Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich wünsche Ihnen einen guten Mor-
gen. Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
zunächst der Kollegin Ulrike Mascher, dem Kollegen
Wolfgang Behrendt und dem Kollegen Werner Len-
sing, die im Oktober jeweils ihren 60. Geburtstag feier-
ten, nachträglich die besten Grüße und Wünsche des
Hauses aussprechen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste
vorliegenden Punkte zu erweitern:
ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar Bartsch,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS:
Ansiedlung einer Airbus-Fertigungsstätte in
Mecklenburg-Vorpommern
– Drucksache 14/25 –
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Pau, Ulla Jelpke, Heidemarie Lüth, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der PDS:
– Drucksache 14/26 –
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Bar-
bara Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS:
Besteuerung von Luxusgegenständen
– Drucksache 14/27 –
Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 5 a bis
5 c und 8 abgesetzt werden. Sind Sie damit einverstan-
den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren
wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 und 4 auf:
3. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P.
und PDS
Bestimmung des Verfahrens für die Berech-
nung der Stellenanteile der Fraktionen
– Drucksache 14/21 –
4. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P.
und PDS
Einsetzung von Ausschüssen
– Drucksache 14/22 –
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Ich bitte diejenigen, die dem interfraktionellen Antrag
zur Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der
Stellenanteile der Fraktionen auf Drucksache 14/21 zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig
angenommen.
Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zur
Einsetzung von Ausschüssen auf Drucksache 14/22.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Fortsetzung der Aussprache zur Regierungs-
erklärung des Bundeskanzlers
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Aussprache bis 14 Uhr dauern. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Wir kommen zunächst zum Themenbereich Arbeit
und Soziales. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat
der Kollege Dr. Hermann Kues.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester,ich wünsche Ihnen bei Ihrer Arbeit eine glückliche Hand
Metadaten/Kopzeile:
132 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
im Interesse der Menschen und im Interesse der Sache.Ich glaube, die Menschen bei uns im Lande haben zuRecht einen Anspruch darauf, daß wir als Opposition Ih-re Politik nicht nur deshalb kritisieren, weil sie von Ih-nen kommt. Genauso wird von uns erwartet, daß wirnicht sagen, etwas sei nur deshalb richtig, weil es vonuns kommt.Der Bundeskanzler hat gestern in der Regierungser-klärung einen relativ eindeutigen Maßstab genannt: Die-nen die vorgesehenen Regelungen dazu, das Hauptzielzu erreichen, nämlich die Arbeitslosigkeit abzubauen?Diese Frage ist für uns die Meßlatte; daran werden wirfesthalten.
Ich sage Ihnen ganz offen: Was ich bislang von Ihnenund von anderen Vertretern der Regierung gehört habe,erweckt bei mir den Eindruck, daß Sie sich einerseits umklare Aussagen drücken und daß Sie andererseits in denPunkten, in denen Sie konkret werden, in die falscheRichtung laufen. Wer an einer wichtigen Weggabelungin die falsche Richtung läuft, der gerät nach meinerÜberzeugung auf den Holzweg. Alle Maßnahmen mußman danach bewerten, ob sie dem Ziel dienen, mehrMenschen in Beschäftigung zu bringen, und ob sie fürdiejenigen gedacht sind, die am Rande stehen und keineMöglichkeiten haben, ihre Fähigkeiten in den Wirt-schafts- und Arbeitsprozeß einzubringen.Soziale Leistungen haben immer auch eine finanzielleSeite. Sie müssen nämlich bezahlt werden. Die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer haben nichts davon,wenn ihnen mit der einen Hand etwas gegeben wird,was ihnen mit der anderen Hand wieder genommenwird.Ich will das am Beispiel der Rentendiskussion einwenig konkretisieren. Es hört sich ja gut an, wenn Siesagen: Arbeitnehmer können ab 60 Jahre in Rente ge-hen, die Altersbezüge steigen kräftig, finanzielle Abzügegibt es nicht, es werden Arbeitsplätze für Jugendlichefreigemacht. Nur: Wer bezahlt eigentlich die Realisie-rung dieser Versprechen?
Die Rede ist von Tariffonds. Wenn Sie genauer hin-sehen, werden Sie feststellen – das sagen auch die Ge-werkschaften –, daß mindestens zweistellige Milliarden-beträge notwendig sind. Belastet werden die aktiven Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Betriebe.Das heißt, mögliche Lohnerhöhungen fallen geringeraus.Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Wennein Facharbeiter 5 000 DM brutto verdient und eineLohnerhöhung von 4 Prozent in Aussicht steht – das wä-re ja ein Wort –, bekäme er 200 DM mehr. Wenn Siejetzt sagen, 1 Prozent dieser Lohnerhöhung – das steht jazur Diskussion – solle in den sogenannten Tariffondseingezahlt werden, würden ihm von diesen 200 DMwieder 50 DM abgezogen. Jetzt werden Sie sagen: Aberwenn er zwei Kinder hat, bekommt er ja eine Kinder-gelderhöhung. Diese Kindergelderhöhung – das gebe ichzu – wären immerhin 60 DM. Dann hätte er also 10 DMmehr.Das müssen Sie aber zusammenführen mit der Dis-kussion um die Ökosteuer. Alles, was ich gehört undgelesen habe, läuft darauf hinaus, daß die Kindergeld-erhöhung um 60 DM durch die Einführung der Öko-steuer – er bezahlt mehr für Benzin, bezahlt mehr fürGas usw. – überkompensiert wird. Das heißt: Auf dereinen Seite geben Sie ihm 60 DM mehr, auf der anderenziehen Sie ihm 50 DM ab und dann noch einmal 60 DM.Für den Arbeitnehmer wird das also nicht nur ein Null-summenspiel, sondern er bezahlt im Endeffekt drauf.Das ist nach meiner festen Überzeugung sozial unge-recht.
Ich glaube, daß Sie zu sehr aus der Sicht derer den-ken, die sich beim System befinden, nicht aus der Sichtderer, die außerhalb stehen, die in den Arbeitsmarkthinein wollen.
Was Sie vorhaben, ist eine grobe Ungerechtigkeit imBereich der Rente, beim Verteilen der Lasten zwischenden Generationen.Sie werden auch den Herausforderungen des demo-graphischen Wandels nicht gerecht. Denn es ist dochunbestritten, daß auf Grund der Veränderung des Alters-aufbaus immer mehr Junge für immer mehr Alte auf-kommen müssen.Und was das große Problem ist: Sie schieben grund-legende Entscheidungen vor sich her. Sie sagen, etwa imRentenbereich, nicht, wir ändern den bisherigen Ansatz,sondern Sie setzen die Rentenreform lediglich aus. Siekönnen im Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitutenachlesen und auch von anderen Fachleuten, etwa BertRürup, dem Finanzwissenschaftler, SPD-Mitglied, hö-ren, daß die Einschnitte um so massiver und problemati-scher werden, je später Sie die Entscheidungen fällen.
Was Sie tun, ist dies: Sie kaufen sich Zeit. Sie tragennicht Verantwortung für die Zukunft. Das ist keinenachhaltige Politik. Das ist kurzfristige Politik, die aufBeifall setzt und nicht auf wichtige Entscheidungen. Daskritisieren wir.
Sie bringen immer das Argument, das müsse ausSteuern finanziert werden, es müsse einen Zuschuß ausdem Bundeshaushalt geben. Dazu muß man daraufhinweisen: Jede vierte Mark des Bundeshaushalts fließtbereits heute in den Rententopf. Nach der letzten Erhö-hung des Bundeszuschusses gehen auch Fachleute da-von aus, daß im Grunde genommen nicht mehr von ver-sicherungsfremden Leistungen aus der Rentenkasse ge-sprochen werden kann, weil derartige Leistungen, fürDr. Hermann Kues
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 133
(C)
(D)
Kriegsopfer beispielsweise, immer mehr abgebaut wer-den, so daß auch dort für Sie im Grunde keine Möglich-keit mehr gegeben ist.Sie weisen darauf hin, wie Sie an die geringfügigenBeschäftigungsverhältnisse herangehen. Auch da habeich den Verdacht, daß es Ihnen nicht in erster Linie dar-um geht, diese Arbeitsverhältnisse zurückzudrängen,sondern daß Sie dort offensichtlich Geld für die Sozial-kassen suchen, das Sie anderweitig leichtfertig ausge-ben.
Es ist im übrigen ein absolutes Novum, daß Versiche-rungsbeiträge erhoben werden sollen, hinter denen keineLeistungen stehen. Dazu paßt am besten die Feststel-lung: Sie wollen abkassieren.
In der Rentenversicherung werden mit Minibeiträgenvolle Ansprüche geschaffen, gleichzeitig aber nur mini-male Rentenansprüche aufgebaut. Das geht in die fal-sche Richtung.Ich will noch einmal auf den Kern zurückkommen.Das Entscheidende ist doch, daß wir nicht fragen dürfen:„Was sind wohlklingende Maßnahmen?“, sondern daßwir fragen müssen: „Welche Maßnahmen sind hilfreichfür die Belebung der Wirtschaft sowie für die Sicherungund Schaffung von neuen Arbeitsplätzen?“. Denn diesesHauptziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.Wir haben Gott sei Dank seit Oktober dieses Jahreseinen beachtlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit zuverzeichnen. Die Zahl der Arbeitslosen war in diesemOktober im Vergleich zum Oktober 1997 um 400 000niedriger. Wenn man die Zahl der Erwerbstätigen an-sieht, so ist das Ergebnis noch interessanter: Von 1983bis 1990 haben wir einen Anstieg der Zahl der Beschäf-tigten um 3 Millionen gehabt. 1990 sind wir erstmalswieder bei über 34 Millionen Beschäftigten.Das heißt also, der konjunkturelle Aufschwung, fürden wir verschiedene Maßnahmen ergriffen hatten, istmittlerweile auch beim Spätindikator Arbeitsmarkt an-gelangt und hat dort kräftige Spuren hinterlassen. Es be-streitet heute keiner mehr, daß es zur Sicherung undSchaffung von Arbeitsplätzen strukturelle Verbesserun-gen unserer Wirtschaft gibt. Das alles kommt nicht vonungefähr, sondern hat etwas damit zu tun, daß wir denMut gehabt haben, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen,den Arbeitsmarkt nachhaltig zu regeln und die sozialenSicherungssysteme zukunftssicher zu machen.
Bei uns hat es dafür – ich wiederhole das – einen einzi-gen Grund gegeben, nämlich, einen Beitrag zum Abbauder größten Ungerechtigkeit zu leisten: daß Menschenkeine Teilhabe am Wirtschafts- und Arbeitsprozeß ge-währt wird.Wenn Sie nun versuchen, das Rad zurückzudrehen,um zwei oder drei besonders werbewirksame Wahlver-sprechen einzuhalten, dann ist das nicht nur in hohemMaße unsozial, sondern auch ungerecht und geht auf dieKnochen derjenigen, die keine Arbeit haben und außenvor sind.
Herr Arbeits- und Sozialminister, wenn Sie mutig wä-ren, dann würden Sie sich an den Niederlanden ein Bei-spiel nehmen. Ich wohne an der niederländischen Gren-ze, beobachte die Maßnahmen in den Niederlanden sehrintensiv und habe sie für mich ausgewertet. Dort hatman Anfang der 80er Jahre zwischen der Regierung undden Tarifparteien ein Bündnis für Arbeit geschmiedet.
Das hat positive Wirkungen auch auf dem Arbeitsmarktentfaltet, und zwar dadurch, daß all das auf den Tischgekommen ist, was zu mehr Beschäftigung führen kann.Ich nenne Ihnen die Punkte: Das erste waren und sindverantwortungsvolle Lohnabschlüsse, das zweite Spar-bemühungen der öffentlichen Haushalte – davon sindSie weit entfernt –,
das dritte Veränderungen im sozialen Sicherungsnetz,das vierte eine weitgehende Deregulierung und dasfünfte – angesichts dieses Punktes merken Sie, daß Sievon diesen Maßnahmen weit entfernt sind und die fal-schen Signale setzen – eine Senkung der Steuer- undAbgabenlast.Das ist das Konzept der Niederlande. Wenn Sie mitdiesem Konzept antreten würden, hätten wir vor IhnenRespekt und würden uns damit entsprechend auseinan-dersetzen.
Daß wir auf dem Arbeitsmarkt eine Trendwende ha-ben, bestreitet im Moment eigentlich niemand mehr.Diese Trendwende droht allerdings an einer Gruppevorbeizugehen: den Langzeitarbeitslosen. Hierzu habeich, Herr Minister Riester, etwas Interessantes in der„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gelesen. Es warzwar etwas versteckt in deren „Magazin“ vom 6. No-vember 1998, aber ich habe es gelesen. Man kann dortnachlesen, welchen Stellenwert Rotgrün dem Problembeimißt, daß an etwa 1 bis 2 Millionen Menschen dieTrendwende am Arbeitsmarkt vorbeizugehen droht. Dahaben Sie die Katze aus dem Sack gelassen. Da habenSie auf die Frage „Was wollen Sie mit denen machen,die nicht qualifizierbar sind?“ geantwortet:Ich konzentriere mich lieber auf die vielen Men-schen, die man qualifizieren kann, als auf die weni-gen, bei denen alle Bemühungen fruchtlos bleiben.
Ich sage ausdrücklich: Unsozialer kann man dieseMenschen nun wirklich nicht fallenlassen.
Dr. Hermann Kues
Metadaten/Kopzeile:
134 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Sie haben dies gerechtfertigt mit den Worten – ichhabe das Interview dabei, Sie können es gleich nachle-sen –:Aber gut. Wie viele mögen es sein? Vielleicht fünfProzent der Erwerbsbevölkerung. Ich habe ja ge-sagt: Wir haben 34 Millionen Erwerbstätige inDeutschland. Wissen Sie eigentlich, wie viele Ein-zelschicksale diese 5 Prozent sind,
die Sie mit solchen Worten locker ins Abseits schieben?
Ihr Parlamentarischer Staatssekretär Herr Andres hatin der „NOZ“ vom 30. Oktober ebenso – denn darumgeht es ja auch bei dieser Gruppe – Beschäftigungsmög-lichkeiten im Niedriglohnbereich geleugnet. Es gibt 1bis 2 Millionen Menschen, die kaum in der Lage sind,am Markt ein Einkommen zu erwirtschaften, von demsie und ihre Familien leben können. Deswegen muß manüber solche Dinge wie Kombilohn – oder wie immerman das nennt – nachdenken, weil nur solche Instru-mente auf die Schwächsten der Schwachen am Arbeits-markt zugeschnitten sind.
Ich könnte das mit weiteren Zitaten belegen. Ich fin-de, diese Denkweise ist technokratisch. Sie ist für micherschreckend. Ich mache mir um die Starken nicht allzugroße Sorgen – deren Arbeitslosigkeit geht in über-schaubaren Zeiträumen zu Ende. Den Langzeitarbeitslo-sen fehlt es meistens auch nicht in erster Linie an dermateriellen Ausstattung.Ich sage aber auch: Es ist zuwenig – das ist vielleichtein typisches Phänomen des Wohlfahrtsstaates –, Lang-zeitarbeitslosen lediglich Geld zu geben. Vielmehr müs-sen wir uns einfallen lassen, wie wir Langzeitarbeitslo-sen wieder eine Lebensperspektive geben, wie wir siewieder teilhaben lassen können, so daß sie ihre Qualifi-kation und ihre Fähigkeiten wieder einbringen können.Darum kümmern Sie sich überhaupt nicht.
Das ist eine Frage des Grundansatzes. Hier geht esum die Verwirklichung von Beteiligungsgerechtigkeit– nicht Verteilungsgerechtigkeit, sondern Beteiligungs-gerechtigkeit –, die sich von der Würde des Menschenherleitet. Es geht darum, die Menschen einzubeziehen.In diesem Sinne kann man auch sagen: Wenn man dasZiel hat, dies zu verwirklichen, und Veränderungen vor-nimmt, dann können Veränderungssperren, wie Sie sieaufbauen, durchaus auch unmoralisch sein.Ich habe nie verstanden, daß ein durchschnittlicherArbeitslosenhilfebezieher mit 27 Jahren bei uns1 250 DM an Arbeitslosenhilfe erhält. Der Staat wendet1 850 DM dafür auf, daß man ihm lediglich Geld gibt,anstatt für ihn auch Arbeit zu organisieren.
Ich kann bei Ihnen nicht den geringsten Ansatz er-kennen, daß Sie in eine andere Richtung gehen. Wir ha-ben für eine Dezentralisierung der Arbeitsmarktpoli-tik gekämpft und haben sie auch durchgesetzt.
Dazu hört man von Ihnen nichts. Das hat etwas damit zutun, daß Sie eine andere Gesellschaftsphilosophie haben.Sie haben einen zentralistischen Ansatz. Sie erhoffensich mehr Lösungen von der Zentrale, ob aus Bonn oderaus Nürnberg. Wir setzen auf Dezentralisierung, wir set-zen auf die Phantasie der Regionen, weil wir meinen,daß man den Menschen damit mehr helfen kann. Wirbrauchen in der Arbeitsmarktpolitik einen regionalenMaßanzug. Der muß für den ländlichen Raum andersaussehen als für den Ballungsraum. Wir brauchen keinezentralistischen Lösungen, wie Sie sie nach wie vor an-peilen.
Es muß eine einfache Regel gelten: Das Beste ist,wenn jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit fin-det.
Dafür müssen Sie die volkswirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen schaffen. Sie laufen genau in die falscheRichtung. Das merkt man, wenn man sich Ihre Steuerre-form ansieht.
Eine zweite Regel ist: Wer auf dem ersten Arbeits-markt keine Arbeit findet, für den tritt die Versicherungein – nach den Regeln einer Versicherung. Deshalb sageich auch ganz deutlich: Wir sind der Meinung, daß diegroßen Lebensrisiken – Alter, Krankheit, Arbeitslosig-keit, Unfall und Pflege – von der Solidargemeinschaftabgesichert werden müssen. In dem Punkt unterscheidenwir uns zumindest vom Bundesfinanzminister. Wirwollen, daß die großen Risiken von der Solidargemein-schaft abgesichert werden, so daß sich ein Arbeitneh-mer, der 20 oder 30 Jahre lang eingezahlt hat, auch dar-auf verlassen kann, eine entsprechende Leistung heraus-zubekommen.
Das ist ein ganz wichtiger Stabilisator in einer Wirt-schafts- und Arbeitswelt, die sich für den einzelnen un-geheuer stark verändert, in der er sich neuen Herausfor-derungen stellen muß. Wenn wir das von ihm erwarten,dann muß es Stabilisatoren geben. Dazu zählen die gro-ßen Sicherungssysteme.Wir sagen aber auch: Es gibt kleine Risiken, die jederselbst tragen muß. Wieder auf die Arbeitslosigkeit bezo-gen, bedeutet das: Wenn das Sozialversicherungssystemfür ihn nicht eintritt, dann muß er Geld bekommen, aberDr. Hermann Kues
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 135
(C)
(D)
auch die Chance zur Gegenleistung erhalten. Wir müs-sen es so organisieren, daß er eine Gegenleistung erbrin-gen kann, daß nicht nur ausgezahlt wird, sondern daß dieFähigkeiten, die er hat, abgerufen werden.
