Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhö-hung der Sicherheit informationstechnischerSysteme
Drucksache 18/4096Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss Digitale AgendaHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Gibt es dazuWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierungerhält als erster Redner das Wort Dr. Thomas deMaizière, Bundesminister des Innern.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der kluge Mann und diekluge Frau bauen vor. Das gilt schon seit Menschenge-denken. Wir errichten Deiche, um uns bestmöglich vorden Gefahren eines Hochwassers zu schützen, in denBergen befestigen wir Abhänge, damit sie nicht auf Stra-ßen rutschen, wir legen Vorräte an und legen einen Not-groschen für den Ernstfall zurück. Kurz: Es liegt in derNatur des Menschen, Vorsorge zu treffen. In der digita-len Welt sollte es nicht anders sein. Digitale Infrastruktu-ren und IT-Systeme sind das Rückgrat unserer modernenGesellschaft. Durch sie entstehen in nahezu allen Le-bensbereichen neue Potenziale, Freiräume und Syner-gien. Gleichzeitig wächst aber die Abhängigkeit von die-sen Systemen und damit auch die Bedeutung derVerfügbarkeit und Sicherheit der Systeme. Der techni-sche Fortschritt hat uns also ein Stück weit verwundbaroder verwundbarer gemacht, auch durch die digitaleWelt.Das Bundesamt für Sicherheit in der Informations-technik geht davon aus, dass allein in Deutschland mehrals 1 Million Internetrechner Teil eines sogenanntenBotnetzes ist. Das bedeutet, dass sie jederzeit für IT-Angriffe missbrauchbar sind, ohne dass das der Betrei-ber bemerkt. Mehr als 250 Millionen Varianten vonSchadprogrammen sollen heute schon in Umlauf sein,und täglich kommen über 300 000 neue Varianten hinzu.Erfolgreiche technische Dienste und zuverlässige An-wendungen im Internet brauchen Vertrauen in die Si-cherheit der IT-Systeme.Wir beraten heute in erster Lesung über einen Gesetz-entwurf, der diesem Ziel dient und zwei wichtige Be-standteile enthält. Erstens. Wir ergreifen Maßnahmenzum Schutz unserer kritischen Infrastrukturen. Das sinddie Teile unserer Netze, die für unser Leben von zentra-ler Bedeutung sind, wie die Energieversorgung, die Was-serversorgung, die Geldversorgung, der Verkehr, dieGesundheitsversorgung und viele andere Bereiche. Si-cherheit bedeutet hier, dass die Netze verfügbar sind,dass sie schlicht funktionieren, dass sie ohne Störungenbetrieben werden können. Deshalb werden wir die Be-treiber solcher kritischen Infrastrukturen mit dem Gesetzverpflichten, Mindeststandards an IT-Sicherheit einzu-halten und erhebliche IT-Sicherheitsvorfälle an das Bun-desamt für Sicherheit in der Informationstechnik zu mel-den. Diese Informationen werden ausgewertet undanschließend anderen, ähnlichen Betreibern kritischerInfrastrukturen zur Verfügung gestellt, damit diese sichwappnen oder eingetretene Schäden beseitigen können.Sie können dann ihrerseits zielgerichtete Maßnahmenzum Schutz der Infrastruktur ergreifen, noch bevor sieselbst zum Opfer eines entsprechenden Angriffs werden,oder, wenn sie es bereits geworden sind, gemeinsam mitanderen den Schaden beheben.Der zweite wichtige Baustein betrifft Maßnahmen,die auch andere in Deutschland betriebene IT-Systemesicherer machen. Ich will drei dieser Maßnahmen nen-nen:
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9038 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Erstens. Wir verpflichten die Betreiber von Websei-ten, zum Beispiel von Onlineshops, ihre IT-Systemedurch wirksame und zeitgemäße Vorkehrungen vor demunerlaubten Zugriff zu schützen. Damit wollen wir ver-hindern, dass über unzureichend geschützte WebserverViren, Trojaner und andere Schadprogramme verbreitetwerden.Zweitens. Wir werden Telekommunikationsunterneh-men verpflichten, ihre Kunden zu warnen, wenn sie be-merken, dass der Anschluss des Kunden für Angriffemissbraucht wird. Gleichzeitig sollen sie ihre Kundenauf mögliche Wege zu deren Abwehr hinweisen. VieleTelekommunikationsunternehmen machen das schonheute, aber eben nicht alle.Drittens. Wir wollen dem Bundesamt für Sicherheit inder Informationstechnik die Erlaubnis geben, bestimmteIT-Produkte auf ihre IT-Sicherheit zu überprüfen und dieErgebnisse bei Bedarf auch zu veröffentlichen. Das wirddie Transparenz der Sicherheit von IT-Produkten erhö-hen und zu mehr Akzeptanz der IT-Sicherheit als eigen-ständigem Wert eines IT-Produktes führen.
Meine Damen und Herren, was wir mit diesen Maß-nahmen machen, ist nichts anderes, als dass wir eta-blierte und bewährte Maßnahmen aus der sogenanntenanalogen Welt in die sogenannte digitale Welt übertra-gen. Wir stellen in der analogen Welt Mindestanforde-rungen für Lebensmittel und Haushaltsgeräte auf. Wirmachen das genauso bei Banken und Finanzdienstleis-tern im Bereich des Risikomanagements. Wir verlangensogar von Lebensmittelbetrieben, dass sie bei Gefahrenfür die Gesundheit die Bevölkerung gegebenenfalls öf-fentlich warnen und ihre Lebensmittel aus den Regalenzurückziehen. Im Flugverkehr schreiben wir Meldungenüber sicherheitsrelevante Vorfälle an das Luftfahrt-Bun-desamt vor. Seit langer Zeit verpflichten wir Grund-stückseigentümer, im Winter auf ihren Gehwegen zustreuen, um Unfälle von Personen zu vermeiden. Nichtsanderes machen wir jetzt im Bereich der IT.Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Einhal-tung und Durchsetzung von Recht und Ordnung in derdigitalen Welt unerreichbar seien. Die Digitalisierung seizu dynamisch, der Cyberraum zu global, die Amerikanerseien zu stark; da könne man halt nichts machen. Ichsehe das anders. Auch wenn man im Internet in einerMillisekunde scheinbar jeden Ort der Welt erreichenkann: Es gibt ein physisches Netz in Deutschland, es gibtIT-Systeme, die hier in Deutschland betrieben und ange-boten werden. Sie unterliegen dem deutschen Recht, unddamit können wir auch Regeln für diese Systeme aufstel-len.
Gleichzeitig handeln wir auch international. In Eu-ropa arbeiten wir parallel zu dem Gesetzentwurf, den wirab jetzt beraten, an dem Zustandekommen einer Richtli-nie für die Netzwerk- und Informationssicherheit in derEuropäischen Union, an der sogenannten NIS-Richtlinie.
Auch hier sollen unter anderem EU-weite Mindestanfor-derungen für Betreiber kritischer Infrastrukturen aufge-stellt werden. Auch hier sind Meldeverfahren hinsicht-lich kritischer Sicherheitsvorfälle vorgesehen.Was wir in diesem Fall also machen, ist nicht, zu war-ten, dass Europa uns eine Vorgabe macht, und diese dannirgendwie zögerlich und auf Druck der EU mit Fristver-säumung usw. umzusetzen. Diese Zeit haben wir in derschnellen Welt des Internets nicht. Was wir heute ma-chen, ist, wenn Sie so wollen, eine vorweggenommeneUmsetzung einer künftigen Richtlinie. Damit das klappt,sind wir in engstem Kontakt mit der EU-Kommissionund natürlich mit dem Rat, damit das Ganze so kompati-bel ist, dass es nachher auch zusammenpasst.Trotzdem geht das alles nur gemeinsam – in Europaund in Deutschland. Der Gesetzentwurf sieht ein Wech-selspiel zwischen Unternehmen und Behörden vor: Mel-den und Warnen, Standards und Sicherungsmaßnahmenentwickeln. Das alles funktioniert nämlich nur, wennman zusammenarbeitet. Auch das ist ein Prinzip, dashinter den hier vorgelegten Regelungen steckt. Wir wol-len auch bei der IT-Sicherheit eine neue Form der Ko-operation mit der Wirtschaft; denn wir als Aufsichtsbe-hörde wollen nicht nur Vorschriften machen.
Ein letzter Gedanke. Die Sicherheit unserer IT-Sys-teme soll auch ökonomisch dem Standort Deutschlandund dem Standort Europa dienen. Das haben wir zumBeispiel von Standards in der Umweltpolitik gelernt. IT-Sicherheit made in Germany soll nicht nur unsere Netzesicherer, sondern auch unsere Wirtschaft erfolgreichermachen.Meine Damen und Herren, wir wollen die deutschenIT-Systeme zu den sichersten in der Welt machen. Dervorgelegte Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes, den wirab heute beraten, ist dazu ein erster und wichtigerSchritt.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Jan Korte von
der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eine Bemerkung vorweg, weil alle bedeutenden Innen-politiker des Bundestages hier versammelt sind: Ichfreue mich darüber, dass heute die rot-rot-grüne Landes-regierung in Thüringen das V-Leute-Unwesen abge-schaltet hat.
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Jan Korte
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Das ist ein guter Tag für den Rechtsstaat, die Demokratieund die öffentliche Sicherheit.
– Ich wollte die Freude mit Ihnen teilen. Geteilte Freudeist doppelte Freude.
Aber nun zum Thema. Das IT-Sicherheitsgesetz wirdauch von der Fraktion Die Linke als grundsätzlich sinn-voll erachtet,
um die kritischen Infrastrukturen in den Bereichen Ener-gie, Wasser, Verkehr und in anderen Bereichen zu schüt-zen. Das wird von uns durchaus anerkannt. Allerdingskommen jetzt die Probleme, und deswegen will ich anIhrer Vorlage Folgendes engagiert kritisieren:Erstens. Wir bräuchten, bevor wir in diese Beratungeinsteigen, eigentlich eine detaillierte Bestandsauf-nahme:
Welche digitalen Infrastrukturen sind eigentlich gegebe-nenfalls wann betroffen? Denn man muss es sich kaska-denartig vorstellen – nehmen Sie ein Energieversor-gungsunternehmen, das angegriffen wird –: Was hat dasim Detail dann für Folgen für die untergeordneten Berei-che? Das wäre eine erste Frage, die wir angehen müssen.Das Grundproblem bei Ihrer Vorlage und bei IhremDenken insgesamt im Bereich von IT-Sicherheit und an-derem ist aber, dass das Ganze zu sehr aus der Perspek-tive des staatlichen Sicherheitsapparates gesehen wird;das ist der Kern auch Ihres Gesetzentwurfs. Ein Grund-problem bei Ihrer Vorlage ist, dass dort die Frage vonDatenschutz und anderem zu untergeordnet ist, liebeKolleginnen und Kollegen.
Zweitens. Bei einem Gesetzentwurf und all dem, wasdaraus folgt, ist die entscheidende Frage, die zu betrach-ten ist, natürlich die Personalfrage. Was in diesemGesetzentwurf zum Personal vorgesehen wird, ist nunwirklich der Kracher. Bei Ihrem IT-Sicherheitsgesetzprofitieren, was den Aufwuchs an Stellen angeht, insbe-sondere diejenigen, die seit Snowden beim Datenschutzund bei der IT-Sicherheit grandios versagt haben bzw.grandios versagen wollten. Ausgerechnet die profitierendavon.Ich will es konkret machen. Beim Bundesamt für Si-cherheit in der Informationstechnik, BSI – ich kommedarauf später noch zu sprechen –, soll es einen Auf-wuchs von 115 bis 216 Stellen geben. Beim Bundeskri-minalamt soll es einen Aufwuchs von 48 bis 78 Stellengeben. Jetzt wird es selbst für Ihre Verhältnisse wirklichsehr schräg: Beim Bundesamt für Verfassungsschutz solles einen Aufwuchs von 26 bis 48 Stellen geben, und– genauso gut – beim BND sollen bis zu 30 Stellen ent-stehen. Ausgerechnet bei den Geheimdiensten, die inTeilen eher für IT-Unsicherheit und nicht für IT-Sicher-heit stehen, gibt es massive Aufwüchse. Das kann dochnicht wahr sein, wenn wir über so etwas reden.
Ich fand diese Argumente schon überzeugend.
– Ganz ruhig bleiben! – Es gibt noch überzeugendere. Eswird noch viel obskurer. Das werden Sie feststellen,wenn Sie sich jetzt einmal anschauen, was demgegen-über eigentlich bei der Bundesbeauftragten für den Da-tenschutz an Stellenaufwuchs vorgesehen ist. Das sindgerade mal lächerliche zwei bis sieben Stellen. Das istzunächst einmal eine Frechheit gegenüber der Bundes-beauftragten für den Datenschutz, Ihrer ExkolleginAndrea Voßhoff, und das ist in der Tat ein materiellesSymbol dafür, dass Sie die Zeichen der Zeit schlichtnicht erkannt haben. So einfach ist das.
Man muss mir wirklich einmal erklären, welcheSchutzfunktion für die informationelle Selbstbestim-mung eigentlich die Geheimdienste haben – spätestensin den letzten zwei Jahren, nach Snowden. Das müsstemir einmal jemand erklären, am besten der Bundesin-nenminister.Wenn wir das zusammenfassen – zwei bis sieben Stel-len für den Datenschutz bei der Datenschutzbehörde ge-genüber Dutzenden von Stellen bei den Sicherheitsbe-hörden –, dann ist das das ganze Sinnbild für Ihreverfehlte Politik. An dem Stellenplan kann man erken-nen: Die Wahrheit ist immer konkret. Deswegen ist IhrEntwurf nicht sinnvoll.
Nach diesen eigentlich schon bemerkenswert ein-leuchtenden Argumenten noch ein drittes Argument.
Schauen wir uns das BSI an, das zu einer Zentralstelleweiterentwickelt werden soll. Richtig wäre doch, hierzunächst einmal eine grundsätzliche Debatte über dieFrage zu führen: Was ist denn eigentlich die Rolle desBSI, und was sind seine Aufgaben? Darüber müssten wirdoch hier erst einmal ganz grundsätzlich diskutieren.Einen Hinweis will ich dann doch geben: Dankens-werterweise hat netzpolitik.org gerade veröffentlicht,dass das BSI angeblich – es wird wohl so sein – an derEntwicklung des Staatstrojaners beteiligt war. Das ist na-türlich ein ganz dolles Ding und führt nicht dazu, dass esbei den Bürgerinnen und Bürgern auch nur ansatzweiseVertrauen in das BSI geben kann; denn – da muss manhistorisch einen Schritt zurückgehen – das BSI ist be-
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kanntermaßen eine Ausgründung aus dem BND gewe-sen. Deswegen sagt die Linke: Wir brauchen hier eineGeneralüberprüfung der Rolle des BSI, wir brauchen vorallem eine Offenlegung des Tätigkeitsberichts – dersollte nicht eingestuft sein –, und wir brauchen hier einegrundsätzliche Debatte darüber, was wir mit dem BSI ei-gentlich anfangen wollen.
In diesem Zusammenhang will ich – durchaus imSinne des BSI, wie ich glaube – etwas anmerken. DasBSI ist dem Bundesinnenministerium untergeordnet,was zu Recht immer kritisiert wird, aber natürlich einebestimmte Linie in der inneren Sicherheit hat. Insofernwäre es doch, glaube ich, im Zuge der Beratung über dasIT-Sicherheitsgesetz eine hervorragende Idee, darübernachzudenken, wie wir zunächst einmal die Unabhän-gigkeit des BSI herstellen können. Wir haben das geradeerst vor kurzem bei der Bundesbeauftragten für den Da-tenschutz gelöst, indem wir das BfDI zu einer oberstenBundesbehörde gemacht haben. Es wäre doch wirklichein Fortschritt, das BSI dem Zugriff des Innenministe-riums zu entziehen, was grundsätzlich sinnvoll ist, undes zu einer obersten Bundesbehörde zu machen, um einewirkliche Unabhängigkeit herzustellen. Das wäre etwas,was wirklich sinnvoll wäre.
Ich fasse zusammen: Ein IT-Sicherheitsgesetz ist einegrundsätzlich gute Idee; das ist anzuerkennen. Die Aus-führung, so wie Sie sie angehen, ist leider mangelhaft.Wenn Sie allerdings jetzt im Zuge der Beratung auf dieHinweise der Opposition hören würden und könnten,dann könnte es ein fortschrittliches IT-Sicherheitsgesetzgeben, und wir hätten im Bereich der Innenpolitik ein-mal etwas Richtiges im Falschen erreicht.
Solange aber die Bundesregierung bei der staatlichenAusspähung und Kompromittierung von IT-Systemenmitmacht oder sie zumindest hinnimmt, ohne etwas da-gegen zu tun, so lange befindet sie sich auf der Seite derGefährder von IT-Sicherheit. Wenn Ihnen IT-Sicherheitalso so doll am Herzen liegt, wie Sie es gerade engagiertvorgetragen haben, dann fordere ich Sie auf, die Seitenzu wechseln und unsere Vorschläge aufzunehmen. Dannwürden wir ein ganzes Stück weiterkommen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Gerold
Reichenbach von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass dieDigitalisierung und die digitale Vernetzung immer wei-tere Lebensbereiche durchdringen, ist inzwischen einAllgemeinplatz geworden; aber das ist keine Banalität.Während der heutigen Debatte werden wir erleben, dasses dunkel wird. Das hat eine natürliche Ursache, nämlichdie Sonnenfinsternis, die im Laufe des Vormittags ein-tritt. Es könnte aber auch andere Gründe haben. Im Rah-men einer Veranstaltung zum Thema „Vernetzung undIT-Sicherheit“ erzählte neulich ein Professor, dass mansich unter Kollegen darüber unterhielt, wie man vonWien aus die Jalousien beim Deutschen Bundestag he-rauf- und herunterfährt. Das hört sich zunächst sehr lus-tig an, Herr Korte,
aber das ist eine neue Qualität, mit der wir es zu tun ha-ben: dass unsere Systeme nämlich vom Ausland aus an-greifbar sind, weil immer mehr unserer Lebenssystemevon Rechneranlagen digital gesteuert werden und inter-national vernetzt sind. Das erklärt dann vielleicht auchfür Sie, warum wir auch die präventive Seite gegenübersolchen Angriffen stärken müssen. Damit haben Sie dieErklärung, warum wir auch die Dienste in diesem Be-reich und hinsichtlich dieser Fähigkeiten stärken müs-sen.
Unsere Kraftwerksbetreiber bereiten sich seit Mona-ten darauf vor, einen Blackout zu verhindern, der auf-grund der Stromschwankungen, induziert durch die Son-nenfinsternis, bei den Solaranlagen auftreten könnte.Aber was wäre, wenn solche Schwankungen nicht durchein vorhersehbares Ereignis, sondern durch eine Cyber-attacke ausgelöst würden? Ein Blackout wäre vermutlichnicht mehr zu vermeiden, und es drohten für die Bürgerder Bundesrepublik Deutschland drastische Folgen, wiewir sie gemeinsam im Grünbuch über die „Risiken undHerausforderungen für die Öffentliche Sicherheit inDeutschland“ beschrieben haben und wie es auch in derTAB-Studie im Auftrag des Deutschen Bundestages dar-gelegt wurde.Wir sind zunehmend von Datenverarbeitung undfunktionierenden, sicheren Infrastrukturen und Kommu-nikationsinfrastrukturen abhängig. Ob Lebensmittelver-sorgung, Wasser-, Strom- und Energieversorgung, Logis-tik und Entsorgung, Gesundheitswesen oder öffentlicheSicherheit, aber auch Behörden und Verwaltung: Allesind sie heute von funktionierenden IT-Strukturen undKommunikationssystemen abhängig. Und diese sind inBezug auf kriminelle oder staatliche Angriffe von außenin hohem Maße gefährdet.Gleiches gilt übrigens für die Unternehmen und selbstfür private Haushalte. Wir bewegen uns auch privat im-mer mehr in einer digital vernetzten Welt. Zukünftigwerden immer mehr Funktionen davon abhängig sein:unser Auto, unsere Heizung, unsere Geld- und Warenge-
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schäfte, nicht zuletzt unsere Brandsicherheit, wenn Toas-ter und Herd über IT-Kommunikation gesteuert werden.Darum müssen wir uns verstärkt der IT-Sicherheitwidmen, und dazu gehören mehr Kapazitäten zur Be-kämpfung von Cyberkriminalität, ein besserer Schutzkritischer Infrastrukturen, einschließlich – das sage ichausdrücklich – staatlicher Einrichtungen,
und mehr Investitionen in IT-Sicherheit sowohl im pri-vaten als auch im öffentlichen Bereich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt des-halb hat die Koalition vereinbart – ich zitiere mit Erlaub-nis der Präsidentin –, „ein IT-Sicherheitsgesetz mit ver-bindlichen Mindestanforderungen an die IT-Sicherheitfür die kritischen Infrastrukturen und der Verpflichtungzur Meldung erheblicher IT-Sicherheitsvorfälle“ zu schaf-fen. Wir haben geliefert. Ein entsprechender Gesetzent-wurf liegt nun vor.Wir wollen mit dem Gesetz für mehr Schutz der Bür-gerinnen und Bürger im Netz sorgen. Deswegen werdenwir die Ermittlungszuständigkeiten und Ermittlungsfä-higkeiten des Bundeskriminalamtes im Bereich Cyber-crime stärken und ausbauen; denn Gelegenheit machtDiebe.
Deswegen werden wir das BSI stärken und ausbauenund ihm die Möglichkeit bieten, Marktprodukte zu ana-lysieren und auf ihre Sicherheit zu überprüfen. Dieseverstärkten Befugnisse binden wir ausdrücklich und klaran den Zweck, den Bürgerinnen und Bürgern sowie Un-ternehmen und Behörden Hilfestellungen sowie Hin-weise für ihre IT-Sicherheit zu geben. Wir tun das nicht,wie Sie gerade unterstellt haben, um Lücken auszufor-schen und diese zu nutzen.Wir wollen mit dem Gesetz den Schutz der Informa-tionstechnik des Bundes weiter vorantreiben und für dasFunktionieren einer zunehmend digitalisierten öffentli-chen Verwaltung Sicherheitsstandards setzen.Damit einhergehend – last, but not least – wollen wirdie IT-Sicherheit bei Unternehmen und vor allem bei kri-tischen Infrastrukturen stärken. Kritische Infrastrukturensind im Wandel. Im 19. Jahrhundert waren Postkut-schenstationen kritische Infrastrukturen. Heute sind esFlughäfen, die man damals nicht kannte und vermutlichnicht einmal erahnte. Während sich dieser Wandel in derVergangenheit in längeren Zeiträumen vollzog, sind esheute nur noch wenige Jahre. Gleichzeitig schreitet dieVernetzung rasant voran.Bleiben wir beim Beispiel der Verkehrs- und Logis-tikbranche. Der Flughafen Frankfurt ist mit einem Car-goaufkommen von 2,2 Millionen Tonnen der führendeCargoflughafen in Europa. In Frankfurt werden fast50 Prozent des gesamten Luftfrachtvolumens abgewi-ckelt. Frankfurt verfügt aber auch über hochspeziali-sierte Einrichtungen für das Handling von Pharma. Zahl-reiche Spediteure verfügen am und um den Flughafenüber eigene Pharmabereiche. Ein Ausfall dieser kriti-schen Infrastruktur hätte kaum absehbare Folgen, nichtnur für den Güter- und Personenverkehr, sondern auchfür die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung in derBundesrepublik Deutschland.Die Logistikketten sind nämlich über ITK-Systemeund intelligente Steuerung längst eng miteinander ver-knüpft. Auch wenn die Spediteure, die die Produkte zuden Flug- und Seehäfen bringen, nach wie vor überwie-gend kleine und mittlere Unternehmen sind und damitselbst wohl keine kritische Infrastruktur sind: Die dahin-ter stehenden vernetzten ITK-Systeme sind es sehr wohl.Wenn die IT-Steuerung der Seehäfen durch eine Cyber-attacke lahmgelegt würde, dann litte Deutschland ganzschnell im wahrsten Sinne des Wortes unter Speiseröh-renverengung und Darmverschluss. Darum ist der Ge-setzentwurf gerade in Bezug auf die kritischen Infra-strukturen bewusst so gestaltet, dass er mit der rasantentechnischen Entwicklung Schritt halten kann.Im Gesetzesvorschlag werden die kritischen Infra-strukturen in ihrer Sektorenzugehörigkeit und Funktio-nalität für die öffentliche Sicherheit und die Versorgungsowie die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens defi-niert. Herr Korte, ich kenne kein Gesetz – von der Se-veso-Richtlinie bis zu anderen Gesetzen –, bei dem derGesetzgeber vorher bis zum kleinsten Unternehmen ge-wusst hätte, wer letztendlich davon betroffen sein würde.
– Die haben wir ja. Ich habe es gerade eben beschrieben.Die Definition dessen, was nach dem gegenwärtigenEntwicklungsstand – das ist die entscheidende Frage;wir als Gesetzgeber haben uns nicht nur nach dem ge-genwärtigen Entwicklungsstand zu richten – im Einzel-nen unter kritischer Infrastruktur zu verstehen ist, wollenwir bewusst dem Instrument der Rechtsverordnung über-lassen, um die nötige Flexibilität zu haben, auf dieschnellen technologischen Entwicklungen reagieren zukönnen. Dazu werden wir einen Identifikationsprozessaufsetzen, in den wir die Betreiber und Branchen miteinbeziehen werden.Ein wesentliches Element des Gesetzes sind die Mel-depflichten. Meldungen können anonym erfolgen, wennes um ein Lagebild über die Cybersicherheitslage geht.Bei bestimmten Vorfällen machen anonyme Meldungenallerdings keinen Sinn mehr. Man stelle sich vor, beimKraftfahrzeugbundesamt ginge die anonyme Meldungein, dass es Fahrzeuge mit nicht funktionierenden Brem-sen gebe, aber es würde nicht gesagt, welche Fahrzeugeund welche Hersteller es sind. Genauso wie im Automo-bilverkehr und bei der Sicherheit im Straßenverkehrkönnen von der Funktionsfähigkeit kritischer Infrastruk-turen Menschenleben abhängen. Diese sind höherrangigzu bewerten als die Interessen der Wirtschaft. Darumdürfen Meldungen nicht mehr anonym erfolgen, wenn es
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zu Ausfällen oder Beeinträchtigungen der Funktionsfä-higkeit kritischer Infrastruktur kommt.
Ich finde, wir sollten den jetzt aufgesetzten Mechanis-mus auch auf seine Wirksamkeit hin überprüfen und fürdas Gesetz eine Evaluierung nach einem angemessenenZeitraum vorsehen.IT-Sicherheit und Schutz von kritischen Infrastruktu-ren ist nicht nur eine Frage der Sicherheit der Bürgerheute, sie wird immer mehr zur entscheidenden Fragefür die Wachstumsmöglichkeiten und die Chancen derDigitalisierung selbst. Denn die Menschen würden esnicht akzeptieren, in immer mehr wichtigen Lebensbe-reichen von unsicheren IT-Infrastrukturen abhängig zusein. Als Staat und Gesellschaft können wir es nicht ein-fach hinnehmen, für Angriffe und Bedrohungen von au-ßen immer anfälliger zu werden. Vertrauen und Sicher-heit werden die entscheidenden Faktoren für die weiteredigitale Entwicklung unserer Wirtschaft und Gesell-schaft sein. Natürlich ist zuvörderst die Wirtschaft in derPflicht, in die Sicherheit von IT-Strukturen zu investie-ren. Dort aber, wo die Schadenswirkung über das eigeneUnternehmen oder die eigene Branche hinausgeht, woSicherheitslücken auch Dritte in erheblichem Umfangschädigen oder gefährden können, ist der Gesetzgeber inder Pflicht, die notwendigen Sicherheitsrahmenbedin-gungen vorzugeben.
So haben wir es übrigens – der Minister hat es erwähnt –in der alten industriellen Welt völlig selbstverständlichimmer wieder getan und tun es auch heute noch. Diesgilt es auch für die digitale und vernetzte Welt zu gestal-ten.IT-Sicherheit und Vertrauen in kritische Infrastruktu-ren werden zu immer wesentlicheren Standortfaktoren.Ich habe viele Gespräche mit Betreibern kritischer Infra-strukturen geführt, mit Vertretern der Wirtschaft undauch mit Vertretern von ausländischen Unternehmen, diedies bestätigten. Gerade auch Vertreter aus dem Auslandsahen – aus ihrer Sicht manchmal etwas neidisch – dieChance, dass dieses weltweit eines der ersten IT-Sicher-heitsgesetze zu einem echten Standortvorteil für dieBundesrepublik Deutschland werden kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetzwird die Koalition nicht nur für mehr Sicherheit unsererBürgerinnen und Bürger sorgen. Mit diesem Gesetz wirdder Standort Deutschland fit für die digitale Zukunft.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Konstantinvon Notz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das zentraleThema der CeBIT in diesem Jahr ist die massive Gefähr-dung unserer digitalen Infrastruktur durch Massenaus-spähung und IT-Angriffe. Ohne Edward Snowden hättenwir heute nicht ansatzweise den Überblick über die tat-sächliche Bedrohungslage.
IT-Sicherheit war immer wichtig. Aber spätestens seitStuxnet, Regin, dem Heartbleed Bug und dem über-wachten Handy der Kanzlerin ist völlig klar: Im Bereichder IT-Sicherheit brennt in Deutschland die Hütte lich-terloh. Ein zentrales Risikoszenario für Betriebs- undGeschäftsgeheimnisse, für Kommunikation und Privat-heit ist nicht nur die organisierte Kriminalität, es sindauch die sich verselbstständigenden Geheimdienste undihnen gefällig zuarbeitende Unternehmen.
Das ist die Ausgangslage auch nach zehn Jahren Bun-desinnenministerium unter CDU/CSU-Führung, meineDamen und Herren.Jeder weiß: Wir brauchen einen verbesserten Grund-rechtsschutz der Menschen und eine Erhöhung der IT-Si-cherheit für Unternehmen und Behörden. Das sind zweiThemen, die man heute nicht mehr trennen kann. Undsosehr Ihr Ministerium, Herr de Maizière, in den letztenJahren für die grundrechtsfeindliche Vorratsdatenspei-cherung gekämpft hat, so wenig Substanzielles habenSie im letzten Jahrzehnt für den Bereich der IT-Sicher-heit vorzuweisen.
Zur CeBIT 2015 legen Sie jetzt Ihren übereilten, un-reifen Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes vor, der völ-lig zu Recht von allen Seiten kritisiert wird. Weder bringter mehr IT-Sicherheit für Deutschland, noch schafft erdas notwendige Vertrauen in die Nutzung der Kommuni-kationsinfrastruktur unserer Zeit, das Internet. Wer IT-Strukturen schützen will, braucht zunächst eine differen-zierte Einschätzung der Gefährdungslage; Kollege Kortehat es angesprochen. Diese haben Sie bis heute nichtvorgenommen.
Es ist deshalb vielleicht konsequent, aber eben inhalt-lich falsch, hier lediglich mit weitgehend unbestimmtenVerfahrensregelungen um die Ecke zu kommen.
Sie denken IT-Sicherheit eben nicht ganzheitlich, son-dern stellen hier nur auf den Bereich kritischer Infra-strukturen ab. Selbst bei diesen Regelungen springen Sie
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Dr. Konstantin von Notz
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zu kurz: Vor der eigenen behördlichen Haustüre wirdnicht gekehrt,
nur Unternehmen müssen nach Ihrem GesetzentwurfMeldungen machen, Behörden aber nicht. Wie soll dennauf diese Weise das gewünschte Gesamtlagebild derIT-Angriffe entstehen und analysiert werden? Das istschlicht unschlüssig, meine Damen und Herren!
Es gibt weitere massive Unklarheiten und Widersprü-che:Niemand weiß derzeit, welche Unternehmen wegenkritischer Infrastruktur meldepflichtig werden und wel-che eben nicht. Sie wollen das später festlegen. Zu Rechtwill die Wirtschaft aber jetzt wissen, was auf sie zu-kommt.Niemand weiß, was mit den beim BSI anlandendenDaten geschehen soll, also was das BSI mit den Datenanfängt und wem es diese Daten eventuell übermittelt.Schon alleine die Rechtssicherheit der Unternehmen er-fordert hier eine klare gesetzliche Regelung, meine Da-men und Herren.
Und auch die Gelegenheit zur Harmonisierung, HerrReichenbach, mit der auf EU-Ebene parallel in Verhand-lung befindlichen Richtlinie genau zu diesem Themawarten Sie nicht ab, sondern Sie schaffen einen nichtabgestimmten deutschen Sonderweg. Der Minister lobtsich hier auch noch für dieses Vorgehen. Das ist aber an-gesichts der Internationalität des Internets und der grenz-überschreitenden Vernetzung von IT-Systemen ein schlichtabwegiger Ansatz, meine Damen und Herren!
Schließlich schaffen Sie mit Ihrem rein reaktiven Ge-setz überhaupt keine wirksamen proaktiven Anreize, umdie Wirtschaft mitzunehmen. Weder gibt es positive An-reize, wie beispielsweise Privilegierungen für diejeni-gen, die aufgrund praktischer IT-Schutzmaßnahmen tat-sächlich etwas vorzeigen können, noch wagen Sie es,den umgekehrten Weg zu gehen und beispielsweisedurch steuernde Maßnahmen wie Haftungsregelungenmehr Sicherheit zu fördern. Der Entwurf zeigt hier leiderein halbgares Weder-noch, und er wird sein Ziel verfeh-len. Das ist für das Jahr 2015, für ein Land wie die Bun-desrepublik Deutschland und für einen sensiblen Bereichwie den der kritischen Infrastrukturen einfach skandalöswenig, meine Damen und Herren!
Netzwirtschaft und IT-Kommunikation brauchen vorallem Vertrauen in die Sicherheit der Infrastruktur. DieseErkenntnis ist richtig. Doch statt endlich dafür zu sorgen,geht seit Jahren in Ihrer Verantwortung Vertrauen weiterverloren. Das liegt auch daran, dass Sie hier im Entwurfdas dem Innenministerium unterworfene BSI ins Zen-trum des Meldesystems stellen; dies hat der KollegeKorte ja angesprochen.Das Bundesamt für Sicherheit in der Informations-technik ist eben nicht unabhängig, sondern abhängig voneinem Innenministerium, das die Vorratsdatenspeiche-rung fordert, den Ankauf von Sicherheitslücken billigt,eine zumindest unklare Haltung zum Thema Verschlüs-selung hat und ihm, also dem BSI, aufgibt, Bundestroja-nersoftware zu basteln. Das kann so nicht weitergehen.Das BSI muss endlich in zentralen Aufgabenbereichenunabhängig werden.
Und diese Bundesregierung muss sich endlich effekti-ven inhaltlichen Maßnahmen für mehr IT-Sicherheit zu-wenden. Die Vorschläge dafür liegen längst auf demTisch, und namhafte deutsche Staatsrechtler haben Ihnendie verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzge-bers zum umfassenden Schutz unserer digitalen Infra-strukturen in einer denkwürdigen Anhörung im Aus-schuss ins Stammbuch geschrieben: Wir brauchen eineAbkehr von der globalen Massenüberwachung und vonweltweiten IT-Eingriffen durch Geheimdienste, auchdurch deutsche.Sie wollten doch Deutschland zum Verschlüsselungs-land Nummer eins machen. Ja, dann sorgen Sie dafür,dass durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselungenendlich Standard werden!
Fördern Sie konsequent Open-Source-Technologien,und sorgen Sie dafür, dass zentrale Softwarekomponen-ten eine grundlegende Prüfung der Quellcodes durchlau-fen, Herr de Maizière! Statt Blackboxsystemen brauchenwir inhaltlich geprüfte Sicherheit wenigstens in den zen-tralen Komponenten der Webinfrastruktur.Und: Der Staat darf eben nicht, wie von Ihnen ge-plant, zum Hehler von Sicherheitslücken werden.
Dieser Markt gehört international geächtet und nichtdurch Staatsknete gefördert.
Schließlich: Hören Sie endlich auf, die EU-Daten-schutzrechtsreform weiter zu behindern und zu verwäs-sern! Sie ist ein elementarer Baustein für die IT-Sicher-heit.
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Dr. Konstantin von Notz
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Sie haben aus Ihrem Gesetzentwurf die Regelung zur„Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür“ nachmassiver Kritik wieder herausgenommen. Aber wer bür-gerrechtliche Einsicht dieser Großen Koalition erwartethat, wird wieder einmal enttäuscht; denn Sie von Unionund SPD haben gemeinsam und unbelehrbar die Vorrats-datenspeicherung durch die Vordertür des Bundestagesnun wieder hereingetragen. Sigmar Gabriel hat sich inden letzten Tagen nicht nur als irrlichtender Vizekanzlergegen Bürgerrechte einen Namen gemacht –
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, er hat
nicht nur die Glaubwürdigkeit seines eigenen Minister-
kollegen beschädigt, er hat als Wirtschaftsminister of-
fenbar auch nicht verstanden, welchen fundamentalen
Stellenwert Vertrauen in die digitale Welt heute hat –
Vertrauen, das Ihr ungenügender Gesetzentwurf leider
nicht wiederherzustellen vermag. Das ist ungenügend.
Ganz herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Mayer
von der CDU/CSU das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Erlauben Sie mir, bevorich auf das IT-Sicherheitsgesetz eingehe, eine kurze Ant-wort an den Kollegen Korte,
der ja eben darauf hingewiesen hat, heute wäre ein guterTag für Deutschland,
weil die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen dieV-Leute abgeschaltet habe.
Heute ist ein schlechter Tag für Thüringen, um es klar zusagen.
Und ich sage Ihnen auch, warum, und das ohne jeglichenZynismus und ohne Sarkasmus. Ich hoffe wirklich, dassdiese heutige prekäre Entscheidung, die die Landesre-gierung vorgenommen hat, sich im Nachhinein nicht ne-gativ auf die Sicherheitslage in Thüringen auswirkt
und dass es nicht aufgrund dieser Entscheidung undmöglicher Folgeentscheidungen, die jetzt die anderenBundesländer im Verfassungsverbund vornehmen, zu ei-ner Verschlechterung der Sicherheitslage und einer hö-heren Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger in Thü-ringen kommt.
Ich halte die Entscheidung, die heute vorgenommenwird, für hochbedenklich,
und es bleibt abzuwarten, wie die anderen Landesverfas-sungsschutzämter darauf reagieren.Nun komme ich zum Thema des heutigen Vormittags;das hat durchaus auch etwas mit dem Thema Sicherheitzu tun. Es geht bei dem Schutz kritischer Infrastrukturenund unserer IT-Kommunikation natürlich darum, dasswir einen kooperativen Ansatz wählen, genauso wie imVerfassungsschutzverbund. Man meint vielleicht, wennwir über Sicherheit unserer Informationstechnik spre-chen, auf den ersten Blick, rein technisch betrachtet,dass es nur um den Schutz elektronisch gespeicherter In-formationen sowie um deren Systeme geht. Es geht aber,meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen – dashaben auch die Diskussionen über Überwachungs- undSpionagemaßnahmen anderer Staaten oder anderer Un-ternehmen eindrucksvoll gezeigt –, auch um die Grund-werte unseres Staates. Es geht um wichtige Grundrechteunserer Bürgerinnen und Bürger und auch der Wirt-schaft.Was oft mit den Schlagworten „Schutz der Vertrau-lichkeit“, „Integrität“ und „Verfügbarkeit“ unserer IT-Systeme umschrieben wird, meint im Grunde auch denSchutz der Privatheit und von all dem, was die Men-schen dem Netz anvertrauen. Es geht um unsere vertrau-liche Kommunikation, um unsere Einkäufe im Netz, umGesundheitsdaten, um unsere Urlaubserinnerungen undum vieles mehr.Für Unternehmen geht es um ihre Funktionsfähigkeitund den Schutz ihres Know-hows, ihres geistigen Ei-gentums. Es geht um die Möglichkeit, neue Geschäfts-modelle entwickeln zu können, ohne einer Ausspähungausgesetzt zu sein oder Opfer einer kriminellen Machen-schaft zu werden.Für unsere Gesellschaft, meine sehr verehrten Kolle-ginnen und Kollegen, geht es insgesamt darum, dassIT-Sicherheit mittlerweile das Gerüst ist, ohne das dasöffentliche Leben und unsere Wirtschaft und letztendlichwohl auch unser Gemeinwesen insgesamt nur schwer-lich existieren könnten.Wie sehr die Sicherheit unserer IT-Systeme tagtäglichbedroht wird, belegen eindrucksvoll die Zahlen aus demletzten Lagebericht des Bundesamtes für Sicherheit inder Informationstechnik aus dem Jahr 2014 – der Innen-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9045
Stephan Mayer
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minister hat schon darauf hingewiesen –: Es gibt derzeitweltweit über 250 Millionen verschiedene Varianten vonSchadprogrammen, tagtäglich kommen etwa 300 000neue hinzu. Das BSI geht davon aus, dass allein inDeutschland bereits heute mehr als 1 Million Internet-rechner Teil eines Botnetzes sind, das heißt, ohne dasWissen des Besitzers des Internetrechners Teil eines kri-minellen Netzwerkes sind,
und von der Tendenz her nimmt das bedauerlicherweisestark zu.
