Protokoll:
15006

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 6

  • date_rangeDatum: 31. Oktober 2002

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 13:03 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Tagesordnungspunkt 1: Fortsetzung der Aussprache zur Regie- rungserklärung des Bundeskanzlers . . . 295 B Renate Künast, Bundesministerin BMVEL 295 B Gerda Hasselfeldt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 297 D Jella Teuchner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 A Hans-Michael Goldmann FDP . . . . . . . . . . . 301 D Matthias Weisheit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 B Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 305 C Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . . . 306 C Ulla Schmidt, Bundesministerin BMGS . . . . 308 C Horst Seehofer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 312 C Volker Kauder CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 316 C Dr. Uwe Küster SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 D Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 A Carl-Ludwig Thiele FDP . . . . . . . . . . . . . . . . 317 C Birgitt Bender BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 318 B Dr. Heinrich L. Kolb FDP . . . . . . . . . . . . . . . 320 B Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 B Gudrun Schaich-Walch SPD . . . . . . . . . . . . . 322 A Andreas Storm CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 324 C Helga Kühn-Mengel SPD . . . . . . . . . . . . . . . 326 D Dr. Dieter Thomae FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 B Markus Kurth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 329 C Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . . . . 331 B Klaus Kirschner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 A Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . 336 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 339 A Plenarprotokoll 15/6 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 6. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 31. Oktober 2002 I n h a l t : (A) (B) (C) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 6. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Oktober 2002 295 6. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 31. Oktober 2002 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    (A) (C) 338 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 6. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Oktober 2002 339 (C)(A) Blank, Renate CDU/CSU 31.10.2002 Fahrenschon, Georg CDU/CSU 31.10.2002 Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 31.10.2002 Joseph DIE GRÜNEN Haupt, Klaus FDP 31.10.2002 Kolbow, Walter SPD 31.10.2002 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 31.10.2002 Lietz, Ursula CDU/CSU 31.10.2002 Möllemann, Jürgen W. FDP 31.10.2002 Niebel, Dirk FDP 31.10.2002 Nolting, Günther FDP 31.10.2002 Friedrich Pieper, Cornelia FDP 31.10.2002 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 31.10.2002 Schauerte, Hartmut CDU/CSU 31.10.2002 Schröter, Gisela SPD 31.10.2002 Dr. Stadler, Max FDP 31.10.2002 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 31.10.2002 DIE GRÜNEN Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 31.10.2002 Margareta DIE GRÜNEN entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage zum Stenografischen Bericht Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500600000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir mit der Tagesordnung beginnen, möchte ich

mitteilen, dass heute zum letzten Mal Herr Dr. Peter
Eickenboom als Direktor beim Deutschen Bundestag
hinter mir Platz genommen hat. Er hat dieses Amt in der
vergangenen Wahlperiode, die mit der Verlegung des Sit-
zes des Parlaments nach Berlin höchste Anforderungen
stellte, mit großer Kompetenz und – wie ich finde – sehr
erfolgreich wahrgenommen. Dafür danke ich ihm persön-
lich und im Namen des Hauses.


(Beifall im ganzen Hause)

Für seine Aufgabe im Bundesministerium der Verteidi-
gung wünsche ich ihm viel Erfolg.


(Beifall im ganzen Hause)

Wir kommen nun zum einzigen Punkt unserer heutigen

Tagesordnung:
Fortsetzung der Aussprache zur Regierungs-
erklärung des Bundeskanzlers

Ich erinnere noch einmal daran, dass wir am Dienstag für
die heutige Aussprache drei Stunden beschlossen haben.
Wir beginnen die heutige Aussprache mit den Themenbe-
reichen Verbraucherschutz und Landwirtschaft. Ich
gebe das Wort an die Bundesministerin Renate Künast.

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum ist
Verbraucherschutz so wichtig? – Weil er uns alle angeht,
weil er uns alle quasi in jeder Situation des Alltags und in
fast allen Lebensbereichen betrifft.

Schauen wir uns einmal die Neuentwicklungen an. Es gibt
neue Technologien und dadurch neue Vertragsarten. Denken
Sie zum Beispiel an den E-Commerce, wobei ich wetten
möchte, dass ein Großteil der Mitglieder dieses Hauses das
Medium E-Commerce überhaupt noch nicht genutzt hat.


(Gudrun Kopp [FDP]: Doch!)


– Natürlich ruft irgendwo einer „Doch!“, Frau Kopp. Das
glaube ich sofort. Dies ist auch keine Abwertung. Aber
noch nicht einmal 30 Prozent der Menschen nutzt dieses
Medium.

Was bedeutet das? Der Großteil der Menschen weiß
gar nicht, wie die Vertragspartner dabei aussehen. Der
Vertragspartner hat dabei gar kein persönliches Gesicht
mehr. Die Vertragsgestaltung wird immer unübersichtli-
cher und komplizierter. Plötzlich stellt sich dem Verbrau-
cher dann die Frage, wie er bloß in die Situation gekom-
men ist, finanzielle Verpflichtungen einzugehen, die jeden
Rahmen sprengen. Habe ich überhaupt gewusst, dass ich
einen Vertrag abschließe? Habe ich überhaupt ausrei-
chend Informationen über die Vertragsgestaltung gehabt?

Gerade mit Blick auf die neuen Vertragsarten, auf die
neuen Technologien heißt Verbraucherschutzpolitik, die
Menschen vor finanziellen Schäden und vor Täuschung
zu schützen, indem man einen rechtlichen Rahmen setzt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


– Ich sehe, die CDU zeigt der Aufforderung der Frak-
tionsvorsitzenden entsprechend jetzt auch Interesse an
dem Thema Verbraucherschutz,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


weil sie gemerkt hat, dass in den Städten Verbraucher
wohnen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Auf dem Land auch!)


– Auf dem Land auch. Sehen Sie, ich merke, bei Ihnen
gibt es einen richtigen Erkenntnisschub.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wie bei Ihnen! Auch Sie wissen jetzt, was ein Schwein ist!)


Ich habe immer schon und auch in der letzten Legisla-
turperiode gesagt: Auch Bauern sind Verbraucher, zum Bei-
spiel wenn sie Saatgut kaufen. Gut, dass auch Sie es merken.

Einer der brisantesten Punkte im Bereich Verbraucher-
schutz ist für uns immer noch das Thema Gesundheit.




Bundesministerin Renate Künast
Manchmal steht nämlich auch die Gesundheit von Men-
schen auf dem Spiel. Hier geht es um Sicherheit. Für uns
wird es immer heißen – das bekräftigen wir auch jetzt –:
Der Schutz der Gesundheit hat Priorität vor wirtschaftli-
chen Interessen Einzelner.

Was steht in dieser Legislaturperiode an? Als Erstes
wieder das Verbraucherinformationsgesetz. Wir wer-
den es neu einbringen, weil die Menschen ein Recht da-
rauf haben, zu wissen, was enthalten ist: in den Verträgen,
in allen Produkten, die sie kaufen, und in den Dienstleis-
tungen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wüssten wir auch gern bei der Koalitionsvereinbarung!)


Wir wollen, dass die Verbraucher von den Behörden
über konkrete Gefahren informiert werden. Wir meinen
auch, dass die Wirtschaft an dieser Stelle ein verlässlicher
Partner werden und Auskünfte geben muss. Wir sind uns
auf jeden Fall sicher, dass wir nicht mehr im Mittelalter
leben und man Informationen vor der Bevölkerung nicht
quasi geheim halten muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie die FDP zum Beispiel!)


Zum Thema Sicherheit gehört auch das Produkt-
sicherheitsgesetz. Produkte müssen grundsätzlich Min-
destanforderungen an Sicherheit einhalten. Deshalb gibt
es hier jede Menge Regelungsbedarf. Ich nenne ein Bei-
spiel, das Sie alle aus den Zeitungen kennen und das nach-
gerade kurios erscheint: die Kordeln an Kinderjacken, die
immer wieder, wenn sie zum Beispiel mit nicht entspre-
chend gebauten Geräten auf Kinderspielplätzen zusam-
menkommen, im wahrsten Sinne des Wortes zu Lebens-
gefahr führen. Daran erkennt man, dass ein Begriff wie
Produktsicherheitsgesetz im Lebensalltag von Bedeutung
sein kann.

Wir haben uns in der Koalition darauf verständigt, in
dieser Legislaturperiode die Aufgaben in einem Aktions-
plan Verbraucherschutz zusammenzufassen, um ganz klar
zu sagen, welche Details wir in den nächsten vier Jahren
regeln wollen. Wir werden den Verbraucherschutz durch
einen regelmäßigen Fortschrittsbericht auch immer wie-
der hier zum Thema machen – zum Schutze der Verbrau-
cher.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ist längst klar, was erste Punkte eines solchen Akti-
onsplanes sein werden, bei denen akuter Handlungsbedarf
besteht. Fangen wir mit dem Bereich Telekommunika-
tion an. Hier geht es vor allem darum, die neuen Miss-
brauchstatbestände anzugehen. Technische Neuerungen
führen zu mehr Missbrauchsmöglichkeiten. Lock-Anrufe
oder -SMS im Mobilfunk fordern zur Benutzung von
0190-Nummern oder auch zu kostenpflichtigen Rückge-
sprächen auf. Das trifft am Ende nicht nur die Privathaus-
halte, sondern oftmals auch den Mittelstand.

Im Wettbewerbsrecht geht es um das UWG. Es braucht
eine grundlegende Reform. Zum Beispiel werden die Ver-
braucher in Zukunft nicht nur zweimal im Jahr die Mög-

lichkeit haben, Rabatte zu genießen, sondern das ganze
Jahr über. Dann muss das Ganze aber so gestaltet werden,
dass nicht unter Einkaufspreis verkauft wird. Sonst
könnte der Mittelstand am Ende überhaupt nicht mithal-
ten und dort gingen Arbeitsplätze verloren. Auch hier wer-
den wir tätig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Bereich der Finanzdienstleistungen ist ein weite-
rer wichtiger Punkt. Täglich werden in erheblichem Um-
fange Versicherungen zu Bedingungen abgeschlossen, die
von den Versicherungsnehmern am Ende gar nicht erfüllt
werden können. Wir werden die Anbieter zu verbesserter
Beratung verpflichten. Wir brauchen Rücktrittsrechte und
Schadensersatzansprüche, wenn die Anbieter ihren
Pflichten nicht nachgekommen sind.

Meine Damen und Herren, Verbraucherschutz braucht
eine feste Verankerung im öffentlichen Bewusstsein. Wir
brauchen Verbraucher, die klugen Konsum praktizieren
können. Deshalb werden Aufklärung, Information und
Beratung von Verbrauchern für uns ein Thema sein. Sie
alle kennen die Frage, wie Produkte, zum Beispiel Le-
bensmittel, überhaupt hergestellt worden sind. Jeder
möchte gerne wissen, ob hinter einem Kakao oder einem
Teppich Kinderarbeit steckt. Genau das werden wir erfül-
len.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das bedeutet – das sage ich ganz klar – für die einheimi-
sche Wirtschaft kein Problem, sondern einen Standort-
vorteil, da sie davon profitiert, dass die Verbraucher diese
Produkte nicht kaufen.

Früher hat man die Ersten bestaunt, die Umweltver-
packungen für Joghurt wählten. Heute ist das selbstver-
ständlich. Ich glaube, es wird in einigen Jahren auch
selbstverständlich sein, dass Verbraucherschutz und Ver-
braucherinformation zum Image einer Firma gehören.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


425 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher in
der EU wollen, dass ihre Interessen wahrgenommen wer-
den. Sie wollen und werden ihre Macht entsprechend ein-
setzen. Wir wollen in Europa federführend in Sachen Ver-
braucherschutz sein. Wir sehen ganz klar, dass auch die
Kommission und das Europäische Parlament den Ver-
braucherschutz ganz vorn auf ihre Arbeitslisten schreiben.
Wir haben das Grünbuch Verbraucherschutz. Die
Kommission hat für das nächste Jahr konkrete Vorschläge
für den Bereich Finanzdienstleistungen angekündigt. Da
wollen wir nicht hinten sein.

Wenn wir schon einmal bei dem Thema des großen Eu-
ropas und der Brüsseler Entscheidungen sind, können wir
auch gleich auf die wichtige Brüsseler Entscheidung aus
der letzten Woche zur Erweiterung und zur Finanzierung
dieser Erweiterung der Europäischen Union zu sprechen
kommen. Damit wurde eine verlässliche Entscheidung
über die Frage der Finanzierung des Agrarbereichs ge-
troffen. Wir wissen nun, welche Mittel hierfür zur Verfü-


(A)



(B)



(C)



(D)


296


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(B)



(C)



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gung stehen werden. 2006 werden dies 45,3 Milliarden
Euro sein, 2013 48,5 Milliarden Euro. Nachdem das ent-
schieden wurde und wir nicht mehr immer nur über Fi-
nanzen reden müssen, ist der Kopf endlich frei, um über
die ganz konkreten Reformen nachzudenken, die im
Agrarbereich nötig sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich freue mich, dass Kommissar Fischler gesagt hat, er
werde seine Vorschläge in Form einer Gesetzesvorlage
Ende des Jahres vorlegen. Ich stimme ihm darin aus-
drücklich zu. Wir haben auch in der Koalition vereinbart,
die gemeinsame Agrarpolitik auf europäischer Ebene wei-
terzuentwickeln. Dabei dürfen wir keine Zeit verlieren.

In der Marktpolitik haben wir die Situation, dass alte
Regelungen von Zahlungen an Landwirte auslaufen wer-
den. Sie werden auch bei der WTO keine Verlängerung
finden. Das heißt, man muss den Landwirten zeigen, wo
es in Zukunft langgeht und welche Regeln gelten werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen eine
Förderung des ländlichen Raums. Das heißt aber nicht,
dass nur die Bauern gefördert werden. Manche begreifen
das gerne als abgeschlossenen Bereich. Es geht vielmehr
darum, lebensfähige Infrastrukturen auf dem Lande zu
schaffen. Die ländlichen Räume müssen so attraktiv wer-
den, dass dort Arbeitsplätze entstehen, und zwar sowohl
im konkreten Bereich Landwirtschaft als auch in benach-
barten Bereichen, ob das nun der Bereich Energie oder
Tourismus ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir brauchen deshalb die Modulation – Fischler wird
dazu Vorschläge machen –, weil 80 Prozent der Fläche der
Bundesrepublik land- und forstwirtschaftlich bearbeitet
werden.

Wir brauchen aber auch deshalb Reformen, weil im
September nächsten Jahres WTO-Verhandlungen in Can-
cun in Mexiko anstehen. Dort wird es darum gehen, alte
handelsverzerrende Wirkungen von Direktzahlungen
abzubauen. Gerade deshalb ist es gut und richtig, dass
Kommissar Fischler vorgeschlagen hat, die Direktzahlun-
gen zu entkoppeln; denn nur Direktzahlungen, die von der
Produktionsmenge entkoppelt sind, werden die nächsten
WTO-Verhandlungen überleben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wissen, dass dahinter aber noch ein anderer Aspekt
steht, der mit globaler Gerechtigkeit zu tun hat: Für das
Überleben der Landwirtschaft in der EU und in Deutsch-
land ist es wichtig, der nächsten WTO-Runde zu einem
Erfolg zu verhelfen. Wir wollen, dass im ländlichen Raum
für die Landwirtschaft Zukunft besteht. Wir wollen aber
auch, dass Menschen in anderen Ländern leben können
und nicht wir auf ihre Kosten leben und sie von großen
Konzernen ausgepresst werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Schon allein deshalb ist es also richtig, dass wir uns da-
rum bemühen, dass die nächste WTO-Runde für uns, für
die Entwicklungsländer sowie für den Umwelt-, den Tier-
und den Verbraucherschutz ein Erfolg wird.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir haben in dieser Koalition vereinbart, dass bei der
Konsolidierung des Haushaltes – dieser Zwang besteht ja –
auch die Landwirtschaft mitmacht. Es werden zum Bei-
spiel die ermäßigten Steuersätze abgeschafft. Auch die
Privilegien müssen weg. Wir werden gleichzeitig aber
auch die nötigen Spielräume für nachhaltige Landnutzung
und artgerechte Tierhaltung schaffen und halten. Das hat
Bestand auch vor der WTO. Wir werden mit dem Ak-
tionsprogramm Ökologischer Landbau weitermachen und
mit einem Aktionsprogramm Bäuerliche Landwirtschaft.

Ich bitte Sie alle, folgenden Punkt zu sehen. Wir reden
bei der Landwirtschaft nicht über einen abgeschlossenen
Bereich. Wir reden hier vielmehr über den gesamten Be-
reich Landwirtschaft, der auch die Lebensmittel- und
Ernährungsindustrie umfasst. Lebensmittel führen wir
täglich unserem Körper zu. Deren Qualität entscheidet
über unsere Gesundheit. Darüber hinaus findet sich in die-
sem Bereich jeder neunte Arbeitsplatz in der Bundesrepu-
blik Deutschland. Deswegen ist es sinnvoll, dass sich das
ganze Haus um den Agrarbereich kümmert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500600100

Ich erteile das Wort der Kollegin Gerda Hasselfeldt,

CDU/CSU-Fraktion.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1500600200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wähler-

täuschung geht auch in der Landwirtschaft munter weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)

In der Koalitionsvereinbarung ist noch großspurig die
Rede von einer Stärkung der Leistungs- und Wettbe-
werbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe. Ich
habe deshalb nachgesehen und danach gesucht, wo etwas
über die Maßnahmen zur Stärkung zu finden ist. Ich habe
leider nichts gefunden. Das Gegenteil ist vielmehr der
Fall. Man findet Aussagen über zusätzliche Steuerbelas-
tungen, über zusätzlichen bürokratischen Aufwand und
damit verbundene zusätzliche Kosten für die landwirt-
schaftlichen Betriebe und Aussagen über nationale Al-
leingänge, insbesondere im Verbraucherbereich. Meine
Damen und Herren, das ist keine Verbesserung, sondern
eine Verschlechterung der Bedingungen für die Landwirt-
schaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nun ist zu fragen, wo da denn die Stimme der Land-

wirtschaftsministerin ist. Wo ist die Stimme derjenigen,
die nicht nur für diesen Berufsstand, sondern auch für die
Entwicklung der ländlichen Räume, der landwirtschaftli-

Bundesministerin Renate Künast




Gerda Hasselfeldt
chen Betriebe, der Infrastruktur usw. in diesem Land ver-
antwortlich ist?


(Albert Deß [CDU/CSU]: Sie verhöhnt die Bauern doch!)


Frau Künast, ich empfehle Ihnen, dass Sie sich ein
Beispiel an Frankreich nehmen. Vom Staatspräsidenten
über den Landwirtschaftsminister bis in zahlreiche Poli-
tikbereiche hinein ist dort zu erkennen, dass man auf die
Landwirtschaft stolz ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei uns im Land tut die Regierung hingegen alles, um das
Bauernsterben zu beschleunigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!)


Die deutschen Landwirte hatten Glück, dass der fran-
zösische Staatspräsident bei den Agrarverhandlungen am
letzten Wochenende auf die volle Laufzeit der Agenda-
2000-Beschlüsse pochte. Frau Ministerin, wenn es nach
Ihnen und dem deutschen Bundeskanzler gegangen wäre,
hätten die deutschen Landwirte keine Planungssicherheit
bis zum Jahr 2006 bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es war schon ein peinlicher Auftritt des Bundeskanz-

lers: Zwei Staatsmänner einigten sich auf die Deckelung
der Agrarausgaben. Doch nach der Einigung wusste der
deutsche Bundeskanzler nicht, auf was sie sich eigentlich
verständigt hatten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist nichts Neues!)


Ich empfehle dem Bundeskanzler, dass er künftig nicht
nur Dolmetscher, sondern auch Fachleute mitnimmt und
dass er sich vor allem auf solche Gespräche besser vorbe-
reitet; ein Aktenstudium wäre nicht das Verkehrteste.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Albert Deß [CDU/CSU]: Gerhard Nebel!)


Bis 2006 haben die Landwirte nun Planungssicherheit.
Sie haben aber auch die Gewissheit, dass die Direktzah-
lungen ab 2007 – nach der Erweiterung – sinken werden.
Deshalb wäre es richtig, die nationalen Belastungen, die
den Landwirten in den vergangenen Jahren durch die na-
tionalen Alleingänge Ihrer rot-grünen Regierung aufge-
bürdet wurden, wieder zurückzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500600300

Kollegin Hasselfeldt, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Höfken?


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1500600400

Ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie schade!)


Wir sollten jetzt die Zeit nutzen, um die Reformen ab
2006 vorzubereiten, damit die Landwirte wissen, was sie
ab 2006 bzw. 2007 erwartet. Die Pläne von Kommissar
Fischler – Frau Ministerin hat es vorhin angesprochen –
lassen noch viele Fragen offen, beispielsweise wie die be-
triebsbezogenen Prämien ausgestaltet werden. Wir sind
für alle Diskussionen offen. Klar muss aber auch sein,
dass von Anfang an eine Diskussion stattfinden muss,
durch die die Konsequenzen für alle offen gelegt werden
und durch die sichergestellt wird, dass das Geld für die Di-
rektbeihilfen nicht irgendwo bei Infrastrukturmaßnah-
men, sondern tatsächlich bei den Wirtschaftenden landet.

Nun will ich auf das eingehen, was insbesondere die
Landwirte ab dem nächsten Jahr zu erwarten haben. Frau
Künast, das habe ich bei Ihrer Rede vermisst. Mit einem
Halbsatz haben Sie die steuerlichen Bedingungen, auf die
sich die Landwirte künftig einzustellen haben, erwähnt. Das
ist Gegenstand Ihrer Koalitionsvereinbarung. Die Land-
wirte, die Bauern, in unserem Land haben ein Recht darauf,
zu wissen, was tatsächlich darin steht, so, wie die Ver-
braucher ein Recht darauf haben – das haben Sie eben in
Bezug auf das Verbraucherinformationsgesetz gesagt –,
zu wissen, was auf sie zukommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das will ich ihnen jetzt sagen. Sie wollen die Vorsteuer-

pauschale, die es seit 1968 gibt, abschaffen. Von dieser
Maßnahme sind etwa 90 Prozent aller Landwirte betrof-
fen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Mehr Bürokratie!)

Diese Möglichkeit der Umsatzsteuerpauschalierung er-

möglicht es den Landwirten, auf umfangreiche Aufzeich-
nungs- und Abgabepflichten zu verzichten; sie bringt eine
Verwaltungsersparnis und sie ist einfach zu handhaben. Mit
Ihrer Regelung, also der Abschaffung der Pauschalierung,
verursachen Sie enormen zusätzlichen Verwaltungsauf-
wand und Kosten für die Landwirte, ganz zu schweigen von
den Kosten und dem Verwaltungsaufwand der Finanzämter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es sind überwiegend kleine Landwirte. Sie müssen

sich vorstellen, wie diese Maßnahme die Landwirte trifft.
Manche arbeiten den ganzen Tag draußen auf dem Feld
und im Stall. Die anderen, die außerlandwirtschaftlich ar-
beiten, müssen die Arbeiten in der Landwirtschaft abends
– bis 22 Uhr oder 23 Uhr – erledigen. Und dann sollen sie
sich noch hinsetzen, alles aufzeichnen und ihre Abgaben-
pflichten erfüllen. Sie haben offensichtlich keine Ahnung,
wie es in kleinen landwirtschaftlichen Betrieben zugeht;
sonst würden Sie das nicht machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich komme zur zweitenMaßnahme, derAbschaffung der

pauschalen Gewinnermittlung bei der Einkommensteuer.
Auch diese Maßnahme trifft insbesondere die kleinen Be-
triebe.Siehabensieohnehinschon1999eingeschränkt. Jetzt
profitieren davon nur noch die ganz kleinen Betriebe.Auch
dies ist ein zusätzlicher Aufwand mit zusätzlicher Buch-
führung und zusätzlichenKosten für den Steuerberater.


(Matthias Weisheit [SPD]: Theo Waigel hat es gemacht!)



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(B)



(C)



(D)






– Nein, das haben Sie gemacht.
Nun hat der Wirtschaftsminister gestern von einem

Masterplan für Bürokratieabbau gesprochen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Kreieren von schönen, wohlklingenden Worten sind
die Kameraden groß. Aber wenn es darum geht, tatsäch-
lich Maßnahmen zu ergreifen, die Bürokratie wirklich ab-
zubauen, dann ist nichts mehr da. Sie brauchen bloß diese
beiden Maßnahmen nicht umzusetzen, dann haben Sie
schon einen Bürokratieabbau par excellence.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie sehen weitere Maßnahmen wie die Streichung des

ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Vorprodukte und
für Gartenbauerzeugnisse vor. Meine Damen und Herren,
das ist nichts anderes als eine Steuererhöhung, und zwar
von 7 auf wohlgemerkt 16 Prozent.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das kann man nicht einfach mit einem halben Satz abtun,
wie Sie das gemacht haben. Hinzu kommen Verschlechte-
rungen der Abschreibungsbedingungen und vieles mehr.

Fast ein Viertel des gesamten Aufkommens aus dem
Einsparvolumen erbringt die Landwirtschaft. Wo war
denn das Wort der Ministerin bei den Koalitionsverhand-
lungen? Davon ist nichts zu spüren. Das ist ein Schlag ins
Gesicht der Landwirte, wie man ihn sich schlimmer nicht
vorstellen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Ministerin hat heute wohlklingende Worte zur Be-

deutung des Verbraucherschutzes gesprochen. Ich habe
erwartet, dass Sie endlich ein schlüssiges Konzept vor-
legt. Dagegen spricht sie von einem Aktionsplan für den
Verbraucherschutz. Das ist schön und klingt gut. Die
Überschriften sind alle gelungen. Aber die Probleme, die
Sie angesprochen haben, Frau Künast, sind nicht neu. Wir
haben sie auch schon in den letzten Jahren gehabt. Damals
haben Sie sich nicht darum gekümmert. Vielleicht ist auch
deshalb die von Ihnen angestrebte Kompetenzverlage-
rung von den anderen Ressorts in Ihr Ressort nicht er-
folgt, weil bisher keine schlüssige Programmatik für den
Verbraucherschutz erkennbar war.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Sie täuscht doch Verbraucherschutz nur vor!)


Verbraucherschutz muss umfassend wahrgenommen
werden, und zwar von der gesundheitlichen über die
rechtliche bis hin zur wirtschaftlichen Ebene.


(Zuruf von der SPD: Das machen wir doch! – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden wir bei Ihnen sehen!)


Es gibt eine ganze Menge von Problemen. Warum haben
Sie sie denn nicht angepackt? Wissen Sie, was Sie in der
Vergangenheit gemacht haben und was Sie gerade wieder
machen? Ein reines Katastrophen-Hopping, aber keine
grundsätzliche Lösung der Probleme.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist hier jenseits von gut und böse!)


Sie sprachen von den Finanzdienstleistungen, an die
Sie jetzt herangehen wollen. Sie hatten in der letzten Le-
gislaturperiode die Chance, beispielsweise beim Vierten
Finanzmarktförderungsgesetz den Anlegerschutz zu ver-
bessern. Wir haben es angeregt und beantragt. Sie haben
das nicht gemacht.

Bei der so genannten Riester-Rente haben wir jetzt das
gleiche Problem. Wenn dieses groß angelegte und groß
verkündete Produkt einer kapitalgedeckten Altersvor-
sorge, die zwingend notwendig ist, von nur 11 Prozent der
Förderberechtigten in Anspruch genommen wird, dann
wird doch schon deutlich, dass damit etwas nicht stimmt.
Nun darf man aber nicht im Nachhinein mit ordnungs-
rechtlichen Maßnahmen dagegen ankämpfen, sondern
das hätte man schon im Vorfeld machen müssen. Ver-
braucherschutz setzt nicht erst mit ordnungsrechtlichen
Maßnahmen im Nachhinein ein, sondern Verbraucher-
schutz beginnt schon bei der Gesetzgebung in jedem Ein-
zelfall. Dort muss der Verbraucherschutz gewahrt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben in der Koalitionsvereinbarung vergeblich

danach gesucht, wie nun die Lebensmittelsicherheit im
Land verbessert werden soll. Dies wird landauf, landab
immer wieder proklamiert. Es wird mehrmals und immer
wieder versprochen. Von Brüssel wird es immer wieder
angemahnt und kritisiert. Warum machen Sie eigentlich
nichts? Warum sorgen Sie nicht für bundeseinheitliche
Durchführungsbestimmungen im Lebensmittelrecht?

Stattdessen machen Sie ständig nationale Alleingänge,
von denen die Verbraucher nichts haben, die aber den deut-
schen Landwirten in besonderer Weise Nachteile bringen.
Beispielsweise darf Obst, das in Südeuropa mit Pflanzen-
schutzmitteln behandelt wird, die Sie in Deutschland ver-
boten haben, trotzdem in Deutschland verkauft werden.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: So ist es!)


Welchen Vorteil das für die Verbraucher haben soll, ver-
mag ich nicht zu erkennen. Deutlich erkennbar ist aber,
dass es zum Nachteil der deutschen Landwirtschaft ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unser Ziel muss sein, weg von den nationalen Allein-

gängen hin zu EU-weit harmonisierten Bedingungen zu
kommen.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach nee! – Gegenruf des Abg. CarlLudwig Thiele [FDP]: Ach ja!)


Mit Ihren nationalen Alleingängen treten Sie die Interes-
sen der deutschen Landwirtschaft mit Füßen. Mit diesem
Weg der ständigen nationalen Alleingänge weg von den
EU-weiten Harmonisierungsbedingungen werden Sie Ih-
rer Verantwortung als Ministerin für die deutsche Land-
wirtschaft nicht gerecht.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500600500

Ich erteile der Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion,

das Wort.