Damit haben wir im Bereich der Sozialhilfe angefan-gen; die Kommunen haben hier exzellente Erfahrungengesammelt. Das muß auch im Bereich des Arbeitsmark-tes umgesetzt werden. Von Ihnen höre ich dazu nichts.Ich sage es noch einmal ausdrücklich: Sie haben ein an-deres Gesellschaftsbild. Sie wollen die Dinge zentra-listisch durch den Staat lösen lassen. Wir wollen dasnicht. Wir wollen weniger Staat und dezentrale Lösun-gen, letztlich menschengerechte Lösungen.
Wenn wir uns unseren Sozialstaat insgesamt ansehen,dann können wir feststellen, daß dieser von Widersprü-chen gekennzeichnet ist. Noch nie in der Geschichte derBundesrepublik wurde soviel Geld für soziale Leistun-gen und für sozialen Ausgleich ausgegeben. Aber nochnie wurde soviel über zwischenmenschliche Kälte ge-klagt, über so viele vereinsamte und verhaltensgestörteKinder.
Das alles zeigt, daß es im Kern nicht um die Quantität,sondern um die Qualität unseres Zusammenlebens geht.Da müssen wir ansetzen.
Wir müssen Strukturen und Anreizsysteme so gestal-ten, daß soziale Leistungen zur Übernahme von Eigen-verantwortung befähigen, und dies belohnen. Denn nurwenn die Bereitschaft vorhanden ist, sich um andere zukümmern, ohne gleich nach dem Staat und der Gesell-schaft zu rufen, kann Solidarität wachsen. Wir dürfendie Verantwortung nicht weiter auf den Staat delegieren,weil wir damit den Sozialstaat hoffnungslos überfordern.
Wenn die Kraft der Wirtschaft verlorengeht, helfen auchnoch so viele soziale Rechte und Ansprüche nicht. Eingutes Beispiel dafür war die DDR; sie hat uns dies ge-zeigt.
Ich sage Ihnen, Herr Minister: Sie werden scheitern,wenn Sie nicht den Mut haben, Veränderungen vorzu-nehmen, die nicht bei jedem und überall gleich auf Be-geisterung stoßen. Sie können das nicht finanzieren, unddie Gesellschaft wird dadurch nicht menschlicher. HerrMinister, haben Sie mehr Mut, und drücken Sie sichnicht um Sachverhalte.
Das Wort hat derRedner, der bereits am Rednerpult steht, der Bundesmi-nister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Riester.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Eine kurze Vorbemerkung: HerrDr. Kues, ich habe gemerkt, daß Sie nach 16 Jahren Re-gierung sehr schnell in der Opposition angekommensind.
Ich bin gerne bereit – ich denke, das ist auch sehr wich-tig –, über meine Arbeit zu streiten. Es ist aber etwasverfrüht, dies nach 14 Tagen zu machen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die neueBundesregierung hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt:Sie will nicht länger den Mangel der Arbeit verwalten,sondern einen neuen Reichtum an Perspektiven schaf-fen. Sie will sich daran messen lassen – der Bundes-kanzler hat dies gestern nicht zum erstenmal betont –, obes ihr gelingt, durch verläßliche und vernünftige Rah-menbedingungen neue Arbeit, neue Ausbildung zumobilisieren. Daran will auch ich meine Arbeit messenlassen.Ich bin mir wie alle anderen Regierungsmitgliederbewußt: Das ist kein leichtes Versprechen, sondern eineschwere Aufgabe.Rund 4,3 Millionen Menschen, Frauen und Männer,Junge und Alte, waren im Jahre 1998 arbeitslos. DieZahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs-verhältnisse ist seit 1991 permanent zurückgegangen.Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen, die leichte Erholungin Westdeutschland dürfen uns nicht zufriedenstellen.Wenn jeder zehnte in Deutschland nach Arbeit sucht,dann muß das für uns Ansporn sein zu neuen Anstren-gungen. Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosig-keit gerade in den neuen Bundesländern ist aktive Ar-beitsmarktpolitik weiterhin unverzichtbar, und sie istfür viele Arbeitslose die einzige Hoffnung, wieder in re-guläre Arbeit zu kommen. Dafür wollen wir sorgen.Wir wollen ferner dafür sorgen, daß die Arbeits-marktpolitik wieder verläßlich wird. Deshalb werden wirdie Berg- und Talfahrt in der Arbeitsmarktpolitik been-den und eine Verfestigung auf dem notwendig hohenNiveau erreichen.
Damit werden endlich Kontinuität und Verläßlichkeit indie Arbeitsmarktpolitik einkehren. Ich bin mir darüberim klaren, daß die Instrumente der aktiven Arbeits-marktpolitik nicht immer nur zusätzliche Beschäfti-Dr. Hermann Kues
Metadaten/Kopzeile:
136 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
gungseffekte auslösen, sondern teilweise auch Mitnah-meeffekte. Darum werden wir die arbeitsmarktpoliti-schen Instrumente auf ihre Zielgenauigkeit untersuchenund auch, wo notwendig, neu justieren.Wir müssen uns besonders für die Menschen einset-zen, denen schon am Anfang ihres Berufslebens alleChancen verbaut sind. Immer mehr junge Menschenfinden keine Ausbildung, keinen Arbeitsplatz. Der Ar-beitsmarkt übersieht sie; die Straße hält sie fest. Fast ei-ne halbe Million junger Menschen sind zwischenzeitlicharbeitslos gemeldet. Diese Zahl wird noch größer, wennman die jungen Menschen einbezieht, die erwerbslossind, die sich aber gar nicht mehr als arbeitslos melden.Hunderttausende nehmen an Bildungsveranstaltungenteil und warten teilweise in Warteschleifen auf den Zu-gang zum Arbeitsmarkt. Das macht mir große Sorgen.Ich denke, diese Menschen brauchen vor allem Unter-stützung. Da reichen keine einfachen Willensbekundun-gen. Wir müssen uns mehr einfallen lassen, damit diesejungen Frauen und Männer eine Chance in dieser Ge-sellschaft haben.Eine gute Berufsausbildung ist immer noch der be-ste Schutz vor Arbeitslosigkeit.
Von den arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren sindin Westdeutschland 60 Prozent ohne Berufsausbildung;in Ostdeutschland sind es 40 Prozent. Wir tragen Ver-antwortung für sie, und wir werden uns dieser Verant-wortung stellen. Wir haben uns verpflichtet, ein Sofort-programm für 100 000 junge Menschen aufzulegen, undzwar für diejenigen, die die geringsten Chancen haben.Sie sollen die Möglichkeit haben, ausgebildet zu wer-den; sie sollen Arbeit und Beschäftigung finden, und siesollen da, wo es für sie notwendig ist, zusätzliche Mög-lichkeiten der Weiterqualifizierung erhalten.Wer noch keine Ausbildungsstelle hat, braucht oft-mals Orientierung und Training, muß sich zurechtfindenlernen. Dabei können wir helfen. Wer dennoch keinebetriebliche Berufsausbildungsstelle vermittelt be-kommt, für den werden wir versuchen, über Ausbil-dungsverbünde und außerbetriebliche AusbildungsplätzeÜberbrückungsmöglichkeiten zu schaffen.Wessen Ausbildung nicht ausreicht, um sich auf demArbeitsmarkt zu bewähren, dem müssen wir eine zu-sätzliche Qualifikation ermöglichen. Das müssen wir sogestalten, daß die Jugendlichen dieses Angebot auch an-nehmen – durch eine vernünftige Kombination von Pra-xis und Theorie.Demjenigen, der keine Beschäftigung finden kann,müssen wir den Weg in die Arbeit erleichtern, wo erfor-derlich, auch durch ABM, wo notwendig, zeitlich befri-stet über Lohnkostenzuschüsse.Der Erfolg eines solchen Programms wird von unse-rem gemeinsamen Engagement abhängen, wird von deraktiven Mithilfe der Arbeitsämter bestimmt sein und vorallem auch von der Bereitschaft der jungen Menschenselbst. Dort müssen wir nachhaltig einfordern: Von dem,der qualifizierte Angebote bekommt, erwarten wir, daßer sie auch annimmt.
Meine Damen und Herren, ich will nach einem JahrRechenschaft ablegen: was aus diesem Programm ge-worden ist, was wir erreicht haben, wo wir Erfolge hat-ten – und wo nicht – und wo die Ursachen dafür liegen.Politik muß wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen.
Das setzt Transparenz und Rechenschaft voraus.Lassen Sie mich ein weiteres Thema ansprechen, dasder Transparenz und das der Glaubwürdigkeit bedarf:die gesetzliche Rentenversicherung. Sie ist in Mißkre-dit geraten, sie hat an Glaubwürdigkeit verloren. Ichwill, daß die Rentenversicherung wieder zukunftssicher,armutsfest und verläßlich wird.
Damit keine Mißverständnisse entstehen: Wir stehen inder Rentenversicherung vor großen Herausforderungen.Wir kennen die demographische Entwicklung.
Sie fordert entschlossenes Handeln.Zugleich gilt: Die Menschen haben ein Anrecht dar-auf, daß wir mit ihrem Vertrauen und ihrer Zukunftsvor-sorge verläßlich umgehen. Darum werden wir in einemersten Schritt die Rentenniveauabsenkung der altenBundesregierung bis zum Jahr 2000 aussetzen.
Gleiches gilt für diejenigen, die nicht mehr durch eigeneKraft ihren Lebensunterhalt verdienen können und aufBerufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten angewiesensind. Menschen, die existentiell auf unser Sicherungs-system angewiesen sind, um im Alter in Würde zuleben, wären sonst der Gefahr ausgesetzt, in Sozialhilfezu rutschen.Natürlich stellt sich dabei die Frage der Gegenfinan-zierung. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag ein-deutig festgelegt, daß wir den Rentenversicherungsbei-trag bei 20,3 Prozentpunkten stabilisieren wollen. Aberwir gehen einen Schritt weiter. Wir werden den Renten-versicherungsbeitrag spürbar und dauerhaft durch denEinstieg in die ökologische Steuer- und Abgabenreform
um 0,8 Prozentpunkte senken.
Bundesminister Walter Riester
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 137
(C)
(D)
Meine Damen und Herren, ich sichere Ihnen heute zu,daß ich dieses Niveau auch im Rahmen der Renten-strukturdiskussion verteidigen werden. Jede Mark, dieaus Ökosteuern eingenommen wird, wird umgesetzt indie Absenkung der Lohnnebenkosten.
Wir entlasten mit diesem Schritt, und zwar bereits imnächsten Jahr und auf Dauer, Beschäftigte und Betriebeum 11 Milliarden DM und fördern Beschäftigung. Wirhelfen, die Akzeptanz der Rentenversicherung wieder zuerhöhen, und sorgen dafür, daß soziale Gerechtigkeit alskonstitutives Element unseres Sicherungssystems erhal-ten bleibt.
Wir mildern die Belastungen, die dem Sozialversiche-rungssystem durch allgemeine Aufgaben aufgebürdetworden sind, indem wir die Kindererziehungszeitendauerhaft neu durch Steuermittel finanzieren. Verspro-chen worden ist das oft – wir machen es!
Zugleich wissen wir alle: Wir müssen einen zweitenSchritt tun, eine wirkliche Strukturreform der Renten-versicherung angehen. Das will ich schon 1999 auf denWeg bringen. Geredet worden ist auch darüber in derVergangenheit viel; wir müssen jetzt zukunftsfähige Lö-sungen entwickeln, den Wandel in den Erwerbsbiogra-phien aufnehmen.
Nur wenn wir diesen Prozeß aufnehmen, wenn wir unsdarauf konzentrieren, werden wir die Glaubwürdigkeitin der Rentenversicherung wiederherstellen können.
Ich sage aber auch: Wir werden dabei nicht mit demFüllhorn durch das Land ziehen können.
Nicht alles Wünschenswerte wird machbar sein. Abernur indem wir das Machbare ernsthaft angehen, werdenwir dem Wünschenswerten näherkommen.
Der Bundeskanzler hat gestern das Vier-Säulen-Modell angesprochen: Betriebliche Altersversorgung,stärkere Teilhabe der Beschäftigten am Produktivver-mögen und Eigenvorsorge müssen unsere gesetzlicheRentenversicherung unterstützen und ergänzen. In die-sem Sinne halte ich es für einen konstruktiven und muti-gen Vorschlag der Gewerkschaften, einen Tariffondsaufzubauen, der es denjenigen, die es wollen, ermög-licht, zu akzeptablen Bedingungen früher aus dem Ar-beitsleben auszuscheiden.
Ich begrüße diesen Vorschlag ausdrücklich.
Ich biete den Arbeitgebern und Gewerkschaften an: Las-sen Sie uns über einen solchen Fonds im Rahmen einesBündnisses für Arbeit und Ausbildung sprechen.Dieser Tariffonds kann nicht nur ein Beispiel für ge-lebte Subsidiarität sein, sondern er kann darüber hinausauch deutlich machen, daß das Zusammenwirken vonWirtschaft, Gewerkschaften und Politik mehr leistenkann als die Entscheidung im Parlament allein.
Es war einzusehen, daß aus der Warte der Rentenkas-sen – isoliert betrachtet – das Renteneintrittsalter her-aufgesetzt werden mußte. Ich verstehe die Zwänge. Aberdie Entlastung der Rentenkassen hat erhebliche Proble-me auf dem Arbeitsmarkt geschaffen, wird das auchweiter tun, Probleme, die sich in der betrieblichenWirklichkeit inzwischen deutlich bemerkbar machen:für die älteren Beschäftigten, für die jungen Menschen,die vor der Türe stehen, und für die Arbeitgeber glei-chermaßen. Man hat mit diesem Schritt das Problem nurumverteilt.Wir werden durch diese Entscheidung in den näch-sten fünf Jahren – ich befürchte, daß die Dramatik in derBevölkerung noch gar nicht ganz angekommen ist – eineLebensarbeitszeitverlängerung derjenigen bekommen,die im Betrieb sind, und zwar um rund 10 Prozent. Ichweise darauf hin: Das Volumen übersteigt die tariflicheArbeitszeitverkürzung der Gewerkschaften in den 80erund 90er Jahren. Das löst Probleme aus. Den Problemenmüssen wir uns stellen.Insofern halte ich den Vorschlag der Gewerkschaften,mit der Tarifpolitik an dieses Problem heranzugehen undLösungen anzubieten, für exzellent. Das ist – ich wie-derhole es – gelebte Subsidiarität.
Ich denke, das ist ein trefflicher Beweis dafür, daß Pro-bleme nicht verschoben werden dürfen, sondern ange-gangen und gelöst werden müssen.
Zweitens. Wenn Regierung, Arbeitgeber und Ge-werkschaften zu dieser Lösung beitragen – und zwarnicht nur, weil ein gemeinsames Interesse sie eint –,dann ist das die beste Grundlage für ein Bündnis fürAusbildung und Arbeit.
Bundesminister Walter Riester
Metadaten/Kopzeile:
138 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Das gilt auch für die Frage der Ausbildung, die sichnicht nur in der quantitativen Frage erschöpft. Das giltfür attraktive, flexible Arbeitszeiten, die mehr Beschäf-tigung ermöglichen, und das gilt für die Mobilisierungneuer Beschäftigung.Ich will Ihnen ein Beispiel alter Debatten, alter Lö-sungsansätze für diesen Bereich notwendiger neuer Be-schäftigung für Menschen mit geringer Qualifikationnennen. In der alten Debatte, die ich seit 10, 15 Jahrenkenne, wird so argumentiert: Wir haben Arbeit und Be-darf genug – allerdings nicht für 50,50 DM, sondern für8,30 DM. In der Hoffnung, Lohn abzusenken, Kombi-lohnmodelle anzubieten, liegt das nicht einzulösendeVersprechen, daß sich dann der Arbeitsmarkt entwickelnwürde.Nun bin auch ich der Auffassung, daß es eine dergrößten Herausforderungen ist, daß wir viele Menschenmit geringen Qualifikationen haben – vor allem diestecken im Bereich der 1,35 Millionen Langzeitarbeits-losen –, für die wir zuwenig Arbeitsplätze haben. Aberich möchte an diese Frage anders herangehen, etwas sy-stematischer.
Ich möchte, daß wir nicht immer nur die gleichen Bei-spiele des Schuhputzers, des Kofferträgers, des Fenster-putzers, des Spargelstechers hören, sondern einmal auf-listen, welche Bereiche produktionsnaher und persönli-cher Dienstleistungen zu entwickeln sind.
Wenn wir das mit Wirtschafts- und Arbeitnehmerver-tretern klar aufzeigen, kommt der zweite Schritt: Dannmüssen wir Angebote zur Qualifizierung entwickeln.Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, daß,wenn wir das systematisch angehen, auch die dritte Fra-ge, der nicht ausgewichen werden darf, nämlich ob wirdafür eigene Lohnniveaus, ob wir dafür eine Kombinati-on mit der Sozialversicherung brauchen, von den Tarif-vertragsparteien angegangen wird.
Herr Bundesmini-
ster, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Dr.
Schäuble?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Bitte.
Herr Bun-desminister, nachdem Sie sich gerade gegen diese Artvon Beschäftigung ausgesprochen haben – –
– Doch. Sie haben doch gerade gegen Kofferträger,Schuhputzer usw. gesagt, diese Art von Beschäftigunggebe es nicht. Wo sind denn diese Jobs? – das war IhreFrage. Deswegen möchte ich Sie fragen, ob mich meineErinnerung trügt wenn ich darauf verweise, daß der HerrBundeskanzler gestern in seiner Regierungserklärungunter anderem den Begriff Einpackhilfe gebraucht hat.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Wenn Sie mir zugehört hätten, Herr Abge-ordneter Schäuble,
und sich nicht auf Ihren Diskussionsbeitrag vorbereitethätten, dann hätten Sie genau gehört, daß ich exakt dasgesagt habe: Wir müssen ein breites Spektrum von An-geboten für Menschen mit geringer Qualifikation ent-wickeln und dürfen sie nicht auf immer wieder die glei-chen Beispiele reduzieren.
Das können die Menschen von uns erwarten.
Ich will aber auch klarstellen: Wir werden die Fehl-entwicklungen, Ihre Entscheidungen beim Kündigungs-schutz und bei der Lohnfortzahlung, innerhalb der näch-sten Wochen korrigieren.
Das gilt auch für die geringfügig Beschäftigten, bei de-nen wir uns im übrigen in der Definition des Problemsmit der ehemaligen Regierung relativ einig waren. Nur,man muß dieses Problem auch angehen. Ich weiß, daßdas nicht bequem ist. Wir werden uns der Herausforde-rung stellen, weil wir wissen: Es geht im Kern nicht,Herr Abgeordneter Kues, um die Liquiditätsverbesse-rung, sondern darum, wieder Ordnung am Arbeitsmarktzu entwickeln.
Es geht aber auch – das ist schon ein ernst zu neh-mendes Problem – darum, den Erosionsprozeß in denFinanzstrukturen unserer sozialen Sicherungssysteme zustoppen.
Denn kein Sicherungssystem der Welt hält es aus, wenndie Belastungen steigen und immer mehr Menschen dieSolidargemeinschaft verlassen.