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informations-technik hat festgestellt, dass im Vergleich von 2013 zu2014 die Zahl der Spam-E-Mails um 80 Prozent zuge-nommen hat,
dass die Zahl der E-Mails, die Schadsoftware aufweisen,innerhalb nur eines Jahres um 36 Prozent zugenommenhat. Wir alle kennen Stuxnet, aber auch viele weiterespektakuläre IT-Sicherheitsvorfälle aus den letzten Jah-ren, die diese Gefährdungssituation weltweit, aber auchin Deutschland, belegen. Das BSI hat im Frühjahr letztenJahres zwei Sicherheitsvorfälle offenkundig gemacht,bei denen insgesamt etwa 34 Millionen digitale Identitä-ten, E-Mail-Konten oder Passwörter, gestohlen wurden.Dennoch glaube ich – und das ist das Bemerkens-werte –, dass immer noch viele Firmen, aber auch pri-vate Nutzer den Ernst der Lage häufig deutlich unter-schätzen. So müssen wir immer noch feststellen, dass inder Praxis häufig nur geringe Schutzmaßnahmen getrof-fen werden. Einfache, aber notwendige Schutzmaßnah-men unterbleiben, sei es aus Kostengründen, sei esschlicht aus Bequemlichkeit oder auch aus Ahnungslo-sigkeit. Aus diesem Grunde können wir auf staatlicheMindestvorgaben in bestimmten Bereichen letztlichnicht verzichten.
Das alles zeigt, meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen, die große Bedeutung, die die IT-Sicherheitmittlerweile für uns und unser gesamtes Leben hat, aberauch den großen Handlungsbedarf, vor dem wir stehen.Mit dem nun vorliegenden Entwurf eines IT-Sicher-heitsgesetzes bringen wir eines der ersten größeren Vor-haben der Digitalen Agenda in dieser Legislaturperiodeauf den Weg. Mit diesem IT-Sicherheitsgesetz wird dieCybersicherheitsstrategie der Bundesregierung aus demJahr 2011 konsequent fortgesetzt und erweitert.Herr Kollege von Notz, ich möchte Ihnen klar erwi-dern,
weil Sie insinuiert haben, dass das Bundesinnenministe-rium eine unklare Haltung zur Verschlüsselungstechnikhabe:
Der Bundesinnenminister und auch die CDU/CSU-Bun-destagsfraktion haben eine eindeutige und klare Haltungzur Verschlüsselungstechnik.
Wir machen uns, mit Verlaub, auch nicht zu Hehlern vonSicherheitslücken.
Das ist eine infame Unterstellung, die Sie hier vorge-nommen haben, die so einfach nicht zutrifft. Demmöchte ich in aller Deutlichkeit entgegnen.
Eine Sicherheitslücke in der IT ist natürlich umso gra-vierender für das Allgemeinwohl, je stärker sogenanntekritische Infrastrukturen betroffen sind.
Herr Kollege Mayer, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen von Notz zu?
Selbstverständlich. Sehr gerne.
Ja, der Stehler ist kein Hehler. – Tut mir leid, dass ichSie jetzt direkt unterbreche, und danke, dass Sie dieFrage zugelassen haben. Ich will kurz auf die Vorwürfeantworten.Sagen Sie, Herr Mayer, für das Innenministerium– vielleicht kann der Minister kurz nicken –, dass derBND von seinen Plänen, in Zukunft Sicherheitslückenanzukaufen, Abstand nimmt? Wenn das nicht der Fallist, wie würden Sie das denn nennen, wenn jemand ille-gale Sicherheitslücken ankauft, und zwar nicht, um siezu schließen, sondern um sie zu nutzen? Also entwederdistanzieren Sie sich davon, oder Sie können diesen Vor-wurf leider nicht entkräften, Herr Mayer.
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Sehr geehrter Herr Kollege von Notz, ich distanziere
mich von der Behauptung, die Sie vorgenommen haben,
weil sie einfach nicht zutrifft. Es stimmt nicht, dass das
Bundesinnenministerium Sicherheitslücken ankauft.
Es stimmt auch nicht, dass der Bundesinnenminister hier
irgendwelchen Sicherheitslücken oder Backdoors das
Wort geredet hat.
Es gibt eine klare Position des Bundesinnenministers,
und diese wird zu 100 Prozent von der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion geteilt.
Die Vertraulichkeit und die Integrität der Kommuni-
kation sind für uns außerordentlich wichtige Grund-
werte. Gerade die von Ihnen genannte Verschlüsselungs-
technik wird derzeit von der Bundesregierung und auch
vom BSI finanziell unterstützt und vorangetrieben.
Die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist für uns ein ganz
wichtiges und essenzielles Sicherungsinstrument.
Dabei bleibt es auch. Die Behauptung wird auch nicht
wahrer, wenn Sie sie häufiger wiederholen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Sicher-
heitslücke in der IT ist natürlich umso gravierender, je
stärker die kritischen Infrastrukturen betroffen sind. Wir
alle kennen Horrorszenarien und auch entsprechende
Science-Fiction-Filme; aber die Gefahr ist real. Die Ge-
fahr, dass es auch in Deutschland zu einer massiven Be-
einträchtigung der öffentlichen Ordnung kommt, droht
durchaus, beispielsweise wenn sich ein länger andauern-
der Stromausfall ereignet, wenn die Lebensmittelversor-
gung ausfällt, wenn die Wasserversorgung ausfällt oder
wenn es zeitweise zum Zusammenbruch des Telekom-
munikationsnetzes kommt.
Das IT-Sicherheitsgesetz, das wir heute in der ersten
Lesung debattieren, regelt daher konsequenterweise die
Bereiche, in denen wir uns als moderne Gesellschaft
Ausfälle der IT weder leisten können noch wollen. Bei
unseren kritischen Infrastrukturen muss daher künftig
ein Mindeststandard an IT-Sicherheit vorgehalten wer-
den. Die Betreiber der kritischen Infrastrukturen werden
gehalten, erhebliche IT-Sicherheitsvorfälle zu melden.
Ich empfinde es schon als erheblichen Fortschritt, dass
es in Zukunft möglich sein wird, diese Meldungen bis zu
einer gewissen Erheblichkeitsschwelle anonym zu ma-
chen. Also erst wenn eine erhebliche Beeinträchtigung
oder wenn ein Ausfall der kritischen Infrastruktur droht,
muss diese Meldung mit Klarnamen vollzogen werden.
Bis diese Erheblichkeitsschwelle erreicht wird, ist die
Meldung auch anonym möglich. Ich glaube, dass dies
ein erheblicher Fortschritt ist, um auszuschließen, dass
es zu der von der Wirtschaft befürchteten Prangerwir-
kung kommt.
Mir ist auch sehr wichtig, dass wir mit diesem IT-Si-
cherheitsgesetz einen kooperativen Ansatz verfolgen.
Die Befürchtungen und die Zweifel, die teilweise in der
IT-Wirtschaft vorhanden sind, dass es letzten Endes eine
Einbahnstraße ist, dass also nur die Betreiber kritischer
Infrastrukturen an die neue zentrale Meldestelle des BSI
melden und es keine Rückkopplung gibt, werden da-
durch ausgehebelt und ausgeräumt, dass es sehr wohl der
Ansatz dieses Gesetzes ist, dass die Betreiber kritischer
Infrastrukturen natürlich gleichermaßen durch das BSI
informiert werden und möglicherweise im Vorfeld, noch
vor dem Eintritt von Schadensereignissen, vor dem Ein-
tritt von Cyberangriffen, entsprechend alarmiert werden
und sich so besser vorbereiten und rüsten können.
Dieser kooperative Ansatz, der mit diesem Gesetzent-
wurf verfolgt wird, ist aus meiner Sicht ein erheblicher
Fortschritt.
Wir werden parallel zu dem Schutz kritischer Infra-
strukturen die Kompetenzen des BSI ausbauen. Die
Warnbefugnisse des BSI werden gestärkt. Ferner wird
die Möglichkeit geschaffen, dass die Öffentlichkeit ge-
nauso wie auch die deutsche Wirtschaft stärker beraten
wird.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
gehen jetzt in das parlamentarische Verfahren. Wir wer-
den am 20. April eine Anhörung zu diesem Thema
durchführen. Ich sage hier für die Unionsfraktion ganz
klar: Wir sind offen für Hinweise, für Verbesserungsvor-
schläge von allen Seiten. Ich habe schon den Eindruck
– auch nach den ersten Rückmeldungen aus der Wirt-
schaft –: Der Grundansatz dieses Gesetzes wird vollum-
fänglich geteilt. Im Detail kann man mit Sicherheit noch
über das eine oder andere sprechen.
Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es uns mit
diesem IT-Sicherheitsgesetz gelingt –
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
– ich komme sehr gerne zum Ende –, Schrittmacherinnerhalb der Europäischen Union zu sein und die Ver-handlungen bezüglich der NIS-Richtlinie auf europäi-scher Ebene voranzutreiben. Das IT-Sicherheitsgesetz– davon bin ich fest überzeugt – wird für die kommendeNIS-Richtlinie Vorbild sein. Insoweit ist das kein reinnationaler Ansatz, –
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Herr Kollege, ich muss Sie noch einmal bitten, zum
Schluss zu kommen!
– sondern ein Vorbild für die europäische Ebene. Mit
einem entsprechend konstruktiven Ansatz, denke ich,
sollten wir auch die parlamentarischen Verhandlungen
führen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Halina
Wawzyniak von der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Was wir grundsätzlich vom IT-Sicher-heitsgesetz halten, hat mein Kollege Jan Korte schon ge-sagt. Prinzipiell ist das Anliegen komplett richtig. Aberes hilft nicht, etwas richtig zu meinen, man muss es auchrichtig machen.
Ich werde jetzt versuchen, ein wenig in die Details zugehen. Ich fange damit an, dass das Bundesamt für Ver-fassungsschutz bis zu 50 Stellen bekommen soll. Dasmacht 3,3 Millionen Euro aus. Jetzt ist die Frage: Wofüreigentlich? Ganz am Ende des Gesetzentwurfs schreibtder Normenkontrollrat: Der Stellenaufwuchsresultiert aus der Auswertung der vom BSI– dem Bundesamt für Sicherheit in der Informations-technik –zur Verfügung gestellten Informationen und sichdaraus … ergebenden Handlungserfordernissen.Abgesehen davon, dass ich es politisch falsch finde,dass das BSI offensichtlich Daten an das Bundesamt fürVerfassungsschutz weitergibt, stellt sich jetzt die span-nende Frage: Auf welcher Rechtsgrundlage passiert dasüberhaupt?
Sie verweisen in Ihrem Gesetzentwurf auf den § 8 bdes BSI-Gesetzes. Da werden aber nur Unterrichtungs-pflichten geregelt, kein Recht zur Datenübermittlung.Das Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holsteinhat richtig festgestellt: Auch im Bundesverfassungs-schutzgesetz findet sich keine Regelung bezüglich einerPflicht des BSI, Daten an das BfV zu übermitteln. DasBSI-Gesetz regelt in § 3 Nummer 13 b Folgendes: Es be-steht eine Unterstützungspflicht des BSI… bei der Auswertung und Bewertung von Infor-mationen, die … im Rahmen der gesetzlichen Be-fugnisse nach den Verfassungsschutzgesetzen desBundes und der Länder anfallen …Auch dort steht nichts davon, dass das BSI Informatio-nen an das Bundesamt für Verfassungsschutz weiterge-ben darf.
Sie begründen also einen Stellenaufwuchs beim Bun-desamt für Verfassungsschutz mit einer Datenweitergabedurch das BSI an das Bundesamt für Verfassungsschutz,für die es keine Rechtsgrundlage gibt. Sie merken dochselbst, dass das irgendwie nicht geht, oder?
Da ich viele wertvolle Stunden meines Lebens in derEnquete „Internet und digitale Gesellschaft“ verbrachthabe, ärgert mich noch etwas. Offensichtlich werdennämlich die Berichte dieser Enquete bei der Erstellungvon Gesetzentwürfen einfach nicht berücksichtigt. Damuss man sich die Frage stellen: Wozu machen wir einesolche Enquete dann überhaupt?
Die Projektgruppe „Zugang, Struktur und Sicherheitim Netz“ hat beispielsweise kritische Infrastrukturen de-finiert. Ihr Gesetzentwurf nennt Sektoren kritischer In-frastrukturen. Aber die Sektoren „Staat und Verwaltung“sowie „Medien und Kultur“ tauchen im Gesetzentwurfnicht auf. Wenn Sie mir jetzt mit Länderhoheit kommen,dann sage ich: Nehmen Sie wenigstens die Bundesver-waltung mit hinein, und reden Sie mit den Ländern, da-mit auch diese zwei Sektoren noch aufgenommen wer-den!
Auch vom sogenannten Kerckhoff-Prinzip ist bei Ih-nen nichts zu lesen, obwohl die Enquete empfohlen hat,auf dieses Prinzip zu setzen. Das Prinzip besagt, dasskritische Infrastrukturen Systeme benötigen, derenFunktionsweise prinzipiell vollständig offengelegt wer-den kann. Die Enquete urteilte – ich zitiere –:Der Open-Source-Weg, also das Kerckhoff-Prinzip,ist daher für Kritische Infrastrukturen ein geeigne-ter Weg.Auch davon steht nichts in Ihrem Gesetzentwurf, ob-wohl das in der Enquete einstimmig so gesehen wordenist.Sie hätten den Gesetzentwurf auch nutzen können– das ist der letzte Punkt –, um Regelungen zu schaffen,die Sicherheitsforscher und Entdecker von Sicherheits-
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Halina Wawzyniak
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lücken vor straf- und zivilrechtlicher Verfolgung schüt-zen, wenn sie damit verantwortlich umgehen. Das hattenLinke, Grüne und SPD in einem Sondervotum in derEnquete gefordert.
Kurz und gut: Sie machen mit dem Gesetzentwurf einwichtiges Anliegen durch einen komplett falschen An-satz kaputt. Ich kann nur hoffen, dass wir in der weiterenDebatte dem eigentlich sinnvollen Anliegen noch sinn-voll Rechnung tragen.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Christina
Kampmann von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Esgibt ein paar Dinge, ohne die diese Digitalisierung, vonder jetzt alle sprechen, nicht funktionieren kann: Sicher-heit zum Beispiel. Ohne Sicherheit kein Vertrauen, ohneVertrauen keine Nutzung, ohne Nutzung keine Ange-bote.Aber welche Verantwortung hat eigentlich der Staat,wenn es um die Sicherheit im Netz geht? Schauen wiruns dazu ein Zitat von Günther Oettinger, seines Zei-chens Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesell-schaft in der Europäischen Union, an.
– Nein, ich meine nicht das aktuellste, Herr von Notz, indem er die Verfechter der Netzneutralität als talibanartigbezeichnet.
Das habe ich weder verstanden noch konnte ich taliban-artige Züge bei mir oder bei Ihnen feststellen.
Ich meine das Zitat, mit dem Günther Oettinger quasiseine Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlamentgehalten hat. Nach dem Skandal um Nacktfotos aus ge-hackten Apple-Benutzerkonten gefragt, antworteteOettinger:Wenn jemand so blöd ist und als Promi ein Nackt-foto von sich selbst macht und ins Netz stellt, hat erdoch nicht von uns zu erwarten, dass wir ihn schüt-zen.Hat er das wirklich nicht? Und was ist mit denjenigen,die so blöd sind und über das Internet sogar Informatio-nen verschicken oder einkaufen? Sind sie Opfer oder Tä-ter? Haben sie eine Schuld, oder haben sie eine Mit-schuld? Wer ist eigentlich zuständig für Sicherheit imNetz? Und wie gehen wir damit um, wenn es dabei nichtum Fotos, sondern um Infrastrukturen wie Verkehr, Ge-sundheit, Wasser oder Energie geht, also solche kriti-schen Infrastrukturen, die maßgeblich für das Funktio-nieren unseres Gemeinwesens, die öffentliche Sicherheitund Ordnung sind? Das IT-Sicherheitsgesetz, über daswir heute diskutieren, gibt Antworten und formulierteine staatliche Verantwortung, von der ich zutiefst über-zeugt bin, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Aber brauchen wir denn überhaupt ein IT-Sicherheits-gesetz? Ich sage eindeutig Ja. Denn die Gefahr, Opfer ei-nes Cyberangriffs zu werden, ist in den letzten Jahren er-heblich gestiegen. Cybercrime ist heute die fünftteuersteVerbrechensart der Welt. Angriffe sind von nahezu je-dem Ort der Welt zu jeder Zeit und auf die unterschied-lichsten Ziele möglich. Gleichzeitig sind immer mehrtechnische Systeme mit dem Internet verbunden undauch untereinander vernetzt.Es ist eine Sache, ob sich Rihanna und Co. mit plötz-lich auftauchenden Nacktfotos im Netz rumschlagenmüssen. Eine andere Sache ist es, ob es einen gezieltenAngriff auf eine kritische Infrastruktur gibt; denn dieserkann eine Bedrohung für unsere ganze Gesellschaft sein.Hier hat der Staat eine klare Verantwortung. Die Frage,die wir uns heute stellen, ist: Kann er dieser Verantwor-tung mit dem IT-Sicherheitsgesetz gerecht werden? Umdie Antwort gleich vorwegzunehmen: Ja, das IT-Sicher-heitsgesetz findet Antworten auf die wesentlichen He-rausforderungen, denen wir politisch begegnen müssen.Herrn von Notz sage ich: Das ist kein deutscher Sonder-weg, wie Sie das nennen, sondern das ist ein gutes Bei-spiel, mit dem wir international vorangehen und auch in-ternational Standards setzen werden,
nicht für alle und nicht immer so umfassend, wie ich mirdas gewünscht hätte – dazu sage ich gleich noch etwas –;aber es bildet sehr wohl eine Grundlage, auf der manaufbauen kann und die in einer funktionierenden Sicher-heitsarchitektur eine zuverlässige Basis bilden wird.Aber schauen wir uns einmal die Inhalte an: Worumgeht es in diesem Gesetz eigentlich, und welche Zielekönnen damit tatsächlich erreicht werden? Ich möchtevor allem auf zwei Punkte eingehen, die in der öffentli-chen Diskussion besonders im Fokus standen.Zum ersten Mal gibt es für Betreiber kritischer In-frastrukturen eine gesetzliche Verpflichtung, einen Min-deststandard an IT-Sicherheit zu schaffen und einzu-halten. Das ist den einen zu wenig, weil dieBranchenverbände selbst Vorschläge für Sicherheitsstan-dards machen können; den anderen ist der bürokratischeAufwand zu hoch, insbesondere was die Meldepflicht an
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Christina Kampmann
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das BSI angeht. Was sie damit verkennen, ist die Tatsa-che, das IT-Sicherheit zwar teuer ist, aber ein Mangel anSicherheit um so vieles teurer ist, dass sich heute nie-mand mehr der Illusion hingeben darf, man könne daraufwirklich ernsthaft verzichten, liebe Kolleginnen undKollegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit derMöglichkeit zur grundsätzlich anonymen Meldung einenguten Kompromiss für alle Akteure gefunden haben, derdie Arbeit des BSI in wesentlichen Punkten erleichternwird und gleichzeitig die Widerstandsfähigkeit derNetze im Bereich kritischer Infrastrukturen erhöht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michzweitens auch noch ein paar Punkte zum Thema BSI sa-gen. Ich finde es richtig und wichtig, dass das BSI imRahmen des IT-Sicherheitsgesetzes gestärkt wird. DieZuständigkeit des BSI geht inzwischen weit über die Ab-wehr von Gefahren für die IT des Bundes hinaus: Esdient zunehmend auch Unternehmen, Verwaltungen undder Politik als Ansprechpartner in Fragen von Cyber-sicherheit. Herr Korte, es für diese Aufgabe mit zusätzli-chen Stellen zu stärken, ist die richtige Entscheidung.Dazu gibt es keine Alternative.
– Das haben auch Sie in diesem Kontext erwähnt. Ichhabe bei Ihrer Rede sehr genau zugehört; davon könnenSie ausgehen.
Was aber nicht geht – das sage ich in aller Deutlich-keit auch im Hinblick auf die Berichterstattung der ver-gangenen Tage –, ist eine Doppelfunktion des BSI, diezwei Dinge in sich vereint, die quasi genauso unverein-bar sind wie die rechtliche Gleichstellung von Mann undFrau und die faktische Entgeltungleichheit im 21. Jahr-hundert von immer noch 22 Prozent.Das BSI hat eine klare Rolle in der Cybersicherheits-architektur des Bundes und eine eindeutige Zuständig-keit für die defensive Sicherheit in unserem Land. EineDoppelfunktion, mit der auf der einen Seite die Bürgerund die Unternehmen geschützt werden sollen, auf deranderen Seite aber aktiv dazu beigetragen würde, Sicher-heitslücken erst zu ermöglichen, würde nicht nur derGlaubwürdigkeit des BSI, sondern auch der Politik ins-gesamt schaden. Deshalb wollen wir IT-Sicherheit fürund nicht gegen die Menschen in unserem Land schaf-fen. Um diesen Konflikt grundsätzlich zu vermeiden,setzt sich die SPD auch weiterhin für eine größere Unab-hängigkeit des BSI ein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, tatsächlichgibt es weitere Punkte, auf die wir uns im Koalitionsver-trag geeinigt haben, die aber in diesem Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes noch nicht auftauchen, obwohl ichsagen würde: Sie passen da eigentlich ziemlich gut hi-nein.Ich denke zum Beispiel an die Aussage, dass Deutsch-land Verschlüsselungsstandort Nummer eins werdensoll. In meinen Ohren klingt das jedes Mal richtig gut.Fakt ist aber: Verschlüsselung geschieht nur selten vonselbst. So etwas wie eine marktgetriebene Verschlüsse-lung ist zwar zu finden, sie kommt aber ungefähr ge-nauso häufig vor wie eine Niederlage von Arminia Bie-lefeld im DFB-Pokal, nämlich quasi nie.
Warum sollte man also nicht eine Verpflichtung zurTransportverschlüsselung für Telekommunikationsunter-nehmen aufnehmen?
Dass IT-Hersteller und -Diensteanbieter für Daten-schutz- und Sicherheitsmängel ihrer Produkte haften sol-len, steht ebenfalls im Koalitionsvertrag, und auch dieseRegelung hätte ihren Platz in diesem Gesetzentwurf,weil damit ein deutlicher Gewinn an IT-Sicherheit er-reicht werden könnte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, IT-Sicher-heit ist die unverzichtbare Bedingung für die Digitalisie-rung. Ich glaube, das ist heute mehr als deutlich gewor-den. Ohne Sicherheit im Netz, ohne ein Maximumdessen, was wir tun können, um unsere Systeme zuschützen, ist all das, was uns in Zukunft ausmachenwird, hinfällig.
Industrie 4.0 ist ohne IT-Sicherheit null und nichtig,und die Cloud-Technologie wäre ohne Cybersicherheitkomplett sinnlos. Weitere Beispiele sind E-Government,Smart Meter, autonomes Fahren, intelligentes Wohnenund digitales Arbeiten. Selbst das Spielen wird in Zu-kunft zur sicherheitstechnologischen Herausforderungwerden, wenn die just angekündigte WLAN-Barbie indeutschen Kinderzimmern ihr Unwesen treibt; denn abHerbst soll es ein Modell geben, das Gespräche derKleinsten in unseren Kinderzimmern aufzeichnen wird.Es ist nicht auszudenken, was passiert, wenn die ersteBarbie gehackt wird.
– Genau, darin sind wir uns einig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann so vieleBeispiele aufzählen, die zeigen: Vieles von dem, washeute bereits Realität ist und in Zukunft noch viel stärkerauf uns zukommt, wird schlichtweg nicht möglich sein,wenn wir nicht ein Maximum an Cybersicherheit ge-währleisten. Deshalb ist es gut, dass wir mit dem Ent-wurf des IT-Sicherheitsgesetzes einen Anfang gemacht
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9050 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Christina Kampmann
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haben, der für entscheidende Bereiche des öffentlichenLebens die Schaffung und Einhaltung von Mindeststan-dards vorschreibt.Klar ist aber: Das kann tatsächlich nur ein Anfangsein. Denn die Gefährdungslage wird eher zu- als abneh-men, und nicht nur die technischen, sondern auch diepolitischen Herausforderungen werden mit der weiterendigitalen Durchdringung aller Lebenswelten zunehmendgrößer. Lasst uns deshalb nicht auf dem ausruhen, waswir erreicht haben, sondern die Digitalisierung politischso gestalten, dass sie zu dem wird, was sie verdient hat:zu einem positiven Zukunftsversprechen.Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
Dieter Janecek von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Kampmann,der Vergleich mit Arminia Bielefelds Rolle im DFB-Pokal reizt mich nun schon ein bisschen. Sie wollen dieIT-Sicherheit international voranbringen, wie das auchKollege Mayer gesagt hat. Aber Champions League istdas noch lange nicht.
Das, was Sie hier vorlegen, ist im Gegenteil eher Kreis-klasse.
Kommen wir zum Schutz unserer digitalen Infra-struktur. Die SPD ist bei diesem Thema noch nicht solange dabei, aber die Union beschäftigt sich damit schonseit zehn Jahren.Sie sind mit diesem Thema in der Tat überfordert. Eshat zwei Jahre vom ersten Referentenentwurf – damalsnoch unter Innenminister Friedrich – bis heute gedauert.Wie bei der digitalen Agenda insgesamt, kann man auchhier feststellen: Es ist wahrlich kein großer Wurf. Es isteine konsequente Fortsetzung Ihres Klein-Kleins der di-gitalen Agenda.
Das, was Sie hier vorlegen, ist ein Gesetzentwurf zurSimulation von IT-Sicherheit.
Das, was wir aber brauchen, ist ein wirkungsvolles Re-gelwerk, ja sogar ein dynamisches Regelwerk, auf demSie aufbauen und die IT-Sicherheit tatsächlich verbes-sern können.
Ihr Ziel ist es doch, die kritische Infrastruktur zuschützen. Sie nehmen die Wirtschaft in die Pflicht – da-bei unterstützen wir Sie –, stellen aber an die eigene kri-tische Infrastruktur des Bundes nur sehr geringe Anfor-derungen. Da kann ich die Kritik aus der Wirtschaftschon verstehen, die da lautet: Das, was ihr von uns ver-langt, würden wir gerne auch bei euch sehen. – Das aberliefern Sie nicht.
Bei 50 Milliarden Euro liegt nach Schätzungen derSchaden der deutschen Volkswirtschaft durch Cyberatta-cken. Der Bundeswirtschaftsminister stellt zu Recht fest,dass gerade in Kleinbetrieben Bedenken bei der Datensi-cherheit die Digitalisierung hemmen. Jetzt frage ich Sieallerdings: Welchen Beitrag also leistet Ihr vorgelegterGesetzentwurf? Wird mit diesem Gesetzentwurf derWirtschaft geholfen, mit der Gefahr von Cyberangriffenbesser umzugehen? Die Antwort ist eindeutig Nein. Ent-hält der Gesetzentwurf wirksame Instrumente, die dieUnternehmen zur Verbesserung der IT-Sicherheit benöti-gen? Auch das ist nicht der Fall. Hilft der Gesetzentwurfinsbesondere den kleinen und mittleren Unternehmenbei der Digitalisierung? Auch das ist noch weniger derFall.
Sie verlieren sich in Ihrem Gesetzentwurf in Unklar-heiten. Das geplante IT-Sicherheitsgesetz wird in dieserForm keinen Beitrag zur Steigerung der IT-Sicherheit inDeutschland leisten. Ich sage Ihnen auch, warum. IhrGesetzentwurf schreibt zwar eine Meldepflicht bei IT-Sicherheitsvorfällen vor. Es bleibt aber völlig unklar,was mit diesen Meldungen passiert. Das Bundesamt fürSicherheit in der Informationstechnik kann sich durchdie Dokumentationspflicht ein Lagebild über die IT-Si-cherheit verschaffen. Das ist vorgesehen. Die Frage istallerdings: Was passiert mit diesen Daten? Die Frage istauch: Welche Planungs- und Rechtssicherheit geben Sieden Unternehmen?
Schauen wir uns einmal die Begrifflichkeiten an: Der„Stand der Technik“ solle berücksichtigt werden, heißtes in § 8 a Absatz 1 Ihres Gesetzentwurfes. „ErheblicheStörungen“ sollen gemeldet werden, so § 8 b Absatz 4.Von „kritischer Infrastruktur“ ist in § 1 die Rede. Alldiese Begriffe sind unklar definiert. An diesem Gesetz-entwurf lässt sich überhaupt nicht erkennen, welche Un-ternehmen von der Meldepflicht überhaupt betroffensind.
Alles in allem – die Liste ließe sich noch lange fort-setzen –: So viel Unklarheit hilft Unternehmen bei derIT-Sicherheit nicht weiter. Dass Unternehmen und ihreVerbände Meldepflichten kritisieren, ist natürlich wenigüberraschend. Dennoch stellt sich hier schon die Sinn-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9051
Dieter Janecek
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frage: Wo ist denn hier der direkte Beitrag zur Verbesse-rung der IT-Sicherheit? Tragen die vorgesehenen ver-schärften Berichtspflichten tatsächlich dazu bei, das IT-Sicherheitsniveau von Unternehmen zu verbessern? DerSchwerpunkt Ihres Gesetzentwurfes müsste doch viel-mehr auf der Behebung von und dem vertrauensvollenAustausch über IT-Sicherheitslücken und -Schwachstel-len liegen. Das tut er eben nicht.
Sie bieten auch keinen Anreiz, Angriffe möglichst frühzu identifizieren und dadurch Schaden abzuwenden. ImGegenteil: Sie schaffen eine Meldebürokratie, deren Ver-wertung, Analyse und Bereitstellung unklar bleiben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuelle Bun-desregierung und die Vorgängerregierung waren beimThema IT-Sicherheit jahrelang im Dämmermodus. Jetztsind Sie endlich aufgewacht. Das ist gut so; da stimmeich auch Herrn Korte zu, da gehen wir in eine Richtung.Die Herausforderungen sind komplex; das ist keineFrage. Der vorgelegte Gesetzentwurf überzeugt abernicht, weder inhaltlich noch konzeptionell; denn er hilftnicht, die Herausforderungen in der IT-Sicherheit zu be-wältigen. Der Schutz kleiner und mittelständischer Un-ternehmen und der Privatuser vor Cyberangriffen bleibtdabei außen vor. Das kann uns nicht zufriedenstellen.Deshalb: Wenn Sie Champions League sein wollen,dann machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben. Auf unserekonstruktive Begleitung dabei können Sie sich verlas-sen.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Clemens
Binninger von der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Industrie 4.0, Internet der Dinge, Cloud Computingund Smart Meter sind nur einige wenige Begriffe, diezeigen, wie sehr sich auch unsere Wirtschaft verändertund dass immer mehr vom Austausch von Informationenund Daten abhängt. Darüber sollten wir uns klar sein,Herr Kollege von Notz. Denn Sie erwecken immer wie-der den Eindruck, man könnte mit staatlicher Regulie-rung alles lösen.
Das wird nicht gehen.Die Entwicklungen, mit denen wir es zu tun haben,sind meiner Ansicht nach von drei Punkten bestimmt:von Innovationen – auf sie haben wir nicht immer direktEinfluss –, von Geschäftsmodellen – dabei geht es umdie Frage, womit man Geld verdienen kann; das ist einerder größten Treiber –, und vom Verhalten der Kunden,egal ob es Unternehmen sind, die immer mehr auf Tech-nik setzen müssen, oder ob es der Privatnutzer ist, dersich dazu entschließt, künftig alles online und mithilfevon Apps und Ähnlichem zu machen.Das sind die drei entscheidenden Punkte. Sie habeneine so starke Dynamik, dass es keine Regierung undkeine Partei geben wird, die sagt: Wir können alle Ge-fahren sofort erkennen und schaffen vorneweg entspre-chende Regelungen. – Das ist schlicht und einfach nichtmöglich. Der Gesetzgeber muss diese Entwicklungen imBlick behalten und dann – er wird aber immer einenSchritt hinterher sein – richtig reagieren und eine gesetz-liche Regelung schaffen. Das tun wir heute.Wir reden heute über ein sehr spezielles Segment. Esgeht um kritische Infrastrukturen. Ich verstehe nicht, wa-rum kaum ein Debattenbeitrag ohne die üblichen War-nungen vor dem Verfassungsschutz und der Vorratsda-tenspeicherung auskommt. Das geht am Thema vorbei.
Ich würde gerne mit Ihnen darüber diskutieren, wie wirkritische Infrastrukturen schützen können. Aber dannmüssen wir uns von solchen Aussagen lösen und bereitsein, in der Sache zu diskutieren.
Dazu war bislang eher wenig zu hören.Es mag parteipolitisch nett klingen, wenn Sie sagen– darauf haben Sie ein paarmal abgehoben –, wir seienaufgewacht, würden aber immer noch zu wenig machen.Das sind doch die üblichen rhetorischen Floskeln, mitdenen man in der politischen Debatte, finde ich, eher fürLangeweile als für einen konstruktiven Dialog sorgt.
– Ja, wir regieren seit zehn Jahren.
Das ist gut für dieses Land, wie ich finde.
– Es ist natürlich ganz toll, wenn die SPD mit dabei ist.Das habe ich vergessen. Aber es stimmt schon.
Übrigens hat die Netzpartei Die Grünen in dieser Zeitkeinen Gesetzentwurf vorgelegt. Auch in den Ländernhaben Sie sich nicht mit Maßnahmen zur IT-Sicherheithervorgetan. Wir haben in dieser Zeit das BSI gestärkt.Wir haben eine Anti-Botnet-Initiative und die Allianz
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9052 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Clemens Binninger
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für Cyber-Sicherheit auf den Weg gebracht. Was dasThema De-Mail angeht, ist zu sagen, dass eine Kom-plettverschlüsselung vorgesehen ist.
Sie mögen alles als zu langsam und zu wenig kritisieren.Aber wir haben mehr gemacht als Sie alle, Grüne undLinke in der Opposition, in den ganzen Jahren zusam-men. Sie haben das Thema auch nicht entdeckt, und Siehaben bislang auch keine konstruktiven Vorschläge vor-gelegt.
Trotzdem – deswegen habe ich meine Ausführungenso eingeleitet – kann man beim Thema IT-Sicherheit nieden Punkt definieren, an dem man feststellen kann: Nunhaben wir alles gemacht; es bleibt nichts mehr zu tun. –Das wird nicht möglich sein, weil die starke Dynamikbleibt und von uns verlangt, dass wir immer wieder et-was tun müssen.Zu den Herausforderungen bei den kritischen Infra-strukturen haben Sie kaum ein Wort verloren, obwohldie Linken und die Grünen sonst immer sagen, der Staattue zu wenig bei der Spionageabwehr. Aber wenn dieBehörde, die für Spionageabwehr zuständig ist, der Ver-fassungsschutz, mehr Stellen bekommt, dann ist dasauch wieder nicht recht. Das ist unglaubwürdig undüberzeugt in keinem einzigen Punkt. So widersprüchlichkann nur die Linke argumentieren.
Vor welchen Herausforderungen stehen wir eigent-lich? Herr Kollege von Notz, Sie haben vorhin ein sehrdramatisches Bild gewählt: In Deutschland brennt dieHütte, was die IT-Sicherheit angeht. – Das könnten Siesicherlich weiter ausdehnen, aber ich würde es nicht sodramatisch formulieren.
– Jetzt wird es gleich dunkel, aber erst nach meinerRede.
Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht, Herr Kollegevon Notz. Ich gebe Ihnen recht, dass wir überhaupt nichtwissen, wo kritische Infrastrukturen heute angegriffenwerden, weil die Betreiber, privatwirtschaftliche Unter-nehmen, kein Interesse daran haben, das öffentlich zumachen, aus Angst vor Rufschädigung oder was auchimmer.
Wir haben überhaupt kein Lagebild, aus dem hervor-geht, woher Angriffe kommen, wie sie aussehen undwelche Sektoren – Energieversorgung, Finanzwirtschaft,Gesundheitsversorgung oder Logistik – hauptsächlichangegriffen werden. Wir wissen schlicht und einfach zuwenig. Es ist unsere Herausforderung, das zu ändern undzu lösen. Deshalb machen wir dieses Gesetz.Das Gesetz beinhaltet eine Reihe von Komponenten.Wir stärken die Rolle des BSI. Man kann sicherlich da-rüber diskutieren, wie groß die Unabhängigkeit des BSIsein sollte. Aber dass wir eine Stelle brauchen, die dieKompetenzen bündelt und der Wirtschaft als Ansprech-partner zur Verfügung steht, kann niemand bestreiten.Wie gesagt, wir stärken das BSI, wenn es um Produktun-tersuchungen, die Warnfunktion und die Rolle als An-sprechpartner für die Wirtschaft geht. Das ist ein guterund wichtiger Schritt für die Cybersicherheit in diesemLand.
Des Weiteren geht es um eine Regelung der Melde-pflicht. Unternehmen und Verbände wie BITKOM hat-ten am Anfang Sorge: Was wird da von uns verlangt?Können wir uns den damit verbundenen bürokratischenAufwand überhaupt leisten? Ist es geschäftsschädigend,wenn ein großes Unternehmen aus der Finanzwirtschaftmelden muss, dass sein Rechenzentrum gehackt wurde?– Mittlerweile bekommen wir überwiegend positiveRückmeldungen. Die Unternehmen sagen: So wie es ge-setzlich geregelt ist, ist es gut. Bis zu einem bestimmtenGrad wird die Anonymität gewahrt.Kleine Unternehmen können eine gemeinsame Mel-destelle bei ihrem Verband einrichten, die sich dann andas BSI wendet. Wir garantieren die Anonymität. AlleUnternehmen aus dieser Branche profitieren davon, weilsie gewarnt werden: Bank XY oder Logistiker XYwurde mit diesem oder jenem Modus Operandi oder die-sem oder jenem Trojaner angegriffen. Achtung! Wapp-net euch, und setzt entsprechende Maßnahmen um! –Dieser Schritt geht mehr als nur in die richtige Richtung.Er schafft die Grundlage dafür, dass wir unsere kriti-schen Infrastrukturen für die Bevölkerung und die Ver-sorgung sicherer machen. Hier gehen wir einen wichti-gen Schritt nach vorne.Nun zum Punkt, den Sie ein paarmal kritisiert haben.Sie haben gesagt, im Gesetz sei zu wenig geregelt und esenthalte zu viele unbestimmte Rechtsbegriffe. Auch da-rüber haben wir uns Gedanken gemacht. Aber ich garan-tiere Ihnen: Wer sich mit diesem Thema seriös auseinan-dersetzt, wird erkennen, dass sich in einem statischenGesetz nie alle denkbaren Begrifflichkeiten für alle Zei-ten regeln lassen: Was ist ein Cyberzwischenfall? Wannist er meldepflichtig? Welche Unternehmen und welcheBranchen sind einzubeziehen? Es handelt sich vielmehrum einen dynamischen Prozess, wie Sie selber gesagthaben, Herr Kollege von Notz. Deshalb wählen wir denVerordnungsweg, um es Exekutive, Parlament und Wirt-schaft zu ermöglichen, diese Fragen gemeinsam zu be-antworten.