Gerda Hasselfeldt






Jella Teuchner (SPD):
Rede ID: ID1500600600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor vier Jah-

ren hat an dieser Stelle der Aussprache zur Regierungser-
klärung


(Albert Deß [CDU/CSU]: Ein Landwirtschaftsminister gesprochen!)


noch eine reine Agrardebatte stattgefunden. Heute hat kein
Agrarminister, sondern unsere Ministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft gesprochen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Funke hat ja gesagt, dass er von dieser Ministerin nichts hält!)


Allerdings gehört Ihr Redebeitrag, Frau Hasselfeldt,
eher in eine Agrardebatte; denn was Sie zum Verbrau-
cherschutz ausgeführt haben, ist in einigen Teilen bereits
umgesetzt worden und stimmt in weiten Teilen nicht mit
dem überein, was Sie in der vergangenen Wahlperiode
versprochen haben.


(Beifall bei der SPD)

Dass Ihr designierter Landwirtschaftsminister, der in

der vergangenen Legislaturperiode Ausschussvorsitzen-
der war, mit der Forderung durch die Lande reist, dass die
bei uns verbotenen Pflanzenschutzmittel zugelassen
werden sollen,


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist doch gelogen! – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das hat er doch gar nicht gesagt!)


um gleiche Bedingungen im Handel zu schaffen, zeigt,
dass diese Diskussion an den Tatsachen vorbeiführt. Mit
einer ordnungsgemäßen Landwirtschaft hat das in keiner
Weise zu tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nichtsdestotrotz stehen in dieser Diskussion die
Auswirkungen der Osterweiterung für die Landwirtschaft
ebenso wie die Stellung der Verbraucher und der Gesund-
heitsschutz auf der Tagesordnung.

Es war die BSE-Krise, die zur Folge hatte, dass aus dem
Landwirtschaftsministerium ein Verbraucherministerium
wurde. Deswegen blieben in der vergangenen Legislaturpe-
riode leider nur zwei Jahre zur Durchsetzung der Verbrau-
cherinteressen. Die Aufgaben beschränken sich allerdings
nicht nur auf den gesundheitlichen Verbraucherschutz, son-
dern die Verbraucher haben eine Stimme bekommen, die die
deutliche Aufwertung des Verbraucherschutzes im Koaliti-
onsvertrag erst möglich gemacht hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Verbraucherpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Das
haben wir in den vergangenen Jahren im Bundestag auch
immer wieder zum Ausdruck gebracht. Wir handeln, und
räumen dem Verbraucherministerium die dafür erforder-
lichen Kompetenzen ein: ein ressortübergreifendes Initia-
tivrecht für Angelegenheiten von verbraucherpolitischer
Bedeutung.

Die Verbraucherpolitik wird nicht mehr von verschie-
denen Ressorts mitbehandelt, sondern dieser Bereich wird
nun selbstständig gestaltet. Auch das haben Sie offenbar
dem Koalitionsvertrag so nicht entnehmen können, Frau
Hasselfeldt.

Wir packen aber in den nächsten vier Jahren weit mehr
als die Sicherstellung der Produktion und des Vetriebs ge-
sunder Lebensmittel an. Es geht darum, die Verbraucher-
rechte auch hinsichtlich der Sicherheit, Information und
Wahlfreiheit zu stärken und diese Rechte international
durchzusetzen. Wir sind uns darin einig, dass internatio-
nale Regelungen erforderlich sind.

Ziel ist, dass sich Anbieter und Kunden auf gleicher
Augenhöhe gegenüberstehen und dass Verbraucher Ent-
scheidungen bewusst treffen können und vor missbräuch-
lichen Praktiken geschützt werden.

Der Verbraucher soll seine Kaufentscheidungen be-
wusst und eigenverantwortlich treffen. Die Grundlagen
dafür sind zum einen verlässliche Verbraucherinformatio-
nen über die Eigenschaften von Produkten und zum an-
deren Mindeststandards in Bezug auf Sicherheit, Haftung
und Gewährleistung. Wir wollen den Verbraucher nicht an
der Hand durch das Leben führen. Wir wollen dem Ver-
braucher vielmehr die Möglichkeit geben, loszulassen
und eigenständig zu handeln. Dies muss sich auch in den
Diskussionen über das Wettbewerbsrecht widerspiegeln,
sei es in der von der Kommission angestoßenen Diskus-
sion über das Grünbuch Verbraucherschutz oder in der
Diskussion über die Novellierung des UWG. Das Gesetz
gegen den unlauteren Wettbewerb werden wir deshalb
auch im Hinblick auf einen effektiven Verbraucherschutz
überarbeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein hohes Verbraucherschutzniveau und einen fairen
Umgang mit dem Kunden sehen wir dabei nicht als Be-
lastung für die Wirtschaft an. Gerade im Onlinehandel
sind doch Transparenz und Investitionen in sichere Zah-
lungsmöglichkeiten die Grundvoraussetzungen für den
Erfolg eines Unternehmens. Wir sehen deshalb im Ver-
braucherschutz eine Chance und vor allem auch einen
Standortvorteil für die Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir erleben, dass Eigeninitiative – zum Teil auch von
der Politik angestoßen – oft staatliches Handeln ergänzt
und dass gleichzeitig durch das Zusammenwachsen
Europas ein breiteres, aber auch unübersichtlicheres An-
gebot an Dienstleistungen und Waren entsteht. Die private
Altersvorsorge gewinnt deshalb genauso an Bedeutung
wie die verschiedensten Angebote zur Aus- und Weiter-
bildung. Auch hier braucht der Verbraucher verlässliche
Informationen und Kriterien, anhand derer er die Qualität
einschätzen kann. Wir wollen deshalb einen Schwerpunkt
in der Verbraucherpolitik im Bereich der Dienstleis-
tungen setzen. Verbraucher sollen vor Fehlinformationen
über Produkte, Verträge und Dienstleistungen geschützt
werden und gegebenenfalls das Recht auf Schadenser-
satzansprüche erhalten. Vor allem bei den Finanzdienst-


(A)



(B)



(C)



(D)


300


(A)



(B)



(C)



(D)






leistungen wollen wir aussagekräftige Informationen und
eine verlässliche Beratung sicherstellen. Sicherungsfonds
können Insolvenzrisiken abfangen. Das Versicherungs-
vertragsrecht, das Telekommunikationsrecht und der Ver-
braucherschutz beim Eigenheimkauf oder -bau sind wei-
tere Stichworte zu diesem Schwerpunkt.

Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir be-
schlossen, dass wir eine Qualitätsoffensive für den öf-
fentlichen Personenverkehr initiieren und eine umfas-
sende Bestandsaufnahme vorlegen wollen. Wir wollen,
dass, von den Verbesserungen der letzten Legislaturperi-
ode ausgehend, geprüft wird, wo weitere rechtliche Maß-
nahmen notwendig und möglich sind. Die Verbesserung
der haftungsrechtlichen Situation von Fahrgästen bei
mangelnder Leistung und die Einrichtung von unabhän-
gigen Schlichtungsstellen sind zwei der Eckpunkte, die
bei dieser Bestandsaufnahme berücksichtigt werden müs-
sen. Weitere sind die Harmonisierung der Vorschriften
zwischen den Verkehrssystemen und zwischen den
EU-Mitgliedstaaten sowie die Bereitstellung von Fahr-
planauskünften auch über die Angebote konkurrierender
Unternehmen.

Verstärkt beachten müssen wir auch den Verbraucher-
schutz gerade im Hinblick auf Kinder. Wir müssen si-
cherstellen, dass von Spielzeug oder Kinderbekleidung
keine Gefahr für Kinder ausgeht und dass bei der Fest-
legung von Grenzwerten die Wirkungen auf Kinder
berücksichtigt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erst im Juni dieses Jahres hat der Erste Senat des Bun-
desverfassungsgerichts die Zulässigkeit staatlicher Ver-
braucherinformation bejaht. In der Presseerklärung des
Bundesverfassungsgerichts heißt es:

Aktuelle Krisen im Agrar- und Lebensmittelbereich
zeigen beispielhaft, wie wichtig öffentlich zugäng-
liche, mit der Autorität der Regierung versehene In-
formationen zur Bewältigung solcher Situationen
sind.

Das sehen wir genauso. Wir werden deshalb in dieser Le-
gislaturperiode mit einem Verbraucherinformations-
gesetz die Informationsrechte gegenüber Behörden und
Anbietern nachhaltig verbessern. Als Anfang dieses Jah-
res Schinkenprodukte auftauchten, die zu viel Wasser
enthielten, konnten die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher nicht feststellen, ob in ihrem Einkaufswagen Schin-
ken oder Wasser liegt. Eine Gesundheitsgefährdung lag
nicht vor. Ross und Reiter durften von den Behörden
nicht genannt werden. Die bisherige Rechtslage nimmt
den Kunden die Wahlfreiheit und schützt die Anbieter,
die täuschen und tricksen. Das soll in Zukunft anders
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit dem Verbraucherinformationsgesetz hätten die
Kunden in Zukunft nicht mehr nur die Wahl zwischen
„Schinken“ oder „kein Schinken“. Sie würden wissen,
wer zu viel Wasser in den Schinken spritzt, und könnten

von Anbietern kaufen, die fair mit ihren Kunden umge-
hen. Wir wollen den Kunden diese Wahlfreiheit geben und
die Anbieter schützen, die weder täuschen noch tricksen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir haben doch eine Regierung, die täuscht und trickst!)


Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, diesen Weg mit uns zu gehen. Der Wahlkampf ist
vorbei. Jetzt können Sie zeigen, ob Sie den Verbrauchern
marktbezogene Informationen zur Verfügung stellen oder
weiterhin die schwarzen Schafe schützen wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Verbraucherpolitik ist für viele eine Angelegenheit des
Gefühls. Es geht zum Teil um Entscheidungen, die für den
Einzelnen und auch für dessen Familie eine große Bedeu-
tung haben: Wie finanziere ich meine Rente? Kann ich das
Haus wirklich finanzieren?


(Zuruf von der CDU/CSU: Eigenheimzulage! Ja, ja!)


Sind die Lebensmittel wirklich gesund? Es geht um Ent-
scheidungen zu Bereichen, die vom Einzelnen nicht kom-
plett überblickt werden können,


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist das! Von der Regierung auch nicht!)


Entscheidungen, zu denen verlässliche Informationen not-
wendig sind.

Verbraucherpolitik stellt für uns die Leitplanke dar, die
dafür sorgt, dass der Einzelne seine Entscheidungen be-
wusst und eigenverantwortlich treffen kann. Unsere Auf-
gabe ist es, über Mindeststandards, Kontrollen und Infor-
mationen die Grundlagen für die Gleichberechtigung
von Käufer und Anbieter zu legen. Auf dieser Grund-
lage können die Verbraucher und Verbraucherinnen ihre
Kaufentscheidungen so treffen, dass ihre Interessen und
die Interessen ihrer Familien gewahrt bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dafür steht unser Koalitionsvertrag. Vor allem das werden
wir in den nächsten vier Jahren umsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500600700

Ich erteile dem Kollegen Hans Goldmann, FDP, das

Wort.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1500600800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Als ich heute morgen „Frühstücksfernsehen“
guckte, hörte ich, dass wir heute über Verbraucherschutz
und Gesundheit sprechen. Ich habe mich darüber eigent-
lich gefreut, habe mich aber gleichzeitig darüber geärgert,
dass der traditionelle und leistungsfähige Bereich der
Agrar- und Ernährungswirtschaft, aber auch zum

Jella Teuchner




Hans-Michael Goldmann
Beispiel der Bereich der Gentechnikmit keinem Wort er-
wähnt wurden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Da ich, wie Sie vielleicht wissen, aus dem Bereich der
Ernährungswirtschaft, aus dem Bereich der Tiermedizin
komme, bin ich ein bisschen sauer darüber, dass dieser
im guten Sinne absolute Hochtechnologiebereich der Ag-
rar- und Lebensmittelwirtschaft – weltweit gilt: deutsche
Agrarprodukte sind im weltweiten Wettbewerb absolute
Hochqualitätsprodukte – so hinten runterfällt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Da ich aus Niedersachsen komme, weiß ich in punkto

Arbeitsplätze, in punkto Investitionen und in punkto In-
frastruktur im ländlichen Raum auch, wovon ich spreche.
Deshalb bin ich traurig darüber, dass alles von dem heh-
ren und wichtigen Ziel „Verbraucherschutz, Verbraucher-
schutz, Verbraucherschutz“ überlagert wird. Liebe Frau
Künast, ohne ein gute Lebensmittelwirtschaft, ohne eine
fachgerechte Agrarwirtschaft werden Sie in diesen sehr
wichtigen, die Menschen tief berührenden Bereichen kei-
nen Verbraucherschutz realisieren. Es geht hier nicht im
Gegeneinander, sondern es geht hier nur in einem ver-
nünftigen Miteinander der verschiedenen Beteiligten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Künast, liebe Kollegen von Rot-Grün, die Politik
gegen die Bauern, die Sie in den letzten Jahren verwirk-
licht haben, kann und wird – Herr Weisheit hat es selbst
zum Ausdruck gebracht – nicht erfolgreich sein.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Eine bauernverleumderische Ministerin!)


Ich bin für den Schutz von Legehennen, aber ich bin auch
dafür, Herr Weisheit, dass derjenige, der Legehennen hält,
der Familienbetrieb, der Arbeitnehmer und die Arbeitneh-
merin, die in diesem Bereich tätig sind, Zukunftschancen
haben. Wir brauchen nicht nur den Schutz der Legehenne,
sondern wir brauchen auch den Schutz der Familien, die
mit der Agrarwirtschaft in Verbindung stehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen ebenfalls den Schutz der vor- und nach-
gelagerten Bereiche. Frau Künast, Sie sollten Ihrem Mi-
nisterkollegen Trittin entgegentreten, wenn er im Fern-
sehen Unwahrheiten sagt. So polemisch kennen wir ihn ja
schon. Wenn er aber behauptet, dass es überhaupt nichts
macht, wenn man Chemiedünger – die Wortwahl ist ver-
räterisch – jetzt auch mit 16 Prozent Mehrwertsteuer be-
legt, zeigt das nur: Er hat keine Ahnung!


(Albert Deß [CDU/CSU]: Der weiß überhaupt nicht, wovon er spricht!)


Der Chemiedünger wird schon längst so besteuert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was sollen diese Verunglimpfungen, die im Grunde ge-
nommen dazu beitragen, diesen Bereich zu zerstören?


(Albert Deß [CDU/CSU]: Kabinett ohne Sachverstand!)


Ich habe mir Ihre Koalitionsvereinbarung angeschaut.
Bis jetzt war ich der Meinung, dass wir uns einig sind,
dass wir von der Belastung der Arbeit in Deutschland ei-
gentlich wegkommen müssen und mehr Freiheit und Krea-
tivität entwickeln müssen. Was machen Sie? – Sie schaffen
eine sehr vernünftige Regelung, die Durchschnittssatzbe-
steuerung, ab. Das bedeutet mehr Bürokratie und mehr
Belastung. Ich habe mit der Kollegin Connemann morgen
ein Gespräch mit dem Landvolk in unserer Region. Für
unsere Betriebe bedeutet diese Veränderung ein Minus
von 10 Prozent.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: So ist das!)


Die Betriebe wissen schon jetzt nicht mehr, wie sie sich
auf dem Weltmarkt und auf dem europäischen Markt be-
haupten sollen. Die Niederländer lachen sich über das,
was Sie hier machen, kaputt. Sie freuen sich


(Albert Deß [CDU/CSU]: Was unsere Bauernvernichtungsministerin macht!)


und erobern den Weltmarkt. Sie erobern den Osten und
die Welt, weil sie auf dem globalen Markt agieren. Im
Grunde genommen sind sie sogar ein wenig traurig darü-
ber, dass in Deutschland eine Politik gegen die Bauern,
gegen die Agrarwirtschaft, gegen die Lebensmittelwirt-
schaft gemacht wird.

Sie machen eine Politik der Zunahme an Bürokratie,
des Verwaltungsaufwandes, der Abgaben und Steuern. So
werden Sie den Herausforderungen, vor denen dieser Be-
reich steht, nicht gerecht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sagen Sie zu den Chancen der grünen Gentechnik ein

klares Ja und machen Sie nicht solche Dinge wie die Ein-
schränkung der Absetzbarkeit von Werbeartikeln. Wissen
Sie, was das zum Beispiel für den deutschen Weinbau be-
deutet? Wissen Sie, wie viele Arbeitsplätze in diesem Be-
reich – völlig überflüssigerweise – verloren gehen? Diese
Politik der nationalen Alleingänge ist nicht geeignet,
weil sie unsere Lebensmittelwirtschaft, die Agrarwirt-
schaft nicht voranbringen wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kollegin Teuchner, ich weiß – damit das völlig
klar wird –, wovon ich rede, wenn ich über diesen Bereich
spreche. Hier ist kein Mensch, der die schwarzen Schafe
in dieser Branche schützen möchte. Es ist schlicht und er-
greifend Blödsinn, so etwas zu behaupten.


(Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Jella Teuchner [SPD])


– Nein, das stimmt nicht!
Ich komme aus einer Region, in der sich alle – die Bau-

ern und die Lebensmittelwirtschaft insgesamt vorweg –
intensiv darum bemühen, die schwarzen Schafe an den
Pranger zu stellen, weil sie den gesamten Bereich kaputt-
machen. Genau das wollen wir nämlich nicht. Lassen Sie
mich aber auch klar sagen: Die Verrechtlichung des Ver-
braucherschutzes, sozusagen die Verordnung von oben
herab, wird Ihnen nicht glücken. Deswegen sage ich: Wir
brauchen sehr wohl die Querschnittsaufgabe Verbraucher-


(A)



(B)



(C)



(D)


302


(A)



(B)



(C)



(D)






schutz, aber keine Alleingänge auf dem Rücken anderer.
Das können wir nicht mitmachen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe Ihre Koalitionsvereinbarung mit Freude gele-
sen. Sie enthält Abschnitte, in denen Sie feststellen, dass
Sie der Dritten Welt helfen wollen. Ich stehe in diesem
Punkt hundertprozentig an Ihrer Seite. In der Koalitions-
vereinbarung steht aber auch – man muss sich das ein-
mal überlegen –, dass der Schutz der Verbraucher vor
Gesundheitsgefährdung absoluten Vorrang vor wirt-
schaftlichen Interessen hat. Das ist doch wohl selbstver-
ständlich. Glauben Sie ernsthaft, dass hier irgendjemand
im Haus ist, der das wirtschaftliche Interesse vor den
Schutz der Verbraucher stellt?


(Zurufe von der SPD: Ja!)

Glauben Sie nicht auch, dass wir alle uns diesem ethi-
schen Grundsatz in unserer politischen Arbeit verpflichtet
fühlen? Das ist doch eine bare Selbstverständlichkeit!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kollegin Teuchner, ich habe neuerdings für
meine liberale Partei die politische Verantwortung für die-
sen Bereich übernommen. Ich bin sehr gerne bereit zum
Kompromiss, aber ich lasse mich nicht in eine Ecke stel-
len, in der wir die Buhmänner sind, die die Menschen ver-
giften wollen, während Sie sich als Lebensretter darstel-
len. Das ist sachlich falsch.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500600900

Lieber Kollege Goldmann, Sie müssen zum Ende kom-

men.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1500601000

Lassen Sie uns gemeinsam für eine tüchtige und wett-

bewerbsfähige Agrarwirtschaft kämpfen.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Moralische Erneuerung! Das wäre gut für die FDP!)


Lassen Sie uns die hochleistungsfähige Lebensmittelwirt-
schaft nutzen, um Arbeitsplätze und Investitionen zu
schaffen. Lassen Sie uns einen Verbraucherschutz reali-
sieren, der dem Grundsatz der Eigenverantwortung des
Verbrauchers mit staatlicher Hilfe gerecht wird. Ich biete
ausdrücklich unsere Zusammenarbeit an.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500601100

Ich erteile das Wort Kollegen Matthias Weisheit, SPD-

Fraktion.


Matthias Weisheit (SPD):
Rede ID: ID1500601200

HerrPräsident!GeschätzteKolleginnenundKollegen!Es

ist ja ganz schön spannend geworden: lauter neue

Gesichter in diesem Politikbereich. Herr Goldmann, ich
freuemichmitSicherheit auf konstruktiveZusammenarbeit.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wir auch!)


Wenn Sie aber, wie es in Ihrer Rede gerade anklang, als
Lobbyist derer auftreten, die die grüne Gentechnik mit
aller Gewalt einführen wollen,


(Widerspruch bei der FDP)

dann wird es schon einige Konflikte geben. Diese Absicht
habe ich jedenfalls als Erstes aus Ihrer Rede herausgehört.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insgesamt hatte ich hin und wieder den Eindruck, so-
wohl bei Ihrem Beitrag als auch bei dem der Kollegin
Hasselfeldt – Peter Harry Carstensen wird das natürlich
nachher noch bestätigen –, dass einige noch nicht gemerkt
haben, dass der Wahlkampf vorbei ist. Nehmen Sie zur
Kenntnis, dass am 22. September eine Mehrheit der Be-
völkerung die Politik der rot-grünen Bundesregierung
und damit auch die Verbraucher- und Landwirtschaftspo-
litik dieser Regierung bestätigt hat, indem sie die sie tra-
genden Parteien wiedergewählt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Aber wir dürfen auch nachher noch die Wahrheit sagen!)


Sie müssen sich darauf einstellen, dass wir die Verbrau-
cherschutz- und Landwirtschaftspolitik der letzten vier
bzw. zweieinhalb Jahre fortsetzen werden. Ich will das an
zwei Beispielen verdeutlichen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Was hat er gegen Funke? Er hat nur von zweieinhalb Jahren gesprochen!)


– Die Einschränkung bezog sich auf die Verbraucherpoli-
tik. Ich habe gesagt: vier bzw. zweieinhalb Jahre. Man
sollte schon genau zuhören.

Mit meinem ersten Beispiel gehe ich auch gleich bis zur
deutschen Ratspräsidentschaft zurück, wo die Verhandlun-
gen über die Agenda 2000 erfolgreich abgeschlossen wur-
den. Genau diesen Reformansatz der Agenda 2000 werden
wir fortsetzen. Da können Sie lachen oder hämisch sein.
Ich erinnere mich recht gut, wie damals bezüglich der Um-
setzung der Agenda 2000 aus der Opposition die Kassan-
drarufe kamen, das sei der Untergang der deutschen Land-
wirtschaft. In der Zwischenzeit schreit jeder, wenn man an
dieser etwas ändern will, da sie doch so gut sei, dass man
daran nichts ändern dürfe.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Zwischendurch eben nicht!)


Das ist übrigens Ihr eigentliches Problem, dass Sie immer
auf dem beharren, was da ist, und notwendigen, zukunfts-
orientierten Reformen eine Absage erteilen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

(Albert Deß [CDU/CSU]: Gerhard Nebel!)


Hans-Michael Goldmann




Matthias Weisheit
hat auf dem jüngsten europäischen Gipfel erfolgreich ver-
handelt, ob Sie, Frau Hasselfeldt, das nun wahrhaben wol-
len oder nicht.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Der hat gar nicht gewusst, worüber er verhandelt!)


Der zwischen ihm und dem französischen Staatspräsi-
denten Chirac ausgehandelte Kompromiss zur zukünf-
tigen Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik
bietet den Landwirten in Europa einen Rahmen, auf den
sie sich auch über das Jahr 2006 hinaus verlassen können.
Wir begrüßen diesen Beschluss außerdem, weil er den
Beitritt der zehn Kandidaten ermöglicht, ohne dass der in
der Agenda beschlossene Finanzrahmen überschritten
wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit wird sowohl den finanziellen Interessen der Bun-
desrepublik als auch dem Interesse der deutschen Land-
wirtschaft an Verlässlichkeit Rechnung getragen.

Natürlich gab es auf beiden Seiten mehr Forderungen.
Wie es bei einem Kompromiss üblich ist, konnte es am
Schluss nur so Gewinner geben, indem jeder ein kleines
bisschen nachgab. Ich sage Ihnen dazu nur eines: Im Zuge
der WTO-Verhandlungen wird für den französischen
Staatspräsidenten die Stunde der Wahrheit noch kommen.
Ich bin ziemlich optimistisch, dass durch den Zwang, der
von den WTO-Verhandlungen ausgehen wird, die sture
Haltung des französischen Präsidenten in Sachen Ent-
kopplung der Zahlungen nicht durchgehalten werden
kann und dass es zu einer Reform kommen wird.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist doch die Bestätigung dafür, dass Ihnen das Ergebnis nicht passt!)


Die Halbzeitbewertung der gemeinsamen Agrarpolitik
und die fakultative Modulation sind Bestandteile der
Agenda 2000. Deshalb ist es folgerichtig, wenn wir dafür
eintreten, den Spielraum, den die Agenda 2000 vorgibt,
auszuschöpfen.

In der europäischen und in der deutschen Öffentlich-
keit bis weit in die Landwirtschaft hinein wird kritisch
hinterfragt, ob die Gelder aus Brüssel optimal eingesetzt
werden. Es stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit
etwa im Hinblick auf Grünland und Ackerland.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Wie willst du das denn bei der Entkoppelung machen? – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist Grünland gerechter als Ackerland?)


– Ich spreche vom Einsatz des Geldes. Da schneiden das
Grünland und die Futterbaubetriebe ganz schlecht ab. Das
weiß doch jeder von euch. Aber ihr seid die Bewahrer, ihr
wollt das belassen, was derzeit ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Ihr habt keine Vorschläge!)


Es stellt sich auch die Frage nach Beschäftigungsef-
fekten und dem Sinn der Fortsetzung von Marktord-

nungen. Auch darüber wird in der Öffentlichkeit disku-
tiert.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Wir wollen hören, was ihr machen wollt, und nicht, was ihr nicht machen wollt!)


Wir müssen Antworten darauf geben, ob Umwelt-, Tier-
schutz- und Landschaftspflegeleistungen stärker zu ho-
norieren sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die nächste Welthandelsrunde und die Zusagen gegen-
über den ärmsten Entwicklungsländern erfordern weitere
Reformen der gemeinsamen Agrarpolitik. Die EU wird es
sich nicht leisten können, die WTO-Runde scheitern zu
lassen. Wir werden in den nächsten Monaten unsere Posi-
tionen in die Diskussion über die Halbzeitüberprüfung
einbringen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Die hätten wir schon heute gern gehört!)


– Nein, in dieser Diskussion heute brauchen wir sie nicht.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Nach der Landtags wahl in Hessen!)

Wir haben schon vor der Bundestagswahl deutlich ge-
macht – ich zum Beispiel von diesem Mikrofon aus –,
dass wir die Richtung der Positionen von Franz Fischler
voll unterstützen. Daran hat sich nichts geändert. Die Ent-
koppelung, die Modulation und die Einhaltung von Um-
welt- und Tierschutzstandards als Grundlage für Direkt-
zahlungen werden wir weiterhin unterstützen.

Der zweite Bereich, auf den ich angesichts meiner Re-
dezeit nur noch kurz eingehen kann, ist: Wir werden die
erfolgreiche Arbeit der Bundesregierung im Hinblick auf
Lebensmittelsicherheit und die Bewältigung von Krisen
fortsetzen. Ich will an Folgendes erinnern: Aus der BSE-
Krise sind wir letztendlich deshalb erfolgreich herausge-
kommen, weil es schonungslose Aufklärung, offene Dis-
kussionen und ein sehr schnelles Handeln auch des
Gesetzgebers gab.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dort, wo es notwendig ist, wird der Gesetzgeber weiter
handeln, um für die Verbraucher Offenheit und Klarheit
herzustellen.

Von diesen Bemühungen haben nicht nur die Verbrau-
cher profitiert, sondern auch die Landwirte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Betrachtet man die Entwicklung des Rindfleischpreises,
so ist festzustellen, dass wir heute wieder auf einem nor-
malen Niveau sind. Die Krise ist überwunden.

Wir sind aber auch der Überzeugung, dass wir in Zu-
kunft allein mit Gesetzen und Verordnungen sowie
schlagkräftigen Behörden Lebensmittelskandale nicht
verhindern können. Diese wird es immer geben, solange
es Menschen gibt; denn es gibt überall kriminelle Energie.
Deshalb ist eine selbstkritische Auseinandersetzung auf


(A)



(B)



(C)



(D)


304


(A)



(B)



(C)



(D)






allen Ebenen der Agrarerzeugung, vor allen Dingen in den
vorgelagerten Bereichen, erforderlich.

Hier hat die Landwirtschaft selbst – dazu gratuliere ich
all den Verantwortlichen, die das durchgesetzt haben – mit
der Schaffung des QS-Systems Konsequenzen gezogen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das war der Deutsche Bauernverband, der das erarbeitet hat und den ihr immer an den Pranger stellt!)


Wir unterstützen diese Arbeit massiv. Ich bin der Über-
zeugung: Weitere Fortschritte sind nur durch eine Aus-
weitung der Zertifizierungs- und Sicherungssysteme zu
erreichen, und dies auch in anderen Bereichen als in de-
nen, in denen das QS-System im Moment gilt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die Umsatz- und Absatz-
einbrüche infolge von BSE haben wir mit traditionellen
Marktregulierungen, mit verstärkten subventionierten
Exporten und Interventionseinkäufen bewältigt. Auf
Dauer soll und kann das nicht mehr so weitergehen. Wir
erwarten, dass sich die landwirtschaftliche Produktion
stärker an Qualität und an der Nachfrage auf den Märk-
ten ausrichtet, damit Marktintervention wirklich die Aus-
nahme ist.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Schon wieder die Unterstellung, dass es bisher keine Qualität gegeben hätte!)


– Dieser Zwischenruf ist nun absolut nicht richtig, Herr
Kollege Deß. Natürlich hat es Qualität gegeben. Aber wir
müssen mit höherer Qualität werben und entsprechende
Marken aufbauen. Es darf keine Ware mehr produziert
werden, die in diesem Land oder in der Europäischen Ge-
meinschaft nicht zu verkaufen ist. Das ist der springende
Punkt, um den es hier geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir können unsere Marktanteile nur dann vergrößern,
wenn die Waren von besonders hoher Qualität sind.

