Folklore
ist gegen Argumente immun.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh Mann!)


Folklore wärmt das Herz, weniger den Verstand.


(Sigrid Hupach [DIE LINKE]: Herz und Verstand!)


Aber auf eines will ich schon einmal eingehen: Sie wol-
len von den Arbeitgebern eine zeitlich befristete Sonder-
abgabe zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit er-
heben. Angesichts solcher Forderungen – das ist nicht
Ihre einzige Forderung – frage ich mich dann schon: Ha-
ben Sie denn keine Bedenken, dass Ihnen irgendwann
das Geld anderer Leute ausgehen könnte?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den letzten
Jahren zurückgegangen. Insofern war die Arbeitsmarkt-
politik der letzten Jahre erfolgreich. Aber auch hier zeigt
sich Ihr kreativer Umgang mit Statistiken. Zwischen
2009 und 2014, so schreiben Sie, sei der Anteil der





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen von 33,3 auf
37,2 Prozent gestiegen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Stimmt doch!)


Sie verschweigen aber zweierlei: Zum einen ist die An-
zahl der Arbeitslosen deutlich gesunken, zum anderen
auch die Anzahl der Langzeitarbeitslosen. Von beiden
haben wir heute deutlich weniger als 2009.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 1 Million Langzeitarbeitslose sind 1 Million zu viel!)


Lediglich das Verhältnis von Arbeitslosen zu Langzeitar-
beitslosen hat sich geändert, aber auf niedrigerem Ni-
veau. Ihre Zahlen hingegen unterstellen, die Zahl der
Langzeitarbeitslosen sei irgendwie gestiegen. Das ist
aber überhaupt nicht der Fall.


(Daniela Kolbe [SPD]: Aber sie sinkt nicht!)


Richtig hingegen ist, dass es einen schwer zu vermit-
telnden Kern von Erwerbslosen gibt. Hier reichen die
bisherigen Antworten vermutlich nicht mehr aus.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es interessant!)


Daher ist es richtig, dass wir uns den Werkzeugkasten
der Arbeitsmarktpolitik noch einmal genauer anschauen.
Ich will drei Aspekte exemplarisch nennen, die wir in-
nerhalb der Koalition in den kommenden Wochen inten-
siver zu erörtern haben.

Ein erster Punkt betrifft die Förderung von sozialver-
sicherungspflichtiger Beschäftigung. Hier halte ich die
Integration von Leistungen wie die sozialpädagogische
Betreuung oder auch die Vermittlung von beruflichen
Kenntnissen, also von Leistungen nach § 45 SGB III, in
§ 16 SGB II für sinnvoll, um Leistungen aus einer Hand
für die Betroffenen zu ermöglichen. Dazu gehört, dass
wir Maßnahme und Begleitung praxistauglich in einem
Instrument zusammenfassen und aufeinander abstim-
men.

Der zweite Punkt betrifft die zeitliche Befristung der
Förderung. Es macht meines Erachtens keinen Sinn, er-
folgversprechende Fördermaßnahmen mit einer starren
Grenze von zwei Jahren innerhalb eines Zeitraums von
fünf Jahren zulasten der Betroffenen zu begrenzen. Statt-
dessen sollten wir über ein Jahresmodell nachdenken,
bei dem die Fallmanager vor Ort jedes Jahr neu über die
Maßnahme bzw. die Höhe der Förderung entscheiden,
auch für eine Zeit von insgesamt mehr als zwei Jahren.

Der letzte Punkt, den ich an dieser Stelle anregen
mag: Wir sollten die Kriterien für Arbeitsgelegenheiten
überdenken. Ich meine, dass Maßnahmen, die in erster
Linie den Gedanken der Wettbewerbsneutralität und der
Zusätzlichkeit und weniger dem Interesse der Langzeit-
erwerbslosen entsprechen müssen, eher zu Beschäfti-
gungstherapien pervertieren, als dass sie Menschen hel-
fen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Mein
Plädoyer ist daher, diese Kriterien abzuschaffen oder zu-
mindest so abzuschwächen, dass die Kompetenz der lo-
kalen Akteure berücksichtigt wird. Ich höre übrigens,
dass es in Berlin Fälle gibt, in denen die Beiräte weitge-
hend ignoriert werden. Das geht aus meiner Sicht nicht.
Hier muss die Bundesagentur für Arbeit deutlich ma-
chen, dass eine erfolgreiche Leitung vor Ort auch ein gu-
tes Verhältnis zu den lokalen Akteuren pflegt.

Meine Damen und Herren, ich freue mich immer,
wenn wir einen Antrag der Linken diskutieren.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Den Eindruck habe ich gerade nicht! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der beste Satz der ganzen Rede! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


– Ich sehe schon an der Unruhe, dass die Freude nur auf
meiner Seite ist; ich dachte zumindest, dass die Freude
auch bei Ihnen durchaus vorhanden ist.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die halbsozialistische Folklore wärmt vielen das
Herz,


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ist das langweilig!)


und die Welt ist auf wundersame Weise einfach, ganz
ähnlich wie in der bösen Karikatur, die einmal in der
Titanic gezeigt wurde. Der Untertitel war: „Endlich: Der
Hunger in der Welt ist besiegt“. In der Zeichnung sah
man einen älteren Mann, der lächelnd eine Schöpfkelle
schwang und rief: „Einfach mehr essen“.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist aber ein bisschen zynisch!)


So kommt mir Ihr Antrag auch daher. Er hilft keinem,
weil er der Komplexität des Themas nicht gerecht wird.
Er ist schädlich, weil er die Menschen gleichmacht, an-
statt nach ihren Stärken zu fragen. Er beruht auf der fal-
schen Idee, man könne mit anderer Leute Geld alle Pro-
bleme lösen. Das ist Grund genug, den Antrag zu
diskutieren, aber auch Grund genug, ihn abzulehnen. Er
ist nämlich auch irgendwie eine Karikatur.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Peinlich!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810102400

Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin

Zimmermann das Wort.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810102500

Lieber Kollege Zimmer, ich habe Ihnen sehr aufmerk-

sam zugehört und muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin
schon sehr enttäuscht,


(Beifall der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


dass Sie das Thema Langzeitarbeitslosigkeit im Eingang
und auch im Abgang Ihrer Rede so in die Lächerlichkeit
gezogen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist eine große Schweinerei – ich muss es Ihnen
wirklich so deutlich sagen –, denn Ihre Fraktion hat die





Sabine Zimmermann (Zwickau)



(A) (C)



(D)(B)

1 Million langzeitarbeitslosen Menschen in diesem Land
schon lange abgeschrieben.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ach, komm! – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Ein weit hergeholtes Argument, Frau Kollegin!)


Das ist die Realität, und der sollten Sie sich wenigstens
einmal stellen.


(Beifall bei der LINKEN)


Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass die Landesmi-
nisterin zum Thema, zu unserem Antrag, gesprochen hat


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Davon haben wir nichts gemerkt!)


und damit gleichzeitig verbunden hat, darzustellen, wie
es in der Praxis aussieht, was die Bundesregierung alles
nicht tut, warum es im Land Thüringen und in allen an-
deren Bundesländern nicht zum Passiv-Aktiv-Transfer
kommt und Langzeitarbeitslosigkeit nicht wirklich ernst-
haft bekämpft werden kann.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist ein Redebeitrag der Linken, vorgefertigt!)


Ich muss Ihnen sagen: Es haben hier auch schon CDU-
Landesminister gesprochen; das ist nichts Neues. Das
sollten Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der LINKEN: Da war er nicht da!)


Sie sagten in Ihrer Rede, der Mensch stehe bei Ihnen
im Mittelpunkt. Jawohl! Dazu muss ich sagen: Ministe-
rin Nahles hat ein Programm für 43 000 Teilnehmer auf-
gelegt. Damit will sie die Langzeitarbeitslosigkeit von
1 Million Menschen bekämpfen. Ich muss Ihnen sagen:
Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Bei Ihnen steht
nicht der Mensch im Mittelpunkt; das sieht man hier
ganz deutlich.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen muss ich Ihnen sagen: Die Zahl der Lang-
zeitarbeitslosen geht seit 2012 wieder hoch. Die Zahlen
sind vom Bundesministerium; sie werden sicherlich
stimmen. Die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Bezieher ist
nur um 9,2 Prozent zurückgegangen. Das Geld, das Sie
in den letzten Jahren eingespart haben, steht dazu in gar
keinem Verhältnis.

Sie kritisieren, dass 200 000 Stellen geschaffen wer-
den sollen. Angesichts der wenigen Arbeitsstellen und
der vielen arbeitslosen Menschen – wir haben ein Miss-
verhältnis von 1:3 – frage ich mich doch aber: Haben die
arbeitslosen Menschen überhaupt eine Chance auf eine
solche Stelle? Ihre Argumente sind doch Schwachsinn.

Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Die Teilneh-
merzahl ist von 2010 bis 2013 von 342 534 auf 110 000
zurückgegangen. Daran sehen Sie doch, dass das, was
Sie für langzeitarbeitslose Menschen tun, ein Tropfen
auf den heißen Stein ist. Damit werden Sie die Langzeit-
arbeitslosigkeit in unserem Land nicht bekämpfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810102600

Zur Erwiderung Herr Kollege Zimmer.


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1810102700

Verehrte Frau Kollegin Zimmermann, für das Erfüllen

Ihrer Erwartungen sind meine Reden sicherlich nicht zu-
ständig. Wenn Sie da enttäuscht gewesen sind, dann liegt
es vielleicht daran, dass ich Argumente vorgebracht
habe, die Sie so noch nicht gehört haben. Insofern mag
es Ihnen vielleicht auch gutgetan haben, der Rede zuzu-
hören.


(Zuruf von der LINKEN: Die war grottenschlecht!)


Allerdings habe ich jetzt auch festgestellt, dass Sie re-
lativ gut vorbereitet gewesen sind.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben wir so drauf! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Bartke [SPD]: Alles abgelesen!)


Ich frage mich schon, warum Sie nicht selber in die Bütt
gegangen sind.


(Sigrid Hupach [DIE LINKE]: Lächerlich!)


Stattdessen haben wir einer Ministerin zuhören dürfen,
die ganz im Sinne einer präventiven Immunisierung
schon heute erklärt, warum das im Land Thüringen alles
nicht funktionieren wird, nämlich weil am Ende der
Bund schuldig ist. Dass Sie sich hergegeben haben, da-
für eine parlamentarische Plattform zu bilden, das finde
ich ausgesprochen schade.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ein bisschen peinlich war der Auftritt! – Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Sie hätten zuhören sollen! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie bleiben hinter Ihren Möglichkeiten zurück! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unterirdisch!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810102800

Das Wort erhält jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810102900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Zimmer, vielleicht zunächst ein Wort zu dem Begriff
„kreative Statistik“. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist nach
Ihrer Statistik seit 2010 um 7 Prozent zurückgegangen.
Aber wenn Sie die Zahl derjenigen, die Sie schlicht und
ergreifend ungerechtfertigterweise nicht mitzählen, zum
Beispiel die 58-Jährigen, die ein Jahr lang kein Angebot
bekommen haben, berücksichtigen – das sind über
166 000 Menschen –, dann sind Sie bei einem Rückgang
der Langzeitarbeitslosigkeit von 0,6 Prozent. Herr
Zimmer, wenn Sie an dieser Stelle wirklich eine Debatte
über Statistik führen wollen, dann machen Sie sich erst
einmal ehrlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)






Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

Hören Sie auf, das Problem kleinzureden!


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!)


Ich weiß nicht, ob Sie manchmal auch Zeitung lesen.
In der Süddeutschen Zeitung vom 22. April stand, dass
selbst Herr Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit,
der Meinung ist, dass von den 1 Million Langzeitarbeits-
losen 500 000 bis auf Weiteres und die Hälfte von diesen
500 000 auch langfristig keine Chance haben werden,
auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er sagt, sie
brauchen mindestens zum Übergang einen zweiten Ar-
beitsmarkt. Ich zitiere ihn: „Hier wurde in den vergange-
nen Jahren deutlich abgebaut“. Ich ergänze: Es wurde
deutlich abgebaut, und zwar über 200 000 Stellen.

Herr Zimmer, Sie wissen, ich schätze Sie, aber heute
haben Sie wirklich nicht den richtigen Ton getroffen.
Das war selbstgefällig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Sie bieten ein ESF-Programm mit 33 000 Plätzen an, das
nur das einst von Frau von der Leyen initiierte Pro-
gramm „Bürgerarbeit“ mit ebenfalls 33 000 Plätzen er-
setzt. Damit schaffen Sie keinen einzigen zusätzlichen
Platz für die Langzeitarbeitslosen. Dabei geht es hier
um, ich wiederhole, 500 000 Menschen!


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


Im Zuge des Teilhabeprogramms werden 10 000 Plätze
geschaffen. Das Geld für dieses Teilhabeprogramm wird
den Jobcentern aber vorher abgezogen. Das Programm,
das hier aufgelegt wird, geht also zulasten von Plätzen in
anderen Bereichen. Sie schaffen kein einziges zusätzli-
ches Angebot.

Was Sie hier heute angedeutet haben, wird der Grö-
ßenordnung und der Dimension des Problems in keiner
Weise gerecht. Das ist weder quantitativ noch qualitativ
wirklich ein Angebot.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigung.
Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt, und wenn
wir den finanzieren wollen, dann brauchen wir einen
Passiv-Aktiv-Transfer. Darüber sind sich wirklich alle
Arbeitsmarktexperten und alle Akteure auf dem Arbeits-
markt inklusive der BA einig.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur die CDU nicht!)


Es gab Zeiten, in denen auch die SPD zu den kundigen
Thebanern gehörte.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der CDU gibt es auch ein paar Aufgeklärte! Sogar da!)


Ich glaube allerdings nicht – das will ich an dieser
Stelle deutlich sagen –, dass die öffentlich geförderte Be-
schäftigung so umgesetzt werden könnte und sollte, wie
die Linken das vorschlagen.

(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Endlich mal ein vernünftiger Satz!)


Ich finde, Sie fallen sehr weit hinter Erkenntnisse zu-
rück, die wir längst haben.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Das Beharren auf dem Kriterium der Zusätzlichkeit führt
dazu, dass sehr arbeitsmarktferne Arbeitsplätze geschaf-
fen werden. Der Verzicht auf jedes Kriterium bei der Frage,
wer in dieses Programm aufgenommen werden soll, führt
zu extremen Creaming-Effekten. Wir haben 1 Million Lang-
zeitarbeitslose. Sie reden von 200 000 Plätzen. Die Ge-
fahr ist sehr groß, dass ausgerechnet die, die das Pro-
gramm am dringendsten brauchen, hinten herunterfallen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bei einer Fokussierung auf die gemeinwohlorientierte
Arbeit werden eben nicht die positiven Effekte berück-
sichtigt, die zum Beispiel Baden-Württemberg durch die
Einbeziehung privater Unternehmer erzielt.

Richtig katastrophal finde ich aber Ihren Vorschlag,
allen über 55-Jährigen einen Rechtsanspruch zu geben.
Das heißt, Sie halten diese Menschen in einem Sonderar-
beitsmarkt. Damit entlasten Sie die Unternehmen von ih-
rer Verantwortung, auch für diese Gruppe etwas zu tun.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie einen besseren Vorschlag?)


Ich habe also viel Kritik im Detail. Aber, Herr
Zimmer, Ihre Kritik wäre glaubwürdiger, wenn Sie
selbst etwas anzubieten hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie sagen – ich halte das für einen Treppenwitz der Welt-
geschichte –, bei Ihnen stehe die Förderung von Men-
schen im Fokus. Seit dieser Legislaturperiode, seit Be-
ginn der Amtszeit von Frau Nahles haben sich die
Chancen der Langzeitarbeitslosen noch einmal ver-
schlechtert. Die Aktivierungsquote ist 2014, in Ihrer
Amtsperiode, mit 17,4 Prozent so niedrig wie seit 2010
nicht mehr. Ich finde wirklich, Sie sollten ein bisschen
kleinere Brötchen backen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Sie lassen die Langzeitarbeitslosen wirklich im Stich
und nehmen sehenden Auges in Kauf, dass das Teilhabe-
versprechen für Langzeitarbeitslose nicht mehr gilt.

Das BMAS hat neulich auf einer Tagung der Hans-
Böckler-Stiftung auf die Forderung der Länder nach zu-
sätzlichen Instrumenten, insbesondere des sozialen Ar-
beitsmarktes, gesagt, eine Instrumentenreform würde zu
viel Unruhe in die Jobcenter bringen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Wissen Sie, was die Länder dem BMAS geantwortet ha-
ben? Unruhe bringt das ständige Programmhopping. Zi-





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

tat: Hören Sie endlich auf, uns mit Sonderprogrammen
zu überfallen. – Ja, hören Sie damit endlich auf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich habe diese Woche mit einem Mitarbeiter aus ei-
nem Jobcenter in Bad Segeberg telefoniert. Er hat mir
gesagt, mit wie viel Engagement sie das Programm
„50 plus“ aufgebaut haben. Dieses Programm läuft über-
aus erfolgreich, aber jetzt wird es einkassiert, weil Sie
mit den Aktivierungszentren um die Ecke kommen. Ich
finde, Sie sollten sich einmal fragen, welchen Sinn Mo-
dellprojekte haben, wenn man sie, sobald sie erfolgreich
laufen, wieder einkassiert und eben nicht in die Regel-
förderung übernimmt. Das macht doch keinen Sinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Richtig verzweifelt sind die Jobcenter übrigens, wenn
es um den bürokratischen Aufwand für das ESF-Pro-
gramm geht. Der Aufwand ist offenbar so groß, und
zwar nicht nur bei der Beantragung, sondern auch bei
der Bewilligung, dass wir immer noch nicht wissen, was
aus diesem Nahles-Programm geworden ist, obwohl die
Prüfungen bis Ende März abgeschlossen sein sollten.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben
jetzt eine Menge Erfahrung gesammelt und wissen, wel-
che Konsequenzen wir ziehen sollten und wie wir mit
Langzeitarbeitslosen umgehen sollten. Dazu will ich Ih-
nen drei Punkte nennen: Erstens. Die Strategie der
schnellen Vermittlung ist gescheitert.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810103000

Frau Kollegin Pothmer, das wird ein bisschen schwie-

rig.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810103100

Das wird schwierig? – Dann sage ich noch ein Letztes

und zitiere Frau Mast, die eine kluge Kollegin ist: Unter-
stützung für Menschen, die am Rand stehen, gibt es nicht
zum Nulltarif. Wir müssen ausreichend Geld in die Hand
nehmen, um Langzeitarbeitslose zu fördern. – Ich kann
nur sagen: Das war in der letzten Legislaturperiode rich-
tig, und das ist auch in dieser Legislaturperiode richtig.
Aber es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810103200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1810103300

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt
ist außerordentlich gut. Wir alle freuen uns über eine
sehr stabile wirtschaftliche Situation, und auch der Ar-
beitsmarkt zeigt sich erstaunlich robust. Wir sehen gute
Tarifsteigerungen, und wir haben einen gesetzlichen
Mindestlohn, der sehr viele Menschen aus dem Hilfebe-
zug holt.

Es gäbe also einige gute Argumente für Partylaune –
zumindest theoretisch. Gleichzeitig sehen wir praktisch,
dass sich in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes,
gerade im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, seit eini-
gen Jahren de facto nichts bewegt. Es ist offenkundig,
dass die sehr gute konjunkturelle Lage Hunderttausen-
den Menschen in Deutschland nicht hilft, ebenjenen
Menschen, die sehr lange arbeitslos sind; sie können
auch unter diesen tollen Rahmenbedingungen nicht ohne
Weiteres zurück auf den Arbeitsmarkt finden.

Jetzt gibt es verschiedene Strategien, damit umzuge-
hen. Es gibt die Strategie der Vorgängerregierung, deren
Fokus auf schönen Arbeitsmarktzahlen und guten Nach-
richten lag. Man vertraute darauf, dass sich dadurch von
alleine etwas bewegen würde, dass es dadurch leichter
würde, die Arbeitslosen zu vermitteln, und dass in der
Folge die aktive Arbeitsmarktförderung reduziert wer-
den könnte.

Diese Bundesregierung mit Andrea Nahles als Minis-
terin für Arbeit und Soziales verfolgt eine ganz andere
Strategie. Sie sagt: Uns ist es ganz besonders wichtig,
hinzuschauen. Wir anerkennen, dass es eine große He-
rausforderung ist, die Menschen, die sehr lange aus dem
Erwerbsleben heraus sind, zurückzuholen in die Gesell-
schaft, ihre Teilhabe zu organisieren und sie im besten
Fall im ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Das ist
Andrea Nahles und der SPD ein Herzensanliegen. Wir
werden nicht zuschauen, wie 1 Million Menschen und
ihre Familien zu Hause sitzen, hinter ihren Gardinen ver-
schwinden und weitgehend vom sozialen Leben ausge-
schlossen sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man auch was tun!)


Das zeigt sich auch daran, dass Andrea Nahles eigentlich
bei jeder Grundsatz- oder Haushaltsrede in diesem Ho-
hen Hause das Thema Langzeitarbeitslosigkeit als eine
ihrer Topprioritäten benennt und deutlich macht, was sie
diesbezüglich plant.

Es gibt 1 Million gute Gründe und sehr viele objek-
tive Fakten, die zeigen, dass wir mit Blick auf die Ge-
sellschaft bei diesem Thema etwas unternehmen müs-
sen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann macht doch mal endlich!)


Da ist natürlich die materielle Armut der Langzeit-
erwerbslosen. 84 Prozent der Langzeiterwerbslosen le-
ben unter der Armutsrisikogrenze. Erwerbsarbeit ist in
Deutschland Grundlage für soziale Teilhabe. Arbeit zu
verlieren bedeutet den Verlust sozialer Beziehungen, den





Daniela Kolbe


(A) (C)



(D)(B)

Verlust des sozialen Status, und für viele Menschen ist es
auch subjektiv ein ganz massiver Schicksalsschlag.

Langzeitarbeitslosigkeit hat gesundheitliche Auswir-
kungen. Der Gesundheitszustand der Betroffenen ist
objektiv und subjektiv schlechter. 64 Prozent der Be-
troffenen haben schwerwiegende gesundheitliche Ein-
schränkungen. Das ist kein Henne-Ei-Problem, sondern
das bedingt sich gegenseitig. Wer langzeiterwerbslos ist,
wird kränker, und wer kränker wird, hat größere Pro-
bleme, aus der Langzeiterwerbslosigkeit herauszukom-
men.

Es gibt familiäre Probleme, seelische Probleme, kör-
perliche Probleme. Die Menschen werden stigmatisiert.
Langzeiterwerbslosigkeit hat auch schwerwiegende ge-
sellschaftliche Folgen. Wir sehen, dass Kinder in Fami-
lien groß werden, in denen die Eltern langzeiterwerbslos
sind. Wir erleben sozialräumliche Effekte. Ganze Stadt-
teile sind massiv von Langzeiterwerbslosigkeit betroffen
und auch geprägt. Außerdem verursacht Langzeiterwerbs-
losigkeit massive gesellschaftliche Kosten: fehlende Steu-
ereinnahmen, hohe Kosten der Arbeitslosigkeit, hohe
Gesundheitskosten usw.

Das sind genügend Gründe, dies anzugehen und auch
mit dem Klischee aufzuräumen, dass Langzeiterwerbs-
lose nicht arbeiten wollen. Ich kenne in meinem Wahl-
kreis sehr viele Betroffene. Sie sagen: Ich will raus. Ich
will etwas Sinnvolles tun. Ich will wieder Sinn und
Struktur in meinem Leben haben. Ich will nicht stigmati-
sierende, sondern würdevolle Beschäftigung. – Das ist
es, was ich von den Betroffenen höre. Dabei müssen wir
sie unterstützen.


(Beifall bei der SPD)


Die Mittel des Bundes für aktive Arbeitsmarktförde-
rung sind von der Vorgängerregierung massiv gekürzt
worden. Erst diese Regierung hat das Thema wieder
ganz weit nach oben auf die Agenda gesetzt. Dafür ge-
bührt Ministerin Andrea Nahles ein großes Lob.


(Beifall bei der SPD)


Andrea Nahles reagiert mit einem differenzierten Ansatz
und hat damit dem Antrag der Linken, von wem auch
immer er präsentiert wurde, einige Denkschritte voraus.
Denn es gibt nicht die eine Gruppe Langzeiterwerbslose,
die man mit öffentlich geförderter Beschäftigung be-
glückt, und dann ist das Problem gelöst. Wir können
doch nicht dem Anfang 20-Jährigen, der ein Drogenpro-
blem hat und den Anfang seiner Berufskarriere verstol-
pert,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da ausdrücklich drin!)


mit der Diplom-Ingenieurin vergleichen, die mit Mitte
50 durch eine Insolvenz des Unternehmens keine Arbeit
mehr hat und keinen Fuß mehr in die Tür bekommt.


(Beifall bei der SPD – Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also wirklich, lies mal den Antrag! Da steht ausdrücklich etwas anderes drin!)


– Ich komme gleich dazu, Brigitte, keine Sorge.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ich muss jetzt schon die Linken verteidigen!)


Alleinerziehende mit kleinen Kindern und ohne so-
ziales Umfeld haben doch ganz andere Probleme als je-
mand, der keine Berufsausbildung gemacht hat oder bei
dem sie ewig lange her ist. Deswegen hat Andrea Nahles
Ende letzten Jahres ein ganzes Bündel von Maßnahmen
vorgestellt und eben nicht eine Lösung für alle. Diese
Vielfalt der Maßnahmen wird auch der Vielfalt der
Gruppe gerecht.

Es wird das ESF-Programm „Perspektive in Betrie-
ben“ für Langzeitarbeitslose ohne verwertbaren Berufs-
abschluss geben. Es wird ein Bundesprogramm für sehr
arbeitsmarktferne Langzeiterwerbslose geben.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Zu wenig! Viel zu wenig! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was kommt dann?)


Darüber hinaus wird es eine viel bessere Betreuung in
Aktivierungszentren geben. Darüber ist hier überhaupt
noch nicht gesprochen worden.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen diejenigen 46 Prozent mit gesundheitlichen
Einschränkungen in den Fokus nehmen und natürlich
auch der Situation der Alleinerziehenden viel mehr ge-
recht werden. Dazu haben Sie schon einiges von dieser
Regierung gehört.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


So sehr wir als Sozialdemokraten öffentlich geför-
derte Beschäftigung als wichtigen Aspekt sehen und uns
da auch mehr vorstellen und mehr wünschen, an einem
Punkt widersprechen wir den Aussagen im Antrag der
Linken fundamental. Sie wollen den Zugang zu diesem
Programm einfach so, ohne Kriterien gewähren. Das ist
ja schön und gut gemeint, kann aber im Zweifel mehr
Schaden anrichten als nutzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum?)


Wir reden über eine sehr teure Maßnahme. Ohne Zu-
gangskriterien würde es Creaming- und Lock-in-Effekte
geben. Dadurch würden Personen in das Programm
kommen, denen mit Weiterbildung, mit einer guten Ver-
mittlung, mit einer guten Kinderbetreuung viel mehr ge-
holfen wäre. Schlussendlich diskreditieren Sie mit dem
gutgemeinten Ansatz, immer noch eine Schippe draufle-
gen zu wollen, ein wirklich sinnvolles Projekt.

Schauen Sie sich bitte Ihren Antrag und die Konzepte,
die schon auf dem Tisch liegen, noch einmal an. Über
Passiv-Aktiv-Tausch wollen wir als Sozialdemokraten
natürlich sehr gerne reden. Das wollen wir gerne verfol-
gen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen!)






Daniela Kolbe


(A) (C)



(D)(B)

Aber dieser Gut-gemeint-Ansatz, den Sie hier in typi-
scher Linken-Manier vorbringen, geht an der Zielgruppe
vorbei,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie das mal den Betroffenen!)


die viel diverser ist, als Sie es hier darstellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810103400

Aber jetzt müssen Sie bitte zum Schluss kommen,

Frau Kollegin Kolbe.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1810103500

Das tue ich. Das Thema bleibt ja sowieso auf der

Agenda. – Jedenfalls werden wir Sozialdemokraten wei-
ter dafür sorgen, dass Langzeiterwerbslose in unserem
Land eine Chance bekommen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die brauchen keine Chance, die brauchen einen Job!)


Bis zum nächsten Mal zu diesem Thema.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810103600

Vielen Dank. – Der Kollege Kai Whittaker ist jetzt für

die CDU/CSU-Fraktion der nächste Redner.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Kai Whittaker (CDU):
Rede ID: ID1810103700

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Linksfrak-

tion, Sie kennen sich ja bestens mit dem Thema Lang-
zeitarbeitslosigkeit aus. Das ist kein Wunder; denn Sie
befinden sich ja in einer Art politischen Langzeitarbeits-
losigkeit. Seit zehn Jahren sind Sie in der Opposition,
und Besserung ist nicht in Sicht.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn für eine Aussage? – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Was ist das denn für ein demokratisches Verständnis?)


Wer Ihren Antrag liest, sieht auch keine Perspektive für
eine Vermittlung in die Regierung. Deshalb lautet mein
Vorschlag an Sie: Lassen Sie uns uns gemeinsam Gedan-
ken machen, woran das liegen könnte. Welche Vermitt-
lungshemmnisse liegen bei Ihnen offenkundig vor?


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wie bei der CDU in BadenWürttemberg!)


Schon in meiner ersten Rede hier im Deutschen Bun-
destag habe ich bedauerlicherweise feststellen müssen,
dass es mit Ihren volkswirtschaftlichen Kenntnissen
nicht allzu weit her ist. Ihr heutiger Antrag ist der Be-
weis, dass Sie auch mit der Lebenswirklichkeit nicht
allzu viel anfangen können.

(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ihre Rede heute ist genauso schlecht wie Ihre erste!)


Sie fordern, alle Menschen, die länger als ein Jahr ar-
beitslos sind, sollen sich auf einen sozialen Arbeitsplatz
bewerben können; das sind mehr als 1 Million Menschen
in Deutschland. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem An-
trag, dass es – nur – 200 000 solcher Arbeitsplätze geben
soll. Was ist mit den anderen 800 000 Menschen? Wer
soll diese 200 000 Arbeitsplätze überhaupt bekommen?
Gerade die Antwort auf die letzte Frage bleiben Sie
schuldig; denn Sie grenzen die Zielgruppe nicht ein. Da-
mit erreichen Sie eben nicht diejenigen, die am weitesten
vom Arbeitsmarkt entfernt sind, sondern Sie helfen aus-
gerechnet denjenigen, die diese Hilfe nicht brauchen.

Da wollen Sie uns immer in das gelobte Land, in dem
Milch und Honig fließen, führen, und dann bleiben Sie
mitten in der Wüste Sinai stecken.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die haben doch Laktoseintoleranz!)


Aber in der politischen Wüste sind Sie ja zu Hause.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Sagen Sie auch mal etwas zum Thema?)


Tragischerweise machen Sie in Ihrem Antrag genauso
weiter. Sie verlangen für die sozialen Arbeitsplätze einen
Bruttolohn von 1 500 Euro. Das entspricht für den Steu-
erzahler einem Betrag von fast 2 000 Euro.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: 1 700!)


Bei 200 000 Arbeitsplätzen sind das pro Jahr sage und
schreibe 4,7 Milliarden Euro, die Sie zusätzlich ausge-
ben wollen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Tragen Sie mal die Refinanzierungseffekte vor!)


Das ist ein Viertel dessen, was der Bund jedes Jahr für
das Arbeitslosengeld II ausgibt.

Damit nicht genug: Sie schaffen es mit Ihrem Antrag
auch noch, ein Zweiklassensystem von Arbeitslosen zu
installieren. Die 800 000 Menschen, die es nicht in Ihr
Programm schaffen, bekommen weiterhin Hartz IV. Die
anderen 200 000 Menschen, die in Ihrer Soziallotterie
gewonnen haben, bekommen doppelt so viel.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Und was bekommen sie bei Ihnen? – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Bei Ihnen kriegen sie Hartz IV!)


Somit schafft die Linke das, was sie der FDP immer vor-
geworfen hat: eine Umverteilung von unten nach oben
im Hartz-IV-System.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Alle kriegen bei uns Mindestsicherung?)


Man könnte meinen, das sei genug. Aber Sie setzen
noch eins drauf: Sie schlagen eine Sonderabgabe von
0,5 Prozent der Lohnsumme vor.





Kai Whittaker


(A) (C)



(D)(B)


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Genau! Die ist gut!)


Selbstverständlich sollen die Arbeitgeber sie bezahlen;
etwas anderes haben wir von Ihnen auch nicht wirklich
erwartet.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Genau!)


Bei Ihrem Vorschlag bleiben Sie aber seltsam vage.

Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder
wollen Sie sich ganz dreist an der Arbeitslosenversiche-
rung bedienen. Denn die Arbeitgeber und die Versicher-
ten bezahlen jedes Jahr einen 3-prozentigen Beitragssatz
an die Arbeitslosenversicherung – das sind ungefähr
30 Milliarden Euro im Jahr –, und Ihre 0,5 Prozent Son-
derabgabe ergäbe – oh Wunder, oh Wunder! – genau die
5 Milliarden Euro, die Sie brauchen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist Zufall! Die können doch gar nicht rechnen!)


Nur: Dieses Geld gehört den Versicherten und nicht Ih-
rem aufgeblähten Steuerstaat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Da machen wir einen Finanzierungsvorschlag, und dann ist es auch wieder nicht richtig! Was wollen Sie denn nun? – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Mensch, Sie müssen sich richtig damit beschäftigen!)


Oder aber – das ist die Alternative – Sie wollen eine
Strafsteuer für Arbeitgeber einführen; Sie nennen sie
eben Sonderabgabe. Für eine solche Abgabe aber muss
es eine ganz spezifische Verbindung zwischen dem Zah-
ler und dem Zweck geben; das schreibt unsere Verfas-
sung vor.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Ach, wirklich?)


Aber die schließen Sie ja aus, weil private Arbeitgeber
die sozialen Arbeitsplätze gar nicht anbieten dürfen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die können ja richtige Arbeitsplätze anbieten! Sie können über 50-Jährige einstellen!)


Kommen wir zu einem weiteren Vermittlungshemm-
nis bei Ihnen: zum logischen Denken. In meiner ersten
Rede im Bundestag ging es um Ihren Antrag im Hin-
blick auf einen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde.
Damals fand ich Ihren Antrag irgendwie süß.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Süß fanden Sie den? Aha!)


Denn wir haben uns in der Großen Koalition auf einen
Mindestlohn von 8,50 Euro verständigt;


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil wir Sie zum Jagen getragen haben!)


seitdem ist Ihnen dieses Thema ja abhandengekommen.
Da Sie den flächendeckenden Mindestlohn von 10 Euro
nicht einführen konnten, haben Sie sich wahrscheinlich
gedacht: Jetzt probieren wir es durch die Hintertür, näm-
lich bei den Arbeitslosen.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wie kann man nur so über dieses Thema reden?)


Denn Sie fordern für die sozialen Arbeitsplätze ja einen
Mindestlohn von 10 Euro.

Sie fordern in Ihrem Antrag auch eine 35-Stunden-
Woche. Aber darüber möchte ich mich gar nicht be-
schweren; das wäre nämlich ein höheres Arbeitspensum
als bei Ihnen üblich.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Linke, nachdem ich Ihr Vermittlungshemmnis
jetzt anschaulich beleuchtet habe, möchte ich Ihnen et-
was an die Hand geben.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist alles peinlich hier! Ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit beim Thema Arbeitslosigkeit wäre nicht schlecht!)


Schließlich ist es ja unser gemeinsames Ziel, Vermitt-
lungshemmnisse abzubauen, also auch Ihre. Worum geht
es der Union bei der Integration der Langzeitarbeitslo-
sen? Ich habe es schon in meiner letzten Rede hier im
Deutschen Bundestag gesagt – ich wiederhole es –:


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie oft wollen Sie von dieser Rede denn noch reden?)


nicht Integration durch Beschäftigung, sondern Integra-
tion durch Arbeit. So bringen wir die Menschen wieder
in den ersten Arbeitsmarkt hinein. Wir dürfen die Men-
schen nicht vernachlässigen, wir dürfen sie nicht in ir-
gendwelchen sozialen Arbeitsmärkten parken, und wir
dürfen sie auch nicht aufgeben, sondern wir müssen ihre
Stärken in den Mittelpunkt stellen. Das Ziel ist ganz klar,
sie an den ersten Arbeitsmarkt heranzubringen. Dafür
gibt es meiner Meinung nach fünf Ansatzpunkte:

Wenn wir die Langzeitarbeitslosen wieder in die Nähe
des ersten Arbeitsmarktes bringen wollen, brauchen wir
bessere Konzepte statt Maßnahmen. Der Mehrwert der
meisten Maßnahmen geht gegen null. Was diese Men-
schen eigentlich brauchen, sind Fähigkeiten, die am ers-
ten Arbeitsmarkt gefragt sind. Ein Beispiel wären,
glaube ich, die sogenannten Sozial- und Integrationsfir-
men; dieses Konzept haben wir im SGB IX bei den
Menschen mit Behinderung bereits verankert. Einer der
Hauptunterschiede zwischen den bestehenden Instru-
menten im SGB II und diesen Sozialfirmen ist die Stel-
lung der Langzeitarbeitslosen: In einer Maßnahme sind
sie nur Teilnehmer; aber in einer Sozialfirma sind sie Be-
schäftigte. Ein weiterer Vorteil ist meiner Meinung nach,
dass die Sozialfirmen Betreuung aus einer Hand anbie-
ten können, und sie bieten insbesondere arbeitsmarkt-
nahe Beschäftigung. Dadurch können die Übergänge in
den ersten Arbeitsmarkt besser gestaltet werden.

Wie können wir diese Übergänge noch erleichtern?
Damit wären wir beim zweiten Punkt: Ausbildung för-
dern. Über 40 Prozent der Arbeitslosengeld-II-Bezieher
haben keinen Berufsabschluss. In der Vergangenheit ha-
ben wir den Fokus zu sehr auf die schnelle Vermittlung





Kai Whittaker


(A) (C)



(D)(B)

gelegt. Wir wollen nicht, dass Langzeitarbeitslose in
Zeit- und Leiharbeit vermittelt werden, um sich in weni-
gen Monaten wieder einen neuen Job suchen zu müssen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist der Unterschied zwischen Zeitund Leiharbeit, Herr Kollege?)


Deshalb muss der Vorrang von Ausbildung vor Vermitt-
lung konsequent in die Praxis umgesetzt werden.

Ein dritter Ansatzpunkt sind die Jobcenter. Es ist die
Aufgabe der Jobcenter, individuelle und passgenaue
Möglichkeiten für Langzeitarbeitslose zu finden.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Dann brauchen Sie mehr Personal bei den Jobcentern!)


Diesem Anspruch können die Jobcenter nicht immer ge-
recht werden. Deswegen sollten wir an dieser Stelle auch
darüber diskutieren, wie wir die freie Förderung refor-
mieren, sie flexibler gestalten können. Dies würde den
Jobcentern die Freiheit geben, eine ganzheitliche Betreu-
ung anzubieten.

Ein weiterer Aspekt ist die Verbesserung des Arbeit-
geberservices. Die Jobcenter müssen ihren lokalen Ar-
beitsmarkt viel besser kennen, um passgenau vermitteln
zu können.

Als Letztes möchte ich noch die Notwendigkeit von
Evaluierungen ansprechen. Meiner Meinung nach müs-
sen wir alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente nach ih-
rer Einführung regelmäßig überprüfen. Dadurch können
wir schneller feststellen, was wirkt und was nicht wirkt
und wo wir nachsteuern müssen.

Werte Kollegen, in der Arbeitsmarktpolitik verfolgen
wir alle das gleiche Ziel: Wir möchten Menschen wieder
in Arbeit bringen. Unsere Wege sind jedoch höchst un-
terschiedlich. Leider werden viele Anträge von den Lin-
ken immer noch von ideologischen Blaupausen domi-
niert,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Langzeitarbeitslosen zu helfen ist ideologisch? Das merken wir uns! Ich werde in meinem Wahlkreis erzählen, was Sie hier gesagt haben! So ein Unsinn!)


wie wir heute mehr als einmal festgestellt haben. Darin
liegt, denke ich, die Krux der ganzen Sache. Der
Schweizer Aphoristiker Paul Schibler hat einmal sehr
treffend und passend formuliert: „Ideologie ist ein Syn-
onym für Begrenztheit.“ Ihr Antrag, liebe Linke, ist ein
Synonym für Begrenztheit. Deshalb lehnen wir ihn ab.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Denken Sie heute Abend noch einmal nach über den Spruch!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810103800

Vielen Dank. – Als Nächster hat der Kollege Matthias

Bartke, SPD-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1810103900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich
finde, dass wir heute einem bemerkenswerten parlamen-
tarischen Schauspiel beiwohnen dürfen: Die Linkspartei
hat einen Antrag geschrieben und ihre gesamte Redezeit
an eine Landesministerin aus Thüringen gegeben.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Warum denn nicht?)


Nachdem die Redezeit verbraucht war, wurde eine Kurz-
intervention – eher eine Langintervention – gemacht, die
vorbereitet war.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Man kann so etwas als Missbrauch parlamentarischer
Bräuche beschreiben. Das nur vorab.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist ja albern!)


Meine Damen und Herren, es ist jedes Mal wieder
eine hervorragende Nachricht: Die Arbeitslosenzahlen
sinken. Dieser Trend setzt sich nun schon seit langem
fort. Gleichzeitig – das ist natürlich auch wahr – müssen
wir uns aber eingestehen: Bei den Langzeitarbeitslosen
hat sich bislang leider zu wenig getan. Auch wenn es an-
derslautende Stimmen gibt: Die Zahlen bleiben seit lan-
gem auf gleichem Niveau, nämlich bei etwa 1 Million
stehen.

Sorgen machen muss uns dabei vor allem die Mi-
schung aus strukturellen Bedingungen und persönlichen
Einschränkungen, die dahintersteckt. Diese Mischung
macht aus Lebenssituationen Vermittlungshemmnisse,
lässt aus Menschen Langzeitarbeitslose werden und
führt zur Ausgrenzung aus unserer Gesellschaft.

Meine Damen und Herren, wir stellen uns dieser Rea-
lität. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat bereits
im vergangenen Jahr ein umfassendes Konzept zum Ab-
bau der Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Umfassend?)


Es ist völlig klar: Die Chance von Langzeitarbeitslosen,
im nächsten Monat eine Beschäftigung zu haben, ist mo-
mentan viel zu niedrig. Diejenigen, die weniger als ein
Jahr arbeitslos sind, haben eine sechsmal höhere Chance,
einen Job zu bekommen. Das macht erschreckend deut-
lich, wie gering die Chancen Langzeitarbeitsloser sind.
Dieses Problem werden wir angehen. Das ist auch drin-
gend notwendig; denn Langzeitarbeitslosigkeit bedeutet
nicht nur, kein Geld zu verdienen. Im schlimmsten Fall
bedeutet sie auch fehlendes Selbstwertgefühl, fehlende
Anerkennung und fehlende Teilhabe an der Gesellschaft.

Viel zu häufig begegnen wir auch Vorurteilen gegen-
über Arbeitslosen, die deren mangelndes Selbstwertge-





Dr. Matthias Bartke


(A) (C)



(D)(B)

fühl dann noch verstärken. Natürlich gibt es immer den
einen oder anderen, der keinen Job haben will und sich
in der Arbeitslosigkeit scheinbar gut eingerichtet hat.
Aber die überwiegende Mehrheit der Langzeitarbeitslo-
sen möchte gern arbeiten. Manche – das ist leider auch
die Wahrheit – trauen sich reguläre Arbeit nicht mehr zu,
auch wenn sie durchaus noch arbeiten könnten.