Bundesminister Walter Riester
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 139
(C)
(D)
Da wir uns in der Analyse in der Vergangenheit einigwaren, erwarte ich, daß in diesen Fragen, zumindestwenn man es ernst meint mit der Stabilisierung und derSicherung der Systeme, eine Zusammenarbeit möglichist.
Wir werden diese Maßnahmen auch mit Blick auf einBündnis für Ausbildung und Arbeit angehen; dennwürden wir ein solches Bündnis mit diesen Fragen bela-sten, dann bestünde die Gefahr, daß aus solchen Gesprä-chen Nebenregierungen entwickelt werden. Genau daswollen wir nicht. Wir wollen das Bündnis nicht mit Ent-scheidungen überfrachten, die korrigiert werden müssenund für die wir einen ganz klaren Wählerauftrag haben.
Lassen Sie uns gemeinsam die Stärken und die Kräf-te, die unser Land noch immer hat, wieder zusammen-führen und fruchtbar in neue Lösungen einbinden. Ichbin fest davon überzeugt: Den Weg ins 21. Jahrhundertwerden wir nur dann mit den Menschen gehen können,wenn wir mit den gesellschaftlichen Kräften fair, kon-struktiv und handlungsorientiert bei den Lösungen vonProblemen zusammenarbeiten. Das setzt allerdings einpolitisches Grundverständnis voraus, das in den letztenJahren in Vergessenheit geraten schien. Politik mußwieder verläßlich sein;
Politik muß wieder das Vertrauen der Menschen gewin-nen.
Verläßlichkeit und Vertrauen sind der Humus, aufdem Reformen gedeihen können, Reformen, die wirbrauchen, um den Strukturwandel, in dem wir stehen,bewältigen und gestalten zu können.
Die Menschen werden nur bereit sein, den Strukturwan-del mutig anzugehen, wenn sie Vertrauen in die Politikhaben und wenn sie wissen, daß sie sich wieder auf so-ziale und gerechte Politik verlassen können.
Folgendes ist wesentlich für unseren Weg in dasnächste Jahrtausend: Mut zur Innovation, Flexibilitätund Mobilität sind unverzichtbare Bestandteile einermodernen, zukunftsgewandten Gesellschaft und Wirt-schaft.
– Hoffnung gibt es vielleicht auch dann, wenn die Op-position zuhört, wenn der Minister spricht.
Ich denke, daß die Bevölkerung –
– danke; die Vorstellung wird live im Fernsehen über-tragen –
uns an diesen Grundprinzipien einer verläßlichen Politikmessen wird. Daran, nämlich an den klaren Aussagen,werde auch ich mich in der Zukunft messen lassen.
Darüber, Herr Abgeordneter Kues, will ich mit Ihnen inZukunft gerne streitig diskutieren.Danke schön.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schlage vor, daß wir uns darauf ver-
ständigen, daß wir jedem Redner zuhören, egal, ob er
Minister ist oder nicht.
Das Wort für die F.D.P. hat die Kollegin Dr. Irmgard
Schwaetzer.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit den Ver-sprechungen in der Sozialpolitik hat die neue Koalitiondie Wahl gewonnen. Aber was waren das für Verspre-chungen? Sie waren doch sehr widersprüchlich. Die ei-nen erwarten von Ihnen die Wiederherstellung der altenZustände, die anderen – das ist die von Ihnen besondersumworbene Neue Mitte – erwarten von Ihnen, HerrBundeskanzler, Modernisierung, die zweifellos nichtmit der Bewahrung der alten Zustände einhergehenkann. Das liegt schon in dem Wort „Modernisierung“.Ihre Regierungserklärung ist auf Grund dieses Spa-gats notwendigerweise sehr blaß gewesen. Die Kom-mentierung in der Presse heute, Herr Bundeskanzler,kann Sie auch nicht gefreut haben.
– Uns gibt es Chancen. – Denn längst haben die Wählerden engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskraft,Wettbewerb und Arbeitsmarkt sowie Wirtschaftskraftund sozialer Sicherung erkannt.Herr Bundeskanzler, Sie haben Modernisierung an-gekündigt. Nun müssen den Worten Taten folgen. Des-wegen kann ich Ihnen nur sagen: Setzen Sie die Moder-nisierung endlich durch! Das ist aber keine Aufforde-rung an die Opposition; die hat das längst begriffen. Daskann nur an Ihre eigenen Reihen gerichtet sein.
Bundesminister Walter Riester
Metadaten/Kopzeile:
140 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Leistung und Eigenverantwortung – das waren dieBegriffe, die Sie, Herr Bundeskanzler, gestern reichlichgebraucht haben. Diese Begriffe sind Begriffe der Zu-kunft; das ist gar keine Frage. Im übrigen sind wir unseinig, daß Leistung in allen Schichten der Gesellschafterbracht wird und nicht auf irgendeine Einkommenska-tegorie begrenzt ist. Das ist völlig selbstverständlich.Von den Begriffen Leistung und Eigenverantwortung istin den von Ihnen angekündigten Korrekturgesetzen al-lerdings nichts zu sehen. Ihre ersten Taten sind die Rollerückwärts. Sie haben sie im Wahlkampf angekündigt.Aber paßt denn die Rücknahme aller Gesetze, die dieÜberforderung des Staates zurückdrängten und den Ar-beitsmarkt immerhin so belebt haben, daß heute 400 000Arbeitslose weniger als vor einem Jahr zu verzeichnensind, zu Leistung und Eigenverantwortung? Ich sage Ih-nen: Das paßt nicht dazu.
Sie müssen sich die Frage stellen, ob die Maßnahmenin den Korrekturgesetzen zum Erreichen des von Ihnenselbst gesetzten Ziels, die Arbeitslosigkeit abzubauen,geeignet sind. Alleine die Entwicklung auf dem Ar-beitsmarkt in den letzten Monaten muß Ihnen dochschon sagen, daß Sie dieses Ziel damit nicht erreichenwerden. Deswegen wünsche ich mir von Ihnen, daß Siedoch noch einmal darüber nachdenken – denn die Ge-setze werden erst in der nächsten Woche eingebracht –und wenigstens diesen Unfug lassen.Es bleibt die Frage – auch die kann man sich stellen –,ob es denn klug ist, all das zurückzunehmen. Tony Blairhat es jedenfalls anders gemacht. Er hat sorgfältig ver-mieden, die Entscheidungen seiner konservativen Vor-gänger zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu-rückzunehmen. Die Erkenntnis, daß Flexibilisierung desArbeitsmarktes Voraussetzung für Investitionen inDeutschland ist, ist auch unter Sozialdemokraten nichtunbekannt. Gestern habe ich in der „Süddeutschen Zei-tung“ in einem Feature ein Zitat gefunden, das ich Ihneneinmal vorlesen will:Also referiert sie ..., daß sie ... eine starke Flexibili-sierung des Arbeitsmarktes für notwendig hält,wenn deutsche Unternehmen mehr investieren ...sollen.Wer dieses Feature gelesen hat, wird wissen, daß das ei-ne Aussage von Christa Müller, der Beraterin des SPD-Vorsitzenden, ist. Aber warum glaubt er ihr bloß nicht?
Die Frage, ob es etwa Investitionen ermutigt, wenn dieLockerung des Kündigungsschutzes zurückgenommenwird, kann man nur mit Nein beantworten.
Auf die Frage, ob es denn das Angebot von Teilzeit-arbeit fördert, wenn jetzt die „mehr als geringfügig Be-schäftigten“ mit einem Einkommen von maximal300 DM im Monat erfunden werden und jede Ver-dienstmark darüber dem zupackenden Griff von Steuerund Sozialversicherung unterworfen wird, ist ebenfallsmit Nein zu antworten.
Meine Damen und Herren, diese Regelung wird zumBumerang für Frauen. Das ist das Letzte an Frauen-freundlichkeit, was man sich überhaupt nur ausdenkenkann.
Frauen, die einen Zuverdienst zum Familieneinkommenanstreben – aus welchen Gründen auch immer –, werdendazu in der Zukunft seltener die Chance bekommen, alssie sie heute haben. Gegen Krankheit sind sie abgesi-chert; zu einer eigenen Alterssicherung reichen die Mi-nibeiträge sowieso nicht aus.Aber darum geht es Ihnen ja auch gar nicht. Sie glau-ben, ein neues Abkassiermodell für die überfordertenSozialversicherungen gefunden zu haben. Das ist wedersozial noch gerecht. Und daran wollen Sie sich dochmessen lassen!
Im Umgang mit Geld sehen wir insgesamt wieder dasalte SPD-Problem: Es wird bereits ausgegeben, bevor esda ist. Die Diskussion über die Ökosteuer zeigt daswieder einmal ganz deutlich. Die Ökosteuer und dievielgepriesene Senkung der Beiträge zur Rentenversi-cherung führen doch nicht zu einer Entlastung der Sozi-alversicherungen oder des Staates insgesamt. Das istnichts anderes als eine Umfinanzierung, anstatt zu spa-ren.Das schafft keine neuen Arbeitsplätze, sondern nurmehr Staat.
Das hat im übrigen der neue Wirtschaftsminister Müllergestern in der „FAZ“ unumwunden zugegeben, als ergesagt hat, daß die Ökosteuer schlicht als Finanzie-rungsquelle gebraucht wird.Die Veränderung der Lohnfortzahlung im Krank-heitsfall war ein Signal für die Veränderungsfähigkeit inDeutschland. Mit der Rücknahme geht auch die Zuver-sicht auf Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit verlo-ren. So schaffen Sie „Gewerkschaftsdeutschland“, abernicht Modernität.
Mit Staunen stellen wir fest, wie schlecht die SPD16 Jahre Opposition genutzt hat.
Ihr neuer Geschäftsführer Schreiner sagt ja auch ganzklar, daß Sie das Instrumentarium der Opposition be-herrschen: Dagegensein, Blockieren, Vertagen. – Das istübrigens nicht unsere Auffassung von Opposition. – Da-Dr. Irmgard Schwaetzer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 141
(C)
(D)
bei haben Sie nichts Konkretes zum Beispiel für die Zu-kunft der Alterssicherung entwickelt.
Der Bundeskanzler hat gestern vier Säulen benannt,auf denen die Alterssicherung beruhen soll. Das sinddiejenigen Säulen, die seit vielen Jahren von der F.D.P.formuliert worden sind. Nur, von der SPD habe ich dasbisher noch nicht gehört.
Eine Konkretisierung steht auch aus; das hat der Ar-beitsminister gerade zugegeben. Also haben Sie IhreOpposition in der Tat nicht genutzt. Die vier Säulensind: die Sicherheit derer, die heute Rente beziehen; dieBerücksichtigung der Jungen, die nicht überfordert wer-den dürfen; private Vorsorge; betriebliche Alterssiche-rung.In diesen Zusammenhang paßt einfach nicht die Dis-kussion, die Rente mit 60 wieder auf die Tagesordnungzu nehmen.
Eine Rente mit 60 ist nicht ohne Abschläge an der Ren-tenhöhe zu finanzieren. Das hat bereits 1996 zur Rück-nahme der damaligen Regelung geführt, übrigens unterZustimmung der Gewerkschaften. Wer das heute mit ei-nem Tariffonds verändern will, Herr Riester, der mußsich einfach sagen lassen, daß ein Tariffonds nicht ge-lebte Subsidiarität, sondern nur ein neues Zwangskol-lektiv mit ungewissem Ausgang für die Jungen ist.
Herr Bundesarbeitsminister, wir werden es Ihnennicht durchgehen lassen, daß Sie versuchen, einen Be-griff wie Subsidiarität, der für die Zukunft der Bürgerge-sellschaft von ungeheurer Wichtigkeit ist, umzudefinie-ren und damit abzuwerten.
Wenn Sie jetzt den Demographiefaktor in der Ren-tenversicherung wieder zurücknehmen wollen, abergleichzeitig ankündigen, daß Sie die Probleme der De-mographie kennen, dann kann ich Sie nur fragen: War-um tun Sie das denn jetzt, warum verunsichern Sie diealten Menschen, und warum verunsichern Sie die Bei-tragszahler? Sie führen sie nur an der Nase herum!
Wir werden Ihre Vorschläge zum Abbau der Ju-gendarbeitslosigkeit sorgfältig prüfen. Wenn sie einStück Modernisierung bringen, dann werden wir Sieauch unterstützen. Aber wir werden Sie nicht aus derVerantwortung entlassen, den vielen Langzeitarbeitslo-sen eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu bauen. Natür-lich, Herr Riester, besteht Dienstleistung nicht nur auseinpacken oder Koffer tragen. Es gibt auch für diejeni-gen, die – aus welchen Gründen auch immer – jetztlangzeitarbeitslos sind und eine geringe Qualifikationbesitzen, neben dem Dienstleistungsbereich andere Be-schäftigungsmöglichkeiten. Aber anpacken muß mandas Problem. Das war mit den Gewerkschaften bishernicht möglich. Wir werden Ihnen unser Bürgergeldmo-dell, das eine Brücke in den Arbeitsmarkt auch für die-jenigen schafft, die keine Qualifikation haben oder ausGründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht errei-chen können, immer wieder vorhalten.
Frau Kollegin
Schwaetzer, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum
Schluß.
Opposition als Immer-Dagegensein ist nicht unser
Ansatz. Da, Herr Bundeskanzler, wo in Ihren eigenen
Reihen Modernisierung durchzusetzen ist, werden wir
ein Dialogpartner für Sie sein, und wir werden die Inter-
essen der Bürger zur Richtschnur unseres Handelns ma-
chen. Ich wünsche mir auch mit Ihnen, Herr Bundesar-
beitsminister, viele interessante Gespräche. Ich wünsche
mir, daß wir auch in der Sozialpolitik, was Modernisie-
rung anbetrifft, einem Konsens wieder näher kommen
als in der Vergangenheit.
Das Wort hat für
Bündnis 90/Die Grünen Frau Dr. Thea Dückert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich heutemorgen die beiden Reden von Herrn Kues und von Mi-nister Riester angehört habe, ist mir zum wiederholtenMale klargeworden, warum Sie, meine Damen und Her-ren von der CDU, die Wahl verloren haben.
Angesichts Ihrer Bilanz von Langzeitarbeitslosigkeitund sozialen Problemen den Vorwurf zu erheben, daßRote oder Grüne etwa die Schicksale von Langzeitar-beitslosen nicht ernst nähmen, ist geradezu lächerlich.
– Nein, Herr Kollege Kues; aber es läßt sich belegen,daß Sie einen Berg von mehr als 4 Millionen Arbeitslo-sen hinterlassen und zu verantworten haben. An diesemProblem werden wir ansetzen; wir werden eine vernünf-tige Beschäftigungspolitik betreiben.
Ich sage Ihnen noch eines: Es ist eine Scheindebatte,wenn Sie hier darüber rechten, ob es zentrale oder de-Dr. Irmgard Schwaetzer
Metadaten/Kopzeile:
142 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
zentrale Instrumente zur Arbeitsmarktpolitik gibt. Esgeht darum, Lösungen zu finden, anstatt hier schein-ideologische Diskussionen zu führen. Wir werden dieseLösungen anbieten.
Meine Damen und Herren, als Bundestagsneuling ha-be ich gestern bei den Debattenbeiträgen der Oppositiondoch merkwürdige Assoziationen gehabt. Ich habe michnämlich an einen Ausspruch von Mao Tse-tung erinnertgefühlt, was beim Hören von Reden der CDU ja eigent-lich nicht naheliegt. Dieser Ausspruch lautet: Es herrschteine große Unordnung unter dem Himmel.
Damit meine ich, daß in Ihren Reihen Unordnungherrscht. Sie können sich offenbar nicht einigen, ob dieneue Bundesregierung nach 14 Tagen bereits die Zu-kunft der Bundesrepublik verspielt hat oder schon in dieStarre der Untätigkeit verfallen ist. An diesem Punktmüssen Sie sich einmal entscheiden.Sie kritisieren hier, daß wir nicht schon in der ersten,sondern erst in der fünften Plenarsitzung ein umfassen-des Artikelgesetz einbringen, dessen Ziel es ist, mit derersten Stufe der ökologischen Steuerreform die Sozial-abgaben um 0,8 Prozent zu senken. Aber ich halte diesfür einen deutlichen Hinweis, daß wir nicht nur schnell,sondern auch effektiv sind, daß wir in der Lage sind,schon mit diesem ersten Schritt nicht nur zu korrigieren,sondern auch neue Wege bei der Bewältigung ökologi-scher und sozialer Probleme einzuschlagen.
Meine Damen und Herren, schneller geht es dochnicht. Die Stäbe am Kanzleramt wackeln ja noch, undschon wird für den 1. Januar 1999 die erste Stufe derökologischen Steuerreform sowie eine Sozialabgaben-senkung angekündigt. Ich erwähne dies aber auch des-halb noch einmal, weil ich als Koalitionspartnerin in ei-ner rot-grünen Koalition in freundlicher Ergänzung derRegierungserklärung hier hinzufügen muß, daß dieökologische Steuerreform nicht nur das Ziel hat, die So-zialabgaben zu senken, sondern insbesondere ein In-strument zu einer ökologischen Modernisierung derWirtschaft und zu einer Weichenstellung ist, die, wieuns Dänemark zeigt, beschäftigungspolitisch positiveEffekte hat.
– Herr Hirche, es ist doch wirklich erstaunlich: In Dä-nemark wurde eine ökologische Steuerreform einge-führt, und seit 1993 hat sich dort die Arbeitslosigkeithalbiert.Meine Damen und Herren, es geht also nicht alleinum ein schnelles Nachbessern von Fehlern und Ausput-zen der Hinterlassenschaft der alten Regierung, sondernam 1. Januar 1999 wird mit diesem ersten und zunächstbescheidenen Schritt der ökologischen Steuerreform tat-sächlich ein neues strukturpolitisches Instrument einge-führt werden.
Herr Schäuble, um es noch einmal deutlich zu ma-chen: Wir werden die Prognose, zu der Sie sich verstie-gen haben, nämlich daß unter unserer Regierung die So-zialabgaben steigen, nicht erfüllen.
– Ja, Herr Schäuble, rufen Sie schön dazwischen. Siehaben hier gestern mit Zeitungsausschnitten hantiert.Auch ich habe Ihnen etwas mitgebracht.Schauen Sie sich einmal die Auflistung über die jähr-liche Höhe der Sozialabgaben an. Im Jahre 1982 lagensie bei rund 34 Prozent. Ich stelle hier die Preisfrage:Wo liegen sie heute? Ich stelle hier die Preisfrage: Wel-che Regierung hat in den letzen 16 Jahren regiert? WennSie diese Fragen beantworten, sollten Sie erkennen, daßSie mit Ihrer falschen Prognose über die Absichten derrotgrünen Koalition eigentlich nur Ihre schwarze Ver-gangenheit in Sachen Sozialpolitik in der Bundesrepu-blik Deutschland beschreiben.
Ich sage Ihnen auch, daß genau diese Art von Reali-tätsverdrehung zum Verlust des Vertrauens in Ihre Poli-tik geführt hat. Auch die verbrämte Art von Herrn Kueszeigt, daß Sie mit Ihrer Politik die individuelle und ge-sellschaftliche Dynamik von Massenarbeitslosigkeit, dieArbeitsplatznot der Jugendlichen und die Probleme dersozialen Ausgrenzung, mit denen wir uns jetzt auseinan-dersetzen müssen, nicht ernst genommen haben.