Leider bekomme ich signalisiert, dass meine Redezeit
zu Ende ist. Gestatten Sie mir aber noch eine letzte Be-
merkung zu den Steuern. Warum soll ein Bauer, ein
Landwirt oder ein Gärtner steuerlich nicht gleich behan-
delt werden wie der Besitzer einer Pommesbude? Beant-
worten Sie mir irgendwann einmal diese Frage. Dann
werden Sie aufhören herumzujammern, weil es die
Durchschnittsbesteuerung nach § 13 a EStG in Zukunft
nicht mehr geben wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500601300

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Carstensen,

CDU/CSU-Fraktion.

(Zuruf von der SPD: Da kommt der Dino saurier!)



Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1500601400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Lieber Matthias Weisheit, ich möchte gleich die letzte
Frage aufgreifen und eine Gegenfrage stellen: Warum soll
ein Bauer für das Futtermittel für seine Kühe 16 Prozent
Mehrwertsteuer bezahlen, während du für das Chappi für
deine Hunde keine 16 Prozent Mehrwertsteuer bezahlst?


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Entschuldigung, ich begreife eure Logik nicht mehr.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Die sind auf den Hund gekommen!)

Lieber Matthias, auch du hast davon gesprochen, wir

sollten nicht Wahlkampf machen.

(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])


– Dann macht das doch; das ist in Ordnung. – Der Unter-
schied zwischen euch und uns liegt darin – die SPD will
davon ablenken; deswegen spricht sie immer von Wahl-
kampf –, dass wir dasselbe sagen wie vor der Wahl. Es ist
doch die SPD, die sofort nach der Wahl etwas anderes ge-
sagt hat!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Ministerin hat schon Recht, wenn sie sagt, dass Ver-
braucherschutz damit zu tun hat, Menschen vor Täuschung
zu schützen. Das gilt auch für die Zeit nach der Wahl.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen sollten wir den Koalitionsvertrag in unserem
Ausschuss behandeln und einmal untersuchen, ob er die
damaligen Ankündigungen enthält oder ob es Änderun-
gen gibt.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


Es ist schon interessant, was im Koalitionsvertrag steht.

(Zuruf von der SPD: Das stimmt!)


Es ist interessant, wie viel der Bundeskanzler in seiner Re-
gierungserklärung über Verbraucherschutz und Landwirt-
schaftspolitik gesagt hat.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Überhaupt nichts! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da können Sie mal sehen, was das wert ist!)


– Diesen Zwischenruf sollten wir uns merken. Daran se-
hen wir, welchen Wert die Landwirtschaftspolitik und der
ländliche Raum für die Koalition überhaupt noch hat.

Jella Teuchner hat gesagt, das Ministerium sei nun ein
völlig anderes. Matthias Weisheit sieht das glücklicher-
weise ein bisschen anders; denn er hat wieder über Agrar-
politik gesprochen. Wenn wir über den ländlichen Raum
reden, müssen wir über die Landwirte reden. Ohne die
Landwirte dort werdet ihr eine Politik für den ländlichen
Raum nicht mehr machen können, weil sie die Stützen für
diesen Raum sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Matthias Weisheit




Peter H. Carstensen (Nordstrand)


Es ist nicht nur interessant, was man darüber im Koali-
tionsvertrag findet und wie lustlos Sie darüber reden, son-
dern es ist auch interessant, was nicht darin steht. Wir wis-
sen, welche Herausforderungen in der Landwirtschaft auf
uns zukommen. Es gab nicht ein Wort über die agrarso-
ziale Sicherung, nicht ein Wort über die Berufsgenossen-
schaften, nicht ein Wort über die landwirtschaftlichen
Krankenkassen, nicht ein Wort über die Probleme, die wir
in den nächsten Jahren in diesem Bereich haben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn man die Regierungserklärung betrachtet und

dann sieht, wie gehandelt wird, dann muss man feststel-
len: Sie wollen zwar zukunftsfähige Landwirte haben – so
ist es in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt –, aber Sie tun
genau das Gegenteil. Sie nehmen nämlich den Landwir-
ten die Zukunftsfähigkeit.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Genau so ist es!)

Wenn Sie vor Ort sind, dann können Sie feststellen,

dass die Menschen die Schnauze voll haben von dem, was
im Moment auf sie zukommt.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)

Sie haben die Schnauze voll von zusätzlichen Belastun-
gen. Sie möchten arbeiten und möchten nicht, dass ihre
Arbeit bürokratisiert wird. Sie möchten ihre Betriebe wei-
terentwickeln. Sie möchten Eigenkapital bilden, sie
möchten investieren. Aber sie haben inzwischen keine
Lust mehr dazu – dies bereits nach zweieinhalb Jahren
Künast. Ich weiß nicht, wie das nach weiteren vier Jahren
Künast aussehen soll.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie wissen gar nicht, was bei den Bauern los ist, weil

Sie nicht wissen, wie die Bauern leben, denken, arbeiten
und investieren.


(Matthias Weisheit [SPD]: Aber du weißt es, ja?)


– Ja, ich weiß es.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie wissen nicht, wie sehr sich die Bauern Tag für Tag

für ihre Betriebe, ihre Tiere und ihr Land einsetzen und
auch dafür – sie sind ja gut ausgebildet –, dass ihre Pro-
dukte gut sind.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Und dann werden sie von Frau Künast verleumdet!)


Sie sagen ihnen: Wir haben nichts für euch übrig; ihr in-
teressiert uns nicht. Wir sind Rechner und entscheiden
über euch, ohne dass ihr eingebunden werdet.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unsinn!)


Sie zeigen eine unerträgliche Abneigung gegen die kon-
ventionelle Landwirtschaft. Sie stellen die ökologische
Landwirtschaft als gut und die konventionelle Landwirt-
schaft als schlecht dar.


(Zuruf von der SPD: Quatsch!)


Das hat die Landwirtschaft nicht verdient!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Wunder, dass sie euch nicht gewählt haben!)


Meine Damen und Herren, Sie vergessen, dass land-
wirtschaftliche Betriebe auch Wirtschaftsbetriebe sind.


(Peter Dreßen [SPD]: Wer vergißt das?)

Sie müssen Einkommen erwirtschaften und Eigenkapital
bilden und wollen auch investieren. Diesen Unternehmen
nehmen Sie die Chance, dies im ländlichen Raum umzu-
setzen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500601500

Herr Kollege Carstensen, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Griefahn?


Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1500601600

Aber gerne.


Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1500601700

Herr Kollege Carstensen, sind Sie nicht mit mir einer

Meinung,

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)


dass gerade die aktive Gestaltung, die Aufklärung und die
Transparenz, im Verbraucherschutzbereich einen Schutz
für die Landwirte im ländlichen Raum darstellt, weil sie
sonst aufgrund des mangelnden Vertrauens der Bevölke-
rung ihre Produkte nicht mehr absetzen könnten? Dies
war doch nach der BSE-Krise zu beobachten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1500601800

Frau Kollegin Griefahn, Sie waren ja einmal Ministe-

rin in Niedersachsen. Deswegen möchte ich Ihnen einmal
zitieren, was Ihr Ministerkollege, Herr Bartels, vor eini-
gen Wochen auf dem Bauerntag in Münster gesagt hat. Er
hat gesagt: Wir haben noch nie eine solch gute Qualität in
der landwirtschaftlichen Produktion gehabt.


(Peter Dreßen [SPD]: Dank Künast! Dank RotGrün! – Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Detlef Parr [FDP]: Das ist die Erblast!)


Wir haben noch nie so sicher produziert. Wir haben noch
nie so wenig Pflanzenschutzmittel eingesetzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben noch nie so effektiv produziert. – Dies ist aber
doch nicht dank Rot-Grün der Fall. Sehen Sie sich doch
einmal die Entwicklung der letzten Jahre an!


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt hast du dich vertan!)



(A)



(B)



(C)



(D)


306


(A)



(B)



(C)



(D)






– Nein, ich habe mich überhaupt nicht vertan. – Nicht
dank Rot-Grün, sondern dank der Intelligenz und der Aus-
bildung unserer Landwirte ist es dazu gekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie tun laufend so, als seien unsere Landwirte diejenigen,
die durch Gift in den landwirtschaftlichen Produkten den
Menschen Krankheiten bringen. Nein, in der konventio-
nellen Landwirtschaft wird genauso gut gearbeitet wie in
der ökologischen Landwirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Beides hat seinen Stellenwert und beides sollte von der
Regierung und auch von Rot-Grün anerkannt werden.


(Jella Teuchner [SPD]: Das wird doch anerkannt!)


Meine Damen und Herren, Sie haben gesagt, dass Sie
die Gemeinschaftsaufgabe, die auch von den Ländern
finanziert wird, gezielt zum Instrument zur Förderung der
nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum einsetzen
wollen. Sehen wir uns die Situation einmal an! Es gibt
Länder, die überhaupt nicht zur Kofinanzierung in der
Lage sind. Schleswig-Holstein zum Beispiel hat einen
Anspruch auf 54 Millionen Euro aus der Gemeinschafts-
aufgabe, ruft aber in diesem Jahr 20 Millionen nicht ab.
Das heißt, Schleswig-Holstein verhindert 30Millionen an
Zuschüssen aus der Gemeinschaftsaufgabe, von Bund
und Land gemeinsam getragen. Zusammen mit den Mit-
teln der EU könnte man 60 Millionen Euro generieren.
Insgesamt werden dadurch rund 180 Millionen an Inves-
titionen im ländlichen Raum nicht getätigt, weil ein Land
nicht in der Lage ist, seinen Eigenanteil zu finanzieren.
Deswegen ist die Gemeinschaftsaufgabe leider nicht
mehr das geeignete Instrument.

Sie müssen sich auch einmal die Situation vergegen-
wärtigen, die demnächst auf uns zukommt. Sie werden
nämlich genau das tun, was Sie laut Koalitionsvertrag ei-
gentlich nicht tun wollen. Sie wollen wirtschaftende und
entwickelte Betriebe, sorgen aber mit Ihrer Steuergesetz-
gebung dafür, dass viele aus der Landwirtschaft aus-
scheiden müssen. Sie werden das feststellen.

Ich darf aus dem „Stern“ zitieren. Es ist schon interes-
sant, dass „Stern“ und „Spiegel“ – das sind ja nicht unbe-
dingt die Kampfblätter der CDU – sich im Moment gegen
diese Koalition wenden. Im „Stern“ heißt es:

Nehmen wir den Kanzler. „Wir haben nicht die Ab-
sicht, die Steuern zu erhöhen“, ulbrichte Gerhard
Schröder Ende Juli übers Fernsehen den Bürgern zu.
Jetzt bittet er sie zur Kasse ...

Schauen Sie sich einmal an, welche Auswirkungen in
der Landwirtschaft das hat: Die Erhöhung der Mehr-
wertsteuer von 7 auf 16 Prozent für so genannte Vorpro-
dukte – das ist Saatgut, lebende Tiere, Futterpflanzen –
wird 1,842 Milliarden Euro kosten. Die Erhöhung der
Umsatzsteuer von 7 auf 16 Prozent für gartenbauliche Er-
zeugnisse – Blumen, Zierpflanzen – wird 345 Milli-
onen Euro kosten. Die Abschaffung der umsatzsteuerli-
chen Durchschnittsbesteuerung wird 209 Millionen Euro

kosten. Die Abschaffung der ertragsteuerlichen Durch-
schnittsbesteuerung nach § 13 a des Einkommensteuerge-
setzes wird 30 Millionen Euro kosten.


(Zuruf von der SPD: Alles Subventionen!)

– Alles Subventionen? Nicht Steuern zahlen heißt Sub-
ventionen? Das ist ja eine ganz tolle Diskussion, die wir
im Moment führen.

Zunächst einmal gehört den Leuten das Geld und erst
dann hat der Staat einen Anspruch auf einen Teil. Sie kön-
nen doch nicht sagen, wenn ein geringerer Anspruch be-
stünde, bekäme man eine höhere Subvention! Nein, erst
einmal müssen sie ihr Geld verdienen und dann können
wir uns darüber unterhalten, ob hohe Steuern richtig oder
falsch sind. Hier sind sie falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In der Situation, in der wir uns befinden, sind bei den

Bauern Entlastungen und nicht zusätzliche Belastungen
angesagt.


(Peter Dreßen [SPD]: So ist das überall!)

Wir haben eine Deckelung bei den EU-Kosten. Glückli-
cherweise gibt es eine Einigung mit Frankreich.Wir ha-
ben sie begrüßt. Frankreich sei Dank, dass der Bundes-
kanzler nicht informiert war, dass er schlecht vorbereitet
in das Gespräch ging und offensichtlich auch schlechte
Dolmetscher hat. Die Dolmetscherin müsste einen Orden
dafür bekommen, dass sie ihm das nicht richtig gesagt
hat!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sonst wäre nämlich bei 39 Milliarden Euro gedeckelt
worden, so sind es 48 Milliarden Euro in 2013. Das bedeu-
tet mehr Geld für die Landwirtschaft und das ist richtig.

Wenn Sie nach Polen, Slowenien, Tschechien und Un-
garn gehen und die Diskussion dort führen, werden Sie se-
hen, dass man dort mit dem Phasing-in von 25 Prozent
nicht auskommen wird und die Landwirte bei uns mit dem
Phasing-out von wahrscheinlich 75 Prozent oder weniger
Pleite machen werden. Das ist die Situation, mit der Sie
im Moment spielen.

Darum sage ich Ihnen: Wir brauchen mehr Entlastung
und weniger Kosten für die Landwirtschaft, um die
schwieriger werdende Situation bei uns überhaupt noch
bewältigen zu können.

Fischler hat kürzlich ganz deutlich gesagt: Wo sonst
als von den Direktzahlungen für die Bauern der bisheri-
gen EU-Länder sollen wir das Geld für die neuen Mit-
glieder herholen? Das heißt, die Landwirte werden be-
lastet und zahlen für die Osterweiterung, die wir alle
gerne wollen. Wir werden uns noch wundern, wie sich
der Strukturwandel in der Landwirtschaft fortsetzen
wird.

Es war erstaunlich, wie wenig Applaus gerade von der
SPD kam, als die Ministerin geredet hat.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gar nicht wahr!)


Peter H. Carstensen (Nordstrand)





Peter H. Carstensen (Nordstrand)

Ihr wisst es, aber ihr lasst euch im Moment die Kompe-
tenz für die Agrarpolitik völlig aus der Hand nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Danke für die Belehrung!)


– Ja, das ist eine Belehrung und vielleicht auch eine Hilfe.
Wir werden in eine Situation kommen, die gekenn-

zeichnet sein wird durch schwieriger werdende Bedin-
gungen in der Landwirtschaft durch WTO-Verhandlun-
gen und durch die Osterweiterung. Fischler hat gestern in
einer Rede gesagt – auch das will ich zitieren –: Die Eini-
gung schafft Planungssicherheit für die Politik, heißt aber
auch, dass künftig alle neuen Reformkosten von den bis-
herigen Nutznießern des Agrarbudgets getragen werden
müssen. – Das heißt Belastung für die Landwirtschaft.
Wenn wir in diese Situation kommen, dann brauchen wir
eine Entlastung auf der Kostenseite. Deswegen wundert
es mich, dass im Koalitionsvertrag nicht ein einziges Wort
über die agrarsozialen Sicherungen steht, nicht ein einzi-
ges Wort über eine Neuordnung, die dringend notwendig
ist, nicht ein einziges Wort über Kostenentlastung bei
Steuern; stattdessen werden zusätzliche Kosten durch
Steuern beschlossen.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie Vorschläge! Dann schauen wir mal! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir haben auch nicht eine einzige Fischsorte aufgezählt!)


Da die obligatorische Modulation der EU offensicht-
lich weit nach hinten geschoben wird – so wird es zumin-
destens behauptet –, fordere ich Sie, Frau Künast, auf:
Nehmen Sie Abstand von der Durchführung Ihres Modu-
lationsgesetzes!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sorgen Sie dafür, dass dieses Gesetz am 1. Januar nicht in
Kraft tritt! Dieses unsinnige Gesetz belastet die Landwirte
und es bringt nichts


(Albert Deß [CDU/CSU]: Außer Bürokratie!)

für diejenigen Produkte und für diejenigen Vorstellungen,
die Sie mit dem Modulationsgesetz fördern wollen. Sie
werden ein bürokratisches Monstrum aufbauen,


(Albert Deß [CDU/CSU]: So ist es!)

das dazu führt, dass Bayern – Bayern gibt 800 Millionen
DM bzw. 400 Millionen Euro für Naturschutz im ländli-
chen Raum aus – nicht weiß, was es mit den zusätzlichen
Mitteln machen soll.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Und Schleswig-Holstein?)


Dieses bürokratische Monstrum führt außerdem dazu,
dass Schleswig-Holstein nicht weiß, wie es die Kofinan-
zierung bezahlen soll, und dass Rheinland-Pfalz 1,3 Mil-
lionen DM an Verwaltungskosten haben wird, um
800 000 DM ausgeben zu können. Frau Künast, sorgen
Sie dafür, dass dieses unsinnige Gesetz nicht in Kraft ge-
setzt wird! Damit würden Sie den Bauern helfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500601900

Kollege Carstensen, Sie müssen bitte zum Ende

kommen.


Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1500602000

Das werde ich sofort tun, Herr Präsident. – Auch im

landwirtschaftlichen Bereich gilt – ich zitiere meine Frak-
tionsvorsitzende –:

Rot-Grün macht arm.
Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500602100

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich

liegen nicht vor.
Wir kommen schließlich zu den Themenbereichen

Soziales und Gesundheit. Ich erteile das Wort der Bun-
desministerin Ulla Schmidt.

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und
soziale Sicherung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum fliehen die denn alle, Frau Schmidt?)

– Die fliehen nicht, die wechseln nur die Plätze. – Am
22. September haben die Wählerinnen und Wähler uns
den Auftrag gegeben, unsere Reformpolitik fortzusetzen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und am 31. Oktober bedauern sie das schon wieder!)


Die Menschen wissen, dass wir eine Politik der Erneue-
rung, der sozialen Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit
machen.

Wir sind es gewesen, die in den letzten vier Jahren
dafür gesorgt haben, dass in Zukunft keine Rentnerin und
kein Rentner zum Sozialamt gehen muss, weil die Rente
nicht ausreicht. Wir haben dafür gesorgt, dass Rentnerin-
nen und Rentner, die unseren Wohlstand jahrzehntelang
mit erarbeitet haben, künftig Anspruch auf eine soziale
Grundsicherung haben, auch wenn sie keine ausreichen-
den Rentenansprüche erworben haben, weil sie Famili-
enarbeit geleistet haben oder geringfügig beschäftigt wa-
ren. Dieses Vorhaben wird ab dem 1. Januar 2003
umgesetzt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind es gewesen, die dafür gesorgt haben, dass bei
der Rente zukünftig eine private Säule die gesetzliche er-
gänzt. Damit haben wir die Altersvorsorge zukunftsfest
gemacht. Wir sind es gewesen, die dafür gesorgt haben,
dass schwerbehinderte Frauen und Männer wieder neue


(A)



(B)



(C)



(D)


308


(A)



(B)



(C)



(D)






Chancen am Arbeitsmarkt erhalten und ihre Leistungsfä-
higkeit anerkannt wird.


(Beifall bei der SPD)

Wir sind es gewesen, die dafür gesorgt haben, dass die

medizinische Versorgung in Zukunft verbessert wird, ins-
besondere für chronisch kranke Menschen. Wir sind es
gewesen, die von den Wählerinnen und Wählern den Auf-
trag erhalten haben, in den nächsten vier Jahren unsere
Reformpolitik der sozialen Sicherung bei der Rente und
bei der Gesundheit konsequent fortzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Für uns ist klar: Eine starke soziale Sicherung und wirt-

schaftliches Wachstum sind keine Gegensätze, sondern
sie gehen Hand in Hand.

Deutschland ist auch im internationalen Vergleich mit
seinem solidarischen System der sozialen Sicherung in
den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich gut gefahren. Unser
ökonomischer Erfolg basiert zu einem guten Teil auf einer
starken sozialen Sicherung. Es sollte nie vergessen wer-
den: Solidarität macht Leistungsfähigkeit erst möglich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies ist auch der Grund dafür, warum viele Menschen
uns um unseren Sozialstaat, um unser Rentensystem und
um unser Gesundheitswesen beneiden. Weil dies so ist,
werden wir den Sozialstaat für die Zukunft sichern.

Wir wissen alle, dass Handlungsbedarf besteht, Hand-
lungsbedarf, der sich aus der demographischen Entwick-
lung ergibt, der sich auch aus der erfreulichen Entwick-
lung ergibt, dass die Menschen heute älter werden als
früher, der sich aus dem medizinischen Fortschritt und
veränderten Erwerbsbiografien ergibt. Handlungsbedarf
ergibt sich auch aus der aktuellen konjunkturellen Situa-
tion, die mit einem Einbrechen der Einnahmen einher-
geht. Dadurch werden die sozialen Sicherungssysteme
zusätzlich herausgefordert.

Das neu geschaffene Bundesministerium fürGesund-
heit und soziale Sicherung ist eine Antwort auf diese
Herausforderungen. Es eröffnet Chancen, die Kräfte zu
bündeln, Chancen, die Reformen der sozialen Siche-
rungssysteme künftig aus einer Hand auf den Weg zu brin-
gen. Wir werden diese Chancen nutzen. Wir werden Sy-
nergieeffekte nutzen, um deutlich mehr Effizienz in die
– seien wir einmal ehrlich – manchmal auch schwerfäl-
ligen Systeme zu bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Detlef Parr [FDP]: Das ist ein gutes Stichwort! Meinen wir es mal ehrlich, Frau Ministerin!)


– Wenn ich Ihren Reden zuhöre, habe ich manchmal das
Gefühl, die Größe von manchen zeigt sich auch darin, wie
sie in der Lage sind, eine Niederlage zu verarbeiten.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie standen ja schon auf der Abschussliste!)


In der heutigen Arbeitswelt sind Flexibilität und Mobi-
lität gefordert. Die wenigsten Arbeitnehmerinnen und Ar-
beiternehmer sind heute lebenslang in einem Beruf tätig,
geschweige denn bei einem Arbeitgeber beschäftigt. Ein-
mal erworbene Qualifikationen reichen immer weniger
für das ganze Berufsleben aus. Von den Menschen wird
sehr viel Mut zur Veränderung gefordert. Ich sage aber
auch deutlich: Wer diesen Mut zur Veränderung fordert,
der muss gleichzeitig dafür sorgen, dass niemand auf sich
allein gestellt bleibt, sondern dass die Solidargemein-
schaft da ist, um ihn, wenn es nötig ist, aufzufangen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen modernisieren wir den Arbeitsmarkt. Wir si-
chern gleichzeitig den sozialen Rückhalt für die Men-
schen. Wir stehen dafür, dass Risiken wie Krankheit, Un-
fall oder Behinderung auch in Zukunft vom Sozialstaat
abgesichert sind. Wir stehen dafür, dass der Sozialstaat ein
Leben im Alter in Würde und sozialer Sicherheit garan-
tiert. Wir stehen dafür, dass unsere Gesellschaft ihr sozia-
les Gesicht behält.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist denn eigentlich die Bundesregierung bei diesem wichtigen Thema?)


Die Bundesregierung wird die notwendigen Struktur-
reformen am Arbeitsmarkt und im Gesundheitswesen
durchführen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist die denn? – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Kanzler interessiert sich nicht für das Thema!)


Bei der Rente werden wir das Besteuerungsurteil sozial
und gerecht umsetzen. Auch dies ist eine Strukturreform,
die weit in die Zukunft weist.

Unsere Ausgangsposition ist gut. Wir haben in
Deutschland in den letzten 50 Jahren ein hervorragen-
des soziales Netz geschaffen. Wir müssen den Sozial-
staat nicht neu erfinden, aber wir müssen das Haus der
sozialen Sicherung in Deutschland dort, wo es notwen-
dig ist, ausbauen, modernisieren und zukunftsfähig ma-
chen.

Wir haben mit der Rentenreform in der letzten Legis-
laturperiode den Grundstein dafür gelegt, dass mit dem
Aufbau der kapitalgestützten Säule neben der umlagefi-
nanzierten Säule eine Antwort auf die demographische
Entwicklung gegeben wird, die auch in Zukunft die Rente
sicher machen wird.

Wir werden mit der Gesundheitsreform im kommen-
den Jahr eine Strukturreform auf den Weg bringen, die
sich vorrangig mit der Ausgabenentwicklung im Gesund-
heitswesen befasst und dafür sorgt, dass wir über Effi-
zienz- und Effektivitätssteuerung dahin kommen, dass in
diesem System jeder Euro zielgenau ausgegeben wird.
Dies ist notwendig für die Menschen und für die Akzep-
tanz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bundesministerin Ulla Schmidt




Bundesministerin Ulla Schmidt

Langfristig werden wir uns mit der Sicherung der Ein-
nahmesituation in allen sozialen Sicherungssystemen
auseinandersetzen müssen.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Arbeitsplätze!)


Deshalb werde ich eine Kommission einsetzen, die die
langfristigen Finanzierungsgrundlagen der sozialen Si-
cherungssysteme an den vielfältigen Anforderungen des
gesellschaftlichen, des sozialen Wandels und auch des
Wandels in der Arbeitswelt und in den Erwerbsbiografien
orientiert, sie aber auch daran orientiert, dass wir ein
Europa wollen, in dem die Freizügigkeit für die Bürge-
rinnen und Bürger in ihrem Alltagsleben gilt, insbeson-
dere bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen.
Diese Freizügigkeit soll im Alltag tatsächlich spürbar und
erfahrbar werden. Die Kommission wird uns Vorschläge
unterbreiten. Wir werden nach einer breiten Diskussion,
hoffentlich auch hier im Hause, die notwendigen Konse-
quenzen daraus ziehen.

Wir werden das Haus der sozialen Sicherung für die
Zukunft gut ausrüsten, indem wir Qualität und Effizienz
in der sozialen Sicherung voranbringen. Für die Rente
heißt das: Wer jahrelang gearbeitet und Beiträge gezahlt
hat, hat im Alter Anspruch auf ein anständiges Auskom-
men. Junge Beitragszahler werden nicht über Gebühr be-
ansprucht. Wir haben dafür gesorgt – wir werden das auch
in Zukunft tun –, dass die Lasten gerecht zwischen den
Generationen verteilt werden, weil nur so die Rente zu-
kunftsfähig bleiben kann. Für die Gesundheit heißt das:
Wer krank wird, hat einen Anspruch auf das medizinisch
Notwendige und Angemessene, unabhängig von seinem
Geldbeutel. Auch morgen muss gelten, dass die Jungen für
die Alten einstehen; die, die mehr verdienen, für die, die
weniger verdienen; die Gesunden für die Kranken. Nur so
bleibt auch die Gesundheitsversorgung zukunftsfähig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Und die Kranken für die Todkranken!)


Bei allen Reformen halten wir an der Solidarität fest.
Wir werden sie stärken, in der Renten- wie in der Kran-
kenversicherung. Aber eines ist ebenfalls klar: Solidarität
funktioniert nur, wenn alle mitmachen. Wir wollen, dass
möglichst viele Menschen erwerbstätig sind und ihren Le-
bensunterhalt selbst bestreiten. Wir wollen, dass aus Men-
schen, die heute arbeitslos sind, morgen wieder Steuer-
und Beitragszahler werden.


(Zuruf von der FDP: Ihr hattet vier Jahre Zeit!)

Das ist das Ziel unserer Arbeitsmarktreform und das ist
auch die Grundlage für die Zukunft der sozialen Siche-
rungssysteme.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Neben kurzfristig greifenden Maßnahmen bei der
Rente und im Gesundheitswesen werden wir strukturelle
Erneuerungen vornehmen, die die Zukunft sichern.


(Ina Lenke [FDP]: Welche? Was denn? – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hätten wir jetzt gern gehört!)


Lassen Sie mich eines klarstellen – das wird ja wohl
niemand bezweifeln; ich sage das noch einmal an die
Adresse der Kollegin Hasselfeldt –: Die Riester-Rente ist
ein Erfolg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie ist ein Erfolg, weil wir mit der Riester-Rente etwas ge-
schafft haben, wozu Sie 16 Jahre lang nicht in der Lage
waren, nämlich den Menschen die Möglichkeit zu eröff-
nen, sich neben der umlagefinanzierten Rente eine kapi-
talgestützte Säule der Altersversorgung aufzubauen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum ist er denn dann nicht hier? Einen erfolgreichen Minister setzt man doch nicht ab! Wo ist er denn?)


Die jungen Menschen von heute sollen wissen, dass sie
dann, wenn sie in Rente gehen, eine ihren Lebensstandard
sichernde Altersversorgung haben und ein ausreichend
hohes Einkommen erhalten werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das glaubt Ihnen kein Mensch!)


Wir haben mit diesen beiden Säulen einen Weg eröff-
net, der es möglich macht, dass diejenigen, die Hilfe nötig
haben, sie durch staatliche Unterstützung bekommen. Wir
werden am Ende dieses Jahres Bilanz ziehen müssen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird eine schreckliche und traurige Bilanz werden!)


Denn es gibt viele Tarifverträge, in denen die Riester-
Rente abgesichert worden ist. Viele Menschen werden
sich noch im Dezember dazu entscheiden, für sich die ka-
pitalgestützte Säule aufzubauen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bei Ihnen ist das Prinzip Hoffnung und dann passiert nichts!)