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Clemens Binninger
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Wer gehört zu den Betreibern kritischer Infrastruktu-ren? Dazu gehört sicherlich nicht jedes Stadtwerk. Viel-leicht gehören aber Stadtwerke ab einer bestimmtenGröße dazu. Wir gehen von etwa maximal 2 000 Betrei-bern kritischer Infrastrukturen aus, die am Ende unterdie Meldepflicht fallen können. Auf jeden Fall werdenwir auch in Zukunft immer wieder überprüfen müssen,ob wir alle Betreiber kritischer Infrastrukturen erfassthaben oder ob es neue Sektoren gibt, die es aufgrund be-stimmter Geschäftsmodelle zu berücksichtigen gilt.Diese Dynamik lässt sich nicht im Gesetzgebungsver-fahren auflösen. Dazu braucht man den Verordnungs-weg.
Herr Kollege, es tut mir leid, aber ich muss Sie in Ih-
rer Dynamik unterbrechen. Sie müssen zum Schluss
kommen.
Ich überziehe selten, aber noch habe ich Licht.
Einen Punkt möchte ich noch ankündigen. Die Regie-
rung und die sie tragenden Fraktionen sind durchaus of-
fen für konstruktive Vorschläge. Wir selber haben einige
Ideen, wie wir nachjustieren können. Das gilt insbeson-
dere für die Standards in der Verwaltung. Wir werden in
jedem Fall über die Frage der Evaluierung reden müs-
sen. Die Unternehmen bekommen zwei Jahre Zeit für
die Umsetzung. Wir müssen dann nach einer bestimmten
Zeit erneut prüfen.
Dieses Gesetz schafft auf einem wichtigen Feld eine
gute Grundlage, um die IT-Sicherheit in unserem Land
zu verbessern. Ich kann Sie nur dazu einladen, daran
konstruktiv mitzuwirken.
Herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Lars Klingbeil
von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich bin dem Kollegen Binninger für die Tonlage, die erin diese Diskussion hineingebracht hat, sehr dankbar. Ichfinde, diese Tonlage ist der Diskussion, die wir heuteführen, angemessen.
Ich erinnere mich noch daran, dass ich gegen Endeder letzten Legislatur als Sprecher der SPD in der En-quete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“beim damaligen Innenminister Friedrich eingeladen war;Konstantin von Notz war auch dabei.
Wir haben über wegweisende Empfehlungen der En-quete-Kommission geredet.Eine der Hauptbotschaften des damaligen Innen-ministers war: Wir müssen im Bereich des IT-Sicher-heitsgesetzes endlich vorankommen. – Diese Botschafthat sich, glaube ich, vor allem an den damaligen Koali-tionspartner gerichtet. Es zeigt aber auch, wie lange wirdie notwendige Diskussion hier im Parlament führen.Wenn heute der Vorwurf im Raum steht, dass wir zulange gebraucht haben, kann ich für diese Koalition nursagen: Ich finde es gar nicht schlecht, dass wir nach ei-nem Jahr ein solch wichtiges, ein solch wegweisendesGesetz hier auf den Weg bringen. Ich halte es für drin-gend notwendig, dass wir im Bereich der IT-Sicherheitendlich vorankommen.
Ich glaube, dass wir heute einen Paradigmenwechseleinleiten, den wir nicht zu kleinreden sollten. Wir defi-nieren die Rolle des Staates im Bereich der IT-Sicherheitheute anders. Wir machen heute mit diesem Gesetz deut-lich, dass der Staat eine Aufgabe im Bereich der Kon-trolle, des Lagebildes und auch der Informationseinho-lung hat und dass er dort ganz andere Rechte hat. Wiralle wissen doch, wie notwendig es ist, dass der Staateine andere Rolle bekommt. Das erkennen wir, wenn wiruns die Verletzlichkeit einer modernen Gesellschaft an-schauen, wenn wir sehen, wie verletzlich öffentliche Da-seinsvorsorge, der Energiebereich, der Verkehrsbereich,der Gesundheitsbereich sind. Wir erkennen, der Staatmuss eine andere Rolle bekommen, und die bekommt ermit diesem Gesetz.Ich warne aber auch davor – der Kollege von Notz hatdas vorhin angesprochen –, dass wir hier den Eindruckerwecken, das IT-Sicherheitsgesetz sei die Antwort aufSnowden und alle Bedrohungen, die sonst irgendwie imRaum stehen.
– Konstantin, darum geht es gar nicht, sondern es gehtdarum, dass wir heute einen Teil definieren.Viele andere Aufgaben liegen politisch noch vor uns,wenn es darum geht, Vertrauen in die IT-Infrastruktur,Vertrauen in Kommunikation, Vertrauen auch in Ge-heimdienste wiederherzustellen. Da müssen wir nocheine ganze Palette von Aufgaben erledigen. Das IT-Si-cherheitsgesetz ist ein kleiner Teil. Andere Punkte sindgenannt worden. Da geht es um IT-Sicherheitsforschung.Da geht es um die Herstellung von digitaler Souveräni-tät. Da geht es um Verschlüsselungs- und Kryptotechno-logien. All das ist auch im Koalitionsvertrag angelegt.Auch wir Sozialdemokraten werden Druck machen, dasshier in den nächsten Jahren etwas passiert, wenn es da-rum geht, Vertrauen in Kommunikation wiederherzustel-len.
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Lars Klingbeil
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Ich will ein paar Punkte nennen, die für uns im parla-mentarischen Verfahren sehr wichtig sein werden, unddem Kollegen Janecek ausdrücklich anbieten: Wenn esIdeen gibt, wie man in die Champions League aufsteigenkann, dann werden wir sie uns im parlamentarischenVerfahren genau anschauen.Ein Punkt, den wir sicherlich diskutieren werden – ei-niges ist angesprochen worden –, ist die Frage: Hat derStaat für das Lagebild eigentlich auch die Angriffe abzu-liefern, die auf ihn ausgeübt werden? Da gab es gesternnoch die Kritik, dass das Gesetz, was diesen Punkt an-geht, verfassungswidrig sei. Ich glaube nicht, dass esverfassungswidrig ist. Aber wir bieten schon an, dass wiruns das noch einmal anschauen. Es ist auch in unseremInteresse, dass klar ist, was der Staat melden muss.Ein Weiteres hat die Kollegin Kampmann angespro-chen: die Rolle des BSI. Wir halten es für richtig, dassdas BSI aufwächst, dass es eine neue Verantwortung be-kommt. Aber wir wollen auch noch einmal über die Un-abhängigkeit des BSI und über die Frage, wie sie ge-stärkt werden kann, reden. Die Kritik aus der Wirtschaft,das BSI sei Diener zweier Herren, müssen wir im parla-mentarischen Verfahren sehr ernst nehmen.Was die Meldepflicht angeht, kann ich den Vorwurfder Rechts- und Planungsunsicherheit nicht verstehen.Wir alle wissen, dass es eine entsprechende Verordnunggeben wird. Wir alle wissen auch, wie schwierig und wiesensibel die Definition von „kritische Infrastruktur“ ist.Es geht um die Frage: Welche Angriffe sind es eigent-lich, die anonym oder namentlich gemeldet werden müs-sen? Wenn wir diesen Paradigmenwechsel vollziehenwollen, dann muss dem eine sensible Debatte voraus-gehen. Diese Debatte muss die Politik auch mit derWirtschaft sehr sensibel führen. Da hat sich der Innen-minister auf den Weg gemacht; da hat sich die Bundesre-gierung auf den Weg gemacht. Ich halte das für richtig.Man kann von der Politik nicht immer sofort hundertpro-zentige Antworten erwarten. Deswegen ist der Weg übereine Rechtsverordnung hier genau richtig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will für unsnoch einmal ausdrücklich sagen: Das ist heute die ersteLesung. Wir gehen jetzt in ein parlamentarisches Verfah-ren mit Anhörungen, in denen wir uns viele Punkte si-cherlich noch einmal genau anschauen werden. Aberdas, was hier grundsätzlich passiert – dass der Staat eineandere Verantwortung im Bereich der IT-Sicherheit be-kommt –, das ist der richtige Weg. Es wurde Zeit, dasshier endlich etwas passiert. Wir sind froh, dass es unsnach einem Jahr Große Koalition gelungen ist, das IT-Si-cherheitsgesetz auf den Weg zu bringen. Ich würde michfreuen, wenn sich die Opposition konstruktiv in die De-batte einbrächte, vielleicht nicht ganz so krawallig, wiees heute an der einen oder anderen Stelle der Fall war.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die KolleginNadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Nadine Schön (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Big Data, Internet der Dinge, Industrie 4.0, Smart Grids,Smart Meter – das sind die Schlagworte, die in dieserWoche die Diskussionen um die Digitalisierung bestim-men; denn diese Woche ist CeBIT-Woche. Darum gehtes bei der größten IT-Messe der Welt und nicht, lieberKollege Konstantin von Notz, um die Snowden-Enthül-lungen. Ich habe auf der CeBIT vor allem erlebt, dassman sich damit beschäftigt, wie sich die Welt verändert,wenn sie zunehmend vernetzt ist, wenn alles intelligen-ter, vernetzter und auch smarter wird.
Wir wissen um die Potenziale dieser Vernetzung fürdie Wirtschaft und die Gesellschaft. Wenn man sich nurden Bereich Landwirtschaft anschaut: Es gibt heuteschon Möglichkeiten, mittels Knopfdruck zu sehen, wieweit die Pflanzen in ihrer Entwicklung sind, ob Regenkommt und man das Feld nicht bewässern muss. Maschi-nen korrespondieren untereinander, setzen sich selbst inGang. Das ist Landwirtschaft 4.0. Hier sieht man, wievernetzt das alles ist.Das Gleiche gilt auch bei der Energieversorgung.Windräder, PV-Kollektoren werden anhand von IT-Strukturen gesteuert. Man kann sehen, wie das Wettersich entwickelt, wann man viel Strom braucht. Er wirdintelligent gesteuert ins Netz eingespeist. Da wird in dennächsten Jahren viel passieren.Es gibt viele Szenarien, die uns guter Hoffnung seinlassen, dass wir die Chancen der Digitalisierung inDeutschland nutzen können und alle davon einen Mehr-wert haben im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit, auf Effi-zienz und auf Ressourcensparsamkeit.Dies sind gute Szenarien, aber es gibt auch die Hor-rorszenarien. Horrorszenarien kann man sich vorstellen,wenn man einmal darüber nachdenkt, was denn passiert,wenn genau diese Netze, diese Infrastrukturen nichtmehr funktionieren oder – schlimmer noch – wenn sievon außen manipuliert werden. Deshalb müssen wir al-les dafür tun, dass die Infrastrukturen, die die Versor-gung der Menschen in unserem Land sicherstellen, auchfunktionieren. Diese müssen wir besonders schützen.Deshalb legen wir heute das IT-Sicherheitsgesetz vor,das zum einen darauf abzielt, vor allem die kritischen In-frastrukturen wirkungsvoll zu schützen: mit Mindest-standards, mit Meldepflichten; der Minister hat das imEinzelnen ausgeführt.
Die zweite Zielrichtung des Gesetzes ist, das Sicher-heitsniveau der informationstechnischen Systeme inDeutschland insgesamt zu heben; denn wir beobachtenimmer noch eine gewisse Sorglosigkeit bei Unterneh-
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Nadine Schön
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men, bei kleinen und mittleren Unternehmen, auch beider Bevölkerung. Wir haben die Diskussion etwa umSnowden, um Hackerangriffe, um Datendiebstahl in gro-ßem Umfang, aber das spiegelt sich nicht unbedingt imNutzerverhalten wider. Noch heute werden die angemes-senen Sicherheitsmaßnahmen, die man ergreifen könnte,nicht ergriffen.Deshalb ist es wichtig, dass wir dafür sorgen, dass dieUser informiert werden, wenn etwa Angriffe von außenauf das Netz erfolgen. Deswegen werden wir die Provi-der dazu verpflichten, das an die Nutzer zu melden. Daswar uns schon bei den Koalitionsverhandlungen ein ganzwichtiges Anliegen; deshalb haben wir es aufgenom-men. Wir werden dafür sorgen, dass die Grundsicherheitsowohl bei den Unternehmen als auch bei den Privatper-sonen erhöht wird.Das IT-Sicherheitsgesetz ist ein Maßnahmenpaket.Der Minister hat die einzelnen Punkte ausführlich darge-stellt. Wir werden in den nächsten Wochen ausführlichüber die einzelnen Punkte sprechen und überlegen, wieeffizient oder effektiv die einzelnen Maßnahmen sind,welche Wechselwirkungen es aber auch gibt, um dannmöglichst viel Sicherheit für die Menschen in unseremLand zu gewährleisten.Ich will der Diskussion nicht vorgreifen, aber zu zwei,drei Punkten, die schon kritisch angemerkt wurden, et-was sagen.Das Erste ist: europäische Lösung. Natürlich habenwir in Europa einen großen Binnenmarkt, aber derzeitnoch mit 28 fragmentierten digitalen Märkten. Das kannso nicht bleiben. Deshalb begrüßen wir auch sehr, dassGünther Oettinger die Digitalunion ausgerufen hat. Wirbrauchen natürlich einheitliche Standards in ganz Eu-ropa. Was Deutschland jetzt macht, ist, wie die Kanzle-rin gesagt hat, die Blaupause für diese Diskussionen aufeuropäischer Ebene. Wir bringen das, was wir hier insGesetz schreiben, natürlich auch auf der europäischenEbene ein.
Man erwartet von Deutschland als dem Land, das im Be-reich IT-Security unbestritten Vorreiter in Europa ist,dass wir vorangehen, dass wir unsere Vorschläge ein-bringen.
Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir zum einenmit unserem Gesetz eine Vorreiterrolle einnehmen unduns zum anderen parallel dazu bei den Diskussionen aufeuropäischer Ebene einbringen. Wir können jetzt nichtwarten, bis das in Europa ausdiskutiert ist, bis es eineRichtlinie gibt, bis diese umgesetzt wird. Wir brauchendas Gesetz jetzt; denn wir brauchen jetzt mehr Sicher-heit. Deshalb machen wir das zweigleisig, und das ist ge-nau der richtige Weg.
Der zweite Punkt ist die Diskussion über die unbe-stimmten Rechtsbegriffe. Natürlich muss man als Unter-nehmen wissen, ob man von einem Gesetz betroffen istoder nicht. Insofern muss man sich die Begriffe „kriti-sche Infrastruktur“, „bedeutende Störungen“, „Stand derTechnik“ alle noch einmal anschauen. Aber Digitalisie-rung ist eben schnelllebig. Deshalb muss das Gesetz sogestaltet sein, dass wir nicht bei jeder technischen Neue-rung im Bundestag ein neues Gesetzgebungsverfahren inGang setzen müssen, um auf diese Neuerung zu reagie-ren. Wir brauchen ein Gesetz, das flexibel ist, mit demwir flexibel auf Neuerungen, auf Entwicklungen einge-hen können. Wir müssen es so offen gestalten, dass dasmöglich ist. Wir müssen Rechtssicherheit auf der einenSeite, aber eben auch die Schnelllebigkeit auf der ande-ren Seite im Auge behalten. Das werden wir uns jetzt beiden Beratungen noch einmal genau anschauen. Das istunser Ziel, und das sind die Kriterien, an denen wir un-ser Gesetz ausrichten.
Der dritte Punkt betrifft folgende Fragen: Was pas-siert mit den Daten? Wie viele Daten werden überhaupterhoben? Was hat die Wirtschaft denn selbst davon? Dassind sehr wichtige Fragestellungen, die Sie auch heutezu Recht angesprochen haben. Es ist eben so, dass es fürdie Unternehmen sensible Daten sind; denn es geht umGeschäftsprozesse. Deshalb ist es wichtig, dass gewähr-leistet ist, dass die Daten sicher und vertraulich behan-delt werden. Es ist wichtig, dass das nicht ein Einfallstorfür Wirtschaftsspionage wird. Aber das werden wir si-cherstellen. Das ist elementar für den Wirtschaftsstand-ort Deutschland. Deshalb werden wir den Schutz der Da-ten, die hier erhoben werden, sicherstellen. Es werdennatürlich auch nur die Daten erhoben, die elementarsind, um beurteilen zu können, ob ein Angriff stattfindet,um die Angriffsmuster zu erkennen.Natürlich werden auch die Unternehmen etwas davonhaben. Uns geht es doch nicht nur darum, zu sehen, wasin Deutschland zurzeit an Angriffen da ist. Das Gesetzhat zum Ziel, mit den Unternehmen zu korrespondieren,zu warnen und auf diese Angriffe reagieren zu können,sonst würde das Ganze ja gar keinen Sinn machen. Inso-fern sind so manche Vorwürfe, die heute hier in denRaum gestellt wurden, wirklich abstrus. Natürlich wirddas Gesetz so ausgestaltet, dass die Unternehmen etwasdavon haben. IT-Sicherheit ist etwas, was uns als Staatangeht, was aber auch die Unternehmen selbst angeht;denn IT-Sicherheit ist auch ein Wirtschaftsfaktor für dieUnternehmen.
Frau Kollegin, auch Sie müssen zum Schluss kom-men.Nadine Schön (CDU/CSU):Deshalb werden wir darauf großes Augenmerk legen.Liebe Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, IT-Sicherheit ist maßgeblich für den wirtschaftli-chen Aufschwung in Deutschland. Deshalb werden wir
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Nadine Schön
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das Gesetz schnell und zügig beraten, zusammen mit denUnternehmen, die es betrifft. Ich freue mich schon sehrauf die Beratungen. Die AG Digitale Agenda wird sichhier genauso einbringen wie die Innenpolitiker.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Hansjörg
Durz das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Die Vernetzung, insbesondere die Vernetzung der Wirt-schaft, ist das zentrale Thema der heute zu Ende gehen-den CeBIT in Hannover; Nadine Schön hat bereitsdarauf hingewiesen. In der vernetzten Wirtschaft kom-muniziert – was sich viele nicht vorstellen können, aberheute schon sehr real ist – alles mit allem. Das in diesemZusammenhang in jüngster Zeit am häufigsten genannteSchlagwort lautet Industrie 4.0.Neben dem industriellen Bereich ist eine weiterepraktische Anwendung in dieser vernetzten Welt, die be-sonders im Fokus der Öffentlichkeit steht, das vernetzte,auch autonom genannte Fahren. Kaum eine Vision be-flügelt die Fantasie der Menschen so wie die Vorstellungselbstfahrender Autos – im Positiven, aber auch im Ne-gativen. Diese Ambivalenz dem selbstfahrenden Autogegenüber lässt sich auf die Digitalisierung insgesamtübertragen.In der Erfassung und Analyse riesiger Datenmengenliegen enorme Potenziale für die Wissenschaft, für dieWirtschaft, für die Verbrauer, für die Gesellschaft insge-samt. Bei aller Euphorie dürfen wir aber nicht vergessen:Zunehmende Vernetzung macht Systeme insgesamt auchanfälliger. Wenn auf immer mehr Systeme über das In-ternet zugegriffen werden kann, bedeutet dies auch im-mer mehr potenzielle Einfallstore. Deshalb ist Vernet-zung ohne Cybersicherheit nicht denkbar. Vernetzungund Sicherheit sind zwei Seiten derselben Medaille.Die Informationsgesellschaft ist verwundbar – wiesehr, darauf haben meine Vorredner heute bereits mehr-fach hingewiesen. Auch ich möchte noch einmal dieZahl nennen, dass etwa 40 Prozent der deutschen Firmenin den vergangenen zwei Jahren das Ziel von Computer-kriminalität waren. Die Schadenssumme beläuft sich aufgeschätzte 54 Milliarden Euro. Diese Zahlen zeigen,dass die Bedrohung nicht abstrakt, sondern real ist. An-zahl und Qualität der Angriffe auf IT-Systeme nehmenzu.Dennoch klingen diese Zahlen immer sehr weit ent-fernt. Um es ein Stück konkreter und fassbarer zu ma-chen, möchte ich ein praktisches Beispiel heranziehen,das Mitte vergangenen Jahres durch die Medien gingund zeigt, wie ein solcher Angriff aussehen kann und mitwelchen Folgen zu rechnen ist.Ein Krimineller auf der Flucht ist möglicherweise auffreie Straßen angewiesen. Wie er das erreichen kann, ha-ben Wissenschaftler in Michigan demonstriert. Mit derErlaubnis der örtlichen Straßenverkehrsbehörde habenIT-Spezialisten fast 100 drahtlos miteinander vernetzteAmpeln übernommen und konnten in der Folge die Rot-phasen der jeweiligen Ampeln nach Belieben steuern.Wie konnte das passieren? Die Angreifer haben sichsimpler, aber gleichzeitig signifikanter Sicherheitslückenbedient.
Die Drahtlosverbindung war unverschlüsselt, und dieZugangsdaten waren noch auf die Standardeinstellungprogrammiert. Dabei war es den Forschern möglich, le-diglich mit einem Laptop und einem Funksender auf dasgesamte System zuzugreifen.
Als Ergebnis des Feldversuchs hielten die Forscher einsystemimmanentes Fehlen von Sicherheitsbewusstseinfest. Es fehlen also nicht die notwendigen IT-Systeme,sondern es fehlt am Sicherheitsbewusstsein.Genau hier setzt das IT-Sicherheitsgesetz an.
Der zentrale Punkt, auf den Politik reagieren muss undauf den wir mit dem heutigen Gesetzesvorschlag reagie-ren, ist, Bewusstsein zu schaffen. Ein Leben ohne digi-tale Vernetzung können und wollen wir uns in der heuti-gen Gesellschaft nicht mehr vorstellen. Wir leben ineiner vernetzten Welt. Wir erleben diese Vernetzung tag-täglich: in der Kommunikation untereinander, im Büro,beim Onlineeinkauf, bei der Kommunikation mit Behör-den, Unternehmen und Banken. Experten gehen davonaus, dass im Jahr 2020 weltweit 50 Milliarden Gerätemiteinander vernetzt sein werden, von der Industriean-lage bis zur Uhr, von der PV-Anlage auf dem Dach biszur Heizung im Keller. Daraus ergeben sich enormeChancen.Wir müssen aber auch ein Bewusstsein für die Gefah-ren schaffen, die durch Vernetzung entstehen. Dies giltumso mehr, wenn mit dem Einsatz von IT Risiken fürandere geschaffen werden. Das gilt also zuallererst fürden Bereich der kritischen Infrastrukturen, sprich: fürjene Zweige, die für das Funktionieren von Staat, Wirt-schaft und Gesellschaft essenziell sind: Energie, Wasser,Transport, Verkehr und Gesundheit. Angriffe auf kriti-sche Infrastrukturen stellen eine besondere Bedrohungdar, da ein Ausfall weitreichende Folgen für das Ge-meinwohl hätte. Sie gehören daher verstärkt unterSchutz gestellt.
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Hansjörg Durz
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Der vom Bundesminister vorgelegte Entwurf einesIT-Sicherheitsgesetzes begegnet diesen Herausforderun-gen, die sich durch die zunehmende Vernetzung stellen.Denn erstens schafft er ein Bewusstsein für die Gefahrenund Risiken, die mit der Digitalisierung einhergehen. Eswerden jene Bereiche adressiert, deren Infrastrukturenals kritisch anzusehen sind, und diesen Bereichen wirdein gewisses Maß an IT-Sicherheit verbindlich vorge-schrieben.Zweitens ist im Gesetzentwurf die Zusammenarbeitder staatlichen Institutionen mit der Wirtschaft, mit denbetroffenen Branchen angelegt. Dies gilt sowohl für dieFestlegung der Einzelsegmente der betroffenen Bran-chen als auch für die Definition der branchenweitenStandards. Damit werden die Erfahrung und das Wissenaus der Wirtschaft genutzt. Der Staat alleine kann undwird diese Herausforderung nicht in den Griff bekom-men. Der Weg führt nur über die Zusammenarbeit vonStaat und Wirtschaft. Dieser Denkansatz liegt diesemGesetzentwurf zugrunde und ist vollkommen richtig.
Drittens bleibt der Gesetzentwurf nicht bei der Defi-nition eines bestimmten Status quo stehen, sondernnimmt die Dynamik der Digitalisierung auf. Er etablierteinen fortlaufenden Informationsaustausch zwischenWirtschaft und Behörden und sorgt damit dafür, dass Er-fahrungen und Erkenntnisse weitergegeben werden. Diesist dringend geboten; denn sobald Verwundbarkeiten vonIT-Strukturen bekannt sind, können diese branchenüber-greifend genutzt werden. Im weltweiten Netz sindLücken in kürzester Zeit gescannt. Umso wichtiger istdie Kommunikation und Zusammenarbeit untereinander.Dabei ist es für die Wirtschaft absolut sinnvoll, dass dieMeldungen in aller Regel anonym erfolgen können. Ichdenke, dass damit ein vernünftiger Ausgleich zwischenprivatwirtschaftlichem Interesse und Schutzbedürftigkeitder Allgemeinheit erreicht werden konnte.Dieser Ausgleich, dieses Augenmaß ist auch im wei-teren Verfahren notwendig, wenn definiert wird, welcheUnternehmen von dem Gesetz konkret betroffen sind. Esgilt aber auch, den administrativen und organisatori-schen Aufwand insgesamt möglichst gering zu halten,indem zum Beispiel das Gesetz mit bereits existierendenAnforderungen bestimmter Branchen synchronisiertwird.Vernetzung und Sicherheit sind zwei Seiten derselbenMedaille. Die Chancen, die sich aus der Digitalisierunggerade für die deutsche Wirtschaft bieten, sind überra-gend. Die Potenziale werden aber nur dann zu hebensein, wenn bei der Vernetzung auch den Risiken begeg-net wird. Bundesminister de Maizière hat einen Gesetz-entwurf vorgelegt, der einen wichtigen Beitrag dazu leis-ten wird. Er schafft Bewusstsein und geht dieHerausforderungen in einem kooperativen Ansatz zwi-schen Staat und Wirtschaft an. Der Entwurf des IT-Si-cherheitsgesetzes ist ein erster und ein sehr guter Schrittder Digitalen Agenda der Bundesregierung.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/4096 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung der Gesundheitsförderung und der Prä-vention
Drucksache 18/4282Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
SportausschussAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgitWöllert, Sabine Zimmermann ,Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEGesundheitsförderung und Prävention konse-quent auf die Verminderung sozial bedingtergesundheitlicher Ungleichheit ausrichtenDrucksache 18/4322Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheitc) Beratung des Antrags der Abgeordneten KordulaSchulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr. HaraldTerpe, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGesundheit für alle ermöglichen – Gerechtig-keit und Teilhabe durch ein modernes Ge-sundheitsförderungsgesetzDrucksache 18/4327Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. – Wenndie Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommenhaben, können wir mit der Debatte beginnen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort in der Debattehat für die Bundesregierung der Bundesminister Gröhe.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie michmit einigen Schlagzeilen dieser Woche beginnen. DerSpiegel eröffnet die Woche mit dem Demografietitel„Deutschland, deine Zukunft 2030“. Vorgestern veröf-fentlicht die DAK eine Studie über Stress und Dopingam Arbeitsplatz. Und wir stellen fest, dass in Deutsch-land seit dieser Woche 1 000 Menschen an Masern er-krankt sind. Das alles sind Schlagzeilen dieser Woche,alles Themen, die damit zu tun haben, was wir jetzt bera-ten, nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkungder Gesundheitsförderung und der Prävention, kurz: denEntwurf eines Präventionsgesetzes. Ich bin froh, dasswir nach einer Reihe von Anläufen in der Vergangenheitjetzt darüber reden. Deshalb stehen wir jetzt an der Weg-marke, um ein solches Gesetz gemeinsam zu erarbeitenund auf den Weg zu bringen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in einer Gesell-schaft des längeren Lebens, die zugleich durch einenWandel der Lebensstile und der Arbeitswelt gekenn-zeichnet ist, sind gezielte Gesundheitsförderung undPrävention von entscheidender Bedeutung. Sie tragendazu bei, dass Krankheiten erst gar nicht entstehen oderder Krankheitsverlauf positiv beeinflusst werden kann,dass Menschen gesund älter werden und die Lebensqua-lität steigt. Wir haben dank guter Lebens- und Arbeitsbe-dingungen, dank einer sehr guten gesundheitlichen Ver-sorgung in diesem Land und dank des medizinisch-technischen Fortschritts heute gute Chancen, ein höheresLebensalter zu erreichen als die Generationen vor uns.81 Jahre ist aktuell die durchschnittliche Lebenserwar-tung in Deutschland, mit der guten Tendenz: weiter stei-gend. Jeder von uns wünscht sich auch im hohen Le-bensalter gute Gesundheit. Die erfreuliche Nachricht ist:Wir selbst können dazu beitragen, dass aus der Hoffnungauf ein gesundes Leben auch Wirklichkeit werden kann.Damit bin ich bei den Vorteilen einer umfassendenGesundheitsförderung. Drei Punkte möchte ich benen-nen: Prävention unterstützt die Gesundheit, steigert dieLebensqualität und spart Gesundheitskosten. Es ist alsoeine Win-win-Situation für alle Beteiligten.Nun kann man gesundheitsbewusste Lebensstile nichteinfach anordnen, wie man vielleicht Alkoholgrenzenoder Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehranordnen kann. Wir können aber einen Rahmen schaf-fen, der es den Menschen erleichtert, sich dieses Themasanzunehmen, der sie motiviert, etwas für die eigene Ge-sundheit zu tun. Genau diesen Weg schlagen wir mitdem Präventionsgesetz ein.Prävention ist keine Frage des Alters. Sie beginnt imwahrsten Sinne des Wortes in den Kinderschuhen undsollte auf dem ganzen Lebensweg ernst genommen undals Anliegen betrachtet werden. Ich erwähnte bereits ein-gangs den aktuellen Masernausbruch. Von Windpockenund Grippewelle will ich in diesem Zusammenhang garnicht sprechen. Allein dieser Masernausbruch muss füruns ein Aufbruchsignal sein, die Impfquoten in Deutsch-land wieder zu erhöhen, meine Damen, meine Herren.
Deshalb werden wir die Überprüfung und Beratung imHinblick auf den Impfstatus, den eigenen und den derKinder, zu einer wesentlichen Maßnahme dieses Geset-zes machen. Denn Schutzimpfungen gehören zu denwirksamsten präventiven Maßnahmen gegen Infektions-krankheiten.Es besteht außerdem Handlungsbedarf im Bereich derKleinkinderimpfungen, die eben, anders als vom Robert-Koch-Institut empfohlen, häufig nicht bis zur Voll-endung des zweiten Lebensjahres erfolgen. Vor der erst-maligen Aufnahme in eine Kita sollen Sorgeberechtigtedeshalb in Zukunft umfassend über den Impfstatus bera-ten werden. Dies stärkt Kinder und Eltern im Sinne einerguten Gesundheitsvorsorge. Ich sage sehr deutlich: Ichbin dazu bereit, auch im Rahmen des anstehenden parla-mentarischen Verfahrens über die Frage zu diskutieren,ob die hier vorgesehenen Schritte ausreichen oder wirweitere Schritte zur Durchimpfung unserer Bevölkerunggehen müssen. Wir sind es unserer Bevölkerung, die wirschützen wollen, schuldig, dies sachlich und vorbehalt-los zu diskutieren.
Prävention und Gesundheitsförderung tragen dazubei, Wohlbefinden, Mobilität und Lebensqualität fürMenschen jeden Alters und aller sozialen Schichten zuerhalten und zu verbessern. Sie dürfen sich also nicht nuran diejenigen richten, die bereits fit sind; alle müssenmitgenommen werden.
Ich möchte das Thema Gesundheitsvorsorge wahrlichnicht primär unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten be-trachten. Aber in einer großen Volkswirtschaft wie derunsrigen, die zudem unter einem wachsenden Fachkräf-temangel leidet und in der länger und flexibler gearbeitetwird, ist auch unter ökonomischen Gesichtspunkten eineVerstärkung der Anstrengungen zur Gesunderhaltungder Erwerbstätigen bis zum Erreichen des Rentenaltersgefragt.Die in dieser Woche präsentierte Studie der DAK hatnoch einmal unterstrichen, wie wichtig Gesundheit amArbeitsplatz ist. Es ist weder im Interesse der Arbeitneh-mer noch im Interesse der Arbeitgeber noch im Interessedes Gesundheitswesens, dass sich die Belegschaft biszum Äußersten dopt, um durchzuhalten oder neueHöchstleistungen am Arbeitsplatz zu erbringen. Dies hatnur Verlierer zur Folge. Dem wollen wir entgegenwir-ken.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9059
Bundesminister Hermann Gröhe
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Prävention ist gerade in einer alternden Gesellschaftmit vielen Mehrfacherkrankungen oder chronischen Er-krankungen von besonderer Bedeutung; denn viele derin diesem Zusammenhang zu nennenden Krankheiten– Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressio-nen, Erkrankungen des Bewegungsapparats – hängeneben auch mit Fragen des Lebensstils, einer ausreichen-den Bewegung, einer angemessenen, gesunden Ernäh-rung zusammen. Deswegen ist es wichtig, hier die Wei-chen dafür zu stellen, dass Menschen ihnen rechtzeitigentgegenwirken.Wir wissen aus Erhebungen der Berliner Altersstudie,dass deutschlandweit ungefähr 46 Prozent der Menschenüber 70 unter Bluthochdruck leiden. Wir wissen zu-gleich, dass eine gesunde Ernährung und ausreichendBewegung dem entgegenwirken können.Was bedeuten dieses klare Bekenntnis und der Aufrufzu wirksamer Prävention, der sich an alle richtet, nun fürunseren Gesetzentwurf? Mit dem Gesetzentwurf sollendie Gesundheitsförderung und Prävention insbesonderein Lebenswelten wie Kita, Schule, Arbeitsplatz oderPflegeheim gestärkt und durch gemeinsame Anstrengun-gen aller Beteiligten gefördert werden. Da, wo Men-schen leben, lernen, arbeiten, sollen sie erreicht werden.Deswegen werden wir die Angebote in den Lebenswel-ten stärken, indem das entsprechende finanzielle En-gagement der Krankenkassen deutlich erhöht wird.
Zudem erhalten erstmals die Pflegekassen einen aus-drücklichen spezifischen Präventionsauftrag für die Be-reiche der stationären Altenpflege, die aber beispiels-weise auch Tagespflegeeinrichtungen umfassen. Über500 Millionen Euro werden damit zukünftig aus denKrankenversicherungen und den Pflegekassen zur Verfü-gung stehen. Wir wollen, dass diese Aktivitäten besserkoordiniert werden, auch mit dem, was andere, bei-spielsweise die Kommunen, in diesen Bereichen tun,und wir wollen diese Maßnahmen weiter qualifizieren.Deshalb soll die Bundeszentrale für gesundheitlicheAufklärung die Krankenkassen mit der Entwicklung vonkassenübergreifenden Konzepten, gerade im Hinblickauf Chancengleichheit, Verfahren zur Qualitätssicherungsowie zur Evaluation, unterstützen.Wir werden bei den Jugenduntersuchungen wie bei denVorsorgeuntersuchungen insgesamt den Präventions-aspekt verstärken, indem diese nicht allein krankheitsbe-zogen ausgerichtet sind, sondern auch risikobezogen unddaher rechtzeitig auf die Gefahren etwa durch Über-gewicht, Bewegungsmangel, übermäßigen Alkoholkon-sum, zu starken Stress und anderes eingegangen wird.Ein besonderes Anliegen ist es mir, in der betriebli-chen Gesundheitsförderung deutlich voranzukommenund dabei auch die kleinen und mittelständischen Be-triebe mitzunehmen. Wir wissen aus einer Fülle von Bei-spielen auch von dem betriebswirtschaftlichen Nutzenkluger Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung,die den Arbeitsalltag, gerade auch in größeren Betrieben,prägen.Wir wollen es den kleinen und mittleren Betriebendurch die Bündelung von Beratungstätigkeit, aber auchdurch die Zusammenarbeit mit Handwerks- sowie Indus-trie- und Handelskammern erleichtern, dass betrieblicheGesundheitsförderung auch in kleinen und mittelständi-schen Betrieben zu einem wichtigen Merkmal der Ar-beitsplatzgestaltung wird. Dies dient dem Vermeidenvon Fehlzeiten und schafft attraktive Arbeitsplätze inZeiten von Fachkräftemangel. Deshalb soll dies weitergefördert werden.Dabei führen wir nicht nur das zusammen, was diegesetzlichen Krankenversicherungen in diesem Bereichtun, sondern auch die Träger der gesetzlichen Rentenver-sicherung sowie der gesetzlichen Unfallversicherungwerden einbezogen. Ebenso ist es uns wichtig, in derUmsetzung der nationalen Präventionsstrategie in eineLandesrahmenvereinbarung – Kernstück ist die Ermitt-lung regionaler Präventionsbedarfe und eine angemes-sene Beantwortung – auch alle weiteren Akteure einzu-beziehen: Land, kommunale Spitzenverbände usw. Demguten Beispiel der UPD folgend, wollen wir in diesemZusammenhang einladen, und ich erwarte eine entspre-chende Bereitschaft zur Mitwirkung – auch der privatenKranken- und Pflegeversicherung.Mit dem Ihnen heute vorliegenden Präventionsgesetzmit seinen vielfältigen Maßnahmen schaffen wir einenwichtigen Baustein, wenn es darum geht, die Gesund-heitschancen für alle Menschen in diesem Land zu erhö-hen. Deshalb freue ich mich auf die vor uns liegendenparlamentarischen Beratungen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Sabine
Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Jeder von Ihnen hier möchte, denke ich, ge-sund durchs Leben kommen. Für uns alle mag das viel-leicht weniger ein Problem sein; denn wir haben Einflussauf unsere Lebensumstände und sind gesundheitlich gutversorgt.Aber das gilt für viele Menschen in diesem Landnicht. Dabei denke ich an meinen Kollegen aus Zwickau,der Leiharbeitnehmer ist, drei Kinder hat, alleinerzie-hend ist und drei Jobs braucht, um überleben zu können:Er arbeitet erstens im Schichtsystem bei einem Automo-bilzulieferer, dort fährt er Stapler. Zweitens hat er einenMinijob in einem Einkaufszentrum, und drittens arbeiteter am Wochenende zusätzlich bei einem Fußballklub imSecuritybereich mit. Er hat deutlich schlechtere Lebens-bedingungen als alle hier in diesem Haus. Menschen, diewenig verdienen, haben in jedem Lebensalter – von derKindheit bis zum Tod – ein doppelt so hohes Risiko,ernsthaft krank oder zum Pflegefall zu werden oder vor-zeitig zu sterben, wie die Menschen, die gut verdienen.
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Sabine Zimmermann
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Die Linke sagt: Das ist ein Unding in so einem rei-chen Land.
Es kann doch nicht sein, dass sich arme Menschen einigeUntersuchungen beim Arzt nicht leisten können, weil ih-nen das Geld fehlt. Schwere Erkrankungen zeigen sichin der Gruppe der Gutverdiener rund vier Jahre später.Wer arm ist, stirbt früher, und schon zu Lebzeiten wirktsich Armut negativ auf Gesundheit und Lebensqualitätaus.Die Schere zwischen Arm und Reich ist nach zehnJahren Hartz IV und Sozialstaatsabbau deutlich ausei-nandergegangen. Dass Sie dabei zusehen und das nochgutheißen können, liebe Genossinnen und Genossen derSPD, ist unerträglich.