Noch schlimmer ist, daß Sie Angebote zu einer Ver-änderung von Politik, die auch historisch betrachtet neuwaren, zum Beispiel das Bündnis für Arbeit, ausge-schlagen haben. Sie haben noch einen draufgesetzt, in-dem Sie die Abschaffung des Kündigungsschutzes, dieReduzierung von Arbeitsrechten und die Kürzung vonSozialleistungen als Beschäftigungspolitik verkauft ha-ben. Wir werden und müssen hier nachbessern.Wir haben jetzt zunächst einmal zwei ganz zentraleund aktuelle politische Herausforderungen zu meistern.Die erste betrifft die Ausbildungsplatznot der Jugendli-chen. Das Sofortprogramm zur Schaffung von 100 000Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Jugendliche mußnatürlich sofort umgesetzt werden. In diesem Zusam-menhang ist es aber auch außerordentlich wichtig, nocheinmal deutlich zu machen, daß es dabei nicht nur dar-um geht, gesellschaftlichen Sprengstoff zu beseitigen.Wir müssen uns vielmehr noch einmal sehr deutlich ma-chen, daß die junge Generation in der BundesrepublikDr. Thea Dückert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 143
(C)
(D)
ein Anrecht auf moderne und sichere Ausbildung undauf Sicherung ihrer Zukunft hat.
Deswegen werden wir als Grüne, wenn unsere Ge-sellschaft – auch die Wirtschaft gehört dazu – diesenAusbildungsauftrag nicht ausfüllt, nicht fackeln, übereine Umlage dafür zu sorgen, daß das Ausbildungsplatz-angebot erweitert wird. Wir werden es sehen; vielleichtläuft es anders. Aber die Situation kann sich auch soentwickeln, daß das notwendig wird.Die zweite Herausforderung ist das Bündnis für Ar-beit. Herr Kollege Riester hat schon richtig gesagt, daßes hier vor allen Dingen auf ein Umdenken und ein Zu-sammenführen der gesellschaftlichen Gruppen an-kommt. Das wird ein sehr schwieriger Prozeß sein, dervon außerhalb und auch durch die Arbeitsmarktpolitikhier im Parlament flankiert werden muß. Wir werdenRahmengesetze brauchen, die Arbeitszeitverkürzungund Überstundenabbau als zentrale Elemente von Be-schäftigungspolitik verankern, um Umverteilung vonArbeit möglich zu machen. Es wird ein schwieriger Pro-zeß werden, darüber eine Diskussion hinzubekommenund in den Köpfen der Leute die Erkenntnis reifen zulassen, daß diese Umverteilung von Arbeit zwischen denGenerationen und zwischen den Geschlechtern funktio-niert. Nur dann kann auch begriffen werden, daß wirmittlerweile in einer Welt leben, in der der über 40 Jahrevollbeschäftigte männliche Arbeitnehmer nicht mehr derNormalfall ist.
Wir haben es mit unsteten Erwerbsbiographien zutun. Wir müssen sie in der Sozialpolitik absichern, damitauch Elemente des Bündnisses für Arbeit, beispielsweiseArbeitszeitverkürzung und Umverteilung, zum Beispielvon den Frauen und den Jugendlichen überhaupt gelebtwerden können.Meine Damen und Herren, hier vorne zu stehen ist fürmich ein bißchen neu. Ich hatte vergessen, daß die Uhrrückwärts läuft. Deswegen werde ich jetzt ein bißchenschneller reden.
Bei uns läuft die Uhr eigentlich vorwärts.Ich möchte noch auf einen ganz zentralen Punkt zusprechen kommen: die Arbeitsmarktpolitik, das Problemder Normal- bzw. unstetigen Beschäftigung. Ich hattedies eben schon genannt. Diese Veränderungen in derGesellschaft – unstetige Beschäftigung, Arbeitslosigkeit,andere demographische Entwicklungen –, führen dazu,daß wir in der Sozialpolitik einen neuen Generationen-vertrag diskutieren und entwickeln müssen.
Damit junge Leute eine Chance haben, muß die Sozi-alpolitik mehrere Generationen umfassen. Wir müssenuns verdeutlichen, daß die Standardrente auch für diejunge Generation heute zu einer unerreichbaren Fiktiongeworden ist. So richtig und wichtig es ist, vier Säulenin das Rentensystem einzuziehen, so klar muß auch sein,daß wir die demographischen Entwicklungen nur dannin den Griff bekommen werden, wenn wir die Rentner-generation ausgewogen an den Auswirkungen der de-mographischen Verschiebungen beteiligen.Generationenfragen sind sehr komplizierte Fragen.Sie werden noch komplizierter, wenn sie mit vom An-satz her spannenden, neuen beschäftigungspolitischenAnsätzen diskutiert werden. Ich erinnere an den Vor-schlag des Bundeskanzlers für eine Fondslösung füreine volle Rente ab 60. Auch Herr Riester hat es vorhinnoch einmal erwähnt. Er will das unterstützen. DieserVorschlag kommt eigentlich vom DGB. Wir müssenhier sehr, sehr sorgfältig diskutieren. Es ist eine guteIdee, Arbeit zwischen den Generationen zu verteilen.Aber solche Modelle haben immer auch weitere Aspek-te. Der eine ist der beschäftigungspolitische Aspekt, dieUmverteilung. VW hat in dieser Richtung ein interes-santes Modell entwickelt, in dem für ausscheidende älte-re Arbeitskräfte Jugendliche nachvollziehbar neu einge-stellt und beschäftigt werden. Eine solche Verbindungist im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang sehrschwierig herzustellen. Ich sage dies nur als Merk-posten.
Frau Kollegin, ich
muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich komme zum Schluß. Ich bin fast fertig.
Auch eine Fondslösung kommt nicht ohne den Ein-
satz von Steuern aus.
– Na klar, denn bei diesem Vorschlag ist ein Teil steuer-
frei gestellt. – Wir müssen darüber diskutieren, ob und
wie dabei die Lasten zwischen den Generationen gerecht
verteilt werden können.
Diese Frage müssen wir in der Koalition und mit Ihnen
offen diskutieren.
Angesichts dessen, was Herr Riester vorhin vorgetra-
gen hat, bin ich wohlgemut, daß wir zu einem sehr kon-
struktiven, produktiven und nach vorne gerichteten neu-
en Konzept der Sozial- und Rentenpolitik kommen wer-
den. Ich danke Ihnen.
Das Wort hat für dieCDU/CSU-Fraktion der Abgeordnete Karl-Josef Lau-mann.Dr. Thea Dückert
Metadaten/Kopzeile:
144 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrterHerr Arbeitsminister Riester, Sie haben eben gesagt, Siefänden es nicht so gut, daß Herr Kues in seiner Rede dieOppositionsrolle eingenommen und kritisiert habe.
Sie können von uns natürlich nicht erwarten, daß wir so-zusagen in ewiger Anbetung verharren. Wir müssen unsselbstverständlich mit dem auseinandersetzen, was derBundeskanzler und Sie für den Bereich der Sozialpolitikin den nächsten Jahren vorschlagen.Wir haben allen Grund, uns mit Ihrer Politik ausein-anderzusetzen, denn wenige Wochen nach der Bundes-tagswahl haben wir – damit hatte ich im Falle einesSPD-Wahlsieges nun wirklich nicht gerechnet – einegroße Sozialstaatsdebatte, weil ein sehr wichtiger Mannin Ihrer Partei, immerhin Ihr Bundesvorsitzender undFinanzminister, das Sozialversicherungsprinzip in die-sem Lande in Frage stellt. Das ist ein einzigartiger Vor-gang.
Ich hätte es einmal erleben wollen, was bei Ihnen losgewesen wäre und – vor allen Dingen – was Sie, HerrRiester, in den letzten Tagen in Frankfurt in der IG-Metall-Zentrale veranlaßt hätten, wenn ein ähnlichwichtiger Mann in der CDU, zum Beispiel unser Vorsit-zender, Herr Schäuble, einen solchen Vorschlag ge-macht hätte.
Im übrigen bin ich in diesem Jahr 25 Jahre Mitglied dergleichen Gewerkschaft wie Sie. Ich kenne mich also indieser Gewerkschaft aus.In dieser Sozialstaatsdebatte geht es um die Grund-sätze unseres Sozialstaates. Ich bin ein Politiker, der dieSozialversicherung für richtig hält. Ich will, daß Arbeiterdurch Beiträge klare Rechtsansprüche haben, wenn siearbeitslos werden. Ich will, daß die Menschen, die pfle-gebedürftig sind, durch Beiträge klare Rechtsansprüchehaben, wenn der Pflegefall eintritt. Ich will nicht, daßder Fleißige sein Häuschen verkaufen muß, bevor ereine staatliche Leistung erhält, und daß der, der seinGeld in der Toskana ausgegeben hat, vom Staat vonvornherein unterhalten wird.
Darüber werden wir natürlich schon wenige Wochennach der Bundestagswahl miteinander streiten müssen.Sie werden nicht nur die Sozialflügel in meiner Partei,sondern auch die gesamte CDU/CSU-Fraktion als einengroßen Kämpfer für dieses Versicherungsprinzip inDeutschland erleben.
Lieber Herr Riester, wenn Sie die Sozialversicherunggegen die Vorstellungen von Lafontaine und gegen dieBlütenträume der Grünen verteidigen, werden Sie uns anIhrer Seite haben, denn wir stehen nahe bei den Arbeit-nehmern. Die Grünen und auch die Toskana-FraktionIhrer Partei dagegen sind mit ihrem Steuerprinzip weitvon den Arbeitnehmern entfernt. Wir werden also sehrgespannt sein, was wir auf diesem Gebiet in den näch-sten Jahren erleben.Ein weiterer Punkt, der mir in der jetzigen Diskussiongroße Sorge bereitet, ist: Wenn wir das Sozialversiche-rungsprinzip wollen, dann müssen wir bei der Beitrags-bezogenheit bleiben und dürfen nicht immer mehr Steu-ergelder in die Systeme der Sozialversicherung hinein-pumpen, weil dadurch die Sozialversicherung immermehr der Beliebigkeit der Haushaltspolitik unterworfenwird.
Ich warne sehr davor, einen solchen Weg über ein be-stimmtes Maß hinaus zu gehen.Während unserer Regierungszeit, lieber Herr KollegeRiester, haben wir den Bundeszuschuß zur Rentenver-sicherung auf einen Höchststand gebracht. Fast jedevierte D-Mark des Bundeshaushaltes geht heute in dieRentenversicherung – ein Höchststand. Ich bin ganz si-cher, daß wir damit die versicherungsfremden Leistun-gen in einem ganz starken Maß berücksichtigt haben.Die Rentenfinanzierung an eine Ökosteuer zu hängen,die doch den Sinn haben soll, daß mit der Energie spar-samer umgegangen wird – eigentlich müßten die Ein-nahmen aus dieser Ökosteuer auch immer geringer wer-den, wenn sie einen Sinn haben soll –, ist nicht die ver-läßliche Finanzierung, die wir in der Rentenversicherungbrauchen.
Ich glaube vielmehr, daß wir weiterhin auf Beitrags-bezogenheit setzen müssen. Das bedeutet auch unange-nehme Entscheidungen. Denn allgemeine staatlicheAufgaben, die über die Beiträge zur Rentenversicherungfinanziert werden, gehören immer wieder auf den Prüf-stand. Es muß geprüft werden, ob sie nicht über einenanderen Weg finanziert werden können. Ansonsten wür-de ich mir große Sorgen machen.Sie sagen, Sie wollen die Rentenversicherung armuts-fest machen. Lieber Herr Riester, wir sollten uns dochbitte über den einen Punkt einig sein: daß unser Renten-versicherungssystem für fast alle Menschen in Deutsch-land das Problem der Altersarmut erfolgreich bekämpfthat. Ich kenne kein Alterssicherungssystem in der Welt,das so erfolgreich war wie unseres.
Darauf sollten wir stolz sein. Das sind Gemeinsamkei-ten, die wir eigentlich immer gehabt haben.Sicherlich muß uns noch etwas einfallen, wie wir ver-schämte Altersarmut wirksamer bekämpfen können. Esist immer ein Problem, wenn jemand, der eine ganz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 145
(C)
(D)
kleine Rente hat, aus Scham nicht zum Sozialamt gehenmag. Das können wir statistisch ganz schwer erfassen.Da bin ich, weil wir die Menschen lieb haben, für jedenVorschlag sehr dankbar, damit wir auch in diesem Be-reich etwas Vernünftiges finden.Sie sagen dann, die Rente müsse verläßlich sein. Wis-sen Sie, durch das Aussetzen der demographischenFormel erreichen Sie, daß die Rente im Juni um 0,3 bis0,4 Prozent stärker steigen wird, als wenn wir die Wahlgewonnen hätten. Das bedeutet 6 DM mehr Rente imMonat bei einer Rente von 2 100 DM; das ist die durch-schnittliche Rente bei der LVA in Münster nach 45 Ver-sicherungsjahren.
Die Rentner werden dann vielleicht noch einmal 5 oder6 DM mehr bekommen, wenn Sie die Senkung der Sozi-alabgaben um 0,8 Prozent durchsetzen, weil dann ja 0,4Prozent auch auf die Rentenerhöhung gehen. Das sinddann zusammen vielleicht 12 oder 13 DM.
Gleichzeitig belasten Sie aber jeden Rentnerhaushaltmit einer Summe zwischen 40 und 50 DM mehr im Mo-nat für Heizöl, für Gas, für Benzin und für Strom durchdie Ökosteuer.
Das werden die Leute durch einen niedrigeren Steuer-satz und die Kindergelderhöhung nicht kompensierenkönnen, weil ja in der Regel im Rentenalter, wenn essich nicht gerade um Grüne handelt, keine Kinder mehrauf der Steuerkarte stehen.
Bei den Arbeiterfamilien ist das in der Regel nicht so.Sie werden also große Probleme bekommen, auch indiesem Bereich zu sagen, wir hätten die Renten zu weitabgesenkt, wenn Sie den Rentnerhaushalt mit der Öko-steuer stärker belasten, als Sie ihn mit den 6 DM weni-ger Rentenbeitrag durch die Rücknahme der demogra-phischen Formel entlasten können.
Herr Riester, auch eine andere Sache macht mir ganzgroße Sorge – und deswegen können wir nicht in Anbe-tung verharren, sondern müssen das hier aussprechen –:daß Sie die Grundlage der Rentenversicherung zerstörenwerden, wenn Sie nicht die Interessen der jüngeren Ge-neration, meiner Generation, die jetzt aktiv im Arbeits-leben steht, mit den Interessen der Älteren in Einklangbringen.
Es ist doch in jeder Familie so – ich bin noch in einerGroßfamilie aufgewachsen –, daß die Älteren Rücksichtnehmen müssen auf die Jüngeren und daß wir Jüngerenauf die Älteren Rücksicht nehmen. So ist es auch in die-sem Verhältnis. Welche Leistung kann ich den Men-schen abverlangen? Da haben wir uns in der Koalitionnach langem Überlegen – das ist uns doch nicht leicht-gefallen – gesagt: Die Rentenlaufzeiten werden aufGrund der steigenden Lebenserwartung durch den medi-zinischen Fortschritt – es ist ja auch sehr schön, daß dasso ist – verlängert. Wir sind der Meinung, daß die Hälfteder Kosten, die diese Lebensverlängerung in der Renteletzten Endes verursacht, von der Rentnergeneration sel-ber getragen werden soll, die andere Hälfte von denJungen. Hebeln Sie dieses Instrument nicht unvorsichti-gerweise aus! Denn wir brauchen den Generationenver-trag in der Rente, sonst ist das System auf die Dauer ka-putt, weil die Menschen in die innere Emigration gehenwerden.
Sehr verehrter Herr Riester, die SPD hat im Wahl-kampf ein Programm für Lehrstellen für 100 000 Ju-gendliche angekündigt, und Sie setzen es jetzt um. Einegute Sache! In bezug auf die Lehrstellensituation gibt esregional große Unterschiede. Das wissen sicherlich auchSie. Im Münsterland, wo ich herkomme, gibt es nochsehr viele freie Lehrstellen. Wenn Sie heute eine Firmabesuchen, werden Sie erleben, daß dort für einen Büro-beruf hundert Bewerbungen vorliegen; sucht die Firmaaber einen Schlosser oder Klempner, dann wird es en-ger. Auch das ist wahr. Also werden wir versuchen müs-sen, daß wir jedenfalls nicht am Ausbildungsmarkt vor-bei etwas machen, was später der Arbeitsmarkt nichtrealisiert.
Ich bin aber dafür, etwas zu tun, wenn es regionale Pro-bleme gibt.Unsere ganz große Sorge muß folgendem Punkt gel-ten: 10 bis 15 Prozent unserer jungen Menschen verlas-sen nach zehn Jahren das allgemeinbildende Schulsy-stem und haben in diesen zehn Jahren nicht soviel ge-lernt – das liegt auch an vielen sozialen Faktoren –, daßsie in der Lage sind, eine ganz normale Ausbildung zubeginnen.
Wir sollten erst einmal mit den Ländern darüber spre-chen, was man im Schulsystem verbessern kann, damitdas nicht so weitergeht.
Ich habe mir in den acht Jahren als Mitglied des Sozi-alausschusses des Deutschen Bundestages viele überbe-triebliche Einrichtungen angeschaut. Das ist ja keineneue Erfindung. ABH und ähnliche Dinge machen wir jaheute auch. Arbeiten und Lernen miteinander zu verbin-den ist im übrigen eine gute Maßnahme. Ich habe michmanchmal gefragt: Warum setzen wir mit diesen Maß-nahmen erst dann an, wenn das Kind schon lange in denBrunnen gefallen ist, wenn die jungen Leute viele Jahreder Demotivation in einer theoretisch geprägten Schulehinter sich haben?
Wir müssen hier eher ansetzen. Es nützt nichts zuschimpfen. Familienstrukturen sind heute zum Teil ver-Karl-Josef Laumann
Metadaten/Kopzeile:
146 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
ändert. Kinder haben es dann schwerer, wenn sie ausschwierigen sozialen Strukturen kommen. Wir müssenfrüher ansetzen, als wir dies mit dem betreffenden Pro-gramm des Bundes tun können. Dies ist eine ganz wich-tige Frage für die Länder. Herr Schröder – im Gegensatzzu vielen von uns – hätte uns das ja in Niedersachsenacht Jahre lang vormachen können. Aber auch dort istnichts passiert.