Es bringt überhaupt nichts, wenn man Erfolge kaputt-
redet. Wir werden die Entwicklung am Ende dieses Jah-
res und auch darüber hinaus weiter beobachten müssen.
Wir wollen die zweite, die kapitalgestützte Säule als tra-
gendes Element der Alterssicherung der Zukunft auf-
bauen. Wir werden die notwendigen Begleitmaßnahmen
auf den Weg bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir stehen dafür, dass die über 50-Jährigen nicht zum
alten Eisen gehören werden. Wir brauchen ihre Kompe-
tenz und Fähigkeiten dringender denn je. Ich finde es be-
klagenswert, dass viele Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen
in dieser Frage viel zu kurzfristig denken. Wir sind uns
in diesem Hause alle darüber einig, dass wir alles dafür
tun müssen, dass das faktische Renteneintrittsalter mit
dem gesetzlichen Renteneintrittsalter übereinstimmt. Wir
müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die 50, 55 oder
58 Jahre alt sind, bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter
erwerbsfähig sein können und Arbeitsplätze finden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Einverstanden!)



(A)



(B)



(C)



(D)


310


(A)



(B)



(C)



(D)






Deswegen appelliere ich von dieser Stelle aus an diejeni-
gen aus dem Unternehmerlager, die immer wieder danach
rufen, dass wir eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit
brauchen, endlich dafür zu sorgen, dass die Frauen und
Männer, die bis zum 65. Lebensjahr erwerbstätig sein
wollen, dies auch sein können. Das muss zunächst ange-
gangen werden, bevor man sich weitergehenden Forde-
rungen zuwendet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe dieses Jahr schon einen 51-Jährigen eingestellt!)


Darüber sind wir uns einig. Wir sehen ja in diesem Hause:
Mit 50 gehört niemand zum alten Eisen. Wenn hier gelten
würde, was in der Wirtschaft gilt, wäre ein Großteil von
uns überhaupt nicht mehr hier.


(Beifall bei der SPD)

Deshalb, meine Damen und Herren, wird mein Kollege

Clement bei der Arbeitsmarktreform meine Unterstützung

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Er ist gar nicht da! Wo ist er denn?)

und die Unterstützung des Hauses haben. Es muss unsere
gemeinsame Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass Men-
schen in Arbeit kommen und so zu Beitragszahlern und
Beitragszahlerinnen werden.

In der Gesundheitspolitik fördern wir die Eigenver-
antwortung der Menschen. Wir definieren Eigenverant-
wortung aber etwas anders, als es manchmal von der rech-
ten Seite dieses Hause zu hören ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eigenverantwortung bedeutet für uns nicht, dass die Men-
schen immer mehr Geld privat auf den Tisch legen müs-
sen. Eigenverantwortung bedeutet für uns, die Kompe-
tenz der Menschen, für ihre eigene Gesundheit sorgen zu
können, zu stärken sowie Anreize für Prävention und für
Vorsorge zu setzen. Den Menschen muss bewusst sein: Je-
der hat nur dieses eine Leben. Wer fit ins Alter gehen will,
der muss früh anfangen, vorzusorgen und Verantwortung
für die eigene Gesundheit zu übernehmen. Das ist Eigen-
verantwortung im besten Sinne des Wortes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben hierzu mit der Stärkung der Patientenrechte,
den strukturierten Behandlungsprogrammen für chro-
nisch Kranke und dem Ausbau von Prävention und Ge-
sundheitsförderung die Voraussetzungen geschaffen. Die-
sen Weg werden wir in den nächsten vier Jahren fortsetzen
und wir werden die Möglichkeiten ausbauen.

Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sind weitere strukturelle Veränderungen im Gesund-
heitswesen nötig. Die Leistungsseite muss dabei in den
Mittelpunkt rücken. Qualität und Wirtschaftlichkeit, Steu-
erungseffizienz und Transparenz, solidarischer Wettbe-
werb um die besseren Behandlungskonzepte, das sind die
Ziele, um die es gehen muss.

Jeder muss auch in Zukunft die Behandlung bekom-
men, die medizinisch angemessen und notwendig ist. Wir

werden aber genau prüfen müssen, was wir uns im Inte-
resse der Patientinnen und Patienten leisten müssen und
was wir uns nicht leisten sollten.


(Ina Lenke [FDP]: Was denn? Sagen Sie es uns!)


Das wird die Aufgabe sein. Ich bin entschieden dafür,
dass die Krankenkassen nur noch die Leistungen bezah-
len, die wirklich, wissenschaftlich nachgewiesen, nut-
zen,


(Ina Lenke [FDP]: Welche?)

um eine Krankheit zu erkennen und zu bekämpfen oder
Schmerzen zu lindern.

Ich bin entschieden dafür, dass die Krankenkassen die
Qualität der erbrachten Leistungen zur Voraussetzung für
Verträge machen und nicht Gewohnheitsrecht. Ich sage
hier ganz klar: Ich akzeptiere, dass hochwertige medizi-
nische Leistungen ihren Preis haben. Leistungen müssen
ihren Preis aber auch wert sein. In unserem Gesundheits-
wesen muss durchgängig auf qualitätsgesicherter Basis
und effizient gearbeitet werden.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wenn das bei der Regierung nur auch so wäre!)


Leistungen müssen aufeinander abgestimmt werden.
Doppel- und Parallelbehandlungen müssen vermieden
werden. Nur so können wir auch in Zukunft Gesundheit
für alle bezahlen. Nur so kann jeder eine hoch stehende
medizinische Versorgung erhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Letztlich geht es bei unserer Gesundheitsreform um
die Lebensqualität der Menschen, um den Verbraucher-
schutz und um das Kostenbewusstsein. Die konse-
quente Prüfung des Nutzens von Therapien, Technolo-
gien und Arzneimitteln, die Fortbildungsverpflichtung
für Ärztinnen und Ärzte und die Behandlungsleitlinien
für die großen chronischen Volkskrankheiten werden
dynamische Qualitätsstandards setzen, die Lebens-
qualität der Menschen erhöhen und gleichzeitig die
Kosten senken.

Wir werden den Rahmen für eine Wettbewerbsordnung
um die beste Versorgungsqualität schaffen, die alle im Ge-
sundheitswesen Tätigen anspornt, qualitätsgesichert und
effizient zu arbeiten. Mit der Möglichkeit, Informatio-
nen über die Qualität zu erhalten, werden wir dafür sor-
gen, dass der Qualitätswettbewerb angeregt und intensi-
viert wird. Damit ermöglichen wir es den Patienten und
Patientinnen, mit ihren Füßen abzustimmen; sie wissen
nämlich, wo sie Qualität erhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sie laufen Ihrer Politik davon!)


Der Ausbau der integrierten Versorgung, die Stärkung
der Hausärzte als Lotsen, die verbesserte Abstimmung
zwischen Haus- und Fachärzten, Krankenhäusern und
Gesundheitszentren und die flächendeckende Einführung
der elektronischen Gesundheitskarte – all dies wird den

Bundesministerin Ulla Schmidt




Bundesministerin Ulla Schmidt
Patienten nutzen, die Kosten senken und die Beiträge sta-
bil halten.


(Einige Abgeordnete der SPD-Fraktion betreten den Plenarsaal – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die wollen alle Seehofer hören!)


Wir werden diese Strukturreformen angehen und durch
ein Vorschaltgesetz kurzfristig erste Schritte unterneh-
men, damit wir Luft schaffen, um diese Reformen umzu-
setzen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir wollen etwas Anständiges hören! – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Sie nehmen erst 1 Milliarde heraus, um dann Luft hineinzustecken!)


Dieses Vorschaltgesetz wird von allen Leistungserbrin-
gern einen Beitrag zum Sparen einfordern. Es wird aber
kein Gesetz sein, durch das notwendige Behandlungen
und Strukturmaßnahmen blockiert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es wird zum ersten Mal ein Vorschaltgesetz erlassen – das
steht im Gegensatz zu den Vorhaben während Ihrer Re-
gierungszeit –, durch das Sparpotenziale erschlossen wer-
den, ohne medizinisch notwendige Leistungen für die
Versicherten zu kürzen oder sie über Zuzahlungen zur Fi-
nanzierung dieser Sparbeiträge heranzuziehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das warten wir einmal ab!)


Meine Damen und Herren, den Weg, den wir in der
Behindertenpolitik eingeschlagen haben, werden wir
weitergehen. Wir sind nämlich der Meinung, dass es allen
Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden muss,
an allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens
gleichberechtigt und selbstbestimmt teilzuhaben. Dies
wird mit dem SGB IX, dem Sozialgesetzbuch – Neuntes
Buch –, gesetzlich geregelt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es ist unredlich, erst Geld aus dem System herauszunehmen und dann den Leuten mehr Geld zu versprechen!)


Es wird darauf ankommen, dafür zu sorgen, dass das, was
wir gesetzlich geregelt haben, im Alltag auch überall um-
gesetzt wird. Das wird auch in der Behindertenpolitik die
Hauptaufgabe sein.

Wir werden eine Sozialhilfereform auf den Weg brin-
gen, durch die das Konzept von „Fördern und Fordern“
auch in der Sozialhilfe umgesetzt wird und durch die den
Menschen die Möglichkeit gegeben wird, ihr Leben
selbstbestimmt zu gestalten. Damit geben wir ihnen die
Chance, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Wir haben in den kommenden vier Jahren viel vor.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wahr! In den letzten vier Jahren haben Sie nichts erreicht!)


Ich hoffe, dass wir – jenseits von aller Wahlkampfrheto-
rik – in diesem Hause über die für Deutschland sehr wich-
tigen Fragen der sozialen Sicherung und der sozialen Ge-

staltung unseres Gemeinwesens gemeinsam beraten und
zu gemeinsamen Beschlüssen kommen werden.

Vielen Dank. Ich glaube, gemeinsam schaffen wir das.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Viele, die jetzt klatschen, waren beim Großteil der Rede gar nicht da!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500602200

Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Seehofer,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Horst Seehofer (CSU):
Rede ID: ID1500602300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Zu allererst ist es bemerkenswert, dass ein größerer
Teil der SPD-Bundestagsfraktion den Saal wieder betre-
ten hat, nachdem sich abzeichnete, dass Frau Schmidt mit
ihrer Rede zum Ende kommt.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)


Der zweite Punkt. Es ist ärgerlich: Die deutsche Sozi-
alversicherung befindet sich in der größten Krise seit
ihrem Bestehen und Frau Schmidt speist das deutsche
Parlament mit nichts sagenden Allgemeinplätzen ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir werden es in den nächsten Tagen erleben: In Wahr-

heit plant sie drastische, schamlose Eingriffe in das deutsche
Sozialsystem.


(Erika Lotz [SPD]: Und das sagt Seehofer! – Peter Dreßen [SPD]: Sie sind ein guter Lehrmeister!)


Drastisch und dreist, weil ich vor gut einem Monat noch
ganz andere Töne von Frau Schmidt gehört habe. Ich habe
mit ihr etliche Fernsehdiskussionen bestritten. Ich habe
auf die wahre dramatische Lage der deutschen Sozialver-
sicherung hingewiesen. Frau Schmidt hat auch in der Öf-
fentlichkeit immer geantwortet: Das alles ist Panikmache.
Die Krankenversicherung wird Ende des Jahres einen
ausgeglichenen Haushalt haben.

Jetzt sind vier Wochen vergangen. Die deutsche Kran-
kenversicherung schwebt in akuter Lebensgefahr. Nun
kann es nicht schnell genug gehen. In der nächsten Woche
soll ein Gesetz eingebracht werden, das noch im Novem-
ber verabschiedet werden soll. Das ist bei einem so erns-
ten Thema ein schamloses Verfahren gegenüber dem
deutschen Parlament. Bevor der Gesetzentwurf überhaupt
eingebracht ist, bittet man uns, Sachverständige für eine
Anhörung zu benennen, obwohl wir gar nicht wissen, was
in dem Gesetzentwurf steht. Das ist ein reines Tollhaus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist dreist, Frau Schmidt, dass Sie noch vor gut vier
Wochen gesagt haben: Die Finanzen der Krankenver-
sicherung sind ausgeglichen. Jetzt müssen Sie Milliar-


(A)



(B)



(C)



(D)


312


(A)



(B)



(C)



(D)






dendefizite einräumen. Lügen haben kurze Beine. Sie
wussten um die Situation der deutschen Krankenversi-
cherung. Sie haben die deutsche Öffentlichkeit wider bes-
seres Wissen angelogen. Sie haben sich moralisch dis-
qualifiziert. Sie haben den Menschen vor der Wahl die
Unwahrheit gesagt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Das müssen gerade Sie sagen!)


Deshalb, Frau Schmidt, glauben wir Ihnen kein Wort
mehr. Keine Prognose von Ihnen trifft zu. Ihre Auffassun-
gen zu den Dingen drehen sich schneller als ein Ventila-
tor. Es ist schamlos, was Sie jetzt vorhaben. Man muss
sich einmal vergegenwärtigen, worauf die Probleme des
deutschen Gesundheitswesens zurückzuführen sind.


(Zuruf von der SPD: Dass Sie 16 Jahre an der Regierung waren!)


Es ist nicht das Unvermögen der Bevölkerung, wie uns der
Kanzler einreden wollte, die nicht leistungsbereit sei und
zu wenig für unser Land tue. Es ist nicht das Unvermögen
der Beteiligten des Gesundheitswesens. Die aktuellen Pro-
bleme des deutschen Gesundheitswesens sind alleine auf
das Unvermögen dieser Bundesregierung zurückzuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Spitzenverbände der deutschen Krankenversiche-

rungen haben vor wenigen Tagen erklärt: Die in der Ver-
gangenheit praktizierte Schwächung der Finanzen der
GKV zur Entlastung anderer Sozialversicherungszweige
bzw. der öffentlichen Haushalte – das sind die berühmten
Verschiebebahnhöfe, mit denen sich die Bundesregierung
zulasten der deutschen Krankenversicherung entlastet –


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein völlig unbekanntes Verfahren für die CDU/CSU!)


schwächt die gesetzlichen Krankenkassen in den Jahren
2002 und 2003 bereits mit 4,5 Milliarden Euro. So die
deutschen Krankenkassen.


(Klaus Kirschner [SPD]: Das kennen sie von Ihnen!)


Die deutschen Krankenkassen haben festgehalten: Ohne
diese Belastung hätten die Beitragssätze in der Kranken-
versicherung stabilisiert werden können.

Jetzt aber folgt die Kontinuität im Irrtum. Mit diesen
Verschiebebahnhöfen geht es nämlich weiter. Das meiste,
was Herr Clement hier gestern vorgestellt hat,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist er denn eigentlich?)


ist ein Verschiebebahnhof zulasten der Kranken- und Ren-
tenversicherung. Die Einnahmeschwächung, die Frau
Schmidt beklagt hat, ist zuallererst darauf zurück-
zuführen, dass diese Regierung die Beiträge für die
Arbeitslosenhilfebezieher an die Krankenversicherung
drastisch gesenkt hat. Das hat nicht nur dazu geführt, dass
diese Menschen später eine niedrigere Rente haben wer-
den, insbesondere in den neuen Bundesländern, sondern
auch dazu, dass die Einnahmen der Krankenversicherun-
gen drastisch vermindert wurden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auf diesem fehlerhaften Weg wird fortgefahren. Der
neue Verschiebebahnhof nach den neuen politischen
Maßnahmen wird die Krankenversicherung erneut mit
weit über 1 Milliarde Euro belasten.

Ich halte fest: Erste politische Ursache für die akute
Finanznot der gesetzlichen Krankenversicherung sind die
politischen Fehler, die Rot-Grün in den letzten Jahren und
in der Gegenwart gemacht hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hinzu kommt, dass allein zwei Leistungsbereiche

durch politisches Unvermögen in den Sand gesetzt wor-
den sind. Den einen Fehler haben Sie persönlich zu
verantworten, Frau Schmidt. Sie haben die Arzneimittel-
budgets aufgehoben, ohne gleichzeitig eine Struktur-
reform im Gesundheitswesen durchzuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das hatte zur Folge, dass die Arzneimittelausgaben in Ih-
rer Regierungsverantwortung um 30 Prozent oder um
annähernd 9 Milliarden DM gestiegen sind.


(Peter Dreßen [SPD]: Bei Ihnen auch!)

Sicherlich wird niemand behaupten, dass der Bedarf an
medizinischer Versorgung in diesem Sektor in demselben
Umfang gestiegen ist.

Sie haben den weiteren Fehler begangen, die von uns
eingeführte Selbstbeteiligung so zu ändern, dass in der
gesetzlichen Krankenversicherung derjenige der Dumme
ist, der sich nicht die größte Packung verordnen lässt. Für
eine kleine Packung mit 25 Pillen sind vier Euro Zuzah-
lung zu leisten, für eine große Packung mit 100 Pillen fünf
Euro – in unserer Regierungsverantwortung war die
Spreizung wesentlich größer –; das hat zur Folge, dass
verständlicherweise niemand mehr bereit ist, bei nur ei-
nem Euro Unterschied auf die 75 Pillen in der größeren
Packung zu verzichten. Das war ein verheerender politi-
scher Fehler, der zu der Explosion der Arzneimittelausga-
ben geführt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – GötzPeter Lohmann [Neubrandenburg] [SPD]: Die Pillen hat er geschluckt!)


Die Verwaltungskosten innerhalb der gesetzlichen
Krankenversicherung sind in Ihrer Regierungsverantwor-
tung um 15 Prozent oder annähernd 2 Milliarden gestie-
gen, und zwar nicht, weil die Krankenkassen unwirt-
schaftlich arbeiten, sondern weil Sie durch Paragraphen,
Reglementierung, Gesetze und planwirtschaftliche Maß-
nahmen die Bürokratie in den Krankenkassen verstärkt
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Beides zusammengenommen – die politisch indizierte
Arzneimittelexplosion plus der explosionsartige Anstieg der
Bürokratie und der Verwaltungskosten – belastet die gesetz-
liche Krankenversicherung gegenwärtig mit 10 Milliarden

Horst Seehofer




Horst Seehofer
DM bzw. 5 Milliarden Euro. Das heißt, wenn Sie diese po-
litischen Fehler nicht begangen hätten, würde die gesetzli-
che Krankenversicherung trotz der schwierigen Wirt-
schaftslage im Moment kein Defizit schreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die akute Finanznot der gesetzlichen Krankenversiche-
rung ist Ausdruck des Unvermögens dieser Regierung.
Das ist die Folge Ihres Verschiebebahnhofs und politisch
falscher Maßnahmen.

Was ist zu tun? Es muss vor allem mit dem Irrglauben
Schluss gemacht werden, dass soziale Gerechtigkeit,
hohe Qualität in der medizinischen Versorgung und wirt-
schaftliche Effizienz durch Reglementierung und staatli-
che Bürokratie gewährleistet werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit durch eine
staatlich kontrollierte Verteilungsorganisation hat sich
endgültig als wirklichkeitsblind erwiesen.


(Peter Dreßen [SPD]: Dann sagen Sie doch mal, was Sache ist!)


Das Ergebnis Ihrer Politik ist, dass die Menschen in unse-
rem Lande so hohe Krankenversicherungsbeiträge zahlen
wie nie zuvor und gleichzeitig die Versorgungsqualität so
schlecht geworden ist wie nie zuvor. Beitragserhöhungen
und Leistungssenkungen sind das Ergebnis Ihrer verfehl-
ten Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU – Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Schwachsinn! – Erika Lotz [SPD]: Sie Schwarzmaler!)


Was ist zu tun? – Wir sagen es seit Jahren. Wir haben
es auch im Wahlkampf gesagt und haben im Gegensatz zu
Ihnen keinen Anlass, unsere Position nach der Wahl zu än-
dern. Die erste und wichtigste Aufgabe ist eine andere
Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Steuerpolitik, um in
Deutschland eine wirtschaftliche Dynamik auszulösen
und mehr Arbeitsplätze zu schaffen; denn dies ist das A
und O für die Einnahmen der Krankenversicherung. An
dieser Stelle müssen Sie ansetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das Zweite, was Sie tun müssen, Frau Schmidt, ist, die
neuen Verschiebebahnhöfe zugunsten des Ministers für
Wirtschaft und Arbeit zu verhindern. Es wäre richtig und
ein Ausdruck von Tapferkeit, die Fehler im eigenen Laden
zu vermeiden, statt die Öffentlichkeit zu beschimpfen,
dass sie sich angeblich falsch verhalte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In der Strukturreform haben Sie den großen Fehler ge-
macht, unsere Gesundheitsreform zurückzunehmen.


(Jörg Tauss [SPD]: Welche Reform?)

Wenn Sie die Gesundheitsreform des Jahres 1997 nach
der Bundestagswahl nicht aufgehoben hätten, dann hät-
ten Sie gegenwärtig weder die Finanzierungs- noch die

Qualitätsprobleme in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Wenn die Kranken das bezahlen, Herr Seehofer!)


Das war ein kolossaler politischer Fehler. Hinzu kommen
noch Ihre eigenen Fehler in den vergangenen vier Jahren.

Bei einer Strukturreform müssen Sie von den planwirt-
schaftlichen Elementen Abschied nehmen und im Kern
drei oder vier Punkte realisieren, die zu mehr Qualität und
zu einer höheren wirtschaftlichen Effizienz führen als Ihre
Ansätze der Bürokratie und Reglementierung. An erster
Stelle muss gerade mittel- und langfristig
stehen, das deutsche Gesundheitswesen aus dem Repara-
turbetrieb herauszuholen und in der Bundesrepublik
Deutschland mehr Prävention durch finanzielle Anreize
zu realisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Karsten Schönfeld [SPD]: Es ist unglaublich, was Sie da erzählen!)


Zweitens. Das deutsche Gesundheitswesen muss aus
der Dunkelkammer heraus. Bisher weiß niemand der Be-
teiligten, was dort stattfindet. Es ist höchste Zeit, dass die
Versicherten eine Rechnung bekommen, aus der sich er-
gibt, was geleistet und wie abgerechnet worden ist. Es ist
höchste Zeit, dass die Ärzte eine Gebührenordnung be-
kommen, anhand derer sie zum Zeitpunkt der Leistungs-
erbringung wissen, was sie für ihre Leistungen erhalten.


(Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU] – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen!)


Es ist schlimm, dass die Ärzte der einzige Berufsstand
sind, der zum Zeitpunkt der Dienstleistung nicht weiß,
was er für seine Leistung erhält.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Drittens. Besinnen Sie sich endlich auf ein tragendes
Element der sozialen Marktwirtschaft, nämlich auf den
Wettbewerb. Dezentralisieren Sie das deutsche Gesund-
heitswesen. Geben Sie den Ärzten, den Krankenhäusern,
den Apothekern und den anderen vor Ort Tätigen durch
Wettbewerb und freie Vertragsgestaltung – nicht durch
staatliche Bevormundung – die Chance, die bestmögliche
Versorgung der Patienten vor Ort sicherzustellen. Ent-
scheiden Sie nicht alles zentralistisch, einheitlich und hin-
ter verschlossenen Türen in Berlin.


(Peter Dreßen [SPD]: Sie glauben selber nicht, was Sie da erzählen!)


Geben Sie den Beteiligten im Gesundheitswesen viel-
mehr die Gestaltungsmacht, in einen Wettbewerb um die
bestmögliche Versorgung der kranken Menschen einzu-
treten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Viertens. Diejenigen, die die Krankenversicherung mit

ihren Beiträgen finanzieren, also die Beitragszahler, ha-
ben bisher so gut wie kein Mitspracherecht, wenn es um
die Gestaltung der Krankenversicherung geht. Deshalb


(A)



(B)



(C)



(D)


314


(A)



(B)



(C)



(D)






halten wir es für ein wichtiges Gestaltungselement, die
deutsche Sozialversicherung ein Stück weit zu demokra-
tisieren, also auch denjenigen, die Beiträge zahlen, ein
Mitspracherecht zu geben.


(Zuruf von der SPD: Das fällt Ihnen aber früh ein! – Peter Dreßen [SPD]: Warum ist Ihnen das nicht vor fünf oder sechs Jahren eingefallen?)


Den Gedanken des Gemeinsinns mit dem der Freiheit und
den Gedanken der Eigenverantwortung mit dem der
freien Entscheidungsmöglichkeit des Bürgers zu verbin-
den sind Elemente eines freiheitlichen Gesundheitswe-
sens. Räumen Sie den Versicherten endlich ein Mitgestal-
tungsrecht bei den Versicherungskonditionen und beim
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung
durch Wahlmöglichkeiten ein! Das heißt, wer sich selbst
finanziell stärker an den Leistungen beteiligt, der hat ei-
nen geringeren Beitragssatz.


(Widerspruch bei der SPD)

Lassen wir das die Menschen und nicht die Bürokraten
entscheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Führen Sie endlich Mitentscheidungsmöglichkeiten

von chronisch kranken Menschen in der gesetzlichen
Krankenversicherung ein. Machen wir Schluss damit, dass
Funktionäre über die Köpfe der chronisch kranken Men-
schen hinweg entscheiden. Beziehen wir die chronisch
kranken Menschen und ihre Selbsthilfegruppen vielmehr
in die Politikberatung und in die Entscheidungen der ge-
setzlichen Krankenkassen mit ein. Das wäre die richtige
Antwort in der deutschen Gesundheitspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP!)


Sie fallen in die Zeiten der Reglementierung zurück.
Sie verordnen Nullrunden und wollen den Menschen
weismachen, dass damit keine Qualitätseinbußen in der
Gesundheitsversorgung verbunden seien. Nullrunden für
die deutschen Krankenhäuser bedeuten aber in Wahrheit,
dass die Krankenhäuser im nächsten Jahr nur noch zwei
Möglichkeiten haben: Entweder entlassen sie Personal
oder sie schränken Leistungen ein. Die meisten Kranken-
häuser werden beides tun müssen. Frau Schmidt, Sie tra-
gen die Verantwortung dafür, dass in Deutschland noch
nie so viel Zweiklassenmedizin realisiert wurde wie der-
zeit. Diese Entwicklung wird sich auch noch fortsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Peter Dreßen [SPD]: Sie sollten bei der Wahrheit bleiben!)


Dann gibt es noch einen Scherbenhaufen, den Rot-Grün
angerichtet hat. Das ist die Rentenreform. Ich habe einmal
herausgesucht, was bei der Verabschiedung dieser angebli-
chen Jahrhundertreform vor einem Jahr von diesem Red-
nerpult aus gesagt worden ist. Walter Riester sagte damals:

Wir werden sicherstellen, dass in einem Zeitraum
von zehn Jahren der Rentenversicherungsbeitrag
nicht über 19 Prozent und in einem Zeitraum von
20 Jahren nicht über 20 Prozent steigen wird.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leere Verspre chungen!)


Ein Kollege aus meiner Fraktion hat damals dazwi-
schengerufen: „Daran werden wir Sie erinnern!“


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immer wieder!)

Das tun wir heute.

Ich habe schon vor einigen Monaten gesagt – ich wie-
derhole es, auch wenn Herr Müntefering nicht hier ist –:
Der Rentenversicherungsbeitrag von 19,1 Prozent ist
nicht zu halten, obwohl die Menschen jetzt ab 1. Januar
mehr als 15 Milliarden Euro Ökosteuer an der Tankstelle
sozusagen als Rentenbeitrag zahlen.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Bei Ihnen wäre es noch höher!)


Wenn Sie ehrlich mit dem Thema umgehen,

(Karsten Schönfeld [SPD]: Was Sie nie gemacht haben! – Beifall bei Abgeordneten der SPD)


müssen Sie die Beiträge von 19,1 Prozent auf minde-
stens 19,8 Prozent erhöhen. Weil ich zum Optimismus
aufgefordert worden bin, habe ich zugunsten der Regie-
rung sogar noch optimistisch gerechnet, nämlich nur mit
einer Steigerung von 19,1 Prozent auf 19,5 Prozent. Frau
Schmidt, mindestens werden es aber 19,8 Prozent sein.

Sie gehen jetzt auf 19,3 Prozent und versuchen die Dif-
ferenz durch einen schamlosen Griff in die Rentenreser-
ven auszugleichen. Das wird dazu führen, dass im nächs-
ten Herbst, also im Herbst 2003, zum ersten Mal in der
Geschichte der deutschen Rentenversicherung die Rente
auf Pump finanziert werden muss. Das zerstört das Ver-
trauen in die Rentenversicherung und ist des deutschen
Sozialstaats unwürdig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Außerdem erhöhen Sie die Beitragsbemessungs-

grenze. Diese beiden systemwidrigen Eingriffe werden
aber nicht ausreichen, um die Einnahmendifferenz bei
dem von Ihnen angepeilten Rentenversicherungsbeitrag
von 19,3 Prozent und dem tatsächlich notwendigen von
19,8 Prozent auszugleichen.

Deshalb prognostiziere ich heute wieder:

(Zuruf von der SPD: Kassandra!)


Entweder korrigieren Sie das schon jetzt, also noch bevor
Sie den Gesetzentwurf einbringen, und gehen auf einen
höheren Satz als 19,5 Prozent – das wäre nichts Neues;
jeder zurzeit handelnde Minister dieser Regierung hat
sich seit der Vereidigung in diesem Haus, also seit gut ei-
ner Woche, in seiner Meinung, die öffentlich gemacht
wird, mindestens einmal korrigiert –


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

oder Sie machen es später, aber Sie werden es – das ist
bombensicher – machen müssen, und dies bei der Aus-
sage: Wir garantieren der deutschen Öffentlichkeit, dass
der Rentenversicherungsbeitrag über zehn Jahre hinweg
nicht über 19 Prozent steigen wird.

Herr Riester sagte dann noch:
Deswegen ist diese Reform

Horst Seehofer




Horst Seehofer
– gemeint ist die, die vor Jahresfrist verabschiedet wurde –

die größte Sozialreform, die in der Nachkriegszeit
gemacht worden ist.

(Erika Lotz [SPD]: Das ist auch so! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Verfallsdatum: ein Jahr!)