Sie haben keine Antworten auf dieses sozialpolitischeProblem. Mich wundert schon, wie man die Augen sovor der Realität verschließen kann.Der Entwurf der Bundesregierung zum Präventions-gesetz bleibt weit hinter den internationalen Standardszurück. Der UN-Sozialpakt von 1973, den die Bundesre-publik ratifiziert hat, schreibt das Recht eines jedenMenschen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheitfest. Gesundheit meint dabei das vollständige geistige,soziale und körperliche Wohlergehen der Menschen. Umdieses Ziel zu erreichen, muss die wirksame Verringe-rung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit inden Mittelpunkt gerückt werden.
Schon Heinrich Zille hat gesagt:Man kann einen Menschen mit einer Axt erschla-gen, man kann ihn aber auch mit einer Wohnung er-schlagen.Soll heißen: Wohnbedingungen, das gesellschaftlicheUmfeld, aber auch die Arbeitsbedingungen bestimmenentscheidend, ob Menschen gesund bleiben oder nicht.Was heißt das nun? Ich sage, dass Menschen nur gesundleben können, wenn bestehende sozial-, geschlechts-,behinderungs- und migrationsbedingte Unterschiede ab-gebaut werden.
Die Linke ist fest davon überzeugt, dass Gesundheits-versorgung und Prävention als gesamtgesellschaftlicheAufgabe verstanden werden müssen.
Daher helfen zum Beispiel Ihre Kampagnen zum indivi-duellen Gesundheitsverhalten, Herr Spahn, überhauptnicht. Gesunde Lebensbedingungen müssen in allen Be-reichen – Betrieb, Stadtteil, Schule, Wohnen oder woauch immer – geschaffen werden.
Es braucht für alle Menschen Rahmenbedingungen, unddiese Rahmenbedingungen müssen allen Menschen glei-chermaßen ein gesundes Leben ermöglichen.
Fakt ist: Die Menschen mit dem größten Risiko, zuerkranken, behindert zu sein oder vorzeitig zu sterben,sind zugleich die mit dem geringsten Einkommen, demgeringsten Bildungsstand, der schwächsten sozialen Un-terstützung und mit dem geringsten politischen Einfluss.Hier muss die Politik ansetzen: Arbeitslosigkeit bekämp-fen, Rahmenbedingungen für gute Arbeit schaffen, Bil-dungschancen eröffnen und Ausgrenzungen beenden.
Aber Ihre bisherige Politik setzt den unsozialen Weg derVorgängerregierungen weiter fort, und der ist für vieleMenschen in unserem Land eine Sackgasse und führtaufs gesellschaftliche Abstellgleis. Aber was ist auch an-deres von einer Regierung zu erwarten, in der der klei-nere Partner, die SPD, die Agenda-2010-Politik und dieHartz-Reformen als Grundstein für ein vermeintlichesJobwunder feiert und der größere Partner, die Union,Europa seit Jahren mit Spardiktaten malträtiert.In Griechenland erleben wir, was Ihre Sparpolitik an-gerichtet hat. Sehr viele Menschen haben keine Kran-kenversicherung mehr, damit keinen Zugang zur Kran-kenversorgung, Operationen gibt es nur mit Vorkasse,Frauen finden keinen Platz mehr für eine sichere Geburt,
weil sie die Kosten der Entbindung selbst tragen müssen,die Zahl der Totgeburten ist um ein Viertel angestiegen,und es gibt keine Versorgung mehr mit wichtigen Krebs-medikamenten. Was können wir da wohl anderes erwar-ten?Spätestens bei diesen drastischen Beispielen, meineDamen und Herren der Regierungsfraktionen, müsstenSie eigentlich vor Scham rot anlaufen.
Es gibt eine Lösung, und die heißt: Die Schere zwischenArm und Reich muss endlich geschlossen werden.
Die Umverteilung von oben nach unten – HerrLauterbach, das sagen Sie auch – muss ganz oben aufder Tagesordnung stehen. Nur so können wir etwas inDeutschland verändern.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9061
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Als nächste Rednerin hat die Kollegin Helga Kühn-
Mengel von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Frau Kolle-
gin Zimmermann, Sie hätten erwähnen müssen, dass die
Senkung der Arbeitslosigkeit und der Mindestlohn, der
den Status von wenigstens 3,7 Millionen Menschen ver-
bessert hat, ganz wesentliche Beiträge zur Gesundheits-
förderung und zur Prävention sind,
nicht nur wegen der verbesserten Einnahmesituation der
Menschen, sondern auch, weil Arbeit Teilhabe ist. Das
ist nämlich auch ein gesundheitsfördernder Aspekt.
Mit Blick auf die Gruppen, die Sie angesprochen ha-
ben, ist viel getan worden, nicht nur durch erhebliche
Anstrengungen im Bildungsbereich, durch die Versteti-
gung der Frühen Hilfen und deren Ausbau, sondern auch
in der Arbeitsmarktpolitik; den Mindestlohn habe ich be-
reits erwähnt.
Frau Kühn-Mengel, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Frau Zimmermann zu?
Bitte, Frau Zimmermann.
Vielen Dank, liebe Kollegin Kühn-Mengel, dass Sie
die Frage zulassen. – Sind Sie meiner Meinung, dass der
Mindestlohn von 8,50 Euro nicht aus der Bedürftigkeit
herausführt, dass wir 10,36 Euro bräuchten?
– Eigentlich 12 Euro, richtig; es kommt darauf an, wel-
ches statistische Amt Sie befragen.
Auf jeden Fall liegt die Niedriglohnschwelle bei
10,36 Euro. Das heißt, Sie müssten Ihr Leben lang
10,36 Euro pro Stunde verdienen, damit Sie später nicht
in Altersarmut kommen.
Meine zweite Frage ist: Sind Sie auch meiner Mei-
nung, dass die Arbeit anders verteilt worden ist, dass wir
Millionen von Minijobs haben, dass wir Millionen Men-
schen in Teilzeit haben, dass wir Millionen Menschen im
Niedriglohnbereich haben, die nicht von den Arbeits-
marktreformen, die Sie immer so hochhalten, profitie-
ren?
Frau Kollegin, ich bin der Meinung, dass der Min-destlohn ein Einstieg in eine Verbesserung der Lebens-situation von Menschen ist. Ich bin der Meinung, dassknapp 4 Millionen Menschen fast eine Verdoppelung desEinkommens erleben. Ich bin der Meinung, dass wir aufdiesem Felde weiterarbeiten müssen. Aber es hat grö-ßere Erfolge gegeben – die man auch benennen muss –,die die Lebenssituation der Menschen deutlich verbes-sern.
Es ist richtig: Prävention und Gesundheitsförderung– der Herr Minister hat es bereits gesagt – sind eine Ant-wort auf den demografischen Wandel, auf längere Le-bensarbeitszeiten, auf veränderte Arbeitsbedingungen,auf die Zunahme chronischer Erkrankungen und auf un-gleiche Gesundheitschancen.Umgekehrt können wir sagen: Wirkungsvolle Präven-tion und Gesundheitsförderung sind geeignet, Lebens-qualität zu erhöhen, die Lebenserwartung zu steigern,die Zahl der gesunden Jahre zu vermehren und auchvolkswirtschaftlichen Schaden zu verringern. DenkenSie allein an die große Zahl der Menschen, die durchpsychische Erkrankungen erwerbsunfähig werden.Um zu sehen, wo wir stehen, ist es manchmal wichtig,auch einen Blick zurück zu werfen. Seit 1989 gibt es denPräventionsparagrafen im SGB V. Der Gesetzgeber hatdamals die Krankenkassen mit der Möglichkeit ausge-stattet, Angebote für die primäre Prävention zu machen,im Übrigen ohne nähere Begründungen und Aufträgeund auch ohne Deckelung. Einige große Krankenkassen,zum Beispiel die AOK Nordrhein, die AOK Niedersach-sen und einige Betriebskrankenkassen, haben damals be-gonnen, betriebliche Gesundheitsförderung zu etablie-ren, und damit gezeigt, dass auch große Tanker, die oftals schwerfällig eingestuft werden, innovativ sein kön-nen.Das alles hatte mit einer Enquete-Kommission, die esdamals zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenver-sicherung gab, zu tun. In diese Kommission hatte übri-gens Minister Blüm einen in seinen Augen hoffnungs-vollen Menschen geschickt, der Horst Seehofer hieß undder 1996 als Gesundheitsminister nichts Besseres zu tunhatte, als diese Möglichkeiten der Primärprävention wie-der abzuschaffen.Rot-Grün hat das 1999 dann korrigiert und die Prä-vention mit einem wichtigen Zusatzauftrag versehen,dass sie nämlich ungleiche Gesundheitschancen verrin-gern soll.
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9062 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Helga Kühn-Mengel
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Danach gab es noch eine Reihe von Anläufen zu einemPräventionsgesetz, und zwar 2005, 2007 und 2011. Jetzthaben wir einen Gesetzentwurf, der es schaffen wird.
Warum kommen wir immer auf die ungleichen Ge-sundheitschancen zu sprechen? In den reichen Ländernergeben sich etwa drei Viertel der Krankheitslast aus ei-ner bestimmten Gruppe von Erkrankungen. Das sind– sie sind bereits genannt worden – die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die muskuloskelettalen Erkrankungen,der Krebs und – mit der größten Steigerung – die psychi-schen Erkrankungen. Aber diese Erkrankungen – das ha-ben die Sachverständigen immer gesagt, damals auchder Sachverständige Lauterbach – sind einer primärenPrävention besonders zugänglich. Von daher ist es ganzwichtig, dass wir auf diesem Gebiet große Anstrengun-gen unternehmen. Hinzu kommt: Die unteren sozialenSchichten sind hier überrepräsentiert. Diese erreichenwir nicht mit Broschüren, Flyern und Vorträgen, sondernnur da – das gilt für die Erwachsenen und für die Kin-der –, wo sie leben, arbeiten, gemeinsam lernen undspielen: im Setting, in der Lebenswelt.
Genau da setzt das Gesetz an. Die Leistungen zur Ver-hinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken unddie Förderung der gesundheitlichen Kompetenz werdenzu Pflichtleistungen der Krankenkassen. Die Lebenswel-ten werden gestärkt. Ab 2016 stehen für jeden Versicher-ten 7 Euro zur Verfügung, mindestens 2 Euro für die be-triebliche Gesundheitsförderung, mindestens 2 Euro fürdie anderen Lebenswelten. Insofern kann dort, wo dieMenschen leben, ein Angebot gemacht und verstetigtwerden.Die Kommune ist der Ort des Präventionsgeschehens.
Dazu gehört auch das Quartier. Das müssen wir im Ge-setzentwurf, Herr Minister, unbedingt noch nachtragen.
Das Quartier umfasst Kindergärten, Schulen, Betriebe,Wohnheime, Werkstätten für Menschen mit Behinde-rung,
Seniorenzentren, die ambulante und die stationärePflege, das Ehrenamt, die Selbsthilfe und einen hoffent-lich starken öffentlichen Gesundheitsdienst, den wir indiesen Zeiten ganz besonders brauchen.
Warum gibt es im Setting, in der Lebenswelt, nichtendlich auch betriebliche Gesundheitsförderung inWerkstätten für Menschen mit Behinderung? Das ver-missen wir.
Warum keine Präventionsangebote für Ältere in derPflege? Wir wissen, dass es auch hier Potenziale gibt,die – im wahrsten und im übertragenen Sinne des Wor-tes – zu mobilisieren sind. Warum greifen wir nicht eingutes Beispiel, das es in Berlin gibt, auf, dass nämlichein Sozialarbeiter der Kommune in die kinder- und ju-gendärztlichen Praxen kommt – der Kinderarzt hat jademnächst die besondere Aufgabe, auch Präventionsan-gebote und Empfehlungen auszusprechen – und dann dieAngebote, die es in der Region gibt, aufgreift, vermitteltund dabei mit für den Zugang sorgt?Idealerweise könnte, so meinen wir, ein kommunalerPräventionsrat der Frage nachgehen: Welche Bedarfegibt es in der Region und im Quartier?
Alle Betroffenen, alle Akteure sollten mitmachen undmitgestalten. Ich sage es noch einmal: Teilhabe und Par-tizipation – das gilt gerade für benachteiligte Gruppen –haben per se einen gesundheitsfördernden Effekt. Inso-fern ist die Einbeziehung der Menschen ganz wichtig.Wir fangen ja nicht bei null an. Es gibt schon gute Ar-beitsansätze. Wir haben eine gemeinsam erarbeitete Ar-beitsschutzstrategie. Wir haben eine betriebliche Gesund-heitsförderung, die über gute Daten verfügt, die auchdeutlich machen, dass sich gesundheitsfördernde Ange-bote rechnen. Nacharbeiten müssen wir bei den kleinenund mittleren Unternehmen; das ist ganz klar.Und wir haben die Angebote der gesetzlichen Kran-kenversicherung im Setting schon seit einer Reihe vonJahren, qualitätsgestützte Angebote für Kinder in Kin-dertagestätten und Schulen – es geht um Bewegung, Er-nährung, Stressbewältigung –, also vieles, worauf wiraufsetzen können.Übrigens: In den Kindergärten werden dann auch dieprivat versicherten Kinder mit durchgezogen; die PKVengagiert sich ja an dieser Stelle nicht, vielleicht nochnicht. Das ist ein Angebot für alle Kinder, da wird nichtgefragt: Wie bist du versichert?Was wir uns wünschen, ist Prävention und Gesund-heitsförderung, die auch mit Qualität versehen sind. Dasieht das Gesetz Modellprojekte vor. Das ist auch ganzwichtig. Wir haben natürlich unter Freunden auch dieKritik gehört, dass es falsch ist, die wichtige und guteArbeit der BZgA aus Beitragsgeldern zu finanzieren.Hier müssen zur Finanzierung auch Steuermittel heran-gezogen werden; das halten wir für wichtig.
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Helga Kühn-Mengel
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Wir würden den Betrag anheben, der jetzt in die Le-benswelten geht, aber das abhängig machen von den Er-gebnissen des Präventionsberichtes. Wir wünschen unsauch eine Verbindung zu den großen Programmen, die esnoch gibt, etwa „Soziale Stadt“ im Kernbereich derMenschen; auch das muss Erwähnung finden.
Schließlich wünschen wir uns eine Förderung der Selbst-hilfe; die ist im Präventionsgeschehen ganz wichtig.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Kordula Schulz-Asche, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeBürgerinnen und Bürger! Liebe Frau Kühn-Mengel, ichmöchte Ihnen an dieser Stelle bereits sagen, dass Sie fürviele der Vorschläge, die Sie hier gerade gemacht haben,auf unsere volle Unterstützung zählen können.
Das ist genau der Ansatz von Gesundheitsförderung undPrävention, den wir für längst überfällig halten.Ich kann Ihnen auch sagen, warum. Ich möchte meineRede damit beginnen, dass ich eine Schülerin einer För-derschule zitiere. Sie hat gesagt: Wir haben keineChance, und wir kriegen auch keine. – Meine Damenund Herren, das ist die Realität: 10 bis 15 Prozent derKinder und Jugendlichen in Deutschland befinden sich,wie die Langzeitstudie des renommierten Robert-Koch-Instituts darstellt, in keinem guten gesundheitlichen Zu-stand.In dieser Woche wurde eine Studie der BertelsmannStiftung zum Einfluss von Armut auf die Entwicklungvon Kindern vorgestellt. Da konnten Sie zur Kenntnisnehmen, dass in Deutschland jedes sechste Kind in Ar-mut lebt, davon die Hälfte dauerhaft, also nicht nur fürkurze Zeit. Arme Kinder wachsen in der Regel ohne Va-ter oder mit Eltern auf, die nur geringe schulische undberufliche Abschlüsse haben. Diese Kinder – das zeigtdie Bertelsmann-Studie – haben bei allen schulrelevan-ten Entwicklungsmerkmalen Defizite, und das meistensschon im zweiten oder dritten Lebensjahr, also wenn sienoch sehr klein sind. Sie haben Probleme bei der Moto-rik, sie haben Probleme beim Gleichgewicht, bei derKonzentration, beim Sprechen und beim Verstehen.Und, meine Damen und Herren, auch das stellt dieBertelsmann-Studie fest: Diese Kinder werden von fastallen existierenden Präventionsangeboten nicht erreicht.Sie werden nicht erreicht durch eine gute Betreuung inder Kita. Sie werden nicht erreicht von Vorsorgeuntersu-chungen. Sie werden zum Beispiel auch im Bereich derKariesprophylaxe nicht erreicht. Es sind immer die glei-chen Kinder, die von diesen Präventionsmaßnahmennicht erreicht werden.Der bedenkliche Anstieg der Zahl derer, die von zumTeil extremem Übergewicht und Diabeteserkrankungenim Kindesalter betroffen sind, ist ein Zeichen von unzu-reichendem Zugang zu gesunder Ernährung. Hinzu kom-men schlechte Wohnverhältnisse, Umweltbelastungenwie Lärm und Luftverschmutzung. Die Freizeitangebotesind gering, wenn man sich nicht einmal die Mitglied-schaft in einem Verein leisten kann. So zieht sich ein di-rekter Zusammenhang von Armut und Krankheit durchdas ganze Leben hindurch bis zum Tod.In Deutschland sterben ärmere Männer fast elf Jahrefrüher als wohlhabende, und bei den Frauen beträgt derUnterschied fast achteinhalb Jahre.
Auch in Deutschland gilt: Wer weniger hat, stirbt früher.Darf das in Deutschland, einem der reichsten Länder derWelt, im 21. Jahrhundert sein?
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,daher finde ich die Frage berechtigt, ob Ihr Entwurf ei-nes Präventionsgesetzes, den Sie hier vorlegen, ein gro-ßer Wurf ist. Ich sage: Nein. Denn Sozialprosa alleinreicht nicht aus. Wir müssen auch an die Umsetzung ge-hen. Hier bleiben Sie leider bei dem schwarz-gelbenVorgängermodell.
Unsere Umwelt, unser Alltag – das ist unserer Ge-sundheit Schmied. Dies hat diese Bundesregierung nochnicht verstanden. Wenn wir die Gesundheit aller dauer-haft fördern wollen, müssen wir in langfristige Maßnah-men an den Orten investieren, an denen die Menschenihr Leben, ihren Alltag verbringen: in der Kindertages-stätte, in der Schule, im Betrieb, in Krankenhäusern, inHeimen und vor allem auch im Stadtteil, wo sie wohnen.
Das sind die Orte, an denen Gesundheitsförderung er-lernt, gemeinsam organisiert und vor allem auch tatsäch-lich gelebt werden kann. Ziel muss es sein, jede Einzelneund jeden Einzelnen zu stärken, Gesundheitsrisiken zureduzieren und damit am Ende auch Krankheiten zu ver-meiden.
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9064 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Kordula Schulz-Asche
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Wir müssen endlich umdenken! Die Aufklärung übergesunde Ernährung und gesundes Leben führt häufignicht zu einer Verbesserung. Oft scheitert es an der Um-setzung, an der Realität: an Billigpamps, an zu hohenKosten für gesundes Essen in der Kita, in der Schule undim Betrieb, an mangelnden Sportmöglichkeiten oder aneiner miesen Arbeitskultur in Unternehmen mit hoherpsychischer Belastung.Bei älteren Menschen führen Einsamkeit und dasWohnen in einem Umfeld voller Barrieren zu Pflegebe-dürftigkeit. Lassen Sie mich dies sagen: Nicht erst imPflegeheim müssen wir mit Gesundheitsförderung undPrävention beginnen, sondern schon im Stadtteil, wo dieMenschen leben; denn hier kann man ansetzen und Pfle-gebedürftigkeit tatsächlich vermeiden. Deswegen ist dieArbeit im Stadtteil von besonderer Bedeutung.
Meine Damen und Herren, wir müssen umdenken!Wir setzen bei der Gesundheitsförderung auf Chancen-gerechtigkeit, auf einen konkreten Bezug zu den Alltags-welten der Menschen, auf die Beteiligung aller, aufLangfristigkeit statt der heute vorherrschenden Projekti-tis
und auf die Einbeziehung wesentlicher Akteure und vorallem auch der Bürgerinnen und Bürger vor Ort.
Wir wollen das in den Kitas, wir wollen das in den Schu-len, wir wollen das in den Betrieben – nicht nur in dengroßen, wofür es schon gute Beispiele gibt, sondern auchin den kleinen –, und wir wollen das besonders im Stadt-teil. Wir wollen kein naturwissenschaftlich-medizini-sches Konzept, sondern wir brauchen ein breites sozial-politisches Projekt für mehr Gerechtigkeit und mehrGesundheit.
Dafür setzen wir auf eine breite Finanzierung, an dersich alle Sozialversicherungsträger, natürlich die gesetzli-chen und die privaten Kranken- und Pflegeversicherungen,zu beteiligen haben, aber auch die Rentenversicherung, dieUnfallversicherung und die Berufsgenossenschaften.Alle haben ein Interesse daran, dass ihre Mitglieder nichterkranken,
und natürlich gehören auch der Bund, die Länder und dieKommunen dazu.
Frau Kühn-Mengel hat die Bedeutung der Kommu-nen zu Recht hervorgehoben; denn die Kommunen unddie Kreise sind der Dreh- und Angelpunkt gelingenderGesundheitsförderung. Keine Ärztin, kein Arzt, keineKrankenkasse, auch keine Politikerin und kein Politikerweiß, wie in einer Kita, in einer Schule, in einem Betriebund in einem Stadtteil Gesundheitsförderung am bestengestaltet und gelebt werden kann. Das wissen die Men-schen vor Ort am besten; denn sie sind die Experten ih-res Stadtteils und ihres Alltags. Deshalb ist uns die Be-teiligung aller an diesem Prozess so wichtig.In den Kommunen laufen diese Fäden zusammen,und die Konzepte werden dort gemeinsam mit den Men-schen entwickelt. Auch das fehlt im Gesetzentwurf derGroßen Koalition bisher leider völlig.
Individuelle, zeitlich begrenzte Kursangebote führennicht zu besserer Gesundheit; das ist bewiesen. Aufdiese wird in Ihrem Gesetzentwurf aber weiter geschwo-ren. Nicht das Werben der Krankenkassen um Versi-cherte aus der Mittelschicht kann das Leitbild von Prä-vention sein, sondern das Wissen und die Kompetenz füralle, gesund zu leben, und vor allem die Möglichkeit, dasauch zu tun, wenn man möchte.
Das gilt auch für die Schülerin, die ich eingangs zi-tiert habe. Wir sind davon leider in Deutschland nochsehr weit entfernt. Daran ändert auch der vorgelegte Ent-wurf eines Präventionsgesetzes der Bundesregierungbisher leider nichts. Der Bundesrat hingegen – dasmöchte ich ausdrücklich loben – hat eine ganze Reihewichtiger Hinweise gegeben und hätte sicher auch nochmehr zu sagen, vor allem wenn es um die Beteiligungder Kommunen geht. Von daher bin ich auch nach derRede von Frau Kühn-Mengel auf die weiteren Beratun-gen dieses Gesetzentwurfs gespannt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Rudolf Henke, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wenn man überPrävention spricht, muss man das nicht mit einer Lei-chenbittermiene tun
und darf dabei nicht den Eindruck erwecken, als sei daseine traurige Angelegenheit. Vielmehr sollte man zu-nächst einmal sagen, dass man sich richtig darüberfreuen kann, welche großen Möglichkeiten die Medizin,die Sozialwissenschaften und der Wandel hin zu einerauf Beteiligung gerichteten Demokratie mit viel Freiheitund mit vielen Einflussmöglichkeiten geschaffen haben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9065
Rudolf Henke
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Auf dem Gebiet der früheren DDR hat sich durch diefriedliche Revolution und ihre Folgen die Lebenserwar-tung um acht Jahre erhöht. Das war durch Politik be-wirkte Prävention.
Natürlich haben sich auch dadurch, dass es gelungen ist,Menschen aus der Arbeitslosigkeit und aus der beklagtenund bei viel zu vielen immer noch anzutreffenden Armutherauszuholen, die gesundheitlichen Chancen verbes-sert. Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik bedeutet, dasssich als Nebeneffekt auch die gesundheitliche Situationder Menschen verbessert. Darüber darf man sich auchmal freuen, finde ich.
Sie alle haben schon recht, wenn Sie sagen: „Vorbeu-gen ist besser als heilen!“ Dieses Zitat stammt von demArzt, der Goethe, Schiller und Herder behandelt hat,Christoph Wilhelm Hufeland.
– Ja, sie sind alle tot, Frau Kühn-Mengel. Am Ende sindauch wir alle tot.
Das ist auch eines der Probleme: Wir sollten nicht der Il-lusion unterliegen, als könnten wir mit Prävention derSterblichkeit entgehen. Wir haben leider – Frau Kühn-Mengel, das ist wichtig – ein Verständnis von Gesund-heit, das gewissermaßen mit der Assoziation des ewigenLebens verbunden ist.Wir müssen bei der Prävention achtgeben, so glaubeich jedenfalls, dass wir nicht diejenigen diskriminieren,die unter einer Behinderung leiden, krank werden oderLeistungseinschränkungen durch das Alter erleben. Wirmüssen achtgeben, dass unser Bemühen um Präventionnicht in eine Art von Gesundheitswahn umschlägt, weildie Sterblichkeit uns Menschen weiterhin miteinanderverbinden wird. Wir werden auch bei einer erfolgreichenPrävention Sterbliche bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einmalals Beispiel für soziale Intervention Rudolf Virchownennen. Rudolf Virchow hat hier in Berlin gewirkt. Vonihm stammt der Satz:Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und diePolitik ist weiter nichts als Medizin im Großen.Dieser Rudolf Virchow, der an der Charité über Jahr-zehnte hinweg einen Lehrstuhl für Pathologie gehabthat, hat hier in Berlin die Kanalisation eingeführt. Er hathier in Berlin Schlachthöfe eingeführt.
Er hat zum Schutz armer Menschen die Infektionskrank-heiten bekämpft. Deswegen stimmt es: Es ist nicht eineLeistung allein der Medizin, wenn Prävention gelingtoder misslingt, sondern es ist eine Frage aller Felder derPolitik.Ich habe hier schon gesagt, dass wahrscheinlich auchdie Vermeidung einer inadäquaten Energieproduktionund die Vermeidung von Risiken durch Atomstrom Prä-vention ist. Das ist das größte gesundheitliche Präventi-onsprojekt,
das wir jemals gestemmt haben und in dessen Umset-zung wir uns befinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt gibt es dieFrage: Reichen die in diesem Gesetzentwurf vorgesehe-nen Mittel?
Man kann lange darüber philosophieren, ob die Mittelreichen. Wir verdoppeln die Mittel. Wir verpflichten dieKrankenkassen, in Zukunft mehr auszugeben. Wir ver-pflichten die Pflegekassen zum ersten Mal überhaupt, ei-gene Mittel einzusetzen, um bei den von ihnen Versi-cherten Prävention zu fördern. Das ist alles gut.Wahr ist aber auch – das muss man ehrlicherweise sa-gen –: Der Gesamtbetrag von etwas mehr als 500 Millio-nen Euro, der dadurch zustande kommt, entspricht unge-fähr den Ausgaben, die an einem einzigen Tag inDeutschland für Behandlungen anfallen. An jedem Tag,den Gott geschaffen hat, geben die Krankenkassen500 Millionen Euro für Behandlungen aus.
Insofern ist das nur ein Schritt auf einem Weg.
Er ist aber bei weitem nicht der einzige Schritt. Ichnenne nur das Krebsfrüherkennungs- und -registerge-setz. Wir haben auch in früheren Zeiten im Bereich Prä-vention Schritte unternommen, die sehr wirksam sind.Egal wie man über einzelne Aspekte diskutiert: Wirhaben bei der Darmkrebsprophylaxe Riesenerfolge er-zielt. Wir haben einen Riesenerfolg mit dem Hörscree-ning bei den ganz kleinen Kindern. Früher musste manbis zum zweiten Lebensjahr warten, bis man Hörstörun-gen feststellen konnte. Heute sind schon in den erstendrei Monaten Interventionen möglich.Wir haben einen Riesenerfolg beim Screening vonSchwangeren auf Diabetes. Heute tritt der Schwanger-schaftsdiabetes nicht mehr als plötzliches Unglück auf,sondern man kann ihn früh erkennen und etwas dagegentun.Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen dafür, dassauch ärztliche Primärberatung beispielsweise zu Nikotinund Alkohol schon in kurzer Zeit Wirkungen erzielt und
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Rudolf Henke
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dass durch Bewegungsaktivierung viel erreicht wird.Aber es ist auch richtig, dass weder die Individualmedi-zin noch eine über Kurse der Krankenkassen vermittelteMedizin alleine reichen. Vielmehr besteht die Herausfor-derung für uns darin, die Gestaltung der Gesellschaft alsGanzes im Blick zu behalten.Deswegen ist es richtig, von dem eingesetzten Geld2 Euro pro Tag in die betriebliche Gesundheitsförderungzu investieren, weil wir damit ein Gesamtkonzept schaf-fen, mit dem wir die Menschen in den Betrieben, an ih-ren Arbeitsplätzen, ansprechen können. Das ist enormwichtig, weil wir damit die Leistungen von Betriebsärz-ten, arbeitsmedizinischen Diensten, verantwortlichenUnternehmen, den dort tätigen betrieblichen Interessen-vertretungen und den Gewerkschaften zusammenbrin-gen können. Mit der Arbeitsschutzkonzeption, dem Tä-tigwerden der arbeitsmedizinischen Dienste in denBetrieben und der Beratung der Versicherten in den Be-trieben können wir ein Gesamtgefüge erreichen, dasdazu beiträgt, dass der Betrieb ein Ort wird, in dem Ge-sundheitsförderung vorangebracht wird.Ich glaube, darauf hat die Arbeitnehmerschaft inDeutschland lange gewartet. Dass das jetzt endlich indiesem Umfang in Gang kommt, ist ein großer Schrittnach vorne. Das ist sehr zu begrüßen.
Herr Abgeordneter, die Kollegin Schulz-Asche hat
den Wunsch zu einer Zwischenfrage. Wollen Sie sie zu-
lassen?
Ja.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. –
Sie haben gerade zu Recht von den positiven Erfahrun-
gen mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement ge-
sprochen. Es gibt in großen Unternehmen schon sehr
viele gute Beispiele. Die Frage ist eher, wie man die
90 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen errei-
chen kann. Welche Vorstellungen haben Sie, um gerade
die kleinen Unternehmen, zum Beispiel eine Kraftfahr-
zeugwerkstatt oder einen kleinen Laden, zu erreichen?
Ich glaube, dass es klug ist, wenn man die Hand-werkskammern und die Industrie- und Handelskammerndaran beteiligt. Dabei geht es beispielsweise darum, denUnternehmen deutlich zu machen, dass es schon jetztSteuervorteile in erheblicher Höhe gibt. Für jeden Ar-beitnehmer können bis zu 500 Euro pro Jahr eingesetztwerden, ohne als geldwerter Vorteil versteuert werden zumüssen. Wenn wir es schaffen, die betriebliche Gesund-heitsförderung, die in den großen Betrieben schon statt-findet – sie sind in diesem Bereich sehr weit –, mithilfeder Gewerkschaften, der Unternehmensverbände undauch der Politik in andere Betriebe zu transportieren,dorthin, wo ebenfalls ein Interesse daran besteht, dassdie Fachkräfte, auf die man angewiesen ist, möglichstlange gesund bleiben, dann haben wir dort eine exzel-lente Chance. Die Bedingungen dafür, dass das gelingt,werden durch das Präventionsgesetz erheblich verbes-sert.Das ist nicht der einzige Schritt. Es muss ein Be-wusstsein für die verschiedenen Möglichkeiten geschaf-fen werden. Ich glaube, damit habe ich Ihre Frage zutref-fend und gut beantwortet.
Ich möchte gerne auf einen weiteren Punkt zu spre-chen kommen. Es wurde kritisiert, dass der ärztlichenPräventionsempfehlung zu viel Bedeutung beigemessenwird. Es gibt Kritiker, die fragen: Welche Rolle spielendie Medizin und insbesondere der ärztliche Beruf im Zu-sammenhang mit der Prävention? Nehmen wir als Bei-spiel die Förderung unseres Bewegungsverhaltens. Esgibt Metaanalysen, die zeigen, dass sich bereits bei einermoderaten, regelmäßigen Bewegung eine Senkung derSterblichkeit um 20 bis 34 Prozent erreichen lässt. Selbstbei leichter Aktivität von 15 Minuten am Tag lässt sichdas Sterberisiko um etwa 14 Prozent reduzieren. Wirwissen aus Studien, dass eine ärztliche Beratung, selbstwenn sie nur kurze Zeit dauert, sowohl beim Ernäh-rungsverhalten als auch beim Genussmittelkonsum – obnun Nikotin oder Alkohol – und auch beim Bewegungs-verhalten nachhaltige Veränderungen auslösen kann.Wir können Menschen – genauso wie 90 bis 95 Pro-zent der gesamten Bevölkerung –, die keine Präventions-kurse besuchen und keinen Zugang zur betrieblichen Ge-sundheitsförderung haben, weil sie arbeitslos sind,zumindest in der ärztlichen Praxis erreichen und aufdiese Weise durch Gesundheitsförderung und Präventioneine Wirkung zu erzeugen, für deren Existenz es wissen-schaftliche Belege gibt. Niemand muss ein schlechtesGewissen haben, wenn er Maßnahmen der ärztlich emp-fohlenen Prävention in Anspruch nimmt. Mir ist lieber,dass die ärztliche Präventionsempfehlung Realität wird,als dass wir uns darüber streiten, wer Mitglied der Natio-nalen Präventionskonferenz sein soll. Sicherlich ist esdiskussionswürdig, ob hier die professionelle Kompe-tenz noch mehr gestärkt werden soll. Aber das ist eineandere Frage.Der heutige Tag hat uns zu Beginn unserer Debatteeine Abnahme der Helligkeit beschert. Nun bringt er unswieder die Helligkeit der vollen Sonneneinstrahlung.Das erinnert an bestimmte festliche Tage. In Pennsylva-nia gibt es eine Stadt namens Punxsutawney. Dort wirdam 2. Februar der Groundhog Day gefeiert. An diesemTag grüßt das Murmeltier. Ein bisschen verhält es sichmit dem Gesetzgebungsprozess zum Präventionsgesetzwie mit dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Esfängt immer wieder von vorne an. Irgendwann kommtein zeitlicher Schnitt, und dann wird man wieder an denAnfang der Geschichte zurückversetzt. Ich bin aber festdavon überzeugt, dass nun der Punkt gekommen ist, andem der Start des neuen Tages bedeutet, dass er imHappy End eines gelungenen und verabschiedeten Prä-ventionsgesetzes enden wird. Lassen Sie uns gut disku-
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Rudolf Henke
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tieren und vielleicht noch Verbesserungen an dem Ge-setzentwurf vornehmen, wo es möglich ist.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Wir ge-hen mit Optimismus in die nun anstehenden Beratungen.Herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Birgit Wöllert, Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer aufder Tribüne! Herr Henke, Sie haben darauf verwiesen,wie lange schon der Anlauf zu diesem Präventionsgesetzwährt. Es handelt sich nun um den vierten Anlauf. Ichbeginne meine Rede genauso wie der Minister mit einerSchlagzeile. Nach dem Kabinettsbeschluss im Dezembertitelte die Stuttgarter Zeitung: „Nur Gröhe findet seinenEntwurf richtig gut“.
Auch der vierte Anlauf wird wahrscheinlich etwasschwierig. Damit bin ich wieder bei Ihnen, Herr Henke.Offenbar sind wir uns darüber einig, dass noch vielePunkte des Präventionsgesetzes verbesserungswürdigsind.Was wurde vor allem kritisiert? Erstens: Nicht geeig-net ist dieser Entwurf für die Reduzierung sozialer Un-gleichheiten. Zweitens: Nicht alle Sozialversicherungs-träger wurden beteiligt. Drittens: die vorrangigeFinanzierung durch die gesetzliche Krankenversiche-rung. Viertens: ein überholtes Verständnis von Präven-tion.Dass die Reduzierung sozialer Ungleichheit nicht ge-nügend im Blick ist, hat meine Kollegin Zimmermannschon gesagt. Frau Schulz-Asche wies darauf hin, undauch bei Frau Kühn-Mengel kamen einige dieser Punktezur Sprache.Allerdings sind auch andere Kritikpunkte nach wievor aktuell. Ich war 33 Jahre Lehrerin, bevor ich in diePolitik ging. Ich bleibe dabei: Ich fange beim Positivenin diesem Gesetzentwurf an. Dazu findet sich tatsächlichauch einiges. Ich beschränke mich hier auf vier Punkte:Erstens: eine größere Hinwendung zum Ansatz der Ge-sundheitsförderung in Lebenswelten. Zweitens: deutli-che Erhöhung der Finanzierungsmittel. Drittens: Einbe-ziehung der Pflege in die Prävention. Viertens:Ausweitung der Leistungen für Hebammen.Trotz dieser positiven Ansätze gibt es grundsätzlicheKritik von meiner Fraktion, Die Linke, an diesem Ge-setzentwurf. Deshalb haben wir einen eigenen Antragvorgelegt. Dieser folgt mehr einem modernen, interna-tionalen Ansatz von Gesundheitsförderung.
Für uns ist Gesundheit Menschen- und Grundrecht ansich im Sinne der UNO und der WHO, ein Höchstmaß– das kann man, glaube ich, nicht oft genug wiederho-len – an körperlichem, geistigem und sozialem Wohlbe-finden.
Das ist mehr als die Sicherung von Beschäftigungsfähig-keit und die Senkung der Krankheitskosten, die im vor-gelegten Gesetzentwurf immer noch im Vordergrund ste-hen. Es braucht also noch viele Nachbesserungen, damitein künftiges Präventionsgesetz internationalen Stan-dards genügt. Einige Vorschläge dazu wurden vom Bun-desrat schon eingebracht, und die sollten wir sehr ernstnehmen.Was bedeutet Gesundheitsförderung? Es ist ein Pro-zess, in dem die Menschen lernen, mehr Kontrolle überihr eigenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbe-finden zu erlangen und es selbst in die Hand zu nehmen,die Bedingungen dafür, also die Verhältnisse, in denensie leben, zu ihren Gunsten zu ändern und zu verbessern.Das jedoch bedeutet, die Menschen als Expertinnen undExperten in eigener Sache zu akzeptieren und auch ein-zubeziehen. Beteiligung der Menschen ist der Schlüsselfür erfolgreiche Gesundheitsförderung.
Dieser wirkliche Paradigmenwechsel – dass Gesundheiteben mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit – istauch mit diesem Gesetzentwurf nicht gelungen.Professor Rosenbrock, Präsident der Bundesarbeits-gemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, weist in ei-nem Interview im Februar dieses Jahres darauf hin, dassdie steigende Lebenserwartung zu zwei Dritteln durchfreundlichere Lebensverhältnisse, bessere Bildung und,daraus resultierend, auch weniger belastendes Gesund-heitsverhalten begründet ist. Maximal ein Drittel derSteigerungen geht auf verbesserte medizinische Gesund-heitsversorgung zurück. Dennoch glaubten Politiker unddie Bevölkerung, so Rosenbrock, die Gesundheit kommevom Arzt.Wo aber können wir körperliches, geistiges und sozia-les Wohlbefinden positiv beeinflussen? Wir müssen dietatsächlichen Lebensverhältnisse in den Blick nehmen.Das können in den Lebenswelten zum Beispiel sein:Baumindeststandards für Kitas und Schulen, die das na-türliche Bewegungsbedürfnis von Kindern und Jugendli-chen in den verschiedenen Altersgruppen berücksichti-gen. Das kann sich aber auch in Schulwegsicherung undVerkürzung langer Schulwege für Kinder manifestieren.
– Warten Sie. Zur GKV komme ich in diesem Zusam-menhang gleich. – Nicht zu vergessen ist, dass auch dieGestaltung des Tagesablaufs und das pädagogischeKlima in Kita und Schule das Wohlbefinden der dortLernenden, aber auch der dort Arbeitenden positiv odernegativ beeinflussen können.