Ich glaube, daß wir so in diesem Bereich Probleme lö-sen.Am Ende wird es dann jedoch immer noch eine Rest-gruppe geben, die wir durch Qualifizierung möglichstkleinhalten müssen. Aber man wird nicht jeden Men-schen Gott weiß wohin qualifizieren können. Das wirdauch in der Praxis so sein. Für diese Menschen müssenwir Arbeit finden. Ich will, daß derjenige, der acht Stun-den am Tag arbeitet, davon leben kann. Ich habe ein sol-ches Menschenbild.Aber es kommt immer wieder vor, daß manche Men-schen dies auf dem Arbeitsmarkt nicht erreichen kön-nen, weil keiner bereit ist, für ihre Leistungen sovielGeld zu bezahlen. Ich habe einen ganz konkreten Fallaus meinem Wahlkreis vor Augen, und zwar ein Mäd-chen, das lernbehindert ist und mit viel Liebe der Elterndie Prüfung als Hauswirtschafterin soeben bestandenhat. Ich bekomme sie nun nirgendwo unter, weil jedesAltenheim Tariflohn zahlen muß und sie nun eben ein-mal sehr langsam arbeitet. Es wäre doch viel besser, wirbekämen sie irgendwo in der Küche unter, wo sie einerArbeit nachgehen könnte, sie bekäme vielleicht den hal-ben Lohn und wir würden die andere Hälfte des Lohneszahlen.
In diesem Fall wird folgendes passieren: Wenn wir nichtbald eine Stelle für dieses Mädchen, das ich ganz kon-kret vor Augen habe, finden, werden die Eltern irgend-wann sagen müssen: Das Kind muß in die Behinderten-werkstatt. Das kostet dann jeden Monat richtig Geld.Für die Grenzfälle zwischen Beschäftigung in einerBehindertenwerkstatt und einer auf dem normalem Ar-beitsmarkt – das müßte jedem, der denken und fühlenkann, klar werden; eine Lösung wird durch die Kompli-ziertheit der Welt schwerer – müssen wir eine Lösungfinden. Wir sollten gemeinsam im Sozialausschuß dar-über nachdenken, was man da tun kann. Ich glaube, daßunsere Idee eines Kombilohnes eine tolle Sache ist.
Lassen Sie mich ganz zum Schluß einen weiterenAspekt ansprechen. Man sollte jetzt nicht die Bilanzenverfälschen. Wir haben in Deutschland sehr niedrigeZinsen. Wir haben kaum noch eine Inflationsrate. Wis-sen Sie eigentlich, daß Rentner und Arbeiter die Profi-teure sind? Ein Prozent mehr Inflation bedeutet einenVerlust von Kaufkraft in Höhe von 18 Milliarden DM.Die Wirtschaft springt an. Wir haben 400 000 Arbeitslo-se wenige als vor einem Jahr. 400 000 Menschen – Vä-ter oder Mütter – haben durch unsere Politik, durch das,was Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und NorbertBlüm hier in den letzten Jahren im Streit erreicht haben,wieder eine Perspektive. Auf diese Zahl bin ich schonein wenig stolz.
Sehen Sie zu, daß Sie es im Bereich der sozialen Si-cherungssysteme nicht mit den Ausgaben übertreiben.Wenn es am Ende wieder zu einer höheren Inflationkommt, sind die kleinen Leute die Gelackmeierten. Ei-nen Kaufkraftverlust könnten sie trotz der Rentenerhö-hungen nicht ausgleichen.Noch ein Satz zur Rente und zur demographischenFormel. Ihre Maßnahmen im Rentenbereich kosten unsim nächsten Jahr 900 Millionen und im Jahr darauf 2,4Milliarden DM. Betrachten Sie einmal den Aspekt derErwerbsunfähigkeit. Ich weiß, daß das, was wir da ent-schieden haben, sehr schwerwiegend ist. Vergessensollte man aber nicht, daß es natürlich im Rahmen derArbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe An-rechnungen gibt. Wenn Sie unsere Entscheidungen zu-rücknehmen, werden Sie dafür 4 bis 5 Milliarden DMbenötigen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das finanzierenwollen, wenn Sie gleichzeitig die Beiträge senken. Nachacht Jahren im Sozialausschuß weiß ich, daß es in die-sem Bereich nicht das Sterntalermädchen gibt, das dasGeld, das vom Himmel kommt, auffängt. Sie können nurdas ausgeben, was Sie haben. Ich bin gespannt, HerrRiester, wie Sie es bewerkstelligen wollen, daß man mitgeringeren Beiträgen mehr bezahlen kann.Schönen Dank.
Das Wort hat für die
Fraktion der PDS Frau Dr. Heidi Knake-Werner.
Herr Präsident!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Bun-deskanzler hat hier gestern vorgetragen, daß er sich undseine Regierung am Umgang mit der Massenarbeitslo-sigkeit messen lassen will. Er hat die Verringerung derArbeitslosigkeit auch zum wichtigsten Ziel seiner Regie-rungsarbeit erklärt. Herr Bundeskanzler, Sie können sichdarauf verlassen: Wir werden Sie daran messen.
Aber wenn Sie sich in diesem Ziel selbst ernst neh-men, dann verlangt das eben, vieles ganz anders zu ma-chen als die alte Regierung und nicht nur einiges besserzu machen. Nach meinem Verständnis verlangt das, jetztenergisch Pflöcke einzusetzen für mehr Beschäftigungund dies nicht dem Ergebnis von Konsensgesprächen zuüberlassen.Karl-Josef Laumann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 147
(C)
(D)
Ich will Ihre Hoffnung auf ein Bündnis für Arbeitnicht trüben, obwohl nach meinem Geschmack zu vieledaran teilnehmen werden, die sogar die alte Bundesre-gierung bei Deregulierung und Sozialabbau vor sichhergetrieben haben. Wenn aber ein Bündnis für Arbeit,dann erwarte ich von einer rotgrünen Regierung, daß siemit einem eigenen Konzept zur Beschäftigungspolitik indie Gespräche hineingeht und daß nicht schon das Ge-spräch selbst zum Konzept erklärt wird. Die vom Bun-deskanzler genannten Vorleistungen für diese Gespräche– wie die Steuerreform, die Senkung der Lohnnebenko-sten und das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosig-keit, so gut und richtig ich das finde – reichen mir andieser Stelle nicht.Haben wir es in der Bundesrepublik und in den ande-ren kapitalistischen Industrieländern wirklich damit zutun, daß Arbeit zu teuer ist und billiger gemacht werdenmuß? Erinnern Sie sich doch an die Debatten in denletzten Jahren, die wir hier gemeinsam geführt haben.Haben wir es nicht vielmehr mit tiefgreifenden Um-brüchen der Arbeitsgesellschaft zu tun, die dazu führen,daß die Arbeit in den großen produzierenden Bereichenund in den traditionellen Dienstleistungssektoren – aufTeufel komm raus – weiter wegrationalisiert wird? Ha-ben wir es darüber hinaus nicht damit zu tun, daß sichder Staat zunehmend aus seiner Verantwortung für öf-fentliche Dienstleistungen, für Bildung und für Kulturzurückgezogen hat, was mit einem Abbau von Beschäf-tigung verbunden war? Ist es nicht so, daß unter der Re-gierung Kohl viel über die Dienstleistungsgesellschaftgeredet worden ist, aber immer mehr öffentlicheDienstleistungen abgebaut wurden? Ich erwarte hier IhreAlternativen zur Umkehr dieser Tendenz.Den Unternehmern die Lohnnebenkosten um 0,4 Pro-zent zu senken wird all diese Probleme nicht lösen.Wenn Sie wirklich die kleinen Unternehmen und die ar-beitsintensiven Handwerksbetriebe entlasten wollen,dann folgen Sie unserem Vorschlag: Berechnen Sie dieSozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber zukünftignach der Wertschöpfung, nicht mehr nach der Lohn-summe.
Daraus wird wirkliche Entlastung für diese Betriebe undwerden möglicherweise auch die von Ihnen gewünsch-ten Beschäftigungseffekte entstehen.Ich bin zutiefst beunruhigt, daß mit Blick auf dasBündnis für Arbeit in der Regierungserklärung keinWort zum Überstundenabbau und kein Wort zur Ar-beitszeitverkürzung vorkommt, daß nichts dazu gesagtwird, wie die Tarifverhandlungen, die zweifelsohne denKern dieses Bündnisses bilden, mit sinnvollen gesetzli-chen Rahmenbedingungen begleitet werden sollen. WerMassenarbeitslosigkeit ernsthaft bekämpfen will, wirdum eine Novellierung des Arbeitszeitgesetzes nicht her-umkommen. Wir werden darum entsprechende Initiati-ven vorschlagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte auch er-wartet, daß die Regierung Schröder zur aktiven Ar-beitsmarktpolitik mehr zu sagen hat, als Norbert Blümschon wußte. Die vielbeschworene Brückenfunktion deraktiven Arbeitsmarktpolitik hat bisher nicht funktioniert.Sie wird auch zukünftig nicht funktionieren. Das werdenwir spätestens dann merken, wenn die sogenanntenWahl-ABM am Ende dieses Jahres auslaufen und vieleFrauen und Männer gerade in Ostdeutschland um eineweitere Hoffnung betrogen sind.Wir brauchen die Verstetigung der aktiven Arbeits-marktpolitik, um dauerhaft Arbeitsplätze in einem öf-fentlich geförderten Beschäftigungssektor zu schaffen.Millionen Frauen und Männer könnten hier in sozialen,kulturellen und ökologischen Projekten Arbeit finden.Das sind Arbeiten, die jetzt brachliegen, aber für dennotwendigen sozialen und ökologischen Umbau unsererIndustriegesellschaft unverzichtbar sind.Schauen Sie doch einfach einmal nach Ostdeutsch-land. Dort sind mit öffentlich geförderter Beschäftigung,mit AB-Maßnahmen, mit Strukturanpassungsmaßnah-men eine neue Infrastruktur, neue soziale und kulturelleAngebote entstanden, gibt es erschwingliche Beratungund Dienstleistung sowie Jugendarbeit – Daueraufga-ben, die bisher leider an der mangelnden Kontinuitätkranken. Das wollen wir durch eine Verstetigung in ei-nem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ändern.
Natürlich werden das überwiegend Projekte sein, diesich nicht rechnen; da macht sich niemand Illusionen.Aber diese Projekte werden auch dem Wirtschaftsstand-ort Deutschland nutzen. Mehr noch – und das ist unswichtig –: Sie sind für den Lebensstandort Deutschlandunverzichtbar, und das wollen wir befördern.
Meine Damen und Herren, die Regierung bekommtdie Unterstützung der PDS immer dann, wenn sie dieRücknahme der größten sozialpolitischen Grausamkei-ten der Vorgängerregierung vorhat. Was die Erwerbstä-tigen anbetrifft, so haben Sie sich auch eine ganze Men-ge vorgenommen, bis hin – das will ich als kleine ironi-sche Anmerkung hinzufügen – zur Beibehaltung der Re-gelung bezüglich des Jahreswagens. Herr Bundeskanz-ler, die Kollegen von Daimler und VW werden es Ihnendanken.Weniger zufrieden werden allerdings die Betriebsrätesein, die Sie mit Ihrer Absicht der Besteuerung von Ab-findungen bei betriebsbedingten Kündigungen schok-kieren. Hier langen Sie gleich zweimal zu, wenn Sienicht sofort die bestehenden Regelungen im SGB III zu-rücknehmen; das wissen Sie genau. Dann nämlich wer-den Sie die Abfindung nicht nur auf das Arbeitslosen-geld anrechnen, sondern sie zusätzlich noch besteuern.Damit ist der Schutzgedanke von Abfindungen bei be-triebsbedingten Kündigungen flöten. Dagegen werdenwir auftreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nichts oder nichtsGutes von der neuen Regierung zu erwarten haben alldiejenigen, die ohne Arbeit sind. Ich gebe aber un-Dr. Heidi Knake-Werner
Metadaten/Kopzeile:
148 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
umwunden zu: Im Verpacken sind Sie besser als die alteRegierung. Wo Ihre Vorgänger noch von sozialer Hän-gematte und nationalem Freizeitpark schwadronierten,spricht der Bundeskanzler Schröder vom sozialen Netz,das zum Trampolin werden müsse. Jede und jeder soll inein eigenverantwortliches Leben zurückfedern können.Ein wunderschönes Bild, und wer wollte das nicht? Aberwarum federn sie heute eigentlich nicht? Weil die so-zialen Sicherungssysteme sie in der berühmten Sozial-staatsfalle festhalten, oder weil sie zu sehr im Besitz-standsdenken verhaftet und unflexibel sind? Das sind dieArgumentationsmuster von gestern. Welches aber sindIhre? Von Armut, von sozialer Ausgrenzung habe ich inIhrer Regierungserklärung nichts gehört.Natürlich sind wir uns einig in dem Vorschlag, Arbeitstatt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Die Frage ist nur:Welchen Weg wollen Sie da gehen? Ich muß gestehen:Was diesbezüglich der Kollege Arbeitsminister hiervorgetragen hat, macht mich nicht froh. Das riecht dochsehr nach Kombilohn, nach weiterer Ausweitung vonNiedriglohnsektoren, nach Beibehaltung bestehenderFormen von Zwangsarbeit, wie wir sie heute haben.Diesen Weg wollen wir nicht. Hier werden wir entspre-chenden Gegendruck entfalten.
Wir haben wie viele Erwerbslose erwartet, daß Siedie schlimmsten Verschärfungen des Arbeitsförderungs-rechts im SGB III zurücknehmen. Leider Fehlanzeige!Noch vor wenigen Monaten haben wir hier gemeinsamder alten Regierung vorgeworfen, daß sie statt der Ar-beitslosigkeit vor allen Dingen die Arbeitslosen be-kämpft. Sie sind auf dem besten Wege, in das gleicheFahrwasser zu geraten. Der Eindruck entsteht, daß Siehier an neoliberaler Kontinuität festhalten, und er ver-stärkt sich, wenn man die von Oskar Lafontaine losge-tretene Diskussion zur Pflege- und Arbeitslosenversi-cherung hinzunimmt.Ich will ja dem SPD-Parteivorsitzenden nicht unrechttun. Natürlich ist es erlaubt und notwendig, über die Zu-kunft der sozialen Sicherungssysteme nachzudenken,insbesondere dann, wenn durch die enge Koppelung andie Erwerbsarbeit ihre Finanzierung immer unsichererwird, weil immer weniger Männer und Frauen – für siegalt das ja ohnehin nie – kontinuierliche Erwerbsverläu-fe haben. Die Auflösung der Regelmäßigkeit der Nor-malarbeitsverhältnisse, die ungerechte Verteilung vonbezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern undFrauen machen in der Tat eine solche Diskussion not-wendig, und hier würden wir gern mittun.Das Problem bei Oskar Lafontaine ist auch nicht dieFrage der Steuerfinanzierung. Auch wir wollen sie; wirhaben das selber mit unserem Pflegeassistenzgesetz undmit einer Vorlage zur Grundsicherung vorgeschlagen.Wir wollen ebenfalls die Renten- und Arbeitslosenversi-cherung von Kosten entlasten, die gesamtgesellschaft-lich zu tragen sind und die nicht allein auf die abhängigBeschäftigten übergewälzt werden dürfen. Fatal an derDiskussion von Oskar Lafontaine finde ich, daß er dieBedürftigkeitsfrage mit hineingebracht hat
und nur jenen Leistungen zukommen lassen will, die ab-solut nichts mehr haben. Das ist nicht nur unsozial, son-dern vor allem frauenfeindlich, wie wir aus der Praxisder heutigen Bedürftigkeitsprüfungen längst wissen. Dasist eben nicht Zielgenauigkeit von sozialen Leistungen;das ist nichts anderes als Stammtischlogik.
Wir wollen auch, daß die schlimmsten Verschärfun-gen für Arbeitslose im SGB III zurückgenommen wer-den, und dazu gehört für uns zuallererst die Zumutbar-keitsregelung, die binnen kürzester Zeit jede Qualifika-tion entwertet. Dazu gehören Vorschriften zur Melde-pflicht und zur Beschäftigungssuche – alles Maßnah-men, mit denen man Arbeitslose drangsaliert, statt sie zufördern. Vor kurzem waren wir uns darin mit SPD undBündnisgrünen noch sehr einig.Wir unterstützen natürlich Ihr Sofortprogramm für100 000 arbeitslose Jugendliche. Wir könnten hiervielleicht einen Schritt weiter sein, wenn Sie in derletzten Legislaturperiode unserem diesbezüglichen An-trag zugestimmt hätten. Wenn es aber darum geht, jun-gen Menschen eine wirkliche Perspektive zu geben,dann reicht es nicht aus, sie auszubilden; dann muß auchdafür gesorgt werden, daß sie über die Übernahme in einArbeitsverhältnis für mindestens ein Jahr den Fuß in dieTür des Erwerbslebens bekommen.
In diesem Zusammenhang über die Chancen undNotwendigkeiten eines Generationenvertrages nachzu-denken, halten wir für dringend geboten. Formen desflexiblen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben – freiwilligund sozial gesichert – sind hier ebenso wichtig wie diegenerelle Verkürzung der Lebensarbeitszeit, wie sie jetztin der Diskussion ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierung hatdie Rücknahme der Sozialkürzungen der Kohl-Ära beider Rente angekündigt. Die Absenkung des Rentenni-veaus ist heute schon häufig genannt worden. Wir unter-stützen das, auch wenn uns nicht gefällt, daß das nurausgesetzt werden soll. Wir meinen aber, die Erhöhungdes Renteneintrittsalters für Frauen und für Schwerbe-hinderte gehört auch unbedingt zurückgenommen. Auchzurückgenommen gehören – darüber ist hier noch garnicht gesprochen worden – die Regelungen, in denSpargesetzen der Kohl-Regierung mit denen Anrech-nungszeiten für Ausbildung zusammengestrichen wor-den sind. Gerade auch hier werden Frauen doppelt be-trogen, weil viele von ihnen die Bildungsoffensive derersten sozialliberalen Koalition genutzt haben, um sichüber den zweiten Bildungsweg zu qualifizieren. Sieheute dafür mit Rentenabstrichen zu bestrafen, haltenwir für absolut unzumutbar.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort zu den pre-kären Beschäftigungsverhältnissen, zur Scheinselbstän-digkeit, zu 620-DM- und 520-DM-Jobs. Sie haben un-sere Unterstützung immer dann, wenn Sie diese endlichsozialversicherungspflichtig machen und den massen-haften Ausstieg aus der Solidargemeinschaft eindämmenDr. Heidi Knake-Werner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 149
(C)
(D)
wollen. Wir haben allerdings erhebliche Zweifel, daßder Weg, den Sie einschlagen, der richtige ist, weil wirfürchten – darin sind wir uns einig mit der stellvertre-tenden DGB-Vorsitzenden Ursula Engelen-Kefer –, daßdie bei 300 DM angesiedelte Bagatellgrenze zu hoch ist.Sie fordert förmlich dazu heraus, Arbeitsverhältnisseweiter aufzusplitten.
Kollegin, kommen
Sie bitte zum Schluß.
Ich komme gleich
zum Schluß. Wir haben auch kein Verständnis dafür,
daß Sie die Arbeitgeber statt zu der bisherigen Pauschal-
steuer nun zu Sozialversicherungsbeiträgen verpflichten,
den Geringstverdienerinnen ab 300 DM monatlich aber
auch den Sozialversicherungsbeitrag für die Rente und
die Lohnsteuer aufbürden wollen. Das ist nicht unser
Konzept. Wir wollen, daß die Arbeitgeber bis zum Exi-
stenzminimum der Beschäftigten beide Anteile der So-
zialversicherungsbeiträge bezahlen, weil wir diese Ar-
beitsverhältnisse zugunsten regulärer Arbeitsverhältnisse
unattraktiv machen wollen.