Man glaubt es nicht, wenn man hört, dass die größte
Nachkriegsreform aller Zeiten, die am 1. Januar mit der
Riester-Rente in Kraft getreten ist – nicht irgendwann,
sondern am 1. Januar dieses Jahres –, im Oktober völlig
aufgehoben wird, und zwar dadurch, dass der Bundes-
kanzler erklärt: Jetzt werden wir eine Kommission einset-
zen, die eine echte Rentenreform macht.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

Dass eine Jahrhundertreform nach zehn Monaten am
Ende ist, ist eine Welturaufführung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage ganz freimütig: Wir haben auch nicht immer

Reformen gemacht, die ein Jahrhundert gehalten haben,
aber sie haben wenigstens einige Jahre gehalten. Eine Re-
form, die als Jahrhundertreform gepriesen worden ist, hält
nur Monate. Was sollen sich eigentlich all die Kommen-
tatoren denken, die diese Reform gepriesen haben, weil
sie der Propaganda des Ministers geglaubt haben? Was
sollen die 2 Millionen Menschen denken, die einen Ver-
trag zur Riester-Rente abgeschlossen haben und jetzt fest-
stellen, dass sich alle Rahmenbedingungen ändern wer-
den?


(Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch nicht wahr! Erzählen Sie keinen Blödsinn! Das ist doch dummes Zeug!)


Es ist ein Treppenwitz der Sozialgeschichte: Nach zehn
Monaten ist eine große Reform am Ende und es wird eine
Kommission eingesetzt, um die nächste Reform vorzube-
reiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter Dreßen [SPD]: Das ist verantwortungslos!)


Das deutsche Sozialversicherungssystem war in Eu-
ropa über viele Jahrzehnte Modellfall. Es war ein Vorzei-
gemodell.


(Karsten Schönfeld [SPD]: Und Sie haben es zugrunde gerichtet!)


Es hat vieles überstanden und bewältigt, Millionen Ver-
triebene und Flüchtlinge mit guten Renten- und Gesund-
heitsleistungen sozial integriert, viele wirtschaftliche Re-
zessionen überdauert und die deutsche Einheit sozial
gestaltet. Es war eines der schönsten Ereignisse: die in-
nere Einheit im sozialen Bereich mit den Renten und der
schnellen Übertragung des Gesundheitswesens, das opti-
mal funktioniert hat.


(Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Aber alles auf Pump!)


Das alles hat das gute deutsche Sozialsystem bewältigt.
Vier Jahre Rot-Grün haben genügt, um dieses Sozialsys-

tem zum Kollaps zu bringen. Das ist das Ergebnis Ihrer
Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Frau Schmidt, für Ihre Planwirtschaft bestand und be-

steht keine Zukunft. Sie müssen einen grundlegenden
Richtungswechsel in Ihrer Politik herbeiführen: mehr Ei-
genverantwortung, mehr Flexibilität und freiheitliche
Muster. Dadurch werden mehr Qualität und Versorgungs-
sicherheit gewährleistet als durch Ihre Bürokratie und Re-
glementierung. Wenn Sie das nicht tun, werden Sie in der
deutschen Sozialgeschichte nicht als Superministerin in
Erinnerung bleiben, sondern Sie werden als die Ministe-
rin in die deutsche Sozialgeschichte eingehen, die dieses
Sozialsystem auf dem direkten Weg in den Supergau ge-
führt hat.

Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500602400

Zur Geschäftsordnung erteile ich das Wort dem Kolle-

gen Kauder.


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1500602500

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und

Kollegen! Ich beantrage im Namen meiner Fraktion,
dass der Herr Bundeskanzler, der Herr Bundesfinanz-
minister und der Herr Bundeswirtschaftsminister an
dieser Debatte teilnehmen. Ein zentrales Thema deut-
scher Politik – wie können Lohnzusatzkosten gesenkt
werden? – wird besprochen. Die zuständigen Fachmi-
nister und der Bundeskanzler halten es nicht für nötig,
an dieser Debatte teilzunehmen. Das ist ein unerträgli-
cher Zustand.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500602600

Ich erteile dem Kollegen Küster das Wort.


Dr. Uwe Küster (SPD):
Rede ID: ID1500602700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Herr Kauder, ich richte mich besonders an Ihre
Adresse und an Ihre Fraktion. Sie wissen, dass zwei, drei
Minister derzeit aufgrund internationaler Verpflichtungen
unterwegs sind und darum an der Debatte nicht teilneh-
men können. Dass Sie diese üblichen Regeln des parla-
mentarischen Lebens auch jetzt wieder missbrauchen,
zeigt, dass Sie Ihre Rolle als Opposition bisher noch nicht
gefunden haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich rede nicht vom Außenminister!)


Des Weiteren haben Sie gesehen, dass in dieser Debatte
alle Ministerien vertreten waren. Ich glaube, Sie wollen


(A)



(B)



(C)



(D)


316


(A)



(B)



(C)



(D)






ein Spielchen treiben. Wenn Sie dieses anstatt einer or-
dentlichen Beratung wollen, lassen wir uns gerne darauf
ein und wir können über Ihren Antrag entscheiden. Sie
werden – wie immer – verlieren.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zur Geschäftsordnung – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Nein, nein! Rede und Gegenrede gibt es!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500602800

Kollege Beck, Sie haben das Wort.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Es geht um Rede und Gegenrede! Was ist denn das?)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500602900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! – Nun kom-

men Sie erst einmal zur Ruhe.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es steht in der Geschäftsordnung: Rede und Gegenrede! – Wie bitte? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Kann hier jeder reden? – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Was sagt der Präsident?)


– Machen Sie das mit dem Präsidium aus. Wenn der Prä-
sident mir das Wort erteilt, habe überwiegend ich das Wort
und Sie das Recht zu Zwischenrufen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Herr Präsident, das geht doch nicht!)


Selbstverständlich ist es das gute Recht der Opposi-
tion, Regierungsmitglieder herbeizuzitieren, wenn sie das
für sinnvoll hält. Trotzdem muss man sich fragen, ob ein
solcher Antrag jetzt, nach einer dreitägigen Debatte zur
Regierungserklärung, bei der der Bundeskanzler und
viele Mitglieder des Kabinetts ständig anwesend waren,
wirklich Sinn macht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hier geht es ums Eingemachte! Hier geht es darum, ob Arbeitsplätze gehalten oder neue geschaffen werden können! – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Sie sollten sich eine neue Brille bestellen!)


Ich meine, wir sollten die Mittel und Möglichkeiten
unserer Geschäftsordnung nicht durch Spielchen über-
strapazieren, sondern die Debatten in diesem Hause so
führen, dass sie der Würde dieses Hauses auch gerecht
werden. Ich habe große Zweifel, ob dieser Antrag diesem
Anliegen dient. Deshalb stimmen wir dagegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500603000

Ich erteile dem Kollegen Thiele das Wort.


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1500603100

Sehr geehrter Herr Präsident! Die FDP tritt dem Antrag

der Fraktion der CDU/CSU bei. Auch wir bitten um die
Anwesenheit der zuständigen Minister und des Bundes-
kanzlers. Es handelt sich immerhin um eine Diskussion
über die Regierungserklärung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die zuständigen Minister der Bundesregierung und der
Bundeskanzler an der Spitze sollten bei dieser Debatte an-
wesend sein. Da der Bundeskanzler selbst erklärt hat, dass
die demographische Entwicklung unseres Landes eines
der Hauptprobleme, die von dieser Regierung gelöst wer-
den müssen, darstellt, erwarten wir die Anwesenheit des
Kanzlers und der zuständigen Minister.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500603200

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag, den

Kollege Kauder gestellt hat. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wir sind uns hier vorne
nicht einig.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Meine Schriftführerin zur Rechten sagt, rechts sei die
Mehrheit. Mein Schriftführer zur Linken sagt, links sei
die Mehrheit. Also kommen wir zu unserem geliebten
Hammelsprung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, den Plenar-
saal zu verlassen und dann wieder durch die entsprechende
Tür – Ja, Nein oder Enthaltung – hereinzukommen.

Können wir mit der Auszählung beginnen? – Ich bitte,
mit dem Einlass und der Zählung zu beginnen.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500603300

Ich bitte die Geschäftsführer um ein Signal, ob alle in

der Lobby versammelten Kolleginnen und Kollegen Ge-
legenheit hatten, sich an der Abstimmung zu beteiligen.


(Zuruf: Nein!)

– Dann möchte ich die Geschäftsführer bitten, die noch
nicht in den Saal zurückgekehrten Kolleginnen und Kol-
legen zur Abgabe ihrer Stimme aufzufordern. Wir wollen
die Abstimmung in einer Minute schließen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Ab-
stimmung – –


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Es sind noch einige in der Lobby! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir können doch nicht warten, bis der Letzte in der SPD aufgewacht ist!)


– Vor einer Minute gab es auf meine Ankündigung, die
Abstimmung in Kürze zu schließen, keine gegenteiligen
Signale.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Uwe Küster




Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Nunmehr werden solche zunehmend registriert. Herr Ge-
schäftsführer, es gehört zur gefestigten parlamentarischen
Erfahrung, dass sich bei beliebiger Dauer des Abstim-
mungsverfahrens immer noch einzelne Kolleginnen und
Kollegen finden. Wir müssen die Abstimmung aber in ei-
ner überschaubaren und zumutbaren Zeit zum Abschluss
bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen schließe ich jetzt die Abstimmung und bitte die
Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen.

Ich teile das Abstimmungsergebnis mit. Für den Antrag
auf Herbeirufung der Mitglieder der Bundesregierung ha-
ben gestimmt 218 Mitglieder des Bundestages, gegen die-
sen Antrag haben gestimmt 266 Mitglieder,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Enthaltungen gab es keine. Damit ist dieser Antrag mit
Mehrheit abgelehnt.

Wir setzen die Aussprache fort.

(Unruhe)


– Ich bitte um wenigstens ein Mindestmaß an Aufmerk-
samkeit, insbesondere für die unmittelbar folgende Red-
nerin.

Als nächster Kollegin erteile ich Birgitt Bender für
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500603400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe

dem Geschäftsordnungsantrag der Opposition entnom-
men, dass das Thema Gesundheit und Soziales für Sie das
Thema überhaupt ist. Deswegen freue ich mich, jetzt vor
vollem Hause reden zu können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider hört Ihnen der Kanzler nicht zu, Frau Bender! – Unruhe)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500603500

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder hat Verständnis

dafür, dass sich nach dieser spektakulären Unterbrechung
die Interessen neu ordnen. Diejenigen, die der Debatte
nicht weiter folgen können oder wollen, mögen bitte den
Plenarsaal verlassen, damit diejenigen, die der Debatte
folgen wollen, den Rednern konzentriert zuhören können.
Ich bedanke mich für das Verständnis.

Bitte schön.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500603600

Danke schön, Herr Präsident.
Damit wende ich mich gleich der Opposition zu. Herr

Seehofer, Sie haben ja hier schwer zugeschlagen. Was hat

man da alles gehört: „drastisch“ und „dreist“, „schamlos“,
„Unvermögen der Bundesregierung“.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl! Das kann man nicht oft genug wiederholen!)


Wissen Sie, ich bin neu im Bundestag und ich bringe Er-
fahrungen aus der Opposition im baden-württembergi-
schen Landtag mit. Deswegen habe ich ein Verständnis
von der Oppositionsrolle. Wir Grüne haben es uns als Op-
position zur Aufgabe gemacht, nicht nur die Regierung zu
bekritteln, sondern auch selbst Reformalternativen vorzu-
legen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP)


Davon habe ich bei Ihnen nichts gehört.
Heute haben wir zum einen die alte Leier „Die Patien-

ten sollten mehr zuzahlen“ gehört. Das kennen wir schon.
Ansonsten habe ich Vorschläge gehört, deren Umsetzung
im Koalitionsvertrag vereinbart ist, Stichwort Patienten-
quittung, Herr Seehofer. Da freue ich mich doch auf die
Zustimmung der Opposition, wenn wir das entsprechende
Reformgesetz verabschieden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir können die Behauptung politischer Fehler im Ein-
zelnen behandeln. Bei Herrn Seehofer hieß es: Verschie-
bebahnhöfe, wie schrecklich! Wie war denn das noch?
Auch ich bin nicht mehr so ganz jung und verfüge über
ein gewisses Gedächtnis: Mir ist so, als hätte die Regie-
rung Kohl die deutsche Einheit über die Belastung der
Beitragszahler in den Sozialversicherungssystemen be-
zahlt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir, Rot-Grün, sind es schließlich gewesen, die erst ein-
mal dafür gesorgt haben, dass alle versicherungsfremden
Leistungen in der Rentenversicherung steuerfinanziert
werden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das stimmt ja gar nicht! Sie haben ja überhaupt keine Ahnung! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: In Steuererhöhungen seid ihr ganz groß!)


Lassen Sie sich im Übrigen auch einmal gesagt sein,
dass unter der Regierung Kohl sowohl die Sozialversi-
cherungssysteme belastet als auch immer weitere Schul-
den gemacht wurden. Wir aber konsolidieren den Haus-
halt. Es muss wohl möglich sein, die Arbeitslosenhilfe zu
reformieren, auch wenn dabei Belastungen in der Sozial-
versicherung entstehen, die wir dann ausgleichen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie sind nicht nur neu, sondern Sie haben auch keine Ahnung!)



(A)



(B)



(C)



(D)


318


(A)



(B)



(C)



(D)






Herr Seehofer, Sie haben gesagt, die Kostenentwick-
lung in den Sozialversicherungen sei allein politischen
Fehlern der Bundesregierung geschuldet.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Dazu muss ich sagen: Ganz offensichtlich übersteigt un-
sere Politik Ihren politischen Intelligenzquotienten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo hat man die denn losgelassen?)


Ich schaue mir ab und zu einmal die Tickermeldungen an.
Vor zwei Tagen, am 29. Oktober dieses Jahres, wurde ein ge-
wisser Kollege Seehofer zitiert: Dass die Ministerin nun
plötzlich zu derartigen Sparmaßnahmen greife, geschehe
nicht aus Einsicht, sondern sei dem Druck der Ereignisse ge-
schuldet; diese seien unter anderem die konjunkturbedingt
wegbrechenden Einnahmen der Krankenkassen. – Dazu
kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch zu dieser Er-
kenntnis! Wenn die politische Halbwertszeit noch etwas län-
ger wäre, dann wäre es noch besser.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Wo ist da eigentlich ein Widerspruch drin?)


Jetzt sage ich ein Wort zu den kurzfristigen Maßnah-
men. Es wird diese Maßnahmen geben. Wir zimmern die-
ses Sparpaket mit den Werkzeugen, die für Notmaßnahmen
vorgesehen sind. Keine Frage, was einzelne dieser Maß-
nahmen angeht, haben wir in der Koalition noch Bera-
tungsbedarf. Es besteht aber Einigkeit – das will ich deut-
lich sagen –, dass wir durch ein solches Sparpaket, das den
Beitragsanstieg verhindern wird, den Rücken für Struktur-
reformen, die im nächsten Jahr anstehen, freibekommen.


(Lachen des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU])


Das ist unser vorrangiges Ziel. Wir werden diese Refor-
men durchführen, ob sie Ihnen gefallen oder nicht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das hören wir jetzt schon vier Jahre von Ihnen! Das hören wir jetzt im fünften Jahr!)


Dass angesichts der kurzfristig zu erwartenden Maß-
nahmen jetzt der Aufschrei der Lobbyisten einsetzt, gehört
dazu wie die Kirchenglocken zum Sonntag. Damit können
wir leben. Dass sich die Opposition an die Spitze der Lob-
byistenbewegung setzen wird, ist zu erwarten. Auch damit
können wir leben.

Leitlinie für Strukturreformen – das sage ich auch
klar – wird nicht der staatliche Dirigismus sein.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Ach nein!)

Leitlinie unserer Strukturreformen wird eine Stärkung
des Wettbewerbs im Gesundheitswesen sein, und zwar
eines Wettbewerbs um die beste Versorgung und um die
beste Prävention.


(Detlef Parr [FDP]: Mit diesen Mitteln?)


Anders als die Opposition organisieren wir nicht Aus-
stiege oder Teilausstiege aus der gesetzlichen Kranken-
versicherung; wir wollen und werden das Solidarsystem
zukunftsfähig machen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie rationieren Leistungen! Sie enthalten chronisch Kranken Leistungen vor!)


Deswegen bekommen die Patientinnen und Patienten eine
neue Rolle gegenüber Ärzten und Kassen. Sie werden
gleichberechtigte Partner. Ihre Rechte und Mitwirkungs-
möglichkeiten werden gestärkt. Wir werden bessere und
umfangreichere Beratungen durch unabhängige Bera-
tungsstellen haben.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Warum haben Sie unser Partnerschaftsmodell abgelehnt?)


– Hören Sie gut zu! – Wir werden die Patientenquittung
einführen. Ich bin gespannt, was Sie dann sagen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das haben Sie schon sechs Jahre verhindert! Wir haben es im Gesetz beschlossen!)


Es wird auch im Zusammenhang mit Fragen der Sicherstel-
lung der Versorgung Anhörungsrechte geben. Schließlich
wird es einen Patientenbeauftragten oder eine Patientenbe-
auftragte geben, der oder die Erfahrungen und Anregungen
bündeln und in Reformprozesse einbringen kann.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie bräuchten einmal eine Ministerinbeauftragte!)


Dies sind Aspekte demokratischer Teilhabe, durch die
das Gesundheitswesen an Qualität gewinnen und die Ei-
genverantwortung der einzelnen Menschen steigen wird.
Dies ist uns wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Detlef Parr [FDP]: Sie sind auch nicht von dieser Welt!)


Für die Kassen heißt dies, dass sie in Zukunft nicht nur
über den Preis konkurrieren, sondern auch über Qualität;
Qualität in der Versorgung ebenso wie in der Prävention.
Sie werden also auch Einzelverträge mit den Leistungs-
anbietern mit festgelegtem Qualitätsniveau schließen. An-
ders gesagt: Mit uns wird es keinen Naturschutz für Mo-
nopole in der Gesundheitsversorgung geben. Kassen
werden unterschiedliche Profile durch Anreiz- und Bonus-
systeme bilden.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Also doch Grundund Wahlleistungen jetzt auch bei den Grünen!)


Für die Versicherten heißt das, dass sie sich bewusst für
Wege entscheiden können, um Krankheiten zu vermei-
den. Im Krankheitsfalle haben sie Wahlmöglichkeiten
zwischen unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da klatscht von der SPD keiner!)


Die Präventionwird eine eigenständige Säule, denn es
geht um die Vermeidung von Krankheiten, um die bessere

Birgitt Bender




Birgitt Bender
Bewältigung von gesundheitlichen Belastungen. Wenn
wir wissen, dass jedes fünfte Kind bei Schuleintritt über-
gewichtig ist, wissen wir auch, welche große gesell-
schaftliche Aufgabe wir im Interesse der Menschen wie
auch der Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens zu
bewältigen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Haben Sie das mit der SPD abgestimmt?)


Solche Reformen verlangen von allen Beteiligten im
Gesundheitswesen die Bereitschaft, aus alten Denkmus-
tern und Konfliktstrategien auszusteigen. Wer diese Be-
reitschaft hat, ist zur Mitgestaltung eingeladen.

Nun noch ein Wort zur Rente.Wir haben mit der Ren-
tenreform für Generationengerechtigkeit gesorgt, indem
wir der gesetzlichen Altersversorgung eine weitere Säule
in Form der privaten Altersversorgung hinzugefügt ha-
ben. Wir werden jetzt auch kurzfristig Maßnahmen er-
greifen, um Belastungen des Faktors Arbeit zu vermeiden.
Es ist eben nicht so – wie Sie, Herr Seehofer, gesagt haben
– dass wir hierbei in Omas Sparstrumpf langen. Es wird
vielmehr so sein, dass die Rente gezahlt wird, egal welches
Katastrophenszenario die Opposition an die Wand malt.

In die Zukunft gerichtet sage ich: Wir werden auch da-
rüber nachdenken müssen, ob die alleinige und aus-
schließliche Finanzierung der Sozialversicherungen über
die abhängige Arbeit das Modell der Zukunft sein kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies wird auch eine Aufgabe der anvisierten Kommission
sein.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir wissen, es
gibt viel zu tun. Seien Sie sicher: Rot-Grün packt es an!

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500603700

Frau Kollegin Bender, dies war Ihre erste Rede im

Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratu-
liere.


(Beifall)

Es gibt einfachere Situationen, als unmittelbar im An-

schluss an einen Hammelsprung hier zu reden. Unter die-
sem Gesichtspunkt haben Sie das Schlimmste fast schon
hinter sich.


(Heiterkeit – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gut zu wissen!)


Ich erteile als nächstem Redner dem Kollegen Kolb für
die FDP-Fraktion das Wort.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1500603800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man den Inhalt der

Rede der Ministerin auf die Formel bringen: Wegen Bei-
tragsexplosion macht Frau Schmidt ’ne Kommission.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Ministerin, abgesehen von dieser Ankündigung
hat sich Ihre Rede in Allgemeinplätzen erschöpft.


(Ina Lenke [FDP]: Ja!)

Dies ist beschämend, insbesondere angesichts einer
Ankündigung im Koalitionsvertrag, in dem es heißt: „Wir
machen unsere sozialen Sicherungssysteme zukunfts-
fähig.“ So steht es in der Präambel.

Wir kaschieren die auftretenden Probleme so lange es
irgend geht, hätte es heißen müssen. Noch nie hatte das
Wort Zukunftsfähigkeit so viel von einer Drohung wie im
rot-grünen Koalitionsvertrag.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Menschen in Deutschland verstehen sehr gut – glau-
ben Sie mir das –, dass diese Politik ihre Zukunft nicht
sicherer macht, sondern sie um ihre Zukunft bringt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Denn statt die sozialen Sicherungssysteme auf die Belas-
tungen durch eine alternde Bevölkerung einzustellen, ver-
schiebt die rot-grüne Regierung die Lasten in die Zukunft
und die Beiträge steigen und steigen. In keinem anderen
Politikfeld ist – aus meiner Sicht folgerichtig – das öffent-
liche Echo auf Ihre Vorschläge im Koalitionsvertrag so
vernichtend wie in der Renten- und Gesundheitspolitik –
und dies mit Recht.


(Beifall bei der FDP)

Denn die Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze
in der Renten- und Arbeitslosenversicherung von 4500 auf
5100 Euro hat doch nichts, aber auch gar nichts mit der
Herstellung von Zukunftsfähigkeit zu tun. Sie ist nichts
anderes als eine Aktion zur kurzfristigen Geldbeschaf-
fung, die vor allem die Leistungsträger in unserer Gesell-
schaft bestraft.


(Beifall bei der FDP)

Besonders schlimm ist Folgendes: Schon jetzt ist klar,

dass die betroffenen Versicherten aus der Erhöhung der
Beiträge wohl später keine zusätzlichen Leistungen er-
warten dürfen.


(Zuruf der Abg. Erika Lotz [SPD])

Betroffen, Frau Kollegin Lotz, ist die von Ihnen so ge-
nannte Neue Mitte, die gut verdienenden Angestellten und
Facharbeiter, die nun bis zu 1 200 Euro pro Jahr mehr in
die Sozialkassen einzahlen müssen. Meine Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, ist Ihnen eigentlich klar, dass
Sie mit dieser Maßnahme systematisch nicht nur wirt-
schaftlichen Leistungswillen vernichten – und zwar bei
denen, die jetzt eigentlich die Voraussetzungen für einen
neuen konjunkturellen Aufschwung schaffen müssten –,
sondern auch die Bereitschaft – und die objektive Mög-
lichkeit – der Bürger, mehr für ihre private Altersvorsorge
zu tun?


(Beifall bei der FDP)



(A)



(B)



(C)



(D)


320


(A)



(B)



(C)



(D)






Nicht weniger dramatisch ist die Folge der Erhöhung
der Beitragsbemessungsgrenze auch für den Arbeits-
markt. In Firmen, in denen viele Mitarbeiter mit Monats-
einkünften über 4 500 Euro arbeiten, werden die Lohn-
nebenkosten regelrecht explodieren. Damit steigen die
Arbeitskosten gerade in einem Bereich, in dem derzeit oh-
nehin bereits besonders viele Menschen von Entlassun-
gen bedroht sind: bei Banken und Versicherungen, bei
Medienunternehmen, in der Werbeindustrie.


(Peter Dreßen [SPD]: Die gehen auch so!)

Frau Ministerin Schmidt, wann erkennen Sie, wann er-

kennt diese Bundesregierung endlich diesen Teufelskreis?
Jede Steigerung der Beitragssätze kostet Arbeitsplätze, da
die Unternehmen die steigenden Lohnnebenkosten bei
stagnierenden oder sinkenden Umsätzen durch Rationali-
sierung und Entlassungen auffangen müssen. Es ist ja
keine Frage des Wollens, sondern eine des Müssens. Eine
verantwortliche Geschäftsführung kann überhaupt nicht
anders, als in einer solchen Situation so zu reagieren,
wenn sie nicht den Verlust aller Arbeitsplätze des Unter-
nehmens durch Insolvenz riskieren will.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500603900

Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1500604000

Nichts lieber als das. Bitte sehr.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500604100

Bitte, Herr Kollege Dreßen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Gerade der Dreßen!)



Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1500604200

Herr Kollege Kolb, Sie haben gerade die Erhöhung der

Lohnnebenkosten angesprochen. In dieser Frage gebe
ich Ihnen ja in gewisser Weise Recht. Wieso haben Sie es
dann eigentlich in Ihrer Regierungszeit zugelassen, dass
die Lohnnebenkosten von 34 Prozent auf 43 Prozent er-
höht wurden? Wieso haben Sie diese Erkenntnis damals
nicht berücksichtigt und die Lohnnebenkosten nicht bei
34 Prozent gehalten? Wenn wir heute von den 34 Prozent
ausgehen könnten, dann wäre uns sehr viel wohler. Warum
haben Sie in Ihrer Regierungszeit eine derart drastische Stei-
gerung gehabt? Eine solche Steigerung hatten wir nie; wir
haben ja angefangen, die Lohnnebenkosten abzusenken.


(Lachen des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU])



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1500604300

Herr Kollege Dreßen, ich glaube, diese Frage erklärt

auch ein Stück weit die Probleme, die Sie aktuell in der
Gesundheits- und Rentenpolitik haben. Sie richten den
Blick immer nur nach hinten,


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Erika Lotz [SPD]: Antworten Sie mal!)


anstatt in der konkreten Entscheidungssituation die Lö-
sungen anzubieten, mit denen die Beiträge stabilisiert
werden können, sodass dazu beigetragen werden kann,
Entlassungen zu vermeiden.

Es nützt einem von Arbeitslosigkeit bedrohten Men-
schen in unserem Land überhaupt nichts, wenn Sie auf die
Vergangenheit verweisen. Die Menschen wollen jetzt wis-
sen, wie ihnen geholfen werden kann und wie ihnen diese
drohenden Beitragssteigerungen erspart bleiben können.


(Karsten Schönfeld [SPD]: Armselig! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihnen ist auch nichts eingefallen!)


Herr Dreßen, das Schlimme ist doch, dass in allen
Zweigen der Sozialversicherung – ob das die Rentenver-
sicherung, die Krankenversicherung, die Arbeitslosenver-
sicherung oder die Pflegeversicherung ist – Feuer unter
dem Dach ist. Und was machen Sie? – Sie betreiben eine
Politik nach dem Motto: Als wir nicht mehr weiter wuss-
ten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen. Das kann es
wirklich nicht sein. Angesichts täglich neuer Schreckens-
meldungen rennt Rot-Grün den Problemen atemlos hin-
terher. Anders kann man das nicht beschreiben. Was bei
Ihnen zählt, ist Aktionismus, kurzfristiges Handeln.


(Peter Dreßen [SPD]: Möllemann!)

Wie anders soll man es denn bezeichnen, wenn in der

nächsten Woche, am 5. November, ein Gesetzentwurf im
Deutschen Bundestag eingebracht wird und zehn Kalen-
dertage später – Anhörung und Ausschussberatung inklu-
sive – das Gesetz fertig sein soll? Das kann man doch
nicht mehr verantwortliche Beratung nennen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich frage mich, wie Sie ein solches Vorgehen mit Ihrem
Selbstverständnis als Parlamentarier vereinbaren können.


(Erika Lotz [SPD]: Möllemann!)

Den Menschen, die angesichts all dessen versuchen,

der Beitragsexplosion auszuweichen, antworten Sie – wie
schon früher bei der von Ihnen so genannten Schein-
selbstständigkeit – mit einer Politik der Zwangsjacke. Die
Anhebung der so genannten Versicherungspflichtgrenze
in der Krankenversicherung soll – erst nur für Berufs-
anfänger; jetzt, wie wir hören und lesen können, für alle
Versicherten – den Wechsel in eine private Krankenkasse
erschweren. Wir Liberale im Deutschen Bundestag be-
fürchten: Durch derart tagesflüchtiges Handeln wird mas-
siv Vertrauen in die Verlässlichkeit politischer Rahmen-
bedingungen und in die Zukunft der Sozialversicherung
zerstört.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vor diesem Hintergrund lässt auch die Ankündigung

des Bundeskanzlers, für die Sozialversicherung eine
Kommission à la Hartz einsetzen zu wollen, wirklich
nichts Gutes erwarten. Mit rund geschliffenen Konzepten
à la Hartz lassen sich die Probleme nicht lösen. Es ist hier
schon gesagt worden: Auch die als Jahrhundertwerk an-
gekündigte riestersche Rentenreform hat nicht einmal
zwei Jahre gehalten. Rot-Grün steht in der Rentenpolitik
vor einem Scherbenhaufen.