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9068 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Birgit Wöllert
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Erst vergangene Woche war ich in meinem WohnortSpremberg in einer Kita. Ein altes Gebäude ist abge-rissen worden, und am gleichen Standort ist ein neuesGebäude errichtet worden. Zwischenzeitlich waren dieKinder in einer ehemaligen, viel größeren Kita unterge-bracht. Sie hatten da viel Platz zum Toben. Die Leiterinerzählte, wie genussvoll die Kinder sich dort auf dengroßen Fluren und freien Flächen – ohne zusätzlichenSportunterricht – bewegt haben.Die neue Kita ist nun barrierefrei, auf die Bedürfnisseder Kinder ausgerichtet, hat an diesem Standort dashöchstmögliche Maß an Bewegungsräumen innen undaußen, eine Kinderküche, die gute Ernährung erlebbarund erfahrbar macht.
Die Türen sind klemmsicher. Der Wickeltisch ist mitausziehbarer Treppe. Die Stühle für Erzieherinnen undErzieher sind verstellbar. Selbstverständlich hat jedesKind im Waschraum seinen eigenen Zahnputzbecherund seine eigene Zahnbürste. – Da hat die GKV, die ge-setzliche Krankenversicherung, keinen Cent reinge-steckt.
– Das ist der Mangel Ihres Gesetzes. Zuhören hilft.
Das leistet der Gesetzentwurf in keiner Weise. Des-halb sagen wir: Gesamtgesellschaftliche Anliegen müs-sen auch gesamtgesellschaftlich finanziert werden undnicht nur durch die gesetzliche Krankenversicherung.
Frau Kollegin.
Ich komme sofort zum Schluss. – Deshalb schlagen
wir einen Fonds vor, in den alle Sozialversicherungsträ-
ger, die Länder und der Bund einzahlen. Von den Ge-
samtmitteln des Fonds sollen 75 Prozent von den Kom-
munen abgerufen werden können. Ihnen sollen keine
zusätzlichen Kosten entstehen. So findet Gesundheits-
förderung dort statt, wo die Menschen leben und ihre Le-
bensumwelt selbst mitgestalten können.
Danke.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Edgar Franke, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Gesundheitspolitik ist immer auch Gesellschafts-politik. Das wussten Sozialdemokraten, Frau Zimmermann,schon immer.
Wir wissen: Soziale Faktoren wie niedriges Einkommen,geringer Bildungsstand und Arbeitslosigkeit haben Aus-wirkungen auf Gesundheitschancen. Natürlich hängtauch die Lebenserwartung davon ab. Sozialer Status undGesundheit hängen zusammen.Wir haben 1999 in § 20 SGB V hineingeschrieben– gerade Sozialdemokraten waren das –: Präventionmuss sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheits-chancen vermindern.
Das ist so etwas wie ein sozialdemokratischer Pro-grammsatz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir müssen mit Präventionsmaßnahmen die gesamteGesellschaft erreichen. Aber es ist in der Praxis oftmalsso, dass Präventionsmaßnahmen als Marketingaktionender Krankenkassen missbraucht werden, dass vor allenDingen junge, gesunde Menschen geworben werden sol-len, dass Angebote gemacht werden für Menschen, dieohnehin auf ihre Gesundheit achten. Das ist ein fakti-sches Problem.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Prävention mussmehr sein als Aufklärung und Sportkurse. Es kann nichtdarum gehen, dass wir gesunden und fitten Menschenzusätzlich Gymnastik-, Yoga-, Qigong-Kurse oder wasauch immer anbieten. Wir müssen diejenigen Menschenerreichen, die aufgrund ihrer Lebensumstände Gesund-heit und Vorsorge nicht in den Mittelpunkt stellen.Natürlich wissen wir alle: Das geht nur in den Le-benswelten. Wir müssen bei den Kitas, in den Schulen,in den Betrieben, eben in der Lebensgestaltung anfan-gen. Frau Schulz-Asche, als Kommunalpolitikerin, alsKommunalpolitiker – ich bin ehemaliger Bürgermeister –weiß man, wo gesellschaftliche Veränderungen sichvollziehen: in der Kommune, in den Quartieren, natür-lich in den Sozialräumen.
Aber Familie ist auch wichtig.
Die Menschen müssen wir dort erreichen.Meine hochgeschätzte Kollegin Helga Kühn-Mengelhat viele Themen angesprochen. Ich möchte ein paarSchwerpunkte nennen, die für mich wichtig sind:
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Dr. Edgar Franke
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Erstens. Wir brauchen vor allen Dingen, meine sehrverehrten Damen und Herren, eine zielgerichtete undbessere Zusammenarbeit aller Präventionsakteure. Dasist ganz wichtig. Das sind nicht nur Krankenkassen,Schulen, Bildungsträger und Kommunen. Ich habe frü-her bei der Berufsgenossenschaft gearbeitet. Da hatteman eine Doppelstruktur, einen staatlichen Arbeits-schutz und einen der Berufsgenossenschaften, die in derSelbstverwaltung organisiert sind. Das sind Themen, diewir wirklich praktisch, handwerklich angehen müssen.
Zweitens. Wir brauchen eine nationale Präventions-konferenz, um Ansätze in der Prävention und in der Ge-sundheitsförderung zu bündeln.Drittens. Wir brauchen Arbeitsschutz und gesundheit-liche Prävention in den Betrieben – mit den Sozialpart-nern. Auch das ist ein Thema, das wir uns wirklich imDetail anschauen müssen.
Wir müssen viertens den Zugang zu Präventionsange-boten für Personen mit besonderen beruflichen undfamiliären Belastungen erleichtern. Ich denke an Allein-erziehende, Schichtarbeiter oder pflegende Familienan-gehörige. Auch das ist ein Thema, wie wir alle wissen.Ich war früher einmal Chef einer kommunalen Kranken-pflegestation. Da hatten fast alle, die dort gearbeitet ha-ben, Rückenprobleme. Aber das bedeutet natürlich auch,dass wir, gerade wenn wir Gesundheitspolitik machen,so etwas erkennen müssen.Wir müssen fünftens Früherkennungsuntersuchungenfür Kinder, Jugendliche und Erwachsene weiterentwi-ckeln.Es gibt noch viele Details, die man nennen könnte.Der Herr Minister hat beispielsweise den Impfschutzbzw. die verpflichtende Impfberatung vor Aufnahme inder Kita angesprochen. Das sind, sagen wir einmal, hilf-reiche Beispiele, die man nennen kann. Das ist, FrauSchulz-Asche, mehr als Sozialprosa. Das hat wirklichmaterielle Substanz. Im Übrigen darf ich Ihnen auchnoch sagen: Alleine dass wir 2016 die Leistungen auf biszu 7 Euro pro Versichertem und Jahr verdoppeln, wie esin diesem Gesetz steht, ist eine große Leistung, und daskönnen Sie ruhig anerkennen, liebe Frau Schulz-Asche.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch ei-nen Punkt ansprechen, der mir besonders am Herzenliegt. Das ist der Diabetes, mit dem ich mich in letzterZeit auch als Ausschussvorsitzender in der einen oderanderen Veranstaltung beschäftigt habe. Sie wissen, mitüber 6 Millionen erkrankten Menschen ist der Diabetes,wenn man so will, die häufigste nichtübertragbareKrankheit in Deutschland. Sie betrifft nicht nur ältereMenschen, sondern immer häufiger auch Kinder. Wirwissen, dass Diabetes erhebliche Kosten in zweistelligerMilliardenhöhe verursacht, dass er die Volkswirtschaftbelastet, und wir wissen auch, dass falsche Ernährung,extremes Übergewicht und zu wenig Bewegung Risiko-faktoren sind. Mit diesen Risikofaktoren haben natürlichauch wir als Abgeordnete zu kämpfen.Wir müssen und wollen aber das Erkrankungsrisikosenken. Damit beugen wir nicht nur Krankheiten vor,sondern entlasten letztlich auch das Gemeinwesen vonerheblichen Kosten. Man sagt immer: Krankheit verhü-ten ist besser als Krankheiten vergüten. – Dieser Pro-grammsatz ist im Grunde genommen wichtig. Es wird jaeine nationale Diabetesstrategie diskutiert. Auf Bundes-ratsebene ist ein Diabetesplan in die Diskussion gebrachtworden. Aus meiner Sicht ist, glaube ich, wichtig, dasswir auch und gerade im Rahmen der Diskussion des Prä-ventionsgesetzes diese Probleme in die Beratung einbe-ziehen; denn hier geht es um Lebenswelten. Beim Dia-betes steht das Gesundheitsziel „Erkrankungsrisikosenken, Erkrankte früh erkennen und behandeln“ aus-drücklich so im Gesetz. Diese Themen haben eine be-sondere Bedeutung und müssen ressortübergreifend be-raten werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Präventi-onsgesetz sorgen wir dafür, dass Arbeit nicht krankmacht. Wir sorgen dafür, dass gesundes Aufwachsen undGesundheitschancen von Menschen nicht länger von ih-rem Lebensumfeld abhängen. Der vorliegende Entwurfbietet alle Chancen, dass diese Ziele im Rahmen des Ge-setzgebungsverfahrens umgesetzt, gegebenenfalls auchnoch präzisiert werden und dass, lieber Herr Henke, dasMurmeltier der Präventionsgesetzgebung uns nicht jedesJahr aufs Neue grüßt. Das wäre mein politischerWunsch.Ich danke Ihnen.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Maria Klein-Schmeink, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrterHerr Präsident! Ich glaube, an dieser Stelle zu Recht sa-gen zu können: Mit diesem Gesetzentwurf dokumentiertder Bundestag, dass er kein Erkenntnisproblem hat, auchkein Bekenntnisproblem. Alle führen das Wort einerStärkung der Gesundheitsförderung und der Präventionim Munde. Aber wir müssen uns doch fragen: Werdenwir diesem Anspruch, diesem Bekenntnis und diesen Er-kenntnissen mit diesem Gesetzentwurf eigentlich ge-recht? Ich sage, wir sagen ganz deutlich: Das genau ge-schieht an dieser Stelle noch nicht.
Der erste große Fehler: Es fehlt so etwas wie eine Ge-samtstrategie zur Gesundheitsförderung. Gesundheits-
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Maria Klein-Schmeink
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förderung heißt nämlich mehr als Verhindern von Er-krankungen. Gesundheitsförderung heißt, dass wirgesellschaftlich in allen Lebensbereichen Strukturenschaffen, die es ermöglichen, gesund zu leben und die ei-genen Lebensverhältnisse gesund zu gestalten. Davonsind wir an ganz vielen Stellen weit entfernt. – Das istder erste Punkt.Zweitens lassen Sie in diesem Gesetzentwurf jeglicheStrategie, jegliche Initiative vermissen, alle anderen Po-litikfelder in eine Gesamtstrategie einzubeziehen, diediesem Anspruch gerecht werden könnte.
Das haben Sie sogar selber in einigen Reden deutlichgemacht. Natürlich muss es um den gesamten Bereichder Kinder und Jugendlichen, der Familien gehen. Esmuss um den gesamten Bereich des Wohnens gehen undum den Bereich des Sports. Es muss um gesunde Ar-beitsbedingungen gehen, um die Reinhaltung von Luftund um Umweltbedingungen insgesamt. Das sind dieFaktoren, die gemeinsam berücksichtigt werden müssen.Dazu gehören nicht zuletzt viele Maßnahmen, die einegesunde Ernährung ermöglichen.
Mit Blick auf eine Gesamtstrategie fehlt all das bei derHerangehensweise in diesem Gesetzentwurf.Es ist nicht so, dass wir sagen, das könne allein dieKrankenversicherung stemmen; natürlich nicht. Viel-mehr geht es darum, daraus eine gesamtgesellschaftlicheAufgabe zu machen, die jeden Bereich in die Pflichtnimmt.
Das ist das Erste, und wir drängen darauf, dass Sie danachsteuern.Das Zweite ist: Sie haben zu Recht in vielen Redenhervorgehoben, welche Rolle die soziale Benachteili-gung auch in Bezug auf die gesundheitlichen Risikenspielt. Wenn wir da wirklich tätig werden wollen, wiekann es dann sein, dass Sie ausgerechnet den Bereich derArbeitslosenversicherung, das SGB II, außen vor lassenbei den wesentlichen Akteuren, die zusammenwirkenmüssen und vor Ort vernünftige Maßnahmen in Angriffnehmen müssen? Da müssen Sie dringend nachbessern.
Zu Recht ist auch gesagt worden, es muss um Maß-nahmen vor Ort gehen. Es muss um die Alltagsweltengehen; denn nur so können wir viele Menschen errei-chen, die nicht ohnehin schon gesundheitsbewusst leben.Wenn das so ist, dann müssen wir doch schauen: Wiemachen wir das vor Ort? Wie schaffen wir es, vor Ort– statt immer nur ein Projektchen nach dem anderen ein-zurichten, eine Maßnahme, die nur ein halbes Jahr läuftund dann wieder ausläuft; drei Jahre später kommt danneine andere Krankenkasse mit einer anderen Maßnahme –konzertierte, stetige Maßnahmen zu installieren, bei de-nen sich alle Akteure verbindlich mit gemeinsamen Zie-len zusammentun? Auch da lassen Sie bisher jeglicheAntwort vermissen.
Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet die Bun-deszentrale für gesundheitliche Aufklärung sozusagenals reisende Agentur für örtliche Vernetzung durch dieGegend ziehen soll, um zu schauen, wie verbindlicheArbeitsstrukturen, Vernetzungsstrukturen für Gesund-heitsförderung vor Ort geschaffen werden können.Meine Damen und Herren, es kann doch nicht sein, dassdas der wesentliche Ansatz ist. Da müssen Sie nachsteu-ern. Da brauchen wir etwas anderes. Wir brauchen Mög-lichkeiten, die Mittel von Krankenkassen regional zubündeln, gemeinsam über Gesundheitskonferenzen oderandere Steuerungsmechanismen, und es muss vor Ortverabredet werden können, wie diese Mittel eingesetztwerden. So herum muss es gehen.Darum müssen Sie dringend umsteuern. Dieser Ge-setzentwurf hat noch sehr viel Potenzial. Wenn Sie dahinkommen wollen, dass wir Gesundheitsförderung undPrävention erstmalig wirklich ernst nehmen, dann mussnoch viel passieren.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Reiner Meier, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Gleich getan istviel erspart.“ Dieser Satz bringt auf den Punkt, was Prä-vention im Gesundheitsbereich meint: nicht warten, bisder Körper und die Gesundheit Schaden nehmen, son-dern versuchen, es möglichst gar nicht so weit kommenzu lassen.Wenn wir heute in erster Lesung den Entwurf des Prä-ventionsgesetzes beraten, dann sollten wir uns Folgen-des klarmachen: Weltweit leiden immer mehr Menschenan Zivilisationskrankheiten. Deutschland ist da leiderkeine Ausnahme. Etwa 350 000 Bundesbürger sterbenjedes Jahr an den Folgen von Herz-Kreislauf-Erkrankun-gen. Das entspricht etwa 40 Prozent aller Todesfälle inDeutschland. Zum Vergleich: Im gesamten letzten Jahrhatten wir bundesweit 3 368 Opfer im Straßenverkehr zubeklagen. Angesichts dieser Fakten fragt man sich: Wa-rum tun wir uns so schwer, hier und da weniger zu essen,gesünder zu leben, uns besser zu bewegen, mehr Sportzu betreiben oder die Vorsorgeuntersuchungen nicht zuvernachlässigen?
Die Antwort ist einfach: Der Mensch ist nun einmal einGewohnheitstier und ändert nur dann seine ungesundenGewohnheiten, wenn er gute Anreize dafür hat und
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Reiner Meier
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wenn man es ihm möglichst leicht macht, gesünder zuleben.
Bei der Umsetzung der Ziele stellt das Präventionsge-setz auf den Lebensweltenansatz ab. Das heißt, wir holendie Menschen dort ab und bieten die Leistungen dort an,wo sie einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen.Besonders für jene, die bislang weniger auf Präventions-angebote zurückgegriffen haben, sind einfach erreich-bare Angebote ein guter Weg, um ihre Gesundheitschan-cen deutlich zu verbessern.Wenn wir auf Dauer etwas bewegen wollen, müssenwir aber auch zulassen, dass jeder von sich aus die freieEntscheidung trifft, Präventionsangebote anzunehmen.Da ist es weniger erfolgreich, mit Bevormundung odermit Verboten anzukommen. Die Kolleginnen und Kolle-gen von den Grünen erinnern sich sicherlich noch an denVeggie-Day und daran, welche Diskussionen das hervor-gerufen hat.
Übrigens ist er eine Erfindung der katholischen Kircheund nicht Ihrer Partei, meine Damen und Herren.
Ich sehe Impfen als Prävention ersten Ranges an.
Schutzimpfungen sind die wirksamsten Präventionsin-strumente der Medizin, die uns heute zur Verfügung ste-hen.
Jedes Jahr sterben 1,5 Millionen Kinder an Krankheiten,für die es eigentlich wirksame Impfungen gäbe. Auch inDeutschland bestehen erhebliche Impflücken, gerade beiJugendlichen, aber auch bei Erwachsenen, die gar keinebewusste Entscheidung gegen Impfungen treffen, son-dern es spielen schlichtweg Vergesslichkeit, Bequem-lichkeit oder Gleichgültigkeit eine Rolle. Unbestritten istaber die Erforderlichkeit einer hohen Durchimpfungs-rate.Das Präventionsgesetz enthält drei wichtige Maßnah-men zur Steigerung dieser Impfquoten: Erstens. Im Rah-men der nationalen Präventionsstrategie fließen dieEmpfehlungen der Ständigen Impfkommission in dieZielvereinbarung ein. Wir schaffen dadurch einen ver-lässlichen Rechtsrahmen für eine trägerübergreifendeUmsetzung dieses wichtigen Ziels. Zweitens. Die ver-pflichtende Prüfung des Impfstatus bei Früherkennungs-untersuchungen, besonders bei Kindern und Jugendli-chen, halte ich für dringend geboten. Drittens. DiePflicht zur ärztlichen Impfberatung bei Erstaufnahme inKindertageseinrichtungen ist sehr zu begrüßen.Die aktuelle Masernsituation – der Minister hat es an-gesprochen – in Deutschland zeigt: Wir verzeichnen2015 bundesweit bereits über 1 000 Masernfälle, davonrund 800 allein in Berlin – mit steigender Tendenz. Al-lein in Berlin sind es mehr Fälle, als in manchen Jahrenbundesweit festgestellt wurden. Eine Schule musste we-gen Masern zeitweise geschlossen werden oder sogarSchüler ohne Impfstatus vom Unterricht ausgeschlossenwerden, obwohl sie kurz vor der Abiturprüfung standen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Ereig-nisse zeigen, die Entscheidung, sich impfen zu lassen,kann erhebliche Konsequenzen haben, weil sie auch an-dere betrifft. Dabei scheinen mir drei Aspekte besonderswichtig.Erstens. Unsere Verfassung schützt das Selbstbestim-mungsrecht und die körperliche Unversehrtheit. Beideswird durch Impfungen berührt. Ohne gesetzliche Grund-lage darf hier nicht eingegriffen werden. Andererseits istder Staat aber verpflichtet, die körperliche Unversehrt-heit nicht nur des Einzelnen, sondern die Unversehrtheitaller Bürger dieses Staates zu gewährleisten.Zweitens. Unsere Rechtsordnung schützt das elterli-che Sorgerecht als tragenden Pfeiler der Familie. Elternbestimmen über die Impfung ihrer Kinder. Sie tragenaber auch die Verantwortung für ihr Wohlergehen undihre Gesundheit. Eltern brauchen deshalb ein Angebotqualifizierter, seriöser Beratungen zu den Impfungen,damit sie sich nicht auf Gerüchte vom Hörensagen ver-lassen müssen. Ich denke dabei insbesondere an die Be-hauptung, dass eine Masernimpfung Autismus auslöst –eine Behauptung, die nachweislich falsch ist und sichdennoch hartnäckig hält.
Drittens. Wenn man nun den Nutzen der empfohlenenImpfungen mit den potenziellen Nebenwirkungen ver-gleicht, überwiegt ganz klar der Nutzen. Moderne Impf-stoffe sind allgemein gut verträglich. Zudem erspart jedenicht ausgebrochene Krankheit den Menschen eine akuteBehandlung mit Medikamenten, die deutlich stärkereNebenwirkungen haben als die Impfung selbst.Wir wissen heute mehr über Infektionskrankheiten alsje zuvor, und wir haben die Mittel, um gefährlicheKrankheiten endgültig auszurotten. Liebe Kolleginnenund Kollegen, wir dürfen deshalb nichts unversucht las-sen, um die Bevölkerung endgültig von diesen Krank-heiten zu befreien. Der vorliegende Gesetzentwurf ent-hält gute Ansätze zur Verbesserung der Impfquoten. Wirwerden im parlamentarischen Verfahren eingehend erör-tern und diskutieren, welche Wege wir hier gehen. Las-sen Sie mich abschließend klar sagen: Sollten unsereAnstrengungen – –
Wenn der Abschluss kurz ist, ja.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Solltenalle Anstrengungen, mit Anreizsystemen zum Ziel zukommen, in der Praxis fruchtlos bleiben, werden wir ineinem zweiten Schritt auch verbindliche Maßnahmenprüfen müssen.
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9072 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Reiner Meier
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Meine Damen und Herren, in diesem Sinne wünscheich uns allen eine konstruktive Beratung zu diesemwichtigen Gesetz. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerk-samkeit.
Ich habe eine Bitte an alle Redner. Wir haben es jetzt
ein paarmal erlebt, dass der zentrale Gedanke immer
nach Ablauf der Redezeit kommt.
Es wäre an und für sich schön, wenn man ihn an den An-
fang stellte und dann die Redezeit einhielte.
– Das war eine überparteiliche Bemerkung; es betraf alle
Redner, die eben gesprochen haben.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Marina Kermer, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Prävention heißtVorbeugung, meint aber auch Vorsorge. Ich finde, wirmüssen genauso an Fürsorge denken, weil Erkrankungenmanchmal Abwärtsspiralen in Gang setzen, die nur nochvon Außenstehenden zu stoppen sind, weil der oder dieBetroffene sich selbst nicht mehr helfen kann.Das trifft vor allem auf psychische Erkrankungen zu.Immer häufiger treten sie als Folgen beruflicher Belas-tungen auf. Ja, unsere komplexe Arbeitswelt bietet vie-len Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Chancen zurSelbstverwirklichung; man kann persönliche Anerken-nung und materiellen Wohlstand gewinnen, wenn mangut aufgestellt ist. Wenn man nicht so gut aufgestellt ist,weil man gesundheitliche Einschränkungen hat, dann er-lebt man die komplexe Arbeitswelt oft als Überforde-rung und Dauerüberlastung.In der Folge treten somatische und psychosomatischeErkrankungen auf, also Erkrankungen des Körpers undder Seele, ausgelöst durch – erstens – die Arbeit selbst,die krank machen kann. Es ist immer weniger die kör-perlich harte Arbeit, die zu Erkrankungen führt, zumBeispiel zu Erkrankungen des Skeletts wie Rücken-schmerzen oder Knieverschleiß. Die steigenden Zahlenpsychischer Erkrankungen sind alarmierend: Burn-out-Syndrom, Depressionen und Suchterkrankungen führenimmer häufiger in die Frühverrentung. Laut GKV-Spit-zenverband hat die Zahl der Krankheitstage aufgrundpsychischer Erkrankungen zwischen 2002 und 2012 umnahezu 67 Prozent zugenommen.Zweitens kann ein Arbeitsplatzverlust, oft unver-schuldet, den Beginn einer Erkrankung auslösen. Dennwer auf Dauer ohne tägliche Aufgabe und Anerkennunglebt, der verliert seine Tagesstruktur. Am Ende verharrtman im schlimmsten Fall in hilfloser Resignation. Auchdarunter leidet langfristig die körperliche und seelischeVerfassung. Wer durch Arbeitslosigkeit krank wird undaufgrund der Krankheit nicht vermittelt werden kann,der sitzt in einem Teufelskreis. Deshalb sollten die Kran-kenkassen gemeinsam mit den kommunalen Trägern derGrundsicherung und der Bundesagentur für Arbeit daranarbeiten, gesundheitliche Vermittlungshemmnisse zu be-seitigen;
denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, für das Erwerbs-personenpotenzial muss der Zugang zum Arbeitsmarktmit geeigneten Maßnahmen wieder ermöglicht werden.Das Arbeitsleben ist dominant im Alltag, deshalb istes so wichtig und richtig, die betriebliche Gesundheits-vorsorge zu stärken. Für die Beschäftigten in den Betrie-ben sind die Betriebsärzte erste Ansprechpartner. Des-halb ist die Stärkung ihrer Aufgabe richtig; denn denMedizinerinnen und Medizinern sollte es als Erstes auf-fallen, wenn in einem Betrieb bestimmte Erkrankungengehäuft auftreten.Dabei nehmen wir die Bedenken der Gewerkschaftenernst. Die Betriebsärzte stehen in einem sensiblen Ver-trauensverhältnis. Das darf zu keinem Zeitpunkt infragegestellt werden, ganz besonders nicht, wenn es um seeli-sche Erkrankungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern geht.Richtig ist auch die Feststellung des DGB, dassgrundsätzlich der Arbeitgeber für das Arbeitsumfeld ver-antwortlich ist und niemand sonst. Man nennt es Fürsor-gepflicht. Viele große Unternehmen haben bereits guteund zeitgemäße Präventionskonzepte. Einige großeKonzerne halten eigene Gesundheitsangebote vor undsorgen im Vorfeld durch Arbeitsplatzgestaltung und Ar-beitsorganisation für gute Bedingungen.Natürlich können kleine und mittelständische Unter-nehmen nicht mit Großkonzernen mithalten. Deshalbwollen wir die Kooperation vor Ort stärken. Zum Teilgeht fehlende Prävention auf mangelnde Kenntnisse vonPräventionsangeboten zurück. Aus diesem Grund wer-den die Krankenkassen den Unternehmen Beratungs-möglichkeiten anbieten. Ja, es werden insgesamt 7 Europro Versichertem für Prävention zur Verfügung gestellt,davon werden 2 Euro für die betriebliche Prävention ein-gesetzt. Mit diesen zusätzlichen Mitteln wird es vor Ortbesser gelingen, passgenaue Prävention im Betrieb anzu-bieten.An dieser Stelle möchte ich auf die besondere Situa-tion der Pflegekräfte in den Krankenhäusern und Pflege-einrichtungen eingehen.
Denn dort haben wir besonders häufig körperlich undseelisch belastende Arbeitsbedingungen bei knappenPersonaldecken.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9073
Marina Kermer
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Es ist absurd, dass ausgerechnet in den Gesundheitsbe-rufen zu wenig Wert auf die Gesundheit der Beschäftigtengelegt wird. Deshalb werden wir mit dem Pflegestellen-förderprogramm im Rahmen der Krankenhausreformeinen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Personal-situation gehen. Auch das ist Prävention für Pflegekräfteund für Patientinnen und Patienten.Insofern kann ich zu dem Antrag der Kolleginnen undKollegen von der Linken sagen: Wir entlassen die Ar-beitgeber nicht aus ihrer Verantwortung, stärken aber dieHilfe für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Denn was für die Gesellschaft nur Verlust an Arbeits-kraft ist, bedeutet für den Einzelnen Verlust an Lebens-qualität.
Deshalb ist uns Prävention so wichtig. Es geht uns umdie Menschen. Weil das so ist, geben wir mehr Mittel fürPrävention aus. Ich finde, das sind gut angelegte Mittel.Natürlich kann man leicht immer noch mehr Geld for-dern, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Zimmermann.Aber „Mehr, mehr!“ rief auch der kleine Häwelmann inTheodor Storms Märchen, und wohin hat es ihn ge-bracht? Er ist am Ende ins Wasser gefallen. Das wollenwir nicht. Besser wäre, wir bringen das Präventionsge-setz gemeinsam in trockene Tücher.Danke.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Heiko Schmelzle, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Dass die Menschen in Deutsch-land ein immer höheres Lebensalter erreichen, liegt si-cherlich auch daran, dass unser Gesundheitssystem imweltweiten Vergleich ein sehr, sehr gutes ist.Das heute eingebrachte Präventionsgesetz ist ein wei-terer Baustein der Bundesregierung bei der Umsetzungihres Versprechens, unser Gesundheitssystem zukunfts-fest zu machen.
Durch den Dreiklang aus Präventionsgesetz, Versor-gungsstärkungsgesetz und Pflegestärkungsgesetz greifenwir drei grundlegende Bereiche auf. Das Versorgungs-stärkungsgesetz soll hochwertige medizinische Versor-gung, unabhängig vom Wohnort, sichern. Das erste Pfle-gestärkungsgesetz hat Leistungen für Pflegebedürftigeund Entlastungsangebote für pflegende Angehörige aus-geweitet. Das Präventionsgesetz soll gesundheitsför-dernde Maßnahmen stärken, um Krankheiten zu vermei-den.CDU und CSU wollen dabei nicht bevormunden. Wirwollen die Menschen stattdessen davon überzeugen, dassihr Handeln die Lebensqualität erhöhen und das Lebenselbst verlängern kann. Denn nur wenn die Lebenswirk-lichkeit der Menschen in Kita oder Schule, am Arbeits-platz oder im Pflegeheim im Sinne eines gesünderenLebens verbessert wird, kann die Gesundheit der Bevöl-kerung nachhaltig verbessert werden.
Weil Prävention auf längere Frist die Kosten für nichtmehr notwendige Krankenbehandlungen erspart, sindfinanzielle Mittel hier gut investiert. Die von den Kran-kenkassen in diesem Bereich einsetzbaren Mittel werdenwir darum auf 490 Millionen Euro mehr als verdoppeln.Diesmal sind auch die Pflegekassen mit dabei.
Zwei Themen liegen mir besonders am Herzen: diebetriebliche Gesundheitsvorsorge und das Impfen.Die berufliche Tätigkeit dominiert einen Großteil unse-res Lebens. In Zeiten eines zunehmenden Fachkräfteman-gels hat die Erhaltung der Gesundheit der Arbeitnehmerfür die CDU/CSU allerhöchste Priorität. Ein gesünderesArbeitsumfeld stärkt die Arbeitsplatzzufriedenheit unddamit die Identifikation und Verbundenheit der Arbeit-nehmer mit ihrem Unternehmen. Gerade kleinere Be-triebe sind aufgrund der geringen Mitarbeiterzahl häufignicht in der Lage, in Eigenregie sinnvolle Maßnahmenzur Vermeidung arbeitsbedingter Gesundheitsrisiken zuergreifen. Wir stellen für diesen Bereich 140 MillionenEuro bereit, um gerade den Mittelstand bei der wichtigenAufgabe der betrieblichen Gesundheitsvorsorge zu un-terstützen.
Das Impfen ist für mich eine weitere wesentlicheSäule der Prävention. Impfen ist die effektivste medizi-nische Präventionsmaßnahme. Impfen schützt weltweitMillionen von Menschen vor Krankheiten, Behinderungund Tod, und vor allem: Impfen liefert im Bereich derPrävention messbare Ergebnisse.Die Debatte um das Impfen ist allzu häufig ideolo-gisch geprägt und wird leider von den wenigen Impfgeg-nern bestimmt. Wir müssen der Bevölkerung immer wie-der die Erfolge des Impfens bei der Bekämpfung undAusrottung von Krankheiten ins Bewusstsein rufen.Pocken, Tollwut, Pest, Diphtherie, Tuberkulose, Wund-starrkrampf, Gelbfieber, Kinderlähmung, Masern, Mumps,Röteln: Das Impfen ist eine einzige Erfolgsgeschichte.
Wir leben in einer mobilen Welt, in der wir binnen weni-ger Stunden auf andere Kontinente reisen können. Güterwerden weltweit transportiert. Krankheiten und Epide-
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Heiko Schmelzle
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mien können uns jedoch genauso schnell erreichen. Hiergilt es, auch für unsere Bevölkerung die Impfquote zuerhöhen, um dadurch vorzusorgen.In der Mehrzahl der Fälle ist die Ursache für fehlendeImpfungen nicht die offene Ablehnung des Impfens,sondern ist der Unwissenheit, der Nachlässigkeit und ei-nem mangelnden Problembewusstsein geschuldet. Ge-rade junge Menschen gehen selten zum Arzt, und wennsie einen Mediziner aufsuchen, haben sie in den seltens-ten Fällen ihren Impfpass dabei. Eine Impfberatung er-folgt dann höchstens, wenn eine Fernreise ansteht. Fürdie Erhöhung der Impfquoten benötigen wir daher einstrukturiertes, bundeseinheitliches Impfkonzept für alleLebensphasen, welches die Menschen im wiederkehren-den Rhythmus auf das Impfen hinweist.Wichtig ist der einfache und niedrigschwelligeZugang zu den notwendigen Impfungen. Reine Informa-tionsangebote reichen hier nicht aus. Dabei muss derTatsache Rechnung getragen werden, dass es sich beiImpfungen um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabehandelt.
Ich appelliere an alle, die gesellschaftliche Verantwor-tung gegenüber jenen, die nicht geimpft werden können,ernst zu nehmen; denn für einen wirksamen „Herden-schutz“ benötigen wir eine Impfquote von circa 95 Pro-zent. Genau hier setzen die vorgesehenen Maßnahmen an,die meine Vorredner schon genannt haben. Ich möchteaber noch ergänzen, dass die Krankenkassen künftig mitFachärzten für Arbeitsmedizin oder mit Betriebsmedizi-nern Verträge zur Durchführung von Schutzimpfungenschließen können.Erlauben Sie mir einen persönlichen Hinweis zumGesetzentwurf. Gemeinsam mit meinen CSU-KollegenReiner Meier und Erich Irlstorfer aus dem Gesundheits-ausschuss habe ich im Herbst 2014 ein Konzept zur Ver-besserung der Impfsituation in Deutschland vorgelegt.Viele Erwägungen finden sich bereits heute im Regie-rungsentwurf wieder. Dennoch halten wir einen weiterenPunkt für absolut bedenkenswert. Derzeit wird von den17 Kassenärztlichen Vereinigungen das ModellprojektKV-Impfsurveillance durchgeführt. Dieses Projekt doku-mentiert Impfquoten, die Häufigkeit der Inanspruchnahmevon Vorsorgeuntersuchungen und Erkrankungszahlen re-präsentativ für alle Bundesländer und ermöglicht dieAufschlüsselung dieser Zahlen bis auf Kreisebene fürdie verschiedenen Altersgruppen. Genau dies fordernSachverständige doch seit langem, zuletzt ProfessorDr. Gerd Antes vom Deutschen Cochrane Zentrum beiseinem Besuch im Gesundheitsausschuss. Nur mit solchbelastbaren Daten können wissenschaftlich fundiertImpflücken geschlossen und drohende Epidemien ziel-genau bekämpft werden.Wir können uns vorstellen, aus diesem Modellprojektab 2016 eine regelhafte, bundeseinheitliche und anony-misierte Impfdatenerhebung beim Robert-Koch-Institutzu entwickeln, die dann verbindliche Grundlage der Ar-beit der Ständigen Impfkommission wird. Die Ergeb-nisse und die hieraus resultierenden Vorschläge solltenjährlich im Rahmen eines Impfberichts des BMG veröf-fentlicht werden.Lassen Sie mich mit Blick auf den Frühlingsanfangmit einer lyrischen Note schließen. Die Herausforderungist die Knospe des Handelns. Lassen Sie uns im parla-mentarischen Verfahren gemeinsam daran arbeiten, dassdie Knospe zur Blüte wird und dann Frucht trägt. Denndie Stärkung der Gesundheit beginnt mit der Prävention.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Martina Stamm-Fibich, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Minister Gröhe!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damenund Herren! Es ist schon viel gesagt worden; das machtes gegen Ende der Debatte immer ein bisschen schwie-rig. Ich versuche es jetzt mit ein bisschen Handfestem.Wie bei der Bildung – das haben wir heute schon oftgehört – hängen auch die Gesundheitschancen von Kin-dern und Jugendlichen in Deutschland von ihrer sozialenHerkunft ab. Zuletzt – auch das wurde heute schonmehrfach erwähnt – hat dies die KiGGS-Studie desRobert-Koch-Instituts bestätigt. Die KiGGS-Studiekommt zu dem Ergebnis, dass bei Kindern aus sozial be-nachteiligten Familien Risikofaktoren wie Bewegungs-mangel oder Übergewicht stärker verbreitet sind unddass ein Drittel der Kinder aus diesen Familien von Ver-haltensproblemen, Hyperaktivität oder Problemen mitGleichaltrigen betroffen sind. Kinder aus armen Fami-lien hinken in ihrer Entwicklung hinterher. Schon vordem Schuleintritt sind sie massiv benachteiligt. Das gehtaus einer weiteren Studie, die uns diese Woche vorgelegtwurde, einer Studie der Bertelsmann Stiftung, hervor.Die Studien zeigen: Zusätzlich zum Präventionsge-setz sind langfristig weitere Investitionen in Bildung not-wendig, aber auch in benachteiligte Quartiere und in In-stitutionen. Nur so können wir die Gesundheitschancenfür unsere Kinder verbessern. Mögliche Ansätze seheich hier bei dem Programm „Soziale Stadt“ oder bei derFörderung von Kitas. Für mich ist klar, dass Ressourcennicht nach dem sogenannten Gießkannenprinzip verteiltwerden dürfen. Kitas und andere Einrichtungen brau-chen mehr Geld, mehr Personal und andere Förderange-bote. Dem muss das Präventionsgesetz Rechnung tragen.
Die Basis für eine gesundheitsbewusste Lebensweiseim Erwachsenenalter wird in der frühen Kindheit gelegt.Daher hat die Umsetzung primärpräventiver und früher
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Martina Stamm-Fibich
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sekundärpräventiver Elemente im Kindesalter große Ef-fekte. Beim Thema Kinder- und Jugendgesundheit ver-folgt die SPD-Bundestagsfraktion ein klares Ziel: Wirwollen gleiche Gesundheitschancen für alle Kinder er-reichen.
Das ist eine weitreichende Forderung, die viele Einzel-schritte erfordert. Einen ersten Schritt haben wir mit demEntwurf eines Präventionsgesetzes getan.Wer kleine Kinder hat, kennt dieses gelbe Heft.
Es hilft Eltern, den Überblick über die vielen Vorsorge-termine zwischen Geburt und Einschulung, also über diesogenannten Us, zu behalten. Bisher allerdings enden dieUs – und damit auch das berühmte gelbe Vorsorgeheft –mit dem Moment, in dem es richtig schwierig werdenkann, wenn nämlich aus dem Kindergartenkind einSchulkind wird, wenn Entwicklungsstörungen, Esspro-bleme oder Ängste auftauchen können. Ich begrüße des-halb den Änderungsvorschlag zu § 26 SGB V. Ich freuemich über die Anhebung der Altersgrenze für die Us. Ichfreue mich vor allem über die Änderungen, die auf einequalitative Verbesserung der bestehenden Früherken-nungsuntersuchungen hoffen lassen.
Ich begrüße vor allem die Erweiterung der Früherken-nung um die psychosoziale Entwicklung sowie die präven-tionsorientierte Beratung mit Überprüfung des Impfstatus.Auch dass Informationen zu regionalen Unterstützungs-angeboten für Eltern und Kind Teil dieser Beratung seinsollen, findet meine ausgesprochene Anerkennung. Dieletzte Entscheidung – die über das Wie – soll, wie so oft,der Gemeinsame Bundesausschuss fällen. Ich würde essehr begrüßen, wenn alle drei Untersuchungen, die U10,die U11 und auch die J2, zu Regelleistungen werdenwürden.Von der Geburt bis zum fünften Lebensjahr sind Kin-der in Deutschland auch jetzt schon gut betreut. Seit in-zwischen sieben Jahren bieten die Kinderärzte zudemdrei weitere Untersuchungen an, die U10 und die U11für Grundschüler und die J2 für 17-Jährige. Hier gibt esfür vorsorgewillige Eltern allerdings einen Haken: Nichtalle Krankenkassen übernehmen die Kosten von rund50 Euro pro Untersuchung, weil die drei Vorsorgeter-mine nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Kassenverankert sind. Eltern müssen also selbst in die Taschegreifen oder auf diese Vorsorge verzichten. Durch dieflächendeckende Einführung einer zusätzlichen U- oderJ-Untersuchung entstehen für die Krankenkassen jähr-lich voraussichtlich Mehraufwendungen im niedrigeneinstelligen Millionenbereich. Dem gegenüber steht aberein enormes Einsparpotenzial
durch die Vermeidung oder frühzeitige Erkennung vonStörungen der gesundheitlichen Entwicklung. Kurzum– wir haben es schon oft gehört –: Vorbeugen ist besserals Heilen.Durch diese Stärkung des Untersuchungsprogrammshoffe ich auch auf eine Verbesserung der Impfquotenvon Kindern im Schulalter. Ich bin überzeugt davon,dass Impfungen, wenn sie mit Vorsorgeuntersuchungenzusammenfallen, auch durchgeführt werden. Deshalbbegrüße ich auch die in Artikel 8 des Gesetzentwurfesgeplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Schutz-impfungen gehören zu den wichtigsten Maßnahmen imRahmen der primären Prävention von Infektionskrank-heiten.