Ein letztes Wort an den Kollegen Arbeitsminister. Ich
muß, Herr Minister Riester, eine tiefe Enttäuschung
loswerden: Wenigstens von Ihnen hätte ich erwartet, daß
Sie es nach 16 Jahren Kohl, nach 16 Jahren des Abbaus
von Gewerkschaftsrechten als eine Ihrer ersten Initiati-
ven begreifen – sozusagen als Ihr Herzblut –, eine In-
itiative zu starten, die den Abbau von Gewerkschafts-
rechten zurücknimmt, und den Vorschlag machen, das
vollständige Streikrecht der Gewerkschaften wieder
durchzusetzen
durch die Wiedereinführung des alten § 116 AFG. Auch
hier können Sie eine Initiative unsererseits erwarten.
Ich bedanke mich.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Ulla Schmidt.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Sie werden sich nicht wun-dern, wenn ich, entgegen allen Kassandrarufen heutemorgen, sage: Ich habe ein gutes Gefühl bei dieser Re-gierung. Hier zu stehen, zur Regierungserklärung zu re-den und zu wissen, daß ich nach vielen Jahren im Par-lament endlich das, wofür ich jahrelang gestritten habe,wofür ich bei den Frauen und Männern in diesem Landgeworben habe, mit dieser Regierung auf den Weg brin-gen kann, das tut gut. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Ich verstehe, daß es Ihnen im Moment anders geht.Diese Regierung ist kaum 14 Tage im Amt, und bereitsjetzt hat sie Vorleistungen erbracht, um das bestehendeGerechtigkeitsdefizit in diesem Lande, das unter ande-rem dazu geführt hat, daß die Wählerinnen und Wählersie abgewählt haben,
zu beseitigen.Mit Beginn des Jahres 1999 werden wir die ersteStufe der Steuerreform in Kraft setzen, die vor allenDingen die Normalverdiener entlastet und die Ernstmacht mit der finanziellen Förderung von Familien. Fa-milien mit zwei Kindern werden 100 DM mehr in derTasche haben.
– Diese Regierung redet nicht nur von der Senkung derLohnnebenkosten, Herr Dr. Kues, sondern sie senkt sietatsächlich. Sie stabilisiert die Rentenbeiträge nicht nur,sie senkt sie um 0,8 Prozent. Sie wissen: Wären Sie ander Regierung geblieben, hätten wir die Rentenbeiträgeerhöhen müssen. Das ist Fakt.
Diese Regierung sichert Arbeitnehmerrechte, nach-dem diese in den letzten Jahren Zug um Zug abgebautworden sind. Man spürt das draußen in den Diskussio-nen: Zum erstenmal seit vielen Jahren zucken die Men-schen bei der Erwähnung des Begriffs Reform nichtmehr zusammen – weil sie nicht wissen, was jetzt wie-der auf sie zukommt –, sondern setzen ihre Hoffnung ineine positive Politik. Ich sage Ihnen: Wir werden diesepositive Politik umsetzen.
Die Hoffnung richtet sich darauf, daß manches vondem, was Sie gemacht haben, demnächst eingeleitetwird, wie sonst die Märchen eingeleitet werden: „Es wareinmal . . .“ Es wäre auch schön, wenn wir „Es war ein-mal ...“ zu dem sogenannten Wachstums- und Beschäf-tigungsförderungsgesetz von 1996 sagen könnten.
Wie im Märchen hatten Sie uns versprochen, daß Ar-beitsplätze geschaffen werden, zum Beispiel durchAufweichung des Kündigungsschutzes und durch Ein-schnitte bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Tat-sache ist jedoch, daß allein die Kürzung der Lohnfort-zahlung im Krankheitsfall zwar die Unternehmen umMilliardenbeträge entlastet hat, aber dafür keine Ar-beitsplätze geschaffen hat. Das ist ungerecht, HerrDr. Kues. Diese Ungerechtigkeit werden wir beseitigen.
Als ob diese Ungerechtigkeit ein Beweis für die positiveWirkung der alten Bundesregierung sei, werden wirDr. Heidi Knake-Werner
Metadaten/Kopzeile:
150 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
heute den ganzen Morgen davor gewarnt, diese und an-dere Schandtaten endlich abzuschaffen.Frau Kollegin Schwaetzer, Sie sagen, die rotgrüneRegierung mache eine Rolle rückwärts; ich lasse jetzteinmal beseite, ob Sie die Rolle rückwärts nicht viel-leicht mit einer Hechtrolle verwechseln. Haben Sie alledenn nicht begriffen, daß der Souverän, das Volk, Sieabgewählt hat, weil er nicht wollte, daß es in diesemLande so weitergeht, weil er wollte, daß sich etwas ver-ändert?
Sie können in Ihren Reden doch nicht so tun, als wäredas alles nicht geschehen. Wenn die Wählerinnen undWähler ein „Weiter so“ gewollt hätten, dann säßen Sieheute auf der Regierungsbank und nicht die SPD und dieGrünen.
Der Widerspruch zwischen Ihren offiziellen Redenund den persönlichen Erfahrungen der Menschen wareinfach zu groß geworden, zum Beispiel bei der Be-hauptung, die Kürzung der Lohnfortzahlung habe mitdazu beigetragen, daß die Krankenstände abgesenktwurden. Abgesehen davon, daß das einzige Mittel, umKrankenstände wirklich abzusenken, ist, daß in Betrie-ben motiviert wird und daß krankmachende Bedingun-gen am Arbeitsplatz beseitigt werden müssen.
Das ist in vielen großen Betrieben geschehen. Unbe-streitbar ist doch, daß die Belegschaften durch vorzeitigeVerrentung dauernd verjüngt wurden, daß die stetigsteigende Zahl der geringfügig Beschäftigten das Volu-men der Krankheitstage gesenkt hat. 520-/620-DM-Arbeitsverhältnisse sind sozial ungerecht und diszipli-nieren schon allein deswegen, weil die Not der Beschäf-tigten sie dazu zwingt, ihre Arbeit trotz Krankheit zuverrichten. Ich sage Ihnen ganz klar: Ein Ruhmesblattfür den Sozialstaat, wie Sie es heute immer gesagt ha-ben, ist das wahrlich nicht.Darüber hinaus führte dieses Gesetz zu massiver Un-gerechtigkeit bei den Beschäftigten. Diejenigen, diedurch starke Gewerkschaften und Tarifverträge abgesi-chert sind, erhalten eine 100prozentige Lohnfortzahlung;andere, die nicht so abgesichert sind und zumeist zudenjenigen gehören, die am wenigsten verdienen, wer-den für Krankheiten bestraft. Deshalb sage ich Ihnenganz klar: Ich bin froh, daß diese Bundesregierung miteinem ihrer ersten Schritte diese Ungerechtigkeit besei-tigen wird.
Die zweite Frage ist die Einbeziehung der unge-schützten Beschäftigungsverhältnisse in die Sozial-versicherungspflicht. Viele, die diesem Bundestagschon länger angehören, werden sich vielleicht daranerinnern, daß 1997 unsere ehemalige Kollegin Babel inihren Pressemitteilungen und hier im Plenum stolz ver-kündet hat, daß die F.D.P. zum fünftenmal die geringfü-gigen Beschäftigungsverhältnisse als die Errungenschaftdes Sozialstaates verteidigt hat.
– Sie hat gesagt: als letzte Freiheit im Unternehmertum.Ich habe die Zitate hier.Ich sage Ihnen ganz klar: Es geht hier nicht – wie Siees angesprochen haben – um die Frage von Abkassierenoder Füllen von Kassen.
Es wäre wirklich zu kurz gedacht, wenn wir so argu-mentieren würden. Im Gegensatz zu Ihrer Politik basiertunsere Politik darauf, daß wir die Erosion des Sozial-staates, daß wir Wettbewerbsverzerrungen und Sozial-dumping nicht billigend in Kauf nehmen werden.
Wir werden es nicht zulassen, daß 5,3 Millionen Arbeit-nehmerinnen aus ihrer Erwerbstätigkeit keine eigene so-ziale Sicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheits-fall und kein Mutterschaftsgeld erhalten. Was an dieserArt von Arbeitsverhältnissen frauenfreundlich ist, Kol-legin Schwaetzer, darüber würde ich mich gerne mit Ih-nen unterhalten; um das nachvollziehen zu können, binich wahrscheinlich nicht intelligent genug.
Sie haben das nicht nur in Kauf genommen. DurchIhre Politik haben Sie viele Arbeitgeber geradezu er-muntert, statt existenzsichernder Vollzeitarbeitsplätzeund Teilzeitarbeitsplätze sozial ungeschützte Arbeits-verhältnisse zu schaffen. Es war ja auch sehr verlok-kend, mit der indirekten Subventionierung von Lohnko-sten sich leichten Herzens Wettbewerbsvorteile ver-schaffen zu können. Damit haben Sie zugelassen, daßdie Unternehmer und Arbeitgeber, die ihre sozialenVerpflichtungen erfüllt haben, die ihre Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer sozial abgesichert haben, immerhöhere Lohnnebenkosten aufgebürdet bekamen, genausowie die Beschäftigten selbst, weil immer weniger in diesozialen Kassen eingezahlt und dadurch für die, die ein-gezahlt haben, alles teurer geworden ist.
Das müßte eigentlich Ihrer Philosophie von Wettbe-werbsfähigkeit ganz enorm widersprechen.Deshalb haben wir versprochen, diesen Mißstand zubeseitigen. Wir werden die Geringfügigkeitsgrenze aufmonatlich 300 DM festsetzen. Wir werden die Privile-Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 151
(C)
(D)
gierung der geringfügigen Nebenbeschäftigung beseiti-gen,
weil niemand einsehen wird, warum der Facharbeiter,der Überstunden ableistet, mit seinen Löhnen voll in dieSozialversicherung zahlt, während der andere, der nebeneinem sozialpflichtigen Arbeitsverhältnis eine Nebenbe-schäftigung hat, nicht in die Sozialversicherungskasseneinzahlt; das untergräbt auf Dauer den Sozialstaat unddie Solidarität.
Wir werden die Arbeitgeber verpflichten, ihren Beitragzur Sozialversicherung für Tätigkeiten ab 300 DM zuleisten.Wir werden Ausnahmen bei der Saisonbeschäftigungzulassen; sie bleibt sozialversicherungsfrei. Damit er-halten wir die Flexibilität überall dort, wo sie gebrauchtwird. Das macht deutlich: Wir werden nicht die gering-fügige Beschäftigung abschaffen. Es geht uns nicht umihre Beseitigung, sondern um die Beseitigung des Miß-brauchs und der Flucht aus der Sozialversicherung. Ge-nauso werden wir den Skandal der Scheinselbständigkeitbeseitigen.
Kolleginnen und Kollegen, ich muß hier noch einmaletwas klarstellen, was offensichtlich bei einigen von Ih-nen falsch angekommen ist. Ich höre heute morgen im-mer etwas von sozialer Ungerechtigkeit, die mit unsererPolitik verbunden ist.
Mir klangen die Ohren; ich dachte immer, Sie reden vonIhrer Politik.
Ich sage Ihnen ganz klar: Der Unterschied ist, daß wirmit unserer Politik und mit der gestrigen Regierungser-klärung des Bundeskanzlers Schröder endlich Abschiednehmen von der Ausgrenzung und Entsolidarisierung indieser Gesellschaft, von der Ausgrenzung und Entsoli-darisierung gegenüber Sozialhilfeempfängern, von derAusgrenzung und Entsolidarisierung gegenüber den Ar-beitslosen, von der Ausgrenzung und Entsolidarisierunggegenüber Alleinerziehenden, gegenüber Frauen undgegenüber den Jugendlichen in unserem Land. Sie redenimmer von sozialen Ungerechtigkeiten und sehen garnicht, daß es Ihre Politik der letzten Jahre gewesen ist,die zu genau diesen Ungerechtigkeiten geführt hat.
Für all die, von denen ich jetzt gesprochen habe, galtnicht mehr das Prinzip, daß alle, und zwar auch die mitden stärkeren Schultern, für diejenigen in unserer Ge-sellschaft einstehen, die in Not geraten sind.Herr Kollege Laumann,
Sie haben ja recht, daß die Solidargemeinschaft davonlebt, daß jeder und jede nach seinen bzw. ihren Mög-lichkeiten Beiträge leistet und dadurch individuelle Ri-siken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Invaliditätdurch Rechtsansprüche abgesichert sind. Aber wenn Sieeinmal ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, daß dochgenau Sie – nicht Sie persönlich, sondern Sie mit IhrerBundestagsfraktion, als Sie noch in der Regierung waren –es gewesen sind, die durch die immer stärkere Abwäl-zung der Lasten auf diejenigen, die tatsächlich bedürftigsind, auf die Kranken, auf die Arbeitslosen, auf die Al-leinerziehenden, auf die Frauen, genau diese Rechtsan-sprüche ausgehöhlt haben und damit einen der Grund-sätze unseres Sozialstaates – daß wir keine Entwicklungzu einem karitativen Wohlfahrtsstaat, sondern einenSozialstaat mit einklagbaren Rechtsansprüchen wollen –aufheben wollten.
Deshalb sehen Sie mich auf Ihrer Seite, wenn es darumgeht, diese Rechtsansprüche beizubehalten und auch zuverwirklichen. Denn ich sage Ihnen ganz klar: Bei allerNotwendigkeit, über die Zielgenauigkeit von Soziallei-stungen und über die Effizienzsteigerung auch der Lei-stungssysteme zu streiten, ist der Erhalt dieser Rechtsan-sprüche für mich die Basis, auf der alle Reformen auf-gebaut werden müssen; denn sie allein schaffen Freiheit,und mit ihnen wird die Würde des Menschen respektiert.Die heute vom Bundesarbeitsminister angekündigteVerstärkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist imübrigen ein Weg in diese Richtung. Wir kehren das be-stehende Verhältnis von aktiver zu passiver LeistungZug um Zug um. Damit machen wir nicht nur die In-strumente staatlicher Arbeitsmarktpolitik effizienter;vielmehr konzentrieren wir die finanzielle Leistung vor-rangig auf Investitionen in die menschliche Arbeitskraft.Das ist auf Dauer eben nicht nur sinnvoller, vielmehr istes auch billiger, und es entspricht unserer sozialdemo-kratischen Auffassung von Sozialpolitik. Sie ist dadurchgekennzeichnet, daß durch staatliche Rahmenbedingun-gen nicht nur Türen geöffnet werden müssen; vielmehrsoll es durch die Förderung der eigenständigen Existenz-sicherung den Menschen ermöglicht werden, auf eige-nen Füßen durch diese Türen zu gehen und den Wegselber zu bestimmen, den sie gehen wollen.
Das ist die Basis, auf der Freiheit geschaffen wird.Das ist die Basis, mit der die Würde des Menschen re-spektiert wird. Deshalb stehen wir für eine andere Poli-tik, eine Politik, die gerecht die Lasten und Chancenverteilt, eine Politik, die die Erwerbsarbeit verteilt, einePolitik, die Chancengleichheit in Bildung und in Kulturdurchsetzt, eine Politik, die die Benachteiligung der Ge-schlechter überwindet und die Zukunftsperspektiven fürjunge Menschen schafft.Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
152 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Ohne Gerechtigkeit, ohne Solidarität und ohne so-ziale Sicherheit ist Demokratie auf Dauer nicht lebens-fähig. Sie kann auch nicht mehr so blühen, wie wir esalle wollen. Deshalb ist unsere Politik ein Beitrag zurVerfestigung der Demokratie und der demokratischenStrukturen in unserem Lande.
Ein letzter Punkt. In seiner Regierungserklärung hatder Bundeskanzler gestern auf das Versagen der altenBundesregierung angesichts der horrenden Jugendar-beitslosigkeit hingewiesen. Ich muß Ihnen, Kolleginnenund Kollegen, einmal ehrlich sagen: Ich habe Ihre Re-aktionen gestern überhaupt nicht verstanden, als Sie beider Regierungserklärung so laut gelacht haben.
Es ist doch unbestreitbar, daß es Ihnen nicht gelungenist, den dramatischen Verlust von Ausbildungsplätzenaufzuhalten. Auch bestreitet niemand mehr ernsthaft,daß die hohe Jugendarbeitslosigkeit die Integration jun-ger Menschen gefährdet. Deshalb war Ihr Lachen fehlam Platz. Es entspricht doch auch dem christlichen Bildvom Menschen, daß er sich selber ernähren kann. Wenndem so ist, dann springen Sie doch einmal über IhrenSchatten. Warum begrüßen Sie es hier nicht, daß wir einProgramm zur Schaffung von 100 000 Arbeitsplätzenfür junge Frauen und Männer auflegen?
Es geht nicht nur darum, daß wir damit die Jugendar-beitslosigkeit bekämpfen; es geht auch darum, daß wirdadurch das Fundament unserer Gesellschaft, Freiheit,Toleranz und Demokratie, verteidigen, indem wir jun-gen Menschen wieder eine Chance in dieser Gesellschaftgeben und ihnen eine Perspektive eröffnen.Ein weiterer Punkt, Herr Kollege Laumann, betrifftdas, was Sie über die Bedingungen für Kinder, die hieraufwachsen, gesagt haben. Haben Sie denn einmal dar-über nachgedacht, wie diese Gesellschaft eigentlich inzehn Jahren aussehen soll? Wenn wir zulassen, daßmehr als 10 Prozent einer Generation den Weg in denersten Arbeitsmarkt oder zu einer Ausbildung nicht fin-den, dann stellt sich die Frage, wie diese Menschen überJahre hinweg in das Erwerbsleben integriert werdensollen. Sie werden doch der Erwerbsarbeit entwöhnt.
Wer will mit mir denn noch über die Zukunftschan-cen für Familien reden, wenn wir nicht die Bedingungendafür schaffen, daß junge Frauen und Männer durch Si-cherung ihrer eigenen Existenz auch Bedingungen füreine partnerschaftliche Erziehung ihrer Kinder und fürein Leben ohne Sorge für die nachwachsende Genera-tion schaffen können. Das müßte Ihnen doch zu denkengeben. Das entspricht doch auch dem christlichen Men-schenbild. Deshalb müßten Sie jetzt eigentlich mit mei-ner Fraktion für die Beantwortung dieser Fragen eintre-ten.
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen.Wenn es darum geht, jungen Menschen eine Perspektivezu geben, dann geht es auch darum, daß die jungenFrauen in der Erwerbstätigkeit die gleichen Chancenwie die jungen Männer erhalten.