Die konjunkturelle Entwicklung in unserem Land ist
momentan vielversprechend, aber auch ihre Wirkung hat
Grenzen. Langzeitarbeitslose sind manchmal nicht mehr
arbeitsmarktfähig. Das heißt aber nicht, dass sie arbeits-
unfähig sind. Für ihre Probleme gibt es kein Patentre-
zept. Vielmehr brauchen wir Angebote, die helfen, die
spezifischen Probleme zu bewältigen. Genau dieser An-
satz findet sich in dem Konzept von Arbeitsministerin
Andrea Nahles zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit
wieder. In den geplanten Aktivierungszentren – meine
Kollegin Kolbe hat schon darauf hingewiesen – werden
Leistungsberechtigte gebündelt Unterstützungsleistun-
gen erhalten. Hier wird auf soziale, psychische und ge-
sundheitliche Vermittlungshemmnisse eingegangen.
Genauso wird auch an die Bewältigung von Bildungs-
defiziten und Alltagsproblemen herangegangen; „maß-
geschneidertes Betreuungsprogramm“ ist hier das Stich-
wort. Die Aktivierungszentren werden noch in diesem
Jahr vorbereitet. Anfang nächsten Jahres werden sie ar-
beitsfähig sein.

Ebenfalls Bestandteil des Konzepts ist das ESF-Pro-
gramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungs-
berechtigter. Dessen Umsetzung ist bereits gestartet. Die
Unterscheidung zwischen nicht arbeitsmarktfähig und
arbeitsunfähig wird hier unmittelbar gelebt.

Arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose ohne verwert-
baren Berufsabschluss werden bei der Integration in den
Arbeitsmarkt unterstützt. Dabei sind Arbeitnehmercoa-
ching auch nach Beginn der Beschäftigung und Lohn-
kostenzuschüsse zentrale Elemente; dazu kommt – ganz
wesentlich im Programm – die gezielte Ansprache und
Beratung der Arbeitgeber, auch wenn das in manchen
Ohren banal klingt. Fakt ist aber leider, dass nur jeder
dritte Betrieb bereit ist, Langzeitarbeitslosen im Einstel-
lungsprozess überhaupt eine Chance zu geben. Dabei
bewertet etwa die Hälfte der Betriebe, die Langzeit-
arbeitslose berücksichtigen, deren Motivation und Zu-
verlässigkeit als gut oder sogar sehr gut.

Denjenigen, die auch nach intensiver Förderung nicht
in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können,
bietet das Programm „Chancen eröffnen – soziale Teil-
habe sichern“ eine neue Chance. Der Name ist dabei
Programm: Vorderstes Ziel ist die soziale Teilhabe am
Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben. Durch
Zuschüsse bis zu 100 Prozent sollen sozialversiche-
rungspflichtige Arbeitsverhältnisse gefördert werden.
Auch dieses Programm startet noch in diesem Jahr.


(Beifall bei der SPD)


Darüber hinaus befürworten wir Sozialdemokraten
auch die Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes über
den Passiv-Aktiv-Transfer; das ist kein Geheimnis.


(Beifall bei der SPD – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Aber ihr tut nichts!)

Wir wollen auch kein Geheimnis daraus machen, dass
dies vom Finanzminister derzeit verhindert wird.

Es gibt Dinge, die man schlicht nicht versteht: Meine
Heimatstadt Hamburg hat angeboten, bei einem Passiv-
Aktiv-Transfer die Finanzierung eventuell notwendiger
Restmittel zu übernehmen. Also null Kostenrisiko für
den Bund! Das ist mit dem Finanzminister trotzdem
nicht zu machen. Ich frage mich, ob man im Alter wirk-
lich immer weiser wird.


(Heiterkeit bei der SPD)


Aber, verehrte Frau Ministerin Werner, Ihren Rezepten
kann ich auch nur begrenzt etwas abgewinnen. Mit Ihrer
Situationsanalyse gehe ich in weiten Teilen mit, bei der
Therapie aber nicht. Sie fordern 200 Stellen in einem öf-
fentlich geförderten Beschäftigungssektor, auf die sich
alle Langzeitarbeitslosen


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mit 200 geben wir uns nicht zufrieden!)


– 200 000 Stellen – bewerben können. Es ist hier eben
schon gesagt worden: Sie sagen nichts über die Aus-
wahlkriterien für die Vergabe dieser Stellen. Dabei ist
doch klar, dass bei einem solchen Konzept ein Creaming
stattfinden wird. Das heißt, die mit den besten Ver-
mittlungsaussichten bekommen die Stellen, und die
Schwächsten der Schwachen gucken wieder einmal in
die Röhre.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810104000

Herr Kollege Bartke, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Pothmer?


Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1810104100

Ja, gern.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810104200

Bitte schön, Frau Kollegin.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810104300

Herr Kollege Bartke, Sie haben gerade darauf hinge-

wiesen, dass der Erste Bürgermeister der Hansestadt
Hamburg das Angebot gemacht hat, zur Einrichtung ei-
nes sozialen Arbeitsmarktes eventuell sogar zusätzlich
Geld zur Verfügung zu stellen, und Sie haben den Bun-
desfinanzminister – wie ich finde, zu Recht – kritisiert.
Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass Herr Scholz auch ein-
mal Bundesarbeitsminister war und in seiner Amtszeit
den Passiv-Aktiv-Transfer seinerseits abgelehnt hat?


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das Sein bestimmt das Bewusstsein!)



Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1810104400

Das ist schon längere Zeit her. Herr Scholz ist derzeit

Erster Bürgermeister in Hamburg. Die Diskussion um
den Passiv-Aktiv-Transfer hat es damals in dieser Inten-
sität ja noch gar nicht gegeben.


(Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Das kann man ja heute gut sagen!)






Dr. Matthias Bartke


(A) (C)



(D)(B)

Unser Wunsch ist es – das ist ja bekanntermaßen auch
bei Teilen der CDU so –, den Passiv-Aktiv-Transfer
durchzuführen. Wenn wir das in dieser Legislaturperiode
nicht tun, dann werden wir uns bemühen, das in der
nächsten Legislaturperiode zu machen. Gute Sachen soll
man tun, und wenn man sie nicht heute macht, dann
macht man sie morgen.


(Beifall bei der SPD – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was machen Sie in der übernächsten Legislaturperiode?)


Das Konzept des sozialen Arbeitsmarktes und die so-
ziale Teilhabe am Arbeitsmarkt richten sich an die
Schwächsten der Schwachen. Das Institut für Arbeits-
markt- und Berufsforschung schätzt diese Gruppe auf
100 000 bis 200 000 Personen. Für diese eingegrenzte
Gruppe der ganz Schwachen sollte eine öffentlich geför-
derte Beschäftigung geschaffen werden. Sie erhalten
dann eine öffentlich finanzierte Beschäftigung, damit sie
überhaupt wieder am sozialen Leben teilnehmen kön-
nen, der Tag strukturiert wird und sie Anerkennung fin-
den. Die Integration auf den allgemeinen Arbeitsmarkt
steht dabei durchaus nicht im Vordergrund.

Das Konzept von Andrea Nahles ist ein gutes Kon-
zept. Bei der Umsetzung dieses Konzepts haben wir ein
gutes Stück harte Arbeit zu bewältigen, aber am Ende
lohnt es sich. Aber auch hier gilt die alte Weisheit von
Marie Curie, die einmal gesagt hat:

Man merkt nie, was schon getan wurde; man sieht
immer nur das, was noch zu tun bleibt.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Matthias Zimmer [CDU/ CSU]: Merci Curie!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810104500

Vielen Dank. – Bevor ich den nächsten Redner auf-

rufe, erteile ich der Kollegin Sitte das Wort, die Gelegen-
heit zu einer Kurzintervention hat.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Was ist jetzt schon wieder?)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810104600

Recht schönen Dank, Frau Präsidentin. – Ich muss

jetzt doch einmal etwas klarstellen, damit sich das bei
den Zuhörerinnen und Zuhörern nicht falsch einschleift:

Erstens. Kurzinterventionen – ob vorbereitet oder un-
vorbereitet; das schreibt die Geschäftsordnung nicht vor –
sind gängiges Mittel hier im Bundestag.


(Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Herrn Zimmers sonstige Beiträge in diesem Bundestag
haben bei uns nicht den Wunsch ausgelöst, eine vorbe-
reitete Kurzintervention zu bieten. Auch die heutige war
unvorbereitet. Gerade als Vertreter der CDA haben Sie
hier schon ziemlich kluge Beiträge zum Thema Arbeits-
losigkeit und dazu geleistet, wo die Verantwortung der
Gesellschaft liegt. Ihren heutigen Beitrag dazu fand ich
suboptimal, um es einmal so zu beschreiben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Zweite, was ich als Parlamentarische Geschäfts-
führerin gerne anmerken möchte, weil es der Kollege der
SPD für notwendig befunden hat, noch einmal Bezug
darauf zu nehmen: Unser Vorgehen ist übliche Praxis im
Deutschen Bundestag. Artikel 43 Absatz 2 des Grundge-
setzes gibt den Mitgliedern des Bundesrates und der
Bundesregierung sowie ihren Beauftragten nämlich das
Recht, sowohl in den Ausschüssen als auch im Plenum
des Deutschen Bundestages zu sprechen. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, es gibt keine Fraktion, die das hier
nicht schon praktiziert hat. Im Gegenteil: Das ist auch
eine Begegnung mit dem Leben von Landesministerien.

Unser Antrag beschreibt die Probleme auf Bundes-
ebene. Die Diskussion darüber wurde hier um das er-
gänzt, was man in Thüringen tun kann. Das ist doch eine
wirklich gute Verbindung; das muss man nicht beklagen.
Wenn man die Chance dazu hat, dann sollte man sie nut-
zen, und wir hatten die Chance.

Da wir die Landesministerin von Thüringen selbst-
verständlich nicht für einen sechsminütigen Redebeitrag
herholen wollten, hat sie natürlich unsere zwölf Minuten
Redezeit bekommen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810104700

Herr Kollege Bartke.


Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1810104800

Das Bemerkenswerte an dieser Sache ist doch, dass

Sie selber einen Antrag geschrieben haben, zu dem es in
der Kernzeit eine 96-minütige Debatte gibt, und Ihre ge-
samte Redezeit weggeben und selbst nicht dazu reden.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist kein Missbrauch!)


– Formalrechtlich ist das, was Sie gemacht haben, natür-
lich total zulässig, aber ich habe das als einen Miss-
brauch bezeichnet, und Sie müssen mir auch freistellen,
so etwas zu tun.

Danke.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das kann man hier sagen!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810104900

Zur allgemeinen Verständigung: Generell darf jeder

Parlamentarier hier im Saal das sagen, was er gerne sa-
gen möchte, solange er andere nicht beleidigt. Da der
amtierende Bundestagspräsident zu der Zeit auch als
oberster Hüter der Geschäftsordnung hier gesessen hat,
gehe ich davon aus, dass er sich voll bewusst darüber ge-





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

wesen ist, dass die Geschäftsordnung so ausgelegt wer-
den kann, wie Frau Sitte das gerade gesagt hat.

Jetzt hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Thema ist in der Tat viel zu ernst, als
dass man hier mit solchen merkwürdigen Scharmützeln
arbeiten sollte. Ich fand den Stil in manchen Reden von
Vertretern der Koalition etwas unangemessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ansonsten bin ich den Linken für ihren Antrag sehr
dankbar, weil damit auf ein zentral wichtiges Thema hin-
gewiesen wird. Außerdem gibt er uns noch einmal die
Möglichkeit, die unterschiedlichen Ansätze von Linken
und Grünen klar darzustellen. Die Linken machen in ih-
rem Antrag sehr deutlich, dass sie zentrale Merkmale
unseres Ansatzes eines grünen sozialen Arbeitsmarktes
ablehnen. Darauf werde ich jetzt eingehen.

Das Ziel der Grünen ist eine Gesellschaft, an der alle
Menschen selbstbestimmt teilhaben können. Wir streben
eine Gesellschaft an, in der niemand ausgegrenzt wird.
Die Umsetzung der Forderungen im Antrag der Linken
würde in der Tat eher das Gegenteil bewirken, was ich
an ein paar Punkten ausführen möchte.

Der erste Punkt ist die Frage: Wer ist eigentlich die
Zielgruppe? Da sagen Sie: alle Langzeitarbeitslosen.
Alle Langzeitarbeitslosen – so schimmerte es sowohl in
der Rede von Frau Werner als auch in Ihrem Antrag
durch – hätten überhaupt keine Chance auf dem Arbeits-
markt. Das ist eine Stigmatisierung der Langzeitarbeits-
losen, die wir unterlassen sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es ist mitnichten so, dass alle Langzeitarbeitslosen
überhaupt keine Chance haben. Viele Langzeitarbeits-
lose sind gut qualifiziert und verfügen über besondere
Fähigkeiten. Mit einer guten Förderung eröffnen wir ih-
nen viele Möglichkeiten. Viele Menschen finden auch
nach mehr als einem Jahr Arbeitslosigkeit wieder aus der
Arbeitslosigkeit heraus.


(Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Frau Präsidentin.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Genau das, was ich dachte: Keine Redezeit, aber laufend Zwischenfragen stellen! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das würden wir sonst auch machen! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/ CSU]: Ach so!)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810105000

Herr Kollege Strengmann-Kuhn, gestatten Sie eine

Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Er wartet schon darauf! – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Jetzt Nein sagen!)



(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich gestatte sie sehr gerne.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810105100

Bitte schön.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810105200

Ich habe mich vorbereitet; das wollte ich vorweg sa-

gen. – Vielen Dank, Kollege Strengmann-Kuhn.

Ich will einfach nur etwas klarstellen. In unserem An-
trag steht: Qualifizierung und Weiterbildung haben Vor-
rang. – Wenn jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt ver-
mittelt werden kann, ist das gut. Deswegen möchte ich
einfach klarstellen, dass nicht alle Langzeitarbeitslosen
in den öffentlichen Sektor hinein sollen, sondern für uns
steht die Vermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt wirk-
lich an erster Stelle.


(Beifall bei der LINKEN)



(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie schreiben aber in Ihrem Antrag, dass sich auf die
200 000 Plätze alle Langzeitarbeitslosen bewerben kön-
nen, und zwar ohne Einschränkungen. Das gilt dann
auch für diejenigen, die Chancen auf eine Stelle auf dem
ersten Arbeitsmarkt hätten. Das führt dazu, dass diejeni-
gen, die keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben,
auch keine Chance auf einen ihrer 200 000 Arbeitsplätze
haben. Das heißt, die Ausgrenzung an dieser Stelle, die
wir mit dem sozialen Arbeitsmarkt angehen wollen, be-
steht in Ihrem Konzept weiterhin. Die 200 000 Men-
schen, die langzeitarbeitslos sind und mehrere Vermitt-
lungshemmnisse haben, hätten auch in Ihrer öffentlich
geförderten Beschäftigung keine Chance. Das führt zur
Ausgrenzung. Das ist ein Punkt, den wir in Ihrem Vor-
schlag kritisieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt ist: In welche Art von Beschäfti-
gung kommen diese Menschen? Es ist für uns wichtig,
dass Barrieren abgebaut werden und dass wir an die Sa-
che inklusiv herangehen. Deswegen sprechen wir nicht
von einem zweiten oder dritten Arbeitsmarkt mit einem
hierarchischen Aufbau, sondern wir sprechen von einem
sozialen Arbeitsmarkt ohne Barrieren und Hindernisse
zum normalen Arbeitsmarkt. Die Grenzen zwischen so-
zialem Arbeitsmarkt und normalem Arbeitsmarkt sollen
fließend sein.

Genau diese Grenzen ziehen Sie in Ihrem Antrag wie-
der ein, indem Sie sagen: Die Beschäftigung muss zu-
sätzlich sein. – Was heißt denn „zusätzlich“? Das heißt,





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)

es ist keine normale Beschäftigung. Das heißt also, die
Beschäftigung besteht darin, einen Laubhaufen von ei-
ner Stelle zu einer anderen zu schieben. Das macht kei-
nen Sinn. Wir brauchen normale Beschäftigung, die
nicht zusätzlich ist, die allen offensteht und mit der die
Menschen gefördert werden können, die geringe Chan-
cen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Das Gleiche gilt für die Frage, ob es nur um öffentlich
geförderte Beschäftigung gehen soll. Kollegin Pothmer
hat schon auf das Modell in Baden-Württemberg verwie-
sen, wo explizit und vorrangig private Unternehmen an-
gesprochen werden. Das ist genau der richtige Weg. Wir
müssen mit dem sozialen Arbeitsmarkt auch Beschäfti-
gung fördern, die der auf dem ersten Arbeitsmarkt ent-
spricht und marktgängig ist. Nur dadurch bekommen wir
es tatsächlich hin, dass die Menschen am sozialen Ar-
beitsmarkt nicht in einem Sondersystem sind und stig-
matisiert und ausgegrenzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt schon gute Beispiele


(Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Welche denn?)


wie Nordrhein-Westfalen, wo die Grünen an einer rot-
grünen Regierung beteiligt sind, und das Baden-Würt-
temberger Modell – dort koalieren die Grünen mit der
SPD –, wo diese Kriterien enthalten sind. In Hessen ha-
ben sich die Koalitionspartner Grüne und CDU diese
Woche auf einen Einstieg in einen sozialen Arbeitsmarkt
geeinigt, der auch diesen Kriterien entspricht. Das zeigt:
Da, wo Grüne regieren, geht es in die richtige Richtung.
Grün wirkt!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist der SPD, die auch Sympathien für den sozialen
Arbeitsmarkt hat, auf Bundesebene nicht gelungen, die
CDU zu überzeugen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schaffen wir auch noch!)


Das haben wir, wie gesagt, in Hessen geschafft.

Ich fordere die Regierungskoalition noch einmal auf,
sich einen Ruck zu geben. Nehmen Sie sich ein Beispiel
an den Bundesländern, in denen die Grünen mitregieren!
Denn nur dann, wenn wir es auf Bundesebene schaffen,
den Passiv-Aktiv-Transfer umzusetzen, kann es einen
flächendeckenden sozialen Arbeitsmarkt geben, bei dem
die Dauerarbeitslosen nicht mehr ausgegrenzt werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810105300

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion erhält

jetzt die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Christel Voßbeck-Kayser (CDU):
Rede ID: ID1810105400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich werde teilweise aus NRW-Sicht reden. Vieles
wurde schon gesagt. Wiederholungen werden sich wohl
nicht vermeiden lassen.

Wir haben in Deutschland eine hervorragende Ar-
beitsmarktlage, und wir können hohe Beschäftigungs-
zahlen vorweisen. In der Gruppe der Langzeitarbeitslo-
sen in Deutschland bewegt sich zum Teil weniger, oder
genauer gesagt: In diesem Bereich verfestigen sich be-
stimmte Personengruppen. Wenn wir gemeinsam fest-
stellen, dass wir die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen
mit den vorhandenen Vermittlungsstrukturen nicht oder
nur unzureichend erreichen können, dann müssen wir
die Vermittlungsstrukturen und den vorhandenen Instru-
mentenkasten prüfen und entsprechend anpassen. Ziel
aller Maßnahmen und Programme muss es sein, den
Übergang in den ersten Arbeitsmarkt und damit in die
sozialen Sicherungssysteme zu ermöglichen.

Ich glaube aber, dass wir gerade bei diesem Thema,
das uns allen wichtig ist, verschiedene Aspekte beleuch-
ten müssen. Ob Ihre Vorstellung, Kollegen der Fraktion
Die Linke, die öffentlich geförderte Beschäftigung mit
200 000 Stellen auszubauen, die richtige Lösung für die
Beseitigung von Langzeitarbeitslosigkeit ist, wage ich
zu bezweifeln. Wir müssen uns dabei nämlich auch die
Frage stellen, ob wir nicht mitunter diese Personen-
gruppe in dem System sogar verfestigen. Es gibt nämlich
nicht den Normalfall bei Langzeitarbeitslosen. Es ist Teil
der Herausforderung, dass wir es bei den Langzeitar-
beitslosen nicht mit einer homogenen Gruppe zu tun ha-
ben; es sind vielmehr Menschen, die häufig mehrere
Vermittlungshemmnisse aufweisen und auch unter-
schiedlichen Unterstützungsbedarf haben.

Die unterschiedlichen Erwerbslosenbiografien sind
bereits angesprochen worden. Circa 1 Million Menschen
sind schon länger als ein Jahr ohne Arbeit. Fast die
Hälfte von ihnen ist länger als zwei Jahre arbeitslos.
Dass 20 Prozent vier Jahre oder länger arbeitslos sind, ist
nicht gut; dem müssen wir entgegenwirken. Wir müssen
– die Bundesarbeitsagentur agiert bereits entsprechend –
die individuellen Potenziale der Langzeitarbeitslosen
verstärkt in den Blick nehmen und nach Talenten und
Begabung fragen und den Betroffenen die Möglichkeit
geben, diese weiterzuentwickeln.

Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die
Langzeitarbeitslosen vielfach soziale, gesundheitliche,
schulische oder familiäre Probleme haben. Deshalb
gehört es für uns in der Union dazu, dass wir die Rah-
menbedingungen so gestalten wollen, dass sich Betreu-
ungsintensität, Betreuungsqualität und auch Betreuungs-
dichte steigern lassen, wobei es einer Abstimmung
zwischen den Akteuren, die an diesem Prozess beteiligt
sind, bedarf.

Sie wissen: Ich habe 30 Jahre im Gesundheits- und
Sozialbereich gearbeitet. Ich bin der Meinung, dass Un-
terstützungsleistungen wie Schuldnerberatung, psycho-
soziale Beratung und anderes einen immensen Stellen-
wert bei der Begleitung von Langzeitarbeitslosen haben.
Häufig scheitert diese Unterstützung aber an zu weiten
Wegen. Dabei entscheidet sie oft über Erfolg oder Miss-
erfolg von Maßnahmen für Langzeitarbeitslose. Wir





Christel Voßbeck-Kayser


(A) (C)



(D)(B)

müssen hier die Rahmenbedingungen so setzen, dass die
räumliche Bündelung besser möglich wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir schaffen mit dem Instrument der assistierten Be-
gleitung eine sinnvolle ergänzende Hilfe. Das ist schon
angesprochen worden. Bei der Begleitung oder Beratung
kommt es nicht darauf an, ob sie von einem Pädagogen
oder einem Sozialpädagogen geleistet wird. Ich habe
auch große Sympathien für Menschen, die lebens- und
berufserfahren sind, die schon im Ruhestand sind, aber
sagen: Ich bin fit, ich bringe meine Kenntnisse und Fer-
tigkeiten ein, ich übernehme Patenschaften für Men-
schen, die arbeitslos sind – ob das nun junge oder ältere
Leute sind –, und begleite sie. – Das sind erfolgreiche
Instrumente. Deshalb glaube ich auch, dass wir mit die-
sem Instrument, das über den Zeitraum einer Maßnahme
hinaus eingesetzt werden soll, auf dem richtigen Weg
sind.

Des Weiteren soll die Vereinbarung von Zwischenzie-
len möglich sein, und zwar im Sinne eines Stufensys-
tems. Manches Training, ob in einer Berufsbildungsstätte
oder in einem Verein, oder auch manches Praktikum, wo
durch das Zusammensein mit anderen Menschen kom-
munikative Kompetenzen, Kritik- und Teamfähigkeit,
aber auch einfache Alltagsstrukturen wie das Einhalten
von Terminen und Regeln gelebt oder wieder erlernt
werden, ist dabei hilfreich.

Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die
Hälfte der Langzeitarbeitslosen leider keinen Berufsab-
schluss hat. Also muss es unser Ziel sein, bei den Maß-
nahmen zu schauen, wie wir Langzeitarbeitslose ohne
Berufsabschluss in eine Ausbildung vermitteln können,
anstatt sie einfach irgendwie zu beschäftigen.

Ich meine, dass wir bei der Gruppe der Alleinerzie-
henden ein gutes Beispiel finden, wie Instrumente, die
schon auf den Weg gebracht worden sind, gut wirken. Ja,
es gibt 120 000 Alleinerziehende in der Gruppe der
Langzeitarbeitslosen. Für sie ist zum einen notwendig,
dass Kinderbetreuungsmöglichkeiten vorhanden sind.
Die haben wir mit dem Kitaausbau, mit Betreuungsplät-
zen und regionalen Netzwerken vor Ort geschaffen; wir
haben sogar vielfältige Möglichkeiten geschaffen. Auf
der anderen Seite müssen wir aber auch die Arbeitgeber
so einbinden, dass die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf möglich ist.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810105500

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Pothmer?


Christel Voßbeck-Kayser (CDU):
Rede ID: ID1810105600

Im Moment nicht. Ich würde gerne erst den Gedanken

zu Ende führen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber später schon?)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810105700

Wenn die Redezeit nicht zu Ende ist.

Christel Voßbeck-Kayser (CDU):
Rede ID: ID1810105800

Ein Umdenken wegen offener Azubistellen, die nicht

besetzt werden können, findet bei den Arbeitgebern in
unterschiedlichem Maße schon statt, auch angesichts des
regionalen Fachkräftemangels. Ein Beispiel aus meinem
Wahlkreis: Ein Bäcker, der ein Familienunternehmen be-
treibt, hat einer alleinerziehenden Mutter durch ver-
kürzte Arbeitszeiten, angepasst an die Kitaöffnungszeit,
die Möglichkeit geboten, eine Ausbildung als Bäckerei-
fachverkäuferin zu machen. Das ist ein gutes Beispiel,
das zeigt, dass Instrumente wirken und aufseiten der Ar-
beitgeber, der Handwerksbetriebe und auch der Gewerk-
schaften einiges im Fluss ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie wundern sich vielleicht, dass ich heute etwas
milde bin, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Heiterkeit bei der LINKEN)


Das Thema ist uns allen wichtig. Nur, jetzt muss ich
folgenden Punkt erwähnen: die Finanzierung öffentlich
geförderter Berufstätigkeit. Sie wollen den Eingliede-
rungstitel durch eine Sonderabgabe der Arbeitgeber in
Höhe von 0,5 Prozent der Lohnsumme deutlich erhöhen.
Dazu kann ich nur ein Bild aus der Landwirtschaft neh-
men und sagen: Wie lange wollen Sie eine Kuh melken?


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: So lange, wie sie Milch gibt!)


Jeder von uns weiß: Eine gesunde Kuh kann man nur be-
grenzt melken. Auch unsere gesunde Kuh, die deutsche
Wirtschaft und den Mittelstand, kann man nicht unbe-
grenzt melken.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unsere Kühe stehen sehr gut da!)


Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Langzeitar-
beitslosigkeit ist ein komplexes Problem,


(Zurufe von der LINKEN)


das – darf ich dies noch zu Ende ausführen? – nicht ein-
fach mit neuen Arbeitsmarktprogrammen oder der Aus-
dehnung der öffentlich geförderten Beschäftigung zu lö-
sen ist. Vielmehr ist ein Bündel von Maßnahmen in der
Arbeitsmarktpolitik erforderlich. Es ist ferner nötig, im
Bildungssystem Maßnahmen, die räumlich gebündelt
und vernetzt sind, auf den Weg zu bringen. Ihr Antrag
greift aus unserer Sicht zu kurz, und deshalb lehnen wir
ihn ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810105900

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Waltraud Wolff,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1810106000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zu-
schauertribünen! Letztes Jahr im August haben meine
Kollegin Daniela Kolbe und ich die Forderung der ost-





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)

deutschen Bundestagsabgeordneten nach einem sozialen
Arbeitsmarkt vorgestellt. Ganz ehrlich: Wir haben im
letzten August nicht geglaubt, dass die Bundesarbeitsmi-
nisterin in der Zwischenzeit mehrfach hier im Hohen
Hause diese Forderung unterstützen und sagen würde,
sie werde Lösungsmöglichkeiten vorstellen. Wir wissen
ja, dass wir im Haushalt keine zusätzlichen Mittel haben.
Meine beiden Kollegen, Herr Bartke und Frau Kolbe,
haben schon dargestellt, welche die Zielgruppen sind
und wie wichtig es ist, dass hier etwas passiert.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollege Bartke hat gesagt, dass es ohne zusätzliche Mittel möglich ist!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist für uns
oberstes Gebot, Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zu
bauen; das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass für
Menschen, die sehr lange arbeitslos sind, die Angebote
der Arbeitsmarktpolitik nicht passen. Richtig ist also
auch, dass neben der Brücke auf den ersten Arbeitsmarkt
die Teilhabe am Erwerbsleben und damit auch am ge-
sellschaftlichen Leben ein wichtiges Ziel der Arbeits-
marktpolitik sein muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieses Ziel wird uns gemeinsam immer wichtiger, weil
wir die Dringlichkeit und die Not erkannt haben. Da-
rüber, muss ich sagen, bin ich persönlich sehr froh. Ich
bin auch deshalb sehr froh darüber, weil Arbeit mehr ist
als Broterwerb. Arbeit ist Grundlage für gesellschaftli-
che Teilhabe, und auf diese Teilhabe hat ein Teil der
Menschen in unserem Land keine Chance mehr. Diesen
Menschen – das haben wir in dieser Debatte schon breit
diskutiert – können wir mit öffentlich geförderter Be-
schäftigung helfen. Das halte ich für sinnvoll und not-
wendig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im August 2014 ha-
ben wir als SPD unseren Vorschlag vorgestellt. Im Okto-
ber 2014 hat eine Gruppe von Unionskollegen ihren Vor-
schlag zu öffentlich geförderter Arbeit gemacht. Heute
diskutieren wir einen Antrag der Linken. Das heißt also,
dass es eine breite Unterstützung für einen solchen An-
satz gibt. Die gute Nachricht ist: Es bleibt nicht nur bei
Anträgen; es bleibt nicht nur bei Lippenbekenntnissen.
Es wird auch die Umsetzung dieses Ansatzes geben.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann?)


Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird mit
seinem Programm – darüber haben wir auch schon dis-
kutiert – 10 000 Menschen einen Einstieg über das ESF-
Programm ermöglichen. Das ist ein wichtiger Schritt.


(Beifall bei der SPD)


Es ist wichtig, einen Einstieg zu finden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie ha-
ben in Ihrem Antrag deutlich gemacht, dass Ihnen das
nicht weit genug geht. Ich habe dafür Verständnis. Auch
mir persönlich und allen, die an dieser Debatte teilneh-
men, reicht das nicht.

Sie haben in Ihrem Antrag auch die Kosten für diesen
Ansatz benannt. Wenn man die Zahlen einmal zusam-
menrechnet, sieht man: Es handelt sich um 6 Milliarden
Euro. 6 Milliarden Euro! Das ist auch von meinen Kolle-
gen aus der Union schon angesprochen worden. Auch
die Sonderabgabe ist erwähnt worden. Ich sehe nicht,
überhaupt nicht, dass diese Vorschläge durchsetzbar
sind.

Wenn wir keine zusätzlichen Mittel im Haushalt ha-
ben, ist der Einstieg, den Frau Nahles hier macht, das
Beste, was uns überhaupt passieren kann;


(Beifall bei der SPD)


denn ohne zusätzliche Mittel im Haushalt hat Ministerin
Nahles für dieses Jahr 75 Millionen Euro freigekämpft,
und sie hat es möglich gemacht, für das nächste Jahr
150 Millionen Euro bereitzustellen. Ich sage noch ein-
mal: ohne zusätzliche Haushaltsmittel. Ich glaube, dass
es hier einen Anfang gibt, der wichtig ist und mit dem
man soziale Teilhabe möglich machen kann.


(Beifall bei der SPD)


Warum ist der Konsens dazu derart breit? Weil nicht
nur wir, sondern auch die Länder diesen Weg mitgehen!
Sie haben das für Thüringen gesagt, Frau Ministerin
Werner. Nordrhein-Westfalen, Hessen, alle haben sich
hier schon geoutet. Dann schaue ich mal zu mir nach
Hause, nach Sachsen-Anhalt. Ich freue mich, dass ge-
rade daran gearbeitet wird, dieses Bundesprogramm von
Frau Nahles um 1 000 Stellen aufzustocken. Sachsen-
Anhalt ist nicht gerade ein Land, das mit Reichtum ge-
segnet ist. Aber wir nehmen 35 Millionen Euro ESF-
Mittel zusätzlich in die Hand und schaffen für die nächs-
ten drei Jahre für 1 000 Menschen eine Beschäftigungs-
möglichkeit.

Menschen brauchen das Gefühl, gebraucht zu wer-
den. Die meisten wollen arbeiten. Sie wollen Teil der
Gesellschaft sein. Sie brauchen die Kontakte, die über
die Arbeit entstehen.

Meine Damen und Herren, es gibt gleichzeitig viele
Aufgaben, die überhaupt nicht wahrgenommen werden.
Es heißt immer: Soziale Arbeit kann nur stattfinden,
wenn keine ordentlichen Arbeitsplätze gefährdet wer-
den. – Etliche Kommunen in Ostdeutschland schrump-
fen. Nicht nur Wohnungen stehen leer, auch Kleingärten
fallen brach. Die gemeinnützigen Gartenvereine können
es nie im Leben schaffen, hier den Rückbau zu leisten.
Da sehe ich eine gute Möglichkeit.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Langzeitarbeitslose als Kleingärtner?)


In Krankenhäusern, in Pflegeheimen ist die Einsamkeit
greifbar. Pflegekräfte haben nicht die Zeit, die notwen-
dig ist. Das ist eine zusätzliche Aufgabe. In vielen Orten,
in vielen Dörfern gibt es nicht einmal mehr Geschäfte,
sodass Kommunen sagen: Wir müssen wenigstens einen
Dorfladen schaffen. – Auch da sind Möglichkeiten vor-





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)

handen. Es gibt tausend Ideen. Die wenigen Beispiele
sollen zeigen, dass im Rahmen von sozialer Arbeit sinn-
volle und wichtige Beschäftigung möglich ist. Dafür
müssen wir eine Unterstützung hinbekommen.

Natürlich muss man das vor Ort entscheiden. Ich
sage, dass die Beiräte bei den Jobcentern das am besten
entscheiden sollten: Da sind Arbeitgeber. Da sind Ge-
werkschaften. Da ist Politik. Es fehlen zwar die Sozial-
verbände, aber das sollte keine unüberwindbare Hürde
sein.

Es heißt immer, meine Damen und Herren: Politik ist
die Kunst des Möglichen. Uns eint das Ziel, soziale Teil-
habe für alle Menschen zu gewährleisten.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie uns diesen Weg doch gemeinsam gehen!
Aber lassen Sie uns dabei auch immer im Blick behalten,
was möglich ist! Dann, glaube ich, werden auf diesen
ersten Schritt weitere Schritte folgen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810106100

Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Kollegin Jutta

Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jutta Eckenbach (CDU):
Rede ID: ID1810106200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Als eine der letzten Rednerinnen und als eine,
die heute in diesem Hohen Hause, im Bundestag, schon
viele Reden gehört hat, will ich sagen: Eigentlich eint
uns Sozialpolitiker vieles. Ich möchte die Unterschiede
aber doch noch einmal deutlich machen.

Bei den Linken ist es so: Sie wollen eigentlich den
Arbeitsplatz, den Arbeitgeber mehr belasten. Ich habe
das einmal ausgerechnet. Es handelt sich nicht um Milli-
ardensummen. Aber wenn Sie das, was Sie fordern, auf
einen Arbeitgeber beziehen, heißt das, dass er bei 35
Mitarbeitern einen Ausbildungsplatz weniger finanzie-
ren kann. Da frage ich mich, inwiefern das sozial sein
soll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will auch Ausbildungsplätze schaffen. Ihr Vorschlag
läuft dem aber entgegen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie mal die Gewinne angeschaut?)


Sie vertreten die Philosophie – das wurde ja hier
schon mehrmals erwähnt –: Ich schaffe einen Arbeits-
markt, packe die Menschen dort hinein und – wenn ich
Frau Werner aus Thüringen richtig verstanden habe –
gebe ihnen 1 100 Euro im Monat, lasse sie drei Jahre in
einer öffentlich geförderten Beschäftigung; danach sind
sie ein Jahr in der Arbeitslosenversicherung, und dann
stecke ich sie wieder in ein Programm. – Wie lange wol-
len Sie das durchziehen?

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Deswegen wird das in Thüringen auch nie gut!)


Es gibt ja kein Andocken an den Arbeitgeber. Sie schaf-
fen einen öffentlich geförderten, geschützten Arbeits-
raum für drei Jahre. Da frage ich mich: Was ist eigent-
lich mit dem, der psychosoziale Schwierigkeiten hat, der
gar nicht acht Stunden arbeiten kann? Werden Sie den
auch mit 1 100 Euro ausstatten? Das sind für mich ganz
wichtige Fragen, wenn es um das Thema Passiv-Aktiv-
Transfer geht. Sie wissen, dass auch ich das verfechte.
Aber für mich sind noch nicht alle Fragen beantwortet.
Ich bekomme nämlich aus diesem System nur denjeni-
gen heraus, der voll arbeitsfähig ist. Bei demjenigen, der
große Schwierigkeiten hat, bin ich sofort wieder bei der
Aufstockung, weil er nicht aus dem System heraus ist.

Uns kann es doch nur darum gehen, die Menschen he-
rauszubekommen und an einen Arbeitgeber, in den ers-
ten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Was ist dafür notwen-
dig? Dafür sind nicht nur die Programme, die Frau
Nahles jetzt auflegt, notwendig. Frau Nahles hat in der
Tat die Programme alleine aufgelegt, liebe Kollegen der
SPD; denn politisch haben wir diese hier im Hohen
Hause noch nicht beraten. Insofern werden wir – da
freue ich mich auf eine spannende Diskussion – diskutie-
ren müssen, wie wir damit umgehen. Aber im Moment
ist es ein Nahles-Programm und kein Programm der
SPD, kein Programm der CDU. Es ist ein Programm der
Ministerin.

Wenn man sich einmal damit beschäftigt – das habe
ich getan – und vor Ort schaut, wie das Programm läuft,
dann kann man feststellen, dass wir momentan nicht alle
Stellen besetzt bekommen. Wir haben eigentlich 33 000
Stellen, bekommen mit Mühe und Not aber nur 24 000
Stellen besetzt. Woran liegt das? Das liegt daran, dass
wir die Arbeitgeber brauchen. Das liegt daran, dass wir
Menschen befähigen müssen, genau dort, wo sie ge-
braucht werden, die Arbeit aufzunehmen. Dazu ist aber
ein enormer Aufwand an Begleitung erforderlich. Des-
wegen ist es wichtig, dass wir darauf achten: Jede Re-
gion ist anders; jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch
muss die Fähigkeiten, die er besitzt, ausbauen. Ich habe
das hier einmal mit „Wir müssen die Stärken stärken“
umschrieben. Genau das ist es doch, wofür wir bei dem
Einzelnen zunächst einmal sorgen müssen. Meines Er-
achtens müssen wir in der Tat sehr flexibel sein. Wir
werden für Hamburg andere Programme als für das
Ruhrgebiet oder Bayern brauchen, wo ganz andere Pro-
bleme vorherrschen. Darüber werden wir zukünftig re-
den müssen. Vieles haben wir ja probiert.

Frau Pothmer, gestatten Sie mir, da Sie behaupten,
wir hätten in der letzten Regierung nichts getan, eine Be-
merkung – ich habe gerade noch einmal nachgefragt –:
Das ganze Programm einschließlich der Systematik, in
die Langzeitarbeitslosigkeit zu kommen, ist ein Pro-
gramm von Rot-Grün. Ich will das nur richtigstellen.
Das Ganze ist letztendlich auf Hartz IV zurückzuführen,
weil wir genau an dieser Stelle nicht die richtigen Instru-
mente eingeführt haben. Wir sollten also die gegenseiti-
gen Schuldzuweisungen lassen. Wir sollten vielleicht
auch diese Anträge lassen, die uns vorgaukeln, wir könn-





Jutta Eckenbach


(A) (C)



(D)(B)

ten das Ganze über einen Arbeitsplatz und mit viel Geld
steuern.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das werden wir zum Glück noch selber entscheiden, Frau Kollegin! Sie spornen uns an!)


Nein, wir brauchen Regionalität. Wir brauchen die
Anerkennung dessen, was der einzelne Langzeitarbeits-
lose an unterschiedlichen Fähigkeiten braucht. Gerade
vor dem Hintergrund, dass wir schon viele Langzeitar-
beitslose in Arbeit gebracht haben und es heute mit einer
Gruppe zu tun haben, die wirklich enorme Hilfe benö-
tigt, wird uns das sehr schwerfallen.

Wir haben in Essen – um das zum Schluss als Beispiel
zu nennen – ganz früh eine Joborientierung – aber immer
stufenorientiert, also ausstiegsorientiert – genau für
diese Menschen angeboten. Wir wollen sie befähigen, in
den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Ich glaube, dass
dies Maßnahmen sind, die wir in der Tat benötigen. Ich
kann für die CDU/CSU-Fraktion hier und heute sagen:
Wir werden uns genau daran orientieren.

Ich freue mich schon heute auf eine sehr interessante
Debatte, die sich mit den Fragen beschäftigen wird: Wie
beseitigen wir Langzeitarbeitslosigkeit? Wie bringen wir
Menschen in Arbeit, die heute noch in der Langzeitar-
beitslosigkeit sind? Was muss ich genau für diese Men-
schen tun? Wenn wir das alle gemeinsam machen, sind
wir, glaube ich, auf einem richtigen Weg. Wir werden
dabei Haushaltsdisziplin wahren müssen, und wir müs-
sen dabei darauf achten, wie wir die Arbeitgeber mitneh-
men können. Aber diese Ziele sollten uns Sozialpolitike-
rinnen und Sozialpolitiker hier alle bewegen. Insofern
freue ich mich auf die nächsten Debatten. Sie werden an-
strengend genug sein.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810106300

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Markus Paschke.


(Beifall bei der SPD)



Markus Paschke (SPD):
Rede ID: ID1810106400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kol-
legin Eckenbach, ich muss das, was Sie eben gesagt ha-
ben, doch ein bisschen korrigieren. Die Ministerin hat
dieses Programm höchstpersönlich im Ausschuss vorge-
stellt. Wir haben intensiv darüber diskutiert. Es würde
mich freuen – und ich lade Sie dazu ein –, wenn wir auf
diesem Weg weitergehen würden und den Schwerpunkt,
den wir gesetzt haben, nämlich für die Langzeitarbeitslo-
sen etwas zu machen, noch stärker ausbauen und weitere
Mittel dafür zur Verfügung stellen könnten.


(Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den nicht besetzten Stellen, von denen sie gesprochen hat?)

Seit zwei Jahren erhalten wir fast monatlich Erfolgs-
meldungen wie: „Bester Arbeitsmarkt seit der Wieder-
vereinigung“, „Arbeitslosigkeit geht weiter zurück“ oder
auch „Viel Arbeit, die Arbeitslosenquote ist so niedrig
wie seit langem nicht mehr“.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das Arbeitsvolumen ist gleich geblieben!)


Ja, es liegt noch viel Arbeit vor uns. Denn wir hören
zwar, dass die Arbeitslosenzahlen gesunken sind. Das
verleitet einige auch dazu, zu denken, alles sei im grünen
Bereich; es verleitet dazu, zu denken, am Arbeitsmarkt
sei alles in Ordnung. Aber es ist nicht alles in Ordnung;
denn die Joberfolge kaschieren Probleme. So schreibt es
die Börsen-Zeitung, und sie steht wahrlich nicht im Ver-
dacht, eine sozialdemokratische Hauspostille zu sein.

Fakt ist: Viele Langzeitarbeitslose profitieren nicht
von diesen Erfolgszahlen. Sie haben keinen Anteil an
den guten Entwicklungen. Jeder von uns wünscht sich,
dass jeder Mensch – ob Mann oder Frau, ob jung oder äl-
ter – seinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden
kann. Die Realität ist aber leider eine andere: Nicht we-
nige Menschen in Deutschland bekommen leider keine
Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Es gibt definitiv einen Bedarf an individuellen Lösun-
gen, die es jedem Menschen ermöglichen, Anteil am ge-
sellschaftlichen Leben zu nehmen. Ein wichtiger Be-
standteil dieses gesellschaftlichen Lebens ist bei uns die
Erwerbsarbeit, das Gefühl, gebraucht zu werden und sei-
nen Beitrag für die Gesellschaft leisten zu können.

Wir brauchen Lösungen, die die Stärken, aber auch
die Schwächen des Einzelnen berücksichtigen. Wir brau-
chen also Angebote für diejenigen, die heute die Chance
auf einen Platz im ersten Arbeitsmarkt nicht haben.
Diese Angebote müssen die derzeitige physische und
psychische Situation sowie die Fähigkeiten des Einzel-
nen berücksichtigen. Die betroffenen Menschen brau-
chen wieder die Chance, Mut zu fassen und ihre Fähig-
keiten weiterzuentwickeln. Und sie brauchen vor allen
Dingen das Gefühl, wieder gebraucht zu werden. Das al-
les sollte immer mit dem Ziel vor Augen geschehen, ir-
gendwann wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen.