Der Gesetzentwurf legt fest, dass die Überprüfung desImpfstatus und eine Impfberatung zum Bestandteil derGesundheitsuntersuchung bei Erwachsenen und bei Kin-dern und Jugendlichen werden. Der Gesetzentwurf setzt– sehr zu Recht – bei den Kleinsten an. Die Eltern vonKindern, die in eine Kindertagesstätte aufgenommenwerden sollen, müssen künftig nachweisen, dass eineärztliche Impfschutzberatung erfolgt ist. Damit soll einehöhere Beteiligung an den Schutzimpfungen, die dieStändige Impfkommission empfiehlt, erreicht werden.Wie wichtig Impfungen sind – wir haben auch das schoneinige Male gehört –, haben wir beim dramatischen Aus-bruch der Masern gemerkt.
Frau Kollegin, wenn Sie auf Sachen hinweisen, die
schon mehrfach gesagt worden sind, ist das in Ordnung.
Aber wenn die Redezeit überzogen ist, finde ich, könnte
man das weglassen; sie ist nämlich schon überzogen.
Ich komme zum Ende. – Mit dem Gesetzentwurf hat
der Gesundheitsminister ein erstes Etappenziel erreicht;
das begrüße und unterstütze ich ausdrücklich. Aber ein
Etappenziel ist eben ein Etappenziel. Das übergeordnete
Ziel der SPD-Bundestagsfraktion habe ich genannt – ich
wiederhole es zum Schluss –: Wir wollen gleiche Ge-
sundheitschancen für alle Kinder. Dieses Ziel ist erst er-
reicht, wenn uns Studien bessere Ergebnisse liefern.
Herzlichen Dank.
Als letztem Redner in der Aussprache erteile ich dasWort dem Abgeordneten Dietrich Monstadt, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren!Gesundheit erflehen die Menschen von den Göt-tern; dass es aber in ihrer Hand liegt, diese zu erhal-ten, daran denken sie nicht.Dieses bekannte Zitat stammt von dem griechischen Phi-losophen Demokrit, der zwischen 460 und 371 vorChristus lebte.
– Ich denke man darf das zitieren, weil das richtig ist. –Prävention ist also nicht nur heute im Rahmen der erstenLesung zum vorliegenden Gesetzentwurf von wesentli-cher Bedeutung, sondern bereits seit 2 400 Jahren einThema.Meine Damen und Herren, wie ist die Situationheute? Wir wissen, der demografische Wandel ist die ge-sellschaftliche Herausforderung der nächsten Jahr-zehnte. Bis 2060 wird jeder zweite Deutsche mindestens51 Jahre alt sein. Während es zurzeit 650 000 Deutschegibt, die über 90 Jahre alt sind, werden es 2060 rund3,3 Millionen sein.
Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft, diezusätzlich gekennzeichnet ist durch einen Wandel derLebensstile: Fahrstuhl statt Treppe, Auto statt Fahrradoder zu Fuß gehen, Computer statt körperlicher Betäti-gung in der Freizeit, FastFood statt gesunder Ernährung.Allein aufgrund dieser Entwicklung ist von einer weite-ren Zunahme der bedeutsamen nichtübertragbaren Er-krankungen, insbesondere von Diabetes Typ 2 und Adi-positas, auszugehen.Meine Damen und Herren, ich weiß persönlich, wor-über ich spreche: Ich bin insulinpflichtiger Typ-2-Diabe-tiker, und von meinen adipösen Ansätzen können Siesich selbst überzeugen. Ich möchte daher zum Schlussdieser Debatte hier die Chance nutzen, gerade bei diesenbeiden Erkrankungen einen Schwerpunkt zu setzen. Pa-rallel zum stattfindenden Naturereignis, meine Damenund Herren, müssen Sie sich Diabetes wie eine nicht en-dende Sonnenfinsternis vorstellen: Er schiebt, schleichtsich langsam ins Leben, und der Schatten bleibt aufDauer.Gerade vor meinem persönlichen Hintergrund freueich mich, dass Prävention und Früherkennung, aber auchdie Versorgung der Erkrankung Diabetes als primäresnationales Gesundheitsziel im Gesetzentwurf verankertsind.
Das zeigt: Das Thema Diabetes ist in der Politik ange-kommen. Meine Damen und Herren, Prävention undFrüherkennung sind eine wichtige Säule der Diabetesbe-kämpfung. Mit einem krankheitsübergreifenden Ansatzsollen lebensstilbedingte chronische Erkrankungen ver-mindert oder zumindest in ihrem Verlauf positiv beein-flusst werden.Sehr geehrter Herr Minister, an dieser Stelle meinenganz herzlichen Dank dafür, dass unter Umsetzung desKoalitionsvertrages mit diesem Gesetz nach zehn JahrenDebatte und vier Anläufen Prävention und Gesundheits-förderung in den Vordergrund der Gesundheitsversor-gung gerückt sind.
Die dafür angedachten Mittel von circa 500 MillionenEuro pro Jahr sind ein ganz wichtiger Schritt in die rich-tige Richtung.Meine Damen und Herren, als Unionspolitiker undBetroffener ist es mir ein persönliches Ziel, aufzuklären,anzuleiten und die Eigenverantwortung eines jeden so zustärken, dass Volkskrankheiten wie Diabetes oder Adi-positas verhindert werden können. Die Zahlen sind dra-matisch: In der Gesellschaft eher als Altersdiabetesbekannt, nimmt auch die Zahl von Kindern und Jugend-lichen, die an Typ-2-Diabetes erkranken, erschreckendzu. Von aktuell insgesamt 10 Millionen Diabeteserkran-kungen – unter Einbeziehung einer nicht quantifizierba-ren Dunkelziffer – wird die Zahl der Betroffenen biszum Jahr 2025 auf circa 20 Millionen ansteigen. Der An-teil der Menschen in Deutschland mit extremer Adiposi-tas hat sich zwischen 1999 und 2009 fast verdoppelt.Diabetes wie auch Adipositas zählen damit zu denhäufigsten lebensstilbedingten Erkrankungen, mit oft-mals dramatischen Konsequenzen: Dazu gehören Herz-infarkte, Schlaganfälle, Amputationen, Erblindung,Nierenversagen und eine deutlich geringere Lebenser-wartung. Das ist, wie ich finde, eine erschütternde Er-kenntnis für die Gesundheitspolitik, aber auch für unsereGesellschaft.Jüngste Schlagzeilen wie „Volkskrankheiten verursa-chen Millionen Tote“ oder „Sitzen ist das neue Rauchen“brauchen wir nicht. Wir wissen, dass die Erkrankung beivielen Patienten vermeidbar gewesen wäre. Falsche Er-nährung, lebensstilbedingte Gewichtszunahme und zuwenig Bewegung schon im Kindesalter sind dafür eineUrsache. Das bedeutet: Wir müssen die Menschen nochbesser aufklären. Prävention und Aufklärung schon injungen Jahren halte ich für den Schlüssel, um den explo-dierenden Kosten, dem Tsunami, der auf uns zurollt, ent-gegenwirken zu können.
Wenn man den jungen Menschen richtiges und gesun-des Ernährungsverhalten von vornherein anerzieht, dannwerden sie ihr Leben lang einen Fundus an Wissen ha-ben. Und wenn sie später selbst Verantwortung tragen,dann erinnern sie sich vielleicht und versuchen, richtigesKörperverhalten zu leben. Das heißt konkret: Wir müs-sen schon bei den ganz Jungen in Kitas und Schulen an-setzen.
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Dietrich Monstadt
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Nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissenkann bereits ein ungesunder Lebensstil während derSchwangerschaft – falsche Ernährung, zu wenig Bewe-gung – ein erhöhtes Diabetesrisiko für das ungeboreneKind bedeuten. Es gilt daher, auch hier anzusetzen.Ausgehend von der Initiative der norddeutschen Bun-desländer – darunter auch mein eigenes, Mecklenburg-Vorpommern –, ist es wichtig, dass wir die präventivenAnsätze, die in dem vorliegenden Gesetzentwurf Nieder-schlag gefunden haben, gerade für die beiden Erkran-kungen Diabetes und Adipositas weiterführen. In diesemSinne haben wir als Union einen Antrag mit der Forde-rung nach einer nationalen Diabetesstrategie auf denWeg gebracht, in der Hoffnung, dass wir diesen zeitnahin der Koalition umsetzen können.Dr. Franke, von daher bin ich Ihnen dankbar undfreue ich mich sehr darüber, dass Sie dies angesprochenhaben und auch unterstützen wollen. Auch HerrDr. Lauterbach hat in der Öffentlichkeit vielfach betont,dass er sich nachhaltig für die Bekämpfung von Diabeteseinsetzt. – Er nickt jetzt zustimmend. – Von daher noch-mals mein Appell an die Fraktion der SPD: Bringen Siesich ein! Begleiten Sie diesen Antrag positiv!
Meine Damen und Herren, wir müssen endlich wegvon den vielzähligen Einzelmaßnahmen und hin zu ziel-gerichteten und weitverbreiteten Aufklärungsmaßnah-men, die nachhaltige Wirkungen entfalten. In Anlehnungan die Antiraucherkampagne können die hier jährlichvorgesehenen 35 Millionen Euro für bundesweite Kam-pagnen durch die Bundeszentrale für gesundheitlicheAufklärung der Schlüssel zum Erfolg sein. Auch hiersetzt der Gesetzentwurf die richtigen Akzente.
Auf die Gesundheit zu achten und sich gesund zu ver-halten, erfordert Wissen, Befähigung und Eigenverant-wortung. Aufgabe von Prävention ist es, dies zu entwi-ckeln und zu stärken. Jeder Einzelne ist gefordert, durcheine gesundheitsbewusste Lebensweise Krankheitenvorzubeugen und die Erhaltung bzw. Wiederherstellungseiner Gesundheit zu fördern. Dafür muss dieser Ein-zelne angesprochen, gewonnen und unterstützt werden.Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Bedeu-tung von Prävention und Gesundheitsförderung deutlichzu machen, genauso, wie gezielte Unterstützung dort zuleisten, wo der Einzelne von sich aus zu gesundheitsbe-wusstem Verhalten nicht in der Lage ist.Diese Aufgabe muss ressortübergreifend angegangenund umgesetzt werden. Das Bundesgesundheitsministe-rium, das Bundesministerium für Ernährung und Land-wirtschaft, das Bundesministerium der Justiz und fürVerbraucherschutz und auch die Länder mit ihrer Verant-wortung für die Schulen und Kindertagesstätten sind hiergemeinsam gefragt. Deshalb von mir ein deutliches Jazur Prävention und zum Entwurf des Präventionsgeset-zes. Ich freue mich auf eine lebendige Diskussion.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/4282, 18/4322 und 18/4327 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Lisa Paus, Katja Dörner, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Cannabiskontrollgesetzes
Drucksache 18/4204
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin er-
teile ich der Abgeordneten Katja Dörner, Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Die Verbotspolitik beim Thema Canna-bis der letzten Jahre und Jahrzehnte ist gescheitert. Wirmüssen bei diesem Thema endlich neue Wege gehen,und wir Grüne wollen das tun.
Die Zahlen und Fakten sprechen eine ganz klare Spra-che: Rund 2,3 Millionen deutsche Erwachsene gebrau-chen Cannabis, rund 22 Prozent der 15- und 16-jährigenSchülerinnen und Schüler haben schon einmal Cannabiskonsumiert. Trotz des Verbots ist der Konsum in denletzten Jahren gestiegen. Cannabis ist eine Alltagsdroge.Das ist die Realität!
Deshalb gibt es aus unserer Sicht dringenden Hand-lungsbedarf. Wir brauchen eine neue, vernünftigeGrundlage für den Umgang mit Cannabis.
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9078 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Katja Dörner
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Wir legen Ihnen heute – das werden Sie sicherlichschon bemerkt haben – einen sehr fundierten und gutausgearbeiteten Gesetzentwurf vor, mit dem wir vorran-gig zwei Ziele verfolgen: Wir wollen die Kriminalisie-rung erwachsener Konsumentinnen und Konsumentenbeenden. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, mündigeErwachsene vor sich selbst zu schützen. Hierzu bestündegerade beim Cannabiskonsum auch gar kein Anlass. Er-wachsene sollen zukünftig 30 Gramm Cannabis oderdrei Hanfpflanzen für den Eigenbedarf besitzen können.Ich habe schon heute Morgen den Tickermeldungenentnommen, wie hier gegen unseren Gesetzentwurf ar-gumentiert wird. Ich will ganz klar in Richtung vonHerrn Spahn sagen: Die 30-Gramm-Grenze in unseremGesetzentwurf hat nichts mit dem kurzfristigen Eigenbe-darf zu tun. Wer einen dermaßen verquasten und an denHaaren herbeigezogenen Zusammenhang herstellt, derzeigt einfach, dass er keine rationalen Argumente gegenunseren Gesetzentwurf hat.
Die derzeitige Kriminalisierung von Konsumentinnenund Konsumenten muss beendet werden. Kiffen ist keinVerbrechen.Es ist aber auch klar, liebe Kolleginnen, liebe Kolle-gen: Wir wollen die schützen, die wirklich Schutz brau-chen: Das sind die Kinder und Jugendlichen. Es stimmtja: Wenn Jugendliche Cannabis konsumieren, insbeson-dere wenn sie das in größeren Mengen tun, dann kannder Konsum schädlich sein und sehr negative Folgen ha-ben. Das darf nicht verharmlost werden.
Deshalb wollen wir mit unserem Gesetzentwurf endlichdie Grundlage für einen funktionierenden Jugendschutzschaffen. Wir werden wirksamen Jugendschutz erst danngewährleisten können, wenn wir ein reguliertes und kon-trolliertes System der Cannabisabgabe haben.
Klar ist: Eine Abgabe an Kinder und Jugendlichemuss ausgeschlossen sein. In unserem Gesetzentwurf isteine Altersgrenze von 18 Jahren vorgesehen. Wer Can-nabis an unter 18-Jährige abgibt oder verkauft, machtsich selbstverständlich weiterhin strafbar.
Aber Fakt ist doch auch: Heute fragt der Dealer auf demSchwarzmarkt nicht nach dem Ausweis. In dem Canna-bisfachgeschäft, das in unserem Gesetzentwurf vorgese-hen ist, wird der Verkäufer das zukünftig tun. Das machtdoch den entscheidenden Unterschied, liebe Kollegin-nen, liebe Kollegen.
Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass Kinder und Ju-gendliche Cannabisfachgeschäfte nicht betreten dürfen.Die Geschäfte müssen einen bestimmten Abstand zuSchulen und zu Einrichtungen der Kinder- und Jugend-hilfe einhalten. Cannabis darf nicht in Automaten oderim Versandhandel angeboten werden. Auch ist in unse-rem Gesetzentwurf ein striktes Werbeverbot vorgesehen.All das sind deutlich strengere Regelungen, als wir sieheute für Alkohol vorsehen. Das zeigt, wie ernst es unsist, Kinder und Jugendliche mit unserem Gesetzentwurfzu schützen.
Mit unserem Gesetzentwurf verfolgen wir aber auchweitere Ziele. Wir ermöglichen beim Cannabiskonsumüberhaupt erst Verbraucherschutz; denn nur der kontrol-lierte Anbau und eine kontrollierte Abgabe stellen si-cher, dass die heute fast schon üblichen und gefährlichenBeimischungen von Giftstoffen ausgeschlossen werdenund auch der THC-Gehalt endlich dokumentiert undtransparent gemacht wird.
Mit unserem Gesetzentwurf bekämpfen wir die orga-nisierte Kriminalität, weil damit dem Schwarzmarkt undder Dealerei endlich die Grundlage entzogen würde. Dasist übrigens sehr wichtig, um den Zugang zu Cannabisfür Jugendliche deutlich zu erschweren.
Wir entlasten die Strafverfolgungsbehörden. Zurzeitwerden jährlich rund 100 000 konsumnahe Delikte ver-folgt. Die meisten Verfahren werden zwar eingestellt,aber es werden viel Zeit und viele Ressourcen in dieStrafverfolgung investiert. Das kostet die Steuerzahlerim Jahr rund 1,8 Milliarden Euro. Das ist doch Geld, daswir viel besser für die Suchtprävention einsetzen könn-ten.
Deshalb wundert es uns nicht – das freut uns auch –,dass wir für unseren Vorschlag sehr viel Zuspruch ausden Reihen der Polizei und der Strafverfolgungsbehör-den erfahren.Ich will noch kurz auf einen anderen wichtigen As-pekt eingehen. Wir wollen für den Straßenverkehr einenGrenzwert für den Konsum von THC-Produkten schaf-
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Katja Dörner
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fen. Wir sehen hier 5,0 Nanogramm pro Milliliter vor.Das ist der Wert, oberhalb dessen nach rechtsmedizini-scher Forschung eine Beeinträchtigung der Fahrleistungnicht ausgeschlossen werden kann. Einen derartigenGrenzwert gibt es in fast allen anderen europäischenLändern schon lange. Es ist völlig unsinnig, dass einemKonsumenten der Führerschein entzogen werden kann,obwohl er unter Cannabiseinfluss überhaupt nicht amStraßenverkehr teilgenommen hat. Auch diese Art vonKriminalisierung muss ein Ende haben.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Zeit ist reif füreine vernünftige Cannabispolitik. Die Erfahrungen mitder Entkriminalisierung in anderen Ländern sind positiv.Diese Erfahrungen zeigen auch, dass viele Befürchtun-gen, beispielsweise dass der Konsum von Cannabis dannansteigt, sich nicht bewahrheiten.Vor diesem Hintergrund erwarte ich von den Regie-rungsfraktionen, dass wir darüber endlich eine sachlicheDebatte führen können. Das Wiederkäuen längst wider-legter Vorwürfe beim Thema Cannabis muss aufhören.
Wir brauchen endlich eine vernünftige Regelung, diedie sinnlose und teure Kriminalisierung beendet und vorallem Kinder und Jugendliche endlich wirksam vor Can-nabiskonsum schützt. Ich bin sehr gespannt auf die Bera-tungen, und ich freue mich auf die nächsten Wochen, indenen wir das näher erläutern werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Marlene Mortler, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wirreden heute über einen Gesetzentwurf, der in erster Liniedas Strafrecht im Blick hat. Wir reden aber auch übereine Lobby, die ich als die brutalste Lobby in meiner bis-herigen politischen Arbeit erlebt habe.
Wir reden über eine Lobby, die mir den Tod wünscht.Höhepunkt war die Eröffnung eine Facebook-Seite mitdem Aufruf zur Hinrichtung von Marlene Mortler.Meine Tochter hat mich einmal gefragt: Mutter, wiehältst du das überhaupt aus? – Ganz einfach, habe ich ihrgeantwortet, wenn ich das nicht aushalte, dann bin ichfehl am Platz. Ich habe eine Motivation. Meine Motiva-tion ist meine Aufgabe als Drogenbeauftragte. Das heißt,ich habe die Gesundheit der Menschen in unserem Landim Blick, und dafür setze ich mich ein.
Ihr Gesetzentwurf hat die rechtlichen Auswirkungenfür die Gruppe der Freizeitkonsumenten im Blick. Damitdas klar ist: Konsum wird in unserem Land nicht be-straft; das ist eine sogenannte straffreie Selbstschädi-gung. Aber bei der rechtlichen Einstufung müssen wirdie gesundheitlichen Risiken und Langzeitfolgen desKonsums aller Gruppen beobachten. Das muss der Maß-stab sein. Das heißt, wir müssen abhängige Konsumen-ten und Jugendliche und die für sie bestehenden Risikenbesonders im Blick haben.Viele erinnern sich vielleicht noch an die Feldzügevon Bündnis 90/Die Grünen gegen das Rauchen und fürRauchverbote in Gaststätten. Damals konnten die Ge-setze nicht streng genug sein. Und heute?
Sicherlich erinnern sich noch alle an ihren Beitrag zurErnährungswende. Der Veggie-Day und Verbote solltenes richten.
Erst Harmloses verbieten und jetzt Gesundheitsschädi-gendes erlauben: Das ist eine absolute Kehrtwende.
Ihre Drogenwende kann ich daher nicht akzeptieren.Denn die Legalisierung – und Ihr Gesetzentwurf bedeu-tet faktisch eine Legalisierung – steht in direktem Wider-spruch zu den Zielen des Verbraucherschutzes sowie zuIhren bisherigen eigenen Zielen, und sie beeinträchtigtdie Glaubwürdigkeit unserer Präventionspolitik. Wir ha-ben vorhin die Debatte darüber aufmerksam verfolgt.
Wenn wir in unserem Land mit legalen Suchtmittelnwie Alkohol und Tabak schon genug Probleme haben,dann müssen wir keine zusätzliche Einladung für die il-legale Droge Cannabis aussprechen.
Das bricht Tabus und verharmlost.Sicherlich, junge Menschen wollen Grenzen ausloten.Junge Menschen brauchen aber auch Grenzen. Wir wis-
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sen: Je jünger ein Cannabiskonsument ist, desto größersind die Risiken für ihn:
belastete Atemwege, Entwicklungsverzögerungen so-wie psychische und körperliche Abhängigkeit. Das Aus-lösen bzw. das Verschlimmern von psychischen Erkran-kungen gehört zu den Risiken. Die Denk- undMerkfähigkeit leiden. Dauerhafte Schäden des Gehirnssind nicht auszuschließen, auch nicht nach einer Absti-nenz.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage eines
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen?
Das können wir gerne zum Schluss machen.
Ich habe auf die Schädigung bei jungen Menschen
hingewiesen. Diese dürfen wir nicht verharmlosen. Erst
gestern habe ich dazu ein fünfstündiges Expertenge-
spräch im Gesundheitsministerium geführt. Ehrlich ge-
sagt, die Daten und Problemfälle aus den Behandlungs-
einrichtungen, die mir gestern einmal mehr geschildert
wurden, sind wohl nur die Spitze des Eisbergs. Wir brau-
chen weitere Daten über die sozialen Folgen eines frü-
hen Cannabiskonsums, zum Beispiel über Schul- und
Ausbildungsabbrüche, über Jugendliche, die Jahre auf
ihrem Lebensweg verlieren und in ihrer Entwicklung
schwer und dauerhaft beeinträchtigt sind.
Es gibt also drängende Gesundheitsfragen, die durch
Ihren Gesetzentwurf trotz detaillierter Regelungen nicht
beantwortet werden.
Unsere Drogenpolitik in Deutschland fußt auf vier
Säulen: erstens Prävention, zweitens Beratung und Hilfe,
drittens Schadensminimierung bzw. -reduzierung und
viertens Strafverfolgung. Wir dürfen unser eigenes
Suchthilfesystem und unsere Drogenpolitik im eigenen
Land nicht schlechtreden. Aber wir müssen selbstver-
ständlich immer wieder nachbessern. Auch ich hinter-
frage immer wieder mein eigenes Handeln und Denken:
Gehe ich noch in die richtige Richtung? Ich befinde
mich laufend im Gespräch mit Suchthilfeeinrichtungen
und der Polizei und frage, ob eine Lockerung in Rich-
tung Legalisierung geboten erscheint. Ich habe noch
keine Stimme gefunden, die Ja gesagt hat.
Frau Kollegin, der Abgeordnete Ströbele wünscht,
eine Zwischenfrage zu stellen. Mögen Sie sie zulassen?
International genießt unsere ausgewogene Drogenpo-litik eine hohe Anerkennung. Zuletzt konnte ich das beider Tagung der CND, der Commission on Narcotic Drugs,der internationalen Suchtstoffkommission, in Wien erle-ben.
Dort habe ich mit Drogenexperten und Gesundheits-ministern aus der ganzen Welt gesprochen. Auf dieserKonferenz haben sich Europa und selbst die USA für dieunveränderte Aufrechterhaltung der sogenannten UN-Drogenkonventionen ausgesprochen.
Deutschland und 183 andere Nationen haben diese Kon-ventionen 1961, 1971 und 1988 unterschrieben. Sie wol-len nun, dass wir aus diesen Einheitsabkommen austre-ten. In der Opposition kann man sicherlich alles fordern.Aber unsere Regierung trägt Verantwortung. Wir werdenunseren internationalen Ruf, unsere Verlässlichkeit undunsere Glaubwürdigkeit mit Sicherheit nicht aufs Spielsetzen, nach dem Motto „kurz raus, dann wieder rein“.Das ist unseriös.
In der Konvention von 1961 steht ganz klar: Cannabisfür den Freizeitkonsum ist illegal. – Für medizinischeund wissenschaftliche Zwecke gibt es Spielraum. DiesenSpielraum nutzen wir. Wir werden demnächst den Ent-wurf eines Gesetzes vorlegen, das mehr und schwerchronisch erkrankten Patienten den Zugang zu Cannabis-arzneimitteln erleichtern soll.Zur Erinnerung: Es war die unionsgeführte Bundesre-gierung, die zum ersten Mal überhaupt in diesem Landein Cannabisfertigarzneimittel zugelassen hat.
Es wird wieder die unionsgeführte Bundesregierungsein, die in unserem Land die Verkehrs- und Erstattungs-fähigkeit von Cannabis als Medizin aus der Apotheke er-weitern wird. Dafür danke ich auch unserem Koalitions-partner. Wir sind hier auf einer Linie; wir sind uns hierkomplett einig.
Wir sind uns aber auch darin einig, dass wir Ihren Ge-setzentwurf ablehnen. Er ist ein Experiment mit un-gewissem Ausgang und nicht einschätzbarem Risiko:Hanfanbau für jeden, 30 Gramm pro Einkauf; im Ge-setzentwurf steht nichts von einer Limitierung auf einenTag, einen Monat oder ein Jahr. Mein Kollege JensSpahn hat ausgerechnet: Diese 30 Gramm reichen für biszu 120 Joints. Er hat treffend geschlussfolgert: Derje-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9081
Marlene Mortler
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nige, für den das der „kurzfristige Eigenbedarf“ ist, istabhängig und braucht eher einen Arzt.
– Ich zitiere den zuständigen Experten in Uruguay, lieberKollege, der vor Ort der Oberexperte ist. Er sagt: Bereitsder regelmäßige Konsum von 1 Gramm Marihuana amTag bedeutet, dass man zur Risikogruppe gehört und da-mit ein gesundheitliches Problem hat.
Unsere Gesundheit zählt. Es darf hier nicht um dasgroße Geschäft gehen. Mit diesem Gesetzentwurf forcie-ren Sie ein Geschäft, eine Industrie, die Sie gestern nochmassiv bekämpft haben.
Deshalb fordere ich Sie auf – ich werde gleich einen per-sönlichen Beitrag dazu leisten –: Kümmern Sie sich bes-ser um natürliche geistige Energie, die Sie frisch hält.
Ich danke dem Präsidenten für die Geduld.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Kollegin Mortler,der Grund, warum die Patienten in Deutschland heutenoch damit rechnen müssen, dass Cannabis als Medizinso schlecht verfügbar ist, ist das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion. Die Schuld liegt bei ihr, weil sie die Le-galisierung von Cannabis seit Jahren und Jahrzehntenbehindert hat, und zwar mit genau den gleichen Argu-menten, die Kollege Spahn jetzt auch wieder bemüht,um unseren Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes inMisskredit zu bringen.
Es verwundert mich gar nicht, wenn Sie immer nurdiejenigen hören, die davor warnen, so ein Gesetz zumachen. Es hängt immer davon ab, welche Gesprächs-partner man sich sucht. Man kann sich in unserer Gesell-schaft auch Gesprächspartner suchen, die Ihnen genausagen werden, dass die Politik, die Sie bisher verfolgthaben, in Deutschland gescheitert ist.Wenn Sie jetzt sagen: „Unsere Drogenpolitik basiertauf vier Säulen: Prävention, Schadensminderung, Be-handlung, Repression“ – Sie kommen erst am Ende zurRepression –, dann muss ich Ihnen entgegnen: Es istdoch genau umgekehrt. Es werden 70 bis 80 Prozent derMittel für Repression ausgegeben, und die restlichenMittel werden für Prävention, Schadensminderung undBehandlung ausgegeben.
Wenn Sie an die Basis gehen, in Behandlungseinrich-tungen, dann wird man Ihnen genau das sagen: dass dieAusstattung der Behandlungseinrichtungen und der Be-ratungseinrichtungen mit Mitteln bei uns viel zu kurzkommt. Deswegen ist dieser Ansatz in Deutschland na-türlich gescheitert.Sie haben nicht ein Wort darüber verloren, dass unserGesetz – ich möchte Sie auffordern, dazu noch einmalStellung zu nehmen – einen starken Akzent auf Jugend-schutz setzt. Sie haben richtigerweise argumentiert, dassCannabis in der Entwicklung von Jugendlichen einenSchaden anrichten kann.
Das haben wir bisher auch nie infrage gestellt. Vor allenDingen wird es in unserem Gesetzentwurf überhauptnicht infrage gestellt.Ganz im Gegenteil: Wir stärken den Jugendschutz,weil wir etwas dagegen tun, dass die potenziellen Kon-sumenten auf dem Schwarzmarkt einkaufen, wo allesMögliche verkauft wird.Im Übrigen haben Sie auch nicht ein Wort darüberverloren, welche negativen Folgen sozusagen die Auf-rechterhaltung des Schwarzmarkts in Deutschland fürdas gesamte Geschehen hat, was die Konsummittel be-trifft.Ich möchte Sie zu noch etwas auffordern.
Es ist ja nett, dass Sie uns da offensichtlich eine Pflanzehingestellt haben.
– Nüsse.
Es gibt auch andere Bilder von Ihnen.Sie haben auch die folgende Frage nicht beantwortet:
Was tun Sie eigentlich dafür, dass die negativen Folgendes Alkoholismus in Deutschland angegangen werden?
Diese Vorwürfe gegenüber einem seriösen Gesetzent-wurf kann ich so nicht stehen lassen.
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9082 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
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Frau Mortler, mögen Sie darauf antworten?
Ja.
Bitte.
Herr Präsident! Herr Kollege Terpe, man merkt, dass
Ihnen das Herz voll ist; mir auch.
Die symbolischen Nüsse, die ich hier überreicht habe,
sind wirklich für die geistige Gesundheit, um das noch
einmal klarzustellen.
Statt Hanf.
– Ich habe Zeit.
– Ich habe Zeit, Herr Präsident.
Ich würde gern einen Kommentar aus der SZ vom
5. März zitieren, der das ziemlich auf den Punkt bringt:
Der Gesetzentwurf der Grünen versucht sich nun in
einer Art Entspannungspolitik: Erwachsene sollen
Cannabis in geringen
Mengen und unter strengen Auflagen besitzen und
konsumieren dürfen, der Schwarzmarkt soll ver-
schwinden, die Staatskasse gefüllt, die Jugend ge-
schützt werden.
Wenn das so funktionierte und nebenbei der Krieg
zwischen den Anhängern der „Verbietet alles!“-Re-
ligion und den „Erlaubt alles!“-Gläubigen endete,
dann wäre das schön.
Wenn darüber in Vergessenheit geriete, dass Hasch
gefährlich ist und bleibt, wäre das schlecht. Ein
Cannabiskontrollgesetz kann regeln, was nicht ab-
zuschaffen ist. Dass mit ihm die große Bürgerfrei-
heit verwirklicht werden soll, ist Mumpitz.
Die Überschrift lautet „Im Rausch der Illusion“. –
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Frank Tempel, Fraktion Die Linke.
Ich habe übrigens keine Angst vor Zwischenfragen. –Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen undHerren! Besitz und Erwerb von Cannabisprodukten sindin Deutschland strafbar. Auch der Anbau ist strafbar. Dasist die konkrete aktuelle Rechtslage in Deutschland.
Von straffreiem Konsum zu reden, ist reichlich inkompe-tent.
Als Kriminalbeamter in Thüringen habe ich imdienstlichen Auftrag Strafanzeigen schreiben müssen,weil Tüten mit Restanhaftungen von Cannabis den An-fangsverdacht begründeten, dass der Betroffene im Be-sitz von Cannabis war. Bereits das führte zur Strafan-zeige. Wer diese Kriminalisierung von Menschen mitdem Argument abtut, dass diese Verfahren wieder einge-stellt werden, den muss ich fragen: Wie rechtfertigt man,dass Hunderte von Polizeibeamten diese Anzeigen ersteinmal schreiben müssen, dass Hunderte von Polizeibe-amten unterwegs sind, um Kontrollen durchzuführenund Wohnungen zu durchsuchen, wenn die Verfahrenvon der Staatsanwaltschaft dann in der Regel wieder ein-gestellt werden? Welchen Sinn macht das?
Sie haben von vier Säulen der Drogenpolitik gespro-chen. 86 Prozent der Mittel entfallen allein auf die Säuleder Repression. Wer das damit begründet, dass derSchutz von Kindern und Jugendlichen beabsichtigt ist,dem muss ich sagen: Der Schwarzmarkt ist so ziemlichder schlechteste Jugendschutz.
Die Strafbarkeit gilt aber auch für 40-, 50- und 60-Jährige. Sie gilt im Übrigen auch völlig unabhängig da-von, ob der Cannabiskonsument tatsächlich einen ge-sundheitsgefährdenden Umgang damit pflegt oder ob erein Gelegenheitskonsument ist, der die festgestellteMenge lediglich dazu hat, um eine Weile damit auszu-kommen. Auch er wird kriminalisiert. Hier wird ein Ver-halten bestraft, das bei unsachgemäßem Umgang mögli-cherweise zu einer Selbstschädigung führt. Das isteinmalig im deutschen Strafrecht.Ja, der missbräuchliche Konsum – das wird nicht ig-noriert; auch nicht im Antrag der Grünen – ist riskant, istgefährlich, und das besonders, wenn im sehr frühen Al-
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Frank Tempel
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ter damit begonnen wird. Deswegen muss man natürlichklare Jugendschutzregeln schaffen. Während wir aberhier darüber diskutieren, wie wir das machen können,schaffen wir es beim Alkohol noch nicht einmal, überkonkrete Werbeverbote zu reden.
Sie, liebe Kollegen von der Union, lehnen die Legali-sierung von Cannabis ab, damit nicht, wie man ja hört,neben Tabak und Alkohol eine weitere gefährlicheDroge auf den Markt kommt. Ich weiß nicht, in welcherWelt Sie leben. Wir haben circa 2,5 bis 4 Millionen Can-nabiskonsumenten in Deutschland. Diese Droge ist da,und der Versuch der Durchsetzung des Verbots kosteteben sehr viel Geld, das an anderen Stellen für Präven-tion fehlt.
Stattdessen haben wir einen Schwarzmarkt, Streckmittelund keinen Einfluss auf den Wirkstoffgehalt, keinen Ju-gendschutz. Deswegen muss es einfach legitim sein, Al-ternativen zu diskutieren.Die Linken haben in der letzten Legislatur den Vor-schlag gemacht, eine nichtkommerzielle Lösung, ange-lehnt an die Cannabis Social Clubs in Spanien, anzubie-ten. Das heißt, sowohl legal als auch illegal kannniemand mit diesem Produkt Geld verdienen. Das wärepräventiv durchaus eine interessante Lösung. Die Grü-nen haben jetzt einen anderen Vorschlag eingebracht, derauch kommerzielle Lösungen beinhaltet, aber ebenfallsLösungsansätze in den Bereichen Jugendschutz, Ver-braucherschutz und Prävention bietet. Das ist vielfachganz klar eine bessere Lösung als Schwarzmarkt, Streck-mittel und Stigmatisierung von 4 Millionen Menschen indiesem Land.
Wir haben natürlich überlegt, ob auch wir schnellnoch einen Antrag vorlegen. Nein, das machen wir ganzbewusst nicht. Wir reden heute über den Antrag der Grü-nen. Den werden Sie eventuell wieder ablehnen. Daswurde ja in Ihrer nicht sehr sachlichen Rede eben deut-lich. Für diesen Fall verspreche ich Ihnen, dass wir hierwiederum einen Antrag vorlegen werden. Dieses Themawerden Sie aus dem Bundestag nicht mehr herausbe-kommen. Das ist übrigens ein Versprechen.
In dieser Debatte zur Legalisierung müssen Sie ein-fach einmal Ihre zwei, drei Experten, die Ihnen noch ge-blieben sind, beiseitelassen und auf die wirklichenExperten hören. Ich rede da von der Deutschen Haupt-stelle für Suchtfragen, einem relativ breiten Sammelbe-cken. Alle drei Polizeigewerkschaften haben sich mitt-lerweile zu dem Thema geäußert. Die Hälfte allerStrafrechtsprofessoren hat sich zu diesem Thema geäu-ßert. Sie stellen sich hier allen Ernstes hin und behaup-ten, Sie finden keine Experten, die etwas anderes sagen.Das ist reichlich ignorant.
Liebe Kollegen von der Union und auch von der SPD,Sie haben noch eine zweite Chance: Es befindet sichnach wie vor im Beratungsprozess des Bundestages einAntrag zur Evaluierung des Drogenstrafrechts. Sie ha-ben da eine Chance. Stellen Sie die richtigen Fragen. Sieglauben, Nachfrage und Angebot durch ein Verbot zu re-duzieren. Dann überprüfen Sie es. Es gibt viele Länder,die andere Wege gehen. Sie zweifeln die Zahlen an.Überprüfen Sie es. Wir sagen, dass die fehlende Kon-trolle Produkte auf dem Schwarzmarkt noch gefährlicherwerden lässt durch fehlende Wirkstoffgehaltangaben,durch Streckmittel; Sie ignorieren das. Dann überprüfenSie es! Stellen Sie die richtigen Fragen. Dieser Antrag istnoch in der Pipeline und soll hier beraten werden. AlleZahlen, Tendenzen und Fakten können auf den Prüf-stand; aber die Diskussion zu verweigern, ist einfach un-akzeptabel.
Ich möchte aber trotzdem ganz zum Schluss – die Zeitist abgelaufen – anerkennen, dass es zumindest die An-sage gibt, im Bereich der medizinischen Verwendung et-was zu machen. Ich hoffe sehr, dass es nicht nur darumgeht, den wenigen Erlaubnisinhabern jetzt Kosten zu er-statten, sondern dass es hier auch darum geht, zum Bei-spiel den Zugang zur Anwendung von Medizinalhanf zuerleichtern. Jeder Zehnte, der einen Antrag auf Erlaubniszur Verwendung von Medizinalhanf stellt, stirbt, bevorsein Antrag überhaupt entschieden ist. Jeder Zehntestirbt, bevor der Antrag – Frau Mortler, ich rede auch mitIhnen – überhaupt bearbeitet ist. Das ist unterlasseneHilfeleistung durch die Bundesregierung.Danke schön.