Junge Frauen wollen einen Beruf erlernen, der ihren Fä-higkeiten und Kompetenzen angemessen ist und sie fi-nanziell unabhängig macht. Die jungen Frauen könnensicher sein, daß wir bei unseren politischen Vorstellun-gen und in der Gesetzgebung darauf achten werden, daßdas auch umgesetzt wird. Das ist nicht nur eine Fragevon Demokratie – wie es die Gleichstellung der Ge-schlechter eben ist –, sondern auch eine Frage der Zu-kunftsfähigkeit des Sozialstaates.Wenn wir wissen, daß die lebenslange Erwerbsbio-graphie für Männer in der Zukunft nicht mehr so seinwird, wie sie es in der Vergangenheit war, sondern sichderjenigen der Frauen anpaßt, dann entspricht es demSozialstaatsgebot, dafür zu sorgen, daß junge Frauen ih-re Existenz genauso wie junge Männer sichern könnenund daß in den sich wandelnden Welten – auch in derBerufswelt, die von Phasen der Weiterbildung, der Ar-beitslosigkeit und des Wiedereinstiegs gekennzeichnetsein wird – in einer Familie immer einer der Partner inder Lage ist, die Existenz der Familie zu sichern. Werdas nicht sicherstellt, der zielt darauf ab, daß diese Risi-ken der Erwerbsbiographien in Zukunft immer durchstaatliche Leistungen aufgefangen werden. Auch daswürde den Sozialstaat sprengen, und auch das werdenwir nicht mitmachen. Denn der Sozialstaat der Zukunftverlangt, daß junge Frauen und Männer gleiche Chancenhaben, damit die Familien gleiche Chancen haben.
Ich glaube, daß Frauen und Männer in diesem LandeVeränderungen wollen. Sie erwarten von uns zu Recht,daß wir neue Maßstäbe setzen; sie erwarten, daß Solida-rität und Gerechtigkeit wieder eine Bedeutung erlangen.Sie sind bereit, sich den Anforderungen des21. Jahrhunderts zu stellen, verlangen aber, daß es dabeigerecht zugeht. Diese Gerechtigkeit – auch bei Ent-scheidungen unter finanziellen Zwängen – ist das, wasich den Menschen in diesem Lande von dieser Stelle auszusage. Dazu werden wir, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, mit dieser Regierung an unserer Seite einen gutenSchritt nach vorne machen. Das ist gut für Deutschland,das ist gut für die Familien, und das ist gut für die Men-schen, die in Deutschland leben.Vielen Dank.
Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 153
(C)
(D)
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich jetzt dem Kollegen Laumann das
Wort.
Frau Kollegin
Schmidt, Sie haben mich persönlich angesprochen. Sie
haben gesagt, daß Sie einen Wohlfahrtsstaat
mit Rechtsansprüchen wollen und daß wir nach Ihrer
Meinung in den letzten Jahren zu viele Kürzungen vor-
genommen hätten.
Dazu möchte ich einfach einmal anmerken, daß wir nach
meiner tiefen Überzeugung in der Sozialpolitik das
Ganze nur gerecht und bezahlbar gestalten können,
wenn wir soziale Leistungen mit Eigenverantwortung
verbinden.
Deswegen haben wir in der letzten Wahlperiode zum
Beispiel gesagt: Außer beim Vorliegen bestimmter so-
zialer Voraussetzungen – Sozialklausel, Überforde-
rungsklausel – gibt es im Gesundheitssystem Zuzahlun-
gen. Das war richtig, denn die Leute müssen mit den
Leistungen des Gesundheitssystems sparsam umgehen.
Daß es richtig war, sehen wir jetzt auch an Ihrem Re-
formentwurf: Wenn Sie bei den Zuzahlungen eine Mark
wegnehmen, dann ist das, gemessen an der Ankündi-
gung, sie abzusenken, eher eine Lachnummer.
Sie werden Eigenverantwortung mit Sozialleistungen
verbinden müssen. Das ist richtig und wird an einem
Beispiel deutlich: Wenn ich vier Wochen zur Kur fahre,
muß ich dafür als Eigenverantwortungsteil eine Woche
Urlaub einbringen. Nur so kann das doch funktionieren.
Sie müssen immer eine Lösung finden, bei der die wirk-
lich Bedürftigen die Leistung bekommen, aber diejeni-
gen, die sie nicht unbedingt brauchen, sie nicht mit
Leichtigkeit erwerben können. Sie sind gut beraten,
wenn Sie an diesem Weg festhalten.
Noch ein Wort zu der Geschichte mit den Jugend-
lichen. Wir springen in der Debatte viel zu kurz, wenn
wir glauben, man könne durch ein Programm das Pro-
blem, daß 10 bis 15 Prozent der Jugendlichen nach zehn
Jahren Schule nicht ausbildungsfähig sind, lösen. Dieses
Problem hat ganz viele Ursachen. Das hängt mit Eltern-
häusern zusammen. Das hängt mit Sozialverhalten zu-
sammen. Das hängt mit der Art, wie die Schule organi-
siert ist, zusammen. Dazu habe ich heute vieles gesagt.
Ich glaube, wir sollten das einmal vernünftig anpacken,
um die Probleme schon dann zu lösen, wenn Menschen
im Alter von Kindern oder Jugendlichen sind. Am be-
sten würden wir das Problem lösen – davon bin ich
überzeugt; man muß diese Ansicht nicht teilen –, wenn
wir in unserer Gesellschaft wieder stärker zu einem
christlichen Wertekonsens finden würden.
Danke schön.
Frau Kollegin
Schmidt.
Herr Kollege Lau-mann, ich bin für einen Wertekonsens und auch für ei-nen christlichen Wertekonsens, wenn er in dieser Ge-sellschaft sein soll – aber dann bitte einen ehrlichen.
Ich möchte auf ein paar Dinge eingehen, die Sie an-gesprochen haben. Ich habe nicht davon gesprochen, daßich den Sozialstaat zu einem Wohlfahrtsstaat weiterent-wickeln will. Ich habe gesagt: Ich persönlich halte es füreine Errungenschaft des Sozialstaates, daß wir wirklichdie Absicherung individueller Risiken durch die ge-setzliche Sozialversicherung und die daraus erwachsen-den Rechtsansprüche gewährleisten. Das verhindert,daß das eintreten kann, was Sie als Beispiel genannt ha-ben – daß man in Zeiten, in denen man in individuelleNotlagen gerät oder individuelle Risiken austragen muß,sofort alles, was man erspart oder für das Alter oder zurExistenzsicherung der Familie beiseite gelegt hat, ein-bringen muß, ehe man Empfänger von staatlichen Lei-stungen wird.
Das unterscheidet sich eben von dem, was ein karitativerWohlfahrtsstaat ist, weil der karitative Wohlfahrtsstaatimmer nur bei der Bedürftigkeit ansetzt und die Bedürf-tigkeitsprüfung voraussetzt.
Ich habe nur darauf hingewiesen, daß Sie bei allem,worin wir beide uns wahrscheinlich einig sind, mit IhrerPolitik – mit der Sie immer mehr Belastungen, die durchindividuelle Lebensrisiken entstehen, auf die Betroffe-nen selber verlagert haben, mit der Sie dazu beigetragenhaben, daß aktivierende Maßnahmen, zum Beispiel inder Arbeitsmarktpolitik, nicht entwickelt wurden; viel-mehr haben Sie auf passive Leistungen gesetzt, die inder Summe irgendwann zuviel werden, so daß man radi-kal kürzen muß und eigentlich immer weniger Rechtsan-sprüche übrigbleiben – das Prinzip des Sozialstaatesdoch untergraben haben. Diese Behauptungen erhalteich weiterhin aufrecht.Wenn Sie glauben, mit unserem Programm „100 000Arbeitsplätze für junge Frauen und Männer“ würden wirzu kurz springen, dann sage ich Ihnen eines: Ich springelieber einmal zu kurz als überhaupt nicht. Das ist derGegensatz zu dem, was Sie seit Jahren gemacht haben.
Ich bin nicht der Meinung, daß wir mit diesem Pro-gramm alles lösen können; aber für jeden einzelnen, dereinen dieser 100 000 Arbeitsplätze erhält, bedeutet dies,eine Perspektive in dieser Welt zu haben. Das ist es mirwert, vielleicht zu kurz zu springen, aber nicht immer
Metadaten/Kopzeile:
154 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
stehenzubleiben oder rückwärts zu gehen, wie Sie esgemacht haben.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die größte Ungerechtigkeit ist Ar-beitslosigkeit. Der Bundeskanzler hat zu Recht als Maß-stab, als Meßlatte für sein Handeln die Fortschritte amArbeitsmarkt gewählt. Genau daran werden wir ihnmessen. Er hat gestern in seiner Regierungserklärungbeim Höhenflug über viele Politikfelder einige freund-liche Worte für den Mittelstand gefunden. Er hat richtigerkannt: Kleine und mittlere Unternehmen sind am ehe-sten in der Lage, neue Arbeitsplätze zu schaffen.Aber genau dieser Mittelstand wird mit dem, was Sieauf den Weg bringen, benachteiligt. Sie machen aus derNeuen Mitte, die mit dem Lockvogelangebot „Stoll-mann“ umworben war, eine „verratene Mitte“; denn derMittelstand wird durch diese Politik abgestraft.
Es fängt schon bei der Psychologie an. Ich meine nichtnur den Fehlstart der Regierung, sondern auch das un-sinnige Gequatsche mit der Infragestellung der Unab-hängigkeit der Notenbank.
Das löst nämlich bei den kleinen und mittleren Unter-nehmen das Gefühl aus: Die wollen uns ans Geld. In ei-nem solchen Klima werden nicht mehr Investitionengetätigt, nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen. Eher führtes zu einem Bankenförderprogramm für Luxemburg unddie Schweiz anstatt zu einem Arbeitsmarktprogramm fürDeutschland.
Das Konzept der Steuerpolitik umfaßt zunächst Ver-schlechterungen, verzögerte Ausgleichsmaßnahmen undÖkosteuermaßnahmen, die ein klares Abkassiermodellsind. Abkassieren hat in Deutschland einen neuenNamen: Öko! Alles, was „öko“ ist, bedeutet Mehrbe-lastung.
Diese neue Steuerpolitik bringt keine Verbesserungen inder Ökologie, sondern lediglich Belastungen in derÖkonomie und führt dazu, daß Arbeitsplätze gefährdetwerden und verlorengehen.Nun möchte ich auf die Arbeitsmarktprobleme undauf die Instrumente eingehen, die hier zur Debatte ste-hen.
– Das mag sein. Aber vielleicht kann man auch in derRegie die Lautstärke herunterdrehen. Das ist jedenfallsin Rheinland-Pfalz möglich.Die 620-DM-Verträge werden von Ihnen verteufelt.Wenn Sie die Pauschalbesteuerung aufheben und stattdessen eine Sozialversicherungspflicht einführen, be-deutet das, daß Sie umetikettieren, aber in der Sachenichts verändern. Wir brauchen in der Tat – das giltnicht nur für den Biergarten; dort leuchtet es selbst demDümmsten ein – ein Stück Flexibilität, weil die Besteue-rung und Reglementierung überdreht ist. Andernfalls er-reichen Sie nur eines: Sie werden die Schwarzarbeit inDeutschland nachhaltig fördern. Aber das ist keine Ar-beitsmarktförderung.
Wo fängt die Scheinselbständigkeit an? Ist ein Exi-stenzgründer, der gerade einen Kunden hat, schonscheinselbständig? Oder der Handelsvertreter? Da wer-den Sie eine Fülle von fast nicht lösbaren Abgrenzungs-problemen bekommen.Das, was als Abbau von Einstellungshemmnissen fürden Mittelstand auf den Weg gebracht wurde – das Ge-genteil von gut ist ja gut gemeint –, nämlich dieSchwelle beim Kündigungsschutz von zehn auf fünfMitarbeiter abzusenken und die Einschränkungen beider Lohnfortzahlung wieder aufzuheben, wird dazu füh-ren, daß beim Mittelstand nicht mehr Arbeitsplätze ent-stehen, sondern die Ängste zunehmen. Sie zwingen denMittelstand in andere Wege hinein, lösen damit abernicht die Probleme auf dem Arbeitsmarkt.
Nun soll es eine Wunderwaffe geben: die Inszenie-rung eines Bündnisses für Arbeit. Das wird dann soablaufen: Die Regierung teilt heute schon mit, was anKröten zu schlucken ist. Das hat jeder hinzunehmen; dagibt es gar keinen Dialog. Dann wird darüber geredet,was an zusätzlichen Kröten geschluckt werden kann.Aber, meine Damen und Herren: Durch einen Gipfelvon Funktionären entstehen keine Arbeitsplätze.
Arbeitsplätze entstehen nur, indem jemand Geld in dieHand nimmt, investiert, vielleicht schlaflose Nächte hat,weil er hohe Risiken eingeht, und dann ein Ergebnis er-zielt, das sich rechnet.
So etwas bekommen Sie nicht durch Funktionärstreffenhin. Das werden Sie auch nicht durch eine Theaterinsze-nierung hinbekommen. Davon erwarte ich wenig, zumalSie auch noch die falschen Rahmenbedingungen ge-schaffen haben.Sie müssen dem Mittelstand eine wirkliche Chancegeben, damit er seine Leistungskraft entfalten kann, da-mit er neue Ideen verwirklichen und neue Produkte aufden Markt bringen kann. Dann wird er auch neue Ar-beitsplätze schaffen können. Aber allein schon dasUlla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 155
(C)
(D)
Klima, das Sie dadurch schaffen, daß Sie durch leicht-fertiges Gerede die in den Deutschen tiefverwurzelteAngst vor Geldentwertung, vor Inflation auslösen, ver-hindert und zerstört Arbeitsplätze, statt daß solche ent-stehen.
Der eingeschlagene Weg ist falsch. Sie müssen einenanderen Weg einschlagen. Die Dinge werden nicht da-durch richtig, daß man Rezepte wiederholt, die sichschon früher als falsch erwiesen haben. Ich will hierkeinen Streit über Angebots- und Nachfragepolitik füh-ren; aber ein Vulgärkeynesianismus wird die Lösung mitSicherheit nicht sein.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.
ren! Die neue Regierung hat die Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit ganz oben auf die politische Tagesord-nung gesetzt. Gerade um diesem gesellschaftlichenGrundübel zu Leibe zu rücken, war ein Politikwechsellängst überfällig. Zu diesem Politikwechsel gehört auch,Herr Brüderle, der ökologische Umbau, den die alteRegierung bis zuletzt verschlafen hatte. In diesem Um-bau steckt ein riesiges neues Arbeitsplatzpotential; die-ser innovative Bereich muß endlich erschlossen werden.Die Massenarbeitslosigkeit, die während der Regie-rung Kohl unglaubliche Ausmaße angenommen hat,reißt die Gesellschaft auseinander. Für die Betroffenenist sie eine unerträgliche Belastung. Sie treibt die So-zialkassen an den Rand des Konkurses. Sie schafft eingesellschaftliches Klima von Angst und Konkurrenz. Sievergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich.Eben deshalb müssen und werden wir der Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit Priorität einräumen. Daß wirdas gesellschaftliche Ziel, für alle, Frauen wie Männer,eine existenzsichernde Teilhabe an Erwerbsarbeit mög-lich zu machen, nicht von jetzt auf gleich erreichen kön-nen, wissen wir alle. Aber man muß das Ziel, diesen An-spruch der Gesellschaft an sich selbst, klar formulieren,um den Weg und die einzelnen Schritte dorthin an die-sem Ziel messen zu können.Unsere Politik wird sich am Zugewinn von Beschäf-tigung orientieren und an sozialer Gerechtigkeit, nichtan Ausgrenzung, sondern an Integration der Gesell-schaft.
Nun behaupten Vertreter der vergangenen Bundesre-gierung, wie gestern zum Beispiel Herr Schäuble, daßdoch alles längst auf dem richtigen Weg und geradezuein Geschenk der alten an die neue Bundesregierunggewesen wäre. Meine Damen und Herren aus den ver-flossenen Regierungsfraktionen, Sie erlauben, daß wirsolche Danaergeschenke lieber zurückweisen.Die neuen Jobs, die die Aufweichung des Kündi-gungsschutzes, die Kürzung der Lohnfortzahlung imKrankheitsfall oder gar die Abschaffung der Vermögen-steuer gebracht hätten, vermag ich nicht zu sehen, wohlaber den Verlust an sozialer Gerechtigkeit und an be-trieblicher und gesellschaftlicher Demokratie. Eben des-halb wollen wir diese völlig ungeeigneten und unge-rechten Gesetze umgehend rückgängig machen.Die neue Regierung wird zu einem neuen Bündnisfür Arbeit einladen, um so die gesellschaftlichen Kräftemit dem zentralen Ziel zu bündeln, die Erwerbslosigkeitzu vermindern. Ich glaube, dieser sicherlich schwierigenVeranstaltung können alle aus diesem Hause nur viel Er-folg wünschen, aber auch mehr als das: Wir können diepolitischen Rahmenbedingungen dafür so sorgfältig wieirgend möglich setzen.Das erste Bündnis für Arbeit, das der IG-Metall-Vorsitzende Zwickel initiiert hatte, ist daran gescheitert,daß die alte Bundesregierung den Gewerkschaften überdie Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfallund die Aufweichung des Kündigungsschutzes faktischden Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Diese Brüskierungder Gewerkschaften werden wir mit der Rücknahme die-ser Gesetze vor Einstieg in das Bündnis für Arbeit ausder Welt schaffen; wir werden damit erst die Vorausset-zungen für Gespräche in Augenhöhe herstellen.
Ich wünsche mir, daß in diese Gespräche wie in unse-re zukünftige Politik auch die Erwerbslosen einbezogenwerden. Erwerbslose dürfen nicht nur Objekte von Poli-tik sein, sondern müssen aktiv daran beteiligt werden.Wir müssen mit ihnen und mit den Gewerkschaften zu-sammen sicherstellen, daß die Interessen der Arbeitslo-sen nicht ins Hintertreffen geraten.Der Kanzler hat gestern vom Ende der Stagnation undder Sprachlosigkeit und von einer Republik des Diskur-ses gesprochen. Wir sollten dies für die kommendenJahre zu einer der Leitlinien unserer Politik machen.Ich glaube, die Arbeitsloseninitiativen werden unsdabei unterstützen, indem sie uns fordern und ihre An-liegen in der Öffentlichkeit unüberhörbar vertreten. Daswird nicht immer die pure Harmonie sein, aber es wirduns sicher auf Trab halten.Das Bündnis für Arbeit ist kein Verschiebebahnhofzur Politikvermeidung. Zu den Aufgaben der Politik, diesie nicht abgeben kann und darf, gehört die Setzung vonfairen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Geradezuexplodiert ist in den letzten Jahren die Zahl nicht abgesi-cherter Beschäftigungsverhältnisse, die billig und flexi-bel die Produktionsspitzen abfangen: Scheinselbständig-keit, Werkverträge, Beschäftigung unterhalb der Gering-fügigkeitsgrenze. All das sind keine Randphänomenemehr.Inzwischen sind mehr als 1 Million Menschen vonScheinselbständigkeit betroffen. In 620- bzw. 520-DM-Rainer Brüderle
Metadaten/Kopzeile:
156 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Jobs arbeiten mehr als 5,6 Millionen Menschen, diemeisten von ihnen Frauen, die so kaum eine Chance ha-ben, einen eigenständigen Zugang zu sozialer Absiche-rung aufzubauen.Seit 1992 hat die Zahl dieser Jobs um 25 Prozent zu-genommen. Gleichzeitig sind 2 Millionen reguläre Be-schäftigungsverhältnisse aus der Statistik verschwunden.Immer mehr abgesicherte Beschäftigung ist in Minijobsunterhalb der Sozialversicherungspflicht zerlegt worden,weil die Arbeitgeber die Kosten für die Sozialversiche-rung sparen wollen.Wir haben auf diese fatale Entwicklung in den letztenJahren immer wieder aufmerksam gemacht und zahllosepraktische Vorschläge auf den Tisch dieses Hauses ge-legt. Die alte Bundesregierung hat sie die ganze Zeitblockiert, so daß sie erst jetzt in die Praxis umgesetztwerden können – mit der Zielsetzung, jede Beschäfti-gung in die Sozialversicherung einzubeziehen.Nun habe ich schon gestern und heute wieder gehört– auch in der Öffentlichkeit wird es von Lobbygruppenzum Teil so diskutiert –, daß Sie, meine Damen undHerren von der christlichen Fraktion und der freidemo-kratischen Fraktion, schon den Würgegriff des Staatesan der Gurgel der freien Wirtschaft spüren. Lassen Siesich versichern, es handelt sich bei dem Artikelgesetz,das wir nächste Woche einbringen werden, nicht um ei-nen Anfall von Regulierungswut, sondern um die längstüberfällige verbindliche Festlegung von gesellschaftli-chen Grundregeln, weil ohne diese Regeln immer alleinder Stärkere profitieren wird.