Das kann zwei, drei oder fünf Jahre oder auch länger
dauern. Wir brauchen ganzheitliche Konzepte, die die
Menschen in den Mittelpunkt stellen. Wir brauchen
Konzepte, die dort, wo Hilfe benötigt wird, diese Hilfe
auch sicherstellen. Dafür brauchen wir Geld. Denn auch
das gehört zur Ehrlichkeit dazu: Solche ganzheitlichen
Konzepte sind nicht kostenlos zu haben. Schon das Wort
„Langzeitarbeitslosigkeit“ signalisiert ja deutlich, dass
häufig keine kurzfristigen Maßnahmen sinnvoll sind.

Wir dürfen also nicht in Haushaltsjahren rechnen,
sondern wir müssen die positiven Wirkungen mittel- bis
langfristig betrachten. Deutschland ist schließlich kein
DAX-Konzern, der seine Aktionäre befriedigen muss,
sondern eine soziale und demokratische Gesellschaft. In
diese Gesellschaft und ihren Zusammenhalt den einen
oder anderen Euro mehr zu investieren, sollten wir ruhig
bereit sein.





Markus Paschke


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD)


Die meisten Menschen, die ich kenne, wollen arbei-
ten. Warum geben wir ihnen nicht die Chance? Warum
finanzieren wir Arbeitslosigkeit statt Arbeit?


(Zuruf von der LINKEN: Eine gute Frage!)


Wie es gehen kann, zeigen Modellprojekte aus Nord-
rhein-Westfalen oder Baden-Württemberg.


(Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Wo in Nordrhein-Westfalen?)


Nehmen wir das Beispiel Baden-Württemberg. Dort
wird als einer von fünf Bausteinen des Landespro-
gramms „Gute und sichere Arbeit“ der Passiv-Aktiv-
Tausch, also ein sozialer Arbeitsmarkt, erprobt. Statt den
sogenannten Regelbedarf und die Kosten für die Unter-
kunft zu finanzieren, können die verwendeten Gelder als
Zuschuss für eine Beschäftigung eingesetzt werden. Ba-
den-Württemberg erprobt das in einem Programm mit
562 Plätzen, die auch genutzt werden. Eine Evaluation
ist für 2015, 2016 vorgesehen. Ich bin davon überzeugt,
dass es uns Erkenntnisse liefern wird, die unsere Arbeit
für nachhaltige Beschäftigungserfolge für Langzeitar-
beitslose voranbringen wird.


(Beifall bei der SPD)


In der Bundesregierung ist die Bekämpfung der Lang-
zeitarbeitslosigkeit als ein wichtiger Schwerpunkt er-
kannt. Das Programm, das Bundesministerin Andrea
Nahles vor einigen Monaten vorgestellt hat, weist in die
richtige Richtung. Die wesentlichen Bestandteile sind
heute mehrfach erwähnt worden. Angesichts der Zeit
werde ich sie nicht wiederholen. Aus meiner Sicht sind
es gute und wichtige Schritte. Ich danke der Bundes-
ministerin ausdrücklich dafür, dass sie sich dieses The-
mas angenommen und es sich auf die Fahnen geschrie-
ben hat.


(Beifall bei der SPD)


Wir sind also schon einen Schritt weiter, als Ihr An-
trag suggeriert. Natürlich wäre mehr wünschenswert.
Wir werden auch dafür kämpfen, mehr Geld für die He-
rausforderungen auf dem Arbeitsmarkt für Langzeitar-
beitslose zur Verfügung zu haben. Das Programm der
Bundesregierung mit seinen konkreten Vorschlägen ist
im Gegensatz zu Ihrer Wünsch-dir-was-Liste gut ange-
legtes Geld. Es ist wichtig, dass wir mit den Steuergel-
dern und den Haushaltsmitteln ordentlich umgehen.

Es ist mir zu einfach, zu leicht und zu billig, immer
mehr zu fordern. Ich finde, die SPD macht eine gute
Politik. Sie sagt nämlich: Im Mittelpunkt unserer Politik
muss der einzelne Mensch stehen. Die, die es am
schwersten haben, sind auf unsere Unterstützung und
Solidarität angewiesen. Deshalb halten wir die Bekämp-
fung der Langzeitarbeitslosigkeit für wichtig. Das Mög-
liche machen und weiter für das Wünschenswerte kämp-
fen, das ist gute sozialdemokratische Politik, meine
Damen und Herren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810106500

Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1810106600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Mehr als 1 Million
Menschen in unserem Land sind langzeitarbeitslos –
mehr als 1 Million ganz unterschiedliche Schicksale. Oft
sind sie langzeitarbeitslos, weil sie neben den Stärken,
die selbstverständlich jeder Mensch hat, nicht nur ein
Problem mitbringen, sondern gleich mehrere. Sie haben
keinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung, sie
sind krank oder müssen sich um jemanden kümmern, sie
sind alleinerziehend oder nicht mehr ganz jung, sie ha-
ben Schulden, es gibt einfach nicht die passende Stelle,
sie sind alkoholkrank oder nehmen Drogen, sie sprechen
unsere Sprache nicht, sind nicht belastbar oder motiviert;
manche haben Vorstrafen, und andere können oder wol-
len nicht umziehen. Wer erst einmal längere Zeit arbeits-
los ist, bei dem wird die Langzeitarbeitslosigkeit an sich
zum sogenannten Vermittlungshemmnis.

Jeder Fall ist anders zu bewerten. Eines jedenfalls ist
sicher nicht richtig, nämlich dass all diese Menschen für
den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr zu gebrauchen sind
und von Haus aus für eine öffentlich geförderte Beschäf-
tigung infrage kommen. Mit Ihrem Antrag fordern Sie
groß angelegte Beschäftigungsprogramme. Sie stellen
damit viele, viele Menschen auf das Abstellgleis. Das
Gleis führt nämlich nicht weiter auf den ersten Arbeits-
markt; da ist dann einfach Endstation.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Aber bei Ihnen ist bei den Jobcentern schon Schluss! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Andersrum wird ein Schuh draus!)


Sie wissen gut, dass wir als Koalition die Bekämp-
fung der Langzeitarbeitslosigkeit zu einem unserer
obersten Ziele erklärt haben. Ihre Behauptung im An-
trag, nicht die Arbeitslosigkeit sei bekämpft worden,
sondern die Betroffenen seien bekämpft worden, ist des-
halb reichlich verfehlt, liebe Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie denn mit denen mal geredet? Das sagen die Ihnen bei jedem Bürgergespräch!)


Das Arbeitsministerium hat die verschiedenen Pro-
gramme für Langzeitarbeitslose hier bereits vorgestellt,
und wir haben auch schon öfter darüber diskutiert. Un-
sere Programme eint, dass sie auf eine intensive Bera-
tung und Betreuung der einzelnen Betroffenen setzen,
dass sie eben die individuelle Lebenssituation der eigen-
verantwortlich handelnden Menschen in den Mittelpunkt
stellen und sie unterstützen, dass sie auf Stärken der
Menschen aufbauen und sie dabei unterstützen, eine





Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)

Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden und zu be-
halten.

Öffentlich geförderte Beschäftigung kann in so guten
Zeiten, wie sie unser Arbeitsmarkt momentan erlebt, im-
mer nur für einen sehr kleinen Personenkreis sinnvoll
sein. Dieser muss sehr genau definiert sein. Auch müs-
sen die Tätigkeiten sehr genau definiert sein, damit keine
regulären Jobs verdrängt werden. In Ihrem Antrag ist lei-
der keiner dieser Punkte berücksichtigt.

Um Ihnen das Problem deutlich zu machen, möchte
ich mit Ihnen einen kurzen Ausflug in die Geschichte
unternehmen. Schon im 19. Jahrhundert hatten Städte
und Gemeinden versucht, Teile der erwerbslosen Bevöl-
kerung mit sogenannten Notstandsarbeiten in Arbeit zu
bringen. Wie der Name aber schon sagt, wurde diese
Form der Beschäftigung nur in ganz besonders schlech-
ten Arbeitsmarktsituationen eingeführt, zum Beispiel bei
Missernten oder Konjunktureinbrüchen. Auch in der
Weimarer Republik gab es solche Programme, weil
breite Bevölkerungsschichten damals Gefahr liefen, aus
der Gesellschaft ausgegliedert zu werden. Das betraf
beispielsweise die vielen Kriegsveteranen und junge
Menschen, die infolge der Wirtschaftskrise von 1923
ohne jede Chance auf Arbeit waren.

Eine ganz besondere Bedeutung erlangte die öffent-
lich geförderte Beschäftigung mit der Wiedervereini-
gung. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden in
den 90er-Jahren bekanntlich in außerordentlichem Maße
eingesetzt. Sie sollten damals als Brücke fungieren. Das
entstandene Arbeitsplatzdefizit in den neuen Bundeslän-
dern sollte damit verringert werden. Die Teilnehmer
sollten neue Qualifikationen erlangen.

Was aber hatten all diese Situationen in der Ge-
schichte gemeinsam? Es waren extrem schwere Zeiten
auf dem Arbeitsmarkt. Die öffentlich geförderte Be-
schäftigung war dafür da, die extremsten Folgen für die
Menschen abzufedern. Sie war noch nie der Königsweg
der Arbeitsförderung; sie war immer nur die Ultima Ra-
tio.

Das hat seine Gründe. Vor allem nach der letzten gro-
ßen Welle öffentlich geförderter Beschäftigung wurde
geschaut, was diese Maßnahmen denn eigentlich brin-
gen, außer dass sie natürlich die Statistik verbessern. Je
mehr man forschte, umso deutlicher wurde, dass die
positiven Erfahrungen recht begrenzt waren und die ne-
gativen Effekte überwogen. Da gab es Lock-in-Effekte:
Menschen, die in öffentlich geförderter Beschäftigung
standen, nahmen seltener eine reguläre Arbeit auf, vor
allem deswegen, weil sie weniger Zeit für Arbeitssuche
und Bewerbungen hatten. Es gab auch Creaming-Effekte
– sie wurden heute schon erwähnt –: Es kamen Men-
schen in öffentlich geförderte Beschäftigung, die auch so
eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt gehabt hätten.

Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-
ken, krankt Ihr Antrag. Aber Sie geben wenigstens zu,
dass Ihr Vorschlag richtig teuer ist, mal eben ein paar
Milliarden kosten würde. Weil Sie wissen, dass die Fi-
nanzierungsfrage zwangsläufig kommt, haben Sie vorge-
sorgt und schon einmal grob aufgezeigt, wie das Ihrer
Meinung nach funktionieren könnte, zum Beispiel da-
durch, die Arbeitgeber mit einer Sonderabgabe in Höhe
von 5 Milliarden Euro zu belasten. Wenn das so einfach
wäre! Der wichtigste Schlüssel zum Abbau von Arbeits-
losigkeit ist die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft,
die damit neue Arbeitsplätze schafft. Sie schreiben in Ih-
rem Antrag selbst, dass die Arbeitslosigkeit durch feh-
lende Arbeitsplätze entsteht. Nun wollen Sie aber die
Unternehmen belasten und die Arbeit teurer machen?
Das kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Lin-
ken, nicht gut gehen. Arbeitslosigkeit können wir nur ge-
meinsam mit den Arbeitgebern abbauen,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das funktioniert ja nicht, so wie Sie das machen!)


und sicher nicht, indem wir sie mit 5 Milliarden Euro zur
Kasse bitten.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810106700

Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4449 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c sowie
Zusatzpunkt 6 auf:

23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Zusammenarbeit im Be-
reich des Verfassungsschutzes

Drucksache 18/4654
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-
desregierung

Bericht der Bundesregierung über den
Umsetzungsstand der Empfehlungen des
2. Untersuchungsausschusses des Deut-
schen Bundestages in der 17. Wahlperiode

(NSU-Untersuchungsausschuss)


Drucksache 18/710
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Petra Pau, Jan Korte, Dr. André Hahn, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Wirksame Alternativen zum nachrichten-
dienstlich arbeitenden Verfassungsschutz
schaffen

Drucksache 18/4682
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian
Ströbele, Irene Mihalic, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Zäsur und einen Neustart in der
deutschen Sicherheitsarchitektur

Drucksache 18/4690
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundes-
minister Thomas de Maizière für die Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Im November letzten Jahres
haben wir des dritten Jahrestages – man scheut sich, das
Wort „Jahrestag“ zu verwenden – der Aufdeckung der
terroristischen Mordserie des sogenannten Nationalso-
zialistischen Untergrunds gedacht. Wir haben festgestellt
und sind uns einig: Das waren nicht nur einzelne Pan-
nen, das waren nicht nur einzelne Ermittlungsfehler, die
dafür gesorgt haben, dass diese Mordserie so lange un-
entdeckt bleiben konnte. Nein, es waren auch Struktu-
ren, es waren Haltungen von Sicherheitsbehörden, von
Verantwortlichen, die dazu führten, dass die Ermittlun-
gen so lange – zu lange – auf das Umfeld der Opfer be-
grenzt blieben, mit all den Folgen, die wir diskutiert ha-
ben und an denen wir noch arbeiten. Es ist deshalb
unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass so etwas in unserem
Land nicht mehr passiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der Verfassungsschutz von Bund und Ländern stand
damals stark in der Kritik. Das ging bis hin zu der Forde-
rung, man solle Verfassungsschutzbehörden abschaffen.
Ich halte das für falsch. Das würde die Sicherheit unserer
Bürgerinnen und Bürger und unseres Landes schädigen.
Die aktuelle Bedrohungslage unterstreicht die Bedeu-
tung des Verfassungsschutzes für unseren Rechtsstaat,
bei islamistischem Terrorismus ebenso wie bei massiven
Gewaltanwendungen, bei Demonstrationen und den Er-
kenntnissen im Vorfeld dazu oder bei rechtsextremisti-
scher Hetze zum Thema Flüchtlinge.

Der Verfassungsschutz ist und bleibt ein wichtiger
Teil unserer Sicherheitsarchitektur. Gerade deshalb aber
muss er sich fortentwickeln, weiterentwickeln, sich zu-
kunftsorientiert aufstellen. Die Aufklärungsarbeit zum
terroristischen NSU, an der der Untersuchungsausschuss
dieses Hauses in der letzten Legislaturperiode maßgeb-
lich beteiligt war, und auch die Debatten in dieser Legis-
laturperiode haben das eindrücklich aufgezeigt. Der Ver-
fassungsschutz hat diese Herausforderung seit 2012
angenommen, sowohl im Verbund der Verfassungs-
schutzbehörden von Bund und Ländern als auch beim
Bundesamt, das seine Binnenreform in 230 Einzelpro-
jekten konzentriert betrieben hat, weiter betreibt und
weiter betreiben muss.

Mit dem heute in erster Lesung zu behandelnden Ge-
setzentwurf der Bundesregierung setzen wir diesen Re-
formprozess nun auch legislativ um.

Das ist richtig. Das haben wir uns in der Koalition
vorgenommen, und das ist sorgfältig mit den Ländern
abgestimmt. Auch damit folgen wir den Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses.

Die zentralen Ziele dieses Gesetzentwurfs sind: Stär-
kung der Zentralstelle und des Verbundes, Verbesserung
des Informationsflusses und Ausbau der Analysefähig-
keit, Klarheit beim Einsatz von V-Leuten. Lassen Sie
mich dazu im Einzelnen vortragen.

Erstens: zur Stärkung der Zentralstelle. Für eine bes-
sere Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund wird
das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner Zentral-
stellenfunktion gestärkt. Es koordiniert das arbeitsteilige
Zusammenwirken aller Verfassungsschutzbehörden. Ich
sage dazu aber auch: Wichtiger als Paragrafen im Bun-
desgesetzblatt ist hier die echte Bereitschaft zu verstärk-
ter Zusammenarbeit. Dieser Geist der Zusammenarbeit
wird mit diesem Gesetz gefördert. Im Grunde muss er
aber von jedem einzelnen Mitarbeiter gelebt werden.
Hier ist, ehrlich gesagt, noch ziemlich viel zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das wird deutlich, wenn man die Bereitschaft zur Zu-
sammenarbeit im Polizeibereich mit der im Verfassungs-
schutzbereich vergleicht. Mit dem Gesetzentwurf wird
es jedenfalls ein gesetzlicher Auftrag des BfV, also des
Bundesamtes, dieses Potenzial zu entwickeln.

Zum anderen kann in Zukunft das Bundesamt, wo es
nötig ist, bei lediglich regionalen, aber gewaltorientier-
ten Bestrebungen im Benehmen mit dem Land selbst in
die Beobachtung eintreten. Das haben manche Länder
kritisiert, manchmal scharf. Dazu möchte ich hier sagen:
Manches an dieser Kritik wundert mich, weil exakt dies
Gegenstand eines Kompromisses mit zum Teil den In-
nenministern war, die das anschließend kritisiert haben.
Gut, das mag in der Politik mitunter so sein. Ich will
jetzt keine Namen nennen, aber doch sagen, dass mich
das jedenfalls gewundert hat.

Diese Regelung verdrängt die Länderzuständigkeit
nicht. Sie hat vielmehr eine Auffangfunktion, die – das
zeigen die Erfahrungen, die wir gemacht haben – aus
fachlicher Sicht in der Sache geboten ist. In der Praxis
wird schon aus Ressourcengründen nicht leichtfertig da-
von Gebrauch gemacht werden. Hinzu kommt: Das Bun-
desamt wird nur tätig, wenn es nach dem Benehmen mit





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)

dem Land gar nicht anders geht, zum Beispiel, wenn ein
Land sich weigert, eine regional gewalttätige verfas-
sungsfeindliche Organisation zu beobachten. Wollen wir
wirklich, dass das Verfassungsschutzsystem in einem
solchen Fall blind ist? Wir haben doch gelernt: Beim ge-
waltorientierten Extremismus darf es in Deutschland
keine blinden Flecken geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Zweiter Punkt: Verbesserung des Informationsflusses.
Der NSU-Untersuchungsausschuss hat gerade hier klare
Mängel aufgezeigt. Die einen wussten nicht, was die an-
deren wussten, und haben nicht weitergegeben, was sie
wussten, und vieles hätte vielleicht verhindert werden
können. Bund und Länder haben zügig gehandelt, bereits
im Dezember 2011, mit der Einrichtung des Gemeinsa-
men Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus. Mit
diesem Gesetzentwurf vertiefen und verbreitern wir jetzt
diesen zusammenführenden Ansatz im Verfassungs-
schutzverbund. Der NSU-Untersuchungsausschuss hat
zum Verfassungsschutz an erster Stelle klipp und klar
empfohlen – ich zitiere –: Informationen zentral zusam-
menführen und gründlich auswerten. – Das ist eigentlich
selbstverständlich. Das ist jetzt wesentliches Kernele-
ment des Gesetzentwurfs und trotzdem umstritten.

Künftig müssen alle relevanten Informationen zwi-
schen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauscht wer-
den. Ich wiederhole: Das ist eigentlich selbstverständ-
lich. Nun wird das gesetzlich bekräftigt. Dazu gibt es das
Verbundsystem NADIS, Nachrichtendienstliches Infor-
mationssystem. Es muss jetzt auch dafür genutzt werden.
NADIS ist zugleich das Analysetool, um Beziehungen
zwischen Personen und Ereignissen zu erkennen und ge-
zielt Strukturen aufzuklären. Bislang war NADIS jedoch
teils auf einen bloßen Aktennachweis beschränkt. Diese
Beschränkung soll entfallen. So vermeiden wir gefährli-
che Informationsinseln und gewinnen einen verbesserten
bundesweiten Überblick über extremistische Strukturen.
Es wäre aus meiner Sicht unverantwortlich, weiter nur in
regionaler Abschottung zu operieren. All das, worüber
wir hier reden, nämlich die Nutzung von nachrichten-
dienstlichen Informationen innerhalb eines Landes, in-
nerhalb der Verfassungsschutzbehörden eines Landes, ist
dort längst selbstverständlich und vollständig unproble-
matisch. Die Analyse länderübergreifender Zusammen-
hänge erfordert aber eine zentrale Auswertung auf Basis
der zusammengeführten Daten. Darum geht es bei
NADIS, um nicht mehr und nicht weniger. Das hat der
NSU-Untersuchungsausschuss gefordert, und das setzen
wir jetzt um.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Uli Grötsch [SPD])


Diese Erweiterung ist auch datenschutzrechtlich ein-
gebettet; denn wir haben einerseits die Zugriffs- und
Abfragerechte derer, die darauf zugreifen können, be-
schränkt und andererseits eine Vollprotokollierung im
Gesetz festgeschrieben. Es besteht also eine vollständige
Kontrolle auch im Nachhinein, wer welche Information
mit welcher Berechtigung nachgefragt hat.
Dritter Punkt – das wird sicher gleich diskutiert wer-
den; es ist auch ein schwieriger Punkt –: Einsatz von
V-Leuten. Wir schaffen hier bei einem wichtigen Punkt
Klarheit. V-Leute – das will ich noch einmal unterstrei-
chen – sind keine verdeckten Ermittler, keine Beamten.
V-Leute sind mitunter Menschen, mit denen man eigent-
lich nicht so gerne zusammenarbeiten möchte. Sie leben
in einer Szene, in der es szenetypisches Verhalten gibt,
das wir politisch und häufig auch rechtlich missbilligen.
Man braucht sie aber, um an Informationen zu gelangen.
Für jeden Nachrichtendienst sind sie ein unverzichtbares
Aufklärungsmittel. Bisher gab es zum Einsatz von
V-Leuten nähere Regelungen nur in Verwaltungsvor-
schriften. Das ändern wir jetzt, indem wir eine klare
rechtsstaatliche Grundlage für den Einsatz von V-Leuten
schaffen. Auch das hat der NSU-Untersuchungsaus-
schuss gefordert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Auswahl und Führung von V-Leuten erhalten jetzt
erstmalig einen klaren gesetzlichen Rahmen und klare
Grenzen. Bei der Auswahl gibt es Ausschlusskriterien,
zum Beispiel Minderjährigkeit oder Vorstrafen. Es gilt
der Grundsatz: Verurteilung wegen eines Verbrechens
oder zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung schließen
die Anwerbung eines V-Manns oder einer V-Frau aus.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Grundsatz!)


Das ist der Grundsatz. Ausnahmen sind möglich, hier je-
doch nur durch die Behördenleitung.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tja! Durch wen sonst?)


Das ist, Herr von Notz, sicher diskussionswürdig,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


und auch mir ist es nicht leichtgefallen, das so zu regeln.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätten Sie ja anders machen können!)


Aber wenn wir durch eine solche V-Person Einblicke in
die Szene bekommen und dadurch die Möglichkeit er-
halten, Schlimmes zu verhindern, dann kann es unsere
Verantwortung für die Sicherheit unserer Bürgerinnen
und Bürger unter wenigen einzelnen Umständen gebie-
ten, auch eine solche Quelle zu nutzen.

In der Strafprozessordnung gilt übrigens Ähnliches.
Selbst Schwerverbrecher sind geeignete Kronzeugen,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht es nicht besser!)


wenn sie zuverlässige Informationen bieten, die zur Auf-
klärung oder Verhinderung weiterer schwerer Straftaten
führen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist etwas ganz anderes!)


Ein gegenläufiger Rigorismus bei der nachrichtendienst-
lichen Informationsbeschaffung ist für mich sachlich
nicht überzeugend und wäre im Vergleich dazu auch





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)

wertungswidersprüchlich. Dazu werden Sie sicher gleich
vortragen.

Damit hier kein Missverständnis entsteht, möchte ich
ausdrücklich betonen: Ich habe von der Vorstrafenrele-
vanz für eine Anwerbung gesprochen. Im Einsatz selbst
erhält die V-Person natürlich keine Befugnis, andere zu
schädigen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Ausnahmen!)


Wir legen im Gesetzentwurf konkret fest, was jemand
als V-Mann darf und was er nicht darf; auch das gab es
bisher nicht. Klar ist: Um strafbare und terroristische
Vereinigungen von innen aufzuklären, muss die V-Per-
son Mitglied einer solchen Organisation sein können
oder sich im Unterstützungsumfeld betätigen dürfen.
Daher enthält der Gesetzentwurf dazu eine entspre-
chende Befugnis. Wenn sich eine solche V-Person in der
Szene bewegt, so muss sie sich szenetypisch verhalten
können. Hierbei schaffen wir aber klare rechtliche Gren-
zen. Voraussetzung ist, dass das Verhalten zur Akzeptanz
in der Szene unerlässlich und nicht unverhältnismäßig
ist. In der rechtsextremistischen Szene kann das bei-
spielsweise die Verwendung verbotener Nazisymbole
sein, ein Hitlergruß oder Ähnliches. Das ist szenety-
pisch; das kann man noch akzeptieren. Klare Grenze ist
jedoch: keine Eingriffe in Individualrechte. Sachbeschä-
digungen bleiben verboten, egal ob sie szenetypisch sind
oder nicht; hier gibt es keine Ausnahmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wenn die V-Person also nicht nur an einer militanten De-
monstration teilnimmt, sondern selbst Sachbeschädi-
gung begeht, ist und bleibt das strafbar. Es bliebe dann
nur, den situativen Bezug und den Einsatzzusammen-
hang bei der Frage einer Verfahrenseinstellung zu würdi-
gen – das kennen wir im Strafprozessrecht auch –, und
auch dafür setzt der Gesetzentwurf klare Grenzen.

Alles in allem enthalten die Regelungen zu V-Leuten
schwierige rechtsstaatliche Abwägungsentscheidungen.
Sie sind im Gesetzentwurf meines Erachtens ausgewo-
gen gelungen. Wir können in den Ausschussberatungen
gerne weiter darüber diskutieren.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810106800

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Ströbele?

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:

Bitte schön, sonst redet er hinterher sowieso.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810106900

Herr Kollege Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Minister, geben Sie mir recht, dass der von Ihnen
vorgelegte Gesetzentwurf in § 9 a – hier soll das Bun-
desverfassungsschutzgesetz geändert werden –, der auch
in § 9 b Anwendung findet, folgende Regelung enthält:

Sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür
bestehen, dass Verdeckte Mitarbeiter rechtswidrig ei-
nen Straftatbestand von erheblicher Bedeutung ver-
wirklicht haben, soll der Einsatz unverzüglich be-
endet werden;

– jetzt kommt der entscheidende Satz –

über Ausnahmen entscheidet der Behördenleiter
oder sein Vertreter.

Das heißt, das, was Sie hier so darstellen, als sei es
Gesetz, hat auch wieder Ausnahmen. Wir wissen, wie
von diesem Ausnahmerecht Gebrauch gemacht wird.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Interne Abreden!)


Darauf kommen wir nachher noch zu sprechen. Geben
Sie mir recht, dass das hier drinsteht?

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:

Ja, natürlich, ich habe das auch genauso vorgetragen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Diese Ausnahme muss eng begrenzt sein.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo steht das?)


– Das können wir da gerne hineinschreiben. Das ist gar
kein Problem.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja bitte! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht jetzt im Protokoll!)


Tatsache ist, dass es eine Sollregelung und ein Grund-
satz ist. Ein Grundsatz – unter uns Juristen gesprochen,
Herr Kollege Ströbele – bedeutet immer, dass alles an-
dere eine Ausnahme ist. Das ist bei jeder Sollregelung
so. Deswegen kann man trotzdem „Ausnahmen“ hinein-
schreiben. Entscheidend ist nur, dass in diesen Fällen
nicht der V-Mann-Führer alleine entscheiden kann, die
Arbeit fortzusetzen, sondern das muss der Behördenlei-
ter oder sein Stellvertreter entscheiden.

Ich will in diesem Zusammenhang gerne noch etwas
anderes sagen. Es geht nicht nur um die V-Leute, wo wir
uns einig sind, dass wir vieles von dem, was sie tun,
missbilligen, sondern es geht auch um den Schutz der
Mitarbeiter – es sind überwiegend Beamte – in den Ver-
fassungsschutzbehörden. Denn wenn ein V-Mann eine
Straftat begeht und der V-Mann-Führer die Arbeit fort-
setzt, dann könnte es sein, dass gegen diesen Beamten
ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe eingeleitet
wird.


(Martina Renner [DIE LINKE]: Zu Recht!)


Wenn das der Fall ist, dann, glaube ich, kann man das
V-Mann-Geschäft insgesamt vergessen. Die Linke will





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)

dies natürlich: entweder den Verfassungsschutz ganz ab-
schaffen oder keine V-Leute.


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Das ist, wenn man so will, schlüssig, aber falsch.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Schlüssig und richtig!)


– Nein, schlüssig, aber falsch. Konsistent ist das, was Sie
vortragen; dem kann ich nicht widersprechen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist schon mal etwas!)


Wenn man aber daran festhält, nicht weil diese Men-
schen besonders sympathisch sind oder weil man sie be-
sonders schön findet, sondern weil wir ihre Informatio-
nen brauchen, um Schlimmeres von der Gesellschaft
abzuwenden, wenn man diesen Grundsatz bejaht, dann
muss man sich in den schwierigen Abwägungsprozess
begeben: Was darf der V-Mann, was darf er nicht, und
was bedeutet das für den V-Mann-Führer? Hierzu haben
wir einen Vorschlag vorgelegt. Darüber sollten wir in
den Ausschussberatungen weiter entscheiden.

Meine Damen und Herren, wir ziehen mit diesem Ge-
setzentwurf die Lehren aus den festgestellten Mängeln
bei der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden. Wir entwi-
ckeln den kritisierten Rahmen fort. Wir stellen die Män-
gel ab, soweit das mit einem Gesetz geht. Der Reform-
prozess im Übrigen bleibt bestehen. Im Reformprozess
des Verfassungsschutzes ist dieses Gesetz ein wichtiger
Baustein, beileibe nicht der einzige. Ich bitte um gründli-
che und konstruktive Beratungen – dazu sind wir bereit –
und dann um eine breite Unterstützung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810107000

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Petra Pau, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810107100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir reden über ein Gesetz, das Schlussfolgerungen für
den Verfassungsschutz aus dem NSU-Nazi-Mord-Desas-
ter verheißt. Ich greife daraus jetzt nur einen Aspekt auf:
das V-Mann-Unwesen. Ein Vorzug sei – das stellten Sie
gerade wieder dar, Herr Bundesinnenminister –, dass die
fragwürdige V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden
nunmehr besser geregelt werde. Ich zitiere, was Sie
kürzlich in einer Befragung der Bundesregierung gesagt
haben:

Wir haben … Klarheit bei den V-Leuten geschaf-
fen. … Szenetypisches Verhalten einschließlich
Straftaten ist zulässig. … Die Verletzung von Indi-
vidualgütern wie Körperverletzung … nicht …
Wenn es im Einzelfall einmal anders ist, muss da-
rüber der Behördenleiter … entscheiden.
Das klingt gut, ist es aber nicht; denn de facto bleibt alles
beim Alten.

Dazu eine exemplarische Geschichte aus dem NSU-
Nazi-Mord-Desaster. Carsten S. war ein strammer Nazi
aus Brandenburg. Gemeinsam mit rechtsextremen Kum-
panen versuchte er, einen Nigerianer zu erschlagen, zu
verbrennen, zu ertränken. Das Opfer entkam nur knapp
dem Tod. Carsten S. wurde zu einer mehrjährigen Haft-
strafe verurteilt. Von da an wurde er für den Verfassungs-
schutz interessant, als V-Mann „Piatto“. Sein V-Mann-
Führer vom Verfassungsschutz chauffierte „Piatto“ ver-
lässlich aus dem Gefängnis zu Nazikonzerten. So blieb
Carsten S. in der Szene und für sie aktiv. Später absol-
vierte Carsten S. ein Praktikum. Obendrein hatte er eine
Festanstellung in Aussicht.

Das beeindruckte offenbar auch eine Richterin. Er
wurde vorzeitig entlassen, mit der klaren Auflage, sich
künftig strikt von der Naziszene fernzuhalten. Der Rich-
terin wurden allerdings zwei wesentliche Fakten ver-
schwiegen: Das gelobte Praktikum hatte „Piatto“ in ei-
nem Naziszeneladen absolviert, und seine mögliche
Festanstellung sollte in einer neuen Filiale desselben
sein – alles von Verfassungsschutzes Gnaden, Täu-
schung der Justiz inklusive. Kurzum: Der Verfassungs-
schutz half, Verfassungsfeinde aufzubauen, anstatt die
Verfassung zu schützen. Klarer kann sich das Amt nicht
delegitimieren.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nun zum neuen Gesetz. Es besagt, dass Nazis, die
sich schwerer Verbrechen gegen Leib und Leben schul-
dig gemacht haben, in aller Regel nicht mehr als V-Leute
angeworben werden dürfen. Sind damit neue „Piattos“
ausgeschlossen? Nein; denn „in aller Regel“ bedeutet
eben: Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel wenn das Infor-
mationsinteresse der Ämter für Verfassungsschutz schwe-
rer wiege als die Straftaten von Nazis. In diesen Fällen
werde die V-Leute-Frage zur Chefsache – Sie haben das
eben ja auch noch einmal zitiert –, und diese Chefs
müssten dann klug abwägen.

Also zurück zu „Piatto“. Ich habe den damaligen
V-Mann-Führer von Carsten S. gefragt: Wie sehen Sie
das im Rückblick? Glauben Sie nicht auch, dass das ein
fataler Fehler war? Seine Antwort war unmissverständ-
lich: Nein. Wochen später wurde derselbe „Piatto“-Füh-
rer Präsident des Verfassungsschutzes im Freistaat Sach-
sen. Wenn sich Sachsen entschließen würde, Ihren
Gesetzentwurf als Landesgesetz zu übernehmen, wäre er
also heute der neue Chefentscheider. Sie sehen: Das Ge-
setz hält nicht, was es verspricht. Deshalb wird die Linke
Nein sagen.

Ich bleibe bei der V-Mann-Kontroverse. Der Thürin-
ger Landtag gehört zu den wenigen Parlamenten, die
sich intensiv mit dem NSU-Desaster auseinandergesetzt
haben. Die rot-rot-grüne Regierung zog Konsequenzen:


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die falschen!)






Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Die V-Leute-Praxis soll radikal heruntergefahren wer-
den.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Abgeschafft!)


Dafür wird sie heftig als Sicherheitsrisiko beschimpft.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Zu Recht!)


– Ich finde: zu Unrecht, Kollege Schipanski.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Eine Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger!)


Denn wer eine Praxis beendet, die Nazis verharmlost
und letztlich stärkt, handelt rechtsstaatlich und humanis-
tisch. Was sonst?

Gestatten Sie mir noch ein, zwei Sätze zu dem An-
trag, den die Linke als Alternative vorgelegt hat. Im
Kern geht es um zwei Vorschläge: Die Ämter für Verfas-
sungsschutz sollen als Geheimdienste aufgelöst und in
eine transparente Politikberatung umgewandelt werden.
Und: Die V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden ist
umgehend zu beenden. Unser Vorschlag ist weitgehend,
grundgesetzkonform und obendrein geeignet, gesell-
schaftliches Engagement für Demokratie und Toleranz
zu stärken. Ich freue mich auf Ihre Neugier beim Stu-
dium dieses Antrags und auf Ihre kluge Zustimmung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810107200

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt

Burkhard Lischka das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1810107300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

kein normaler Gesetzentwurf, den wir heute beraten, und
alltäglich ist der Gesetzentwurf erst recht nicht. Er ist
eine Reaktion auf einen Skandal, der niemals in Verges-
senheit geraten darf, einen Skandal, der übrigens nicht
nur darin bestand, dass eine rechtsextremistische Terror-
gruppe 13 Jahre lang unerkannt mindestens zehn Morde,
zwei Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle
verüben konnte, sondern auch darin, dass dieser Terror-
zug einherging mit einer Chronik des Versagens unserer
Sicherheitsbehörden – aller Sicherheitsbehörden, aber
eben auch des Verfassungsschutzes.

Von Dummheit bis Sabotage: Alle Formen von
Staatsversagen sind in den verschiedensten Abschluss-
berichten der NSU-Untersuchungsausschüsse festgehal-
ten. Wir wissen heute: Möglicherweise könnten Men-
schen noch leben, wenn unsere Sicherheitsbehörden
verantwortungsbewusst und untadelig gearbeitet hätten.
Mit dieser Schuld müssen viele, müssen wir alle leben.
Dieser Fall hat unserer Gesellschaft einen Spiegel ihrer
schlechtesten Seiten vorgehalten. Dieser Fall ist zugleich
Verpflichtung, alles dafür zu tun, dass es einen zweiten
NSU-Fall nie wieder gibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzent-
wurf ist ein kleiner, aber eben auch kein unwesentlicher
Baustein, die richtigen Lehren aus dem NSU-Desaster
zu ziehen. Die verschiedenen NSU-Untersuchungsaus-
schüsse sind vor allen Dingen auch mit einer regelrech-
ten Krankheit unserer Verfassungsschutzbehörden kon-
frontiert worden: dass man sich nicht austauscht, dass
man Informationen für sich behält, dass man sie nicht
weiterleitet. Wir wissen heute: Nur etwa 20 Prozent der
Informationen, die seit 1998 zu dem NSU-Mördertrio in
den Landesämtern für Verfassungsschutz vorlagen, wur-
den auch tatsächlich weitergeleitet. Das war fatal; denn
so konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen,
noch konnte das Bundesamt für Verfassungsschutz sei-
ner Koordinierungsfunktion nachkommen. Das NSU-
Mördertrio musste nur von einem Bundesland in das
nächste ziehen, und schon verlor sich die Spur. Dieses
Neben- und Gegeneinander der Verfassungsschützer, das
wir da erlebt haben, gefährdet unsere innere Sicherheit.
16 Schlapphutprovinzen, die alle vor sich hin werkeln,
können wir uns nicht leisten; damit muss Schluss sein,
meine Damen und Herren!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb ist für uns Sozialdemokraten von entschei-
dender Bedeutung, dass künftig die Zentralstellenfunk-
tion des Bundesamtes für Verfassungsschutz deutlich
gestärkt wird durch einen verpflichtenden Informations-
austausch und, ja – da, wo notwendig –, auch mit ei-
genen Durchgriffsrechten. Gerade föderale Strukturen
verlangen beim Antiterrorkampf klare Führung und Ver-
antwortung sowie einen schnellen Daten- und Informa-
tionsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg. Ich
weiß, dass sich einige Bundesländer mit der Stärkung der
Zentralstellenfunktion des Bundesamtes sehr schwer-
tun. Aber ich sage auch: Für Behördenegoismen darf es
nach dem NSU-Skandal keinen Platz mehr geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der NSU konnte auch nur deshalb jahrelang mordend
und raubend durch Deutschland ziehen, weil unsere Si-
cherheitsbehörden zu wenig miteinander geredet haben.
Solche blinden Flecken darf es nicht mehr geben und
Verfassungsschutzämter, die im eigenen Saft schmoren,
erst recht nicht, meine Damen und Herren.

Zweiter wichtiger Aspekt: Der NSU-Skandal ist auch
ein V-Mann-Skandal. Frau Pau hat es angesprochen: Da
wurde ein V-Mann angeworben, der wegen versuchten
Mordes an einem Asylbewerber im Gefängnis einsaß.
Da gab es Zahlungen an dubiose Informanten, die das
Jahresgehalt eines Polizisten bei weitem übersteigen.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Gibt es doch immer noch!)






Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)

All das ist eines Rechtsstaates unwürdig, und zwar ohne
Wenn und Aber, meine Damen und Herren.

Nun gibt es einige, die daraus folgern, man solle auf
V-Leute künftig am besten ganz verzichten. Bei allem
verständlichen Ärger, der da mitschwingt: Was diese
Sicht vollkommen außer Acht lässt, ist der Umstand,
dass gerade kriminelle und militante Gruppen ihre Akti-
vitäten und Planungen seit jeher nicht offen, sondern
konspirativ und abgeschottet betreiben. Wer da komplett
auf V-Leute verzichten will, nimmt zumindest billigend
in Kauf, dass sie ungestört Anschläge und schwerste
Verbrechen planen können, ohne dass der Staat auch nur
den Hauch einer Chance hat, sie dabei zu stören.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Nein, meine Damen und Herren, ein Staat, der eben
auch die Verantwortung für die Sicherheit seiner Bürge-
rinnen und Bürger trägt, darf sich nicht vollkommen
taub und blind machen, wenn es um feige Morde und
Anschläge geht. Das kann nun wirklich nicht die Lehre
aus dem NSU-Desaster sein.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Nur, wir dürfen dabei auch nicht den Boden der
Rechtsstaatlichkeit verlassen. Der Zweck heiligt in ei-
nem Rechtsstaat eben nicht jedes Mittel.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben drum!)


Eine Zusammenarbeit mit vorbestraften Schwerstkrimi-
nellen darf es niemals geben und auch kein Hintertür-
chen im Gesetz, das das zulässt. Darauf werden wir So-
zialdemokraten in den weiteren Beratungen achten,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Insofern sind das wichtige Beratungen, die vor uns
liegen, nämlich darüber, den Verfassungsschutz besser
aufzustellen und klare rechtsstaatliche Grenzen ohne
Hintertürchen zu markieren. Das sind zwei Seiten ein
und derselben Medaille, denen wir uns jetzt akribisch
widmen müssen. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern
des NSU-Terrors schuldig.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Innenminister guckt sehr erstaunt!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810107400

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Konstantin

von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir dis-
kutieren hier die Zukunft des Verfassungsschutzes, aber
eben auch den Innen- und Sicherheitsbereich dieses Lan-
des, einstmals das vermeintliche Aushängeschild kon-
servativer Politik. Und heute? Probleme, Baustellen und
Skandale überall.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Trotz der von der Bundeskanzlerin versprochenen
rückhaltlosen Aufklärung versuchen derzeit noch fünf
Untersuchungsausschüsse in den Ländern – und wahr-
scheinlich bald auch wieder einer in diesem Hause –, die
vollständige Aufklärung der NSU-Morde zu gewährleis-
ten, die bisher leider ausgeblieben ist.

Jede Woche gibt es neue Hiobsbotschaften bei den
Geheimdiensten, gestern beim BND. Es hat erst eines Be-
weisantrages des Untersuchungsausschusses NSA be-
durft, um zutage zu fördern, was BND und Bundeskanz-
leramt jahrelang bestritten haben. Und es gibt eine
weitreichende Verstrickung Deutschlands im völker-
rechtswidrigen Drohnenkrieg, der eben auch vom deut-
schen Territorialgebiet aus geführt wird. Das ist der Ist-
zustand nach zehn Jahren Verantwortung der CDU für
die Innenpolitik, und so geht es nicht weiter, meine Da-
men und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Katastrophe!)


Ihr Antragspotpourri hier heute ist die Fortsetzung
dieser Planlosigkeit. Sie stehen hier ohne einen einzigen
Vorschlag, Herr de Maizière, zur Verbesserung der parla-
mentarischen Kontrolle, ohne jegliche Ansätze für einen
besseren Daten- und Grundrechtsschutz und ohne eine
einzige Idee, wie man im digitalen Zeitalter nachrichten-
dienstliche Aufklärung und Bürgerrechte besser mit-
einander vereinbaren kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Stattdessen haben Sie angekündigt, hier demnächst
die abwegige Weltraumtheorie in Gesetzesform gießen
zu wollen. Nach NSU und NSA stocken Sie anlasslos
massenhaft Stellen auf und wollen allen Ernstes die
hochproblematische V-Leute-Praxis einfach legalisieren
und ausbauen. Darum geht es im Kern bei allen schönen
Worten, Herr de Maizière.