Für die SPD hat jetzt der Kollege Burkhard Blienert
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Ta-gesordnung will es so, dass wir direkt im Anschluss andie Debatte um ein Präventionsgesetz, in dem es umVorsorge und Krankheitsvermeidung geht, über eineDroge diskutieren. Das passt gut zusammen. Bezogenauf den Bereich Drogen und Sucht stellt die WHO jafest, dass 40 Prozent aller Erkrankungen und frühzeitigerTodesfälle auf insgesamt drei Faktoren zurückzuführen
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Burkhard Blienert
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sind: Rauchen, Alkohol und unter Alkoholeinfluss ver-ursachte Verkehrsunfälle. Das macht nur allzu deutlich,wie wichtig ein lebensweltbezogener Ansatz einer er-folgreichen Prävention ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf behandelt die Frei-gabe der illegalen Droge Cannabis. Da ergibt sich ersteinmal ein Widerspruch. Aber es hat sich gezeigt, dasswir auf vielen Ebenen letztendlich über ein wesentlichesZiel unserer Politik diskutieren müssen. Ich zitiere: Ge-rade Cannabisverlangt … nach umfassender, kontinuierlicher ge-sundheitspolitischer Beachtung. Es gilt, seinenKonsum nachhaltig zu begrenzen und seine gesund-heitlichen und sozialen Folgen effektiv zu mindern.Das war ein Zitat aus dem Vorstandsbeschluss der Deut-schen Hauptstelle für Suchtfragen aus dem Jahr 2004.Ich finde, dieses Ziel ist für Cannabis nach wie vor rich-tig und wichtig. Es ist auch nach weiteren elf Jahrenbundesdeutscher Drogen- und Suchtpolitik noch nichterreicht. Wir sind vielleicht sogar noch weiter davon ent-fernt als 2004.Es muss um die Frage gehen, einen möglichst umfas-senden Gesundheitsschutz sicherzustellen und gleichzei-tig die sozialen und wirtschaftlichen Folgen im Auge zubehalten. Deshalb kann es eben nicht einfach um dieFragestellung „Legal oder illegal?“ gehen. Rund einViertel der Altersgruppe zwischen 18 und 64 Jahren ha-ben Cannabis schon einmal konsumiert. Laut Suchtsur-vey 2012 konsumierten knapp 3 Millionen PersonenCannabis in den letzten zwölf Monaten vor der Befra-gung.
Die Prävalenz hat eben trotz Illegalität der Droge nichtabgenommen.
Mit Ihrem Gesetzentwurf versuchen Sie nun einen ge-wagten Spagat: den Konsum der illegalen Droge Canna-bis in den Griff zu bekommen, sie als Genussmittel fürErwachsene hoffähig zu machen und gleichzeitig Ju-gendliche vor dem Konsum zu schützen. Wörtlich heißtes hierzu in der Begründung:Notwendig ist ein gesundheitspolitischer Ansatz,der Prävention und Intervention bei Jugendlichenund einen möglichst risikoarmen Konsum bei Er-wachsenen fördert.Ursache dieses Gesetzes ist natürlich die unbestritteneEinschätzung, dass die Prohibitionspolitik nicht dazu ge-führt hat, dass Cannabiskonsum verhindert wurde, son-dern, wie im Gesetzestext dargelegt ist, noch anstieg.Für mich ist es daher politisch durchaus gerechtfertigt,sich die Frage zu stellen, ob nicht andere Wege im Um-gang mit Cannabis sinnvoller wären,
ob nicht über neue Wege der Staat in die wichtige kont-rollierende und präventive Rolle gelangen würde. Ichwarne aber eindringlich davor, die Gefahren von Canna-bis zu bagatellisieren und zu meinen, dass nur Jugendli-che vor dem Konsum zu schützen seien.
Grundsätzlich sollte die Einschätzung gelten: Cannabisist eine Droge. Sie birgt Suchtpotenzial, und sie ist ge-sundheitsschädlich.Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch im Sommerdes letzten Jahres wollten Sie in einem gemeinsamenAntrag mit den Linken die Wirkungen des Betäubungs-mittelrechts evaluieren lassen. Diesen Ansatz lassen Siejetzt erst einmal fallen.
Sie wischen das Ziel der Erkenntnisgewinnung weg undstellen einen Gesetzentwurf vor, der medienwirksam vonIhrem Parteivorsitzenden angekündigt wurde. Das ist fürmich aber keine vertrauensbildende und vorsorgendeGesundheitspolitik.
Die Idee eines regulierten Marktes für die Cannabisab-gabe will ich gar nicht per se verdammen. Es lohnt sichmit Sicherheit, gerade weil die Verbotspolitik nicht dieerhoffte Wirkung hatte, den Blick zu weiten, in Länderjenseits von Deutschland zu schauen, auch in andere eu-ropäische Länder wie Portugal, Niederlande und dieSchweiz.
Aber die Inhalte und Regelungen müssen zweckdienlichsein; sie dürfen nicht ideologisch sein. Zweckdienlichheißt für mich: Nicht der Genuss eines Suchtmittels hatVorrang, sondern die Prävention und ein sicherer Kon-sum.Unabhängig vom vorliegenden Gesetzentwurf mussdaher sichergestellt sein: Sollte sich eine regulierte Frei-gabe von Cannabis als sinnhaft herausstellen, so darfdies kein Einfallstor im Umgang mit anderen Drogenwerden. Wir dürfen nicht in eine Öffnungsschiene gera-ten, die wir nicht beherrschen können. Deshalb gilt: Auf-gabe unserer Gesundheitspolitik muss weiterhin die Ab-wehr und die Vorbeugung von Suchterkrankung bleiben;es darf nicht um die grundsätzliche Freigabe von Sucht-stoffen unter dem Deckmantel des „Rechts auf Selbst-schädigung“ gehen.
Herr Kollege Blienert, gestatten Sie eine Zwischen-frage des Kollegen Birkwald?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9085
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Ja. Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident! Vielen Dank, Herr Kol-
lege Blienert, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Zu-
nächst: Ich bin in dem Thema dieser Debatte emotional
engagiert, weil ich vor 40 Jahren meinen ersten Artikel
dazu veröffentlicht habe, damals in der Schülerzeitung
mit dem schönen Namen Pegel; er trug den Titel: „Lega-
lize it“. Die Legalisierung von Haschisch und Marihuana
ist also ein Thema, das mir persönlich schon lange am
Herzen liegt; denn es gibt keinen Grund, diese anders zu
behandeln als Alkohol.
Aber nun zu meiner konkreten Frage. Ich habe in Ih-
rer Rede nicht so richtig erkennen können, dass Sie da-
gegen sind, Haschisch und Marihuana zu legalisieren.
Ich habe zumindest keine Argumente gehört. Sie haben
sehr sachlich abgewogen. So frage ich Sie: Sind Sie ge-
gen den Gesetzentwurf der Grünen, oder sind Sie dafür?
Ich möchte Sie bitten, auch etwas zu der Bewertung
zu sagen, die Ihr SPD-Kollege Thomas Isenberg, Mit-
glied des Abgeordnetenhauses von Berlin, vorgenom-
men hat, und dazu, wie Sie zu der Differenz in den Auf-
fassungen stehen. Er hat nämlich erst kürzlich erklärt:
„Das Verbot von Cannabis ist gescheitert“, und er hat ge-
fordert, Modellprojekte für eine legale Abgabe von Can-
nabis einzuführen. Meine Frage ist: Wie stehen Sie
dazu? Wann kommt die SPD zu einer einheitlichen Posi-
tion in Sachen Cannabislegalisierung?
Letzte Bemerkung: Wir haben heute nicht nur den
Equal Pay Day und die Sonnenfinsternis. Nein, wir ha-
ben auch Frühlingsanfang. Vor allen Dingen haben wir
heute aber den internationalen Tag des Glücks.
Machen Sie uns doch alle glücklich, und sagen Sie an
dieser Stelle, dass die SPD auch einmal einem vernünfti-
gen Gesetzentwurf der Opposition zustimmen kann.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich freue mich zunächstsehr über Ihr Zutrauen, dass die SPD das Glück tatsäch-lich bringen kann.
Ich finde, das haben wir heute schon gerechtfertigt.Zum ersten Punkt Ihrer Frage. Wir reden heute übereinen gerade eingebrachten Gesetzentwurf. Wir werdenihn dann ja auch im Ausschuss beraten. Ich glaube, zurgesamten Bandbreite beim Umgang mit dem ThemaCannabis – Cannabis als Medizin, Cannabis als Genuss-mittel, Cannabis als Risikofaktor, insbesondere für Ju-gendliche, einer möglichen Drogenkarriere – gehört tat-sächlich auch, Abwägungen zu treffen und ideologiefreidarüber zu reden. Ich glaube, die Zeit für diesen Prozesssollten wir uns auch nehmen,
sonst geraten wir viel zu schnell in Widersprüche.Zum zweiten Punkt. Dass der Kollege Isenberg ausBerlin notwendigerweise und richtigerweise darauf hin-gewiesen hat, was für Berlin richtig und wichtig seinkann, will ich gar nicht bewerten. Ich glaube, er hatwichtige Sätze für Berlin gesprochen. Er hat auch deut-lich gemacht, wie intensiv sich die SPD in den Ländern,in den großen Städten und Kommunen des Themas an-nimmt.
Wir sind dabei, diese Meinungen zusammenzubringenund ergebnisbezogen zu diskutieren.Ich denke, da wir in den letzten Jahren wenige Fort-schritte verzeichnen konnten, müssen wir uns jetzt we-nigstens die Zeit nehmen, die wir notwendigerweisebrauchen, um die richtigen Antworten zu finden. Dierichtigen Antworten können nur gefunden werden, wennwir uns danach richten, dass es nicht von oben, vomBund aus, verordnet werden kann,
sondern in den Ländern und Kommunen gleichzeitigeine Debatte geführt werden muss, und so dafür sorgen,dass wir eine gesellschaftliche Akzeptanz bekommen,um über Drogen im Allgemeinen und natürlich Cannabisim Besonderen zu diskutieren.
Ich komme zum Schluss. Vor diesem konkreterenHintergrund bin ich bereit zu einer Debatte, auch übereinen regulierten Markt für die Abgabe von Cannabis.Der regulierte Markt darf aber nicht einem suchtmäßigenKonsum dienen. Eine Regulierung soll den Schwarz-markt austrocknen und Kriminelle von den Konsumen-ten fernhalten, Konsumenten entkriminalisieren,
und gleichzeitig starke präventive Maßnahmen vorse-hen.
Hierzu reicht es nicht aus, lediglich den Jugendschutz zugewährleisten. Der Konsum kann auch für Erwachseneallenfalls in klaren Grenzen stattfinden. Freimengengrö-ßen, Anbauregelungen, Vertriebsstrukturen und steuer-rechtliche Maßnahmen müssen hierzu genauestens über-legt und diskutiert werden.
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9086 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Burkhard Blienert
(C)
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Mein Ziel wird es nicht sein, einen Rausch für alle zugewährleisten. Mein Ziel wird es sein, gesundheitlichePrävention zu stärken und Lebensstile unter nachdrückli-chem Verweis auf Risiken und Nebenwirkungen be-stimmter Konsumverhalten nicht zu kriminalisieren, da-mit der Staat wieder die Kontrolle über diesen Bereicherhält, die er benötigt.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Rudolf
Henke.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will erst einmal sagen:
Ich glaube, dass ein solcher Antrag in den Deutschen
Bundestag gehört, wenn – wie der Deutsche Hanfver-
band über Emnid hat ermitteln lassen – 19 Prozent Zu-
stimmung dafür vorhanden ist – die anderen stimmen
nicht zu –, einen kontrollierten Zugang zu einem nicht-
medizinischen Cannabisnutzen zu ermöglichen. Der Ort
der Debatte ist also in Ordnung.
– Ja, wo soll man es sonst machen, wenn nicht im Parla-
ment? Ich finde das schon völlig normal.
Ich erinnere mich auch, dass man bei solchen Debat-
ten und Auseinandersetzungen sehr individuelle Mei-
nungen haben kann. Ich habe mich als Mitglied der
CDU-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag, als
es um die Frage ging, ob man die bayerische Lösung ei-
nes Tabakverbots in Gaststätten in Nordrhein Westfalen
einführt, gegen die Haltung der damaligen CDU-geführ-
ten Regierung dafür ausgesprochen. Ich wollte die baye-
rische Lösung in Nordrhein-Westfalen haben, was den
Tabakkonsum anging.
Damals waren die Grünen der Meinung, dass es so, wie
es in Bayern im Rahmen einer Volksabstimmung be-
schlossen und dann gemacht wurde, richtig sei. Ich habe
es, wenn man so will, als eine Art kleinen Nichtverbrei-
tungspakt für Suchtmittel verstanden, den der kleine Ab-
geordnete Rudolf Henke mit einer späteren grünen Ge-
sundheitsministerin geschlossen hat.
Ich staune jetzt ein bisschen, wie man – auch in Be-
zug auf den heutigen Internationalen Tag des Glücks –
zu dem Schluss kommen kann, dass das, was wir in Be-
zug auf Suchtstoffe, auf süchtig machende Substanzen,
auf Abhängigkeit erzeugende Substanzen, brauchen,
nicht ein Nichtverbreitungspakt, sondern ein Verbrei-
tungspakt sei. Was wir brauchen, ist doch ein Nichtver-
breitungspakt für süchtig und abhängig machende Subs-
tanzen, und der muss auf gesellschaftlicher Ebene
geschaffen werden.
Deswegen müssen verantwortliche Politiker mit der illu-
sionären Verbreitung der Hypothese aufhören, dass Can-
nabis glücklich macht.
Denn das ist doch die Frage, die dahintersteckt. Die SPD
soll ja nicht Sie glücklich machen, sondern die SPD soll
Sie dadurch glücklich machen,
dass der Zugang zu Cannabis ermöglicht wird. Genau
das ist die falsche Botschaft an Kinder und Jugendliche
und an Menschen, die vor der Frage stehen: Wie gehen
wir mit einer solchen Substanz um?
Ich würde von verantwortlichen Politikern erwarten,
dass sie sagen: Der Substanzorientierung, die in dieser
Gesellschaft in der Tat fälschlicherweise verbreitet ist
– wir assoziieren mit materiellen Dingen Glück –, müs-
sen wir mannhaft und frauhaft entgegenstehen. Dazu
müssen wir sagen: Weder das Nikotin noch der Alkohol
noch das Cannabis noch andere illegale Drogen machen
glücklich. Wenn dieses Signal von der Debatte ausgehen
würde, dann wäre das eine Botschaft an die Kinder und
Jugendlichen in unserem Land.
Insofern geht es hier eigentlich um die Frage: Wie be-
kommen wir Generalprävention möglichst gut hin?
Herr Kollege Henke, gestatten Sie zwei Zwischenfra-
gen? Der Kollege Dr. Terpe und der Kollege Ströbele
möchten diese stellen.
Bitte.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9087
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Henke,
lieber Rudolf, ich weiß nicht, ob die Rede nach dem
Satz, der jetzt kam, eine ganz andere Richtung nimmt.
Ich möchte aber fragen, wo du unserem Gesetzentwurf
entnommen hast, dass wir die glückseligmachende Be-
deutung von Cannabis in den Vordergrund stellen. Ich
weiß nicht, woher du das nimmst.
Nein.
Genau das Gegenteil ist der Fall.
Ich hoffe, dass die folgenden Ausführungen zeigen
werden, dass der repressive Ansatz an den Problemen,
die wir natürlich in der Gesellschaft mit Cannabis haben,
überhaupt nichts geändert hat, sondern sie – im Gegen-
teil – sogar befördert hat.
Diese Einschätzung teile ich nicht. Meine Überzeu-
gung ist, dass der repressive Ansatz, den wir verfolgen
– auch das, was Sie, Herr Tempel, und Ihre Kollegen als
Polizeibeamte in Thüringen gewissermaßen als frucht-
lose Arbeit empfunden haben –, nicht fruchtlos ist, son-
dern zur generalpräventiven Wirkung beiträgt, die dazu
führt, dass laut der erwähnten Befragung eben nur
19 Prozent dafür sind, einen kontrollierten Zugang zu ei-
nem nichtmedizinischen Cannabiskonsum zu ermögli-
chen.
Ich glaube, wir müssen daran arbeiten, einen gesell-
schaftlichen Konsens aufrechtzuerhalten, dass auch Can-
nabis zu den Stoffen gehört, die man nicht nutzt, ge-
nauso wie ich einen solchen Konsens für das Nikotin
will, und ich will ihn auch gegen übermäßigen Alkohol-
konsum. Ich bin gern bereit, darüber zu diskutieren, auch
mit jedem aus jeder grünen Fraktion in Deutschland:
Was können wir zusätzlich tun, um den missbräuchli-
chen Alkoholkonsum einzuschränken? Und was können
wir tun, um den Tabakkonsum noch mehr zurückzudrän-
gen? Aber das kann ich doch nicht mit Menschen tun,
die gleichzeitig propagieren, dass man jetzt mit einem
Kontrollgesetz den Leuten den Eindruck verschafft, als
gäbe es einen quasi risikofreien Konsum von Cannabis.
Das ist das Problem.
Was die Frage mit der Glückseligkeit betrifft, also ob
die bei euch im Antrag steht: Es stimmt, Harald, sie steht
da nicht. Sie stand aber bei der Frage im Raum, die der
Kollege von der Linken gestellt hat.
Nun hat der Kollege Ströbele die Möglichkeit, seine
Zwischenfrage zu stellen.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulas-
sen. – Sind Sie mit mir als Nicht-User der Meinung,
dass man Drogen überhaupt nicht nehmen soll, dass man
keine Drogen nehmen soll und dass man, wenn man
schon Drogen zulassen will oder muss, diese nach ihrer
Gefährlichkeit für die Gesellschaft behandeln sollte, und
dass vor dem Hintergrund dieses Grundsatzes der Ge-
nuss von Alkohol, und zwar nicht nur der übermäßige,
sondern überhaupt der Genuss von Alkohol, weil auch
dieser dazu führen kann,
dass er übermäßig wird, sowie der Genuss von Zigaret-
ten bzw. Tabak um ein Vielfaches gefährlicher sind als
der Genuss von Cannabis?
Sind Sie außerdem mit mir der Meinung, dass man als
ein billig und gerecht denkender Mensch, der die Drogen
nach ihrer Gefährlichkeit behandelt, zu dem Ergebnis
kommen muss, dass, wenn Alkohol und Zigaretten nicht
verboten sind – ich bin auch in diesen Fällen gegen ein
Verbot –, auch Cannabis schon aus Gründen der Gerech-
tigkeit gleichbehandelt werden muss, weil an Alkohol
und Zigaretten jedes Jahr in Deutschland Zehntausende
von Menschen sterben, am Genuss von Cannabis kein
einziger Mensch stirbt,
und – ich möchte Cannabis nicht bagatellisieren; es ist
gefährlich; ich rate auch allen davon ab, es zu nehmen –
das Mittel des Strafrechts ein ungerechtes Mittel im
Gleichklang dieser Drogen ist?
Deshalb bitte ich Sie: Schließen Sie sich mir an. Set-
zen Sie sich für ein Werbeverbot für Alkohol ein. Setzen
Sie sich dafür ein – das ist ein dringendes Gebot –, dass
vom Konsum von Cannabis, Alkohol und Zigaretten Ab-
stand genommen wird. Setzen Sie sich aber auch für eine
Gleichbehandlung der Drogen ein und dafür, dass man
Unterschiede nur anhand des Grades der Gefährlichkeit
machen darf.
Vielen Dank, Herr Ströbele, für diese Frage. – Nachmeiner Einschätzung und ärztlichen Kenntnis möchteich zunächst einmal sagen: In der Tat gibt es in Deutsch-land jährlich 40 000 Alkoholtote und 100 000 Nikotin-bzw. Tabaktote. Deshalb haben wir allen Grund dazu, dieBemühungen, die wir in Gang gebracht haben, mit demEntwurf eines Präventionsgesetzes so erfolgreich wiemöglich voranzutreiben.
Metadaten/Kopzeile:
9088 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Rudolf Henke
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Was nun die Behandlung auf gleicher Ebene und diegenannte Konstruktion von Gerechtigkeit betrifft, sofinde ich, dass dies einfach der historischen Ausgangs-lage nicht gerecht wird, denn die historische Situation istso: Tabak, im Rückgang befindlich, hat eine hohe gesell-schaftliche Akzeptanz.
Das ist ein historischer Sachverhalt. Wir kämpfen dage-gen. Wir setzen zum Beispiel Steuerpolitik ein, um denTabakkonsum zu disincentivieren. Das ist eine klugeMaßnahme angesichts des gesellschaftlichen Kräftever-hältnisses beim Tabak.Beim Alkohol ist das Kräfteverhältnis noch einmalanders und komplizierter, weil es natürlich auch Datenzu einem in bestimmten Grenzen und in bestimmten Fäl-len gesundheitsverträglichen Alkoholkonsum gibt.
– Die Daten sind halt so, dass er in bestimmten Fällenauch eine kreislaufprotektive Wirkung entfalten kann.Insofern sind Sie in einer rechtlich viel komplexeren Si-tuation.Jetzt zur Cannabisproblematik: Ich würde der großenGesundheitsgefahr, die von Tabak und Alkohol ausgeht– dem Argument, das Sie gebracht haben, stimme ich zu –,keine weitere Gesundheitsgefahr addieren. Dies ist ja ge-rade der Widerspruch, den ich Ihnen vorwerfe und mitdem Sie in meiner Wahrnehmung ein Stück weit un-glaubwürdig werden. Ich bitte dafür herzlich um Ver-ständnis.
In Bezug auf die Gefahren möchte ich auf Folgendesaufmerksam machen: Ob Sie Cannabis rauchen oder Ta-bak rauchen, Sie kommen, was die Gefährdung derAtemwege und der Lunge angeht, was das Provozierenvon Bronchialerkrankungen und von Lungenkrebs an-geht, natürlich zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Hinzukommen die psychischen und sozialen Risiken. Deswe-gen sage ich: Es handelt sich nicht um ein vermeintlichharmloses Betäubungsmittel, sondern es ist eine Gefahr,die wir nicht unterschätzen sollten.
Die kognitive Leistungsfähigkeit von Dauerkonsumen-ten kann stark beeinträchtigt werden. Die Aufmerksam-keit kann genauso leiden wie die Konzentration, dasKurzzeitgedächtnis und die Lernfähigkeit.Wahr ist – das gestehe ich auch zu –, dass die Fragenach Befunden, die körperliche Veränderungen zeigen,nicht einheitlich beantwortet werden kann, aber es gibt,kernspintomografisch geführt, Belege dafür, dass derdauerhafte Einfluss von Cannabis im Bereich vonHippocampus und Amygdala, also bestimmter Hirn-regionen, eine Volumenminderung zur Folge hat. Alsoplatt gesagt: Sie kriegen Löcher im Hirn, wenn Sie Can-nabis dauerhaft in höherer Dosis konsumieren. Jeden-falls kommt es zu einer Volumenminderung in diesenHirnarealen. Dass das einen nützlichen Effekt habensoll, das würde ich erst einmal bestreiten.Ich würde auch vermuten: Wenn es um Landwirt-schaftspolitik ginge, würden Sie wahrscheinlich jedemLandwirt, der anfängt, seine Hühner oder Hähnchen mitHanf zu füttern, dies verbieten und fordern, dass sofortein Verbot her muss. Auch das darf natürlich keineswegserfolgen. Dem würde ich auch zustimmen.
Ich halte also fest: Aus meiner Sicht brauchen wir unsnicht für die generalpräventive Wirkung zu schämen, diedurch den repressiven Umgang mit Cannabisbesitz, -an-bau und -handel ausgelöst wird. Wir als Parlament habenallen Grund, Herr Tempel, Ihnen und Ihren Kollegen, dieaufseiten der Polizei an der Aufrechterhaltung dieser Ge-neralprävention mitwirken, an dieser Stelle Danke zu sa-gen. Das ist keine vergebliche Arbeit.Wir haben allen Grund dazu, neben dieser repressivenArbeit eine präventive Arbeit zu leisten, die die Aus-einandersetzung über die psychischen Gefahren, die psy-chischen Defekte, die Abhängigkeitspotenziale und auchdie körperlichen Schäden, die ausgelöst werden können,in den Mittelpunkt nimmt.
Kollege Henke, gestatten Sie wenige Sekunden vor
Ablauf Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kol-
legen Tempel?
Bitte. Ja.
Danke schön, dass Sie meine Frage noch zulassen. –Sie haben mehrfach auf eine generalpräventive Wirkungdes Verbots verwiesen. Ich würde gerne wissen, woherSie die Annahme haben, dass das Verbot eine general-präventive Wirkung hat. Ich verweise auf die Zahlen derEuropäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Dro-gensucht in Lissabon – das sind Zahlen von 2011 –: DieLebenszeitprävalenz von Cannabiskonsum ist in Hollandfast auf das Zehntel genau so hoch wie in Deutschland.In Holland wird aber der Cannabiserwerb in Coffee-shops toleriert; er ist nicht legal, wird aber toleriert. Dortdroht keine Strafanzeige. In keinem Land, das von demCannabisverbot abgerückt ist, ist die Zahl der Konsu-menten gestiegen. Das beobachten wir langfristig in Por-tugal, das beobachten wir kurzfristig in amerikanischenBundesstaaten, selbst in der Schweiz und in anderenLändern. Überall dort, wo man das Mittel der Strafver-folgung abmildert, wo die Gefahr einer Strafanzeige ab-nimmt, steigt die Zahl der Konsumenten nicht an.Sie reden hier aber trotzdem von einer generalpräven-tiven Wirkung. Sie reden auch von einem Signal, dasvon einer Legalisierung ausgehen würde. Sie wissenaber schon, dass ein Verbot immer ein Eingriff in Grund-rechte der Bürger ist, manchmal legitim, manchmal nichtlegitim. Auf alle Fälle gibt es dafür einen verfassungs-mäßigen Grundsatz, nämlich den der Verhältnismäßig-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9089
Frank Tempel
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keit. Es geht also nicht darum, dass von der Abschaffungeines Verbotes ein Signal ausgehen könnte. Vielmehrgeht es darum, dass ein Verbot funktionieren muss: ge-eignet, erforderlich und angemessen.Die Hälfte aller Strafrechtsprofessoren – über 120 inDeutschland – hat festgestellt, dass genau diese Verhält-nismäßigkeit in allen drei Punkten – geeignet, erforder-lich, angemessen – nicht gewährleistet ist. Deshalb ha-ben sie sich mit einer Resolution an den DeutschenBundestag gewandt. Übrigens, nur sieben Straf-rechtsprofessoren haben deutlich geäußert, dass sie sichdieser Resolution nicht anschließen wollen; die anderenhaben sich einfach nicht beteiligt. Aber mehr als dieHälfte aller Strafrechtsprofessoren in Deutschland hataktiv gesagt, dass die verfassungsgemäße Verhältnismä-ßigkeit dieses Verbots nicht gegeben ist; es ist weder ge-eignet noch erforderlich oder angemessen.Sie reden trotzdem von einer generalpräventiven Wir-kung. Haben Sie dazu entsprechende Zahlen? Wie ist dasbelegt? Sagen Sie das hier einfach aus Ihrem Bauchge-fühl heraus, oder gibt es da belegbare Zahlen? Diesewürde ich mir natürlich ganz gerne ansehen.
Vielen Dank für die Frage. – Zunächst einmal, Herr
Kollege, gibt es keinen Zweifel daran, dass die Akzep-
tanz von Nikotin und von Alkohol – beide sind erlaubt –
natürlich viel verbreiteter ist als die von Cannabis.
Durch die Tatsache, dass wir es mit einer Substanz zu
tun haben, deren Besitz, Handel und Herstellung bzw.
Anbau strafbar ist, haben Sie jedenfalls schon einmal
eine andere Relation in der Wahrnehmung dieses Risikos
als bei anderen Suchtstoffen, jedenfalls bei den von den
Grünen beklagten. Ich finde es jedenfalls hoch wider-
sprüchlich, zu sagen: Der Beleg dafür, dass es keine ge-
neralpräventive Wirkung des Verbotes gibt, liegt darin,
dass der Konsum niedriger als bei anderen Suchtstoffen
ist. Deswegen glaube ich, dass man schon davon ausge-
hen kann, dass diese Wirkung existiert.
Sie fragen zu Recht nach der Verhältnismäßigkeit.
Wenn Sie die Verhältnismäßigkeit betrachten – das
würde ja im Zweifel verfassungsrechtlich geprüft wer-
den müssen –, kann man feststellen, dass wir wissen-
schaftliche Befunde in Hülle und Fülle haben, die die
diagnostizierte Substanzabhängigkeit für Cannabiskon-
sumenten nachweisen. Rund 20 Prozent der regelmäßig
konsumierenden Personen erfüllen die Kriterien eines
schädlichen Gebrauchs nach F 10.1 der internationalen
Diagnosen-Klassifikation. Bei 10 Prozent dieser Perso-
nen sehen wir eine Abhängigkeit. Nach den Daten von
Petersen und Thomasius aus 2007 finden wir bei etwa
zwei von drei Cannabisabhängigen eine körperliche Ab-
hängigkeitssymptomatik mit und ohne Toleranzbildung.
Zudem sehen wir, dass die Entwicklung einer Psychose
durch Cannabiskonsum um das Zwei- bis Dreifache
wahrscheinlicher wird als in der Normalbevölkerung. Je
jünger die Konsumenten sind, umso größer ist das Ri-
siko.
Ich glaube, man würde sich mit solchen Argumenten
– im Gesetzentwurf der Grünen werden diese übrigens in
einer, ich sage mal, homöopathischen Dosis angespro-
chen – dann im Zusammenhang mit der Frage der Ver-
hältnismäßigkeit auseinandersetzen müssen. Wenn es
diese Frage der Verhältnismäßigkeit gar nicht gäbe, dann
würden die Grünen ja auch nicht schreiben, dass man
verhindern muss, dass Kinder und Jugendliche an diese
Stoffe herankommen. Das ist natürlich auch ihr Ziel. In-
sofern haben wir an dieser Stelle möglicherweise eine
politische Kontroverse über die Bewertung der Verhält-
nismäßigkeit. Meine Prognose ist, dass das Bundesver-
fassungsgericht dem Gesetzgeber an dieser Stelle eine
große Einschätzungsprärogative zubilligen würde, so-
dass wir das dann zu beurteilen hätten. Ich habe Ihnen ja
bereits gesagt, welche Einschätzung wir da haben.
Ich will mit dem Hinweis darauf schließen – das ist
wichtig, damit es niemand missversteht –, dass die Bun-
desregierung bekräftigt hat, schwer chronisch erkrankten
Patientinnen und Patienten den Zugang zu Cannabisarz-
neimitteln erleichtern zu wollen, hierzu die betäubungs-
mittelrechtliche Verkehrs- und Verschreibungsfähigkeit
zu erweitern und Regelungen über einen Erstattungsan-
spruch in der gesetzlichen Krankenkasse zu schaffen.
Das heißt, dass ein legaler Gebrauch von THC-reichem
Cannabis nur für medizinische Zwecke und nur im Rah-
men einer ärztlichen Therapie vertretbar wäre. Das ist
eine Position, die wir als Union nicht beanstanden, nicht
kritisieren, sondern stützen. Insofern, glaube ich, werden
wir an dieser Stelle eine Veränderung erleben. Aber wir
werden keine Veränderung in dem Sinne Ihres Gesetz-
entwurfs erleben.
Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit.
Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist die Kollegin Bettina Müller, SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Über den Umgang mit Drogenhandel und Drogenkon-sum wird schon seit Jahrzehnten sehr ideologisch undauch sehr emotional diskutiert. Inzwischen sind dieseDebatten schon an vielen Punkten von den gesellschaft-lichen Realitäten überholt worden, insbesondere was denCannabiskonsum anbelangt. Entwicklungen wie dieFreigabe in Teilen der USA, die Situation in den libera-len Niederlanden, aktuelle Pläne zur Eröffnung von Cof-feeshops in Berlin oder die Forderung nach Cannabis fürSchmerzpatienten zwingen uns als Gesetzgeber, uns mitdiesem Thema auseinanderzusetzen.
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Bettina Müller
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Es ist überfällig, die geltenden rechtlichen Normen andie gesellschaftliche Realität anzupassen.Der von den Grünen vorgelegte Entwurf eines Canna-biskontrollgesetzes greift eine Vielzahl von Aspektenauf, bei denen auch die SPD Handlungsbedarf sieht, ins-besondere im Bereich der repressiven Kontrollpolitik.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns alle ei-nig, dass gerade Jugendliche durch den regelmäßigenKonsum von Cannabis Schaden nehmen. Aber wir ha-ben es durch die Mittel des Strafrechts und andere recht-liche Sanktionen nicht geschafft, den Konsum einzu-dämmen und den Handel in den Griff zu bekommen.
Die Konsumenten werden weiterhin kriminalisiert undstigmatisiert. Sie weigern sich daher auch, offen zu spre-chen und Hilfe anzunehmen. Wer würde gegenüber El-tern und Lehrern schon zugeben, dass er Cannabis kon-sumiert, wenn permanent das Damoklesschwert desStrafrechts über ihm schwebt? Wir erreichen die jungenLeute mit dem generalpräventiven Ansatz auch deshalbnicht mehr, weil die Sanktionen zum Teil grotesk über-zogen sind.
Nehmen Sie zum Beispiel das Straßenverkehrsrecht.Für Cannabis im Straßenverkehr gibt es keinen Grenz-wert, wie wir ihn beim Konsum von Alkohol kennen.Der Stand der Wissenschaft ist hier aber längst so weit,dass eine genaue Bestimmung der Fahruntüchtigkeit un-ter THC-Einfluss möglich ist. Deshalb ist es unhaltbar,wenn von einem positiven THC-Befund ausgegangenwird – der auch noch Tage nach dem Konsum vorhandenist – und dann pauschal auf die Fahruntüchtigkeit ge-schlossen wird.
Dann ist es im Grunde völlig egal, ob jemand tatsächlichakut bekifft Auto fährt oder seit Tagen nichts gerauchthat: Der THC-Wert ist positiv, und somit wird bestraft.Das hat mit strafrechtlicher Prävention nichts mehr zutun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Noch unsinniger ist es, dass allein das Mitführen vonCannabis – egal in welcher Lebenslage, auch unabhän-gig vom Straßenverkehr – zu einer Strafanzeige führtund der Betroffene auch noch bei der Führerscheinbe-hörde gemeldet wird. Das führt in der Konsequenz nichtselten dazu, dass der Führerschein entzogen wird. Ist derFührerschein für Mofa oder Auto weg, muss durch eineteure MPU nachgewiesen werden, dass sich der Konsu-ment in der Zukunft rechtstreu verhalten wird. Der Füh-rerscheinentzug führt nicht selten zum Verlust von Joboder Ausbildungsplatz; das ist insbesondere für Jugend-liche im ländlichen Raum ein großes Problem. Ichkomme aus dem ländlichen Raum und kenne einigeFälle, in denen das passiert ist. Das sind die sozialenKonsequenzen, die diese Politik auch mit sich bringt.
Die Rechtslage, die wir jetzt haben, führt zu einer ArtSanktions-Flatrate; so will ich das einmal nennen. Es istkein Wunder, dass die Konsumenten mit so etwas wieFlatrate-Rauchen reagieren; denn es ist ja egal. Wennman raucht – egal wann und wie –, droht Strafe. Mandarf sich halt nur nicht erwischen lassen. Das ist dieKonsequenz, die die Jugendlichen daraus ziehen. Dashat mit der strafrechtlichen Prävention, wie gesagt,nichts mehr zu tun. Daher sind die im Gesetzentwurf derGrünen enthaltenen Vorschläge im Hinblick auf Ände-rungen im Straßenverkehrsgesetz und in der Fahrerlaub-nis-Verordnung aus meiner Sicht durchaus sachgerecht.Wenn ich mir aber zum Beispiel die im Gesetzentwurfvorgesehene aufwendige Regulierung der gesamtenHandelskette anschaue – vom Anbau über den Großhan-del bis zum Einzelhandel –, dann habe ich doch Zweifelan der Realisierbarkeit. Denn wichtige Aspekte wie dieÜberwachung und Erteilung von Genehmigungen sowiedie Kontrolle der Vorschriften werden nur in Abstim-mung mit den verschiedenen Ebenen – mit Bund, Län-dern, Kreisen und Kommunen – sinnvoll umgesetzt wer-den können.Ein kontrollierter Cannabismarkt muss auch funktio-nieren. Für die Kontrolle müssen die zuständigen Stellenfinanziell und personell gut ausgestattet sein. Es mussvermieden werden, dass die Behörden vor Ort von die-sen Aufgaben entweder überfordert sind oder gar überdas Ziel hinausschießen und Cannabiskonsumenten– statt wie bisher mit den Mitteln des Strafrechts – künf-tig beispielsweise mit den Mitteln des Gewerberechtsmit großem Aufwand und in unverhältnismäßiger Weiseverfolgen.An dieser Stelle ist in dem Gesetzentwurf noch eini-ges unausgegoren, noch nicht zu Ende gedacht; dazu ge-hört auch die vorgeschlagene Cannabissteuer, gegen dieals solche – mit Blick auf Alkohol- und Tabaksteuer –systemisch nichts zu sagen ist. Aber würde das dadurcheingenommene Geld für die Finanzierung dieses riesigenAufklärungs- und Kontrollapparates, der insbesonderebei uns in Deutschland dann ja nötig wäre, ausreichen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns derFrage einer grundsätzlichen Neuausrichtung im Umgangmit Cannabiskonsumenten stellen. Der Entwurf der Grü-nen ist ein Einstieg. Ich freue mich auf konstruktive Be-ratungen.Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4204 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu
sehe ich keine anderweitigen Vorschläge; deshalb gehe
ich von Ihrem Einverständnis aus. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den letzten Tagesordnungspunkt am
heutigen Tag auf:
20. Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige
Arbeit für Frauen und Männer durchsetzen
Drucksache 18/4321
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Wider-
spruch sehe ich keinen. Dann ist auch das so beschlos-
sen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
ter Rednerin das Wort der Kollegin Cornelia Möhring
für die Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Heute finden mehr als 1 000 Aktionen imganzen Land statt wie eben am Brandenburger Tor: Weilheute der Equal Pay Day ist. Vielleicht sagt er nicht al-len, die die Debatte verfolgen, etwas. Ich will deswegenkurz sagen, was er eigentlich bedeutet: Der Equal PayDay markiert den Tag, bis zu dem Frauen über den Jah-reswechsel hinaus arbeiten müssen, um rechnerisch aufdas gleiche Jahresgehalt wie männliche Beschäftigte zukommen. Das sind auch in diesem Jahr wieder 79 Tagezu viel. Ich finde das völlig inakzeptabel.
Um es mal anders zu zeigen: Bei jedem Euro Lohn fehltFrauen eigentlich eine ganz schöne Ecke.Dass es diese Lohnungerechtigkeit gibt, ist mittler-weile unstrittig, jedenfalls bei den meisten, auch hier imHaus. Was die Ursachen sind und auf welchem Wegemehr Gerechtigkeit erreicht werden kann, daran schei-den sich die Geister. Dabei geht es nicht um Klecker-beträge, sondern um reichlich Geld: 7,9 Prozent beträgtder Lohnunterschied bei gleicher Tätigkeit mit völligvergleichbaren Qualifikationen. 22 Prozent beträgt dieLohnlücke, wenn die Gehälter über alle Branchen undBerufe verglichen werden. Im Finanz- und Versiche-rungsbereich erhalten Frauen sogar 30 Prozent wenigerLohn. Im Gesundheits- und Sozialwesen sind es immer-hin auch 25 Prozent; auch das liegt über dem Durch-schnitt.Die Ursachen – da stimmen Studien und Verbändeauch überein – liegen in Folgendem: in der Abwertungbzw. schlechteren Bewertung typisch weiblicher Berufe,in Erwerbsunterbrechungen zum Beispiel wegenSchwangerschaften – das trifft bei dem jetzigen Standder menschlichen Entwicklung auch nur auf Frauen zu –,und in der zunehmenden Teilzeitbeschäftigung vonFrauen und der Minijobfalle. Ich erinnere: Beides istnicht immer freiwillig. – Oder Frauen erhalten einfachweniger, weil sie Frauen sind; zu so einem Beispielkomme ich später noch.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die öffentlicheDebatte im Vorfeld des Equal Pay Day hat uns wieder ei-nen Einblick in die unglückliche Ehe der GroKo gelie-fert: Kaum hat Ministerin Schwesig eine bessere Trans-parenz gefordert, geht das Geheule – zumindest beieinigen CDU-Männern – los. Ich glaube wirklich, inGleichstellungsfragen ist diese Ehe auch nicht mehr zuretten und führt vielleicht eher zur Ankurbelung der Pa-piertaschentücherproduktion.