Dr. Heinrich L. Kolb




Dr. Heinrich L. Kolb

Deswegen gilt es jetzt, mit einer mutigen und beherz-
ten Politik die Strukturprobleme in der Renten- und Ge-
sundheitsversicherung zu lösen und nicht kopflos daran
herumzudoktern. Wir sind zur Mitarbeit bereit, aber nicht
mit heißer Nadel. Hier darf nichts – das sage ich sehr deut-
lich – über das Knie gebrochen werden. Es ist viel Zeit
verloren gegangen, weil Sie die Probleme bisher geleug-
net haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Es ist Zeit, dass sich die rot-grüne Koalition, die vieles
verdrängt, der Einsicht stellt und wir gemeinsam ans
Werk gehen. Dieses Land hat es verdient.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500604400

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin

Gudrun Schaich-Walch, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1500604500

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wir sind schon ziemlich geschlagen.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das kann man wohl sagen!)

Der eine scheut den Blick zurück, weil er nichts anderes
sieht als einen Scherbenhaufen. Der Nächste tritt hier an
und lässt erkennen, dass er offensichtlich alles vergessen
hat. Er hat vergessen, dass er derjenige war, der die zarte
Pflanze der Prävention ausgerissen hat


(Klaus Kirschner [SPD]: Blackout! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Was machen Sie denn jetzt?)


und dass die Prävention und die Unterstützung der Selbst-
hilfe von dieser rot-grünen Koalition erst wieder einge-
führt werden mussten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Prinzip machen Sie heute genauso weiter wie vor
der Wahl. Sie zeigen schlechte Alternativen auf. Ich denke
an den Vorschlag der FDP zur Privatisierung unserer
sozialen Sicherungssysteme oder an den der CDU/CSU
zur Teilprivatisierung mit dem Ansatz von Wahlleis-
tungen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Grünen haben das eben auch empfohlen!)


In beiden Fällen hat man Ihnen sehr deutlich gemacht,
dass das nicht gewünscht ist. Es wäre wenigstens zu er-
warten gewesen, dass Sie für die Zukunft die Kraft haben,
Konsequenzen daraus zu ziehen und inhaltlich etwas an-
deres anzubieten. Aber anstatt Lösungen aufzuzeigen,
machen Sie nur eins: Sie verunsichern die Menschen, Sie

reden unsere sozialen Sicherungssysteme schlecht. Ein
konstruktiver Beitrag kommt von Ihnen nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt muss sie selber lachen!)


Sie haben eben gesagt, wir müssten die Probleme an
der Wurzel anpacken. Das werden wir gemeinsam tun,


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Ja, wo?)

allerdings nicht prinzipienlos. Wir werden dabei immer
das Prinzip vor Augen haben, dass die Modernisierung
des Sozialstaates auf Solidarität gründen muss und auf
Verlässlichkeit für jeden, der zur Bewältigung schwerer
Lebenskrisen Hilfe braucht. Wir werden sie an der Gene-
rationengerechtigkeit und an dem Gedanken der Nach-
haltigkeit orientieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb werden die Ziele unserer Gesundheitspolitik
in den grundlegenden Punkten an dem ausgerichtet sein,
was wir in der letzten Legislaturperiode begonnen haben.
Wir werden die Prävention gemeinsam weiterentwickeln
und die Qualität im deutschen Gesundheitswesen ent-
scheidend verbessern, weil davon auch die Wirtschaft-
lichkeit abhängt. Wir werden mithilfe der Patientenkarte
und der Patientenquittung – die Kollegin hat das eben ge-
sagt – die Transparenz erhöhen. Wir werden das alles un-
ter dem Gesichtspunkt tun, meine Damen und Herren von
der FDP, nicht ein möglichst hohes Einkommen für dieje-
nigen zu sichern, die im Gesundheitswesen tätig sind.
Vielmehr werden wir das vorrangig am Wohl der Patien-
tinnen und Patienten orientieren und wir werden die Be-
schäftigten dabei nicht aus dem Auge verlieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden in der Zukunft diese Ansätze, die wir
erarbeitet haben, weiterverfolgen. Wir werden im Kranken-
hausbereich mit dem eingeschlagenen Weg der leistungs-
orientierten Vergütung der Fallpauschale einen wesent-
lichen Schritt zu mehr Qualität und Transparenz tun.

Wir tun das in gleichem Maße in der ambulanten
Versorgung mit der Einführung der Desease-Manage-
ment-Programme, die, wie ich denke, die Struktur der
ambulanten Versorgung in den kommenden Jahren ent-
scheidend verändern werden. Wir werden dadurch zu
mehr Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gruppen
kommen. Patientinnen und Patienten werden bei der Be-
wältigung ihrer Krankheit endlich eine entscheidende und
wichtige Rolle spielen und werden damit zu ihrem Hei-
lungserfolg selbst einen wesentlichen Beitrag leisten kön-
nen. Das verstehen wir unter Selbstbeteiligung. Es geht
eben nicht darum, sich entweder ein Paket zu wählen oder
kräftig zuzuzahlen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind uns allerdings auch darüber im Klaren, dass
wir zu einer Steigerung der Qualität in diesem Gesund-


(A)



(B)



(C)



(D)


322


(A)



(B)



(C)



(D)






heitssystem mehr Wettbewerb benötigen. Entscheidend
für uns ist aber, dass wir dabei immer berücksichtigen,
dass Gesundheit ein elementares Gut ist. Es ist eines der
wichtigsten Güter für die Menschen überhaupt. Deshalb
werden wir natürlich keinen Wettbewerb durchführen,
durch den an dem solidarischen System und an den
Finanzierungsstrukturen etwas verändert wird. Bei die-
sem Wettbewerb werden wir eigene Regeln, die auf das Ge-
sundheitswesen abgestimmt sind, benötigen. Diese dürfen
uns nicht die Probleme bereiten, die wir in der Vergangen-
heit von Ihnen übernommen haben. Sie haben den Wettbe-
werb letztendlich nicht an der Qualität und an der Patien-
tenversorgung, sondern nur am Beitragssatz ausgerichtet.


(Ina Lenke [FDP]: Sie sind doch schon seit vier Jahren an der Regierung!)


Die Basis eines so verstandenen Wettbewerbs – wir la-
den Sie zum Mitmachen ein – ist ein ständig an den Stand
der Bedürfnisse und an die Ergebnisse der Wissenschaft
anzupassender Leistungskatalog.


(Detlef Parr [FDP]: Das ist interessant und wird spannend! – Ina Lenke [FDP]: Das ist aber gefährlich!)


Es wird ein einheitlicher und gemeinsamer Leistungska-
talog sein, der all das, was zur medizinischen Versorgung
notwendig ist, umfasst.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Und wer legt fest, was notwendig ist?)


Mehr Wettbewerb heißt in Zukunft allerdings auch
mehr Vertragsfreiheit für die Kassen und für die Leis-
tungserbringer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Und warum nicht für die Patienten?)


Neben Kollektivverträgen brauchen wir Einzelverträge. Die
Kassen müssen die Freiheit haben, Verträge mit denen ab-
zuschließen, die für die Patienten die besten Angebote ma-
chen, die die besten Qualitäten versprechen und die andere
Versorgungsformen einbeziehen. Die Kassen müssen
durchaus auch die Freiheit haben, Verträge mit denen, die
diese Qualität nicht versprechen, nicht schließen zu müssen.


(Beifall bei der SPD)

Das gilt in Zukunft sowohl für den ambulanten als auch
für den stationären Bereich.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Qualität wird dann durch das Parteibuch festgelegt!)


Diese Flexibilität wird es allerdings nicht nur aufseiten
der Ärzte und der Anbieterseite geben müssen. Ich bin der
festen Überzeugung, dass wir im ambulanten Bereich
dafür Sorge tragen müssen, dass bei den Kassen der
Zwang, einheitliche und gemeinsame Verträge abzuschlie-
ßen, wegfällt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist schön!)


Abgesehen von diesen langfristigen Maßnahmen, die
Ihnen meine Kollegin von den Grünen teilweise schon
vorgestellt hat – ein Ausschnitt wurde Ihnen gerade von
mir vorgestellt; weitere Kollegen unserer Fraktionen wer-
den noch reden –, ist festzustellen, dass wir augenblick-
lich Probleme haben, weil wir mit einer höheren Arbeits-
losenzahl als erwartet zu kämpfen haben, weil die
Prognosen der Schätzerkreise nicht richtig waren. Des-
halb sind wir aufgefordert, kurzfristig zu reagieren und
dafür zu sorgen, dass die Beitragssätze stabil bleiben, da-
mit all unsere Anstrengungen, die wir im arbeitsmarktpo-
litischen Bereich unternehmen, nicht durch Beitragssatz-
steigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung
konterkariert werden.

Das verlangt von allen in diesem System Abstriche.
Ihnen ist allerdings nichts anderes eingefallen, als per-
manent Zuzahlungen für die Patienten zu beschließen so-
wie die Rehabilitation und Kur in Gänze zu streichen.
Und im letzten Jahr haben Sie dann wie die Pharisäer da-
rüber geklagt, was aus den Müttergenesungskuren ge-
worden sei.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Was fällt Ihnen denn ein?)


Sie haben damals das Grab für Rehabilitation und Kur ge-
schaufelt und wir hatten die Aufgabe, das, was sinnvoll
war, wiederherzustellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr habt es zugeschüttet!)


Wir werden ein Paket ausgewogener Maßnahmen
vorlegen. Dabei geht es im Wesentlichen um die Preis-
gestaltung bei den Arzneimitteln. Wir werden aber auch
vor den Krankenkassen und deren Verwaltungskosten
nicht Halt machen. Auch sie werden wie die anderen im
Gesundheitssystem in eine Nullrunde eingebunden wer-
den.

Für die weitere Zukunft gelten in der Rente die glei-
chen Prinzipien wie im Gesundheitsbereich. Wir haben
die Rente verändert. Wir haben die Rente sicherer ge-
macht.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo? – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sicher ist, dass die Beiträge steigen, Frau Kollegin!)


Wir haben dafür gesorgt, dass sie auch für die älteren
Menschen sicher ist. Wir haben dafür gesorgt, dass die
Rente für jüngere Menschen bezahlbar ist. Wir haben ei-
nen staatlich geförderten Anteil für die private Altersvor-
sorge in einer Höhe bereitgestellt, wie ihn diese Bundes-
republik noch nie gekannt hat. Der Staat stellt für dieses
Förderprogramm fast 13 Milliarden Euro zur Verfügung.
Das ist das größte Programm, das es in diesem Land zum
Aufbau eines Vermögens für die Altersvorsorge je gege-
ben hat.


(Beifall bei der SPD)

Allerdings müssen wir neben diesen strukturellen Pro-

blemen auch bei der Rente kurzfristigen Herausforderun-
gen begegnen und Antworten geben. Genau wie in der
Krankenversicherung sind unsere Hauptprobleme die

Gudrun Schaich-Walch




Gudrun Schaich-Walch
schwache Weltkonjunktur und ihre Auswirkungen auf die
Beschäftigungssituation.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Und die Regierung!)


Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit den
Schritten, die wir in der Rentenversicherung gehen wer-
den, auch zur sicheren Entwicklung am Arbeitsmarkt ei-
nen guten Beitrag leisten.

Wir werden deshalb an der Ökosteuer festhalten. Ich
sage Ihnen: Wäre man Ihren Anregungen gefolgt, dann
wüsste ich nicht, wie der Rentenbeitragssatz heute aussähe.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir hätten dann garantiert ein paar Hunderttausend Arbeitsplätze mehr!)


Sie haben zum Rentenbeitragssatz und zu seiner Ent-
wicklung offensichtlich ein gestörtes Verhältnis; denn Sie
haben schlicht und einfach vergessen, dass Sie uns 1998
einen Rentenbeitragssatz von 20,3 Prozent hinterlassen
haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem, was Sie jetzt vorgeschlagen haben, würde er
noch weiter steigen.

Herr Seehofer, Sie haben auch vergessen, dass Sie in
den Jahren 1996 und 1997 in der Situation waren, zum
Jahresende eine Schwankungsreserve von gerade einmal
60 Prozent einer Monatsausgabe zu haben. Ich möchte Sie
auch daran erinnern, dass in unserer Regierungszeit die
Auszahlung der Rente zu keinem Zeitpunkt gefährdet ge-
wesen war. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen,
weshalb Sie jetzt glauben, den Teufel an die Wand malen
zu müssen. Damit säen Sie bei den Menschen letztendlich
nur Verunsicherung, ohne irgendeinen Lösungsweg auf-
zuzeigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500604600

Frau Kollegin, – –


Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1500604700

Noch ein Wort zur FDP. Wenn wir jetzt die Bemessungs-

grenze auf 5 100 Euro anheben, um die Lasten auf mehr
Schultern zu verteilen, dann frage ich mich, woher Sie die
Erkenntnis haben, dass nur die Menschen mit einem Ein-
kommen von über 4 500 Euro in dieser Gesellschaft leis-
tungsbereit sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500604800

Frau Kollegin Schaich-Walch, ich hatte Sie vor Ende

Ihrer Redezeit nicht unterbrechen, sondern nur fragen
wollen, ob Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeord-

neten Fuchtel hätten zulassen wollen, die, wie Sie wissen,
Ihre Redezeit insoweit verlängert hätte.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Chance vertan!)

Ich erteile nun als nächstem Redner das Wort dem Kol-

legen Andreas Storm für die CDU/CSU.


Andreas Storm (CDU):
Rede ID: ID1500604900


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben
in diesen Tagen, wie die alte und neue Bundesregierung
fast alles über Bord wirft, was sie den Wählern vor dem
22. September vollmundig versprochen hat. Ich habe Ih-
nen eine Anzeige mitgebracht, die die SPD am 18. Juni
dieses Jahres in der „Frankfurter Rundschau“ veröffent-
licht hat. Dort steht: „CDU/CSU und FDP: Rentenbeiträge
werden erhöht. SPD: Rentenbeiträge bleiben stabil. “


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Selten hat eine Bundesregierung die Menschen so hin-

ters Licht geführt wie Rot-Grün in diesem Jahr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wirklich keiner zweifelt mehr daran, dass Sie schon lange
vor der Wahl ganz genau wussten, wie die Dinge stehen.
Sie haben die Wählerinnen und Wähler mit voller Absicht
getäuscht und belogen. Das war systematische Wähler-
täuschung. Das war Rentenbetrug.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen Ren-

tenversicherungsträger, Professor Franz Ruland, hat dieser
Tage mehrfach klipp und klar festgestellt: „Wenn die Bun-
desregierung den Bürgern die Wahrheit sagen würde, dann
müsste sie den Beitragssatz auf 19,8 Prozent heraufsetzen.“


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!)

Der neue Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, hat

vor zwei Tagen eingeräumt, dass der Beitrag auch über die
19,3 Prozent, von denen Sie offiziell immer noch ausge-
hen, steigen könnte. Herr Scholz sagte wörtlich:

Wir bleiben in jedem Fall unter 20 Prozent.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: unter
20 Prozent!


(Erika Lotz [SPD]: Bei euch lag der Satz doch drüber!)


Mit anderen Worten: Sie haben es geschafft, dass der
Rentenbeitragssatz im Jahr 2003 eine Höhe erreichen
wird, die nach der Riester-Reform bzw. nach dem, was
uns im vergangenen Jahr angekündigt worden ist, eigent-
lich erst im Jahr 2018 erreicht werden sollte.

Meine Damen und Herren, die rot-grüne Jahrhundert-
reform ist kläglich gescheitert. Selbst der Bundeskanzler
hat dieses Scheitern am Dienstag eingeräumt. Denn er hat
nicht nur den Namensgeber sozusagen in die Riester-
Rente geschickt, sondern er hat in seiner Regierungs-
erklärung eine große Rentenreform für die neue Wahl-
periode angekündigt. Was für ein Armutszeugnis für die


(A)



(B)



(C)



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324


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(C)



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Rentenpolitik der vergangenen vier Jahre, wenn der
Kanzler bereits jetzt eine neue große Reform ankündigt!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie versuchen nun panisch, den massiven Anstieg des

Rentenbeitragssatzes irgendwie zu begrenzen. Dabei sind
Sie auf zwei Ideen verfallen, die man folgendermaßen zu-
sammenfassen kann: Die Leistungsträger unserer Gesell-
schaft werden geschröpft und Sie spielen mit den Renten-
finanzen Vabanque.

Zu Ihrem ersten Vorschlag ist festzustellen: Schon vor
einem Jahr haben Sie sich nicht anders zu helfen gewusst,
um den Offenbarungseid zu vermeiden, dass die Renten-
beiträge trotz steigender Steuersätze bei der Ökosteuer
steigen würden. Deshalb haben Sie vor einem Jahr den
Griff in die Rücklage der Rentenkasse gewagt.

Wenn Sie nun die Schwankungsreserve, also den Not-
groschen der gesetzlichen Rente, auf nur noch 50 Prozent
einer Monatsausgabe reduzieren, dann riskieren Sie se-
henden Auges, dass die Rentenkassen im nächsten Herbst
zahlungsunfähig sind. In dem Fall müsste die Auszahlung
der Renten durch ein Darlehen des Bundes sichergestellt
werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unglaublich!)

Das bedeutet zwar nicht, dass die Renten nicht gezahlt
würden, aber es bedeutet, dass Sie der Rentenversiche-
rung ihre finanzielle Unabhängigkeit nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Rentenversicherung kommt an den Tropf des Finanz-
ministers. Das bedeutet, dass dann die Rente nach Kassen-
lage, wie wir es beim Sparpaket 1999 erlebt haben, an der
Tagesordnung ist.

Deshalb verspielen Sie mit einer Absenkung der
Schwankungsreserve das letzte bisschen Vertrauen, das
die gesetzliche Rentenversicherung bei den Menschen
noch genießt. Deshalb appelliere ich an Sie: Lassen Sie
die Finger von der Schwankungsreserve, sonst kommt es
noch in dieser Wahlperiode zu dem finanziellen GAU der
Sozialsysteme!

Zu Ihrem zweiten Vorschlag: Sie wollen die Beitrags-
bemessungsgrenze in der Rentenversicherung und damit
– das wird in der Diskussion oft vergessen – automatisch
auch in der Arbeitslosenversicherung auf 5 100 Euro anhe-
ben. Das ist ein Musterbeispiel für eine kurzatmige und
kurzsichtige Politik. Denn zum einen führen die höheren
Beiträge, die gut verdienende Versicherte zahlen müssen,
unweigerlich zu höheren Rentenansprüchen, die in einigen
Jahren und Jahrzehnten bedient werden müssen.

Professor Raffelhüschen von der Universität Freiburg
bezeichnete dieses Vorhaben als „das Dümmste, das man
machen kann“. Recht hat er; denn um die Finanzlöcher
von heute zu stopfen, vergrößern Sie die Lasten, die künf-
tige Generationen zu tragen haben.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist Nachhaltigkeit à la SPD!)


Sie verschärfen damit noch die enormen Probleme, die
aufgrund der demographischen Entwicklung auf die Al-

terssicherung zukommen. Was das noch mit Nachhaltig-
keit zu tun haben soll, liebe Kollegin Schaich-Walch,
bleibt Ihr Geheimnis.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es kommt aber noch etwas hinzu: Wer monatlich
5 100 Euro verdient – dabei handelt es sich nicht um
Superreiche, sondern um viele Facharbeiter, also die Leis-
tungsträger unserer Gesellschaft, die hart für ihr Geld ar-
beiten –, darf bei einem Rentenbeitrag von 19,5 Prozent
im nächsten Jahr Monat für Monat mehr als 67 Euro mehr
für die Rentenversicherung und fast 20 Euro mehr für die
Arbeitslosenversicherung bezahlen. Das macht mehr als
1 000 Euro Verlust für die Betroffenen aus, die auf diese
Weise geschröpft werden.

Der Bundeskanzler hat am Dienstag erklärt:
In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen
kapitalgedeckten Altersvorsorge begonnen, das Si-
cherungssystem zukunftstauglich zu machen. Den
Weg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbe-
werb, den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in
der Altersvorsorge eingeschlagen haben, werden wir
fortsetzen, um so auf Dauer die Renten sicherer zu
machen und die Rentenbeiträge bezahlbar zu halten.

So weit der Bundeskanzler. Aber wer so etwas ankündigt
und auch ernst nimmt, der kann doch nicht im gleichen
Atemzug die Bürger zwingen, immer höhere Anteile ihres
Einkommens in die umlagefinanzierte Sozialversiche-
rung zu stecken. Sie nehmen den Menschen durch massiv
steigende Beitragslasten jeglichen Freiraum, um selbst er-
gänzende Vorsorge für das Alter treffen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dabei geht es an den Kern der Riester-Rente. Diese
vom Grundsatz her richtige Idee haben Sie handwerklich
total vermurkst. Sie entpuppt sich deshalb immer mehr als
Ladenhüter. Wenn bislang weniger als 10 Prozent der För-
derberechtigten einen Vertrag abgeschlossen haben,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine Pleite!)


dann müssen auch Sie zugestehen, dass diese gute Idee
kläglich gescheitert ist. Auch hier brauchen wir einen
Neuanfang.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Konzeptioneller Dilettantismus ist geradezu zum Mar-
kenzeichen der sozialpolitischen Aussagen in der Koaliti-
onsvereinbarung geworden. Das gilt nicht nur für die Ren-
tenpolitik, sondern auch für die Gesundheitspolitik.
Nehmen wir das Beispiel der Erhöhung der Versiche-
rungspflichtgrenze.Das, was sich hier abgespielt hat, hat
schon den Charakter einer Seifenoper. Wenn man sich das
Drehbuch anschaut, könnte man lachen, wenn das Thema
nicht so ernst wäre. Erster Tag, Freitag, 11. Oktober: SPD
und Grüne einigen sich in den Koalitionsverhandlungen
darauf, die Versicherungspflichtgrenze in der Kranken-
versicherung nur für Berufsanfänger auf das Niveau der

Andreas Storm




Andreas Storm
Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung, auf
4 500 Euro, anzuheben. Zweiter Tag, Montag, 14. Oktober:
Die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung
soll nun, zwei Tage später, von 4 500 Euro auf 5 000 Euro
angehoben werden. Aber noch weiß niemand im Koaliti-
onslager Bescheid, ob das auch Konsequenzen für die
Krankenversicherung haben wird. Dritter Tag, Dienstag,
15. Oktober: Nun soll die Beitragsbemessungsgrenze in der
Rentenversicherung nicht mehr auf 5 000 Euro, sondern
auf 5 100 Euro angehoben werden. Ob das Konsequenzen
für die Krankenversicherung haben wird, weiß man noch
immer nicht. Vierter Tag, Donnerstag, 17. Oktober: Nun
hat man endlich auch im Gesundheitsministerium die Er-
gebnisse der Koalitionsverhandlungen begriffen. Es wird
klargestellt, dass es bei der Kopplung der Versicherungs-
pflichtgrenze in der Krankenversicherung an die Bei-
tragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenver-
sicherung bleibt. Beide sollen also auf 5 100 Euro
ansteigen. Um das Fass voll zu machen: Gestern durften
wir über die Nachrichtenagenturen erfahren, dass zum
Stichtag 7. November 2002 die Versicherungspflichtgrenze
nur noch auf 3 825 Euro erhöht werden soll, dafür aber für
alle Versicherten, also nicht nur für die Berufseinsteiger.
Da weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die rot-grüne Wirklichkeit schreibt traurige Geschichten.

Das hat bei Rot-Grün anscheinend Methode. Erst wer-
den die sozialen Sicherungssysteme absichtlich defor-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1500605000
Wir gründen eine
Kommission und es wird reformiert. In diese Kategorie
fallen auch die Verschiebebahnhöfe, mit denen sich der
Bund seit dem eichelschen Sparpaket von 1999 zulasten
der Beitragszahler immer wieder einseitig saniert hat. Die
Vorschläge der Hartz-Kommission, die nach dem Willen
des Kanzlers 1 : 1 umgesetzt werden sollen, werden große
Löcher in die Sozialkassen reißen. Die Ausweitung der
Minijobs wird alleine in der Krankenversicherung Bei-
tragsmindereinnahmen in Höhe von 600 Millionen Euro
hervorrufen. Eine weitere Lücke in Höhe von 700 Milli-
onen Euro werden die Kürzungen bei der Arbeitslosen-
hilfe verursachen. Hinzu kommen Beitragsausfälle durch
die vermehrte Inanspruchnahme der Entgeltumwandlung.
Schließlich soll die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf
Zahnersatz – das ist ein ganz entscheidender Punkt – dem
Bundesfinanzminister 400 Millionen Euro einbringen.
Allein diese wenigen Maßnahmen, die in der Koalitions-
vereinbarung beschlossen worden sind, werden den Kran-
kenkassen und damit den Beitragszahlern 2 Milliarden
Euro entziehen und zu einem weiteren Anstieg der Kran-
kenkassenbeiträge um 0,2 Prozentpunkte führen. Ähnli-
che Belastungen dürften auch auf die Rentenversicherung
und die Pflegeversicherung zukommen.

Zur Pflegeversicherung hat es übrigens ein Urteil des
Verfassungsgerichts gegeben, das dem Gesetzgeber auf-
erlegt, bis zum 31. Dezember 2003 eine Reform der
Finanzierung vorzunehmen. Zu diesem Thema, Frau Mi-
nisterin, haben wir von Ihnen kein Wort gehört.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Nichts gesagt!)

Die Situation der Pflegeversicherung wird immer drama-
tischer. Konzeptionell: totale Fehlanzeige!

Als Ergebnis ist festzuhalten: Wenn die Ankündigung
des Bundeskanzlers, strukturelle Reformen in der Renten-
und Krankenversicherung anzupacken, wirklich ernst ge-
meint wäre, dann müsste der größte Teil der Koalitions-
vereinbarungen zur Sozialpolitik wieder rückgängig ge-
macht werden; denn das schafft erst die Probleme, die
dann nachher gelöst werden sollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist ein ganz entscheidender Punkt und er ist in dieser
Debatte immer mal wieder angeklungen.

Die Probleme sind schon heute sehr groß, aber sie wer-
den in 20 und 30 Jahren gewaltig sein. Die Veränderung
der Alterspyramide unserer Gesellschaft führt dazu, dass
wir nicht nur in der Rentenversicherung, sondern auch im
Gesundheitswesen und in der Pflegeversicherung vor dra-
matischen Herausforderungen stehen.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: So ist es!)

Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Demo-
graphischer Wandel“, der Ostern dieses Jahres dem Bun-
destagspräsidenten überreicht worden ist, zeigt, dass ohne
Reformen in der Krankenversicherung in den nächsten
vier Jahrzehnten eine Verdoppelung des Beitragssatzes in
der Krankenversicherung droht. Sie haben nicht den
Hauch eines Ansatzes dazu, wie Sie damit umgehen wol-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Da heute Morgen so oft der Begriff der Nachhaltig-
keit bemüht worden ist, sage ich hier: Eine nachhaltige
Politik, die die berechtigten Interessen der älteren Ge-
neration mit den berechtigten Interessen der jungen Ge-
neration zum Ausgleich bringt, müsste diese Probleme
angehen und dürfte diese Probleme nicht verdrängen.
Deswegen, meine Damen und Herren: Kehren Sie um!
Dann und nur dann wäre Ihnen auch unser Beifall si-
cher.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500605100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga Kühn-

Mengel, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)



Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1500605200

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Uns ist wieder nur aufgezeigt worden, was nicht
geht, was nicht gut ist. Es sind keine Konzepte vorgestellt
worden.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Ihr seid an der Regierung!)


Wir haben von Ihnen, meine Herren von der Opposition,
gehört, dass Sie alles besser machen würden. Aber es
genügt ein Blick zurück, um das einzuordnen. Das ist
schon wichtig, wenn es um Konzeptionen geht.


(A)



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326


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An Ihre Taten erinnern wir uns alle noch. Auch ich
selbst habe noch einen Rest Ihrer Regierungszeit hier mit-
bekommen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber nichts daraus gelernt!)


Ich kann mich gut daran erinnern, wer vor den Lobbyisten
in die Knie gegangen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Thomae [FDP]: 400 Millionen! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 400 Millionen! – Detlef Parr [FDP]: Der Preis ist 400 Millionen!)


Ich kann mich daran erinnern, wer den Bürgerinnen und
Bürgern ununterbrochen in die Tasche gefasst hat, ein
Krankenhausnotopfer gefordert hat und bei der Präven-
tion drastisch gekürzt hat. Ich weiß auch, dass die Aussage
der Sachverständigen, wir hätten das teuerste Gesund-
heitssystem in der Europäischen Union und das dritt-
teuerste in der Welt, und die Aussage, wir bezahlten einen
Mercedes und bekämen einen Golf, in Ihrer Regierungs-
zeit gemacht worden sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Bei Ihnen wird alles noch teurer und noch schlechter!)


Wir können uns gut daran erinnern, dass bei Ihnen nie-
mals von Qualität die Rede war.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Bei Ihnen muss man einen Mercedes bezahlen und kriegt einen Tretroller!)


Erst wir haben die Qualität und die Qualitätssicherung
zum Thema gemacht und in der GKV verankert.

Noch eines sei dazu gesagt: Die Wähler und Wählerin-
nen haben ganz klar entschieden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So klar war das nicht!)


Sie, Herr Seehofer, sind mehrmals gescheitert, als Ge-
sundheitsminister bei den Wahlen 1998 und jetzt auch bei
den Wahlen 2002. Die Bürger und Bürgerinnen haben zu
Ihren Privatisierungskonzepten und zu Ihrer Zweiklas-
senmedizin Nein gesagt.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Und ihr habt die Zweiklassenmedizin eingeführt!)


Unser Konzept wurde gewählt. Wir werden die Qualitäts-
und die Wirtschaftlichkeitsoffensive, die wir in der ver-
gangenen Legislaturperiode begonnen haben, fortsetzen.
Diese Ministerin hat – ich sage es noch einmal – Präven-
tion und Qualität befördert. Wir werden die Qualitäts- und
Effizienzdefizite in der medizinischen Versorgung ab-
bauen, und zwar mit höchster Priorität.