Das Liken, Twittern und Chatten aller Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land soll in Echtzeit überwacht
werden können, und das alles auch noch ohne eine kon-
krete gesetzliche Rechtfertigung. All das ist mit uns
nicht zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Doch damit nicht genug. Gleichzeitig kommen Sie al-
len Ernstes in diesen Tagen wieder mit der Vorratsdaten-
speicherung um die Ecke. Herr Innenminister, ich will
die Gelegenheit für folgende Kritik nutzen: Sie haben
gesagt, Ihr Kompromiss – in Anführungsstrichen – wäre
eine Chance, einen jahrelangen, teilweise erbittert ge-
führten Streit zu befrieden. Das wäre schön. Die Leitli-
nien, die Sie vorlegen, widersprechen den Vorgaben des
EuGH und des Bundesverfassungsgerichts aber offen-
sichtlich, und das befriedet leider niemanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)






Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

Noch vor der Sommerpause wollen Sie Ihren Gesetz-
entwurf ganz offenbar ohne Anhörung und mit dem Hin-
weis, dass es ja eh keine Änderungen mehr durch das
Parlament geben dürfe, durch dieses Hohe Haus peit-
schen. Auch das ist ein Affront gegen den Deutschen
Bundestag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie legen seit Jahren – und die SPD macht jetzt fröh-
lich mit – einen verfassungswidrigen Gesetzentwurf
nach dem anderen vor, und dann beschweren Sie sich,
Herr Schipanski, in der letzten Woche aus der Union
auch noch allen Ernstes über das Bundesverfassungsge-
richt, das seine verfassungsrechtliche Arbeit macht. Das
Bundesverfassungsgericht wird beschimpft. Wo sind wir
eigentlich?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Beschimpfen tun Sie die Regierung!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, die Me-
chanismen unserer Verfassung sind Konsequenzen aus
unserer Geschichte. Das Bundesverfassungsgericht an-
zugreifen, verfassungswidrige Gesetzentwürfe immer
wieder billigend in Kauf zu nehmen und hier vorzulegen
und das Parlament zu marginalisieren: Das geht einfach
nicht, und wir widersprechen dem ausdrücklich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Alternative zu Ihrem ideenlosen und grundrechts-
feindlichen Weiter-so ist unser Entschließungsantrag.

Als Konsequenz aus dem unsäglichen NSU-Skandal
fordern wir eine Zäsur beim Bundesamt für Verfassungs-
schutz. Das Amt muss aufgelöst und vollkommen neu
durchsortiert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die bisherige V-Leute-Praxis mit all ihren Skandalen
muss endlich ein Ende haben. Weder darf der Staat über-
zeugte Nationalsozialisten beschäftigen und finanzie-
ren, Herr de Maizière, noch darf man mit schweren
Straftätern vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das ist
völlig inakzeptabel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Burkhard Lischka [SPD]: Das werden wir auch nicht machen!)


Statt des Ausbaus der strategischen Internetraster-
fahndung brauchen wir effektive grundrechtsschonende
Instrumente, eine gesetzliche Begrenzung der Überwa-
chung der digitalen Kommunikation und ein völlig neues
parlamentarisches Kontrollsystem.

Die innere und öffentliche Sicherheit und die Men-
schen in Deutschland haben Besseres verdient als Ihren
Gesetzentwurf.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810107500

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Stephan Mayer,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1810107600

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute in
erster Lesung über die Novellierung des Bundesverfas-
sungsschutzgesetzes und damit über einen wesentlichen
Bestandteil, wenn es um die Umsetzung der insgesamt
47 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses
aus der letzten Legislaturperiode geht.

Bei einer Neujustierung der Sicherheitsarchitektur
geht es auch um eine Verbesserung der Arbeit der Nach-
richtendienste, aber nicht nur. Wir haben schon etwas
getan, zum Beispiel, als es darum ging, die Position des
Generalbundesanwaltes zu stärken. Ich sage hier aber
auch in aller Deutlichkeit: Nicht nur der Bund ist gefor-
dert, auch die Länder müssen ihre Hausaufgaben ma-
chen, wenn es darum geht, die Arbeit der Nachrichten-
dienste und der Polizeibehörden zu verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit diesem Gesetzentwurf beheben wir Mängel in der
Sicherheitsarchitektur Deutschlands. Eines sage ich hier
aber auch in aller Deutlichkeit – gerade am heutigen Tag
und gerade auch im Lichte der aktuellen Debatte über
die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes –: Wir brau-
chen funktionsfähige und gut ausgestattete Nachrichten-
dienste.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen vor allen Dingen Kontrolle!)


Es ist vielleicht nicht populär, sich für Nachrichten-
dienste auszusprechen, und es ist immer einfacher, ange-
nehmer und bequemer, Nachrichtendienste zu kritisie-
ren.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tatsächlich? Probieren Sie es einmal! Sie sind sich sonst für keinen Populismus zu schade, Herr Mayer! Probieren Sie es doch einmal! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist doch skandalös!)


Gerade angesichts der aktuellen Debatte möchte ich
aber Folgendes einmal deutlich machen: Der Bundes-
nachrichtendienst hat – selbst konservativ berechnet –
mit seiner Arbeit in Afghanistan dazu beigetragen,
19 konkret geplante Anschläge auf Bundeswehrsoldaten
zu verhindern.

Das ist nun einmal die Krux bei der Arbeit der Nach-
richtendienste: Sie fallen nicht auf, wenn sie gut arbei-
ten, weil sich dann Gott sei Dank kein Anschlag ereignet
– sei es in Afghanistan gegenüber unseren Angehörigen
der Bundeswehr, oder sei es auch im Inland, in Deutsch-





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

land –, aber sie fallen dann auf, wenn vermeintlich etwas
nicht so läuft, wie wir alle uns das wünschen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Vermeintlich“? – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist strafbar!)


Ich sage das hier ganz deutlich auch an die Adresse
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nachrichten-
dienste gerichtet und auch ganz bewusst in dem Wissen,
dass dies derzeit vielleicht nicht populär ist: Wir stehen
zu den Nachrichtendiensten. Wir brauchen gut qualifi-
zierte, motivierte und kompetente Mitarbeiter in den
Nachrichtendiensten.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es doch nicht!)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, da-
rin unterscheiden wir uns als CDU/CSU-Fraktion diame-
tral von den Linken und auch von den Grünen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Gott sei Dank!)


Frau Kollegin Pau, Sie fordern ganz offen die Abschaf-
fung des BfV,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das tun wir nicht!)


die Einführung einer Bundesstiftung, einer politischen
Beratung,


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir nicht!)


die nur noch als Kontaktstelle für die Nachrichtendienste
im Ausland dienen soll.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie nicht richtig gelesen, Herr Mayer!)


– Ich spreche von dem Antrag der Linken, Herr Kollege
von Notz.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so! Zu uns kommen Sie hoffentlich noch!)


– Zu Ihnen komme ich noch, Herr von Notz.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bitte darum!)


Sie haben wenig zu unserem Gesetzentwurf gesagt. Sie
haben sich wieder nur – Stichwort: l’art pour l’art – eher
an der Oberfläche bewegt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden ja auch nur über die Linken! Kommen Sie mal zur Sache!)


Das zeigt offenbar, dass der Gesetzentwurf so schlecht
nicht ist.

Ganz konkret zum Antrag der Linken. Die Linken
fordern die Abschaffung des Bundesamtes, die Einfüh-
rung einer politischen Beratung, die nicht einmal öffent-
lich zugängliche Quellen auswerten darf.

(Petra Pau [DIE LINKE]: Quatsch!)


Wenn man diesem Weg folgen würde, würden wir die
Sicherheit Deutschlands sehenden Auges gefährden. Das
wäre ein enormes Risiko für die Sicherheitslage in unse-
rem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein
Wort an die Adresse der Länder. Ich finde es schade,
dass kein Vertreter der Länder hier auf der Bundesrats-
bank Platz genommen hat.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wie immer!)


Es geht doch um einen Gesetzentwurf, der von den Län-
dern, egal welcher Couleur, sehr offen und sehr deutlich
kritisiert wurde.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist Bayern?)


Ich bin der festen Überzeugung: Die Bedenken und
Zweifel der Länder sind unbegründet. Ich möchte, auch
wenn kein Vertreter anwesend ist, an die Adresse der
Länder deutlich sagen: Dieser Gesetzentwurf wird nicht
gegen die Länder, sondern er wird für die Länder ge-
macht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit einer Stärkung der Zentralstellenfunktion des
Bundesamtes für Verfassungsschutz ist mitnichten eine
Schwächung der Landesämter verbunden. Die Landes-
ämter profitieren von einem starken Bundesamt. Sie pro-
fitieren davon, wenn das Bundesamt als Dienstleister ge-
stärkt wird. Ich hoffe, dass die weitere Debatte etwas
sachlicher und objektiver erfolgt;


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach Ihrer Rede könnte das gelingen!)


denn ich bin der festen Überzeugung, dass die Landes-
ämter und damit auch die Landesregierungen von den im
Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen und der stär-
keren Koordinierung der Arbeit durch das BfV enorm
profitieren können.

Es ist richtig, dass es dem BfV im Einzelfall ermög-
licht wird, zu handeln, wenn sich nur regional engagierte
und tätige Gruppierungen, die aber gewaltbereit sind,
breitmachen. Man muss auch ganz offen sagen: Die
Leistungsfähigkeit der Landesämter ist nun einmal sehr
unterschiedlich. Deswegen bin ich der festen Überzeu-
gung: Dieses Gesetz wird dem Verfassungsschutz insge-
samt guttun, sowohl auf Bundes- als auch auf Landes-
ebene.

Ein wichtiger Rückschluss aus den Erfahrungen der
schrecklichen Mordserie des NSU-Trios muss sein, dass
die Behörden offener miteinander kommunizieren. Wir
brauchen einen offeneren Austausch zwischen den Lan-
desämtern und mit dem Bundesamt. Ich sage hier ganz





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

offen: Dafür ist mit Sicherheit auch auf Ebene der Mitar-
beiter ein Mentalitätswechsel erforderlich.

Wir brauchen auch eine Neuregelung des Zugangs
zum Nachrichtendienstlichen Informationssystem,
NADIS. Ein Verfassungsschutz ohne ein vernünftiges
Informationssystem macht definitiv keinen Sinn. Ich
sage auch angesichts der Kritik bezüglich der Neurege-
lung des Zugangs zu NADIS ganz deutlich: Diese Neu-
regelung erfüllt höchste datenschutzrechtliche Anforde-
rungen, zum einen, wenn es darum geht, die Befugnis
derer, die auf die Daten zugreifen können, zu begrenzen,
und zum anderen, wenn es darum geht, eine umfangrei-
che Protokollierungspflicht aufzuerlegen.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein
wesentlicher Bestandteil dieses Gesetzentwurfes ist, wie
schon im Vorfeld diskutiert wurde, die Neuregelung für
den Einsatz von V-Leuten. Um dies klar zu sagen: Wir
brauchen V-Leute in den Verfassungsschutzämtern. Die
Arbeit ist ohne V-Leute nicht möglich. Das ist mit Si-
cherheit nicht angenehm. Das ist auch nicht immer appe-
titlich. Die V-Leute, mit denen man dabei zu tun hat,
sind auch keine angenehmen Zeitgenossen.

Aber es ist richtig, in der Frage, wer für die Arbeit als
V-Mann infrage kommt, höhere qualitative Anforderun-
gen gesetzlich festzulegen. Zur Erinnerung: Bisher war
die Frage, wer V-Mann werden konnte, nur auf der
Ebene der Verwaltungsvorschriften geregelt. Jetzt wird
eine gesetzliche Normierung vorgenommen. Dies ist
auch richtig so.

Es ist klar, dass Minderjährige nicht in Betracht kom-
men, dass Parlamentarier nicht in Betracht kommen und
dass diejenigen, die als V-Mann in Betracht kommen,
nicht allein von den ihnen zugewendeten Geld- und
Sachleistungen ihren Lebensunterhalt bestreiten dürfen.
Es kommen auch keine Personen in Betracht, die in Aus-
steigerprogrammen sind. Und um es noch einmal klar zu
sagen: Es dürfen auch definitiv keine Personen in Be-
tracht kommen, die sich schwerer Straftaten schuldig ge-
macht haben.

Frau Kollegin Pau, Sie haben den Fall „Piatto“ ange-
sprochen. Dazu habe auch ich eine ganz klare Einschät-
zung: Wenn das Gesetz so das Licht der Gesetzeswirk-
lichkeit erblicken würde, wie es heute im Entwurf
vorliegt, wäre der Fall „Piatto“ – dessen bin ich mir defi-
nitiv sicher – nicht mehr möglich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Das ist falsch!)


Im rechts- und linksextremistischen Bereich wollen
wir mit derartigen Straftätern nichts zu tun haben. Sie
werden auch in Zukunft nicht mehr als V-Leute in Be-
tracht kommen. Es gibt aber, offen gesagt, einen anderen
Bereich, in dem man möglicherweise in ganz eng be-
grenzten Ausnahmefällen durchaus auch auf derart
schwere Jungs zurückgreifen muss: Das ist der salafisti-
sche und islamistisch motivierte Bereich.

Sie alle wissen, dass es bisher noch keinen einzigen
bekannten Aussteiger aus der dschihadistischen Szene
gibt. Ich glaube, wir täten insgesamt gut daran, wenn un-
sere Verfassungsschutzämter endlich jemanden fänden,
der sich traut, aus dieser schwierigen Szene auszustei-
gen. Ich muss ganz offen sagen: Wenn er dann etwas
mehr auf dem Kerbholz hat,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einer, der Köpfe abgeschnitten hat in Syrien, ja?)


dann sind es mir die Sicherheit Deutschlands und die
Verhinderung eines Anschlags in Deutschland wert, in
einem derart eng begrenzten Ausnahmefall auch auf ei-
nen V-Mann zurückzugreifen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810107700

Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ströbele?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1810107800

Selbstverständlich, sehr gerne.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810107900

Bitte schön, Herr Kollege Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Kollege Mayer. – Ich lege immer Wert
darauf, dass wir eng am Gesetz entlang diskutieren.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Ihnen vorhin schon nicht gelungen!)


Sie haben gerade selber darauf hingewiesen, dass keine
erheblich Vorbestraften eingesetzt werden dürfen. Im
Gesetzentwurf steht aber ein ganz wichtiges Wort:
„grundsätzlich“. „Grundsätzlich“ heißt: Es geht auch an-
ders. Man muss auch die Begründung lesen. Wann sollen
Ausnahmen möglich sein? Auch bei erheblichen Strafta-
ten? Wenn die Personen als zuverlässig erscheinen?
Wenn sie einen großen Wert für die Arbeit bedeuten?
Danach wäre „Piatto“, von dem Frau Pau vorhin gespro-
chen hat und den der Verfassungsschutz im Gefängnis
angeworben hat, nachdem er sich dazu bereit erklärt hat
– aus Sicht des Verfassungsschutzes war er zuverlässig –,
auch nach dem grauenhaften Mordversuch nach wie vor
ein Kandidat, den Sie wieder einstellen können.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie legalisieren das!)


Das heißt, der Gesetzentwurf geht völlig an dem vorbei,
was Sie hier vortragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1810108000

Herr Kollege Ströbele, ich danke Ihnen ganz herzlich

für diese konkretisierende Nachfrage. Mir ist sehr wohl
bewusst, wie das Wort „grundsätzlich“ auszulegen ist
und dass es Ausnahmemöglichkeiten zulässt. Ich habe
aber auch an die Adresse der Kollegin Pau deutlich ge-
sagt, dass es in der links- und rechtsextremistischen
Szene durchaus andere Möglichkeiten gibt, an V-Leute





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

heranzukommen, sodass in diesem Bereich die Hürde
für eine mögliche Ausnahme von der grundsätzlichen
Bestimmung so hoch gelegt ist, dass man es in diesen
Fällen auch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßig-
keit mit Sicherheit nicht rechtfertigen kann, auf einen
derart „schweren Jungen“, wie es Carsten S. alias „Pi-
atto“ war, zurückzugreifen.


(Martina Renner [DIE LINKE]: Das war doch kein schwerer Junge! Er war ein Mörder, kein schwerer Junge!)


– Falls Sie nicht zugehört haben: Ich habe ganz bewusst
den islamistischen Bereich und vor allem die dschihadis-
tische Szene genannt. Wir sind beide im Parlamentari-
schen Kontrollgremium. Insofern sind wir zur Geheim-
haltung verpflichtet, aber selbst der Präsident des
Bundesamtes für Verfassungsschutz, Maaßen, hat diese
Woche noch einmal öffentlich klargemacht, dass die
salafistische Szene in Deutschland mittlerweile auf
7 300 Personen angewachsen ist. Sie hat sich in den letz-
ten drei Jahren verdoppelt.

Ich hoffe, dass wir uns einig sind, Herr Kollege
Ströbele, dass es, wenn es gelänge – ich spreche bewusst
im Konjunktiv –, einen der aus Syrien zurückkehrenden
Dschihadisten – mittlerweile sind ungefähr ein Drittel
bzw. etwa 200 Personen derer, die aus Deutschland nach
Syrien gereist sind, zurückgekommen – dazu zu bewe-
gen, sich als V-Mann zur Verfügung zu stellen, um die
Szene besser aufklären zu können, in diesem konkreten
Ausnahmefall unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit
aus meiner Sicht angemessen und gerechtfertigt wäre,
diese Person als V-Mann anzuwerben, selbst wenn er et-
was mehr auf dem Kerbholz hat.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Auch einen Mord? – Martina Renner [DIE LINKE]: Was ist mit Mord?)


Um es klar zu sagen: Ich beziehe mich nicht auf den
links- oder rechtsextremistischen Bereich, sondern ich
beziehe mich in aller Deutlichkeit auf den islamistischen
Terrorismus, der nun einmal – das hat die Vergangenheit
gezeigt – für Deutschland eine große Gefahr darstellt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit diesem Gesetz wird ferner die Analysefähigkeit
des Bundesamtes gestärkt und die Möglichkeit für die
Länder geschaffen, gemeinsam Landesämter für Verfas-
sungsschutz einzurichten. Ich glaube, die sollten sich
überlegen, von dieser Öffnungsklausel Gebrauch zu ma-
chen. Wir schaffen eine gesetzliche Grundlage für die
elektronische Akte und verbessern die Möglichkeit des
Zugriffs auf justizielle Register und das europäische
Visa-Informationssystem. Genauso konkretisieren wir in
Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts
die Befugnis des Bundesamtes für Verfassungsschutz
hinsichtlich der Weitergabe von Informationen an Poli-
zeibehörden.

Uns liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor,
der intensiv mit den Ländern vorberaten wurde. Auch
das ist ein Unikum. Noch kein Gesetzentwurf ist im Vor-
feld, schon vor der Kabinettsbefassung, so intensiv mit
den Ländern besprochen worden. Ich glaube, wir tun gut
daran, mit sehr viel Sorgfalt diesen Gesetzentwurf zu er-
örtern. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Ge-
setz eine gute Grundlage dafür ist, die Sicherheitsarchi-
tektur in Deutschland zu stärken und insbesondere die
qualitative Arbeit sowohl des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz als auch der Landesämter für Verfassungs-
schutz zu heben.

In diesem Sinne freue ich mich auf konstruktive und
sachliche Beratungen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810108100

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat André Hahn

von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. André Hahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810108200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch

die Linke ist für den Schutz der verfassungsmäßigen
Ordnung.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist etwas ganz Neues!)


Wir sind aber anders als die übergroße Mehrheit in die-
sem Haus der Meinung, dass wir dafür weder eine Be-
hörde mit geheimdienstlichen Befugnissen noch staat-
lich bezahlte V-Leute brauchen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die von uns aus guten Gründen geforderte Auflösung
des Verfassungsschutzes als Geheimdienst ist hier im
Parlament derzeit nicht durchsetzbar. Deshalb müssen
auch wir uns mit dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auseinandersetzen, obwohl wir schon den Grundan-
satz für falsch halten.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Statt zu versuchen, den seit langem heftig umstrittenen
Einsatz von V-Leuten oder von ihnen begangene Strafta-
ten irgendwie auf rechtliche Grundlagen zu stellen,
sollte der Bund vielmehr dem Beispiel von Thüringen
folgen und die derzeit noch aktiven V-Leute schnellst-
möglich abschalten,


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Das wäre eine Katastrophe!)


im Übrigen auch, um das laufende NPD-Verbotsverfah-
ren nicht weiter zu gefährden.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das haben wir den Ländern schon gesagt!)


Wir halten es für völlig falsch, dass im Gesetzentwurf
Straftaten durch V-Leute legitimiert werden sollen. Das
ist der falsche Weg und schon gar nicht die Umsetzung
der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses.





Dr. André Hahn


(A) (C)



(D)(B)


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Eins zu eins!)


Ich habe den Minister in der Fragestunde gebeten, doch
einmal einen Fall zu nennen, bei dem V-Leute schwere
Verbrechen verhindert haben. Er konnte keinen einzigen
Fall hier im Bundestag nennen. Auch das ist bezeich-
nend für die Arbeit der V-Leute.

Zurück zum Gesetzentwurf. Sie, Herr de Maizière,
haben auf einige Punkte hingewiesen, zum Beispiel da-
rauf, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Bundes-
amt und den Landesämtern verbessert werden soll. Das
erscheint auf den ersten Blick sogar sinnvoll. Unklar
aber bleibt, durch wen das künftig parlamentarisch kon-
trolliert werden soll; denn das Parlamentarische Kon-
trollgremium des Bundestages erhält keine Auskunft
über die Tätigkeit der Landesämter, und die Kontroll-
kommissionen der Länder erhalten keine Auskunft und
keine Akten über den Bund. Das heißt, die Unterlagen
über die geplante verstärkte Kooperation schweben
quasi in einem kontrollfreien Raum. Im Gesetzentwurf
der Regierung gibt es dazu keine Regelung.

Problematisch ist für mich als Vorsitzender des Parla-
mentarischen Kontrollgremiums auch der Zeitpunkt,
Herr de Maizière, zu dem die Bundesregierung ihren Ge-
setzentwurf einbringt. Das Gremium hat zu Beginn der
Legislaturperiode entschieden, nicht nur aktuelle Vor-
gänge zu prüfen, sondern auch präventiv zu arbeiten.
Derzeit befasst sich eine Arbeitsgruppe mit der V-Leute-
Praxis beim Verfassungsschutz und will noch in diesem
Jahr Empfehlungen für die künftige Arbeit mit den soge-
nannten Vertrauenspersonen vorlegen. Das weiß die
Bundesregierung, und sie hätte deshalb auch aus Res-
pekt gegenüber dem Parlament die Ergebnisse abwarten
und nicht vorschnell einen eigenen Gesetzentwurf vorle-
gen sollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich füge hinzu, Herr Kollege Lischka: Guter Stil sieht
mit Sicherheit anders aus.

Wieder zurück zum Gesetzentwurf. Obwohl gerade
die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern
beim Thema NSU nahezu vollständig versagt haben und
auch die V-Leute nichts gebracht haben oder deren In-
formationen aus Quellenschutzgründen zurückgehalten
wurden, soll das Bundesamt nunmehr mit 261 zusätzli-
chen Planstellen de facto belohnt werden. Das kostet
17 Millionen Euro. Dem werden wir definitiv nicht zu-
stimmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zudem – dies hatte hier schon eine Rolle gespielt –
soll die Begehung von Straftaten von V-Leuten künftig
offiziell ermöglicht und gegebenenfalls von der Verfol-
gung durch Staatsanwaltschaften freigestellt werden. Ich
frage: Wo sind wir eigentlich hingekommen? Wir wissen
aus dem NSU-Skandal – Frau Pau hat das erwähnt –,
dass selbst wegen versuchten Totschlags verurteilte Per-
sonen vom Verfassungsschutz als Spitzel angeworben
wurden. Die Bundesregierung will das nun auch noch
per Gesetz zulassen. Herr Kollege Mayer, der Fall
„Piatto“ könnte sich aufgrund der von Ihnen vorgesehe-
nen gesetzlichen Ausnahmeregelung betreffend den Be-
hördenleiter wiederholen.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Quatsch!)


Natürlich soll die Zusammenarbeit bei schweren
Straftaten beendet werden, wenn es um eine Haftstrafe
von mehr als einem Jahr und ohne Bewährung geht. Das
ist aber nur als Sollvorschrift festgehalten, und es gibt
die besagte Ausnahme. Wenn man schon eine solche Re-
gelung betreffend den Behördenleiter aufnimmt – was
wir für falsch halten –, dann sollte man aber zumindest
festlegen, dass das Parlamentarische Kontrollgremium
des Bundestages unterrichtet werden muss; denn das
Behördenhandeln und die Entscheidungen des Behör-
denleiters müssen kontrolliert werden. Hier fehlt eine
entsprechende Regelung. Das bedarf dringend der Kor-
rektur.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Redezeit reicht leider nicht, um alle Kritikpunkte
anzuführen. Fazit: Das Gesetz löst keine Probleme, son-
dern schafft neue. Deshalb kann der Entwurf nicht un-
sere Zustimmung finden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810108300

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

Uli Grötsch von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Uli Grötsch (SPD):
Rede ID: ID1810108400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In diesen Tagen gedenken wir alle der unzähligen Men-
schen, die den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg
zum Opfer gefallen sind. In vielen Orten in Deutschland
finden auch an diesem Wochenende Gedenkveranstal-
tungen anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung der
Konzentrationslager statt, so auch bei mir zu Hause in
der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Es ist mir wichtig,
dies auch in dieser Debatte einleitend zu sagen: Wir alle
haben die große Verantwortung und auch die Verpflich-
tung gegenüber den Opfern des Holocaust, dass sich so
etwas niemals wiederholt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um es mit den Worten von Max Mannheimer, einem
Überlebenden des Holocaust und einem wichtigen Zeit-
zeugen, zu sagen:

Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah.
Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.

Im Jahr 2011 mussten wir mit unsagbarer Fassungslo-
sigkeit feststellen, dass die Neonazi-Szene in Deutsch-
land größer, besser vernetzt und viel brutaler ist, als wir





Uli Grötsch


(A) (C)



(D)(B)

alle es uns jemals hätten vorstellen können. Was aber
mindestens genauso schlimm ist, ist die Tatsache, dass
der Nationalsozialistische Untergrund erst so spät aufge-
deckt wurde. Ich denke, alle Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land, jeder hier in diesem Haus und im Beson-
deren die Mitglieder der Parlamentarischen Untersu-
chungsausschüsse haben sich gefragt, wie das eigentlich
passieren konnte. Schließlich haben wir gleich mehrere
Behörden, die eben genau solche schrecklichen Gewalt-
taten wie die des NSU verhindern sollen. Gerade der
Verfassungsschutz hat im Bund und in den Ländern an
vielen Stellen ganz klar und auch unbestritten versagt.
Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
da kann man sich schon fragen, ob der nachrichten-
dienstlich arbeitende Verfassungsschutzverbund aufge-
löst werden sollte, so wie Sie es in Ihrem Antrag fordern.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss man sich fragen!)


Ich sage aber: Wir brauchen das Bundesamt für Ver-
fassungsschutz, gerade weil wir es in Deutschland mit
immer mehr im Untergrund agierenden Organisationen
der verschiedensten Strömungen und Ausprägungen zu
tun haben, die wir in den Griff bekommen müssen. Eine
Koordinierungsstelle, die lediglich die Aufgabe hat, Un-
terlagen zu sammeln, ohne handlungsfähig zu sein,
reicht da nicht aus. Transparente Beratung allein wird
nicht genügen.


(Beifall des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


Nein, die Lösungen, die Sie hier vorschlagen, führen
nach unserer Überzeugung nicht zu einem effektiveren
Verfassungsschutz. Das BfV hat sehr wohl seine Da-
seinsberechtigung. Ja, ich halte es in Deutschland für un-
verzichtbar, und ich halte es im Grunde für eine Behörde
mit höchster Intelligenz. Schwarz-Weiß-Denken hilft
uns auch in diesem Bereich nicht weiter.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber – das sage ich auch ganz deutlich – das BfV muss
aus seinen Fehlern lernen und daraus Lehren ziehen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die 47 Emp-
fehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses noch in
dieser Legislaturperiode umzusetzen. Ich bin der festen
Überzeugung, dass wir uns dahin gehend auf einem sehr
guten Weg befinden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die bereits umgesetzten Handlungsempfehlungen zei-
gen, wie ernst die Große Koalition und wie ernst alle
Abgeordneten, die sich ernsthaft und sachlich mit dieser
Materie befassen, die Ergebnisse aus dem Abschlussbe-
richt des NSU-Untersuchungsausschusses nehmen.

Einer der wichtigsten Bausteine ist dabei meines Er-
achtens die Reform des Bundesverfassungsschutzgeset-
zes. Deshalb begrüße ich ganz ausdrücklich den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der
Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes,
um den es hier heute geht. Im NSU-Untersuchungsaus-
schuss hat sich gezeigt, dass die einzelnen Behörden un-
genügend oder schlichtweg gar nicht zusammengearbei-
tet haben. Fast täglich hören wir inzwischen aus den
NSU-Untersuchungsausschüssen der Länder oder aus
dem Gerichtsverfahren in München, wie schlecht der
Austausch von Informationen tatsächlich abgelaufen ist
und wie Berichtspflichten regelrecht ignoriert wurden.
Erst vorgestern hat sich in München bei der Aussage des
sächsischen Verfassungsschutzpräsidenten wieder ein-
mal gezeigt, wie unzureichend der Informationsfluss
zwischen den einzelnen Behörden war. Es ist also not-
wendig – und ich finde es auch richtig –, dass im Zuge
der Reform die Zentralstellenfunktion des BfV gestärkt
wird und ein effektiver Informationsaustausch unum-
gänglich wird.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Konkurrenzdenken und Eitelkeiten, wie sie der Untersu-
chungsausschuss zum Teil festgestellt hat, müssen end-
lich passé sein und dürften damit auch passé sein.

Eine zweite zentrale Änderung wird beim Einsatz der
V-Leute vorgenommen, oder, besser gesagt, der Einsatz
wird überhaupt erst geregelt; meine Vorredner haben
schon darauf hingewiesen. Im Gegensatz zu meinen
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen bin ich für
den Einsatz von V-Leuten. Viele Informationen aus der
Szene sind nur durch geheime Quellen, durch Insider
also, zu erlangen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir
ohne die V-Leute so direkte Einblicke in die Szene be-
kommen sollen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gehen Sie mal ins Antifa-Museum! – Gegenruf des Abg. Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Lieber nicht!)


Aber wie schon erwähnt, der Einsatz muss auf einer
Rechtsgrundlage beruhen, und das wird zukünftig auch
so sein. Es muss unmissverständlich klar sein, dass die
angeworbenen Personen dem Staat dienen und sich dem-
entsprechend verhalten müssen. Auch wenn es sich im
ersten Moment vielleicht eigenartig anhören mag, sage
ich: V-Personen müssen unter dem Strich innere Sicher-
heit produzieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ob und inwieweit die Regelungen zum Einsatz von
V-Leuten im Gesetzentwurf ausreichen, das müssen wir
jetzt im weiteren parlamentarischen Verfahren sehr ge-
nau prüfen. Ich danke Ihnen, Herr Bundesinnenminister
de Maizière, dass Sie bereits heute weitere Gesprächsbe-
reitschaft angekündigt haben. Ich persönlich hätte mir
noch strengere Regelungen zur Einsatzbefugnis von
V-Leuten gewünscht. Die Einbindung der G 10-Kom-
mission halte ich hier nach wie vor für sinnvoll.

Ich wünsche mir mehr Transparenz und einen echten
Mentalitätswechsel. Der Schlapphut, liebe Kolleginnen
und Kollegen, muss endlich im Kleiderschrank verstaut
werden.





Uli Grötsch


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu gehört – auch wenn sich das bei einem Geheim-
dienst vielleicht etwas eigenartig anhören mag – eine
verbesserte Öffentlichkeitsarbeit. Noch wichtiger ist, in-
nerhalb des BfV für mehr Sensibilität und Kommunika-
tion zu sorgen; denn bei den Fehlern rund um den NSU
handelt es sich ja nicht nur um mangelnden Informa-
tionsfluss zwischen den Behörden. Auch innerhalb der
Behörden gab es – man muss es so offen sagen – ein ech-
tes Problem der Wahrnehmung von gefährlichen Tätern.
Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den
Verfassungsschutz wiederherzustellen, ist die geplante
Reform natürlich nicht alles. Aber sie ist ein erster wich-
tiger Schritt. Ich möchte sagen: Das ist auf diesem Weg
ein wahrer Meilenstein, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Zum Ende meiner Rede möchte ich sagen, dass wir
die Reformprozesse, die im Bundesamt für Verfassungs-
schutz in den letzten Jahren in Gang gesetzt wurden,
durchaus zur Kenntnis nehmen; auch das darf hier ein-
mal gesagt werden. Aber sie dürfen nicht ins Stocken ge-
raten. Das muss ein kontinuierlicher Prozess sein, bei
dem der Deutsche Bundestag das Bundesamt für Verfas-
sungsschutz im Rahmen der parlamentarischen Kon-
trolle und der Gesetzgebung begleiten muss und auch
begleiten wird. Wir Parlamentarier können nur einen ge-
setzlichen Rahmen schaffen, in dem sich das Bundesamt
für Verfassungsschutz dann bewegen muss. Für ein ech-
tes Umdenken, für einen Mentalitätswechsel im Denken
und Tun ist das BfV selbst zuständig. Um am Ende
nochmals auf das eingangs erwähnte Zitat von Max
Mannheimer zurückzukommen: Auch das BfV ist vor al-
lem selbst dafür verantwortlich, dass Derartiges wie in
der Vergangenheit in Zukunft nie wieder passiert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810108500

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Irene

Mihalic von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810108600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Vor drei Jahren hat die Bundeskanzlerin den
Familien der NSU-Opfer versprochen, alle zuständigen
Behörden in Bund und Ländern würden mit Hochdruck
an der Aufklärung arbeiten. Heute wissen wir, wie dieser
Hochdruck aussieht. Fast jeden Tag tauchen neue Fragen
und Widersprüche auf, aber nicht etwa weil sie von den
Sicherheitsbehörden aufgedeckt wurden, sondern weil
sie durch Untersuchungsausschüsse und den unabläs-
sigen Einsatz von zivilgesellschaftlichen Initiativen,
Journalisten, Wissenschaftlern und Vertretern der Ne-
benklage im Münchener NSU-Prozess aufgedeckt wer-
den. Ihnen allen kann man gar nicht genug danken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber nicht nur bei der Aufklärung tritt die Bundesregie-
rung auf der Stelle. Auch bei den Konsequenzen aus
dem NSU-Skandal geht es einfach nicht voran. Deshalb
waren wir alle sehr gespannt auf diese große Verfas-
sungsschutzreform, die uns angekündigt wurde. Wir ha-
ben ja eigentlich nicht zu hoffen gewagt, dass Sie tat-
sächlich eine grundsätzliche Zäsur und einen Neustart
wagen, so wie wir Grüne uns das eigentlich immer vor-
gestellt haben. Aber ein paar echte Reformanstöße hätte
ich nach all den Erkenntnissen doch schon erwartet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das steht aber nicht in Ihrem Antrag!)


Einer Ihrer wichtigsten Punkte ist die Stärkung der
Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz. Was Sie dabei von den Reformen in den
Ländern halten, haben Sie schon deutlich gemacht – das
machen Sie auch mit dem Gesetzentwurf allzu deut-
lich –, nämlich gar nichts. Jedenfalls erschließt sich mir
nicht, wie Sie die Länder für Ihren Ansatz gewinnen
wollen. Inhaltlich finde ich es grundsätzlich richtig, dass
der Bund versucht, das Handeln aller Verfassungsschutz-
ämter, so gut es geht, zu koordinieren;


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr richtig! Sehr richtig! Gut erkannt!)


denn der mangelnde Informationsaustausch war ja eines
der zentralen Probleme beim NSU. Aber wenn ich nun
in Gesprächen mit dem Bundesamt für Verfassungs-
schutz höre, dass zum Beispiel in Sachen V-Leute-Re-
gister – auch einer der Reformschritte – nicht vorgese-
hen ist, die Klarnamen der V-Leute zentral zu erfassen,
um auszuschließen, dass diese in den Ländern oder beim
Bund doppelt abkassieren, und dass es bei diesem Regis-
ter eigentlich nur darum geht, Quellenlücken zu schlie-
ßen, dann muss ich ganz klar feststellen: Ihnen fehlt da-
bei jegliches Problembewusstsein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da müssen Sie genauer zuhören!)


Denn das Problem des V-Leute-Einsatzes rund um den
NSU war ja nicht etwa die mangelnde Quellendichte
– V-Leute gab es ja reichlich –, sondern, dass dieser völ-
lig aus dem Ruder gelaufen ist. Nur, daraus ziehen Sie
keinerlei Konsequenzen.


(Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Herr Lischka, als Sie sich mit Frau Högl im Januar für
eine echte Reform des Verfassungsschutzes ausgespro-
chen haben, hatte man noch etwas Anlass zur Hoffnung.
Sie haben damals in Ihrem Papier immerhin ein paar
ganz klare Kriterien für den V-Leute-Einsatz formuliert.
Da Sie diese Regierung mittragen, habe ich gehofft, dass
Sie die Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs entsprechend
beeinflussen werden. Doch offensichtlich hat sich der
Bundesinnenminister für Ihr Papier überhaupt nicht in-
teressiert; denn Regelungen für die Einsatzdauer von
V-Leuten findet man im Gesetzentwurf zum Beispiel





Irene Mihalic


(A) (C)



(D)(B)

nicht. Kriterien zur Führung von V-Leuten? – Fehlan-
zeige! Regeln, die wirksam verhindern, dass schwere
Straftäter eingesetzt werden? – Fehlanzeige! Denn im
Zweifelsfall entscheidet eben der Behördenleiter, und es
gilt auch nur grundsätzlich. Herr Mayer, auch wenn Sie
hier gebetsmühlenartig wiederholen, wie „grundsätz-
lich“ zu verstehen ist: Es steht so nicht im Gesetz, und
das ist der Fehler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Da muss ich einfach feststellen: Die Bundesregierung
hat offensichtlich gar nichts aus den Fehlern gelernt, die
bei den „Piattos“ und Tino Brandts dieser Welt sowie bei
anderen V-Leuten gemacht wurden, und nicht verstan-
den, dass der Staat dadurch rechtsextreme Strukturen
mindestens mitfinanziert und somit aufgebaut hat. Allen
Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, die intensiv an
der NSU-Aufklärung mitgearbeitet haben und das noch
heute tun, muss es doch in der Seele wehtun, dass die
Bundesregierung an diesem Problem so völlig vorbei-
läuft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ihr Antrag!)


Deshalb bitte ich Sie dringend, jetzt im Gesetzgebungs-
verfahren nicht lockerzulassen. Lassen Sie sich mit die-
sem Gesetzentwurf nicht abspeisen! Sorgen Sie mit uns
gemeinsam dafür, dass eine echte Reform des Verfas-
sungsschutzes auf den Weg gebracht wird.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810108700

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Tankred

Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1810108800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In der heutigen Debatte befassen wir uns mit der Um-
setzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungs-
ausschusses. Wir haben den tadellosen Entwurf eines
Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit des Ver-
fassungsschutzes vor uns liegen. Ich bin ein ganzes
Stück weit entsetzt über die Empörungsrhetorik, die hier
vonseiten der Grünen und der Linken bei einem so sen-
siblen Thema dargeboten wird.

Meine Damen und Herren, noch nie haben eine Bun-
desregierung und ein Parlament so planvoll und detail-
liert auf Ergebnisse eines Untersuchungsausschusses re-
agiert und seine Empfehlungen umgesetzt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Lassen Sie mich einmal den Gesamtkontext und die Zei-
tenfolge in Erinnerung rufen. Am 26. Januar 2012 haben
alle fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses den NSU-Un-
tersuchungsausschuss eingesetzt. Bereits als der Aus-
schuss tagte bzw. arbeitete, gab es erste gesetzgeberische
Maßnahmen. Entsprechende Stichworte wurden heute in
der Debatte schon genannt: Errichtung des Gemeinsa-
men Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums so-
wie die Errichtung der gemeinsamen Verbunddatei ge-
gen Rechtsextremismus. Alle fünf Fraktionen dieses
Hohen Hauses haben in der letzten Legislaturperiode
– am 23. August 2013 – 50 Handlungsempfehlungen
vorgelegt. Am 2. September 2013 debattierten wir dann
über diese unter den Augen der Angehörigen der Opfer
des NSU und des Bundespräsidenten. Unser Parlament
hat die Handlungsempfehlungen in der 18. Legislaturpe-
riode am 20. Februar letzten Jahres noch einmal bekräf-
tigt. Der Schlüsselbegriff in der damaligen Debatte war
„Änderung der Arbeitskultur unserer Sicherheitsbehör-
den“. Am 26. Februar 2014 legte die Bundesregierung
ihren Umsetzungsbericht vor, der an Transparenz und
Klarheit nicht zu überbieten ist. Dieser Umsetzungsbe-
richt ist wie eine To-do-Liste gegliedert. Er stellt für uns
ein hervorragendes parlamentarisches Monitoring dar.
Am 5. November letzten Jahres gab es die Debatte zum
dritten Jahrestag der Aufdeckung des NSU. Am 14. No-
vember letzten Jahres wurde der Gesetzentwurf des Jus-
tizministeriums – Kollege Mayer hat es angesprochen –
mit den wesentlichen Änderungen vorgelegt, die wir
vorgenommen hatten.

Heute findet folgerichtig die Debatte über ein Gesetz
statt, welches die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehör-
den optimieren wird und klare Standards für ihre Arbeit
festsetzt. Das nenne ich vorbildliche Parlaments- und
Regierungsarbeit. Dies hat nichts mit einem Peitschen
durch das Parlament zu tun, sondern das ist Diskutieren
und Debattieren, wie es sich für einen Deutschen Bun-
destag gehört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich kann – genauso wie meine Kollegen – nur dazu
aufrufen, dass sich alle Beteiligten bzw. Verantwortli-
chen – allen voran auch die in den Ländern – genauso
vorbildlich verhalten, wie es Legislative und Exekutive
im Bund tun. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf be-
trifft meines Erachtens den Kernbereich – ich möchte sa-
gen: das Herzstück – der Aufklärungsarbeit des Untersu-
chungsausschusses in der letzten Legislaturperiode.

Bereits in der Sachverständigenanhörung zur deut-
schen Sicherheitsarchitektur am 29. März 2012 stellten
wir uns die Frage, ob es nicht vielmehr eine Unsicher-
heitsarchitektur ist. Die Sachverständigen zeigten uns
Zuständigkeitsvielfalt und Kompetenzkonflikte auf. Sie
zeigten uns eine Informationskultur und Informations-
verteilung der Nachrichtendienste auf, welche von einer
Risiko-, Geheimnis- und Abschottungskultur geprägt
war. Es ist umso dramatischer, dass sich all das, was in
der Theorie bekannt war, dann wirklich bei der NSU-
Verfolgung bestätigt hat.

Mehr noch: Die Werthebach-Kommission stellte in
ihrem Abschlussbericht mit dem Titel „Signale für eine
neue Sicherheitsarchitektur“ im Dezember 2010 – also
noch vor der Aufdeckung des NSU – fest:





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

Eine erfolgreiche Sicherheitspolitik – insbesondere
in einem föderal organisierten Staat – setzt eine in-
tensive Kooperationsbereitschaft der Sicherheitsbe-
hörden voraus. Diese spiegelt sich gerade in Infor-
mationspflichten auf allen Ebenen wider. Viele
Defizite in der Zusammenarbeit der Behörden ent-
stehen durch unzureichende Information und Ko-
operation.

Meine Damen und Herren, genau diese Erkenntnisse
der Werthebach-Kommission aus dem Jahr 2010 und die
Erkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses aus
dem Jahr 2013 greift nun der Gesetzentwurf, über den
wir in erster Lesung beraten, auf. Ich möchte jetzt nicht
in die juristische Debatte einsteigen. Die juristischen
Feinheiten können Sie – Kollege Ströbele hat das schon
gemacht – in der Gesetzesbegründung nachlesen. Ich
möchte einfach drei Schlüsselbegriffe herausgreifen.

§ 5 Bundesverfassungsschutzgesetz. Es gibt eine
klare Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Landes-
ämtern für Verfassungsschutz und dem Bundesamt für
Verfassungsschutz. Wir haben jetzt eine Reservezustän-
digkeit – das wurde angesprochen –, und das BfV wird
erstmalig als Zentralstelle bezeichnet, die eine Koordi-
nierungsfunktion wahrnehmen kann. Erstmalig be-
kommt diese Zentralstelle auch eine Unterstützungs-
funktion für die Landesämter als gesetzliche Aufgabe
zugewiesen. Der Kollege von der SPD sagte es bereits:
Das ist ein Meilenstein.