Nun halte ich auch die angekündigte Transparenzini-tiative für nicht ausreichend; deshalb auch der hier vor-liegende Antrag der Linken, der vor allem auf dieDurchsetzung von Entgeltgleichheit zielt.Es ist sicherlich hilfreich, wenn eine Frau in Gehalts-verhandlungen über das Gehaltsgefüge Bescheid weiß.Allerdings kommen gar nicht so viele Frauen überhaupterst in die Situation, über ihr Gehalt zu verhandeln. DieInformation über ungleiche Bezahlung ist aber hilfreichund notwendig, vor allem dann, wenn die einzelne Fraunicht alleine dagegen vorgehen muss, sondern wenn diebetriebliche Interessenvertretung und auch Verbände undGewerkschaften etwas durchsetzen können. Es mussjetzt Schluss sein mit der Vereinzelung. Ich finde, wirbrauchen endlich das Recht der Verbände, zu klagen.
Ja, wir brauchen auch Transparenz darüber, wie diesogenannten Entgeltstrukturen aussehen. Jüngst ging einFall durch die Presse, der deutlich macht, wie wichtigdieses Wissen ist. Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zi-tiere ich jetzt auszugsweise aus einem Artikel zum vonmir bereits angedeuteten Beispiel:Sie– die Mitarbeiterin eines bekannten Schuhherstellers –hatte geklagt, nachdem sie auf einer Betriebsver-sammlung im Herbst 2012 von der schlechteren Be-zahlung für Mitarbeiterinnen erfahren hatte …
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Cornelia Möhring
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Immerhin ging es um einen Bruttostundenlohn, der umüber 1 Euro geringer war. – Weiter heißt es dort:Auch bei Sonderzahlungen hatten Frauen das Nach-sehen: Da Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie eineAnwesenheitsprämie an den Stundenlohn gekoppeltwaren, fielen die Beträge für Mitarbeiterinnen ent-sprechend niedriger aus.Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Gericht war un-strittig, dass der geringere Lohn nur mit dem Geschlechtder Frau zusammenhing. Der Klägerin wurden die Nach-zahlung und eine Entschädigung zugesprochen. Mittler-weile sind 103 weitere Verfahren gegen dieses Unterneh-men auf dem Weg; und das ist auch gut so.
Dieses Beispiel zeigt Verschiedenes:Erstens. Transparenz ist wichtig und kann übrigensauch durch die Einsicht von Betriebsräten in Lohn- undGehaltslisten erreicht werden.Zweitens. Damit nicht jede einzelne Frau in kompli-zierten und langwierigen Gerichtsverfahren klagenmuss, müssen die Mitbestimmungsrechte ausgebaut unddas Verbandsklagerecht eingeführt werden.
Drittens. Solche Vergütungsstrukturen dürfen garnicht erst entstehen und angewendet werden. Aus die-sem Grund sollten alle Betriebe und die Tarifpartner ver-pflichtet werden, die Vergütungsstrukturen diskriminie-rungsfrei und gerecht zu gestalten.Ich will Ihnen dazu noch ein Beispiel anführen: Nachden neuesten Zahlen haben Frauen, die in Betrieben mitTarifbindung arbeiten, einen deutlichen Gehaltsvorteil.Frauen, die in Betrieben des Einzelhandels arbeiten, indenen es einen Tarifvertrag gibt, erhalten 17,3 Prozentmehr Lohn als diejenigen, die in Betrieben ohne Tarif-vertrag arbeiten. Wir sehen also, dass die Organisation inder Gewerkschaft und natürlich auch der Abschluss vonTarifvereinbarungen außerordentlich wichtig sind.
Für mehr Lohngerechtigkeit brauchen wir aber aucheine Aufwertung der Tätigkeiten im Sorgebereich undeine Umverteilung von Arbeit und Zeit. Das ist aber lei-der noch ein längerer Weg.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können das al-les jetzt schon mit uns auf den Weg bringen, wenn derAntrag der Linken in das angekündigte Gesetz zur Ent-geltgleichheit eingeht.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Ursula
Groden-Kranich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Besucherinnen und Besucher! Vor ziemlich genauzwei Wochen durfte ich hier zu Ihnen sprechen. Es gingum die Beschäftigungssituation von Frauen. Schon indieser Debatte fiel mehr als einmal der Begriff „Entgelt-ungleichheit“. In der letzten Woche konnte ich mit einerDelegation des Familienausschusses die 59. UN-Wo-men-Konferenz in New York besuchen. Auch dort wardas Thema Equal Pay in aller Munde.Der Unterschied zwischen den Gehältern von Män-nern und Frauen ist ein weltweites Phänomen, und es tunsich auch die Länder schwer, die wir sonst zu Recht alsVorbilder in Sachen Geschlechtergerechtigkeit betrach-ten. In Schweden liegt der Gender Pay Gap aktuell zumBeispiel bei 16 Prozent und bereinigt bei 6 Prozent.Auch dort bekommt man diesen unerklärten Rest nichtso einfach in den Griff.Wir wissen, dass ein Teil der Lohnlücke auf die Be-rufswahl von Frauen und auf deren häufige Teilzeittätig-keit zurückzuführen ist. Die Linke spricht in ihremAntrag von einer mittelbaren Form der Geschlechterdis-kriminierung. Hier sollten wir aber doch etwas genauerhinsehen und Frauen nicht pauschal als Opfer ihrer Teil-zeittätigkeit oder Berufswahl betrachten. Grundsätzlichsollten wir Männer und Frauen eine echte Wahlfreiheitin ihrem Berufs- wie im Familienleben zugestehen undauch zutrauen.
Doch egal ob wir von bereinigter oder unbereinigterLohnlücke, von mittelbarer oder direkter Diskriminie-rung reden: Es bleibt in jedem Fall ein hässlicher Rest anUngleichheit, den wir so nicht akzeptieren dürfen. Da-rum ist Equal Pay nicht nur bei der Oscar-Verleihung,sondern auch in unserem Koalitionsvertrag ein wichtigesThema, dem wir uns nun gemeinsam widmen. Daherhätte es Ihres Antrags gar nicht bedurft; denn Sie wissen,dass die Koalition bereits daran arbeitet.
Es ist absolut richtig, dass wir konkrete Maßnahmenergreifen und über Selbstverpflichtungen von Unterneh-men hinausgehen. Hier sind jedoch alle Beteiligten ge-fragt, nicht nur der Gesetzgeber und nicht nur die Arbeit-geber. Auch die Tarifpartner müssen hier massivnacharbeiten. Die Gewerkschaften, die gerade eben zu-sammen mit vielen anderen am Brandenburger Tor fürEqual Pay demonstriert haben, haben in den letzten20 Jahren mit Sicherheit nicht alles Mögliche oder Nö-tige getan, um Diskriminierung zu überwinden, ge-schweige denn Frauenberufe aufzuwerten. Allerdingsstellt sich mir die Frage: Was sind denn Frauenberufe?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9093
Ursula Groden-Kranich
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Die einzigen Aufgaben, die Männer nicht genauso guterledigen könnten, sind Kinder zu gebären und diese zustillen. Ansonsten dürfen sich auch Männer engagieren.
Richtig ist auch, dass wir Entgeltungleichheit nurüberwinden können, wenn wir nicht nur Symptome, son-dern auch die Ursachen bekämpfen. In Rheinland-Pfalzwerden beispielsweise Lehrkräfte nach zwei verschiede-nen Tarifen eingestellt – dies betrifft leider auch und ins-besondere Frauen –: Angestellte Lehrerinnen und Lehrerwerden deutlich schlechter bezahlt als verbeamtete Leh-rerinnen und Lehrer. Diese ungleiche Behandlung ließesich leicht vermeiden, ohne dass wir dazu ein neues Ge-setz bräuchten.Auch mehr Transparenz bei den Lohnstrukturen ist si-cherlich ein guter Schritt, darf aber nicht in Gleichma-cherei oder fehlenden Anreizsystemen enden. Transpa-renz alleine löst das Problem nicht. Das haben dieErfahrungen, beispielsweise in Österreich, gezeigt.Wichtig wäre zudem, gerade weil das Problem sokomplex ist und viele Lösungsansätze benötigt, dass be-reits vorhandene Instrumente genutzt werden und dasRad nicht immer wieder neu erfunden wird. Die damali-gen CDU-Familienministerinnen hatten zum Beispielbereits im Jahr 2009 das Bewertungsverfahren Logib-Deingeführt. Dies steht für „Lohngleichheit im Betrieb –Deutschland“ und ist eine Anwendung, mit der Unter-nehmen freiwillig, kostenlos und anonym ihre Entgelt-strukturen unter Geschlechtergesichtspunkten analysie-ren können.
Dieses Angebot findet sich auch heute noch auf derWebsite des Familienministeriums.
Da all das aber offensichtlich nicht ausreicht, ist dasProjekt Entgeltgleichheit in der Tat eine gesamtgesell-schaftliche Aufgabe. Unsere Töchter müssen in Kita,Schule und Familie von klein auf zu beruflicher undfinanzieller Selbstständigkeit erzogen werden. JungeFrauen müssen schon bei der Berufsorientierung und vorden Familienpausen über alle Konsequenzen bis hin zurRente umfassend informiert werden.Und vor allem: Männer müssen mit ins Boot. Das El-terngeldPlus war ein erster Schritt in die richtige Rich-tung; denn längere Erziehungsauszeiten von Männernführen automatisch zum Abbau der Lohnungleichheit,ganz zu schweigen von den positiven Nebeneffekten:mehr Anerkennung für bisher typisch frauenorientierteFamilienarbeit, mehr Verständnis und Flexibilität vonArbeitgebern und Kollegen, eine immense Stärkung desVater-Kind-Verhältnisses und natürlich die unschätzbareVorbildfunktion für nachfolgende Generationen von Vä-tern, Söhnen und Töchtern.
Auch die Aufwertung dieser Familienarbeit ist einegesamtgesellschaftliche Anstrengung. Es genügt nicht,immer nur nach einer besseren Ausstattung der Sozial-kassen zu rufen. Wir alle müssen diese Kosten ein Stückweit mittragen und uns fragen, was wir selbst bereit sindfür mehr Qualität in Pflege und Erziehung zu zahlen.Wenn wir Frauen für eine Vollzeittätigkeit mehr externeKinderbetreuung wünschen, müssen wir auch bereitsein, einen Teil unseres Gehaltes in ebendiese Kinderbe-treuung zu investieren, vor allem diejenigen, die dasauch könnten. Alles andere ist verlogen und trägt für dieErzieherinnen ganz sicher nicht zu einer Aufwertung ih-rer Arbeit bei.Wir brauchen also einen Dreiklang von Lösungs-ansätzen. Wenn wir erstens schlechtbezahlte Familien-arbeit aufwerten, zweitens für mehr weibliche Teilhabeam Berufsleben sorgen und drittens die partnerschaftli-che Aufteilung der Familienarbeit fördern, dann bewir-ken wir damit automatisch mehr Entgeltgleichheit.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulle Schauws für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Verehrte Gäste! Die Schauspielerin PatriciaArquette, die diesjährige Oscarpreisträgerin für die besteNebenrolle, nutzte ihre Dankesrede in Los Angeles – Siehaben sie vielleicht im Fernsehen verfolgt – für einenflammenden Aufruf zur Gleichberechtigung und Lohn-gleichheit von Frauen in den USA. Ich erwähne das, weildiese Schauspielerin und die Frauen hier eines gemein-sam haben: die Forderung nach gleichem Lohn für glei-che Arbeit, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Da-rum geht es am heutigen Equal Pay Day.
Lohngleichheit sollte bei uns laut Gleichbehandlungs-gebot im Grundgesetz eine Selbstverständlichkeit sein.Das ist sie aber nicht. Der Gender Pay Gap zwischenFrauen und Männern liegt seit zwei Dekaden wie einbe-toniert bei 22 Prozent. Frauen arbeiten, umgerechnet aufdas Arbeitsjahr, bis zum 20. März ohne Lohn. Damit ge-hört Deutschland zu den Schlusslichtern in Europa.Selbst wenn man berücksichtigt, dass Frauen häufigerin Teilzeit arbeiten, Erwerbsunterbrechungen wegen ei-ner Babypause haben oder seltener in den Hochlohn-branchen der Industrie tätig sind, so verdienen Frauenauf den gleichen Positionen wie Männer durchschnittlichimmer noch rund 7 Prozent weniger. Das, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ist ein Skandal. Damit wollenFrauen sich nicht länger abfinden.
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Ulle Schauws
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Hinzu kommt, dass Frauen die Konsequenzen der Un-terbezahlung ein Leben lang tragen. Sie haben nicht nurheute weniger im Portemonnaie; sie bekommen letztenEndes auch weniger Rente, weil sie weniger eingezahlthaben. Aus dem Gender Pay Gap von 22 Prozent wird soein Gender Pension Gap von 40 Prozent. Die Tendenz iststeigend. Das bedeutet am Ende für viele Frauen die Al-tersarmut. Das kann nicht so weitergehen. Deshalb, liebeKolleginnen und Kollegen, brauchen wir dringend einGesetz, um den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleicheund gleichwertige Arbeit“ umzusetzen. Denn nur das istgerecht.
Meine Fraktion hat bereits zum Equal Pay Day 2014einen entsprechenden Antrag in den Bundestag einge-bracht, und ich freue mich, dass die Fraktion Die Linkenun einen weiteren guten Antrag vorgelegt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Lohnungleichheitentsteht einerseits durch mittelbare Diskriminierung.Das heißt, in den klassischen Industrieberufen mit mehrmännlichen Arbeitnehmern liegen die Gehälter weit überdenen der Dienstleistungs- und Sozialberufe, in denenviel mehr Frauen arbeiten. Es kann doch nicht sein, dassbeispielsweise ein Müllmann einen relativ hohen Lohnerhält, weil er schwere Lasten trägt, aber das gleiche Ar-gument für eine Altenpflegerin, die ebenso schwer he-ben muss, nicht gilt. Das geht nicht.
Deshalb fordern wir eine gerechte Bewertung von Arbeitdurch allgemeingültige geschlechtsneutrale Kriterienund eine gesellschaftliche Aufwertung von Berufen mithohem Frauenanteil.Lohndiskriminierung entsteht andererseits durch un-mittelbare Diskriminierung. Frauen erhalten bei gleicherQualifikation und gleicher Berufserfahrung wenigerGeld.Frau Ministerin Schwesig, Sie wollen nun ein Ent-geltgleichheitsgesetz auf den Weg bringen. Das begrüßeich natürlich. Ich wünsche Ihnen gute Gespräche mitdem Kollegen Kauder. Er hat nämlich als bekennenderGleichstellungsbremser in der Großen Koalition direktdie Parole ausgegeben: „In diesem Jahr wird das nichtsmehr.“Wir wollen keine Bremsmanöver. Wir erwarten vonIhnen gemeinsam ein wirkungsvolles und faires Gesetzfür Frauen.
Dabei zeichnet sich ab, dass Sie zu kurz springen. Ihreangekündigte Transparenzoffensive bei den Gehälternkann nur ein erster Schritt sein.Wir brauchen ein Entgeltgleichheitsgesetz, das diesenNamen auch verdient. Wir brauchen verbindliche Rege-lungen. Entgeltregelungen müssen mit einem Arbeitsbe-wertungssystem überprüft werden, und zwar anhand vonKriterien, die für alle gleich sind. Diskriminierungenmüssen innerhalb einer bestimmten Frist beseitigt wer-den. Da finde ich es völlig absurd, wenn Unternehmenschon jetzt bei den Transparenzvorschlägen der Bundes-regierung Unfrieden im Unternehmen befürchten.
Unfrieden entsteht doch dort, wo tatsächlich unfair be-zahlt wird, und nicht dadurch, dass das sichtbar wird.
Ich sage Ihnen: Wer diese Firmenpolitik zuungunstenvon Frauen fortsetzen will, verspielt Vertrauen und An-sehen.Noch eines: Was die Kollegin Kristina Schröder überden Pay Gap denkt, lesen Sie besser selber auf Twitternach. Dafür ist mir meine Redezeit zu schade.
Wir wollen auch ein Verbandsklagerecht. Wir wollenFrauen stärken, damit sie bei Klagen um gleichen Lohnnicht mehr alleine mit dem finanziellen Risiko und derFurcht um ihren Arbeitsplatz dastehen; denn Entgeltdis-kriminierung ist ein gesellschaftliches und kein indivi-duelles Problem der Frauen. Wer das bestreitet, schiebtdie Verantwortung von sich.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Ko-alition, Sie sind politisch gefordert, effiziente Lösungenfür alle Facetten der Lohnlücke auf den Weg zu bringen.Nur so kann der Gender Pay Gap endlich geschlossenwerden. Frauen verdienen das.Danke.
Als nächste Rednerin erhält das Wort für die SPD die
Kollegin Petra Crone.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Einige von uns haben nochein bisschen rote Wangen, weil sie eben von der Kund-gebung zum Equal Pay Day am Brandenburger Tor zu-rückgekommen sind. Nun können wir durch diese De-batte ein Stück weit diese Stimmung in den Plenarsaal
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Petra Crone
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tragen; das finde ich gut. Aber ich frage mich manchmal:Haben wir jetzt rote Wangen von der schönen Sonneoder auch aus Scham, weil Deutschland noch immer ander traurigen viertletzten Stelle beim Gender Pay Gapdümpelt,
oder haben wir rote Wangen aus Wut? Denn wie oft ha-ben wir gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Ar-beit für Männer und Frauen gefordert, nicht nur auf derStraße, sondern auch hier im Plenarsaal?
Seit Jahren diskutieren wir darüber, nicht so sehr da-rüber, wohin wir wollen, sondern eher darüber, welcherWeg der richtige ist. Ich glaube genau wie Sie, liebe Kol-leginnen und Kollegen von der Linken, dass Selbstver-pflichtungen nichts bringen. Wir brauchen ein Gesetz,und das ist auf dem Weg. Die SPD-Bundestagsfraktionhat in der letzten Legislaturperiode schon eine guteGrundlage erarbeitet. Die Zeit ist reif für soziale Gerech-tigkeit, für ein faires Verhältnis zwischen Männern undFrauen auch auf dem Arbeitsmarkt.
Wir, die Fraktionen von CDU/CSU und SPD, habenes im Koalitionsvertrag verabredet und versprochen: Wirwollen ein Mehr an Lohngerechtigkeit herstellen unddauerhaft sichern. Es ist höchste Zeit dafür, für unsFrauen in unserem Land und auch für die Männer. Dennwelcher Mann wünscht sich für seine Frau oder Partne-rin, welcher Vater für seine Tochter einen geringerenLohn, als sie verdient?
Ohne Vorgaben geht es nicht. Wir brauchen endlich eineverbindliche gesetzliche Regelung, auf die sich Frauenberufen können, wenn sie von Lohndiskriminierung be-troffen sind.Die Zeit titelt provokant in ihrer aktuellen Ausgabe:„Ist Genie männlich?“. Sicherlich nicht!
Es kann ja sein, dass die meisten Frauen nicht von einerKarriere in der Neurowissenschaft träumen, sondern lie-ber in der Pflege oder in einem Erziehungsberuf arbei-ten. Sollte das wirklich unser Problem sein? Ist ein repa-riertes Auto wertvoller als ein gut betreutes Kitakind?Gerade die sogenannten weiblichen Berufe zeichnensich doch oft durch eine ganz besondere Verantwortungam Menschen aus. Diejenigen, die in solchen Berufenarbeiten, haben allerdings viel mehr Hochachtung undWertschätzung verdient.
Und wie zeigt sich das handfester als durch höhereLöhne? Hier ist die Politik gefragt; hier können wir han-deln. Mir ist es ein ganz persönliches Anliegen, die Re-form der Pflegeberufe auf den Weg zu bringen; denn ge-rade in der Altenpflege sind es vor allem Frauen, dieerfahrungsgemäß in die Teilzeitfalle geraten, Schicht-dienste übernehmen, dabei auch seelischen Belastungenausgesetzt sind und im Alter keine ausreichende finan-zielle Sicherung haben. Es ist also nicht nur eine Berufs-gruppe, die deutlich aufgewertet werden muss. Das Glei-che gilt natürlich auch für Erzieherinnen und Erzieherund viele andere mehr.Liebe Kolleginnen und Kollegen, neulich sah ich ei-nen Comic – ich glaube, es war in der New York Times –:zwei Kinder im Sandkasten, ein Junge und ein Mädchen.Beide hatten eine völlig identische, wunderschöne Sand-burg gebaut. Zwei Hände reichten ihnen Eistüten. DerJunge bekam eine Eistüte mit drei Kugeln, und das Mäd-chen bekam eine Eistüte mit – raten Sie einmal – einereinzigen Kugel. – Das ist ein ganz eindrucksvolles Bild,das zeigt, dass auch bei gleicher Qualifikation undgleichwertiger Arbeit der Lohnunterschied noch da ist.Ich frage Sie: Ist es gerecht, dass Kinder und Familievor allem für Frauen zum Karriereknick werden, wäh-rend Männer ihr Berufsleben ungerührt fortsetzen? Ist esgerecht, dass Kinder nach wie vor das größte Armutsri-siko in unserem Land sind, vor allem für Alleinerzie-hende? Dazu kommt, dass eine ungerechte Entlohnungim Arbeitsleben auch eine ungerechte Rente nach sichzieht. Insofern ist Entgeltgleichheit gemeinsam mit un-seren anderen Projekten auch eine Chance, Frauen imAlter vor Armut zu schützen.Wir haben in dieser Wahlperiode in der Großen Ko-alition schon einiges gemeinsam geregelt: den Mindest-lohn eingeführt, mehr Geld für Kitas ausgegeben, dasElterngeld Plus eingeführt, die Familienpflegezeit verab-schiedet, die Quote in ein Gesetz gegossen. Und jetztkommt die Entgeltgleichheit als ein ganz wichtiger Bau-stein in der Frage der sozialen Gerechtigkeit an dieReihe.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, danken wir unseren Mitstreitern, den Gewerk-schaften, dem Sozialverband, den Landfrauen und vielenmehr, dass sie wirklich auch in der Sache praktikableLösungen anbieten und mit uns diskutieren. Mit großerFreude habe ich gestern gelesen, dass auch die Frauen-Union unsere Ministerin Manuela Schwesig unterstützenwill. In diesem Sinne glaube ich, es wird ein gutes Ge-setz.Ich danke Ihnen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Pahlmannfür die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren auf der Tri-büne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben esnun schon vielfach gehört: Frauen verdienen auch heutenoch in viel zu vielen Fällen weniger als ihre männlichenKollegen.
Der eigentliche Skandal sind aber nicht die durch-schnittlich 22 Prozent Lohnunterschied, die sich zumgroßen Teil daraus ergeben, dass Frauen in schlechterbezahlten Berufen, in Teilzeit arbeiten oder eine durchKindererziehung oder durch Pflegezeit unterbrocheneErwerbsbiografie haben, worauf wir heute am Branden-burger Tor noch einmal aufmerksam gemacht haben.Nein, der eigentliche Skandal, das sind die verbleiben-den circa 7 Prozent Lohnunterschied, die bei gleicherQualifikation zwischen den Einkommen weiblicher undmännlicher Arbeitnehmer bestehen.
Dabei ist der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleicheund gleichwertige Arbeit“ bereits seit langem im deut-schen Recht verankert. Der Gleichberechtigungsgrund-satz in Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz verbietet, Frauenbei gleicher oder gleichwertiger Arbeit ein geringeresEntgelt zu zahlen als Männern.Benachteiligungen wegen des Geschlechts in Bezugauf Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließ-lich des Arbeitsentgelts sind nach § 2 Absatz 1 Num-mer 2 und nach § 7 Absatz 1 des Allgemeinen Gleich-stellungsgesetzes unzulässig. Tja, da müssen wir aberzur Kenntnis nehmen, dass das, was wir bereits haben,eben nicht ausreicht. Deshalb müssen und werden wirhandeln.Die Frauen-Union der CDU fordert in diesem Zusam-menhang schon lange und nicht erst seit neuestem dieÜberprüfung der circa 60 000 Tarifverträge mit Blickauf strukturelle Lohndiskriminierung. Schade, dass un-sere Bundesarbeitsministerin nicht da ist. Ich denke, eswäre einmal eine schöne und wahrscheinlich lohnendeAufgabe für ihr Ministerium, diese Verträge zu durch-forsten.Die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertragdie Instrumente klar benannt, mit denen sie die Ent-geltgleichheit erreichen will. Wir wollen einmal dieFeststellung des Wertes von Berufsfeldern, von Ar-beitsbewertungen und die Bewertung von Fähigkeiten,Kompetenzen und Erfahrungen gemeinsam mit den Ta-rifpartnern voranbringen.Doch wie erfährt Frau Meyer, Müller oder Schultze,ob sie gerecht entlohnt wird? Das erfordert Transparenz.Arbeitnehmer sollen einen individuellen Auskunftsan-spruch erhalten, und Transparenz soll auch dadurch er-reicht werden, dass Unternehmen ab 500 Beschäftigteverpflichtet werden, zur Frauenförderung und zur Ent-geltgleichheit Stellung zu beziehen und dies dann bitteschön auch im Lagebericht zu veröffentlichen.Die Einführung des Mindestlohns war zum Beispielin der Pflege ein wichtiger Schritt hin zu mehr Lohn-gleichheit in einem gerade von Frauen häufig gewähltenBerufsfeld. Unser Ziel bleibt es darüber hinaus, die Ar-beit in der Pflege, Betreuung und frühkindlichen Bil-dung auch durch bessere Bezahlung weiter aufzuwerten.Ich denke, es muss unser Ziel sein, dass wir diese Berei-che stärken.Ein Verbandsklagerecht, wie Sie es fordern, lehnenwir dagegen nach wie vor ab. Werden Frauen oder Män-ner diskriminiert, erhalten sie Unterstützung durch dieAntidiskriminierungsstelle des Bundes oder können denRechtsweg beschreiten. Wir sind der Meinung, Diskri-minierungen sind immer noch sehr individuelle Fälle.Das Verbandsklagerecht würde unseres Erachtens hierkeine Verbesserung des Rechtsschutzes ergeben.
Zum Abbau der sogenannten mittelbaren Diskrimi-nierung, die durch vermehrte Teilzeit- und teilweise pre-käre Beschäftigung in schlechter bezahlten, eben typischweiblichen Branchen gekennzeichnet ist, ist in den ver-gangenen Wochen in vielen Debatten zu diesem Themaschon vieles und viel Richtiges gesagt worden. Ziel un-serer Politik kann aber meiner Meinung nach nicht sein,dass wir Frauen dazu drängen, mindestens eine vollzeit-nahe Beschäftigung auszuüben, wie es von vielen Stel-len gefordert wird, nur weil es heute immer nochschwierig ist, nach einer Familienzeit wieder voll ins Be-rufsleben zurückzukehren.Ziel unserer Politik muss es sein, dass Frauen undauch Männer eben die Wahl haben, ob sie Vollzeit, Teil-zeit oder vollzeitnah arbeiten oder auch eventuell erstnach einer Phase der Vollfamilienzeit wieder in den Be-ruf einsteigen, dann aber eben ohne größere finanzielleNachteile und mit Anerkennung der Familienleistungen.
Dass diese Anerkennung sich für viele Frauen wenigs-tens teilweise bei den erworbenen Rentenansprüchenniederschlägt, haben wir mit der Mütterrente bereitsdurchgesetzt.
Ich möchte Frauen, die sich aus welchen Gründenauch immer für eine Teilzeitbeschäftigung entscheiden,nicht vorschreiben, ihre Stundenzahl zulasten andererLebensbereiche zu erhöhen. Wer aber nach einer Erzie-hungs- oder Pflegephase die Rückkehr in die Vollzeitwünscht, der sollte diese Möglichkeit auch unkompli-ziert erhalten. Dazu können und müssen wir mit einemRechtsanspruch beitragen.
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Ingrid Pahlmann
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Hier möchte ich noch eines sagen: Ich bin dagegen,dass insbesondere die kleinen und mittelständischen Un-ternehmen durch zusätzliche Berichtspflichten und aus-ufernde Bürokratie zusätzlich belastet werden. Wennaber die Wirtschaft und Betriebe über Fachkräftemangelklagen, dann erwarte ich von diesen Unternehmen undBetrieben auch größere Anstrengungen in Sachen Ar-beitszeitflexibilität und Vereinbarkeit von Familie undBeruf. Das müssen wir von dieser Seite fordern.
Ich möchte nämlich nicht in einer Gesellschaft leben,in der der Staat unser Leben bis ins kleinste Detail ge-setzlich durchreguliert. Gesellschaft muss sich auch im-mer selbst gestalten können und darf nicht als Erstesnach der Politik rufen, wenn sich etwas bewegen soll.Ich bin auch der Überzeugung, dass die Gesellschaft daskann, und sie wird es auch tun.Ich möchte weiterhin niemandem vorschreiben, wel-chen Beruf er ergreifen soll. Mal abgesehen davon, dasses den vom Fachkräftemangel besonders betroffenentechnischen Unternehmen und Betrieben selbst ein gro-ßes Anliegen sein muss, Frauen für ihre Branche zu ge-winnen, sehe ich es überhaupt nicht ein, Frauen von derAusübung sozialer Berufe abzuraten, weil sie schlechterbezahlt sind. Nein, die Forderung ist eine ganz andere:Die sozialen Berufe, ohne die unsere Gesellschaft – ma-chen wir uns doch nichts vor! – überhaupt nicht funk-tionsfähig wäre, müssen endlich angemessen entlohntwerden. Ich denke, da stehen wir alle Seite an Seite.
Ich kann leider auch nicht einsehen, dass ein Lagerar-beiter für körperlich schwere Arbeit Zuschläge erhält,aber Menschen in der Pflege ihre körperliche Schwerst-arbeit nicht gesondert entlohnt bekommen.
Da müssen wir genau hinschauen und dann auch gezieltnachsteuern.
Die dazu erforderliche Transparenz in den Tarifverträgenmüssen wir einfordern. Wenn dann vom Arbeitsministe-rium auch noch Missstände und Ungleichbehandlungenin den Tarifverträgen aufgedeckt und vielleicht sogarsanktioniert werden, ja, dann sehe ich endlich so etwaswie Licht am Ende des Tunnels. Dann fordern wir, liebeFrau Crone, die zurückbehaltenen zwei Eiskugeln für dieMädels ein. Wir sind auf der richtigen Seite. Lassen Sieuns gemeinsam daran arbeiten, dass wir die Entgeltun-gleichheit endlich beseitigen und nächstes Jahr wesent-lich früher am Brandenburger Tor stehen als in diesemJahr.
Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Gabriele
Hiller-Ohm für die SPD das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heutezum Equal Pay Day nicht nur vor dem BrandenburgerTor, sondern auch hier im Bundestag über gleichen Lohnfür gleiche Arbeit für Männer und Frauen sprechen.Denn hier in diesem Haus können wir tatsächlich etwasändern. Hier haben wir die gesetzgeberische Kraft, unddie, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir auchnutzen. Es kann doch wohl nicht angehen, dass ausge-rechnet, wenn es um uns Frauen geht, das Grundgesetzkeine Anwendung findet – und das seit über 66 Jahren.
Warum, so frage ich, verdient eine Versicherungs-kauffrau bei gleicher Ausbildung und gleicher Arbeit imSchnitt 3 000 Euro, während ein Versicherungskaufmannmehr als 4 000 Euro im Monat erhält? Versicherungs-kauffrauen bekommen also über 1 000 Euro weniger alsihre männlichen Kollegen. In ihren Portemonnaies klafftdeshalb Monat für Monat eine riesige Ungerechtigkeits-lücke, und das nur, weil sie Frauen sind.
Schlimmer geht’s nimmer.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion,ich danke Ihnen, dass Sie das Thema mit Ihrem Antragheute auf die Tagesordnung gebracht haben und wir überLohndiskriminierung sprechen können. Sie haben vielesaufgeschrieben, was gut und richtig ist. Ihr Problem istaber: Sie haben keine Mehrheit im Bundestag.
Vielleicht tröstet es Sie: Auch wir als SPD-Fraktion ha-ben uns in der letzten Legislaturperiode viel Arbeit ge-macht und sind dann als Opposition an der damaligenschwarz-gelben Regierungsmehrheit gescheitert. Im Ge-gensatz zu Ihnen hatten wir statt eines Antrages sogar ei-nen kompletten, bis ins letzte Detail ausformulierten undjuristisch abgesicherten Gesetzentwurf zur Durchset-zung von Entgeltgleichheit vorgelegt.
Das war im Mai 2012. Die Grünen hatten unsere Initia-tive unterstützt. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen derLinksfraktion, hatten nicht die Größe, unserem Gesetz-entwurf Ihre Zustimmung zu geben
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9098 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015
Gabriele Hiller-Ohm
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und so ein deutliches Signal der damaligen Oppositionfür die Frauen in unserem Land zu setzen.
Parteipolitische Scheingefechte waren Ihnen wichti-ger, als gemeinsam mit SPD und Grünen gegen die Un-gerechtigkeit gegenüber knapp 18 Millionen FrauenFlagge zu zeigen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegender Linksfraktion, können Sie heute mit Ihrem populisti-schen Papierkorbantrag auch nicht wiedergutmachen.
Aber zum Glück ist die SPD jetzt in Regierungsver-antwortung. Mit unserem Koalitionspartner werden wirdie Welt zwar nicht aus den Angeln heben, aber wir wer-den die Situation der Frauen in unserem Land doch deut-lich verbessern. Das haben wir im Koalitionsvertragfestgeschrieben, und das setzen wir jetzt Stück für Stückum.
Wir haben den Mindestlohn durchgesetzt. Er wird sichvor allem für die vielen Frauen in schlecht bezahltenJobs positiv auswirken und ihnen mehr Lebensqualitätbringen.
Wir haben die Quote durchgeboxt. Endlich werden mehrFrauen in Führungspositionen kommen und unsererWirtschaft neuen Schwung verleihen.
Wir werden auch der größten Ungerechtigkeit in un-serem Land die Rote Karte zeigen: Gleiche und gleich-wertige Arbeit darf nicht länger unterschiedlich bezahltwerden, nur weil sie von einem Mann oder von einerFrau erledigt wird.
Wir brauchen endlich ein neues Bewusstsein vom Wertder Arbeit in unserer Gesellschaft. Ungerechtigkeit undAusbeutung dürfen nicht länger toleriert werden. Sie ge-hören an den Pranger gestellt.
Wir werden noch in diesem Jahr das im Koalitionsver-trag vereinbarte Entgeltgleichheitsgesetz umsetzen, liebeKolleginnen und Kollegen.
Das Motto des heutigen Equal Pay Day ist gut ge-wählt: „Transparenz – Spiel mit offenen Karten“. Das istgenau richtig; denn ein wichtiger Schritt, um unter-schiedliche Bezahlung zwischen Männern und Frauenaufzudecken, ist Transparenz. Man muss in den Betrie-ben wissen, was die Kolleginnen und Kollegen verdie-nen. Löhne und Zuschläge gehören offengelegt.
Ich bin mir sicher: Schon das würde eine Menge bewir-ken. Viele Frauen und natürlich auch Männer würdendann überhaupt erst erkennen, dass gleiche Arbeit imselben Betrieb sehr oft sehr unterschiedlich bezahlt wird.Beschäftigte hätten mit diesem Wissen eine viel bessereAusgangssituation bei Gehaltsverhandlungen. Wir for-dern deshalb: Lasst bei den Löhnen endlich die Hosenrunter!
Unser Ruf stößt in der Wirtschaft seit Jahren leiderauf taube Ohren. Wirksame Instrumente, um ungleicheBezahlung aufzudecken, gibt es schon lange, zum Bei-spiel Logib-D oder eg-check. Sie werden nur nicht ange-wandt. Deshalb muss ein Gesetz her. Wir packen es an.Danke schön.
Der abschließende Redebeitrag in dieser Debatte er-
folgt durch den einzigen Redner, was aber nicht heißt,
dass die Männer das letzte Wort haben in dieser Debatte.
– Ich erteile jetzt dem Kollegen Matthäus Strebl das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir beraten heute den Antrag der FraktionDie Linke „Gleichen Lohn für gleiche und gleichwertigeArbeit für Frauen und Männer durchsetzen“. Dass Siediesen Antrag gewissermaßen als Begleitmusik zumheutigen Equal Pay Day bringen, spricht für die be-kannte gute Dramaturgie der Linken.Das Anliegen des Antrags hört sich erst einmal gutan, und es dürfte hier im Bundestag keine Fraktion ge-ben, die der Zielsetzung „Gleicher Lohn für gleiche Ar-beit“ widerspricht. Schließlich ist das Ziel im Koali-tionsvertrag festgeschrieben und sollte entsprechendverwirklicht werden. Wie die Kollegin Hiller-Ohmschon gesagt hat: Wir werden es auch verwirklichen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. März 2015 9099
Matthäus Strebl
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Aber wie so oft steckt auch hier der Teufel nicht nurim Detail. Der vorliegende Antrag ist meines Erachtensschon deshalb mit äußerster Skepsis zu betrachten, weiler neue und teure Bürokratien mit sich bringen würde.Das würde vielleicht Arbeitsplätze im öffentlichenDienst schaffen; es würde aber den Frauen wenig helfen.Die Antragsteller verlangen unter anderem ein Gesetzzur Verbesserung der individuellen und kollektiven Kla-gemöglichkeiten bei direkter und indirekter Lohndiskri-minierung,
außerdem Gesetze zur Erweiterung der kollektiven Mit-bestimmungsrechte von Betriebs- und Personalräten unddann noch ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirt-schaft. Das sind nur einige Punkte. Erwähnen möchte ichnoch das geforderte Verbandsklagerecht, die Einsetzungeiner Entgeltgleichheitskommission und die Ausstattungder Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit Klage-recht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit solchenVorstellungen kann ich persönlich mich nicht anfreun-den.
Nachdem wir mit dem an sich begrüßenswerten Min-destlohngesetz – ich betone: begrüßenswerten Mindest-lohngesetz – schon ein Stück neue Bürokratie geschaffenhaben, würde mit den Vorstellungen der Linken ein wah-res Bürokratiemonster auf uns zurollen.
Immerhin: Wenigstens an einer Stelle werden die Tarif-vertragsparteien erwähnt, die aber durch Gesetz zumAbbau von Ungleichheiten verpflichtet werden sollen.Der Antrag ist Ausdruck eines Denkens, dem der Be-griff „mündiger Bürger“ völlig fremd ist.
Wenn es nach den Antragstellern geht, muss der Staat al-les bis ins Detail regeln. Dass er das nicht kann und auchnicht können muss, hat die jüngere deutsche Geschichtehinlänglich bewiesen.
In der Bundesrepublik Deutschland sind wir seit jehergut damit gefahren, die Tarifpartner mit einem gehörigenMaß an Kompetenz und Verantwortung auszustatten.
In gewisser Weise haben wir mit dem Mindestlohnge-setz, zu dem ich uneingeschränkt stehe, schon einen ers-ten Sündenfall begangen. Das heißt aber nicht, dass wirnun einen zweiten begehen und die Tarifpartner aus derVerantwortung entlassen. Darum geht es mir.Ohne Wenn und Aber bekenne ich mich zu dem Prin-zip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit. Aber ichmöchte nicht, dass immer und bei jeder Gelegenheitnach dem Staat gerufen wird.Schaffen wir gemeinsam ein gesellschaftlichesKlima, in dem es selbstverständlich ist, dass wederFrauen noch Männer diskriminiert und in irgendeinerWeise benachteiligt werden.
Dann müssen wir auch nicht die Schleusen für eine neueGesetzesflut öffnen. Deshalb lehnen wir diesen Antragab.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4321 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend liegen soll. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit zugleich am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 25. März 2015, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie gut und
wohlbehalten am Montag wieder hierher nach Berlin.