Dazu benötigen wir einen ganz intensiven Wettbe-
werb um mehr Qualität unter und zwischen den Leis-
tungserbringern. Neben die kollektivvertraglichen Struk-
turen werden wir Einzelverträge setzen oder – wie in der

ambulanten Versorgung – solche mit Gestaltungsmög-
lichkeiten. In diesem Zusammenhang kommt auch den
strukturierten Behandlungsprogrammen und den evidenz-
basierten Behandlungsmöglichkeiten eine Schlüsselfunk-
tion zu. Ich setze darauf, dass sich in der verfassten Ärz-
teschaft diejenigen eines Besseren besinnen, die im
Wahlkampffieber die rot-grüne Gesundheitspolitik ver-
teufeln wollten.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Man muss sich schon mit der Wahrheit auseinander setzen!)


Wir werden uns von dem eingeschlagenen Weg der Qua-
lität und Patientenorientierung nicht abbringen lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Disease-Management-Programme als Billigmedizin
abzutun und Behandlungsleitlinien als Kochbuchmedizin
abzuqualifizieren zeugt von der Wagenburgmentalität
rückwärts gewandter Mediziner. Der Halbgott in Weiß
gehört der Vergangenheit an und wir sollten ihm keine
Träne nachweinen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Disease-Management-Programme stellen Patientin-
nen und Patienten in den Mittelpunkt. Sie verbessern die
Lebensqualität, Folgeschäden können verhindert oder
hinausgezögert werden. Vor allem sorgen diese Pro-
gramme für Transparenz. Die Patientin und der Patient
wissen, wo es allererste Qualität gibt. Darauf müssen die
Patientinnen und Patienten vertrauen können. Mit diesen
Programmen schaffen wir die Verbindung von Qualität
und Wirtschaftlichkeit. Das dient der Gesundheit und
auch der Beitragssatzstabilität.

Es geht darum, medizinisch nicht angezeigte Mengen-
steigerungen auszuschließen und die Vergütung auch an
die Qualität der Leistung anzubinden. Den Eintritt in die
behandlungs- und kostenintensiven Volkskrankheiten
wollen wir verhindern, zumindest aber hinausschieben.
Dazu gehört auch die Eigenverantwortung der Patien-
tinnen und Patienten. Wir verstehen unter Eigenverant-
wortung aber etwas anderes als Sie: Wir wollen die Pati-
entin und den Patienten stärken, sie besser informieren
und kein Eintrittsgeld. Wir wollen Eigenverantwortung
nicht mit Zuzahlung gleichsetzen.


(Beifall bei der SPD)

Wir werden die Prävention weiter stärken und beför-

dern. Das sind wichtige Investitionen in die Zukunft un-
seres Gesundheitssystems. Wir werden auch die Schnitt-
stellen zwischen GKV und Pflegeversicherung auflösen:
Prävention, Gesundheitsförderung, kurative Medizin, Re-
habilitation und Pflege sollen den gleichen Stellenwert im
Gesundheitssystem haben.

Dazu gehört auch die gleichberechtigte Teilhabe
behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben.
Wir haben auf diesem Gebiet eine erfolgreiche Politik vor-
zuweisen: das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter, das SGB IX – Rehabilitation und Teil-
habe behinderter Menschen, das Gleichstellungsgesetz.
Diesen Prozess werden wir fortsetzen. Im nächsten Jahr be-

Helga Kühn-Mengel




Helga Kühn-Mengel
gehen wir das Europäische Jahr der Menschen mit Behin-
derungen. Auch diesen Anlass werden wir nutzen, um bei
diesem Thema voranzukommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser Sparpaket beschränkt sich auf monetäre Rege-
lungen, die nur für das Jahr 2003 gelten. Es greift der
Gesundheitsreform 2003 in keinem Punkte vor. Das Spar-
paket schmälert die Ansprüche auf Versorgung mit medi-
zinisch notwendigen Leistungen nicht. Anders als unsere
Vorgänger greifen wir den Patientinnen und Patienten
nicht in die Tasche, um die Finanzprobleme der gesetzli-
chen Krankenversicherung durch höhere Zuzahlungen
oder durch Eigenanteile zu lösen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, ihr enthaltet ihnen Leistungen vor! Das ist noch schlimmer!)


Dass wir diejenigen zu einem größeren Beitrag auffor-
dern, die in den letzten Jahren auch sehr starke Gewinne
hatten, die Akteure aus dem Pharmabereich, ist, glaube
ich, nachvollziehbar und verständlich.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Zählen Sie die Ärzte in den neuen Ländern auch dazu?)


Unser Ziel bleibt die hochwertige medizinische und ge-
sundheitliche Versorgung für alle Bürgerinnen und Bür-
ger, unabhängig vom Einkommen, von sozialer Stellung
und vom Wohnort.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500605300

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Dieter Thomae für

die FDP-Fraktion.


Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1500605400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Man kann nur sagen: Lügen haben kurze Beine. Das
bewahrheitet sich jetzt.


(Zuruf von der SPD: Möllemann!)

Vor der Wahl gab es keine Defizite, es sollte keine Bei-
tragssatzerhöhungen geben. Jetzt, nachdem die Wahlen
vorbei sind, haben wir über Nacht Defizite, und Beitrags-
satzerhöhungen werden zur Selbstverständlichkeit. Das
ist, Frau Ministerin, schon eine verfehlte Politik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schamlos ist das!)


Ich finde, dass die Bürgerinnen und Bürger hier vor den
Wahlen richtig belogen und betrogen worden sind. Sie
sollten sich dafür einfach schämen, Frau Ministerin.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Nun haben Sie auch noch eine ganz verrückte Idee: das

so genannte Vorschaltgesetz. Eine Nullrunde ist die bru-

talste Budgetierung, die man sich überhaupt vorstellen
kann. Schauen Sie sich einmal die Honorarsituation im öst-
lichen Teil Deutschlands, aber auch in den alten Bundeslän-
dern und die Situation der Krankenhäuser an: Ich frage mich
da, wie Sie angesichts der Erhöhungen, die bei den Tarif-
verhandlungen durchgesetzt wurden, überhaupt eine Null-
runde erreichen wollen. Eigentlich bleibt nur ein Ausweg:


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wieder Leute entlassen!)


Verdi müsste Sie davonjagen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)

Ihre Vorschläge bedeuten nämlich Arbeitsplatzabbau. Eine
andere Alternative hat ein Krankenhaus heute nicht mehr.
Ich möchte Ihnen dies an einem Beispiel darstellen. Ein
Verwaltungschef aus meiner Region hat mir einen Brief
geschrieben und mir gesagt: Thomae, wenn die Nullrunde
kommt, bedeutet das für Rheinland-Pfalz ein Minus von
rund 100 Millionen Euro; das bedeutet, dass wir
2 600 Arbeitsplätze abbauen müssen; für mein Kranken-
haus bedeutet das, dass ich 36 qualifizierten Mitarbeitern
kündigen muss, weil ich sie nicht mehr finanzieren kann.


(Ute Kumpf [SPD]: Nebenbeschäftigung!)

Sagen Sie das einmal den Patienten draußen.

Sie sagen, den Patienten passiere nichts, aber die Pati-
enten werden von der Nullrunde genauso getroffen wie
alle anderen Leistungserbringer. Das ist das Problem.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Fragen Sie doch einmal einen normalen Bürger, wie lange
er heute schon warten muss, bis er einen Termin im Kran-
kenhaus oder bei einem Arzt bekommt. Wir haben Sie per-
manent davor gewarnt, dass es hier ständig zu Wartezei-
ten kommt. Diese werden noch weiter zunehmen; Sie
werden die Folgen zu tragen haben, denn die Versorgung
durch freiberufliche Ärzte in den neuen Bundesländern
wird dramatisch abnehmen.


(Zuruf von der SPD: Polikliniken!)

– Ja, ich weiß, dass Sie für Polikliniken sind. Aber auch
für Polikliniken brauchen Sie Ärzte. Das Vertrackte dabei
ist: In hohem Maße verlassen junge Ärzte Deutschland
und gehen ins Ausland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


– Schauen Sie doch in die Statistiken. Sie scheinen völlig
weltfremd zu sein.


(Zurufe von der SPD: Nein!)

Schauen Sie sich doch einmal an, wie viele Ärzte nach
Skandinavien gehen und wie viele junge Mediziner in die
Schweiz gehen. Lassen Sie sich die Zahlen geben. Sie tun
immer, als ob alles zum Besten stünde.


(Zurufe von der SPD)

Die jungen Mediziner sind gar nicht so dumm, wie Sie
denken. Das ist der Unterschied.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



(A)



(B)



(C)



(D)


328


(A)



(B)



(C)



(D)






Meine Damen und Herren, jetzt fällt Ihnen ein, dass wir
noch stärker in den Arzneimittelbereich eingreifen müs-
sen. Vielen gefällt zunächst dieser Vorschlag, denn er ist
populär.


(Peter Dreßen [SPD]: Was wollen Sie denn machen?)


– Moment. – Aber Sie wissen doch, dass es nur noch zwei
kleine bzw. mittlere Pharmafirmen gibt, die in Deutsch-
land Forschung betreiben. Alle anderen sind weg. Sie tref-
fen mit Ihrem Konzept gerade die mittelständische Phar-
maindustrie in Deutschland, obwohl Sie permanent davon
reden, dass Sie Arbeitsplätze erhalten wollen. Warten wir
es einmal ab.


(Zurufe der Abg. Ute Kumpf [SPD] und des Abg. Peter Dreßen [SPD])


Bringen Sie Ihr Konzept ein. Ich bin gespannt, was Ihnen
die entsprechende Gewerkschaft dazu sagt. Die werden
Ihnen noch Feuer unter dem Hintern machen.


(Detlef Parr [FDP]: Hoffentlich! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Brandblasen muss es geben!)


Ansonsten vernichten Sie Arbeitsplätze.
Das Vertrackte ist doch: Frau Schmidt hat sich in der

Koalition gegenüber Clement nicht durchgesetzt. Das
muss jetzt die Gesundheitspolitik bezahlen. Das ist der
entscheidende Grund und die Situation, die wir zu bewäl-
tigen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich kann an Sie nur appellieren: Folgen Sie den Überle-
gungen, die wir uns schon vor den Wahlen gemacht haben!


(Zuruf von der SPD: Oh Gott! Oh Gott!)

Ich war erstaunt, als die Ministerin auf einmal sagte:

Wir wollen das medizinisch Notwendige definieren. –
Das sind ganz neue Töne. Die Grünen sprechen auf ein-
mal – vielleicht bin ich nicht richtig informiert – von
Wahltarifen. Ich bin ganz erstaunt. Ich bin gespannt, wie
Sie diese Vorstellungen in einem Gesetz umsetzen.

Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtiger
Punkt ist: Sie können zwar über Prävention sprechen,
aber wie wollen Sie bei dem Defizit, das Sie im gesetzli-
chen Krankenversicherungssystem haben,


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Jetzt schon!)

Prävention finanzieren? Ich bin für Prävention. Ich freue
mich auf Ihre Vorschläge, wie Sie dies machen wollen.
Was hilft es, wenn wir massiv Präventionen einführen
– das wäre wunderschön –, wir aber dem Normalbürger
aktuell keine medizinischen Leistungen gewähren? Er
muss darauf wochenlang warten. Sieben Wochen musste
eine Patientin in meinem Wahlkreis warten, bis sie einen
Termin für eine Röntgenaufnahme bekam. Das ist Ihre
Politik und die wollen wir nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Dummes Zeug, was Sie hier erzählen!)


– Das ist kein dummes Zeug. Sie haben keine Ahnung; das
ist Ihr Problem. Sprechen Sie mit den Patienten!

Was mich erstaunt hat, ist: Es kam kein Wort zur
Pflege. Ist das für Sie kein Thema mehr?


(Klaus Kirschner [SPD]: Panikmache!)

Sie wissen doch: Die Pflege hängt genauso am Fliegen-
fänger wie die Krankenversicherung. Sie gaukeln der äl-
teren Bevölkerung manches vor.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500605500

Herr Kollege Thomae, denken Sie bitte an die Rede-

zeit!


Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1500605600

Seit 1995 haben Sie nichts mehr getan, um die unter-

schiedlichen Pflegestufen besser zu finanzieren. Die Ta-
rifverträge von 1995 sind massiv ausgeweitet worden.
Das alles geht zulasten der Patienten. Das ist Ihre verlo-
gene Sozialpolitik. Dieser werden wir nicht folgen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Nichts dazugelernt!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500605700

Nun hat der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die

Grünen, das Wort.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500605800

Herr Thomae, ich hoffe, dass sich Ihre fast schon ge-

sundheitsgefährdende Erregung gelegt hat. Denn dann
können Sie vielleicht jetzt zuhören. Eine kleine Korrektur
zu dem, was Sie soeben gesagt haben: Wir sprechen nicht
von Wahltarifen, sondern von der Wahlfreiheit zwischen
verschiedenen qualitätsgesicherten, gleichwertigen An-
geboten. Das ist ein großer Unterschied.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich möchte diese Gelegenheit dazu nutzen, den Fo-
kus ein bisschen weiter aufzumachen und die Linse etwas
mehr zu öffnen. Wir stehen in der Debatte um die Ausge-
staltung sozialer Sicherheit in Deutschland längst nicht
mehr nur vor der Frage, wie die Systeme zu finanzieren
und zu optimieren sind, sondern mindestens genauso
dringlich vor der Frage, wie wir die Akzeptanz und die
Legitimität unserer sozialen Sicherungssysteme ge-
währleisten. Die gesellschaftliche Anerkennung und die
Mitwirkungsbereitschaft der Hilfeleistenden und Bei-
tragszahler hängen eng miteinander zusammen. Die
Frage, wer besondere staatliche Zuwendung braucht und
wie sie effizient zu erbringen ist, muss plausibel beant-
wortet werden.

Dazu nenne ich ein Beispiel: Sehen Sie sich einmal die
Vielzahl bizarrer Gerichtsverhandlungen an, die um ein-
malige Beihilfen im Rahmen der Sozialhilfe geführt wer-
den. Dort werden zusätzliche Unterhosen, Weihnachtsker-
zen und Heizdecken erstritten. Die jeweiligen Streitwerte
stehen in einem geradezu grotesken Missverhältnis zu den

Dr. Dieter Thomae




Markus Kurth
Prozesskosten. Worum geht es in diesen Prozessen? Es
geht längst nicht mehr nur um eine Feststellung des ob-
jektiven Bedarfs. Nein, ich behaupte, diese Prozesse ha-
ben auch eine gesellschaftspolitische Funktion. Hier wird
der Kampf „öffentliche Hand alias Steuerzahler versus il-
legitime Bittsteller“ inszeniert.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie wissen, von welchem Thema wir jetzt reden?)


Allein dieses eine Beispiel zeigt die Notwendigkeit ei-
ner Neudefinition und vor allem einer Neubegründung
der Legitimität sozialer Sicherungssysteme.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Tut mir Leid, ich habe nichts verstanden!)


Rot-Grün stellt sich dieser Aufgabe der Neubegrün-
dung und schlägt – ganz im Gegensatz zur Opposition –
eben nicht den Weg der fortgesetzten Delegitimierung
und des Abbaus verlässlicher sozialer Sicherung ein.
Wenn unsere Sozialsysteme in ihrer heutigen Form nicht
mehr auf herkömmlichem Weg finanzierbar sind und viel
zu oft entmündigen anstatt befähigen, dann lautet unsere
Antwort eben nicht wie bei Ihnen planloser Abbau, son-
dern effiziente Reform.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen und wir befördern ein Verständnis vom
Sozialstaat, das mehr als einen bloßen Versorgungsauftrag
umfasst.


(Detlef Parr [FDP]: Planlose Planwirtschaft!)

Die Befähigung zu Teilhabe und Selbstentfaltung, die
Eröffnung von Chancen zur Selbsthilfe sind unsere
Ansprüche an den Sozialstaat, an einen integrations-
fördernden Sozialstaat, der seinen materiellen und
immateriellen Leistungsauftrag so gestaltet, dass wir die
Voraussetzungen für eine wirksame Aktivierung nicht ge-
fährden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)

Auf dem Weg zu einem integrierenden Sozialstaat sind

wir in der 14. Wahlperiode schon ein gutes Stück weit ge-
kommen. Ich nenne die wichtigsten Stichworte: Alters-
grundsicherung, das Gleichstellungsgesetz für Menschen
mit Behinderungen – SGB IX –, das Modellprojekt
MoZArT zur Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und
Trägern der Sozialhilfe und auch die systematische Be-
richterstattung über Reichtums- und Armutsentwicklung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir werden den Weg der Erweiterung von Zugangs-
und Chancengerechtigkeit weitergehen und ausbauen.
Wir werden eine Gesamtreform der Sozialhilfe auf den
Weg bringen, diese letzte soziale Sicherung weiterhin als
Rechtsanspruch verankern und dafür sorgen, dass sie
weitgehend pauschaliert und ohne Diskriminierung aus-
gezahlt wird.

Wir wollen die Eingliederungshilfen für Menschen mit
Behinderungen weiterentwickeln. Wir wollen, dass die
Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversi-

cherung für alle Sozialhilfebeziehenden verbindlich gilt.
Dies sind Schritte zu einem unverzichtbaren Ausbau der
Selbstbestimmung, einer Selbstbestimmung, die das not-
wendige Vertrauen schafft, um dann bei den Betroffenen
die Bereitschaft und den Mut zur eigenen Veränderung zu
erhöhen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das ist die „Lösung“!)


– Sie werden es kaum glauben: Das ist die Lösung.
Eine Umgestaltung der sozialen Sicherung, die glei-

chermaßen Verteilungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtig-
keit und Effizienz ermöglicht, verschafft der Sozialversi-
cherung auch wieder die öffentliche Akzeptanz, die sie
braucht, um weiter bestehen zu können. Die Zusammen-
legung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Zuge der Um-
setzung des Hartz-Konzepts wird hier eine wichtige Rolle
spielen.

Wir werden mit der Einführung des Arbeitslosen-
gelds II das System der Sozialhilfe endlich so reformie-
ren, dass die herkömmliche Sozialhilfe in kommunaler
Verantwortung nicht mehr die Rückfalloption für Lücken
in der Arbeitslosenversicherung ist. Ein armutsfestes
Arbeitslosengeld II wird mit neuen Brücken verbunden
werden, die den Sozialhilfebeziehenden den Zugang zu
Personal-Service-Agenturen und zu Job-Centern ermög-
lichen.

Dies zeigt: Die Frage, wie viel Sicherheit auf welche
Weise für wen bereitgestellt wird, wollen wir eben nicht
einseitig mit Leistungskürzungen beantworten,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das macht ihr doch! Ihr wollt es nicht, aber ihr macht es!)


sondern mit Angeboten und mit gesteigerter Effizienz der
Transferleistungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie von der Opposition befördern doch dauernd die be-
griffliche und auch die politische Engführung des Sozial-
staatsbegriffs, indem Sie von Missbrauch reden, wo man
über Beschäftigungshemmnisse sprechen muss und da-
rüber, wie man sie beseitigen kann. Sie glauben, Sie könn-
ten Kosten sparen und die Statistik verbessern, indem Sie
US-amerikanische Modelle im Sinne eines neoliberalen
Anti-Hartz 1 : 1 übertragen.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Doch die vorgeblich Arbeitsunwilligen, deren Sie sich zu
entledigen trachten, bleiben in dieser Gesellschaft, auch
wenn keine Statistik sie mehr ausweist.

Sie wissen: Vererbte Armut, verfestigte Sozialhilfe-
abhängigkeit und dauerhafte Ausgrenzung sind bereits
heute in einem nicht vertretbaren Ausmaß vorhanden.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Können Sie wenigstens einen Satz zu diesem Thema sagen?)


Die Kosten, die Sie einzusparen glauben, kehren zurück
als gesellschaftliche Kosten, verursacht durch Sucht,


(A)



(B)



(C)



(D)


330


(A)



(B)



(C)



(D)






Kleinkriminalität und verwahrloste Stadträume. Nachhal-
tig ist Ihre sozialpolitische Philosophie nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ihre Rhetorik und Ihr In-Abrede-Stellen sozialer Bür-
gerrechte verhindern eine Modernisierung der Leistungs-
gewährung. Damit verhindern Sie auch die Wiedergewin-
nung sozialstaatlicher Handlungsfähigkeit.

Warum sollte etwa der Weg, den die Arbeitsämter nun
bei der Umgestaltung zu Jobcentern beschreiten, nicht auf
die Sozialämter übertragbar sein? Wir brauchen auch hier
endlich eine Dienstleistungsorientierung. Wir müssen
auch hier das tun, was viele Ämter im Zuge der Verwal-
tungsmodernisierung längst als Handlungsmaxime ver-
ankert haben: die Bürgerinnen und Bürger als ernst zu
nehmende Klienten und nicht als lästige Kostgänger be-
greifen.

Meine Damen und Herren, eine Gesellschaft, die sich
in ihren Grundstrukturen wandelt, braucht neue, vielfäl-
tige und verlässliche Formen der sozialen Sicherung. Wir
werden mit einer möglichst sparsamen, aber auch mög-
lichst wirksamen Inanspruchnahme der Ressourcen den
Weg in Richtung einer Bürgersicherung für alle von allen
beschreiten.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500605900

Herr Kollege Kurth, ich gratuliere auch Ihnen zu Ihrer

ersten Rede im Deutschen Bundestag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich beziehe ausdrücklich in den Glückwunsch ein, dass es
Ihnen gelungen ist, sich auch an die angemeldete Redezeit
zu halten, was vielen erfahreneren Kollegen nicht immer
gelingt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Dieter Thomae [FDP]: Auch dem Präsidenten nicht!)


Nun erteile ich der Kollegin Annettte Widmann-Mauz
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1500606000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Nach dieser Rede möchte ich wieder zur politischen Pra-
xis zurückkommen, zur Baustelle des sozialen Gesund-
heitswesens.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Dieter Thomae [FDP])


Herr Kollege Kurth, wenn Sie von dem planlosen Ab-
bau und der Notwendigkeit effizienter Reformen spre-
chen, müssen Sie die linke Seite des Hauses anschauen.
Denn Sie sind es doch, die einen planlosen Abbau im Ge-
sundheitswesen betreiben, seit Sie an der Regierung sind.

Von effizienten Reformen ist weit und breit nichts er-
kennbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dieter Thomae [FDP]: Altlastenmedizin!)


Ich wollte jetzt eigentlich die Ministerin ansprechen.
Sie scheint aber schon gegangen zu sein.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Dann warten wir doch einmal!)


– Ich denke doch, dass sie Interesse an der Diskussion
über ihre Regierungserklärung hat.

Sie hat mit diesem Ministerium die Verantwortung für
den größten Reformsektor in Deutschland übertragen be-
kommen. Führungsstärke, Schwung, Mut und Reform-
wille sind in diesem Amt gefordert. Frau Schmidt aber hat
von alledem nichts. In der Bevölkerung gilt sie mittler-
weile als die schwächste Ministerin im Kabinett; das hat
Gründe. Dass sie noch nicht einmal die Diskussion in die-
sem Hohen Hause erträgt, unterstreicht diese Schwäche
noch deutlicher.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bilanz der bisherigen Amtsführung könnte nicht

katastrophaler sein.

(Beifall des Abg. Dr. Dieter Thomae [FDP])


Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung wa-
ren noch nie so hoch wie heute und sie steigen weiter.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Wöchentlich!)

Die Versorgung der Patientinnen und Patienten wird
nicht besser, sondern schlechter. Der demographische
Wandel, der medizinische Fortschritt und die Veränderun-
gen im Erwerbssektor werden von ihr schlichtweg igno-
riert. Damit wird keines der Zukunftsprobleme in der ge-
setzlichen Krankenversicherung angegangen.

Im Gegenteil: Statt alle Beteiligten im Gesundheits-
wesen – es geht nur im Miteinander –, Patienten, Versi-
cherte, Ärzte, Apotheker und alle anderen Leistungs-
erbringer, mit auf den Weg zu einer gemeinsamen Reform
zu nehmen, hat sie das Vertrauen gänzlich verspielt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da kommt die Ministerin wieder!)


Das mangelnde Vertrauen aufseiten der Versicherten und
der Patienten beruht aber nicht auf bösem Willen. Wer soll
denn zu dieser Ministerin noch Vertrauen haben, wenn
weder das Ziel noch der Weg der Reise bekannt sind? Wer
wie Sie, Frau Schmidt, noch nicht einmal zur Reiseleite-
rin taugt, der wird nie Superministerin werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das ist unmöglich, was Sie sich hier erlauben!)


Sie verstehen das Gesundheitswesen einfach nicht. Sie
haben weder die Dynamik noch die Wechselwirkungen
im System erkannt. Deshalb sind alle Ihre Maßnahmen,
sowohl die in der Vergangenheit als auch die jetzt zur Dis-
kussion stehenden, Flickwerk ohne Konzept. Das bestätigt
die heutige Debatte wieder eindrucksvoll. Doch für uns ist

Markus Kurth




Annette Widmann-Mauz
das kein Grund zur Freude; denn die Auswirkungen für
die Menschen in unserem Land sind verheerend. Mit ei-
ner so konzeptionslosen Politik kann man kein Vertrauen
aufbauen.

Fangen wir einmal an: Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben
Sie zur Beruhigung der Ärzte und Patienten die Budge-
tierung der Arzneimittelausgaben ohne ein wirksames
Steuerungsinstrument aufgehoben – Wirkung: katastro-
phal. Dann kam die Aut-idem-Regelung. Jetzt wollen Sie
Ihre Drohung wahr machen und die Überschreitung der
Obergrenze für die Arzneimittelausgaben mit einem Re-
gress bei den ärztlichen Honoraren bestrafen.

Aber noch nicht genug: Sie wollen mehr Vertrags-
möglichkeiten schaffen. Das ist ein hehres und gutes
Ziel, das wir unterstützen. Aber wie machen Sie das? Sie
strapazieren das Vertrauen der Ärzteschaft weiter, indem
Sie den ärztlichen Sicherstellungsauftrag aufheben und
einzelne Ärzte der Übermacht der Kassen ausliefern wer-
den.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Viel Spaß!)

Gehen wir in den Arzneimittelbereich, zu den Arznei-

mittelherstellern und Apothekern. Es ist noch kein Jahr
vergangen, seit Sie hier im Haus ein Arzneimittelaus-
gaben-Begrenzungsgesetz verabschiedet haben. Teile
davon haben Sie sich vorher von der Pharmaindustrie ab-
kaufen lassen, gegen die Zusage, keine Preisregulierun-
gen im innovativen Arzneimittelsektor vorzunehmen.
Jetzt drohen Sie erneut Kassenrabatte, Versandhandel und
Preissenkungen an und wollen außerdem Festbeträge für
patentgeschützte Medikamente einführen. Auch hier ein
klarer Wortbruch.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Können Sie das noch einmal wiederholen?)


Wie soll so Vertrauen in die Arzneimittelversorgung ent-
stehen?

Nehmen wir die Versicherten. Sie haben noch bis zur
Wahl behauptet, es gebe in diesem Jahr kein Defizit und
im kommenden Jahr keine Beitragserhöhungen. Jedoch
nicht einmal eine Woche nach der Wahl ist die Katze aus
dem Sack; über Nacht gibt es wieder milliardenschwere
Defizite.

Jetzt drohen Sie mit der Anhebung der Versiche-
rungspflichtgrenze – an einem Tag nur für Berufsanfän-
ger, am anderen Tag für alle. In der Koalitionsverein-
barung heißt es:

Bei der Beitragsbemessungsgrenze gibt es keine Än-
derungen.

Schon jetzt hören wir aus gut informierten Kreisen, dass
auch die Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden
soll. 300 000 Mitglieder der gesetzlichen Krankenversi-
cherung haben sich Ihrem ständigen Hin und Her schon
entzogen und der GKV den Rücken gekehrt. 1 Milli-
arde Euro hat Ihr unverantwortliches Gerede unser Versi-
cherungssystem bereits gekostet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Milliarde holen sie jetzt bei den Ärzten wieder rein!)


Dieses Eintrittsgeld für Ihre Show ist den Menschen in
unserem Land mittlerweile zu hoch. Auch das Programm,
das geboten wird, steht in keinem Verhältnis zum Eintritts-
preis. Zweiklassenmedizin ist doch längst kein drohendes
Schlagwort mehr;


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Bei denen Dreiklassenmedizin!)


es ist bittere Realität in unserem Land. Sie drängen die
Menschen in ein Zwangssystem und geben ihnen keine
wirklichen Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkei-
ten.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: So ist es!)

Da helfen auch solche Beruhigungspillen, wie Sie sie
heute wieder verteilt haben, wie Beauftragte für Patien-
tinnen und Patienten, Patientencharta, Patientenquit-
tung und wie die ganzen Dinge heißen, wenig.


(Ute Kumpf [SPD]: Frau Widmann-Mauz, ich dachte, Sie sind Verbraucherschützerin! Da schau her!)


– Hören Sie mal zu, Frau Kumpf: Stärkung der Patienten-
rechte und Ausbau des Patientenschutzes wie auch die
Stärkung des Hausarztes standen schon in Ihrer Koaliti-
onsvereinbarung von 1998. Sie haben nichts davon um-
gesetzt. Ich sage Ihnen eines: Wir brauchen nicht mehr
Beauftragte für Bittsteller, sondern wir brauchen wirk-
liche Rechte für Beteiligte im Gesundheitswesen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Wir werden Sie daran erinnern!)


Ich kann Ihnen nur sagen: Mit all diesen Maßnahmen
haben Sie das Vertrauen der Menschen in Ihre Politik ver-
spielt. Sie hätten jetzt eigentlich die Chance, einen wirk-
lichen Neuanfang zu wagen. Aber Sie setzen Ihre Politik
der Prinzipien-, der Konzeptions- und Mutlosigkeit fort.
Der Koalitionsvertrag, über den wir und auch Sie gespro-
chen haben, enthält wieder einmal sehr viel Lyrik, aber
keine wirklich konkrete Antwort auf die drängenden Fi-
nanzprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung und
der Pflegeversicherung.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: In der Tat!)