§ 6 Bundesverfassungsschutzgesetz. Dort werden ge-
genseitige Unterrichtungsregeln aufgestellt und zusam-
mengefügt. Relevante Informationen müssen nunmehr
zwischen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauscht
werden; das ist verpflichtend. Eine gemeinsame Datei,
eine gemeinsame Software von allen Landesämtern und
dem Bundesamt für Verfassungsschutz – der Name fiel
schon –, NADIS, ist unerlässlich und wichtig. Ich habe
mir das im Landesamt für Verfassungsschutz in Thürin-
gen angesehen. Natürlich wird damit die Analysefähig-
keit des Verfassungsschutzes stark und richtigerweise
ausgebaut. Daher kann man das nur vollumfänglich be-
grüßen. Das ist wiederum ein Meilenstein, von dem die
Polizei noch ein ganzes Stück entfernt ist.

Die IMK hat 2012 beschlossen, auch für die Polizei
einen Informations- und Analyseverbund namens PIAV
einzurichten. Leider Gottes lässt er noch auf sich warten.
Daher lautet meine herzliche Bitte in dieser Debatte, die-
ses Verbundsystem entschieden voranzutreiben.

§§ 9 a und 9 b wurden schon angesprochen. Es geht
um verdeckte Mitarbeiter und Vertrauensleute, ein wich-
tiges nachrichtendienstliches Mittel. Hier führen wir
zum ersten Mal gesetzliche Mindeststandards ein. Die
Vorgaben des NSU-Untersuchungsausschusses werden
faktisch eins zu eins umgesetzt. Hier erhalten sie im Zu-
sammenhang mit V-Leuten sogar Gesetzesrang. In ande-
ren Bereichen unserer föderalen Ordnung wie dem Bil-
dungsbereich sind wir davon noch weit entfernt. Die
Kultusministerkonferenz diskutiert seit Jahrzehnten
Standards, Koordinierung, Zentralstellen und verpflich-
tende Zusammenarbeit. All das verwirklicht dieses Ge-
setz für den Bereich der inneren Sicherheit. Das ist für
unseren föderalen Staat sehr wichtig und sehr gut.

Meine Damen und Herren, umso beunruhigter bin ich
von dem – das wurde schon angesprochen –, was in ein-
zelnen Bundesländern passiert. Einzelne Bundesländer
leisten keinen Beitrag zur Sicherheitsarchitektur. Sie
verstoßen im weitesten Sinne gegen den Grundsatz der
Bundestreue und der Amtshilfe. Aus ideologischen
Gründen werden V-Leute abgeschafft bzw. abgeschaltet.
Somit wird im Freistaat Thüringen die Sicherheit der
Bürgerinnen und Bürger gefährdet. Thüringen begibt
sich in eine Isolation im gesamtdeutschen Sicherheits-
verbund. Mich entsetzt auch, dass nach zwei Jahren
konsensualer Arbeit mit Blick auf die Umsetzung der
Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses die
Grünen von diesem gemeinsamen Pfad abweichen, sich
den Linken anschließen und erklären: V-Leute, das ist
ganz furchtbar. – Sie wollen im weitesten Sinne sogar
die Sicherheitsorgane abschaffen. Das ist schon sehr
überraschend.

Wir haben den V-Mann „Piatto“ in dieser Debatte an-
gesprochen; die Kollegin Pau hat ihn erwähnt. Ich will
einmal anführen, was der Zeuge Meyer-Plath im Unter-
suchungsausschuss gesagt hat: Im Jahre 1994 gab es in
Brandenburg faktisch keine V-Leute. Die in Branden-
burg vorhandenen Erkenntnisse waren nur Nebenprodukte
anderer Behörden. Durch den Einsatz von V-Leuten er-
öffneten sich erstmals Einblicke in die extremistischen
Strukturen, in Brandenburg, im Bund und international.
Das Lagebild verbesserte sich. Es war ein Quanten-
sprung. Ähnliches berichteten auch andere Zeugen.
Durch den Einsatz von V-Leuten wurde man sehend, wo
man vorher blind war. Natürlich war es katastrophal, für
welchen V-Mann man sich entschieden hat; das ist völlig
richtig.

Aber warum? Weil man vorher überhaupt keine V-
Leute hatte, war man darauf angewiesen, einen solchen
Mann wie diesen Carsten S. zu nehmen. Das ist nicht
richtig. Das jetzt vorliegende Gesetz – wir sollten daran
denken, dass hier eine Ermessensausübung der Behör-
denleitung vorgesehen ist – würde das letztlich ein gan-
zes Stück weit verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat damals auch die Behördenleitung beschlossen in Brandenburg!)


Meine Kolleginnen und Kollegen, ich finde die Wort-
wahl, die die Grünen und die Linken heute in den Anträ-
gen und in der Debatte mit Blick auf die V-Leute wäh-
len, unangemessen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind also Vertrauenspersonen?)


– Nein, nein, Herr Ströbele.

Ich kann nur sagen: Die Koalition setzt weiterhin die
50 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses
eins zu eins um. Wir werden uns der sachlichen, notwen-
digen Arbeit weiter stellen und uns durch die von der





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

Opposition vorgelegten Anträge nicht vom richtigen
Weg abbringen lassen.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit zehn Jahren lassen Sie sich nicht davon abbringen, und jetzt sehen Sie ja, wo wir stehen!)


Wir stärken die Sicherheitsarchitektur in unserem föde-
ralen Bundesstaat. Ein herzliches Dankeschön geht an
die Innenminister von Bund und Ländern, die auf der In-
nenministerkonferenz 2012 faktisch den Grundstein für
dieses Gesetz gelegt haben. Ich freue mich auf die weite-
ren Beratungen im Bundestag.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810108900

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang

Gunkel von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1810109000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letz-

ter Redner meiner Fraktion und als später Redner in der
Debatte ist es natürlich unheimlich schwierig, nun nicht
alles zu wiederholen, was die Vorredner schon gesagt
haben.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geben Sie mir die Redezeit! Ich kann sie gut gebrauchen!)


Herr Schipanski, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf
ein Problem aufmerksam gemacht haben, was die Poli-
zeibehörden anbelangt. Ich als ehemaliger Polizeibeam-
ter habe natürlich großes Interesse daran, dass die Poli-
zei nicht gegenüber dem zurücksteht, was andere
Behörden für sich in Anspruch nehmen.

Ich glaube aber auch – das hat der Minister in seiner
Rede sehr schön gesagt –, dass nicht nur der Gesetzes-
text von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch,
was die Personen tun, wie sie das ausfüllen und wie das
gehandhabt wird. Ich glaube nach wie vor: Der NSU-
Skandal basiert in erster Linie auf einem riesigen Kom-
munikationsproblem beim Gedanken- bzw. Informa-
tionsaustausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei.
An dieser Stelle muss ich sagen: Die Bundesrepublik hat
schon seit Jahren das Problem, dass diese beiden Behör-
den sehr häufig


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegeneinander arbeiten!)


nebeneinanderher gearbeitet haben und ihr Verhältnis
nicht gerade von gegenseitigem Vertrauen geprägt war.
Das hat auch seine Gründe, warum das so ist.

Ich nenne nur ein Beispiel: Wenn man als Polizeibe-
amter Verantwortung trägt, eine Einsatzbewältigung vor
sich hat und dann am Freitagnachmittag um 15 Uhr ir-
gendeine Horrormeldung präsentiert bekommt, die vom
Verfassungsschutz stammt und die niemand mehr verifi-
zieren kann, weil man nicht rückfragen kann, man also
nicht nachvollziehen kann, was die Quelle ist, dann weiß
man: Es ist dreimal besser, wenn die Polizei ihre eigene
Aufklärung betreibt. Das hat mir dann immer weiterge-
holfen; denn ich habe dann die Informationen bekom-
men, die nötig waren, um eine Einsatzlage zu bewälti-
gen.

Nichtsdestotrotz: Was hier jetzt erarbeitet worden ist,
ist Ausfluss und Umsetzung der Folgerungen, die der
NSU-Untersuchungsausschuss gezogen hat; und das
finde ich richtig. Ich kann also keineswegs erkennen,
warum man die Informationsquelle Verfassungsschutz
nun unbedingt abschalten muss oder außer Kraft setzen
sollte. Mit den jetzt vorgesehenen Änderungen lehnt
man sich ja auch ein bisschen an die Regelungen an, die
das BKA-Gesetz vorsieht. Wir haben dem BKA in der
16. Legislaturperiode weitreichende Kompetenzen bei
der Terrorismusbekämpfung eingeräumt, indem es erst-
malig ermöglicht wurde, die Ermittlungen der Länder
zusammenzufassen und zu leiten. Hier geschieht Ähnli-
ches, jedoch nur auf dem Informationsweg, also indem
Informationen zusammengefasst und über die Länder
koordiniert werden.

Was mich an dem Gesetzesentwurf ein klein wenig
stört – Herr Minister, ich würde gerne darüber diskutie-
ren –, ist die Frage der verdeckten Mitarbeiter, die im
neuen § 9 a Absatz 1 des Bundesverfassungsschutzge-
setzes geregelt werden soll. Die verdeckten Mitarbeiter
wären mit den verdeckten Ermittlern der Polizei ver-
gleichbar. Deren polizeiliche Tätigkeiten sind sehr stark
normiert und geregelt, nämlich im Zusammenhang mit
der Strafverfolgung in § 110 a der Strafprozessordnung,
wo klar festgelegt wird, zu welchem Zwecke verdeckte
Ermittler eingesetzt werden sollen und dass Einverneh-
men mit der Staatsanwaltschaft herzustellen ist. Das
heißt, sie können nicht frei operieren. Als Vollzugsbe-
amte sind sie zusätzlich auch noch an § 163 StPO gebun-
den, sie müssen also Strafverfolgung betreiben und dür-
fen nicht selbst unbegrenzt Straftaten begehen; es ist
ihnen nicht einmal gestattet, solche zu begehen. An die-
ser Stelle sieht man ganz deutlich, dass das ein begrenz-
ter Auftrag ist.

Was verdeckte Tätigkeiten im Verfassungsschutz be-
deuten, ist mir nicht so ganz klar, insbesondere nicht, wo
da die Grenzen liegen. Im Urteil des Bundesverfassungs-
gerichts heißt es, dass eine Trennung zwischen Nach-
richtendienst und Polizei nach wie vor erforderlich ist
und auch grundgesetzkonform ist. Die Polizei wäre
durchaus in der Lage, verdeckte Ermittlungen zu erledi-
gen, aber man ist an die entsprechenden Regelungen ge-
bunden; und das wollen wir so beibehalten. Die Vergan-
genheit hat gezeigt, dass das sonst zu sehr großem
Behördenballast führt und dass die Befugnisse Einzelner
dann weit über das hinausgehen, was unsere Rechtsord-
nung vorsieht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])






Wolfgang Gunkel


(A) (C)



(D)(B)

– Danke für den Beifall.

Die Begründung des Entwurfs ist aus meiner Sicht ein
bisschen verschwurbelt, Herr Schipanski. An der Stelle
würde ich gerne noch einmal nachforschen. Ich kann
nicht erkennen, was im Einzelnen gemeint ist, und das
stört mich ein wenig. Ansonsten kann ich den vorliegen-
den Gesetzentwurf nur unterstützen.

Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Die Links-
partei, die sonst relativ gute Vorschläge macht


(Dagmar Ziegler [SPD], an Die Linke gewandt: Relativ!)


– ich habe mir die Punkte aufgeschrieben, damit ich sie
zitieren kann –, fordert die Umwandlung des BfV in eine
„Koordinierungsstelle zur Dokumentation gruppenbezo-
gener Menschenfeindlichkeit“, die aber keine Ermittlun-
gen führen oder sich irgendwo Informationen besorgen
darf. Sie darf im Grunde nichts machen. Wir hätten dann
noch mehr beamtete Zeitungsleser; davon haben wir
aber schon genug.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind die Verfassungsschützer häufig aber auch!)


Ich glaube, jeder Lagedienst kann diese Aufgabe über-
nehmen und die Ergebnisse entsprechend auswerten.

Des Weiteren fordern Sie eine Bundesstiftung zur Be-
obachtung und Erforschung gruppenbezogener Men-
schenfeindlichkeit. Damit schaffen Sie eine weitere Be-
hörde, die parallel zu der gerade genannten arbeitet.
Diese könnte letzten Endes keinerlei Informationen lie-
fern, die für die konkrete Arbeit der Verfassungsschutz-
ämter und vor allen Dingen der Polizei, die ja nach wie
vor Strafverfolgungsbehörde ist, wichtig wären. Das
Ganze ist also, wie ich glaube, sehr abgehoben, und hat
nur im Sinn, den Begriff Verfassungsschutz zurückzu-
drängen.

In Thüringen bricht nun nicht gleich die Welt zusam-
men, weil Sie dort ein paar V-Leute abschalten, aber ich
halte das nicht für richtig. Die Zukunft wird zeigen, wie
sich das Ganze entwickelt.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Schlecht! Sehr schlecht!)


– Das muss man abwarten. Ich will nicht vorwegneh-
men, was da passiert.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ich lebe da!)


Vielleicht machen sie es ja indirekt auf andere Art und
Weise, etwa so wie das die Grünen formuliert haben.

Die Grünen haben in ihrem Antrag sehr gute Anhalts-
punkte herausgearbeitet, die ich durchaus teilen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte insbesondere einen Aspekt aus Ihrem Antrag
aufgreifen: Die beste Voraussetzung für Terrorbekämp-
fung ist eine gut ausgebildete und ausgestattete Polizei. –
Diesbezüglich haben Sie meine volle Zustimmung.

(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aber der Rest ist schlecht, der drinsteht!)


– Moment, nicht alles. – Aber letztendlich kommen auch
Sie zu dem Schluss – es erscheint mir ein bisschen sehr
krampfhaft, wie Sie unbedingt dies sagen wollen –: Wir
wollen den Verfassungsschutz nicht mehr. Sie wollen
stattdessen eine „Inlandsaufklärung“, also eine Stelle,
„die Spionageabwehr und die Aufklärung genau be-
stimmter gewaltgeneigter Bestrebungen“ leisten soll.
Nun weiß ich nicht, was „genau bestimmte gewaltge-
neigte Bestrebungen“ sind. Sie sollten einmal genauer
erklären, was man darunter verstehen soll. Im Wesentli-
chen ist das, etwas abgespeckt, auch eine Tätigkeit, die
man im Prinzip mit Aufklärung und nachrichtendienstli-
cher Gewinnung in Zusammenhang bringen kann; es
wird nur etwas anders genannt.

Wir als Regierungskoalition können also beiden An-
trägen nicht zustimmen. Der Gesetzentwurf der Bundes-
regierung ist, unter Berücksichtigung der Ausnahmen,
die ich genannt habe, meiner Ansicht nach im Großen
und Ganzen gelungen. Der Minister hat angedeutet, dass
darüber noch diskutiert werden kann. Ich hoffe, dass wir
den einen oder anderen Punkt noch einarbeiten können.

Ein letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte,
sind die sogenannten V-Leute. Jeder weiß – die Landes-
gesetze geben es her –, dass auch die Polizei Vertrauens-
leute einsetzt. Ich befürchte, dass sich dann, wenn solche
Einsätze im Übermaß gefördert werden, die V-Leute von
Polizei und Verfassungsschutz gegenseitig umrennen.
Man müsste schon dafür Sorge tragen, dass die eine Be-
hörde von der anderen Behörde weiß, was jeweils die
andere im Einzelnen beabsichtigt. Man kann in der Tat
auf die V-Leute nicht verzichten, aber es darf zu keiner
Doppelbelegung kommen und erst recht nicht dazu, dass
die Arbeit der einen Behörde die Arbeit der anderen
praktisch aufhebt. Ich denke, dass man diesen Punkt be-
achten sollte. Von daher: Information und Kommunika-
tion sind eigentlich alles. Die Menschen, die in diesem
Bereich arbeiten, sollten eigentlich die Leistungsträger
bei der Terrorismusbekämpfung sein.

Da meine Zeit abläuft, möchte ich es dabei belassen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur die Redezeit!)


Ich hoffe, dass die Gesetze, die demnächst beschlossen
werden, zu dem Ergebnis führen, das wir alle uns erhof-
fen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810109100

Die Redezeit war abgelaufen, aber nicht deine Zeit,

lieber Wolfgang.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!)


Hans-Christian Ströbele spricht als nächster Redner
für Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Frau Präsidentin. – Herr Minister, es stimmt,
dass wir uns in der letzten Legislaturperiode in diesem
Hause einig waren, dass man die Neonazis, die National-
sozialisten, und zwar nicht nur die im Untergrund, be-
kämpfen muss. Wir hatten uns auch vorgenommen, vie-
les gemeinsam zu machen. Diesen Weg verlassen Sie
jetzt, indem Sie hier einen Gesetzentwurf vorlegen, mit
dem Sie, sofern Sie überhaupt etwas regeln, nur Regeln,
die es bisher in Form von Verwaltungsvorschriften gab
oder die in Übung waren, ins Gesetz schreiben.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Damit werden diese Regeln aber nicht besser. Damit ver-
hindern Sie so schreckliche Straftaten wie die, die hier
zehn Jahre lang verübt worden sind, nicht.

Vielleicht muss ich erst einmal mit dem Begriff auf-
räumen: Vertrauensleute sind nicht Leute, die Vertrauen
verdienen. Sie haben gesagt, man müsse keine Sympa-
thie für diese Leute empfinden. Kollege Lischka hat ge-
sagt, das müssen keine sympathischen Leute sein. Aus
den Reihen der SPD wurde dann aber sogar gesagt, man
solle den V-Leuten die Sicherheit in diesem Staate an-
vertrauen.


(Burkhard Lischka [SPD]: Was?)


Darf ich Sie darauf hinweisen, dass es sich bei diesen
V-Leuten, um die es hier geht, die diese schrecklichen
Verbrechen mit möglich gemacht haben – auch das Ver-
sagen bei der Führung dieser V-Leute hat daran natürlich
Anteil –, um Rechtsextreme, Rassisten, Neonazis und
bekennende Nationalsozialisten gehandelt hat? Ich will
doch die Sicherheit in diesem Land nicht solchen Leuten
anvertrauen. Wo kämen wir denn da hin?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Sie dürfen ebenfalls nicht übersehen – das konnte man
sogar im Fernsehen sehen –, dass Leute wie „Piatto“, Tino
Brandt oder „Corelli“ nicht nur irgendwelche Informa-
tionen geliefert haben, sondern bei Demonstrationen und
Kundgebungen auch die führenden Einpeitscher der
Neonazis gewesen sind. Man konnte sehen, wie sie sich
am Mikrofon aufgespielt und Leute aufgehetzt haben.
Und denen wollen Sie die Sicherheit in diesem Lande
anvertrauen? Das ist ein unmöglicher Gedankengang.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. Hätte es
geholfen, wenn das, was Sie jetzt vorgelegt haben, schon
damals Gesetz gewesen wäre?


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ja! – Gegenruf der Abg. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein!)


Tino Brandt – er ist ja jetzt wieder in Haft genommen
worden – hat sich gerühmt, dass er die vielen Hundert-
tausend Euro für die Organisation, für den Thüringer
Heimatschutz eingesetzt hat.

(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 800 000! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Staatsknete!)


Wäre das durch so ein Gesetz verhindert worden? Nein!
– Gegen Tino Brandt liefen 35 strafrechtliche Ermitt-
lungsverfahren, von denen nicht ein einziges zu einem
Prozess, geschweige denn zu einer Verurteilung geführt
hat. Würde das jetzt anders sein? Nein!

Mit diesem Gesetz schaffen Sie quasi eine gesetzliche
Grundlage, um V-Leute, die während ihrer Einsatzzeit
als V-Leute Straftaten begehen, dafür nicht strafrechtlich
zur Rechenschaft zu ziehen. Sie geben dem Staatsanwalt
die Möglichkeit, das Verfahren einzustellen. Was bisher
halblegal, im Verborgenen passiert ist, stellen Sie jetzt
auf eine gesetzliche Grundlage.

Nehmen Sie „Piatto“. „Piatto“ war nicht nur ein we-
gen eines grauenhaften Mordversuches Verurteilter. Er
ist trotzdem nicht nur angeworben worden, sondern ihm
wurde auch noch die Möglichkeit gegeben, aus dem Ge-
fängnis in Brandenburg heraus Neonazi-Zeitschriften
wie Der Weiße Wolf herauszugeben. Als die Gefängnis-
leitung eingeschritten ist, hat der Verfassungsschutz ge-
sagt: Unser Mann muss weiterarbeiten können,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das hat doch mit dem Gesetz nichts zu tun!)


den holen wir weiter täglich mit dem Dienstwagen ab
und fahren ihn zum nächsten Neonazi-Treff.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das hat mit dem Gesetz nicht das Geringste zu tun!)


Wäre so etwas ausgeschlossen, wenn Ihr Gesetz in Kraft
tritt?


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aber selbstverständlich!)


Das wäre doch nicht ausgeschlossen, Herr Minister. Wie
soll dieses Gesetz dagegen helfen?


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist eine Frage der Ermessensausübung der Verwaltung!)


– Das ist keine Ermessensausübung,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Natürlich! Abwägung!)


sondern das ist die Ideologie, die dahintersteht:


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist Ihre Ideologie!)


dass die Verfassungsschutzbehörden der Meinung sind,
sie stünden außerhalb des Gesetzes und sie könnten ma-
chen, was sie wollen, Hauptsache, die Quelle sprudelt.
Und denen ist völlig egal, welche Quelle da sprudelt.

Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, so et-
was zu ermöglichen. Deshalb kann man diesen Gesetz-
entwurf nur ablehnen. Er hilft nämlich überhaupt
nicht gegen die Missstände, gegen die wir gemeinsam
mit einschränkenden Gesetzen vorgehen wollten. Das





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

vorliegende Gesetz ist aber kein einschränkendes Ge-
setz, das dieses Versagen in Zukunft verhindern würde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb sind wir dagegen.

Ich kann nur dringend an Sie appellieren: Packen Sie
das, was Sie uns hier vorgelegt haben, wieder ein, und
treten Sie in vernünftige Diskussionen ein! Wir haben
das ja eine ganze Legislaturperiode lang nach dem Motto
praktiziert: Die Gemeinsamkeit der Demokraten muss
sich auch in Gesprächen über das, was man in Zukunft
macht, niederschlagen und entsprechend artikuliert wer-
den. Das ist in dem von Ihnen vorgelegten Law-and-Or-
der-Gesetz, das völlig daneben ist, nicht der Fall.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810109200

Als letzter Redner in dieser Debatte hat Armin

Schuster von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1810109300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Ströbele, es ist der Debatte – das haben
viele gesagt – nicht angemessen, wenn Sie hier von ei-
nem Law-and-Order-Gesetz sprechen. Ich glaube, wir
sollten uns bei allen Unterschieden zwischen den Anträ-
gen und unserem Gesetzentwurf bewusst machen, dass
heute wieder einmal ein extrem positives Signal aus dem
Plenarsaal des Deutschen Bundestages ins Land ausge-
sendet wird.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt das noch?)


Die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses
haben im September 2013 hier ein dickes Papier abge-
liefert, und wir lassen Taten folgen – bei aller Unter-
schiedlichkeit unserer Ideen. Aber wichtig ist: Dieser
NSU-Untersuchungsausschuss hat dazu geführt, dass
wir in Deutschland Schritt für Schritt Reformen vorneh-
men, und auf diesem Weg ist der heute vorliegende Ge-
setzentwurf – das haben schon viele vor mir gesagt – ein
großer Meilenstein.

Drehen Sie uns bitte nicht das Wort im Mund herum.
Niemand – nicht der Minister und auch sonst niemand –
hat behauptet, dass die V-Leute für die Sicherheit in
Deutschland verantwortlich wären. Das ist nicht fair.


(Widerspruch des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Jetzt drehe ich einmal mein ganzes Manuskript um
und fange mit den V-Leuten an – Dr. Hahn ist jetzt ge-
rade leider nicht da –: Es ist auch ein bisschen unfair – –


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810109400

Herr Kollege Schuster, Sie sehen, dass der Wunsch

nach einer Zwischenfrage besteht.

Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1810109500

Logo; dafür sind wir ja hier.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810109600

Gut.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


„Dafür sind wir hier“, sehr gut! Da Sie, Herr Schuster,
Ihr Manuskript gerade sowieso umgedreht haben, ist es
nett, dass Sie meine Frage zulassen. – Bitte sagen Sie
einmal anhand von folgendem Beispiel etwas zu dem
Thema – Beispiele werden ja oft bemüht –: Nehmen wir
an, es kommt jemand zurück, der in Syrien schwere
Straftaten begangen, der, um das einmal zuzuspitzen,
enthauptet hat. Kann es allen Ernstes sein, dass der deut-
sche Staat mit solchen Leuten zusammenarbeitet? Kann
es allen Ernstes sein, dass wir hier qua Gesetz legalisie-
ren, dass solche Leute vom Staat Geld bekommen


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass sie unsere Sicherheit herstellen sollen!)


und wir mit diesen Straftätern zusammenarbeiten?


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1810109700

Der Gesetzentwurf regelt ja, dass wir grundsätzlich

mit solchen Leuten nicht zusammenarbeiten.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Grundsätzlich“, darum geht es ja!)


Das heißt auch – ich bin nicht Jurist, aber das weiß auch
ich –: Ausnahmen sind möglich.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steht sogar in der Begründung!)


Es sind eng begrenzte Ausnahmen. Ich habe Vertrauen in
die Menschen – im Gegensatz zu Ihnen; Sie versuchen
das immer durch Regeln herzustellen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre wurde das Vertrauen missbraucht!)


Ich habe ein großes Vertrauen auch in Menschen, die
einmal Fehler gemacht haben. Ihre moralingeschwän-
gerte Verurteilung des gesamten BfV geht mir einfach zu
weit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso regeln Sie es denn nicht?)


Ich habe Vertrauen, dass ein BfV-Präsident in der Lage
ist, in so einem Fall eine Güterabwägung vorzunehmen.

Herr Dr. Hahn, Sie sind PKGr-Vorsitzender. Es war
unfair,


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Was war unfair?)






Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)

hier zu sagen, Sie hätten noch nie ein Beispiel für die
Sinnhaftigkeit eines V-Leute-Einsatzes gehört.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ich habe den Minister zitiert!)


– Der Minister kann Ihnen diese Frage nicht beantwor-
ten; Sie wissen doch, dass er darüber schweigen muss.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ach! Quatsch!)


Sie haben in dieser Woche im PKGr live gehört – jetzt
bewege ich mich dicht an der Grenze –, dass ein V-Mann
zu weit über 20 hochgradigen Verurteilungen echter Ter-
rorgefährder beigetragen hat. Aber hier tun Sie so, als ob
es das nicht gäbe.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ob Verbrechen verhindert wurden, habe ich gefragt!)


Meine Damen und Herren, es gibt handfeste Belege
für die Wirkung von V-Leuten, über die wir hier leider
oder Gott sei Dank nicht sprechen dürfen. Aber dass Sie
verunglimpfen, dass mit diesen Leuten gearbeitet wird,
ist ein Stück weit unfaire Verhandlungsführung. Das
muss ich Ihnen sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810109800

Herr Schuster, auch Herr Hahn möchte eine Zwi-

schenfrage stellen.


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1810109900

Herr Dr. Hahn.


Dr. André Hahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810110000

Sehr geehrter Herr Kollege Schuster, würden Sie bitte

zur Kenntnis nehmen, dass ich den Minister in der Fra-
gestunde gefragt habe, ob er mir konkrete Beispiele für
Verbrechen, die durch V-Leute, auch durch V-Leute, die
strafbar geworden sind, verhindert worden sind, nennen
kann? Er hat keinen Fall nennen können. Das hat nichts
mit dem PKGr zu tun.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat nicht aus dem PKGr berichtet! Anders als Sie!)


Im vorliegenden Fall ging es um Mitgliedschaften – das
kann man ja sagen – in terroristischen Strukturen oder
verbotenen Organisationen. Das war etwas anderes als
das, was ich gefragt habe. Die Frage nach konkreter Tä-
tigkeit von V-Leuten und der Verhinderung von Verbre-
chen hat der Minister nicht beantworten können, und das
habe ich in meiner Rede kritisiert.


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1810110100

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das noch einmal klar-

stellen. Vielleicht auch für die Zuschauer: PKGr heißt
Parlamentarisches Kontrollgremium. Herr Dr. Hahn ist
im Moment der ehrenwerte Vorsitzende und weiß des-
halb wahrscheinlich am besten in diesem Parlament,
dass der Minister zu keiner Gelegenheit in einer Frage-
stunde einem Fragesteller – mag dieser noch so hochmö-
gend sein – darauf antworten darf.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso denn?)


Das darf er nicht. Ich bin Gott dankbar, dass er es nicht
getan hat. Wo kämen wir denn hin, wenn wir jetzt im
deutschen Parlament die V-Leute-Einsätze besprechen
würden? Das wissen Sie ganz genau.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Es ging um verhinderte Dinge!)


– Wenn Sie nicht aufhören, unfair zu sein, dann rede ich
jetzt gleich noch viel schlimmer über Sie.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, vom heute vorgelegten
Gesetzentwurf geht ein deutliches Signal aus, aber wir
brauchen nicht nur Aktivitäten im Bund, sondern auch in
den Ländern. Alleine schaffen wir das nicht. Im Fall des
NSU-Terrors wären tiefere Einsichten in dem einen oder
anderen Land hilfreich. Deshalb ist es nur zu begrüßen,
dass Sachsen, Thüringen, Bayern, Nordrhein-Westfalen,
Hessen und endlich auch Baden-Württemberg in eigenen
Untersuchungsausschüssen weiter aufklären.

Herr Dr. von Notz,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja?)


es ist mir völlig schleierhaft, wieso Sie sich hier hinstel-
len und mit extremer Hybris über uns herziehen, wäh-
rend man eine grün-rote Landesregierung in Baden-
Württemberg zum Jagen tragen musste. Anfangs hatte
man dort doch überhaupt keine Lust, diesen Fall aufzu-
klären.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Entschuldigen Sie bitte, aber würde ich Ihre Rede jetzt
nach Baden-Württemberg schicken, müsste Herr
Kretschmann knallrot werden; denn das trifft alles auf
ihn zu, aber nicht auf uns. Wir haben aufgeklärt. Er hat
monatelang bestritten, dass das überhaupt notwendig sei,
und stolpert jetzt von einer Krise in die nächste.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht darum, was wir hier machen! – Weiterer Zuruf der Abg. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will Ihnen einmal eines sagen – ich beruhige mich
wieder –: Das, was in Baden-Württemberg abläuft, zeigt
uns, dass es durchaus eine interessante Idee sein kann,
über einen NSU-Untersuchungsausschuss 2.0 im Bund
nachzudenken. Es gibt jedenfalls genügend Kollegen,
die dieser Meinung sind. Darüber müssen wir weiter dis-
kutieren.

Meine Damen und Herren, die Innenminister arbeiten
schon seit der letzten Wahlperiode intensiv an dem
Schritt-für-Schritt-Konzept. Wir wollen alles wahrma-
chen, was wir in den Katalog geschrieben haben. Wir





Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)

schütten aber nicht das Kind mit dem Bade aus. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Linken und von den
Grünen, unsere Sicherheitsbehörden zu reformieren
heißt – jedenfalls wenn man regiert –:


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reformen zu machen!)


Wir müssen unter akuter Terrorbedrohung für dieses
Land und mit extrem hohen Belastungen der Sicherheits-
behörden, quasi unter vollen Segeln aller Behörden,


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer trägt denn seit zehn Jahren Verantwortung dafür, dass die unter vollen Segeln arbeiten müssen?)


die Reformschritte vollziehen, die wir im NSU-Untersu-
chungsausschuss empfohlen haben. Das ist eine ganz
schwierige Aufgabe. Sie ist aber garantiert nicht dadurch
zu meistern, dass ich da jetzt etwas auflöse, hier Stiftun-
gen schaffe und dort radikale Reformvorschläge mache.
Das Land braucht jetzt funktionierende Sicherheitsbe-
hörden.

Uns gelingt es, in vernünftigen Schritten und in einer
sinnvollen Dosis zu reformieren. Ich denke an das Terro-
rismusabwehrzentrum und an die Rechtsextremismusda-
tei. Ich danke dem Justizminister für ein umfangreiches
Gesetzespaket, in dem er die Empfehlungen des NSU-
Untersuchungsausschusses umgesetzt hat. Heute danke
ich dem Bundesinnenminister für vier klare und wichtige
Schritte – das alles sind Empfehlungen des NSU-Unter-
suchungsausschusses –: Zentralstellenfunktion des Bun-
desamtes stärken, Informationsfluss verbessern, die
Analysefähigkeit von NADIS ausbauen sowie den Ein-
satz von V-Leuten klarer regeln. Wir haben immer ge-
sagt: Nicht das Ob, sondern das Wie muss geregelt wer-
den.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbst das schaffen Sie nicht!)


Das können Sie auch im Empfehlungskatalog nachlesen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ihrem Befund, Kolleginnen und Kollegen von Grünen
und Linken, kann ich folgen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na immerhin!)


Wir waren uns ja einig: Es gab strukturelle Defizite,
Missstände, Versagen, allzu häufig kleinliches Kompe-
tenzgerangel; manchmal meine ich, dass mir, wenn ich
die Innenminister der Länder höre, da etwas im Ohr klin-
gelt. Aber wir hatten diese Defizite bei allen Beteiligten:
bei Staatsanwaltschaften, bei Gerichten, bei der Polizei,
beim Verfassungsschutz;


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig richtig!)


nicht einmal den Innenausschuss des Deutschen Bundes-
tages hat dieser Fall jemals erreicht. Wollen Sie die ei-
gentlich alle auflösen?

(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Den Innenausschuss? Nein!)


Diesen Vorschlag habe ich noch gar nicht gehört: Das
hat nicht funktioniert, also lösen wir die auf. – Meine
Damen und Herren, das ist doch nicht die Lösung.

Wenn man Ihrem Vorschlag bzw. Ihrer Therapie kon-
sequent folgen würde, dann müsste man sagen: Weg mit
allen! – Das tun wir nicht. Man merkt, ich bin nachsich-
tig mit Ihnen. Sie haben ja – Gott sei Dank – noch nie ein
Innenministerium in diesem Land geleitet;


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warten Sie einmal ab!)


deswegen üben wir Nachsicht. Eigentlich müsste man
Ihre Anträge als Sicherheitsrisiko bezeichnen; aber das
tue ich natürlich nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, bei der Verfassungsschutz-
reform geht es um zwei Aspekte – eigentlich um drei,
aber den dritten bekommen wir noch nicht hin –: Es
muss besser kommuniziert werden, es muss vernetzter
kommuniziert werden, und es muss koordiniert werden.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren doch schon drei!)


Und – das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen –: Wenn
man den NSU-Fall betrachtet und Kriminaldirektor
Geier aus Bayern, dem Leiter der BAO, folgt, dann hätte
es auch einer einheitlichen Führung bedurft. Wir haben
in unserem Empfehlungskatalog aber nie gesagt, dass
der Bund das tun soll – das muss man den Ländern viel-
leicht noch einmal zurufen –, sondern wir haben gesagt:
In Ausnahmelagen wie Terrorserien, in solchen Fällen,
in denen unsere föderale Struktur den Tätern in die
Hände spielt oder in denen sie von ihnen gar bewusst ge-
nutzt wird, müssen wir eine zentrale Führung gewähr-
leisten. Wir haben auch gesagt: Sichergestellt werden
soll dies entweder durch ein Land – das hätte im NSU-
Fall Bayern sein können; das hätte auf der Hand gele-
gen – oder durch den Bund, aber bitte einheitlich.

Ich glaube nicht – da bin ich ganz ehrlich –, dass un-
ser föderales System ins Wanken gerät, wenn wir in ex-
tremen Ausnahmelagen wie im Fall von Terror die Füh-
rung in eine Hand legen. Wenn ich an die Ereignisse in
Paris, Brüssel, Kopenhagen, Dresden, Braunschweig
und Bremen denke – führen Sie sich die Kommunika-
tionsprobleme, die es bei den Ereignissen in Braun-
schweig gab, mal vor Augen; das geschah ja an einem
Wochenende; um Gottes willen! –, glaube ich nicht, dass
der Verweis auf die Verfassung und die Polizeihoheit der
Länder bei unseren Diskussionen der Weisheit letzter
Schluss sein kann.

Wir brauchen überregionale Verfahren für hochflexi-
ble Ermittlungsgruppen über Ländergrenzen hinweg.
Damit will ich nicht im Ansatz das föderale System an-
tasten; ich will es für Ausnahmesituationen krisenfest





Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)

machen. Ich will Tätern nicht die Chance geben, uns
vorzuführen, nur weil 16 Länder Verfassungsschutz und
Polizei organisieren, wovon ich in Wirklichkeit ein gro-
ßer Anhänger bin. Deshalb widerspreche ich den aktuel-
len Aussagen einiger Landesinnenminister, da ich sie für
grenzwertig halte – Zitat –:

Die Gefahrenabwehr in einem föderalen System ist
Sache der Länder …

Dass eine Bundesbehörde … eingreife oder gar den
Einsatz übernehme, sei „völlig unvorstellbar“.

Ich nenne den Namen und die Partei des Betreffenden
nicht.

Für mich war im Untersuchungsausschuss oft einiges
unvorstellbar. Dabei ging es aber nicht darum, dass in
diesem Land eigenartig geführt wird. Wo sind wir denn?


(Beifall des Abg. Tankred Schipanski [CDU/ CSU])


Deshalb, meine Damen und Herren, empfehle ich vor al-
len Dingen den Nicht-NSU-Tatortländern, sich endlich
einmal mit diesem Fall zu beschäftigen und ihre eigene
Leistungsfähigkeit an dem zu spiegeln, was wir dort
festgestellt haben.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir in die
Richtung – das ist für mich ein großer Schritt –, uns mit
den Ländern enger abzustimmen, notfalls auch ohne de-
ren Einverständnis. Ich weiß, das ärgert die. Allerdings
ist dieser Kompromiss auf einmalige Art und Weise zu-
stande gekommen. Ich habe an der Besprechung mit
dem Bundesinnenminister, zu der auch die Länder einge-
laden waren, teilgenommen. Ich fand, das war sehr ko-
operativ.

Ein Landesinnenminister sagte vor einer Woche – Zi-
tat –: „Das ist eine Aushebelung des Föderalismus“.
Nein, das ist es nicht. Wer dem Föderalismus eine Zu-
kunft geben will, der darf ihn nicht einmauern, sondern
muss ihn weiterentwickeln und krisenfest machen,
meine Damen und Herren. Ich glaube, wir dürfen des-
halb dem Bundesinnenminister für all die Kämpfe, die er
mit den Länderkollegen geführt hat, danken. Ich sehe
noch die von diesem Fall Betroffenen vor mir, die im
September 2013 oben auf der Tribüne gesessen haben.
Wir haben ihnen zugerufen: Wir versprechen euch, dass
wir Wort halten. – Durch das, was der Minister vorgelegt
hat, können wir Wort halten. Dafür bedanke ich mich,
und ich freue mich auf die Beratungen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810110200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich

die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4654, 18/710, 18/4682 und 18/4690
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Ich frage Sie: Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den nächsten Tagesordnungspunkt auf
– das ist der Tagesordnungspunkt 26 – sowie den Zu-
satzpunkt 7:

26 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Die NVV-Überprüfungskonferenz zum Er-
folg führen

Drucksache 18/4685

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Die europäische Sicherheitsstruktur retten –
Übereinkommen in Gefahr

Drucksache 18/4681

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen, und wir können mit der Aussprache begin-
nen; die Kollegen sitzen auch bereits.

Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Ute Finckh-Krämer von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1810110300

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den
Tribünen! Anlass der heutigen Debatte ist die Überprü-
fungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die am
Montag beginnt und alle fünf Jahre stattfindet.

Vor fünf Jahren gab es im Deutschen Bundestag einen
fraktionsübergreifenden Antrag. Leider ist es diesmal
nicht gelungen, wieder einen fraktionsübergreifenden
Antrag zustande zu bringen. Ich möchte ausdrücklich
betonen, dass das nicht an den Kolleginnen und Kolle-
gen aus dem Unterausschuss Abrüstung liegt.

Die SPD wollte gerne konventionelle und nukleare
Rüstungskontrolle und Abrüstung gemeinsam betrach-
ten, auch über die Themen hinaus, die voraussichtlich
bei der NVV-Überprüfungskonferenz behandelt werden.
Das wurde leider von den Verantwortlichen in der Union
abgelehnt.

Nun hat interessanterweise die Deep Cuts Commis-
sion, die aus Wissenschaftlern aus Deutschland, aus
Russland und aus den USA besteht, in ihrem zweiten
Bericht, den sie rechtzeitig zur Überprüfungskonferenz
vorgelegt hat, genau das vorgeschlagen: die eskalieren-
den Konflikte in Europa und konventionelle und nu-
kleare Abrüstung und Rüstungskontrolle gemeinsam zu
betrachten. Dass der Leiter der Münchener Sicherheits-
konferenz, Wolfgang Ischinger, genau diesen Ansatz in
seinem Vorwort zu diesem Bericht der Deep Cuts
Commission für richtig und wichtig erklärt, zeigt, dass
die Arbeit der Deep Cuts Commission auch für die klas-
sischen Sicherheitspolitiker in Deutschland interessant
ist. Ischinger verweist darauf, dass die Beobachtungs-
flüge, die im Rahmen des Open-Skies-Vertrages, also





Dr. Ute Finckh-Krämer


(A) (C)



(D)(B)

unter dem OSZE-Regime, gemacht werden, in der
Ukraine-Krise einen wichtigen Beitrag zur Deeskalation
geleistet haben, was für uns wichtig werden wird, wenn
wir in den Haushaltsberatungen über die Beschaffung ei-
ner deutschen Open-Skies-Plattform diskutieren werden.

Das Problem, vor dem wir mit der Überprüfungskon-
ferenz zum Nichtverbreitungsvertrag stehen, ist, dass
sich seit dem Inkrafttreten des New-START-Vertrages
am 5. Februar 2011 im Bereich der nuklearen Abrüstung
nicht viel getan hat. Allerdings ist – und das ist gut und
richtig so – eine Debatte um die humanitären Konse-
quenzen des Einsatzes von Atomwaffen in Gang gekom-
men, eine erneute Debatte; denn wir wissen seit dem Ab-
wurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki,
wie katastrophal die Konsequenzen eines Atomwaffen-
einsatzes sind.

Alexander Kmentt, der Leiter der Abteilung für Ab-
rüstung, Rüstungskontrolle und Non-Proliferation im ös-
terreichischen Außenministerium, formuliert daher zu
Recht – ich zitiere –:

Die Schlussfolgerungen des humanitären Diskurses
sollten zu einer tiefgreifenden Überprüfung der Ab-
schreckungstheorie führen. Die Annahme über den
Sicherheitsgewinn, den die Existenz von Atomwaf-
fen mit sich zu bringen behauptet, kann angesichts
der Erkenntnisse über die schwerwiegenderen Aus-
wirkungen und größeren Risiken kaum aufrechter-
halten werden. Das Beharren auf Nuklearwaffen ist
ein letztlich unverantwortliches Glücksspiel, das
auf einer Illusion von Sicherheit aufbaut. Das Ver-
trauen der „Abschreckungs-Realisten“ auf diese
Illusion ist daher die eigentliche „Utopie“, während
ein klarer Fokus auf Prävention und nukleare Ab-
rüstung als die einzig nachhaltige und „realpoli-
tisch“ vernünftige Konklusion gelten muss.

Die Ungeduld der Staaten, die auf ihrem Territorium
keine Atomwaffen dulden, wächst daher zu Recht und
ebenso die Ungeduld internationaler Organisationen wie
der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von
Atomwaffen – ICAN –, der International Physicians for
the Prevention of Nuclear War – IPPNW –, der Mayors
for Peace, aber auch des Internationalen Komitees vom
Roten Kreuz, die sich intensiv mit den Risiken des er-
neuten nuklearen Wettrüstens auseinandersetzen, oder
auch der Global-Zero-Bewegung, die von hochrangigen
Politikern und Diplomaten aufgrund ihrer Erfahrungen
aus dem Kalten Krieg mit initiiert wurde.

Ich möchte an dieser Stelle daher all denen danken,
die sich in diesen und vielen weiteren Organisationen
meist ehrenamtlich für eine Welt ohne Atomwaffen en-
gagieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Engagement und ihre Fachkunde sind unverzichtbar
für alle, die sich in Regierungen und Parlamenten für nu-
kleare Rüstungskontrolle und Abrüstung einsetzen.
Ebenso möchte ich denjenigen danken, die als Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler Vorschläge zu nu-
klearer Rüstungskontrolle und Abrüstung erarbeiten.

Die Verhandlungen um das iranische Nuklearpro-
gramm zeigen, was geduldige und hartnäckige diploma-
tische Bemühungen bewirken können. Wir können stolz
darauf sein, dass neben den fünf offiziellen Atommäch-
ten auch Deutschland daran beteiligt war und ist.

Wenn – wie in den letzten Jahren – Konflikte eskalie-
ren, werden Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht
überflüssig, sondern – im Gegenteil – notwendiger als
zuvor. Das ist eine der Lehren, die Politikerinnen und
Politiker in aller Welt aus dem Kalten Krieg gezogen ha-
ben. Ich hoffe, dass auf der Überprüfungskonferenz die-
jenigen Gehör finden, die sich im Sinne von Alexander
Kmentt als Realpolitiker erweisen, also konstruktive
Vorschläge machen, wie wir dem Ziel einer Welt ohne
Atomwaffen näherkommen können.

Ich bitte daher um Zustimmung zum gemeinsamen
Antrag der SPD und der Union. Ich bin aber dafür, dass
wir den Antrag der Linken ablehnen, der sich sehr viel
stärker mit dem befasst, was von Politikern und Diplo-
maten in letzter Zeit an unsinnigen Forderungen aufge-
stellt worden ist, als mit dem, was konstruktiv zum Er-
folg der Überprüfungskonferenz beitragen kann.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810110400

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Inge Höger

von der Linken das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810110500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 70 Jahre

nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Na-
gasaki gelingt es immer noch nicht, diese schrecklichen
Massenvernichtungswaffen endlich abzuschaffen. Das
liegt in erster Linie an den fünf offiziellen Atommäch-
ten. Es liegt an den USA, Russland, Frankreich, Großbri-
tannien und China, die an ihren Bomben festhalten. Es
liegt auch an den inoffiziellen Atomwaffenstaaten, die
durch den Besitz dieser Bomben ihren Einfluss in der
Welt vergrößern wollen.

Es ist bezeichnend, dass die Koalitionsfraktionen in
ihrem Antrag eine gemeinsame europäische Position
einfordern. De facto bedeutet das nichts anderes, als dass
man sich der Abrüstungsverweigerung der Regierungen
Frankreichs und Großbritanniens anschließt. Da macht
die Linke nicht mit,


(Beifall bei der LINKEN)


und wir sind uns da mit den Friedensbewegungen in
Frankreich und England einig.

Nun ist es leicht, von diesem Pult aus den mangeln-
den Abrüstungswillen anderer Staaten zu kritisieren.
Doch Abrüstung beginnt vor der eigenen Haustür.


(Beifall bei der LINKEN)






Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)

Union und SPD erzählen in ihrem Antrag viel über
Deutschlands Anstrengungen für Abrüstung, Rüstungs-
kontrolle und andere hehre Ziele. Doch wenn es konkret
wird, ist davon überhaupt nichts mehr zu sehen. Immer
noch lagern in Büchel 20 US-Atomsprengköpfe. Sie ha-
ben jeweils eine Sprengkraft von 20 Hiroshima-Bom-
ben. Anstatt sie endlich zu vernichten, werden sie in den
kommenden Jahren modernisiert, um sie leichter ein-
satzfähig zu machen. Für den Ernstfall hält die Bundes-
wehr Tornado-Flugzeuge vor, die Atomwaffen transpor-
tieren und abwerfen können. Bundeswehrsoldaten
werden eigens für den Zweck eines Atomkrieges ausge-
bildet.

Solange die Bundesregierung auf diese Art und Weise
den USA Beihilfe zu einem potenziellen Atomkrieg leis-
tet, so lange bleiben Ihre rhetorischen Anstrengungen,
die Sie hier oder in New York ableisten, pure Heuchelei.
Sorgen Sie endlich dafür, dass alle Atomwaffen aus
Deutschland abgezogen werden!


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia KottingUhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In den Feststellungen des Koalitionsantrages singen
Sie das schon oft gehörte Lied von den Bösen und den
Guten – und natürlich von der ganz besonders guten
Bundesregierung, die sich überall in der Welt fleißig für
Abrüstung einsetzt. Dass davon wenig zu halten ist, habe
ich eben skizziert.

Aber auch Ihre Geschichte von den bösen Russen und
der guten NATO fällt typischerweise sehr einseitig aus.
Zur Eskalation gehören immer zwei Seiten. Bitte verges-
sen Sie nicht, dass die NATO durch ihre Osterweiterung
und aktuell durch die Stationierung von Truppen im Bal-
tikum maßgeblich zur gespannten Situation in Osteuropa
beiträgt.

Den Antrag der Koalitionsfraktionen lehnen wir ab.
Frieden und Abrüstung erreicht man nur durch konkrete
Abrüstungsschritte.

Es ist schon interessant: CDU/CSU und SPD weisen
in ihrem Antrag darauf hin, dass die Ukraine 1994 nur
gegen die Garantie ihrer territorialen Integrität auf ihre
Atomwaffen verzichtet hat.


(Niels Annen [SPD]: Auf die territoriale Integrität scheinen Sie ja nicht viel Wert zu legen!)


– Ich lege großen Wert darauf. – Ich kann mich noch gut
erinnern, dass das Geschrei groß war, als Kriegsgegne-
rinnen und Kriegsgegner 1998 anmerkten, die NATO
würde Belgrad vielleicht nicht bombardieren, wenn
Jugoslawien Atombomben hätte. So ändern sich die Zei-
ten.

Auf eines ist allerdings Verlass: Die Linke lehnt jeden
Völkerrechtsbruch ab und setzt sich auch weiterhin für
die Abschaffung aller Atomwaffen ein.


(Beifall bei der LINKEN)


Es freut mich, dass die Koalition die massenvernich-
tungswaffenfreie Zone im Nahen Osten voranbringen
will. Aber auch hier würde ich mir statt der bisherigen
Sprechblasen ein beherztes Handeln von der Bundesre-
gierung wünschen. Für einige Staaten – das wissen Sie
alle – hängt der Fortbestand des Atomwaffensperrvertra-
ges von Fortschritten bei diesem Thema ab. Es wird bei
der Überprüfungskonferenz in New York von zentraler
Bedeutung sein, ob es im Nahen und Mittleren Osten zu
einer atomwaffenfreien Zone kommt.

Ein echtes Zeichen für Deeskalation und Abrüstung
ist es, wenn Sie gleich für den Antrag der Fraktion Die
Linke stimmen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das wird nichts!)


Wir bleiben dabei: Atomwaffen gehören auf den Müll-
haufen der Geschichte. Es wäre wünschenswert, wenn
die New Yorker Konferenz in den nächsten Wochen ei-
nen Schritt in diese Richtung macht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810110600

Als nächster Redner hat Dr. Andreas Nick von der

CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Andreas Nick (CDU):
Rede ID: ID1810110700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor fast genau 70 Jahren, im August 1945, beendete der
erstmalige Einsatz von Atomwaffen in Hiroshima und
Nagasaki auch in Asien den Zweiten Weltkrieg. Hunder-
tausende Menschen starben; viele leiden teilweise bis
heute unter den Folgen. Vier Jahre später zündete auch
die Sowjetunion ihre erste Atombombe.

Das Gleichgewicht des Schreckens der folgenden
40 Jahre zwischen den beiden atomaren Supermächten,
der nukleare Friede, beruhte letztlich auf der glaubhaften
Androhung wechselseitiger Vernichtung, der Mutual As-
sured Destruction, deren Kürzel „MAD“ wohl nicht zu-
fällig dem englischen Wort für „verrückt“ entspricht.

Spätestens mit der Kuba-Krise 1962 wurde deutlich,
wie nah sich die Welt am Abgrund einer atomaren Ver-
nichtung bewegte. Die Atommächte trugen damit eine
besondere Verantwortung. Trotz aller Gegensätze war
ein hohes Maß an Berechenbarkeit und Vertrauensbil-
dung auf beiden Seiten gefordert. In der Folge – nicht
zuletzt der Kuba-Krise – kam es 1968 dann zum Ab-
schluss des Vertrages über die Nichtverbreitung von
Kernwaffen mit drei zentralen Pfeilern:

Erstens. Die Zahl der Nuklearmächte sollte weltweit
nicht weiter ansteigen und auf die fünf ständigen Mit-
glieder des UN-Sicherheitsrates begrenzt bleiben.

Zweitens. Im Gegenzug wurde den atomwaffenfreien
Staaten das uneingeschränkte Recht auf friedliche Nut-
zung der Kernenergie eingeräumt.

Drittens. Die Atommächte selbst verpflichteten sich,
Verhandlungen mit dem Ziel einer vollständigen nuklea-
ren Abrüstung zu führen.





Dr. Andreas Nick


(C)



(D)(B)

Die Abrüstungsverträge über nukleare Mittelstreckenra-
keten INF und über strategische Trägersysteme START
waren wichtige Meilensteine in der Beendigung des Kal-
ten Krieges.

Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen. In ei-
ner multipolaren Welt mit einer Vielzahl von Akteuren
ist die Gefahr regionaler nuklearer Rüstungswettläufe
deutlich angestiegen. Inzwischen gibt es mindestens vier
zusätzliche Staaten, die über Atomwaffen verfügen. Ins-
besondere der indische Subkontinent mit den beiden ri-
valisierenden Atommächten Indien und Pakistan, aber
auch Ostasien mit Nordkorea und nicht zuletzt der Mitt-
lere Osten bergen ein großes Konflikt- und Eskalations-
potenzial.

Mit der Verfügbarkeit sogenannter taktischer Nu-
klearwaffen droht eine Absenkung der Einsatzschwelle
mit der Gefahr, dass ein vermeintlich begrenzter nuklea-
rer Krieg führbar erscheinen könnte. Umso bedenklicher
ist, dass mit Russland auch eine der Atommächte in
jüngster Zeit seine substrategischen Nuklearwaffen mo-
dernisiert und Drohungen mit nuklearen Waffen offenbar
wieder Teil der russischen Außenpolitik zu werden
scheinen.

Vor allem aber ist die Entwicklung in der Ukraine ein
massiver Rückschlag für das Ziel der Nichtverbreitung
von Kernwaffen. Im Gegenzug zur Abgabe der früheren
sowjetischen Atomwaffen war der Ukraine im Budapes-
ter Memorandum von 1994 die Achtung ihrer territoria-
len Integrität sowie die Wahrung ihrer politischen und
wirtschaftlichen Unabhängigkeit zugesichert worden,
auch unmittelbar durch Russland. Mit der völkerrechts-
widrigen Annexion der Krim und dem militärischen Vor-
gehen im Osten der Ukraine hat Russland diese Verein-
barung in eklatanter Weise verletzt.

Meine Damen und Herren, wenn aber internationale
Vereinbarungen wie das Budapester Memorandum kei-
nen verlässlichen Bestand mehr haben, dann ist doch
kaum zu erwarten, dass künftig noch irgendein Staat auf
der Welt freiwillig auf den einmal erreichten Besitz von
Atomwaffen verzichten wird. Im Gegenteil: Wenn sich
der Eindruck weiter verstärkt, nur dies würde sie in die
Lage versetzen, ihre staatliche Souveränität und territo-
riale Integrität dauerhaft zu sichern, dann werden insbe-
sondere kleinere Staaten mehr und mehr versucht sein,
Kontrolle über Atomwaffen zu erlangen. Nuklearwaffen
wären quasi die ultimative Währung nationaler Souverä-
nität.

Dies verdeutlicht einmal mehr: Nukleare Abrüstung
und Nichtverbreitung von Kernwaffen können nicht iso-
liert erreicht werden, sondern nur, wenn sie in eine ver-
lässliche globale Friedensordnung und in ein robustes
System regionaler Sicherheitsstrukturen eingebettet
sind.

Es gibt aber auch ermutigende Entwicklungen. Dazu
gehört zweifelsohne, dass nach langjährigen Bemühun-
gen in Lausanne eine Einigung über die Eckpunkte einer
Vereinbarung im Hinblick auf das iranische Atompro-
gramm erzielt werden konnte, nicht zuletzt auch durch
den beharrlichen Einsatz unserer Bundesregierung, der
wir dafür ausdrücklich unseren Dank aussprechen. Wenn
damit der Anreiz zu einem nuklearen Wettlauf in der Re-
gion erheblich gesenkt werden kann, wäre dies ein wich-
tiger Schritt zu der vorgeschlagenen Errichtung einer
massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren Os-
ten. Zusammen mit unseren Partnern in der EU und der
Nichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative NPDI wer-
den wir auf die baldige Umsetzung hinarbeiten.

Die Vereinbarungen von Lausanne zeigen aber auch
die zentrale Bedeutung der internationalen Atomenergie-
behörde IAEO bei der Überwachung der zivilen Nut-
zung der Kernenergie. Dabei geht es gar nicht nur um
die Nichtverbreitung von Atomwaffen, sondern insbe-
sondere auch um die Überwachung des Verbleibs spalt-
baren Materials; denn es muss uns klar sein: Auch eine
mit nuklearem Material versetzte sogenannte schmutzige
Bombe könnte in den Händen von Terroristen oder ande-
ren nichtstaatlichen Akteuren verheerende Folgen ha-
ben.

Meine Damen und Herren, die von Nuklearwaffen
ausgehenden Bedrohungen für den Fortbestand der
Menschheit sind weiterhin gewaltig. Eine weltweite
vollständige nukleare Abrüstung, das auch von Präsident
Obama eingeforderte Global Zero, muss deshalb unser
langfristiges Ziel bleiben.

Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaf-
fen ist dafür ein wichtiger Meilenstein der internationa-
len Ordnung. Gemeinsam mit unseren Partnern wird sich
Deutschland daher aktiv für einen positiven Abschluss
der Überprüfungskonferenz im kommenden Mai einset-
zen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810110800

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Agnieszka

Brugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In vier
Tagen beginnt die Überprüfungskonferenz zum Nicht-
verbreitungsvertrag. Es ist das wichtigste Regime in der
internationalen Abrüstungspolitik. Die Verhandlungen
stehen leider unter keinem guten Stern, und die Erwar-
tungen sind mehr als bescheiden. Man hofft darauf, dass
man das, was man vor fünf Jahren erreicht hat, noch ein-
mal festschreiben kann und dass es überhaupt zu einer
Einigung kommt.

Liebe Kollegin Höger, ich meine, man kann an die-
sem Koalitionsantrag zu Recht viel kritisieren, aber die
Forderung, dass sich die EU mit Blick auf diese so wich-
tige Konferenz um eine gemeinsame Position bemühen
solle, ist richtig und unterstützenswert. Ich finde, es wäre
ein Drama, wenn die Europäische Union in dieser wich-
tigen Frage keine einheitliche Haltung hätte. Das wäre

(A)






Agnieszka Brugger


(A) (C)



(D)(B)

ein großer Rückschritt für die internationale Abrüstungs-
politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass sich die in-
ternationalen Rahmenbedingungen für Abrüstung in den
letzten Jahren – gerade im Zusammenhang mit der
Ukraine-Krise – verschlechtert haben, dann sollte man
nicht so darauf reagieren wie die Bundesregierung und
nur lethargisch die Achseln zucken. Genau das machen
Sie von der Koalition mit Ihrem Antrag. Vielmehr sollte
man sagen: Gerade weil die Lage so schlecht ist, muss
man Ausschau halten, wo es neue Ideen und Initiativen
gibt und wo neue Dynamik entsteht.

Es gibt beispielsweise, aus der Zivilgesellschaft ange-
stoßen, die Humanitäre Initiative, die die fatalen ökolo-
gischen, aber auch humanitären Folgen eines Atomwaf-
feneinsatzes kritisiert. Mittlerweile sind 155 Staaten
dieser wichtigen Initiative beigetreten, die viel Dynamik
und Hoffnung in die Debatte gebracht hat. Deutschland
war aber mit Verweis auf seine NATO-Mitgliedschaft
bisher nicht dazu bereit.

Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, for-
dern jetzt in Ihrem Antrag, dass Deutschland sich weiter
an den Diskussionen beteiligen soll. Kleiner geht es
wohl nicht mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie weitere konkrete Ideen aussehen könnten und was
Deutschland selbst tun könnte, um neue Bewegung in
das Thema hineinzubringen, haben wir schon vor Wo-
chen in unserem grünen Antrag deutlich aufgezeigt. Es
wäre gut gewesen, wenn Sie ihn noch einmal gelesen
und sich ein bisschen daraus bedient hätten. Denn Ihre
lustlose und ideenlose Haltung zur Humanitären Initia-
tive ist nur ein Beispiel, warum Ihr Antrag wenig über-
zeugend ist.

Ihr Antrag bedeutet auch einen Rückschritt. Vor fünf
Jahren hat sich der gesamte Bundestag nach langen Ver-
handlungen auf eine gemeinsame Position verständigen
können. Es war ein sehr wichtiges Zeichen, das von die-
sem Parlament aus auch bis in die Verhandlungen der
Überprüfungskonferenz hineingestrahlt hat, was interna-
tional sehr breit wahrgenommen wurde. Wir waren zu
Verhandlungen bereit. Es gab auch erste Gespräche. Sie
sind ausgestiegen. Ich finde das parteipolitisch kleinka-
riert. Das ist die Arroganz dieser Großen Koalition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie hätten noch einmal den alten, guten Antrag lesen
sollen. Wir haben uns damals auf die Forderung geei-
nigt, dass die 20 US-amerikanischen Atombomben, die
sich derzeit noch in Büchel in Rheinland-Pfalz befinden,
abgezogen werden sollen. Ein atomwaffenfreies Deutsch-
land ist doch ein wichtiges Ziel, gerade wenn man auf in-
ternationaler Ebene glaubwürdig für nukleare Abrüstung
streiten will. Das ist, finde ich, das Schlimmste an Ihrer
Initiative: In dem von Ihnen vorgelegten Antrag findet
sich diese Forderung nicht mehr. Sie haben sich damit
offensichtlich von diesem Ziel verabschiedet. Das ist
völlig falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Antrag wirft uns damit um Jahre zurück. Ich kann
auch nicht verstehen, wie eine Partei wie die SPD, die
den Anspruch an sich hat, Friedens- und Abrüstungspar-
tei zu sein, so etwas unterstützt. Das ist mir wirklich
schleierhaft.

Ebenso schleierhaft ist mir auch, warum der Kollege
Carsten Müller aus der Union in der letzten Debatte zu
unserem grünen Antrag vom „sicheren Schoß der nu-
klearen Teilhabe der NATO“ gesprochen hat. Das ist in
doppelter Hinsicht Humbug: Diese Waffen haben keinen
militärischen Zweck, und Atomwaffen bzw. Massenver-
nichtungswaffen machen die Welt nicht sicherer. Nur
Abrüstung bringt am Ende des Tages mehr Frieden und
Sicherheit für alle.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
es wäre besser gewesen, wenn Ihre ideenlose und mut-
lose Initiative den Bundestag nicht erreicht hätte. Denn
sie revidiert eine zentrale Position und bringt uns keinen
Schritt weiter in der Forderung nach einem Deutschland,
das frei ist von Atomwaffen. Wer so wenig Engagement
in dieser Frage zeigt, kann sich zwar den Erfolg der
Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag
wünschen. Er muss sich aber auch fragen lassen, was er
selbst dazu beigetragen hat.

Wir Grüne werden weiter dafür streiten, dass
Deutschland der Humanitären Initiative beitritt und sich
für die weltweite Ächtung der Atomwaffen einsetzt und
dass die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen wer-
den. Wir werden auch weiter gegen einen gefährlichen
Modernisierungskurs bei diesen Massenvernichtungs-
waffen streiten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810110900

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang

Hellmich von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Wolfgang Hellmich (SPD):
Rede ID: ID1810111000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut,
dass der Bundestag in vielen Debatten immer wieder die
gemeinsame Position deutlich gemacht hat: Wir wollen
eine Welt ohne Atomwaffen. Ich denke, diese Aussage
eint uns.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Wolfgang Hellmich


(A) (C)



(D)(B)

Wir waren in dieser Frage schon einmal wesentlich
weiter. Ich denke an das Jahr 2010, in dem dieser Bun-
destag einen gemeinsamen Beschluss – ich glaube, da-
mals ohne die Linken – gefasst hat, in dem eine gemein-
same Position für die Überprüfungskonferenz formuliert
wurde. Das hat die Konferenz im Jahr 2010 vorange-
bracht.

Wir sollten uns darum bemühen, dass wir durch einen
gemeinsamen Beschluss dieses Parlaments auch zu der
jetzt anstehenden Konferenz Ideen einbringen und dem
Prozess einen Schub verleihen, damit die Konferenz, die
in der Tat – mehrere haben es hier beschrieben – unter
einem nicht gerade guten Stern steht – sie steht vielmehr
unter einem schlechten Stern; ich erinnere an die ver-
schärfte internationale Lage –, trotzdem zu guten Ergeb-
nissen in einem Abschlussdokument kommt, die die
Konferenz weiterbringen und die das System von Abrüs-
tungsverträgen als Kern einer weltweiten Friedensord-
nung am Leben erhalten bzw. weiterbringen.

Wir leben in einem Jubiläumsjahr. Es ist daran erin-
nert worden: Vor 70 Jahren gab es den ersten Abwurf
von Atombomben, vor 100 Jahren die erste Anwendung
von Giftgas im Ersten Weltkrieg. Wir leben in einem
Jahr, in dem viele schreckliche Ereignisse ihren Jahres-
tag haben. Wir können in diesem Jahr aber auch deutlich
machen: Ohne internationale Verträge und ohne das ge-
meinsame Formulieren gleicher Ziele, ohne den Willen,
zu Abrüstungsschritten zu kommen, werden wir aus der
Rüstungsdynamik nicht herauskommen. Wir müssen
eine Dynamik hin zu mehr Abrüstung erreichen. In die-
sem Zusammenhang spielt die Überprüfungskonferenz
eine wichtige Rolle. Es müssen dort Schritte vereinbart
werden, damit der gemeinsame Wille zur Abrüstung
deutlich wird.

Die Kernaufgabe liegt bei den Großen in dieser Welt,
bei denjenigen, die entscheidend über die Frage von
Atomwaffen verhandeln. Von denen erwarten viele Staa-
ten gerade im Zuge der Konferenz, dass man bei den
Verhandlungen weiterkommt. Das betrifft auch die Ver-
handlungen über den Abzug von Atomwaffen aus
Europa. Das ist keine unilaterale Veranstaltung, sondern
das ist eine bilaterale Frage, die in den Verhandlungen
zwischen Russland und den USA geklärt werden muss.
Das muss im Mittelpunkt der Gespräche auch dieser
Konferenz stehen, damit klar ist, wo die Verantwortung
liegt. Es geht auch darum, den Staaten, die auch Unter-
zeichner des NVV sind und die keine Atomwaffen ha-
ben, aber vielleicht danach streben, deutlich zu machen,
dass wir auf dem Weg zur Abrüstung atomarer Waffen
klare und deutliche Fortschritte erzielen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist richtig: Gespräche über atomwaffenfreie Zonen
im Nahen Osten und in anderen Regionen der Welt zu
führen, muss auch das Bestreben der Bundesregierung
sein. Wenn ich die Gespräche, auch die Beratungen im
Unterausschuss, richtig verstanden habe, ist es nicht so,
dass unsere Regierung die Hände in den Schoß legt; viel-
mehr bemüht sie sich in vielen Gesprächen und auf vie-
len internationalen Konferenzen, in dieser Frage ein
Stück weit weiterzukommen. Sie setzt sich dafür ein, die
Finanzierung der Internationalen Atomenergie-Organi-
sation so zu gestalten, dass sie auch als Verifikationsor-
gan gestärkt wird. Sie bemüht sich – das ist ein wesentli-
cher Punkt –, den NVV nicht isoliert zu betrachten,
sondern ihn in andere Abrüstungs- und Vertragssysteme
einzubeziehen, den Atomteststoppvertrag CTBT weiter-
zuentwickeln und weitere Unterzeichner für diesen Ver-
trag zu gewinnen.

Wir müssen in der Tat zu einem gemeinsamen euro-
päischen Standpunkt kommen. Ich denke, im Kern der
europäischen Strategie, die zu formulieren ist, wird auch
die Frage der atomaren Abrüstung und der Weiterent-
wicklung der Abrüstungsregime eine zentrale Rolle spie-
len müssen. Auch in dieser Hinsicht bemüht sich die
Bundesregierung, die Diskussion weiterzubringen. Be-
richte liegen auf dem Tisch. Ich denke, das ist ein Punkt,
wo die Bundesregierung unter Beweis stellt, dass sie
sich aktiv dafür einsetzt, dass es zu weniger atomarer
Rüstung kommt.

Es gibt aber einen Zusammenhang, den wir sehen und
den wir diskutieren müssen. Wir können den NVV und
andere Verträge nicht losgelöst von der konventionellen
Rüstung sehen. Wenn in der Militärdoktrin der Russi-
schen Föderation steht, Russland behalte sich das Recht
vor, als Antwort auf den Einsatz von Atomwaffen oder
anderen Massenvernichtungswaffen gegen sie und/oder
ihre Verbündeten sowie bei einer Aggression gegen die
Russische Föderation unter Einsatz konventioneller
Waffen Atomwaffen einzusetzen, dann sieht man den
Zusammenhang zwischen dieser Strategie und den
Atomwaffen.

Ich komme zum Schluss: Die Fortsetzung des KSE-
Prozesses, die Aufnahme weiterer Gespräche, die Be-
kräftigung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Platt-
form zur Rüstungskontrolle im Rahmen des Wiener Do-
kumentes – das sind die richtigen Signale. Damit leisten
wir auf der europäischen Ebene die Beiträge, die wir
dringend brauchen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Stimmen
Sie bitte diesem Antrag zu. Ich fordere alle, die in New
York bei den Diskussionen dabei sein werden, auf, dies
aktiv zu vertreten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810111100

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Hans-

Peter Uhl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1810111200

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Am kommenden Montag kommen die Teil-
nehmer zur neunten Überprüfungskonferenz zum Atom-
waffensperrvertrag in New York zusammen. Die Bilanz
ist aus heutiger Sicht durchwachsen. Die letzte Überprü-





Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)

fungskonferenz im Jahr 2010 sendete noch positive Si-
gnale aus. Erstmals seit 2000 konnte man sich wieder
auf ein Abschlussdokument verständigen. Zudem wurde
ein Aktionsplan verabschiedet. Die Vorbereitungen für
diese Konferenz im Jahr 2015 zeigen jedoch: Trotz der
positiven Signale aus dem Jahr 2010 ist es nicht zu einer
stärkeren Annäherung der Teilnehmer gekommen. Bei
vielen Themen liegen die Positionen diametral auseinan-
der.

Die aktuelle weltpolitische Lage belastet die Konfe-
renz in der Tat zusätzlich. Die Annexion der Krim durch
Russland bedeutet einen schweren Rückschlag für den
Bereich der nuklearen Abrüstung. Russland verletzt mit
der Annexion das Völkerrecht. Das wird allgemein so
gesehen. Insbesondere aber der Bruch des Budapester
Memorandums von 1994 ist ein schwerer Schlag. In die-
sem Memorandum wurden der Ukraine die Unabhängig-
keit und die politische Integrität garantiert. Im Gegenzug
verpflichtete sich Kiew, dem Atomwaffensperrvertrag
beizutreten und die Rückführung aller Atomwaffen nach
Russland durchzuführen. Russlands Vertragsbruch ist fa-
tal. Sein Verhalten ist kontraproduktiv für die weltweiten
Bemühungen, eine neue Dynamik nuklearer Aufrüstung
zu vermeiden. Hinzu kommt, dass Moskau in jüngster
Zeit seine Nuklearwaffen nicht abrüstet, sondern moder-
nisiert und deren Einsatzschwelle absenkt. Drohungen
mit nuklearen Mitteln gehören wieder zur russischen
Rhetorik.

Umso erfreulicher sind die positiven Signale aus Lau-
sanne von Anfang April. Die Verhandlungen zu einem
geordneten Atomprogramm mit dem Iran sind auf einem
guten Weg. Die Verständigung über Eckpunkte ist auch
dem unermüdlichen Einsatz des deutschen Außenminis-
ters Frank-Walter Steinmeier zu verdanken, und das
sollte hier erwähnt werden. Alle Unterstützung muss nun
einem erfolgreichen Verhandlungsabschluss mit dem
Iran bis zum Sommer gelten.

Der Atomwaffensperrvertrag ist als Stabilitätsanker
heute wichtiger denn je. Deutschland ist bereit, mehr au-
ßenpolitische Verantwortung zu übernehmen. Dazu ge-
hört auch, dass wir international weiterhin eine wichtige
und aktive Rolle bei Abrüstung und Nichtverbreitung
von Atomwaffen einnehmen. Deshalb muss die deutsche
Delegation ihr ganzes diplomatisches Verhandlungsge-
schick nutzen, um trotz schwieriger Bedingungen ver-
nünftige Abrüstungsvereinbarungen zu erreichen.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810111300

Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte

hat Dr. Katja Leikert, ebenfalls von der CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.


Dr. Katja Leikert (CDU):
Rede ID: ID1810111400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn es ein internationales Rüstungskontroll-
regime gibt, für das wir uns starkmachen sollten, dann ist
das allen voran das Nichtverbreitungsregime. Durch
seine klaren Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren
hat der NVV die Spielregeln zwischen den Staaten mit
Blick auf Erwerb und Entwicklung von Kernwaffen so-
wie die zivile Nutzung von Nukleartechnologie unmiss-
verständlich festgelegt. Für mich steht fest, dass er in
den letzten 45 Jahren unsere Welt sicherer gemacht und
erheblich zu mehr Vertrauen zwischen den Staaten bei-
getragen hat.

Beachtliche 190 Staaten haben das Vertragswerk mitt-
lerweile unterzeichnet. Lediglich Indien, Israel, Pakistan
und Südsudan sind keine Mitglieder, und Nordkorea
zähle ich nicht mehr dazu. Iran gehörte hingegen zu den
ersten Unterzeichnerstaaten im Jahr 1968.

In wenigen Tagen beginnt die Überprüfungskonferenz
zu diesem sogenannten Atomwaffensperrvertrag, und es
liegt an uns, dass wir uns für ein erfolgreiches Gelingen
einsetzen; denn es bestehen weiterhin große Herausfor-
derungen, bis wir die Global Zero, also eine Welt ohne
Atomwaffen, erreichen. So verfügen heute Indien, Pakis-
tan und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Nordkorea
über Atomwaffen.

Neben dem Problem der Weiterverbreitung ist auch
das Thema „Abrüstung bei Kernwaffenstaaten“ nach wie
vor aktuell. Immerhin ist die Zahl der weltweit statio-
nierten Atomsprengköpfe in den letzten fünf Jahren um
mehr als ein Viertel gesunken: von 22 000 auf 16 000.
Aber erstens sind das natürlich immer noch viel zu viele
Sprengköpfe, und zweitens arbeiten die Atomwaffen-
staaten nach wie vor an der Modernisierung ihrer Nukle-
arsysteme, allen voran Russland. Gerade mit Blick auf
die unverhohlenen Drohungen mit dem Einsatz nuklea-
rer Mittel durch Russland kann ich die Putin-Versteher
einmal weniger verstehen. Wer sich über sämtliche Be-
stimmungen des Völkerrechts hinwegsetzt, ist nicht im
21. Jahrhundert angekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dagmar Ziegler [SPD]: Jawohl, recht hat sie!)


Da manche Staaten zur Sicherung ihres Überlebens nach
wie vor auf Realpolitik der alten Schule setzen wie Auf-
rüstung und Expansion, bleibt die Bemühung um inter-
nationale Regeldurchsetzung gerade in dem hochsen-
siblen Bereich der Kernwaffen für mich so aktuell wie
vor 45 Jahren.

Jetzt steht die nächste Überprüfungskonferenz zum
NVV an. Wir von der schwarz-roten Koalition nehmen
dies zum Anlass, die Bundesregierung aufzufordern,
verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, damit eine
neue Dynamik nuklearer Aufrüstung und eine Weiter-
verbreitung von Atomwaffen vermieden werden.

Es wäre jetzt natürlich leicht, angesichts dieser globa-
len Dimension zu sagen: Die Herausforderungen sind zu
groß. Man sollte die Erwartungen an die Überprüfungs-
konferenz so niedrig wie möglich hängen. – Da ist es na-
türlich wie immer im Leben: Wenn man keine Erwartun-
gen hat, dann kann man auch nicht enttäuscht werden.
So einfach können wir uns das nicht machen.





Dr. Katja Leikert


(A) (C)



(D)(B)


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist eine tolle Logik!)


Bei allen Schwächen eines internationalen Regimes
gibt es auch sehr viel Positives. Iran ist das beste Bei-
spiel. Ich bin überzeugt davon, dass überhaupt nur durch
die offenen Kommunikationskanäle, die das NV-Regime
bietet, der aktuelle Verhandlungserfolg erzielt werden
konnte. Natürlich waren wir alle skeptisch. Ich denke je-
doch, dass angesichts der Verhandlungen Optimismus
nun umso mehr begründet ist.

Dank der auch von deutscher Seite so engagiert ge-
führten Verhandlungen ist der Weg Irans zur Atom-
bombe nun langfristig ausgeschlossen. Teheran ver-
pflichtet sich ganz konkret, in den kommenden zehn
Jahren mehr als zwei Drittel der bestehenden Urananrei-
cherungskapazitäten stillzulegen. Über 95 Prozent des
bereits angereicherten Urans sollen entweder verdünnt
oder außer Landes gebracht werden. Was die kommen-
den Jahre angeht, so sollen die Anreicherung und For-
schung ausschließlich zu zivilen Zwecken und nur in en-
gen Grenzen erlaubt sein – bei engmaschigen Kontrollen
durch die IAEO.

Der Hebel, mit dem die E3+3 den Durchbruch bei den
Nuklearverhandlungen erzielt haben, sind ganz klar die
wirtschaftlichen Anreize. Dazu werden die Sanktionen
schrittweise gelockert. Wir sehen also ein ganz realpoli-
tisches Geben und Nehmen. Vielleicht ist das auch eine
Blaupause für all diejenigen Staaten, die bisher dem
NVV noch nicht viel abgewinnen konnten.

Was wir aus den E3+3-Verhandlungen ebenfalls mit-
nehmen können: Deutschland kommt seiner internatio-
nalen Verantwortung als westlicher Nichtnuklearwaffen-
staat erfolgreich nach und sollte dies weiterhin verstärkt
tun. Ich finde, wir haben eine besondere Vermittlerrolle
zwischen den Nuklearwaffenstaaten und den Nichtnuk-
learwaffenstaaten. Ich sage dies ganz bewusst mit Blick
auf die anstehende Überprüfungskonferenz und auch vor
dem Hintergrund der hier im Hause geführten Diskussio-
nen der vergangenen 25 Jahre über Deutschlands Rolle
in der Welt: Es gibt keinen Grund für eine Zurückhal-
tung mit unseren Positionen. Der multilaterale Kurs in
sämtlichen Bereichen unserer Außenpolitik, auch in der
Abrüstungspolitik, ist richtig. Die umsichtige und zu-
gleich unmissverständliche Art und Weise unseres Au-
ßenministers, der hier schon öfter zu Recht gelobt
wurde, verkörpert diesen Ansatz sehr treffend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das Ziel „Eine Welt ohne Atomwaffen“ ist kein poli-
tisches Pathos. Es ist aber nur durch gemeinsames politi-
sches Handeln erreichbar. Hier liegt es an uns, sich im-
mer wieder für dieses Ziel einzusetzen. Daher freuen wir
uns über die Unterstützung für unseren Antrag.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810111500

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-

mit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den An-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck-
sache 18/4685 mit dem Titel „Die NVV-Überprüfungs-
konferenz zum Erfolg führen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen wor-
den.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4681 mit dem
Titel „Die europäische Sicherheitsstruktur retten – Über-
einkommen in Gefahr“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Damit ist dieser Antrag mit den
Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt
worden.

Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,
Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gute Versorgung am Lebensende sichern –
Palliativ- und Hospizversorgung stärken

Drucksache 18/4563
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dagegen
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das auch
so beschlossen.

Wir beginnen mit der Aussprache. Als erste Rednerin
hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg von Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Viele Menschen haben große Angst vor der
letzten Lebensphase. Diese ganz natürliche Angst vor
dem Sterben verstärkt sich noch durch die Angst, einsam
zu sterben: einsam in einem Krankenhaus, einsam in ei-
nem Pflegeheim. Wir alle haben Angst davor, vielleicht
der Familie zur Last zu fallen oder sogar der ganzen Ge-
sellschaft. Wir haben Angst davor, Schmerzen ertragen
zu müssen, Schmerzen, die vielleicht niemand lindern
kann.

Natürlich können wir, das Parlament, diese Ängste
hier nicht einfach auf Knopfdruck beseitigen. Wir kön-
nen aber dafür sorgen, dass sich jeder schwerstkranke





Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)

und auch jeder sterbende Mensch auf eine gute und wür-
dige Versorgung am Lebensende verlassen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei darf es keine Rolle spielen, ob ein Mensch in der
Stadt oder auf dem Land lebt. Es darf keine Rolle spie-
len, ob es sich um ein Kind oder um eine Bewohnerin in
einem Pflegeheim handelt. Zum Glück für uns alle ist
die Palliativ- und Hospizversorgung in unserem Land in
den letzten Jahren viel besser geworden. Problematisch
ist aber, dass diese Versorgung nicht allen Menschen zu-
gänglich ist. Deshalb ist es grundsätzlich gut, dass Ge-
sundheitsminister Gröhe vor kurzem einen Referenten-
entwurf für ein Hospiz- und Palliativgesetz vorgelegt
hat. Wir Grüne im Bundestag bringen heute unsere Vor-
schläge dazu ein.

Ich werde gleich auf die Inhalte eingehen. Zuerst habe
ich aber noch eine Bitte an die Vorstände der Koalitions-
fraktionen. Ich bitte Sie ganz herzlich: Gehen Sie dieses
für uns alle so wichtige Thema doch bitte etwas vorsich-
tiger und sensibler an. In Ihrem Vorstandsbeschluss zur
Hospiz- und Palliativversorgung vom 16. April 2015
vermengen Sie dieses Thema mit der sogenannten akti-
ven Sterbehilfe. Das ist nicht sonderlich hilfreich. Das
stiftet nur Verunsicherung bei den Menschen. Das
Thema „aktive Sterbehilfe“ hat weder etwas mit Pallia-
tiv- und Hospizversorgung noch mit der Debatte um den
assistierten Suizid zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Debatte zur Hospiz- und Palliativversorgung ist von
hoher symbolischer Bedeutung.

Wir alle müssen hier unsere Worte sehr gut wählen.
Ganz besonders wichtig ist: Wir dürfen uns nicht darauf
zurückziehen, nur schöne, empathische Worte zu finden.
Es darf nicht nur bei symbolischen Maßnahmen bleiben!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diesen Eindruck habe ich aber leider bei manchen
Regelungen, die im Entwurf von Herrn Gröhe vorgese-
hen sind. Es gibt in dem Entwurf einiges, das wir sofort
unterschreiben können. Darin ist zum Beispiel auch von
der Stärkung der allgemeinen ambulanten Palliativver-
sorgung, der sogenannten AAPV, die Rede. Es gibt darin
aber auch einige Allgemeinplätze. Die zentralen Fragen
umschiffen Sie. Sie unternehmen nichts gegen den dra-
matischen Personalmangel in der Pflege, und Sie tun
nichts zur Verbesserung der leider rückständigen deut-
schen Forschung in diesem Bereich. Ebenfalls nichts tun
Sie zur Verbesserung der Aus-, Fort- und Weiterbildung.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt nicht!)


Wir Grüne wünschen uns von der Großen Koalition hier
weniger Kleinmut und mehr Weitblick.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dabei geht es nicht nur um mehr Geld, sondern auch um
Dinge, die erst einmal ganz unerheblich wirken, ver-
meintlich kleine Dinge, die dann aber am Ende des Ta-
ges eine ganz große Wirkung haben.

Wir müssen die Angehörigen sterbender Menschen
viel besser unterstützen. Dazu sagen Sie kaum etwas.
Wir fordern in unserem Antrag, dass die Krankenkassen
künftig auch Angebote der Trauerbegleitung für Ange-
hörige mitfinanzieren. Das wird übrigens nicht viel Geld
kosten. Viele Angehörige fühlen sich schon während ei-
ner Sterbebegleitung alleine gelassen. Für viele kommt
aber die richtig harte Zeit erst danach. Dann gibt es Ein-
samkeit und Erschöpfung, und dann gibt es natürlich
auch die Ängste vor dem eigenen Sterben. Das kann
krank machen. Häufig leiden Trauernde in der Folge an
Depressionen. Hier ist eine gezielte Prävention enorm
hilfreich, und Trauerbegleitung ist ein Teil davon.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein ganz elementarer Punkt ist die Personalsituation
in der Pflege. Sie schreiben in Ihrem Entwurf, Ziel sei
es, die Versorgung Sterbender vor allem in stationären
Pflegeeinrichtungen zu verbessern. Dieses Ziel ist rich-
tig. Häufig aber ist das weder fachlich noch kulturell
noch finanziell zu stemmen. Es fehlt oft an allen Ecken
und Enden an Personal. So können Pflegekräfte einfach
keine würdige Pflege für die Sterbenden leisten. Die
Pflegekräfte selbst leiden doch auch sehr unter dieser Si-
tuation.

Viele Einrichtungen haben einfach nicht genügend
Leute, um eine gute Pflege sowie eine gute Palliativ- und
Hospizversorgung zu leisten. Darauf geben Sie im Mo-
ment noch keine Antwort. Das dürfen wir aber nicht län-
ger so laufen lassen! Deswegen fordern wir in unserem
Antrag die Einführung von „verbindlichen Personalbe-
messungsinstrumenten“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich weiß, „Personalbemessungsinstrument“ ist ein sper-
riges Wort. Es geht hierbei darum, in Pflegeheimen und
Krankenhäusern objektiv festzustellen, wie viel Personal
für welche Tätigkeit gebraucht wird. Uns allen hier ist
doch klar: Schon für die Pflege an sich, aber auch für die
Palliativ- und Hospizversorgung brauchen die Einrich-
tungen einfach viel mehr Hände, als derzeit da sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das wird Geld kosten. Wir Grüne sagen schon seit vielen
Jahren: Für eine bessere Pflege darf der Einsatz von
mehr Finanzmitteln kein Tabu sein. Das gilt genauso für
die Palliativ- und Hospizversorgung.

Gute Pflege kostet Geld. Wir werden sie nicht zu
Dumpingpreisen bekommen. So denken nicht nur wir
hier im Parlament. Die breite Mehrheit der deutschen
Bevölkerung sieht das doch genauso. Uns muss wirklich
noch einmal deutlich werden: Gute Pflege geht uns alle
an!





Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, genau jetzt ist der Zeit-
punkt, genau jetzt kann die Hospiz- und Palliativversor-
gung verbessert werden! Wir Grüne wirken sehr gerne
konstruktiv daran mit.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810111600

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Emmi

Zeulner von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1810111700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich
freue mich, dass Sie uns heute einen Anlass geben, über
die Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung in
Deutschland zu diskutieren. Die Verantwortlichen in Ih-
rer Fraktion haben einen sehr guten Antrag ausgearbei-
tet. Viele Ihrer Vorschläge finden sich in unserem Eck-
punktepapier wieder. Auf der Grundlage dieser
Eckpunkte werden wir in Kürze einen Gesetzentwurf
einbringen.

Bei der Erarbeitung dieses Entwurfs haben wir eng
und konstruktiv mit dem Ministerium zusammengear-
beitet. Ich möchte mich ausdrücklich bei Minister
Hermann Gröhe und Staatssekretärin Annette Widmann-
Mauz für die vertrauensvolle und zielorientierte Zusam-
menarbeit bedanken.

Es ist unser Anspruch, schwerstkranken und sterben-
den Menschen die Errungenschaften der Hospiz- und
Palliativversorgung unabhängig von ihrem Wohnort und
ihrem Versichertenstatus zugänglich zu machen. Gerade
vor dem Hintergrund der Debatte um die Suizidbeihilfe
ist eine Stärkung so wichtig. Denn egal wie die Gesetz-
gebung dort ausfällt: Für eine selbstbestimmte Entschei-
dung am Lebensende gilt, zuerst alle Möglichkeiten der
Hospiz- und Palliativversorgung ausschöpfen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist die Aufklärung in diesem Bereich so wich-
tig.