Es rächt sich, dass Sie keine wirkliche Analyse der Ist-Si-
tuation erstellt haben. So weiß die Koalition weder, in
welcher fatalen Lage sie sich befindet, noch, wie die Pro-
bleme gelöst werden können.

Auch die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze ist
nicht geeignet, die Einnahmeproblematik zu entschärfen.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrates – darauf legen
Sie ja immer großen Wert – für die Konzertierte Aktion im
Gesundheitswesen, Professor Wille, hat in der vergange-
nen Woche erklärt, dass selbst bei Einbeziehung aller
Arbeitnehmer in die Pflichtversicherungsgrenze in der
gesetzlichen Krankenversicherung in 16 Jahren nur eine
Entlastung von 0,1 Beitragssatzpunkten zu erwarten
wäre. Das ist geradezu lächerlich. Damit lösen Sie die
Probleme nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



(A)



(B)



(C)



(D)


332


(A)



(B)



(C)



(D)






Vielmehr verschärfen Sie auf der anderen Seite die
Probleme in der privaten Krankenversicherung.Wenn
Sie die private Krankenversicherung austrocknen, müs-
sen Sie den Menschen auch sagen, dass ihnen dann kon-
tinuierlich höhere Prämien drohen.

Frau Schmidt, ich hätte von Ihnen eigentlich erwartet,
dass Sie Ihren Kollegen „Superminister“ Clement in sei-
ner Arbeit ein bisschen unterstützen und ihm durch höhere
Beiträge, höhere Prämien und damit steigende Lohnne-
benkosten nicht immer mehr Arbeitslose vor die Tür set-
zen. Dass er Sie nicht unterstützt, sehen wir ja; sonst wäre
er bei dieser Debatte dabei. Die Verschiebebahnhöfe, die
während der letzten Legislaturperiode, also in Ihrer Regie-
rungszeit, entstanden sind, lassen nichts Gutes erwarten.
Allein die Umsetzung der Hartz-Vorschläge bedeutet, dass
Ihnen 600 Millionen Euro aus der Tasche gezogen werden.

Aber das ist noch nicht genug. Auch Herr Eichel – wo
war der heute eigentlich? – scheint es mit Ihnen nicht gut
zu meinen. Von dem lassen Sie sich zum wiederholten
Male in die Kasse greifen. Anstatt die Leistungsausgaben
durch Senkungen, zum Beispiel der Mehrwertsteuer auf
Arzneimittel, zu verringern, lassen Sie zu, dass Herr
Eichel die Umsatzsteuer für zahntechnische Leistungen
anhebt und damit die Ausgaben in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung erhöht.

Die Reduzierung der Beiträge aus der Arbeitslosen-
hilfe nutzt Herrn Eichel; sie reißt aber ein weiteres Loch
in Höhe von 0,9 Milliarden Euro in den ohnehin schon
völlig durchlöcherten Geldbeutel der gesetzlichen Kran-
kenkassen. Wenn Herr Eichel meint, er könne damit den
blauen Brief aus Brüssel vermeiden, dann täuscht er sich
wohl gewaltig. Auch Sie, liebe Frau Schmidt, tragen mit
den Defiziten in den Sozialversicherungen dazu bei, dass
die Gesamtverschuldung des Staatshaushaltes wächst und
wächst und wächst.

Sie waren und Sie sind eine schwache Ministerin und
Sie haben sich schon nach einer Woche von Ihren Kolle-
gen in diesem Haus über den Tisch ziehen lassen.

Die Situation ist klar: Berücksichtigt man alle Vor-
schläge, die auf dem Tisch liegen, dann liegt das Gesamt-
defizit bei 4,7 Milliarden Euro. Mit den von Ihnen ge-
planten Maßnahmen werden Sie nicht die Einsparsumme
aufbringen, die Sie aufbringen müssen, um diese Lücke
zu schließen.

Wir sollten uns schon einmal darüber unterhalten – Sie
haben heute kein Wort dazu gesagt –, wie die finanzielle
Lage der Krankenkassen angesichts ihrer hohen Ver-
schuldung auf dem privaten Kapitalmarkt aussieht. In der
Vergangenheit mussten sich zahlreiche Kassen sehr stark
verschulden. Die Finanzreserven einer Reihe von Kassen
sind deutlich abgebaut. Die Mindestrücklage der gesetz-
lichen Krankenversicherung ist um circa 1,6 Milliarden
Euro unterschritten. Die Krankenkassen haben zur Si-
cherstellung ihrer Leistungsfähigkeit nämlich ebenfalls
eine Rücklage zu bilden. Dieser Notgroschen ist mittler-
weile vielfach aufgebraucht. Das heißt, die ersten Kran-
kenkassen sind eigentlich konkursreif.

Obwohl Sie das alles wissen und obwohl Ihnen be-
kannt ist, dass die geplanten Einsparungen diese Kassen

nicht retten können, weigern Sie sich, den Kassen zu hel-
fen. Sie wollen den Beitragssatz für das gesamte Jahr
2003 festschreiben und Sie treiben diese Kassen damit in
den wirtschaftlichen Exitus.

Offensichtlich schwant Ihnen das; deshalb verfallen
Sie jetzt auf eine ganz perfide Idee: Sie wollen den über
die Kassen wachenden Ländern die Möglichkeit nehmen,
ihren rechtsstaatlichen Verpflichtungen nachzukommen
und den Kassen auf die Finger zu schauen. Die Länder ha-
ben das Finanzgebaren der Kassen in der Vergangenheit
zwar oftmals mit einem zugedrückten Auge toleriert;
doch jetzt soll diese – rechtlich höchst fragwürdige – Hal-
tung salonfähig gemacht werden. Damit ist der finanzielle
Ruin der Krankenkassen politisch vorprogrammiert. Ich
sage Ihnen: Die Patientinnen und Patienten, die Versi-
cherten, haben sowohl aus diesem Grund als auch aus an-
deren Gründen das Nachsehen.

Rot-Grün plant für das kommende Jahr eine Nullrunde
für Ärzte, Zahnärzte und Krankenhäuser. Das heißt für die
Patienten, dass ihre Versorgung noch schlechter wird, als
sie es bisher schon ist. Der Vorsitzende des Marburger
Bundes, Herr Montgomery, hat es auf den Punkt gebracht
– ich zitiere ihn –:

Weil die Bundesregierung offensichtlich kein sach-
gerechtes Konzept gegen das chronische Finanzdefi-
zit des Gesundheitswesens hat, will sie nun den Ver-
sicherten per Gesetz vorschreiben, wann und wie oft
sie krank werden dürfen.

Ist das gemeint, wenn Sie in Ihrem Koalitionsvertrag da-
von sprechen, die Qualität im Gesundheitswesen weiter-
zuentwickeln und die Interessen der Patientinnen und Pa-
tienten in den Mittelpunkt Ihrer Gesundheitspolitik zu
stellen?

Vor der Wahl haben Sie den Ärztinnen und Ärzten in
den Krankenhäusern versprochen, Maßnahmen zu er-
greifen, um das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur
Arbeitszeit umzusetzen. Angesichts der Tatsache, dass im
Krankenhaus etwa 70 Prozent der Kosten Personalausga-
ben sind, liegt es doch auf der Hand, dass bei einer Null-
runde keine Finanzmittel für die Einstellung weiterer
Ärzte vorhanden sind. Im Gegenteil: Die Ärzte müssen
mit Entlassungen oder damit rechnen, dass der Druck auf
ihre Arbeitskraft noch größer wird. Sie lassen die Kran-
kenhäuser im Stich und schaden damit der Versorgung in
der Fläche und den Menschen, die darauf angewiesen
sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es gäbe noch viel zu sagen; aber nur noch kurz zum
Stichwort Bürokratisierung im System. Hier haben Sie
es geschafft, dass 3 800 Menschen mehr in der Verwal-
tung beschäftigt sind, aber 15 000 Pflegekräfte weniger
für die Versorgung zur Verfügung stehen. Dies ist die Bi-
lanz Ihrer Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die sozialen Sicherungssysteme sind dringend auf ei-
nen wirtschaftlichen Aufschwung angewiesen. Aber ohne

Annette Widmann-Mauz




Annette Widmann-Mauz
grundlegende Reformen in der gesetzlichen Krankenver-
sicherung wird sich dieser konjunkturelle Aufschwung
nicht einstellen. Deshalb ist die rot-grüne Politik des
„Weiter so“ höchst fahrlässig. Deshalb wird es Zeit, dass
Sie Konsequenzen ziehen.

Frau Schmidt, Sie sind den Problemen der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht gewachsen. Irgendwann wer-
den Sie es auch selbst merken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500606100

Nun hat der Kollege Klaus Kirschner für die SPD-

Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD – Detlef Parr [FDP]: Nun wollen wir sehen, ob sich etwas geändert hat!)



Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1500606200

Sie werden es hören, lieber Kollege Parr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Die Reden haben deutlich gemacht, warum sich die
Wählerinnen und Wähler am 22. September dieses Jahres
für die bisherige Koalition und damit für den Erhalt und
die Weiterentwicklung der solidarischen Krankenversi-
cherung entschieden haben,


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Die wurden auch belogen!)


und zwar basierend auf den Grundprinzipien der Solida-
rität zwischen Gesunden und Kranken, Jungen und Alten,
gut Verdienenden und weniger gut Verdienenden, Singles
und Familien sowie der paritätischen Finanzierung
durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie haben sich für
einen umfassenden Leistungsanspruch entschieden, und
zwar – unabhängig vom Einkommen – orientiert am me-
dizinisch Notwendigen.


(Detlef Parr [FDP]: Der Kanzler spricht vom Abbau des Anspruchdenkens!)


Die Wählerinnen und Wähler haben sich also gegen die
Aufspaltung des Leistungskatalogs in Grund- und Wahl-
leistungen und damit die Verlagerung der Krankheitskosten
weg von der Solidargemeinschaft auf die Geldbeutel der
einzelnen Patienten und auch gegen die Abwahl von Leis-
tungen entschieden. Vor der Wahl hieß dies noch auf Neo-
bayerisch „opting out“. So steht es im Programm der CSU.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Was war denn vor der Wahl bei der SPD?)


Die Debatte hat gezeigt: Außer Ihrer Kritik ist nichts
gekommen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Dieter Thomae [FDP]: Was will die SPD denn?)


Lieber Herr Kollege Seehofer, lieber Herr Kollege
Dr. Thomae und liebe Frau Kollegin Widmann-Mauz, wer
selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn der Kollege Seehofer der Frau Ministerin Allge-
meinplätze vorwirft


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das kann man wohl sagen!)


und sagt, der Wert der Prävention müsse angehoben wer-
den, kann ich nur fragen: Wer hat denn den § 20 SGB V
auf eine Restgröße zusammengestutzt? Waren Sie das
oder wer war das? Wer hat denn den § 20 SGB V wieder
zum Leben erweckt? – Sie doch nicht!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Auf das medizinisch Notwendige, genauso wie die Ministerin das machen will!)


Lieber Herr Kollege Seehofer – dies gilt auch für Ihre
damalige Koalition zu der Zeit, in der Sie Regierungsver-
antwortung getragen haben –, wenn Sie Verschiebebahn-
höfe anprangern, sollten Sie auch wissen, dass auf denje-
nigen, der mit einem Finger auf andere zeigt, drei Finger
zurückzeigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer hat denn beispielsweise damit begonnen, die Be-

messungsgrundlage bei Arbeitslosen zu senken? Waren
Sie das?


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Nein, das war der Rudolf Dreßler!)


– Das waren Sie nicht? Ihr Gedächtnis ist aber wirklich
verdammt kurz; das muss ich Ihnen schon sagen.

Lieber Herr Kollege Seehofer, zur Ihren Vorwürfen be-
züglich der Jahrhundertreform muss ich fragen: Wie lange
hat denn Ihre Jahrhundertreform von 1989 gedauert? War
nicht 1992 eine erneute Reform fällig?


(Zuruf des Abg. Horst Seehofer [CDU/CSU])

–EntschuldigenSie bitte, aber damals hatHerrBlümgesagt,
wir machen eine Jahrhundertreform. Ihr Jahrhundert hat
zweieinhalb Jahre gedauert, nichtmehr und nicht weniger.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Immer noch besser als zehn Monate!)


Lieber Herr Kollege Seehofer, wenn Sie hier – dies ist
unbestritten – die Leistungen im Rahmen der deutschen
Einheit ansprechen, aber gleichzeitig sagen, die Beitrags-
sätze seien zu hoch, dann sagen Sie doch auch klipp und
klar, ob Sie beispielsweise den Finanzkraftausgleich im
gesamtdeutschen RSA abschaffen wollen, immerhin eine
Finanzsumme, die – von West nach Ost – jährlich 2 Mil-
liarden Euro beträgt. Das kostet Geld. Ich frage Sie: Sind
Sie dafür? Ja oder nein? Wenn ja, dann müssen Sie sich
auch dazu bekennen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das hat doch mit den Verschiebungen nichts zu tun!)


Es geht jedenfalls nicht so, wie Sie das hier versuchen.
Ich will bei dieser Gelegenheit an das Pflegeleistungs-

Ergänzungsgesetz erinnern. Haben Sie nicht da einen
Antrag eingebracht, in dem Sie fordern, dass ab dem Jahr
2002 die Behandlungspflege auf die GKV übertragen


(A)



(B)



(C)



(D)


334


(A)



(B)



(C)



(D)






werden soll? Das wäre mit Kosten von jährlich 1,5 Milli-
arden verbunden. Haben Sie das nicht gemacht? Erinnern
Sie sich eigentlich nicht mehr an diesen Antrag?

Noch einmal, lieber Herr Kollege Seehofer: Wer hat
denn dem damaligen Hauptgeschäftsführer des BPI zu
seinem 60. Geburtstag die Positivliste geschreddert über-
reichen lassen?


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das war eine gute Idee!)


Das ist doch in Ihrem Auftrag geschehen. Oder etwa
nicht? Wir wären ein gewaltiges Stück weiter,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


wenn Sie sich an die gemeinsame Abmachung von Lahn-
stein gehalten hätten.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das ist ein Blödsinn! – Horst Seehofer [CDU/CSU]: Was haben Sie denn in den letzten vier Jahren gemacht?)


– Darf ich Sie einmal daran erinnern, wer denn die Stufen
zwei und drei der Festbetragsregelung 1996 gestrichen
hat? – Das waren doch Sie, Ihre Koalition.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das war gut!)

Dies hat nach vorsichtigen Rechnungen die gesetzliche
Krankenversicherung bis heute rund 5 Milliarden Euro
Mehrausgaben gekostet.


(Karsten Schönfeld [SPD]: Hört! Hört!)

Wir werden dieses rückgängig machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dann werden wir sehen, wie Sie eigentlich zu diesen Din-
gen stehen.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Nicht so weit spucken!)


Wer hier die Höhe von Beitragssätzen anprangert und
selbst eine solch lange Liste von eigenen Sünden zu ver-
treten hat, der sollte in dieser Frage etwas leiser sein.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben eine Kasse mit Überschuss übergeben bekommen!)


Lieber Herr Kollege Dr. Thomae,
wenn Sie sagen – ich hoffe, dass ich Sie jetzt richtig zi-
tiere –, das Vorschaltgesetz sei die brutalste Budgetierung,
die man sich denken könne,


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: So ist es!)

dann frage ich Sie: Wie war das denn mit dem Beitrags-
satzentlastungsgesetz? Haben Sie nicht die Beiträge per
Gesetz generell um 0,4 Prozentpunkte gesenkt?


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Aber wir haben die Sparsumme mitgeliefert!)


– Moment mal! Sie haben das an entsprechende Senkun-
gen gekoppelt. Sie haben der GKV per Gesetz eine Bei-
tragssatzsenkung von 0,4 Prozentpunkten aufoktroyiert.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU] und Dr. Dieter Thomae [FDP]: Mit Gegenfinanzierung!)


– Herr Kollege Dr. Thomae, ich glaube, wir tun uns keinen
Gefallen – das gilt auch für Sie, Frau Widmann-Mauz –,
wenn wir immer nur das Schreckgespenst einer Unterver-
sorgung an die Wand malen.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Es ist aber so! – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das wissen Sie doch!)


Unbestritten ist ja, dass es in Deutschland ein paar sol-
cher Gebiete gibt. Aber Regelungen dafür sind im Gesetz
enthalten, nämlich dass dann, wenn es eine Unterversor-
gung gibt, die KVen – das ist der Sicherstellungsauftrag,
den sie wahrzunehmen haben – alles dafür tun müssen,
sie zu beseitigen. Das muss innerhalb der KVen gesche-
hen.

Es wird hier ständig das Schreckgespenst an die Wand
gemalt, dass wir einen Ärztemangel hätten. Dazu sage
ich: Wir haben die höchste Ärzte- und Zahnärztedichte
überhaupt. Da kann man doch nicht von einem Ärzte-
mangel reden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist unverantwortlich, was Sie gemacht haben.

(Detlef Parr [FDP]: Und der Nachwuchs? Wie steht es mit dem Nachwuchs? Die jungen Leute fliehen doch in andere Berufe!)


– Lieber Herr Kollege Parr, mit „fliehen“ wäre ich ein
bisschen vorsichtig. Die jüngsten Zahlen für Studenten,
die sich für Medizin eingeschrieben haben, zeigen doch:
Wir hatten noch nie so hohe Zahlen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das sind aber nur die, die sich eingeschrieben haben!)


Offensichtlich ist dieser Beruf nach wie vor für viele at-
traktiv.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Dieter Thomae [FDP]: Was ist nach sechs bis sieben Jahren?)


Ich kann nur sagen: Hören Sie auf, Gefährdungen an-
zuprangern,


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Nein!)

die es nicht gibt! Ansonsten werden Sie in vier Jahren die
gleiche Quittung von den Wählerinnen und Wählern be-
kommen wie am 22. September.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Gehen Sie mal in den Osten und schauen Sie sich das an!)


Nur alles schlecht zu machen und alles anzuprangern, das
ist keine glaubwürdige Alternative. Merken Sie sich das!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Thomae [FDP]: Gehen Sie nach Ostdeutschland!)


Sie haben am 22. September dafür letzten Endes die Quit-
tung bekommen.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Wer zerstört denn die Versorgung in Ostdeutschland?)


Klaus Kirschner




Klaus Kirschner

Wie sehen denn Ihre Vorschläge aus?

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Wir erwarten eure Vorschläge!)

Sie erschöpfen sich doch darin, weniger Geld für mehr
Leistungen zu bieten. Sie werden auch in der Zukunft für
Ihre Art von Gesundheitspolitik von den Wählerinnen und
Wählern abgestraft werden.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Wir betrügen die Wähler auch nicht! Das ist der Unterschied!)


Ihr ständiges Mosern und das Schielen auf die Geldbeutel
der Kranken stellen keine glaubwürdige Alternative für
die Versicherten dar.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Wir betrügen die Bürger aber nicht!)


Ich sage Ihnen auch Folgendes: Sie agieren im Gleich-
klang mit den starken Lobbygruppen der Leistungser-
bringer; Sie heulen doch mit denen mit.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Wie war das denn bei euch mit der Pharmaindustrie?)


– Aber ich bitte Sie, Herr Kollege Dr. Thomae. Das haben
wir vor der Bundestagswahl doch gesehen. Da war ja
diese schöne Anzeige – sie hat Ihnen sicherlich gut gefal-
len –,


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Wie war das denn mit der Pharmaindustrie?)


in der gefragt wurde: Was verstehen Politiker von Medi-
zin und was verstehen Mediziner von Politik? Es ging um
die Konzepte, die zu einer besseren Versorgung der Pati-
entinnen und Patienten führen sollen, nämlich um unsere
Disease-Management-Programme.

Sind Sie nun für oder gegen bessere Qualität? Sie kön-
nen hier doch nicht einfach sagen, sie wollten eine bessere
Qualität, und in den Ausschusssitzungen haben Sie – zu-
mindest was die Vergangenheit angeht; vielleicht haben
Sie sich ja geändert;


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein!)

das wollen wir in Zukunft einmal abwarten – diese abge-
lehnt, und zwar obwohl mit den Disease-Management-
Programmen eine bessere Medizin für die Patientinnen
und Patienten gewährleistet ist.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das sind Träumereien!)


– Lieber Herr Kollege Dr. Thomae, Sie kennen sich
ebenso wie der Kollege Zöller in der Gesundheitspolitik
doch genauso gut aus wie ich; Sie beschäftigen sich doch
schon seit langem damit.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Kopplung hat er abgelehnt! – Dr. Dieter Thomae [FDP]: Ich habe die Kopplung abgelehnt!)


Das, was Sie da sagen, ist wirklich das Letzte. Sie wissen
doch ganz genau: Es gibt derzeit einen fatalen Wettbe-
werb der gesetzlichen Krankenkassen um Gesunde.


(Beifall bei der SPD)


Wettbewerb ist ja notwendig. Aber das Ziel muss eine
Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit sein.
Die Kassen sind – das kennen wir aus der Vergangenheit –
keine Engel, sondern Institutionen. Wenn bestimmte
Krankenkassen heute einen besonders niedrigen Beitrags-
satz anbieten können, dann ist das nicht ihr Verdienst, son-
dern nur Ausdruck dafür, dass sie einen hohen Anteil an
Gesunden unter ihren Versicherten haben, während bei
anderen Krankenkassen auch viele Kranke versichert
sind. Die Kopplung von Disease-Management und Risi-
kostrukturausgleich wird dazu führen, dass die Jagd auf
gesunde Versicherte aufhört und dass die Kassen letzten
Endes für eine Optimierung der Krankenversorgung be-
lohnt werden. Das haben Sie offensichtlich nicht begrif-
fen oder wollen es auch nicht begreifen; denn Sie wollen
das schließlich ablehnen. Denken Sie einmal darüber
nach!


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Der Gedanke ist richtig, nur: Sie machen es verkehrt!)


– Wenn der Gedanke richtig ist, lieber Kollege Zöller,
dann kann es nicht verkehrt sein.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der Gedanke ist richtig, aber die Ausführung ist falsch!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500606300

Herr Kollege, bevor Sie sich in eine unnötige private

Auseinandersetzung verstricken, möchte ich Sie daran er-
innern, dass Ihre Redezeit überschritten ist. Ich bitte Sie,
zum Ende zu kommen.


Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1500606400

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich denke, ich habe den

Kolleginnen und Kollegen das Notwendige gesagt, näm-
lich dass das, was Sie hier vorgelegt haben, keine Alter-
native darstellt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie dafür in vier
Jahren, so wie am 22. September, wieder die Quittung be-
kommen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500606500

Als letzte Rednerin in der Debatte erteile ich das Wort

der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1500606600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zu-

schauerinnen und Zuschauer! Ich bin Abgeordnete der
PDS. Ich würde es begrüßen, wenn wir unsere Debatten
zur Gesundheitspolitik so führen würden, dass auch die-
jenigen unter den Zuschauerinnen und Zuschauern, die


(A)



(B)



(C)



(D)


336


(A)



(B)



(C)



(D)






keine ausgesprochenen Expertinnen und Experten sind,
sie verstehen könnten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie waren doch gar nicht da!)


Ich kenne das Gesundheitssystem aus eigenem Erleben
und höre, was mir meine Wählerinnen und Wähler über
ihre Erfahrung mit dem Gesundheitssystem berichten. Ich
nenne Ihnen ein Beispiel, sehr verehrte Herren in der ers-
ten und zweiten Reihe: Eine Berliner Mutter geht mit
ihrem Kind zum Arzt, wartet eine oder zwei Stunden im
Wartezimmer, wird dann hereingebeten. Das Kind zieht
sich aus, wird untersucht und darf sich dann wieder anzie-
hen. Die Mutter geht dann mit dem Kind zur Apotheke,
kauft den Impfstoff und wartet wieder beim Arzt. Das Kind
zieht sich aus und wird geimpft. Dann geht die Mutter zu
ihrer Krankenkasse und bekommt die Kosten ersetzt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer regiert denn in Berlin?)


Der Hintergrund ist Ihnen sicher bekannt: Kranken-
kassen und kassenärztliche Vereinigung konnten sich über
die Finanzierung der Grippeschutzimpfung in Berlin
nicht einigen. Die Leidtragenden dieser Auseinanderset-
zung sind die Patienten. Nun ist es nach langer Zeit und
nach Eingreifen der PDS-Gesundheitssenatorin gelungen,
eine Einigung zwischen Krankenkassen und kassenärzt-
licher Vereinigung, die ja bekanntermaßen die Ständever-
tretung der Ärztinnen und Ärzte ist, zu erreichen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wissen Sie, wer Sozialsenatorin ist?)


– Ich habe Ihnen das gerade gesagt, verehrter Herr Kollege.
Die Gesundheitssenatorin ist von der PDS und nur durch
ihr Eingreifen und ihr Verhandlungsgeschick ist es gelun-
gen, diesem misslichen Zustand ein Ende zu bereiten.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das war nicht so!)

Ich denke, meine Damen und Herren, dieses Beispiel

zeigt sehr deutlich, welche Stellung die Patienten und Pa-
tientinnen in unserem Gesundheitssystem haben. Ich
merke aber an, dass es „den“ Patienten nicht gibt. Ich
denke, dass die Mehrheit von Ihnen privat versichert ist
und die Probleme, die ich gerade beschrieben habe, aus ei-
genem Erleben gar nicht kennt.

Hier wurde von einer Zweiklassenmedizin gespro-
chen. Die haben wir bereits; wer Geld hat, lebt länger.
Hier wurde auch viel über Geld gesprochen und darüber,
dass die Krankenkassen unterfinanziert sind. Doch ich
denke, es geht nicht nur um mehr Geld für die Kranken-
kassen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als ei-
nen Umbau des Gesundheitssystems. Jeder weiß, dass an-
dere Länder ihren Bürgerinnen und Bürgern mit weniger
Geld eine bessere Gesundheitsversorgung bieten, als dies
die Bundesrepublik tut.

Das Problem ist jedoch, dass in unserem Land sehr
viele sehr gut an diesem Gesundheitssystem verdienen.
Damit meine ich nicht in erster Linie die Ärzte. Die Pro-
gnosen besagen, dass in Berlin dieses Jahr 500 Ärzte ihre
Praxen schließen werden, weil sie sie nicht mehr finan-
zieren können. Darunter befinden sich auch Ärzte aus
dem Ostteil der Stadt, die nach der Wende hohe Kredite

aufnehmen mussten, um sich niederzulassen. Sie stehen
jetzt vor dem Nichts.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: So ist es!)

Offensichtlich verdienen die Pharmaindustrie und die

Industrie für medizinische Geräte besonders gut an diesem
System.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: So ist es!)

Die Bürgerinnen und Bürger werden mit Medikamenten
vollgestopft und schon bei einer Erkältung in modernste
medizinische Geräte geschoben, weil es sich rechnet. Der
Effekt für die Gesundheit ist oft fraglich.


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Mensch, das ist ja ärgerlich! Haben Sie eine Ahnung!)


Unter meinen Wählerinnen und Wählern gibt es auch
– Sie werden es nicht glauben – einen mir bekannten Phar-
mavertreter. Ich dachte immer, er verkauft Medikamente
an die Ärzte. Nach Gesprächen mit ihm habe ich aller-
dings den Eindruck gewonnen, dass er eher Mitarbeiter ei-
nes Reisebüros ist. Er ist nämlich mit den Ärzten in der
ganzen Welt unterwegs, um ihnen Medikamente nahe zu
bringen. Da stimmt doch etwas nicht.


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!)


Die Pharmaunternehmen haben in diesem System offen-
sichtlich sehr gute Geschäfte gemacht, sodass sie sich sol-
che kleinen Extras leisten können.

Der Patient soll in diesem Gesundheitssystem immer
mehr zum Kunden werden. Ich weiß nicht, wie ich das fin-
den soll, und ich weiß auch nicht, ob dieser Anspruch
wirklich ernst gemeint ist.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Ich weiß nicht, ob ich mir das weiter anhören muss!)


Wie kann es sonst sein, dass ältere Kunden von den
Krankenkassen nicht gern gesehen, junge Kunden aber
mit Kusshand genommen werden? Ich finde es wirklich
beängstigend, dass Krankenkassen ihr Zweigstellennetz
aus Kostengründen reduzieren und auf den Nebeneffekt
hoffen, dass ältere Bürgerinnen und Bürger aufgrund
der dann gegebenen schlechteren direkten Beratungs-
möglichkeiten vielleicht doch die Krankenkasse wech-
seln.

Meine Damen und Herren, in vielen Reden wurde das
Solidarprinzip beschworen. Ich habe jedoch den Eindruck,
dass dieses wichtige Prinzip ein frommer Wunsch bleibt.


(Detlef Parr [FDP]: Wenn die PDS von fromm spricht, wird es komisch!)


Ich denke, dass das Geld, welches sich im Gesundheits-
system befindet, an vielen Stellen falsch verteilt ist. Zu
viel Geld fließt an die Pharmaindustrie.

An dieser Stelle muss angesetzt werden. Dann werden
wir sehen, dass hinten, so, wie es Ihr ehemaliger Kanzler
Kohl zu sagen pflegte, mehr herauskommt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nicht „mehr“, sondern: Es kommt darauf an, was herauskommt!)


Dr. Gesine Lötzsch




Dr. Gesine Lötzsch
Mit diesem Spruch hatte er ausnahmsweise mal Recht.

Herzlichen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500606700

Ich schließe die Aussprache zur Regierungserklärung.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesord-

nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 6. November, 13 Uhr, ein.
Gleichzeitig möchte ich darauf aufmerksam machen, dass
in dieser Sitzung sowohl die Regierungsbefragung als
auch die Fragestunde stattfinden werden.

Bis zum Beginn der nächsten Woche wünsche ich Ih-
nen einige ruhigere Tage.

Die Sitzung ist geschlossen.