Mit dem Gesetz werden wir die Krankenkassen in die
Pflicht nehmen, ihre Versicherten über entsprechende
Leistungen zu informieren. Zudem werden wir Versor-
gungsplanungen für die letzte Lebensphase in Pflegehei-
men auch erstattungsfähig machen. Das ist eine Antwort
auf die berechtigte Sorge von Pflegebedürftigen und ih-
ren Angehörigen, dass bei den heutigen medizinischen
Möglichkeiten eine Übertherapie stattfindet. Gerade dies
konterkariert den Gedanken der Hospiz- und Palliativ-
versorgung.

So ist es mir auch ein großes Anliegen, dass wir bei
der Finanzierung der Palliativstationen nachbessern. Das
Fallpauschalensystem, wie es in Krankenhäusern üblich
ist, belohnt ein Mehr an Leistung mit mehr Geld. Das
passt einfach nicht für Palliativstationen. Tagesgleiche
Pflegesätze hingegen machen die Vergütung unabhängig
von erbrachter Therapie. Wenn ein Sterbenskranker
keine Musiktherapie mehr haben möchte, dann sollte das
ohne einen finanziellen Nachteil für die Station möglich
sein. Zukünftig wollen wir eine echte Wahlmöglichkeit
zwischen den Systemen schaffen. Es wird Krankenhäu-
sern per Gesetz das Recht zugesprochen, gegenüber den
Kassen die Abkehr vom DRG-Entgeltsystem auf Pallia-
tivstationen zu erklären, wenn sie es wollen.

Des Weiteren halte ich es wie Sie für unbedingt not-
wendig, die Hospizbewegung mit ihren Einrichtungen
noch mehr zu unterstützen; denn dort wird unschätzbar
wertvolle Arbeit erbracht, vieles davon ehrenamtlich. So
werden künftig Erwachsenenhospize bei den zuschussfä-
higen Kosten mit Kinderhospizen gleichgestellt, und der
kalendertägliche Mindestzuschuss wird von 7 auf 9 Pro-
zent angehoben.

Auf ambulante Hospizdienste kommt eine Vielzahl
von Aufgaben zu, zum Beispiel die Betreuung von An-
gehörigen. Ihre Aufgaben umfassen zudem zum einen
die palliativpflegerische Beratung, zum anderen die Ge-
winnung, Schulung, Koordination und Unterstützung der
ehrenamtlich tätigen Personen, die für die Sterbebeglei-
tung zur Verfügung stehen. Auch die Netzwerkarbeit
zwischen den vielen Akteuren wird von den Hospiz-
diensten bewältigt. Bei der Erfüllung dieser vielfältigen
Aufgaben stoßen die Dienste oftmals an ihre Kapazitäts-
grenzen. Es ist uns ein Anliegen, diese bei ihrer wertvol-
len Arbeit weiter zu unterstützen. Deshalb werden wir
alles daransetzen, Finanzierungslücken, die es tatsäch-
lich gibt, zu schließen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch Ärzte, die besonders qualifiziert sind und inter-
professionell mit anderen Leistungserbringern kooperie-
ren, sollen künftig eine Zusatzvergütung erhalten. Damit
schaffen wir Anreize für eine Weiterbildung der bereits
praktizierenden Mediziner. Dass die Kooperation und
Vernetzung zwischen den einzelnen Akteuren weiter
ausgebaut werden muss, ist als dringendes Handlungs-
feld erkannt. Nicht nur in Pflegeheimen, auch in Kran-
kenhäusern möchten wir ambulanten Hospizdiensten die
Möglichkeit eröffnen, Sterbebegleitung zu leisten. Zu-
dem soll die ärztliche Versorgung in Pflegeeinrichtungen
ausgebaut werden.

Schließlich gilt es, den Ausbau der SAPV weiter zu
forcieren. Gerade in ländlichen und strukturschwachen
Regionen gibt es noch weiße Flecken. Insbesondere die
Möglichkeit, schwerstkranke Kinder und Jugendliche zu
Hause zu versorgen, ist heute noch ungenügend. Den
Abschluss von SAPV-Verträgen wollen wir durch Ein-
führung eines Schiedsverfahrens künftig erleichtern.

Ich stimme schließlich mit Ihnen überein, liebe Frak-
tion Die Grünen, dass die Forschung im Bereich der
Hospiz- und Palliativversorgung ausgebaut werden
muss. Wir brauchen mehr Evidenzbasierung, auch im
Bereich der Trauerbegleitung. Um dem Anspruch einer
hochwertigen Palliativversorgung gerecht zu werden,





Emmi Zeulner


(A) (C)



(D)(B)

müssen wir im Bereich der Forschung noch deutlich
mehr tun. Aber dazu stehen wir auch im Austausch mit
dem Forschungsministerium und dem Parlamentarischen
Staatssekretär Müller sowie den Vertretern der Charta
zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Men-
schen.

Wenn wir uns anschauen, woher wir kommen – von
der Hospizbewegung zu den Hausärzten, die schon im-
mer Begleiter sterbender Menschen waren und sind, zur
spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, die erst
2007 als Leistungsbestandteil in die gesetzliche Kran-
kenversicherung aufgenommen wurde, bis hin zum Fest-
schreiben der Palliativmedizin als Pflichtfach im Medi-
zinstudium im Jahr 2009 –, dann sind wir schon einen
langen Weg gegangen. Die von unten gewachsene Struk-
tur umfasst sehr viel Qualität und sehr viel Engagement
und Einsatz der Beteiligten. Es ist uns ein Anliegen,
diese weiter zu fördern und zu unterstützen.

Ich würde mich freuen, wenn wir miteinander an den
bestmöglichen Lösungen arbeiten könnten. Denn es ist –
wie auch Sie, liebe Kollegin Scharfenberg, gesagt haben
– ein Thema, das jeden von uns ganz persönlich betrifft.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810111800

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Pia

Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810111900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Die Würde des Menschen ist unantastbar,
und das gilt für alle Menschen in diesem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Alle Menschen, unabhängig von Alter, Lebenslage und
Lebensverlauf, müssen ein gesetzlich und praktisch gesi-
chertes Anrecht darauf haben, frei zu wählen, ob sie in
der letzten Phase ihres Lebens zu Hause, im Hospiz oder
in einer Pflegeeinrichtung ihren Bedürfnissen entspre-
chend palliativmedizinisch versorgt und palliativ ge-
pflegt werden wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, es geht hier um ein Men-
schenrecht; es geht um die „Dreieinigkeit“, die staatliche
Pflicht, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und
zu gewährleisten.

Aus den Erfahrungen meiner langjährigen Tätigkeit
in der Pflege kann ich bestätigen: Der vorliegende An-
trag der Grünen bietet Ihnen von der Großen Koalition
ein gutes Angebot, Ihre bisherigen Positionen zu über-
prüfen, zu erweitern und die bestehenden Ungleichhei-
ten aufzuheben.
Ihr Antrag, geschätzte Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, ist in einigen Fragen allerdings noch aus-
baufähig. Angesprochen haben Sie zum Beispiel die
Hospiz- und Palliativversorgung in stationären Pflege-
einrichtungen. Wir sind der Auffassung, dass sicherge-
stellt werden muss, dass in allen Einrichtungen eine
fachlich hochwertige palliative Pflege- und Hospizarbeit
angeboten werden kann.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir sagen auch, dass dies nicht zu zusätzlichen Kosten
für die Menschen mit Pflegebedarf führen darf. Gute
Pflege darf auch hier nicht vom Geldbeutel abhängig
sein.


(Beifall bei der LINKEN)


In deutschen Pflegeeinrichtungen – das ist noch ein
Knackpunkt – leben 764 000 Menschen; viele von ihnen
sind chronisch krank, schwerbehindert oder erkranken in
der letzten Phase ihres Lebens schwer. Genau diese
Menschen haben aber so gut wie gar keinen Anspruch
auf Hospizversorgung. Denn in der Rahmenvereinba-
rung zu § 39 a Absatz 1 SGB V steht Folgendes – ich zi-
tiere –:

Die Notwendigkeit einer stationären Hospizversor-
gung liegt grundsätzlich nicht bei Patientinnen und
Patienten vor, die in einer stationären Pflegeeinrich-
tung versorgt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das heißt, wir haben in
Deutschland eine gravierende Ungleichbehandlung von
Menschen in der letzten Lebensphase. Diese Zweiklas-
senbetreuung ist nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Eine ähnliche strukturelle Ungleichbehandlung gibt
es bei der palliativmedizinischen Versorgung von
Schmerzpatienten in Pflegeeinrichtungen, und das trotz
des bestehenden Rechtsanspruchs auf spezialisierte am-
bulante Palliativversorgung. Das liegt an der fachärzt-
lichen und palliativmedizinischen Unterversorgung in
Alten- und Pflegeheimen und daran, dass diese Einrich-
tungen noch immer nicht ausreichend Schmerzmittel für
Akutsituationen vorhalten dürfen. Hier setzt der Antrag
von den Grünen wiederum die richtigen Akzente.

Meine Damen und Herren, in den letzten zehn Jahren
hat sich die Zahl der Ehrenamtlichen in der Hospiz- und
Palliativversorgung auf 100 000 verdoppelt. Dieses En-
gagement ist nicht hoch genug zu bewerten. An dieser
Stelle gilt den Ehrenamtlichen mein besonderer Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber das Ehrenamt muss eine Ergänzung bleiben. Bür-
gerschaftliches Engagement ist kein Ersatz für fehlende
Fachkräfte und aufsuchende Pflege. Bürgerschaftliches
Engagement darf nicht missbraucht werden, um vorhan-
dene strukturelle Defizite zu verschleiern. Wir benötigen
eine verbindliche Personalbemessung in gesetzlicher
Form.





Pia Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN)


Ich teile daher diese Forderung im Antrag der Grünen
ausdrücklich, vermisse aber konkrete Vorschläge.

Einig sind wir darin, dass die Hospiz- und Palliativ-
versorgung eine besonders professionalisierte Pflegear-
beit ist und dass es mehr Beratung, hospizliche Sterbebe-
gleitung, Palliativteams und Pflegezeit geben muss. Das
gilt sowohl für Kliniken als auch für Pflegeeinrichtun-
gen. Dafür braucht es aber eine konkrete Personalbemes-
sung. Wir fordern mindestens zwei Vollzeitstellen pro
100 Bewohnerinnen und Bewohner zusätzlich. Doch das
darf nicht zu höheren Kosten für die Bewohnerinnen und
Bewohner führen.

Auf den Punkt gebracht heißt das: Wer wirklich allen
Menschen in Deutschland die Hospiz- und Palliativver-
sorgung zugänglich machen will, muss den Einrichtun-
gen den finanziellen Spielraum dafür bieten, muss das
Personal, welches dafür benötigt wird, besser kalkulie-
ren und die Ungleichheiten zwischen stationärer und am-
bulanter Pflege sowie den Hospizen aufheben.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810112000

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Helga Kühn-Mengel von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1810112100

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen von den Grünen, Sie legen heute
einen Antrag vor, den wir in vielen Punkten unterstützen
können. An vielen Stellen sind seine Forderungen de-
ckungsgleich mit denen der SPD. Das Entscheidende ist
aber: Wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen, den wir
in der nächsten Zeit behandeln, vertiefen und sicherlich
an manchen Stellen auch noch verändern werden.


(Beifall bei der SPD)


Wir tun das – es ist schon mehrfach gesagt worden –,
weil die Menschen Sorge darüber haben, was Selbstbe-
stimmung, Würde und Wertschätzung auf der letzten
Wegstrecke des Lebens bedeuten. Wir müssen uns mit
der Angst der Bürger und Bürgerinnen auseinanderset-
zen, im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung ge-
nau diese zu verlieren. Sie haben Angst davor, Schmer-
zen zu haben, allein zu sein und womöglich anderen
– auch dies ist schon gesagt worden – zur Last zu fallen.

Die hospizliche und die palliative Versorgung kann
mit der Besonderheit, dass dort haupt- und ehrenamt-
liche Kräfte tätig sind, vieles leisten. Wir wissen von
jenen, die dort arbeiten, dass durch Schmerz- und
Symptomkontrolle, durch Zuwendung und durch Beglei-
tung der Wunsch nach Sterben häufig in den Hintergrund
tritt, dass der Suizidgedanke aufgegeben wird – das ist
nicht nur durch Erfahrung, sondern auch durch Studien
belegt – und dass manche – so paradox es klingt – sogar
wieder Lebensmut schöpfen. Deshalb muss man – ich
betone das ausdrücklich – zu den aktuellen Äußerungen
der Strafrechtslehrerinnen und -lehrer zu diesem Thema
etwas sagen – ich will nicht vertieft darauf eingehen,
weil ich nur wenige Minuten Redezeit habe –; denn
diese haben den Kern der hospizlichen und palliativen
Versorgung überhaupt nicht verstanden.


(Michael Brand [CDU/CSU]: So ist es!)


Sie differenzieren nicht, sie vermischen die Begrifflich-
keiten, sie kritisieren die wirklich hervorragende Arbeit
der Menschen in den Hospizen und auch im ambulanten
Bereich, und sie vernebeln das, was sie wirklich wollen.

In den letzten Jahren wurden viele Verbesserungen er-
reicht: die Förderung der ambulanten und stationären
Hospizarbeit, die Stärkung des Ehrenamtes – natürlich
als Ergänzung und nicht als Ersatz –, die Weiterentwick-
lung der Schmerztherapie, die Einführung der speziali-
sierten ambulanten Palliativversorgung mit einhergehen-
der Qualifizierung der Ärzte und nicht zuletzt – auch das
ist ganz wichtig – ein gesellschaftlicher Bewusstseins-
wandel und eine ganz andere Auseinandersetzung mit
diesem Thema.

Jetzt müssen wir mit den guten Angeboten und den
richtigen Weichenstellungen in die Fläche gehen. Der
Gesetzentwurf setzt Schwerpunkte bei der Weiterent-
wicklung der ambulanten palliativen Versorgung, bei der
Vernetzung und Koordination in der Region, gerade im
ländlichen Raum, bei der Verbesserung der Finanzierung
ambulanter und stationärer Hospize, bei der Finanzie-
rung der Palliativstationen, bei der Patientenberatung
und bei Informationen zu Fragen der hospizlichen Ver-
sorgung und Begleitung.

Durch das Gesetz würde ein neuer Rechtsanspruch
geschaffen. Dieser neue Rechtsanspruch – die Kollegin
hat es schon erwähnt – ist ein großer Fortschritt für die
Versicherten; denn eine bessere Aufklärung und Infor-
mation der Betroffenen und ihrer Angehörigen ist wich-
tige Voraussetzung für einen gerechten Zugang zu diesen
Versorgungsangeboten, unabhängig vom sozioökonomi-
schen Status und unabhängig von dem Ort, an dem die
Menschen in ihrer letzten Lebensphase versorgt werden.

Es gibt Hinweise darauf, dass nur ein Fünftel der Pa-
tienten und Patientinnen Zugang zu diesen Angeboten
hat. Viele wissen gar nichts darüber. Es ist wichtig, dass
die Finanzierung der stationären und ambulanten Hos-
pize verbessert wird und Zuschüsse angehoben werden.
Wichtig ist aber auch, dass keine Vollfinanzierung vor-
genommen wird, weil über das Ehrenamt und über die
Spenden das Thema in die Gesellschaft getragen werden
soll.

Wir werden ausreichend Gelegenheit haben, den Ge-
setzentwurf vertiefend zu behandeln und noch einmal ei-
nen Blick auf die palliativpflegerische Versorgung in sta-
tionären Einrichtungen wie Pflegeheimen zu werfen. Vor
allem werden wir noch einmal den Bereich der ambulan-
ten Krankenhausversorgung beleuchten. Das ist nämlich
auch ein ganz wichtiger Punkt. Wir wissen, dass
46,6 Prozent der Menschen, also knapp die Hälfte, in





Helga Kühn-Mengel


(A) (C)



(D)(B)

Krankenhäusern sterben. Wir müssen diesen ganzen Dis-
kussionsprozess mit dem Charta-Prozess verbinden.

Zum Schluss will ich zitieren, was ich auf einer Ver-
anstaltung gehört habe: Hospiz ist kein Ort, Hospiz ist
eine Haltung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810112200

Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1810112300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Seit Einführung der Pflegeversicherung hat
die Pflegepolitik noch nie so viel Aufmerksamkeit erfah-
ren wie in dieser Legislaturperiode. Ich denke an die bei-
den Pflegestärkungsgesetze, an den Bürokratieabbau, an
die Neugestaltung des Pflege-TÜVs oder die Reform der
Pflegerausbildung. Aber auch das Versorgungsstär-
kungsgesetz und sogar das Präventionsgesetz kann man
im Kontext der Pflegeversicherung sehen. Die laufende
Legislaturperiode steht im Zeichen der Pflege. Es gibt
kein Gesetz im Gesundheitsbereich, das nicht direkt oder
mittelbar die Pflege in Deutschland verbessert. Das ist
eine wirklich gute Sache.

Der Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung ge-
hört folgerichtig ebenfalls zu unserer Pflegegesetzge-
bung. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag ja ver-
bindlich vereinbart, die Hospize weiter zu unterstützen
und die Versorgung mit Palliativmedizin auszubauen.
Ich gehe davon aus, dass der entsprechende Gesetzent-
wurf der Koalition bald den Weg ins Plenum finden
wird. Wir werden dann selbstverständlich auch die Vor-
schläge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in die Be-
ratung einbeziehen.

Es liegt auf der Hand, dass die Aufgaben der Pallia-
tiv- und Hospizversorgung, das Thema Patientenverfü-
gung und die Diskussion über die Sterbehilfe sich wech-
selseitig berühren und teilweise überschneiden. Der
Debatte über die Sterbehilfe möchte ich nicht vorgreifen.
Es geht heute um die Belange schwerstkranker und ster-
bender Menschen, und deren Belange sind ein eigenstän-
diges Anliegen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die beson-
dere Bedeutung von Patientenverfügungen hinweisen.
Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass wir den ge-
setzlich Versicherten zusammen mit der Information zur
Organspende künftig ab dem 50. Lebensjahr auch eine
entsprechende Information über Patientenverfügungen
zukommen lassen. Ich persönlich bin ein entschiedener
Anhänger und Verfechter der Patientenverfügung.

Sehr viele Menschen in unserem Land – wahrschein-
lich die meisten – lehnen eine medizinische Überversor-
gung dezidiert ab. Sie wollen nicht gegen ihren Willen
künstlich am Leben erhalten werden.
Diesen Wunsch nach einem Sterben in Würde haben
wir zu respektieren. Das entspricht einer humanen Ge-
sellschaft. Umgekehrt gilt: Niemand sollte sich den Tod
wünschen, um anderen nicht zur Last zu fallen. Und nie-
mand sollte dies müssen, weil er unter unerträglichen
Schmerzen leidet.

Deshalb ist der Ausbau der modernen Palliativmedi-
zin so wichtig und ein zentrales Ziel unserer Gesund-
heitspolitik. Die Antwort auf die Nöte Schwerstkranker
und Sterbender muss in einer umfassenden ärztlichen,
pflegerischen und psychosozialen Begleitung bestehen.
So sehen das übrigens auch die beiden großen Kirchen,
die gerade in diesen Tagen die „Woche für das Leben“
proklamiert haben und unter dem Motto „Sterben in
Würde“ zur Stärkung der Palliativ- und Hospizversor-
gung aufrufen.

Mir liegt vor allem am Herzen, auch im ländlichen
Raum das Leistungsangebot auszubauen, die palliative
Pflege in Heimen und in der häuslichen Umgebung
nachhaltig zu stärken sowie insbesondere die Vernetzung
und Kooperation zwischen den Akteuren voranzubrin-
gen. Es ist gut und richtig, wenn es hier mehr Geld für
Ärzte und Kliniken geben wird. Wünschenswert er-
scheint mir darüber hinaus aber auch, zusätzliche Mittel
für die eigentliche Pflegearbeit bereitzustellen.

Meine Damen und Herren, wir wollen das Verspre-
chen des Koalitionsvertrags einlösen und den Menschen
in Deutschland Zugang zu einer spürbar besseren Hos-
pizarbeit und einer flächendeckenden Palliativversor-
gung verschaffen. Wir möchten eine Kultur der Hilfe im
Sterben anbieten, die es erlaubt, die letzte Lebensphase
selbstbestimmt und bestmöglich begleitet zu verbringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810112400

Nun hat die Kollegin Bettina Müller für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Bettina Müller (SPD):
Rede ID: ID1810112500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über die Versorgung schwerkranker und sterbender
Menschen wird in diesem Jahr viel diskutiert. Die Stär-
kung der Hospiz- und Palliativversorgung ist für die Ko-
alition ein wichtiges Anliegen.

In diesem Bereich gibt es bereits viele Angebote,
sowohl in Form der allgemeinen als auch in Form der
speziellen ambulanten Palliativversorgung. Aber viele
Menschen sind immer noch sehr schlecht über die vor-
handenen Strukturen informiert. Zudem reichen die An-
gebote bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken.
Gründe dafür sind die demografische Entwicklung, die
Auflösung der Familienverbände, Singlehaushalte und
der Wunsch der Menschen nach adäquater Versorgung
am Lebensende, möglichst in der häuslichen Umgebung.





Bettina Müller


(A) (C)



(D)(B)

Daher hat sich die Koalition entschlossen, einen Ge-
setzentwurf noch vor dem Sommer ins Parlament einzu-
bringen. Es ist gut, dass auch die Grünen die Notwendig-
keit des Ausbaus der Palliativversorgung sehen. Wir
müssen hier fraktionsübergreifend arbeiten. Beim Ster-
ben geht es nicht um Parteizugehörigkeit.

Als Signal nach außen möchte ich jedoch deutlich
machen: Der beste gesetzliche Rahmen reicht nicht aus,
wenn er nicht durch Akteure vor Ort mit Angeboten und
Verträgen ausgestaltet wird. Zum Wohle der Patienten
muss auch auf dieser Ebene mit allen Beteiligten zusam-
mengearbeitet werden. Es kommt also auf die Kranken-
kassen, die Ärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen,
die SAPV-Vertreter, die Kommunen, die Kreise, die Ein-
richtungsträger und die vielen Ehrenamtlichen an, um
die Versorgung sinnvoll und zielgerichtet zu stärken.
Konkurrenzdenken, wie es an manchen Stellen noch
vorhanden ist, ist hier völlig fehl am Platz.

Wichtig ist: Bei der Versorgungsplanung darf nicht
nach Schema F vorgegangen werden. Die regionalen Be-
sonderheiten, die schon vorhandenen Strukturen, die Ak-
tivitäten von Ärzten und Kassen und die Zahl der Ehren-
amtlichen sind nämlich von Bundesland zu Bundesland
sehr unterschiedlich. Hier gilt es, funktionierende Ver-
sorgungsstrukturen nicht zu zerschlagen, sondern vor-
handene Netze zu stärken und weiter auszubauen.

Palliative Versorgung sollte zudem immer wohnort-
nah möglich sein, damit die Betroffenen so oft wie mög-
lich von ihren Angehörigen und von ihren Freunden be-
sucht werden können. Zurzeit ergeben sich Probleme bei
SAPV und AAPV, also der allgemeinen ambulanten Pal-
liativversorgung, vor allem im ländlichen Raum. Gründe
dafür sind zu geringe Bevölkerungszahlen und zu große
Flächen, sodass die SAPV nicht kostendeckend arbeiten
kann. Darüber hinaus sind die Strukturanforderungen
von SAPV und Palliativstationen im Krankenhaus in
ländlichen Regionen die gleichen wie in Ballungsge-
bieten, obwohl dort natürlich viel weniger Patienten zu
versorgen sind. Für onkologische Zentren und Kranken-
häuser in größeren Städten ist es viel leichter, die Ein-
richtung einer Palliativstation mit mindestens fünf Bet-
ten zu organisieren. In ländlichen Regionen mit deutlich
weniger Patienten kann eine eigenständige Abteilung
hingegen nicht kostendeckend betrieben werden.

Ein wichtiges Ziel der Koalition ist deshalb, im länd-
lichen Raum Anreize für den Ausbau des Leistungsange-
botes zu schaffen. Ein wesentliches Thema ist hierbei
die Erhaltung und der Ausbau der hausärztlichen pallia-
tiven Versorgung. Abgesehen davon, dass es in vielen
Bereichen bereits einen Ärztemangel gibt, ist die Versor-
gung durch weite Wege sowie häufige und nicht lukra-
tive Bereitschaftsdienste viel aufwendiger als in Bal-
lungsgebieten. Gerade die Hausärzte, die oft einen
jahrelangen und sehr intensiven Kontakt zu den schwer-
kranken Menschen haben, sollten aber eine wesentliche
Rolle in der Versorgung von Palliativpatienten spielen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wichtig ist hier, nicht zu hohe Hürden und zu teure
Strukturen zu basteln, die in der Praxis zu Problemen
führen. Angesichts des rasant steigenden Bedarfs wer-
den wir ganz schnell ganz viele Ärzte und Pflegende
brauchen, die auch in Alteneinrichtungen und Kliniken
eingesetzt werden können. Ein gelungenes Beispiel stellt
in meinen Augen das Modell in Westfalen-Lippe dar, bei
dem Hausärzte in enger Zusammenarbeit mit SAPV-
Teams eine flächendeckende palliative Versorgung ge-
währleisten.

Für Patienten, aber auch für Leistungserbringer müs-
sen der Zugang und die Teilnahme zur Versorgung nied-
rigschwellig sein. Wer mithelfen will, Sterbenden ein
gutes und erträgliches Lebensende zu bereiten, muss es
auch tun können. Dazu müssen die Akteure miteinander
handeln und nicht gegeneinander. Platzhirschdenken und
Versorgungswettbewerb am Sterbebett wären fatal.


(Beifall bei der SPD)


Umsetzung und Verträge brauchen aber viel Zeit, die
die schwerkranken Menschen sehr oft nicht haben. Da-
her gilt es, die Beratungen jetzt zügig durchzuführen und
die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Versor-
gungsstruktur zu schaffen. Machen wir uns an die Ar-
beit!

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810112600

Das Wort hat der Kollege Dr. Roy Kühne für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Roy Kühne (CDU):
Rede ID: ID1810112700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debat-
tieren heute Nachmittag über ein ganz wichtiges Thema,
das in den letzten Minuten einen sehr großen Raum be-
kommen hat und das in unserer Gesellschaft eines noch
größeren Raums bedarf. Ich begrüße den Vorschlag der
Grünen, und ich denke, dass es dringend notwendig ist,
über Palliativversorgung zu reden, bedarfsgerechte
Strukturen zu definieren und eine bessere finanzielle
Ausstattung zu organisieren. Es geht darum, dass wir
Menschen bis ans Ende ihres Lebens würdevoll beglei-
ten.

Die Auseinandersetzung mit lebensbedrohenden
Krankheiten und mit dem Sterben ist aber nicht nur für
den Betroffenen selbst, sondern auch für viele Angehö-
rige, für das familiäre und berufliche Umfeld eine sehr
schwere Angelegenheit und verlangt viel Kraft. Die Ge-
sellschaft sollte an dieser Stelle verantwortungsvoll da-
mit umgehen und Mittel und Strukturen bereitstellen, um
die damit verbundenen Belastungen aufzufangen. Nie-
mand sollte in der letzten Phase des Lebens allein sein,
weder derjenige, der jemanden begleitet, noch derjenige,
der sich in der selbigen Situation befindet. Wir haben in





Dr. Roy Kühne


(A) (C)



(D)(B)

Deutschland ein weltweit anerkanntes gutes Gesund-
heitssystem. Ich denke, es ist wertvoll, dass wir genau
diese Versorgungsstandards, die wir pflegen, wirklich
bis zum Ende des Lebens beibehalten. Damit erweisen
wir Respekt und Würde bis zum Tod.

Eine Befragung des Deutschen Hospiz- und Palliativ-
Verbandes aus dem Jahre 2012 hat aber leider ergeben,
dass nur rund die Hälfte der Deutschen den Begriff „Pal-
liativmedizin“ überhaupt kennt und nur etwa ein Drittel
weiß, was sich dahinter ungefähr verbirgt. In vielen Ge-
sprächen, die ich mit Bürgerinnen und Bürgern geführt
habe, wurde des Öfteren klar und deutlich gefragt: Was
ist das eigentlich? Genau hier liegt unsere Herausforde-
rung: Wir wollen mit dem Gesetzentwurf, den die Bun-
desregierung erarbeitet, einen weiteren Beitrag zur wert-
vollen Hospiz- und Palliativversorgung leisten. Ich
denke, dass gerade diesem Gesetzentwurf eine große Be-
deutung zukommt. Wir wollen damit die Versorgung
derjenigen verbessern, die eine Begleitung der Schmerz-
therapie und am Lebensende benötigen, und vor allen
Dingen das Wissen der Bevölkerung um den Wert dieser
Maßnahmen stärken.

Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sind viele
gute Punkte enthalten, die auch von der Koalition bereits
aufgegriffen wurden. Ich denke, es herrscht großer Kon-
sens, dass hier Einigkeit erzielt wird; auch die bereits ge-
haltenen Reden machen dies deutlich. Wir wollen Ände-
rungen herbeiführen, und wir müssen Änderungen
herbeiführen. Sie müssen genau dort ankommen, wo sie
gebraucht werden: bei den Menschen.

Wie die Erkenntnisse des Deutschen Hospiz- und Pal-
liativVerbandes zeigen, muss eine Verbesserung der
Transparenz, der Information und der Beratung stattfin-
den. Es gibt Versorgungsangebote, die wesentlich dazu
beitragen, dass es besser wird. Diese müssen kommuni-
ziert werden. Natürlich müssen am Schluss auch die
Krankenkassen die entsprechenden Kapazitäten dafür
schaffen. Wir werden in einem nächsten Schritt sicher-
lich die Vernetzung der Teilnehmer verbessern müssen.
Wir alle wissen, dass gerade die Zusammenarbeit im Ge-
sundheitssystem ein ganz wichtiger Faktor ist, um er-
folgreich zu sein. Wir müssen Kooperationen fördern
und die Vergütung spezifisch qualifizierter Vertragsärzte
anpassen.

Darüber hinaus werden wir die Bedeutung der häusli-
chen Krankenpflege für die Palliativversorgung heraus-
stellen – sie wurde bereits angesprochen – und durch
eine bessere finanzielle Ausstattung die Hemmnisse für
die ambulanten Hospizdienste abbauen. Es ist nach mei-
ner Meinung sehr wichtig, dass wir die multiprofessio-
nelle Arbeit – ich betone das noch einmal –, also die Zu-
sammenarbeit der Menschen, die sich mit diesem
Sachgebiet auseinandersetzen, was sicherlich nicht ein-
fach ist, stärken, sowohl im ambulanten als auch im sta-
tionären Bereich. Zudem werden wir die Sterbebeglei-
tung – sie wurde vom Kollegen schon angesprochen – in
den stationären Hospizen finanziell fördern und die am-
bulante Hospizarbeit in stationären Pflegeeinrichtungen
ebenfalls stärker berücksichtigen.
Weiterhin geht es darum, die Finanzierung von Maß-
nahmen im Hinblick auf die ambulante Versorgung in
der Fläche bereitzustellen. Wir sind in Deutschland oft-
mals so aufgestellt, dass wir in vielen Bereichen eine
Flächenversorgung gewährleisten müssen. Auch da sind
wir gefordert.

Gerade in strukturschwachen und ländlichen Regio-
nen sind regionale Initiativen zu fördern. Wir brauchen
sie vor Ort. Mit dem kommenden Gesetzgebungsverfah-
ren werden wir in diesem Jahr die Weichen dafür stellen,
die Folgen der demografischen Entwicklung für die
Gesundheitsversorgung – sie ist nicht aufzuhalten – ab-
zumildern. Wir müssen auch auf die zukünftigen Be-
darfe reagieren. Besonders in Verbindung mit dem
Pflegestärkungsgesetz, dem GKV-Versorgungsstärkungs-
gesetz und dem Gesetz zur Verbesserung der Hospiz-
und Palliativmedizin werden wir, so denke ich, einen
wichtigen Schritt zur Verbesserung der Gesundheitsver-
sorgung in Deutschland machen. Damit können wir auch
im Hinblick auf die letzte Phase des Lebens einen wür-
devollen Beitrag leisten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810112800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4563 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung von Bestimmungen des Rechts des Ener-
gieleitungsbaus

Drucksache 18/4655
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


U
Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1810112900


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Akzeptanz ist ein entscheidendes Stichwort,
wenn es um den dringend notwendigen Ausbau unserer
Strom- und Gasnetze geht. Wir wollen Planern und Be-





Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer


(A) (C)



(D)(B)

hörden mehr Möglichkeiten geben, Erdkabel unter be-
stimmten Voraussetzungen auf Pilotstrecken in technisch
und wirtschaftlich sinnvollen Abschnitten zu testen.
Durch eine maßvolle Erweiterung der Möglichkeiten zur
Teilerdverkabelung wollen wir mehr Erfahrung mit die-
ser Technologie sammeln. Neben den bisherigen Pilot-
vorhaben, zu denen auch die geplanten neuen Strom-
autobahnen in Nord-Süd-Richtung gehören, werden nun
weitere Pilotverfahren und -vorhaben eingeführt.

Zudem erweitern wir die Kriterien dafür, wann ein
Erdkabel verlegt werden darf: Neben dem Abstand zu
Siedlungen, der durch eine Freileitung nicht gewahrt
würde, kommen nun Naturschutzgründe und die Que-
rung von großen Bundeswasserstraßen wie Rhein oder
Elbe in Betracht.

Damit die Möglichkeiten weit vorangeschrittener
Projekte nicht gebremst werden, kann der Vorhabenträ-
ger bei laufenden Verfahren wählen, ob er von der neuen
Regelung Gebrauch macht oder nicht. Diese Übergangs-
regelung für bereits beantragte Planfeststellungsverfah-
ren betrifft vor allem die EnLAG-Vorhaben.

Wir wollen dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnen
und Bürger künftig stärker in den vielschichtigen Pro-
zess der Netzplanung einbringen und die damit einherge-
henden Entscheidungen besser einordnen können.

Mit dem Gesetz soll der bisher jährliche Turnus der
Neufassung der Netzentwicklungspläne im Strom- und
Gasbereich durch einen zweijährigen Planungszeitraum
abgelöst werden. Mit dieser von vielen Akteuren und
auch Umweltverbänden geforderten Veränderung des
Rhythmus sollen die komplizierten parallelen Planungs-
prozesse der Vergangenheit künftig vermieden werden.

Darüber hinaus haben alle Beteiligten, vor allen Din-
gen auch die Bürgerinnen und Bürger, ausreichend Zeit
für die Konsultation der jeweiligen Entwürfe. Damit er-
höht die Bundesregierung die Transparenz und auch die
Nachvollziehbarkeit der Verfahren zur Ermittlung des
Bedarfs für den Aus- und Umbau der Strom- und Gas-
netze.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Ausbau
der Stromnetze ist für eine erfolgreiche Energiewende
dringend erforderlich. Wir wollen hier vorankommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Bau-
stein dafür.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810113000

Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810113100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Bundesregierung will jetzt die Bedingungen für die
Erdverkabelung lockern, unter anderem um Akzeptanz
zu schaffen. Das klingt erst einmal nicht schlecht; aber
wenn man sich das genau anschaut, muss man feststel-
len: Auch die Erdverkabelung ist nicht ganz unproble-
matisch:

Erstens eröffnete dieses Gesetz die Möglichkeit, Tras-
sen durch empfindliche Naturräume zu legen, die dafür
bislang nicht infrage kamen. Unter Naturschutzgesichts-
punkten, Stichwort „Biodiversität“, ist es ganz wichtig,
auf diesen Punkt zu achten.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens gibt es die falsche Vorstellung, Erdkabel
wären naturverträglich. Doch man muss bedenken, was
mit der Erdverkabelung auch zusammenhängt: alle
900 Meter ein Zugangsschacht, eine kaum nutzbare
Schneise und 40 Tonnen schwere Kabelrollen, die ir-
gendwie zur Baustelle im sensiblen Gebiet gelangen
müssen.

Drittens bekomme ich ein ungutes Gefühl, wenn bei
einer kritischen Infrastruktur wie dem Übertragungsnetz
von technischer Erprobung die Rede ist.

Trotzdem sehen wir auch Vorteile der Erdverkabe-
lung: wenn es um den Landschaftsschutz geht. Aber be-
vor jetzt alle „Hurra!“ zur Erdverkabelung rufen, wäre es
wichtig, über den Sinn und Zweck des Netzausbaus ge-
nerell nochmals nachzudenken. Was wissen wir eigent-
lich über die Notwendigkeit des Netzausbaus? Wir wis-
sen, was die Übertragungsnetzbetreiber als Bedarf
ausgerechnet haben. Wir wissen, dass der marktwirt-
schaftliche Rahmen dafür auf unbestimmte Zeit so blei-
ben soll wie heute. Wir wissen, dass sie von einem
wachsenden und ungehemmten Stromhandel in Europa
ausgehen. Und wir wissen, dass ihre Modellrechnungen
die Emissionsziele der Bundesregierung verfehlen. Was
wir aber auch wissen, ist, dass die Bundesregierung
nichts weiß.


(Beifall der Abg. Pia Zimmermann [DIE LINKE])


Wie will die Bundesregierung der Bevölkerung glaub-
haft machen, dass der Netzausbau genau so vonstatten-
gehen muss, wenn sie die bestehenden Netzkapazitäten
nicht einmal beziffern kann und keine Ahnung hat, in
welchem Zustand sich das bestehende Netz befindet? –
Das hat sie zumindest auf eine Kleine Anfrage meiner
Fraktion geantwortet.

Alles, womit die Bundesregierung argumentiert, ist
das Ergebnis einer Modellrechnung, die Geschäftsge-
heimnis der Übertragungsnetzbetreiber ist und zweifel-
hafte Annahmen für die Zukunft zugrunde legt.

Wenn wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die
Bedingungen für die Erdverkabelung lockern und den
Netzentwicklungsplan auf einen Zweijahresturnus um-
stellen, dann lassen Sie uns doch noch mehr beschließen:
Sorgen wir dafür, dass die Bevölkerung, wir Abgeord-
nete und auch die Bundesregierung wissen können, wo-
mit der Netzbedarf überhaupt errechnet wird.


(Beifall bei der LINKEN)






Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

Die Netzbetreiber sollen ihre Lastflussdaten und ihre Be-
rechnungsmethodik öffentlich machen. Dann kann man
das nachvollzeihen, und wir können auch besser streiten.

Die Linke begrüßt es, den Netzbetreibern mehr Zeit
für die Erstellung der Netzentwicklungspläne einzuräu-
men. Die Netzbetreiber sollten diese zusätzliche Zeit
nutzen, um Szenarien auszurechnen, mit welchen Maß-
nahmen der Netzausbau minimiert werden könnte. Das
ist wichtig.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann könnten wir den Rahmen an die Erfordernisse an-
passen und müssten nicht – wie jetzt – einen Netzausbau
für eine überholte Energiepolitik voller Fehlallokationen
vorsehen. Denn das möchten die Bürgerinnen und Bür-
ger nicht – vor allem die in Bayern nicht –, und deshalb
bekommt die Bundesregierung auch keine Akzeptanz für
ihre Mammuttrassen. Eine sinnlose Stromtrasse kann
man zwar verlegen – lieber am Nachbarort vorbei oder
durch ein anderes Bundesland führen, man kann sie
oberirdisch führen oder auch vergraben –, das ändert
aber nichts daran, dass sie weiterhin sinnlos ist.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810113200

Das Wort hat der Kollege Karl Holmeier für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1810113300

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Energiewende ist eines unserer größten energiepoli-
tischen Projekte und zugleich eine große Herausforde-
rung. Wir werden sie bewältigen, aber der Erfolg der
Energiewende hängt ganz wesentlich auch von der Ak-
zeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern, den Men-
schen in unserem Land, ab.

Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kern-
energie und der starke Ausbau der erneuerbaren Energien
führen dazu, dass Strom vermehrt dezentral und damit
fernab der Verbrauchsstellen erzeugt wird. So erfordern
die Energiewende und der wachsende europäische
Stromhandel in den kommenden Jahren einen umfassen-
den und beschleunigten Ausbau des deutschen Höchst-
spannungsnetzes. Auch hinsichtlich der Gasfernleitungs-
netze stehen erhebliche Veränderungen an.

Ein zentraler Bestandteil der Energiewende ist natür-
lich die Versorgungssicherheit; sie ist notwendig. Diese
kann durch neue Höchstspannungsnetze erreicht werden.
Hier gilt, meine sehr verehrten Damen und Herren: So
wenig Netzausbau wie möglich, so viel wie nötig.

Beim Leitungsausbau stehen Optimierung und Nut-
zung von Bestandsnetzen vor einem Neubau. Maßstab
der Union ist: was Deutschland nutzt, was unsere Wirt-
schaft braucht und was den Menschen im Land hilft.
Energiepolitik ist Mittel zum Zweck und kein Selbst-
zweck. Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der
Kernenergie ist beschlossene Sache. Wir haben die Wei-
chen in Richtung klimafreundliche Energieversorgung
gestellt und müssen den Weg nun konsequent fortsetzen.
Dazu bedarf es allerdings einer Anpassung der Leitungs-
infrastruktur. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf
beim gezielten Ausbau der Energieleitungen.

Beim Umstieg zu einer umweltschonenden, bezahlba-
ren und sicheren Energieversorgung müssen wir vor al-
lem eines im Auge behalten: die Akzeptanz bei den Bür-
gern. Es ist daher richtig und wichtig, dass der Deutsche
Bundestag mit den vorliegenden Änderungen des Ener-
gieleitungsausbaugesetzes verstärkt auf die Information
der Menschen setzt. Wie schon gesagt: Wir werden die
Energiewende nur mit den Bürgerinnen und Bürgern un-
seres Landes schaffen.

Der Bau eines modernen und leistungsfähigen Ener-
gieleitungsnetzes muss den Anforderungen und Bedürf-
nissen der nahen Zukunft entsprechen und angepasst
werden. Da gibt es noch einiges zu tun.

Um den Netzausbau schneller zu realisieren, müssen
wir zum einen die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für
den Ausbau erhöhen und zum anderen die Errichtung
des Netzes durch den Einsatz neuer Technologien er-
leichtern und damit beschleunigen. Eine verstärkte Erd-
verkabelung ist dabei ein zentrales Element zur Erhö-
hung dieser Akzeptanz und erleichtert den erforderlichen
Netzausbau.

Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung
von Bestimmungen des Rechts des Energieleitungsbaus
leiten wir diese Schritte nun ein. Konkret sieht der vor-
liegende Gesetzentwurf zum Beispiel folgende wesentli-
che Änderungen vor:

Erstens. Bereits angesprochen wurde ein Turnus-
wechsel der Netzentwicklungsplanung für den Strom-
und für den Gasbereich. Insgesamt hat sich das System
der Netzentwicklungsplanung bewährt. Bei der Bedarfs-
ermittlung in der Praxis zeigt sich allerdings, dass es zu
zeitlichen Überschneidungen bei der Entwicklung des
Szenariorahmens und des Netzentwicklungsplans kommt.

Das wollen wir in Zukunft vermeiden, weshalb wir
den Turnus für den Strom- und Gasbereich von einem
Einjahresrhythmus auf einen Zweijahresrhythmus um-
stellen. Das führt positiv dazu, dass die Komplexität der
Bedarfsermittlung verringert wird. Zudem werden die
Verfahren für alle Beteiligten generell transparenter –
insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger.

Die Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber
werden verpflichtet, in den Kalenderjahren, in denen
kein Netzentwicklungsplan vorzulegen ist, einen Umset-
zungsbericht vorzulegen. Der Umsetzungsbericht soll im
Wesentlichen eine Fortschreibung der Umsetzungsbe-
richterstattung aus den Netzentwicklungsplänen sein.

Mit diesen Änderungen werden Anregungen aus der
Öffentlichkeitsbeteiligung und von der Agentur für die
Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden in
Europa aufgegriffen.





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)

Zweitens. Wir erleichtern die Möglichkeiten zur Teil-
erdverkabelung. Bisher wurde der Einsatz von Erdka-
beln nur auf einige Pilotprojekte beschränkt. Die restrik-
tive Zulassung der Erdverkabelung wurde zu Recht
kritisiert. Aktuell ist eine Teilerdverkabelung bei vier Pi-
lotprojekten von insgesamt 23 im EnLAG genannten
Leitungsprojekten möglich – und dies auch nur „auf
technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnit-
ten“. Dies ist zu wenig.

Bislang erfolgte die Genehmigung für eine Erdverka-
belung nur unter der Voraussetzung einer Siedlungsan-
näherung auf 200 bis 400 Meter. Eine Ergänzung der
Kriterien ist erforderlich. Erdkabel sollen künftig in den
Fällen vorgesehen werden können, in denen eine Freilei-
tung gegen bestimmte Bestimmungen des Naturschutzes
verstoßen würde. Dies dient dem Arten- und dem Ge-
bietsschutz. Zudem soll eine Erdverkabelung möglich
sein, wenn die Leitung eine große Bundeswasserstraße
überqueren soll.

Es sollten darüber hinaus weitere geeignete Projekte
bezüglich einer möglichen Erdverkabelung geprüft wer-
den. In dem heutigen Gesetzentwurf werden noch zu we-
nige Projekte zur Erdverkabelung vorgesehen. Die Erd-
verkabelung muss bei allen Trassen möglich sein – zum
Schutz von Mensch, Tier und Natur.

Neben der Erweiterung der Kriterien sollen weitere
Vorhaben als Pilotstrecken für die Erdverkabelung fest-
gelegt werden. Hier sollte vor allem die Möglichkeit in
Betracht gezogen werden, die Erdverkabelung auf einem
technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnitt
vorzunehmen. Das sollte auch im Fall eines Ersatzneu-
baus von Stromtrassen möglich sein und gelten. Daher
geht der Gesetzentwurf in die richtige Richtung, da er
darauf abzielt, die Erdverkabelung auf technisch und
wirtschaftlich effizienten Teilabschnitten auch auf Basis
der gewonnenen Erkenntnisse weiterzuentwickeln und
zu erleichtern.

Zudem ist es sehr erfreulich und ein wichtiger Fort-
schritt, dass es künftig grundsätzlich möglich sein soll,
auch auf einer längeren Strecke – zum Beispiel von bis
zu 20 Kilometern – ein Erdkabel zu verlegen. Ob dies
nur als Pilotvorhaben im Rahmen einer 10 bis 20 Kilo-
meter langen Teststrecke getestet werden soll, werden
wir im parlamentarischen Verfahren zu klären haben.

Weiterhin wird durch eine Erweiterung des Erdkabel-
begriffs zukünftig die Möglichkeit geschaffen, im Rah-
men der vorgesehenen Pilotvorhaben für Teilverkabe-
lung auch Erfahrungen hinsichtlich anderer technischer
Lösungen zur unterirdischen Verlegung von Höchstspan-
nungsleitungen zu sammeln. Ziel der Bemühungen ist
eine Beschleunigung des Netzausbaus insgesamt.

Bereits weit fortgeschrittene Verfahren sollen durch
Umplanungen nicht beeinträchtigt werden. Für bereits
laufende Planungsverfahren ist daher eine Übergangsre-
gelung vorgesehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes-
regierung arbeitet zielstrebig an der Energiewende. Wir
werden Deutschland nachhaltig stärken und den Men-
schen und der Wirtschaft in unserem Land Versorgungs-
sicherheit geben.

Ich freue mich daher auf die anstehenden parlamenta-
rischen Beratungen und wünsche Ihnen ein schönes Wo-
chenende.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810113400

Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810113500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Holmeier, Sie haben in Ihrer Redezeit von zehn Mi-
nuten vieles Richtige gesagt; da will ich gar nicht wider-
sprechen. Sie haben auch viel Grundsätzliches gesagt.
Da Sie schon grundsätzlich über den Netzausbau spre-
chen, hätte mich die Antwort auf die Fragen, die die
ganze Debatte bewegen, interessiert: Wie geht es in Bay-
ern mit der Formel „2 minus x“ weiter?


(Karl Holmeier [CDU/CSU]: Wir sind auf einem gute Weg! – Ulrich Freese [SPD]: Fragen Sie mal die Grünen in Bayern!)


Ist das, was Sie hier vorgetragen haben, die Position der
Union? Sonst redet ja niemand von der Union.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir haben nicht so viel Redezeit!)


Die Antworten auf diese Fragen fände ich spannend.
Aber um die Antwort drücken Sie sich herum.

Man muss sich nichts in die Tasche lügen. Aber es ist
doch so: Wir hatten – da muss man in der Vergangen-
heitsform sprechen – mit dem Bundesbedarfsplangesetz
hier einen großen Konsens über den Netzausbau erzielt,
und zwar trotz aller Unzulänglichkeiten, die das haben
mag.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Den haben wir immer noch!)


Aber diesen Konsens gab es, und er war grundsätzlich.
Nun wird er infrage gestellt. Man kann sich hier über
viele Detailfragen unterhalten. Aber solange diese grund-
sätzliche Frage nicht gelöst ist, wird im Rahmen des
Netzausbaus wenig oder fast gar nichts gelingen.


(Ulrich Freese [SPD]: Lesen Sie mal die Süddeutsche Zeitung von heute!)


Das ist Ihre Verantwortung als Große Koalition. Darum
müssen Sie sich insgesamt kümmern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe hier im Jahr 2012 gestanden und gesagt: Wir
brauchen Erdkabel nicht nur für Pilotstrecken, sondern
wir brauchen sie im Bundesbedarfsplangesetz, und wir
brauchen sie auch im EnLAG. Man kann die Erdverka-





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

belung nicht auf Pilotstrecken beschränken. Das kann
man den Menschen nicht erklären.

Für diese Forderung bin ich damals beschimpft wor-
den: von allen, auch von euch.


(Klaus Mindrup [SPD]: Wirklich? – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Zu Recht! – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Es hieß damals, diese Forderung wäre unverantwortlich.
Ich bin froh, dass ein Kollege der CSU hier wörtlich
sagt: Wir brauchen überall die Möglichkeit der Erdver-
kabelung. – Das ist ein Erkenntnisfortschritt. Wenn Sie
das schon 2012 erkannt hätten, dann hätten wir uns viele
Auseinandersetzungen sparen können, und es hätte viele
Akzeptanzverluste beim Netzausbau nicht gegeben. Das
sollten Sie sich an dieser Stelle einmal merken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielleicht sind Sie aber mit Ihren Erkenntnissen insge-
samt etwas spät dran.

Jetzt legen Sie Ihren Gesetzentwurf vor. Darin steht
manches Richtige. Ich will mich aber auf die Erdkabel
konzentrieren. Anstatt es so zu machen, wie es der Kol-
lege Holmeier vorschlägt, also zu sagen: „Bei jedem
EnLAG-Projekt, das nicht schon in Bau ist, führen wir
die Möglichkeit der Erdverkabelung ein“, machen Sie
das nur an drei Teilstrecken.

Das führt zu folgendem Sachverhalt. Ich nenne ein-
mal ein Beispiel: EnLAG-Projekt Nr. 16 in Gütersloh.
Dort soll ein Teilbereich erdverkabelt werden können.
Das ist okay. Aber im nächsten Teilabschnitt soll das
nicht so sein. Deswegen haben wir alle Post vom Land-
rat bekommen, der uns fragt: Warum macht ihr das nicht
auch im nächsten Teilabschnitt? – Eine Begründung da-
für finden Sie im Gesetzentwurf nicht.

Sie finden auch keine Begründung dafür, warum es
aber bei anderen Leitungen gemacht wird. Ich will jetzt
gar nicht vom Wahlkreis von Sigmar Gabriel reden.


(Klaus Mindrup [SPD]: Das wäre interessant!)


Das ist eine andere Debatte. Aber warum nur bestimmte
Strecken für die Erdverkabelung ausgewählt werden,
statt zu sagen: „Wir geben diese Möglichkeit allen“, das
kann ich nicht nachvollziehen.

Völlig irrsinnig wird es dann im schönen Hürth bei
Köln. Da gibt es die Leitung Nr. 15: Osterath-Weißen-
thurm. Auch dieses EnLAG-Projekt ist kein Pilotprojekt.
Es handelt sich bei dieser Gegend um eine extrem dicht
besiedelte Region, in der keine Erdverkabelung möglich
ist. Selbst der Netzbetreiber sagt, er würde das gerne ma-
chen. Aber nach den gesetzlichen Regelungen geht das
nicht. Stattdessen wird dort jetzt eine Freileitung gebaut.
Hinzu kommt die Bundesbedarfsplanleitung. Nach der
Rechtslage wäre jetzt prinzipiell eine Erdverkabelung
möglich. Das geht aber nicht, weil da schon die EnLAG-
Leitung als Freileitung gebaut wird.

Meine Damen und Herren, diese Dinge können Sie
den Menschen vor Ort nicht mehr erklären. Ich nehme
wahr, dass das auch die Abgeordneten der Großen Koali-
tion vor Ort nicht mehr erklären können und sich teil-
weise dagegen aussprechen. Deshalb werden wir uns mit
diesen Fragen auseinandersetzen müssen. Ich sage Ih-
nen: Das, was Sie in diesem Gesetzentwurf vorgelegt ha-
ben, ist keine Antwort auf diese Frage.

Wenn Sie das anpacken, dann möchte ich den Kolle-
gen Holmeier beim Wort nehmen. Das heißt in der Kon-
sequenz: Wenn wir uns für die Erdverkabelung entschei-
den, dann sollten wir sie für alle EnLAG-Projekte
ermöglichen. Das wäre ein Beitrag zur Akzeptanz für
den Netzausbau. Da könnten wir vorankommen.

Ich bin gespannt, ob das in den Ausschussberatungen
vorgeschlagen wird. Wir stehen für konstruktive Debat-
ten zur Verfügung. Sie können an dieser Stelle beweisen,
ob Sie es mit dem Netzausbau ernst meinen oder ob Sie
sich weiter hinter Paragrafen verstecken und vor Ort eine
ganz andere Politik als hier in Berlin machen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810113600

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Johann

Saathoff das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1810113700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Herr Krischer, heute beraten wir den
Gesetzentwurf in erster Lesung. Es ist also nicht so, dass
wir heute darüber abstimmen müssen, sondern wir sind
noch in der Entscheidungsfindung. Ich nehme Ihr Ange-
bot eines konstruktiven Dialogs gerne auf, und ich
denke, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten
sicherlich noch sehr viel darüber sprechen werden.

Klar ist: Wer die Energiewende will, muss auch den
Leitungsausbau wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist untrennbar miteinander verbunden und wird
überall anerkannt. Es geht also nicht darum, ob wir die
Leitungen ausbauen, sondern darum, wie.

Frau Kollegin Bulling-Schröter, wenn Sie von einer
sinnlosen Leitung sprechen – ich weiß nicht, ob ich es
richtig verstanden habe, dass Sie damit SuedLink mei-
nen –, dann macht mir, ehrlich gesagt, die Allianz in
Bayern langsam Sorge.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Das ist gut so! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Koalition CSU/Linke!)


Egal von welcher Fraktion es kommt: Von sinnlosen Lei-
tungen zu sprechen und gleichzeitig die Energiewende
zu fordern, ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung.

Ich habe auch etwas anderes nicht richtig verstanden.
Sie sagten, Erdkabel seien nicht wirklich sinnvoll, Stich-





Johann Saathoff


(A) (C)



(D)(B)

wort: 40-Tonnen-Schwerlaster. Wenn wir keine Kabel
legen und keine Überlandleitungen bauen dürfen, dann
müssen Sie mir erklären, wie wir den Strom aus der
Nordsee zu Ihnen nach Bayern bringen sollen.

Was genau soll geregelt werden? Das hätte ich gerne
noch einmal deutlich gemacht, aber ich glaube, das ha-
ben wir heute schon dreimal gehört. Deswegen will ich
mich auf die zentralen Punkte beschränken.

Die zentralen Punkte im Artikelgesetz sind erstens die
Erweiterung der Strecken – sie ist für die Energiewende
dringend notwendig – und zweitens die breitere Mög-
lichkeit des Einsatzes von Erdverkabelung. Ich habe in
den letzten Wochen eine ganze Menge Gespräche mit
Bürgerinitiativen geführt. Ob Sie es glauben oder nicht:
In diesen Gesprächen kam immer heraus, meist gleich
im ersten Satz: Wir akzeptieren, dass durch Deutschland
Leitungen gelegt werden müssen; aber bitte akzeptieren
Sie dann auch, dass wir diese Leitungen so verlegt haben
wollen, dass wir gut damit leben können. – Das ist die
Forderung nach Erdkabeln.

Die Erdkabel sind eine wesentliche Voraussetzung für
die Bürgerakzeptanz. Das ist mittlerweile, glaube ich, al-
lenthalben bekannt. Der Gesetzentwurf schlägt den Weg
zu einer Verlegung von mehr Erdkabeln ein. Das ist die
richtige Richtung. Die Gründe dafür sind bekannt: ge-
sundheitliche Auswirkungen von Stromleitungen, Wert-
erhalt der Grundstücke, Erhalt der Wertschöpfung der
Regionen, insbesondere für den Tourismus, und Erhalt
des Landschaftsbildes.

Dass die Verlegung von Erdkabeln kein großes Pro-
blem ist, kann ich am Beispiel meiner Heimat Ostfries-
land deutlich machen. Dort werden derzeit viele Erdver-
kabelungen aus den Offshorewindparks durchgeführt.
Dazu gibt es null negative Resonanz aus der Bevölke-
rung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man den Erhalt des Landschaftsbildes, der
Wertschöpfung beim Tourismus und des Wertes der
Grundstücke in die Diskussion um die Mehrkosten der
Verkabelung einbezieht, dann, denke ich, wird es eine
faire Diskussion. In Ostfriesland würde man sagen: De
een hett Knippke, un de anner hett dat Geld.

Folglich sollten wir prüfen, ob nicht noch weitere Kri-
terien für die Erdverkabelung aufgenommen werden sol-
len. Vielleicht sollten wir sogar – ich weiß, dass ich mich
dabei ein bisschen auf dünnem Eis bewege – zumindest
bei HGÜ über ein Primat der Erdverkabelung als mögli-
cherweise besseren Weg nachdenken.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das wäre ein Schritt weiter!)


Das wäre jedenfalls bei der Gesamtbetrachtung aller
Kosten, angesichts einer möglichen Verzögerung der
Umsetzung, die sich ergeben kann, wenn Menschen vor
Ort die Leitung nicht wollen, und in Bezug auf die Ver-
fügbarkeit zu überlegen. Wir sollten uns zwischen der
ersten und der zweiten Beratung die Zeit nehmen, uns in
einer öffentlichen Anhörung die Sicht vor Ort vor Augen
zu führen und über die weiteren Entscheidungen nachzu-
denken.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Energiewende
wird von den Bürgerinnen und Bürgern getragen. Sorgen
wir also dafür, den Leitungsausbau so zu gestalten, dass
er von den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiert
werden kann!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810113800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4655 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes Zweiten Gesetzes zur Änderung des Er-
neuerbare-Energien-Gesetzes

Drucksache 18/4683
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe wiederum dem
Kollegen Johann Saathoff für die SPD-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1810113900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nun wissen Sie auch, warum ich gerade nicht schon ein
schönes Wochenende gewünscht habe. Seien Sie gewiss:
Für mich ist es genauso ungewöhnlich wie für Sie, zwei
Reden hintereinander zu halten. Wir versuchen es, und
wir bekommen es miteinander hin.

Die Energiewende ist ein Projekt, das man nicht ein-
fach einmal per Gesetz beschließt, und dann wird alles
gut. Das erzähle ich immer wieder, wenn wir Besuch
von ausländischen Delegationen bekommen, die teils
sehr euphorisch zu uns in den Wirtschaftsausschuss
kommen. Erst fragen sie: Meint ihr das eigentlich ernst
mit der Energiewende? – Wenn wir das bejahen, dann
fragen sie: Wie bekommt ihr das eigentlich hin? – Die
Euphorie wird leicht gebremst, wenn man darüber be-





Johann Saathoff


(A) (C)



(D)(B)

richten muss, dass es nicht reicht, ein Gesetz zu verab-
schieden, damit die Energiewende stattfindet, sondern
dass man während des Prozesses der Energiewende stän-
dig nachjustieren muss. Wir haben es bei der Energie-
wende ganz oft mit Anpassungsbedarfen zu tun, aber
nicht deshalb, weil das Gesetz etwa schlecht wäre, was
man ab und an hört, sondern weil sich die Rahmenbedin-
gungen auch aufgrund des guten Gesetzes, das vorher
verabschiedet wurde, verändern.

Was soll in diesem Rahmen neu geregelt werden? Wir
werden zwei Branchen in die Besondere Ausgleichsre-
gelung wieder aufnehmen, nämlich solche, die sich mit
der Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanz-
teilen, also der Wärmebehandlung von Stahl, befassen.
Das betrifft insbesondere die Unternehmen der Umfor-
mung, zum Beispiel den in Deutschland wichtigen Ka-
rosseriebau. Diese Branchen erfüllen nach den neuesten
Erkenntnissen die Voraussetzungen, die wir im letzten
Jahr formuliert haben: Sie haben nämlich eine Handels-
intensität von 4 Prozent und eine Stromkostenintensität
von 20 Prozent. Die Branchen, die diese Voraussetzun-
gen erfüllen, dürfen nicht schlechtergestellt werden. Es
ist nur gerecht, dass sie mit aufgenommen werden.

Der zweite Bereich, den wir ändern wollen, ist die an-
teilige Direktvermarktung. Auch darüber haben wir im
letzten Jahr – ich kann mich gut erinnern – im Sommer
lange miteinander gesprochen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Mehrere Anlagen werden zum Beispiel in einem Wind-
park an einem Netzverknüpfungspunkt angeschlossen.
Bisher war nur die Direktvermarktung insgesamt mög-
lich; man konnte es nicht aufteilen. Nun ist das auch an-
teilig möglich. Die durch die alte Regelung, durch die
Verhinderung der anteiligen Direktvermarktung, entstan-
denen wirtschaftlichen Nachteile sollen nun ausgegli-
chen werden. Auch das ist nur mehr als gerecht.


(Beifall bei der SPD)


Die weiteren Regelungsinhalte sind eher unspannend.
Dabei haben wir im Moment gar keinen Mangel an span-
nenden Themen. Deswegen will ich dazu etwas sagen.

Zuerst zum nationalen Klimabeitrag. Das 40-Prozent-
Ziel war Konsens; es steht im Koalitionsvertrag. Die
Einsparung von 22 Millionen Tonnen CO2 ist seit dem
Kabinettsbeschluss vom Dezember bekannt. Im Dialog
mit der Kraftwerkswirtschaft haben wir Lösungen zu
finden. Dieser Dialog hat endlich begonnen. Das ist et-
was, was wir begrüßen können. Klar ist: An der zusätzli-
chen Einsparung von 22 Millionen Tonnen führt kein
Weg vorbei. Wie bei den Energieleitungen würde ich
aber auch hier sagen: Es geht nicht um das Ob, sondern
um das Wie. Um das Wie ausreichend beleuchten zu
können, fehlen im Moment die Alternativvorschläge.
Fragen sind zwar besser als Antworten – Stichwort:
„Günther Jauch“ –, aber das reicht nicht.

Wir alle wissen, dass dieses Wochenende zwei große
Demonstrationen in Berlin und in der Lausitz stattfin-
den. Wir werden diesen Menschen verantwortungsvoll
gegenübertreten müssen, und wir werden mit ihnen zu-
sammen eine Lösung finden müssen. Wir werden die Al-
ternativvorschläge, die von diesen Menschen kommen,
bewerten und abwägen müssen, um gemeinsam zu einer
Lösung zu kommen. Wir wollen nämlich nicht, dass
durch die Einsparung von 22 Millionen Tonnen CO2,
wie von vielen befürchtet – die Sorgen muss man ernst
nehmen –, Strukturbrüche entstehen. Die tatsächlichen
direkten Auswirkungen auf jedes der 1 500 Kraftwerke
in Deutschland sind noch nicht kalkuliert. Sie müssten
die Grundlage für eine faire Bewertung jedes Vorschla-
ges bilden.

Wir wollen die Menschen, die in der Stromversor-
gung arbeiten, mitnehmen. Das sind wir ihnen schuldig.
Darauf können sie sich auch verlassen. Deswegen sind
Alternativvorschläge gerne gesehen, Alternativvor-
schläge von der Wirtschaft, von den Gewerkschaften,
von den Umweltverbänden und auch von den Bürgerin-
nen und Bürgern.

Durch die Diskussion zum Klimabeitrag gerät die
Diskussion zum Strommarktdesign völlig in den Hinter-
grund. Man kann sich fragen: Ist dies gut, oder ist es
schlecht? – Das Grünbuch liegt vor; wir sind in der
Phase, in der die Reaktionen ausgewertet werden. Wir
stehen vor der Erarbeitung des Weißbuches durch das
Ministerium, und ich habe bisher in der gesamten Dis-
kussion keine grundsätzlichen Bedenken gegen den
Strommarkt 2.0 vernommen. Es gibt einige, die grund-
sätzliche Bedenken haben; jedoch haben sie diese aus
meiner Sicht nicht ausreichend begründet.

Einigkeit besteht in großen Teilen bei den sogenann-
ten Sowieso-Maßnahmen: Die Spot- und Regelleistungs-
märkte sollen weiterentwickelt werden. Wir alle wissen:
Dort steckt Potenzial. Ferner ist die EU-Marktkopplung
zu vergrößern. Darüber sind wir uns weitestgehend ei-
nig. Alternative Anbieter von Regelleistungen sollen zu-
gelassen werden. Dafür würde ich eine breite Mehrheit
prognostizieren wollen. Es geht außerdem darum, die
Bilanzkreisverantwortung zu stärken und dadurch Effi-
zienz zu schaffen. Ich glaube, hier sind wir uns im Gro-
ßen einig. Dann sollen die Stromnetze ausgebaut wer-
den, und dabei ist auch auf die Bürgerakzeptanz zu
achten. Darüber haben wir gerade gesprochen. Schließ-
lich soll die einheitliche Preiszone erhalten bleiben, und
die europäische Kooperation soll intensiviert werden.
Auch hier kann ich, so glaube ich, eine breite Mehrheit
im Hause sehen.

Die energiepolitische Gemengelage ist derzeit nicht
einfach, keine Frage. Darüber, dass sie nicht einfach ist,
können wir uns einig sein. Trotzdem sollten wir die
Dinge, bei denen Einigkeit besteht – ich habe sie gerade
benannt –, zügig abarbeiten und nicht warten, bis end-
gültig weißer Rauch bei allen Fragen aufsteigt. Dass wir
jetzt in der Energiewende zügig weiterarbeiten, das kön-
nen die Bürger von uns erwarten; denn sie haben die
Energiewende insgesamt eben auch gewollt.

Dazu gehört auch das KWKG. Die Positionen liegen
aus meiner Sicht nicht weit auseinander. Herr Krischer,
bevor Sie eine Zwischenfrage stellen, sage ich es lieber
gleich: Wir haben einen doppelten CO2-Einspareffekt.





Johann Saathoff


(A) (C)



(D)(B)

Ich habe schon in meiner letzten Rede dazu über die
Möglichkeit eines Wärmebonus gesprochen. Auf jeden
Fall müssen wir das Potenzial des KWKG in der Verbin-
dung mit den regenerativen Energien sehen und das stär-
ken. Ich könnte mir also vorstellen, dass zu KWKG-An-
lagen auch thermische Solaranlagen mit Speichern
gehören. Diese Speicher können auch eine nicht unbe-
deutende Rolle bei der Energiewende spielen, nämlich
dann, wenn wir zu viel Strom im Netz haben.

Die Themen sind kompliziert. Normal ist, dass die
Opposition und die die Regierung tragende Koalition un-
terschiedliche Ansichten vertreten. Beide sind gut bera-
ten, einander gut zuzuhören. De een kann rieden, un de
anner hett dat Peerd, heißt es in Ostfriesland, wenn Ent-
scheidungen getroffen werden. Viele Entscheidungen
wollen gut abgewogen und gut überlegt sein. Einige
können wir bereits jetzt treffen, damit wir die von den
Bürgerinnen und Bürgern gewünschte Energiewende
weiter fortführen können.

Und nun wünsche ich Ihnen ein schönes Wochen-
ende. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810114000

Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Frak-

tion Die Linke das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810114100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eigentlich hätten die Industrierabatte beim Ökostrom zu-
rückgefahren werden sollen, so hieß es vor gut einem
Jahr, kurz vor der EEG-Reform 2014. Damals hatte EU-
Kommissar Almunia wegen der Industrieprivilegien das
ganze EEG als unerlaubte Beihilfe infrage gestellt.
Gabriel und Almunia einigten sich schließlich, aber das
Ergebnis war eine böse Überraschung: Die Industriepri-
vilegien sind nicht beschränkt, sondern sogar noch aus-
geweitet worden. Zum Tausch wurde das EEG gefled-
dert: Ausschreibungen für die Erneuerbaren ohne Not
schon ab 2017 und die Pflicht zur Direktvermarktung.
So wurde im EEG quasi die eigene Abschaffung festge-
legt. Ich finde, das war ein zu hoher Preis.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber die Industrie sollte ja um jeden Preis ihre Vor-
teile behalten. 90 Prozent des produzierenden Gewerbes
können heute Anträge stellen. Wer 4 bis 10 Prozent Han-
del mit dem Ausland treibt und als stromintensiv gilt, be-
kommt bei der EEG-Umlage Rabatte. Die so privilegier-
ten Hersteller können also mit staatlicher Unterstützung
diejenigen Hersteller niederkonkurrieren, die nur für das
Inland produzieren. Für gerecht halte ich das nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Die 4,8 Milliarden Euro Industrieentlastung werden
von den übrigen Verbraucherinnen und Verbrauchern ge-
stemmt – auch an dieser Stelle ein Sozialprogramm für
die Industrie sondergleichen. Man hätte die EEG-
Reform nutzen können, um die Industrieprivilegien auf
ein sinnvolles Maß zurückzustutzen; darüber haben wir
x-mal diskutiert. Das ist total versäumt worden. Stattdes-
sen halten immer mehr Branchen die Hand auf, nun auch
die Hersteller von Türklinken und Armaturen und aller-
lei Stanz- und Prägeteilen. Sigmar Gabriel wird die
Geister, die er selber rief, nicht mehr los. Es ist nur ge-
recht, wenn die dann auch etwas fordern und bekommen.

Hunderttausende Arbeitsplätze in der energieintensi-
ven Industrie seien sonst gefährdet, so redete Gabriel
damals. Wenn jemand mit 100 000 Arbeitsplätzen argu-
mentiert, dann, finde ich, sollte man immer sehr hellhö-
rig sein.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wohl wahr!)


Allmählich muss man sich schon fragen, ob nicht auch
die Existenz der energieintensiven Friseurbetriebe, der
familiengeführten Kleinstbäckereien und, und, und ge-
fährdet ist, weil sie den Strompreis vielleicht nicht zah-
len können. Wie soll man rechtfertigen, dass sie keine
Privilegien bekommen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen?


(Beifall bei der LINKEN)


Just in diesen Tagen fliegen Minister Gabriel wieder
angebliche 100 000 Arbeitsplätze um die Ohren. Dies-
mal mobilisieren Kohlelobby, IG BCE und Verdi. Auch
dies sind, sage ich, die Geister, die der Minister selber
rief. Wenn morgen hier in Berlin von den Gewerkschaf-
ten mit der angeblichen Gefährdung von 100 000 Ar-
beitsplätzen Stimmung gegen die Klimaabgabe gemacht
wird, ist das genauso schief, wie es damals Gabriels Ar-
beitsplatzzahlen bei der energieintensiven Industrie wa-
ren.

Der Klimabeitrag ist eine notwendige Abgabe für die
dreckigsten und ältesten Kohlemeiler, um einen beschei-
denen Beitrag dazu zu leisten, die Klimakatastrophe auf-
zuhalten; die trifft uns alle. Die Mobilisierung der Koh-
lelobby gegen den Klimabeitrag ist umso absurder, wenn
man weiß, dass auch die Braunkohletagebaue nach wie
vor privilegiert sind. Sie sind aufgrund von Eigenver-
brauch komplett von der EEG-Umlage befreit. Das sind
jährlich Hunderte Millionen Euro Subventionen für die
klimaschädlichste Form der Stromerzeugung, und das ist
schlicht unfassbar.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nichtsdestotrotz ist klar: Wir müssen für alternative
Arbeitsplätze sorgen. Ich verstehe die Probleme und
Sorgen der Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen
wirklich etwas tun


(Dagmar Ziegler [SPD]: Machen Sie doch mal Vorschläge!)


und ihnen auch die Ängste nehmen, um das hier noch
einmal klar und deutlich zu sagen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810114200

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege

Dr. Andreas Lenz das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Andreas Lenz (CSU):
Rede ID: ID1810114300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Bulling-Schröter, nur kurz zu den Begrifflichkeiten.
Konkurrenz kann nur bestehen, wenn man im Wettbe-
werb steht. Ich habe noch nicht erlebt, dass Härtereien
mit Friseuren im Wettbewerb stehen. Dies vielleicht zur
Klarstellung der Begrifflichkeiten, sodass man in der Sa-
che diskutieren kann.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aha, gut!)


Mit dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sor-
gen wir dafür, dass energieintensive Unternehmen aus
den Branchen Schmieden, Oberflächenveredelung und
Härtereien die Besondere Ausgleichsregelung in An-
spruch nehmen können. Damit können die betroffenen
Unternehmen von der EEG-Umlage entlastet werden. Es
geht um rund 80 Unternehmen, für die wir so Planungs-
und Investitionssicherheit schaffen. Zudem enthält der
Gesetzentwurf eine Klarstellung zur anteiligen Direkt-
vermarktung.

Mit der Reform des EEG im vergangenen Jahr sind
wir bei der Energiewende einen wichtigen Schritt voran-
gekommen. Wir haben einen planbaren und verlässli-
chen Ausbaupfad geschaffen. Wir werden bis 2025 einen
Anteil der erneuerbaren Energien im Strombereich von
40 bis 45 Prozent und bis 2035 von 55 bis 60 Prozent ha-
ben.

Das Sinken der EEG-Umlage auf 6,17 Cent pro Kilo-
wattstunde sowie der Rückgang der Strompreise sind
gute Signale. Millionen von privaten Haushalten profi-
tieren davon.

Der Erfolg der Energiewende muss sich aber auch da-
ran messen lassen, dass Deutschland ein wettbewerbsfä-
higer Wirtschafts- und Industriestandort bleibt. Dazu
sind Sonderregelungen für die stromintensiven Indus-
trien schlichtweg erforderlich. Die europafeste Refor-
mierung der Besonderen Ausgleichsregelung war des-
halb ein Schwerpunkt bei der Novelle des EEG. Wir
kümmern uns um den Industriestandort Deutschland.
Uns sind die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze
im Industriebereich wichtig.

Oft wird gesagt, die Industrie leiste keinen Beitrag für
die Energiewende. Das ist weit gefehlt. Die deutsche In-
dustrie zahlt 7,4 Milliarden Euro EEG-Umlage. Das ist
nahezu so viel, wie die privaten Haushalte insgesamt be-
zahlen. Die Industrie trägt somit knapp ein Drittel der
Gesamtkosten der EEG-Umlage. Übrigens bezahlen die
Industrie, der Handel und das Gewerbe über die Hälfte
der EEG-Umlage.

Ohne die Besondere Ausgleichsregelung für strom-
intensive Unternehmen würde die EEG-Umlage für
2014 lediglich um 1,36 Cent pro Kilowattstunde gerin-
ger ausfallen. Hinsichtlich der jetzt zu treffenden Ände-
rungen für die Härtereien würde die Minderbelastung le-
diglich bei etwa 0,001 Cent pro Kilowattstunde liegen.
Die zusätzliche Belastung für die übrigen Umlagezahler
hält sich also in engen Grenzen. Der Nutzen für die be-
troffenen Unternehmen und die damit verbundenen Ar-
beitsplätze ist dafür umso höher. Ohne die Besondere
Ausgleichsregelung würde ein privater Haushalt zwar im
Schnitt circa 55 Euro pro Jahr weniger bezahlen, wegen
der zu erwartenden Wohlstandsverluste würde das real
verfügbare Einkommen jedoch im Durchschnitt um rund
500 Euro pro Jahr sinken.

Gerne wird auch die Mär verbreitet, Deutschland
habe im Vergleich niedrige Industriestrompreise. Lassen
Sie mich dazu aus dem kürzlich vorgelegten Fortschritts-
bericht zur Energiewende zitieren:

Die durchschnittlichen Strompreise für Industrie-
kunden liegen in Deutschland in weiten Teilen über
dem EU-Durchschnitt und deutlich über den Strom-
preisen in den USA.

Es besteht die Gefahr, dass hohe Stromkosten zu einer
schleichenden Deindustriealisierung und zu Arbeits-
platzverlusten in Deutschland führen. Bereits heute ist
die Investitionstätigkeit der energieintensiven Industrie
in Deutschland chronisch schwach. Wie eine Studie des
Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, wurde im ver-
gangenen Jahrzehnt nicht einmal ausreichend investiert,
um den Verschleiß der Produktionsstätten auszuglei-
chen.

Wir brauchen also gerade für energieintensive Unter-
nehmen einen verlässlichen Rahmen für Investitionen.
Diesen haben wir durch die Besondere Ausgleichsrege-
lung europarechtlich sicher geschaffen. Auch für Härte-
reien und Schmieden liegen die entsprechenden Voraus-
setzungen vor. Deshalb weiten wir jetzt endlich auch die
Besondere Ausgleichsregelung auf diese Branche aus.
Es ist übrigens Unsinn, in diesem Zusammenhang von
Dienstleistungen zu sprechen. Die Branche verfügt über
eine hohe industrielle Wertschöpfungstiefe.

Es gibt auch andere Branchen, die die Kriterien erfül-
len könnten. Dies gilt es, jetzt im Gesetzgebungsverfah-
ren zu prüfen. Was bedeutet die Aufnahme der Härte-
reien konkret? Ich habe hierzu in dieser Woche mit
einem betroffenen Unternehmer aus Schwaben gespro-
chen. Aus der AG habe ich ja nun hinreichende Schwä-
bischkenntnisse und habe den Gesprächspartner dement-
sprechend auch verstanden.


(Heiterkeit – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was sind das für interessante Mitteilungen?)


Das Unternehmen hat seit über einem Jahr eine Bauge-
nehmigung für eine weitere Fertigungshalle. Pläne wur-
den bis jetzt auf Eis gelegt. Nach Aufnahme wird die
Härterei jetzt 200 neue Arbeitsplätze schaffen und zu-
sätzlich Arbeitsplätze sichern können. Bei einem Strom-
verbrauch von 50 Millionen Kilowattstunden beträgt die
Entlastung für das Unternehmen rund 500 000 Euro im
Jahr, Geld, das jetzt für Zukunftsinvestitionen für den





Dr. Andreas Lenz


(A) (C)



(D)(B)

Erhalt und Aufbau von Arbeitsplätzen zur Verfügung
steht. Wir finden das richtig.

Mit dem Änderungsgesetz ist auch eine Klarstellung
im Bereich der anteiligen Direktvermarktung verbunden.
Auch zukünftig wird es möglich sein, bei der anteiligen
Direktvermarktung eine gemeinsame Messeinrichtung
zu verwenden. Gerade Windparks profitieren davon.
Missbrauchsgefahren entstehen dadurch nicht. Daher ist
es richtig, dass wir nun diese Klarstellung im Gesetz
vornehmen. Ansonsten hätten einzelne Betroffene auch
hier massive Einschnitte zu erwarten gehabt. Daran se-
hen wir: Wir betreiben eine ausgewogene Energiepolitik.
Wir kümmern uns um sachgerechte Lösungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die
Energiewende voranbringen, ohne dabei Bürgerinnen
und Bürger sowie Unternehmen in unserem Land zu
überfordern. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung ste-
hen hinter der Energiewende. Das soll auch so bleiben.
Das Änderungsgesetz ist ein wichtiger und sinnvoller
Beitrag zur langfristigen Planung und zur Investitions-
sicherheit für die energieintensive Industrie in Deutsch-
land. Künftig müssen wir die erneuerbaren Energien
noch mehr an den Markt heranführen. Die Ergebnisse
der ersten Ausschreibungen im Photovoltaikbereich sind
vielversprechend. Wir werden diese jedoch genau prü-
fen.

Zudem gilt es, die Systemdienlichkeit stärker zu be-
rücksichtigen: Wo macht der Zubau welcher erneuerba-
ren Energien Sinn? Die Kraft-Wärme-Kopplung muss
auch zukünftig eine wichtige Rolle im Konzert der Maß-
nahmen für das Gelingen der Energiewende spielen.
Herr Saathoff hat das natürlich schon ausgiebig formu-
liert. Das war eines der wenigen Dinge, die ich verstan-
den habe. Beim Friesischen war ich nicht so – –


(Ulrich Freese [SPD]: Das war Plattdütsch!)


– Beim Plattdeutschen – da fängt es schon an – war ich
nicht so kundig.


(Ulrich Freese [SPD]: Wenn das Schwäbisch klappt, dauert das Friesische nicht mehr lange!)


– Genau! Aber es gibt ja Hoffnung, dass ich auch beim
Plattdeutschen noch Erkenntnisgewinne erlangen werde.

Weiterhin beschäftigt uns – wir haben das schon ge-
hört – die Ausgestaltung des künftigen Strommarktde-
signs in Deutschland. Die ersten Vorschläge dazu liegen
hier auf dem Tisch. Es gilt nun, intensiv zu diskutieren.
Da gibt es durchaus noch Diskussionsbedarf.

Wir sollten den Mut zu marktwirtschaftlichen Ansät-
zen für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit
haben. Gleichzeitig ist die damit verbundene Kapazitäts-
reserve so auszugestalten, dass die notwendigen Kapazi-
täten auch flächendeckend verteilt vorhanden sind.

Bei allen nationalen Anstrengungen ist zudem eine
enge Koordinierung auf europäischer Ebene notwendig.
Es gibt nach wie vor viel zu tun. Wir stellen uns den
Aufgaben und finden – wie jetzt bei den Härtereien und
der anteiligen Direktvermarktung – verantwortliche Lö-
sungen.
Ein schönes Wochenende! Für mich war es die letzte
Rede! Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810114400

Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810114500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrte

Damen und Herren! Vor nicht einmal einem Jahr haben
wir bzw. Sie als Große Koalition die Änderungen des Er-
neuerbare-Energien-Gesetzes verabschiedet. Heute müs-
sen wir uns schon wieder mit einer Änderung dieses Ge-
setzes befassen. Wieder geht es darum, dass die
Industrieprivilegien ausgeweitet werden, also mehr Un-
ternehmen als bisher bei der EEG-Umlage begünstigt
werden.

Ich erwarte, dass die Bundesregierung ab sofort mehr
Elan an den Tag legt und sich bei den energiepolitischen
Themen, wo auch die Bürgerinnen und Bürger profitie-
ren – zum Beispiel diejenigen, die sich für die Energie-
wende engagieren –, mehr einsetzt. Es gäbe wirklich
genug Bedarf, beim Erneuerbare-Energien-Gesetz nach-
zusteuern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Weil die Zeit knapp ist, nenne ich Ihnen beispielhaft
nur drei Punkte:

Erstens. Sie haben uns einen Ersatz für das weggefal-
lene Grünstromprivileg versprochen. Zurzeit kann Öko-
strom aus deutschen EEG-Anlagen nicht als solcher ver-
kauft werden. Das heißt, der wertvolle Grünstrom
verschwindet im diffusen Graustrom. Für die Akzeptanz
der Energiewende – auch für Integration der erneuerba-
ren Energien – ist aber ein Grünstromvermarktungsmo-
dell wichtig. Es liegen inzwischen mehrere Vorschläge
vor. Deshalb frage ich Sie von der Bundesregierung,
wann Sie hier endlich aktiv werden.

Es gab zweitens auch noch den Vorschlag eines Mie-
terstrommodells, bei dem auch Mieter, die sich keine ei-
gene Solaranlage auf das Dach setzen können, mehr von
der Energiewende profitieren. Auch hierzu hören wir
von der Regierung nichts.

Drittens besteht dringender Handlungsbedarf bei der
Photovoltaik. Der Ausbau ist inzwischen auf 1 800 Me-
gawatt im Jahr eingebrochen. Wenn wir nur die letzten
sechs Monate betrachten, ergibt sich noch etwas Gravie-
renderes. Es wäre dann, hochgerechnet auf das Jahr, nur
noch ein Ausbau von 1 200 Megawatt. Eigentlich wollte
die Bundesregierung das Doppelte pro Jahr erreichen.
Das heißt also, Sie müssen Maßnahmen ergreifen, um
überhaupt Ihr eigenes, selbstgestecktes Ziel zu erreichen.
Wir erwarten da Vorschläge von Ihrer Seite. Es ist drin-
gend nötig, bei der Energiewende voranzukommen, weil
wir den Mix aller erneuerbaren Energien brauchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)






Dr. Julia Verlinden


(A) (C)



(D)(B)

Grundsätzlich scheint bei Ihnen in der Koalition ge-
rade so einiges schiefzulaufen. Kaum macht Minister
Gabriel einen halbwegs vernünftigen Vorschlag zur Be-
grenzung des CO2-Ausstoßes in der Energiewirtschaft,
schon malt die Braunkohleindustrie den drohenden Ver-
lust von Zehntausenden Arbeitsplätzen an die Wand. Das
sind wirklich abenteuerliche Berechnungen.

Die CDU – namentlich Herr Fuchs und Herr Kauder –
stellten sich gegen diese Pläne auf. Nun stehen Sie vor
einem Problem; denn die Braunkohle emittiert allein ge-
nauso viel CO2, wie im Rahmen des CO2-Budgets für
das Jahr 2050 überhaupt nur vorgesehen ist. Das heißt,
die Abschaltung der Braunkohlekraftwerke ist unaus-
weichlich, wenn Sie denn Ihre eigenen Klimaziele nicht
aufgeben wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Es ist jetzt Ihre Pflicht, den Strukturwandel einzuleiten
und zu gestalten, statt wie Rumpelstilzchen mit dem Fuß
aufzustampfen und Nein zu schreien.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Heute war in der Zeitung zu lesen, dass die Energie-
wende unter dem Strich viele neue zusätzliche Arbeits-
plätze bringt. Besonders hilfreich sei, wenn am dezentra-
len Ausbau des Ökostroms vor allem kleine und mittlere
Unternehmen beteiligt sind. Wenn die Bundesregierung
im Bereich Wärme- und Energieeffizienz endlich einmal
aus den Puschen kommen würde, könnten hier noch sehr
viel mehr Jobs entstehen, heißt es in dieser zitierten Stu-
die.

Der notwendige Strukturwandel kommt sowieso.
Deswegen sollte die Politik ihn nun aktiv gestalten, auch
arbeitsmarktpolitisch. Es wäre doch Ihre Aufgabe, auf
die Sorgen der Menschen einzugehen, ihnen ganz kon-
krete Angebote zu machen. Doch stattdessen gießt die
Union ständig neues Öl ins Feuer, missbraucht ganz
populistisch die Angst der Menschen und hintertreibt die
Pläne ihres eigenen Koalitionspartners. Da sind Sie von
der Union ausnahmsweise einmal auf einer Linie mit den
Gewerkschaften, die in dieser Debatte mit Zahlen ope-
rieren, die wirklich jeglicher Grundlage entbehren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Ulrich Freese [SPD]: Kennen Sie bessere?)


– Ja.


(Ulrich Freese [SPD]: Sie kennen bessere!)


– Ja. Schauen Sie einmal in die Studie des Umweltbundes-
amtes, die heute Morgen in der Zeitung stand: 4 700 Ar-
beitsplätze.


(Ulrich Freese [SPD]: Ich lade Sie gerne ein!)


Laut Koalitionsvertrag wollen Sie beide – SPD und
Union – die Energiewende. Aber dann überzeugen Sie
die Menschen! Nehmen Sie sie mit!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Ulrich Freese [SPD]: Wo waren Sie in den letzten 25 Jahren? Ich hätte Sie gerne mitgenommen!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810114600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksacke 18/4683 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 6. Mai 2015, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich schließe mich all den
guten Wünschen für das Wochenende an.