Wir wollen den jetzigen Wildwuchs von 620-DM-bzw. 520-DM-Jobs eindämmen, um auch die aktuelleVerzerrung des Wettbewerbs geradezurücken. Jetzt ha-ben ausgerechnet diejenigen Arbeitgeber, die sich zuLasten der Allgemeinheit aus der sozialen Verantwor-tung ziehen, einen großen Wettbewerbsvorteil gegen-über jenen Arbeitgebern, die sozial abgesichert, damitaber auch teurer beschäftigen. Ebenso werden doch auchnoch die belohnt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer mit der Drohung des Jobverlustes aus der Sozi-alversicherungspflicht in die Scheinselbständigkeit ab-drängen. Für die Stärkeren bedeutet Freiheit von Sozial-versicherung die Befreiung von Verantwortung und vonteuren Pflichten. Die Stärkeren können ihre Interessenauch so per Ellenbogen durchsetzen. Aber solidarischeAbsicherungen sind gerade für die Schwächeren in die-ser Gesellschaft unverzichtbar. Das ist keineswegs,Kollege Laumann, mit der Entlassung aus Eigenverant-wortung zu verwechseln. Aber für die Schwächeren be-deutet eine funktionierende Absicherung ein Stück Frei-heit, nämlich Freiheit von Angst und Unsicherheit beiden großen, individuell nicht zu bewältigenden Lebens-risiken Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Es ist Teilunserer politischen Verantwortung, die Grundregeln sofestzulegen und durchzusetzen, daß wir uns, wenn esdenn um die Tellerwäscher geht, nicht die Millionärezum Maßstab nehmen.Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist dasProgramm für 100 000 Ausbildungs- und Arbeitsplätzeein wirklich guter Anfang. Außerdem hoffe ich, daßüber die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, wie sie jetztunter dem Stichwort „Rente ab 60“ diskutiert wird, aufdem Arbeitsmarkt wieder mehr Platz für Jugendlichesein wird. Allerdings zeigen die Erfahrung der letztenJahre mit den unzähligen Appellen an die Arbeitgeberund auch der Blick nach Nordrhein-Westfalen, wo mei-nes Erachtens der sogenannte Ausbildungskonsens in-zwischen gescheitert ist, daß um die Ausbildungsplatz-umlage früher oder später kein Weg herumführen wird.
Ich hätte es mir früher gewünscht. Aber klar ist doch,daß für die Jugendlichen der erste Kontakt mit dem Er-werbsleben nicht darin bestehen darf, daß ihnen die Türvor der Nase direkt wieder zugeschlagen wird.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, derin den nächsten Jahren gesellschaftspolitisch von ganzzentraler Bedeutung sein wird: die Verkürzung derArbeitszeit und die Umverteilung von Arbeit.. Ich willauch sagen, warum das so wichtig ist. Hier kann erstensauch kurzfristig ein großes Arbeitsplatzpotential mobi-lisiert werden, auf das wir bei der Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit auf keinen Fall verzichten können. Zwei-tens ist mit Arbeitszeitverkürzung untrennbar immerauch die Verteilungsfrage verbunden, nicht nur die nachder Verteilung von Arbeit und Zugang zu sozialen Si-cherungen, sondern auch die nach der Verteilung des ge-sellschaftlichen Reichtums. Last but not least geht esdabei auch um eine Neuverteilung von bezahlter undunbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern und umden selbstverständlichen Zugang von Frauen zu einer ei-genständigen sozialen Sicherung. Gerade hier haben wirnoch ein gutes Stück Arbeit und ein gutes Stück gesell-schaftliche Debatte vor uns.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer.
Sehr geehrteFrau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wer in den vergangenen 16 Jahren meistens nur da-gegen war, der tut sich schwer, einen Zukunftsentwurfvorzulegen.
Statt Aufbruch und exakte Aussagen herrscht in IhremProgramm schwammige Zaghaftigkeit.
Annelie Buntenbach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 157
(C)
(D)
Es ist eben schwierig: Wer lange in der Mechanik desAblehnens und Blockierens ausgebildet worden ist, hatSchwierigkeiten, im Rahmen der Umschulung vomBremserhäuschen in die Lokomotive zu klettern.
Herr Arbeitsminister Riester, wir respektieren denAuftrag und die Chancen, welche die Wähler der neuenRegierung in Deutschland gegeben haben. PawlowscheReflexe, nämlich alles abzulehnen, was die Regierungvorschlägt – das war in der Vergangenheit nicht unüb-lich –, werden Sie mit uns nicht erleben. Aber wir wer-den die Menschen in unserem Land alarmieren, wenneine erkennbar falsche Richtung eingeschlagen wird.Der Bundesfinanzminister, Oskar Lafontaine, will dieArbeitslosenversicherung und die Pflegeversicherungschleifen oder ganz abschaffen. Was heißt das? Staatli-che Almosen sollen rechtskräftig erworbene Versiche-rungsansprüche ersetzen – Fürsorge mit Mottenpulver-geruch statt zukunftsgerichtete Eigenverantwortung.
Durch eine neue Bürokratie sollen ständige Einkom-mensprüfungen erfolgen. Niemand kann dann sichersein, welche Almosenhöhe die öffentlichen Kassen ge-rade zulassen.Wer sich noch daran erinnert, mit welcher Vehemenzvor Jahresfrist in der Debatte – 50 Prozent Fachkräfte,Pflegeschlüssel – gestritten worden ist, der weiß: Werdamals den Gedanken ausgesprochen hätte, die Pflege-versicherung abzuschaffen, der wäre sofort politisch ge-steinigt worden. Heute schlagen Sie als Vertreter IhresBereiches diese Überlegungen vor. Der neue Bundes-kanzler, der gerade nicht anwesend ist, ist sich selbernicht im klaren, ob er nun applaudieren oder abwiegelnsoll.
In der „Berliner Zeitung“ vom 26. Oktober 1998 steht– ich zitiere –:Der Parteichef habe seine Initiative kürzlich imSPD-Präsidium angedeutet und mit dem künftigenKanzler Gerhard Schröder abgesprochen, verlauteteaus der Umgebung Lafontaines. Schröder war zu-nächst der einzige, der im verblüfften Publikum ap-plaudierte.In der „Bild am Sonntag“ von dieser Woche fährtGerhard Schröder eine neue Linie. Dort heißt es – ichzitiere –:Ich rate zu ganz vorsichtigem Umgang mit derPflegeversicherung.Wir raten nicht nur zum vorsichtigen Umgang mit derPflegeversicherung. Wir sagen: Hände weg von derPflegeversicherung!
Ohne Not hat diese Bundesregierung in den erstenTagen ihrer Amtszeit eine verhängnisvolle Verunsiche-rung ausgelöst. Wissen Sie, was Sie bei 1,7 MillionenMenschen, die Leistungen aus der Pflegeversicherungbeziehen, die gespart haben, die Versicherungsbeiträgeeingezahlt haben und die viele Jahre auf die Einführungder Pflegeversicherung gewartet haben, angerichtet ha-ben? Nun muß der Facharbeiter Angst haben, daß nach45 Jahren, in denen er sich für ein kleines Häuschenkrummgelegt hat, sein Erspartes verloren ist, wenn seineFrau zum Pflegefall wird.
Wer als Pflegefall ohnehin in einer schwierigen Lebens-situation ist, dem darf man eine programmierte Unsi-cherheit nicht zusätzlich aufbürden. Wer das tut, handeltnicht sozial, handelt nicht gerecht, sondern verbreitet so-zialen Eishauch.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Ja, wenn er
die richtige Frage stellt.
Herr Kollege Singhammer, ich
will Sie eigentlich nur fragen, an welcher Stelle der Re-
gierungserklärung Sie das gehört haben, worüber Sie
jetzt geredet haben. Ich habe in der gestrigen Regie-
rungserklärung des Bundeskanzlers überhaupt nichts
davon gehört, daß an der Pflegeversicherung gerüttelt
werden soll. Können Sie mir in diesem Punkt Auskunft
geben, an welcher Stelle der Regierungserklärung eine
entsprechende Aussage zu finden ist?
Ich wäre sehrfroh, wenn ich von seiten der Regierung – der Bundes-arbeitsminister und weitere Minister sind ja anwesend –erfahren könnte, wie die Pläne nun tatsächlich aussehen.Der Bundesfinanzminister verkündet dies, und der HerrBundeskanzler äußert sich mal so und mal so. Es wäresehr interessant, zu erfahren, wie die Meinung tatsäch-lich ist. Vielleicht erfahren wir sie heute noch.
Die Ankündigungen von Mitgliedern dieser Bundes-regierung sind sehr viel weitgehender. Sie kündigennämlich einen Systemwechsel in der Sozialpolitik an:Aufkündigung des Versicherungsprinzips und Verkür-zung des Sozialstaats auf eine bloße Almosenverteilung– Systemfürsorge und Bittsteller.
Johannes Singhammer
Metadaten/Kopzeile:
158 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Genau das wollen wir nicht. Wir wollen, daß der Staatauf die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeitanderer Rücksicht nimmt. Wir verstehen soziale Ge-rechtigkeit weitergehend auch als durchgehendes Ord-nungsprinzip unserer Gesellschaft mit Eigenverantwor-tung und echter Solidarität. Wer dieses Ordnungsprinzipjetzt zur Diskussion stellt – und das ist geschehen –, derwird die enormen Herausforderungen in der Rentenver-sicherung und auf dem Arbeitsmarkt nicht meistern,weil er die Solidarität der Leistungsfähigen mit den we-niger Leistungsfähigen beschädigt.
Diese rotgrüne Bundesregierung steht unter einemungeheuren Erwartungsdruck, den sie selbst gezielt her-beigeführt hat und dem sie jetzt nicht standhalten kann.Sie haben den Eindruck erweckt, jeder soll mehr in derTasche haben. Das einzige, was Sie noch nicht verspro-chen haben, ist, daß in Deutschland die Zahl der Regen-tage verringert wird.Die Regierungserklärung hat dabei einen uralten, ver-staubten roten Faden wieder aufgenommen. Umvertei-lung heißt das Zauberwort statt echter volkswirtschaftli-cher Zugewinn. Umverteilung schafft aber nur Arbeits-plätze in der Bürokratie und bewegt nichts auf dem Ar-beitsmarkt.
Im Gegenteil: Umverteilung bedeutet Arbeitsplatzge-fährdung. Umverteilung der Arbeit von Älteren auf Jün-gere. 60jährige, so wollen Sie es, sollen an ihremSchreibtisch und an der Werkbank Platz machen kön-nen. Ohne finanzielle Einbußen soll dies geschehen. Ar-beitnehmer und Arbeitgeber sollen bei Beiträgen undLohnzusatzkosten entlastet werden. Das klingt gut. Aberwer bezahlt denn das? Das Ausland garantiert nicht!Geldquelle Nummer eins soll der Tariffonds werden,statt Lohnnebenkosten eine lohnbezogene Umlage. Un-ter dem Strich für die Arbeitnehmer und die Betriebekeine Entlastung, sondern nur ein anderer Name für diegleichen Abzüge. Fragen Sie bei Norbert Blüm nach,welche Erfahrungen mit der Frühverrentung in bezugauf das Arbeitsplatzthema gemacht wurden! Die Er-wartungen, damit neue Arbeitsplätze zu schaffen, wer-den sich nicht erfüllen.Dafür wird die Ökosteuer, die eine reine Zusatzsteuerist, ebenfalls zur Gegenfinanzierung eingeführt. Das be-deutet – darauf ist hingewiesen worden –: Der Arbeit-nehmer soll für die tägliche Warmdusche 50 Pfennigmehr zahlen, und für Familien mit Kindern und fürRentner wird ein warmes Wohnzimmer im Winter teu-rer. Nach eigenen Berechnungen des Finanzministeri-ums, nicht des „Bayernkurier“
– der hätte es besser gemacht, richtig –, hat die soge-nannte Steuerreform für einen Vierpersonenhaushalt miteinem Jahreseinkommen von 70 000 DM brutto folgen-de Auswirkungen: Bei der Rentenversicherung ergibtsich eine Ersparnis von 280 DM, die Energiesteuer führtzu einer Belastung von 301 DM. Soweit das Finanzmi-nisterium. Das nenne ich Umverteilung nach unten.
Während sonst überall die Altersgrenze in den Indu-strieländern für den Eintritt in die Rente erhöht wird,verspricht nun die neue Bundesregierung, den Stein derWeisen und die Quadratur des Kreises neu erfunden zuhaben: Rente zum Nulltarif und das auch noch früher!Wer nicht zur Kenntnis nehmen will, daß immer längereAusbildungszeiten, immer kürzere Erwerbsbiographienund – Gott sei Dank – ein immer höheres Lebensalterbei Gesundheit und Rentenbezug auch bezahlt werdenmüssen, sagt nicht die Wahrheit und handelt intellektuellunredlich. Die Wahrheit heißt Umverteilung zu Lastender kommenden Generationen.
Und das lassen Sie mich auch noch sagen: Wer indieser Diskussion den Eindruck erweckt, ältere Arbeit-nehmer seien leichter wegzudrücken, dem fehlt es zu-dem an Respekt vor der Lebensleistung und der Lebens-erfahrung der Älteren. Mit 60 zählt man nicht zum altenEisen.
620-DM-Jobs. Es ist interessant, zu sehen, wie sichVersprechungen vor der Wahl mit dem, was Sie jetzt inIhrem Regierungsprogramm angekündigt haben, vertra-gen. Da gab es zum Beispiel auf dem Innovationskon-greß der SPD in Dortmund im Oktober 1997 die Aussa-ge des jetzigen Bundeskanzlers, er wolle diese Jobs aufhöchstens 10 Prozent in einem Unternehmen begrenzen.Im gleichen Jahr schrieb Oskar Lafontaine im Informa-tionsdienst der SPD „Intern“ – ich zitiere –: „Ein Wegwird die Befreiung der Arbeitnehmer und Arbeitgebervon Sozialversicherungsbeiträgen für geringbezahlteArbeiten sein.“ Was steht nun in Ihrer Regierungserklä-rung? Sie sprechen dort von einer Grenze von 300 DM,von der an Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werdenmüssen.Nun gebe ich zu, daß auch wir uns bei der Diskus-sion, wie wir eine optimale Lösung finden, sehr schwer-getan haben. Aber eines muß ich hinzufügen: Das, wasSie jetzt vorhaben, nämlich daß Sie diese zusätzlichenEinnahmen in Höhe von 2,1 Milliarden DM in Form ei-ner Gegenfinanzierung mit anderen Entlastungen ver-rechnen wollen, wird nicht aufgehen, weil Sie damit imVersicherungsbereich ein Zweiklassensystem schaffen,und zwar zum einen eine nur geringe Rentenanwart-schaft und zum anderen keinen Schutz im Falle einerErwerbsminderung. Die Folge wird ein massenhaftesAbdriften in die Schwarzarbeit sein. Die geplantenMehreinnahmen werden sich als Luftbuchungen erwei-sen.
Johannes Singhammer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 159
(C)
(D)
Für uns ist der Mensch Mitte und Maß einer zu-kunftsgerechten Sozialpolitik. Unter sozialer Gerechtig-keit verstehen wir nicht eine unablässige Umverteilungals Heilsversprechen, sondern die Befähigung der Men-schen in unserem Land, aus eigener Kraft ihre Fähig-keiten und Möglichkeiten zu entfalten. Eine sozial ge-rechte Politik sollte so eingerichtet sein, daß sie nichtdas Übel, dem sie begegnen will, verewigt, sondernHeilung von den Wurzeln her anstrebt. Deshalb wollenwir die Eigenverantwortung fördern. Jeder, der von derGemeinschaft eine Leistung erwartet, muß auch selbstim Rahmen seiner Möglichkeiten eine Leistung für dieGemeinschaft erbringen.
Dabei dürfen wir nicht diejenigen vergessen, denen aufGrund von Behinderungen oder Handicaps eine umfas-sende Teilhabe nicht möglich ist. Ihnen muß zuallererstgeholfen werden. Diese Mitmenschen haben unsere ganzbesondere Solidarität.
Nur Umverteilung von Arbeitsplätzen, Umverteilungvon Alt auf Jung bzw. von Jung auf Alt, Umverteilungvon der rechten in die linke Hosentasche, schafft wedermehr soziale Gerechtigkeit noch mehr Arbeitsplätze,weil die Leistungsbereitschaft auf der Strecke bleibt.
Wir brauchen in Deutschland weder eine Koalitionnoch ein Bündnis für Umverteilung, sondern ein Bünd-nis für mehr Leistungsbereitschaft, für mehr Ermutigungund für mehr echt verstandene Solidarität.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Adolf Ostertag.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Endlich haben wir hier indiesem Parlament eine neue Mehrheit, eine neue Regie-rung und auch einen neuen Arbeitsminister.
Das muß man zu Beginn dieser neuen Legislaturperiodenoch einmal deutlich hervorheben, wenn man über Sozi-alpolitik spricht.Denn ich erinnere mich sehr genau an meinen erstenDebattenbeitrag in diesem Parlament vor acht Jahrenzum Thema Arbeitsmarktpolitik. Das betraf eine Kon-troverse mit dem damaligen Arbeitsminister, HerrnBlüm.
Es ging, wie in den letzten acht Jahren ständig, um Kür-zungsabsichten, die auch durchgesetzt wurden, um eineNovellierung des Arbeitsförderungsrechts. Ich nehmean, wir werden in den nächsten Jahren ganz andere De-batten führen müssen. Darauf freue ich mich und – da-von gehe ich aus – sicherlich auch die neue Mehrheit indiesem Parlament.
Meine Damen und Herren, gestern hat der neue Op-positionsführer – dazu gratuliere ich Herrn Schäubleausdrücklich – in seiner Rede ausgeführt, er und dieehemalige Regierung würden ein wohlbestelltes Haushinterlassen.
Wo ist denn dieses wohlbestellte Haus? Wenn ich mirden sozial- und den finanzpolitischen Bereich anschaue,dann muß ich feststellen, daß in den letzten Jahren in dieStützmauern unseres sozialen Rechtsstaates erheblicheBreschen geschlagen worden sind. Die alte Regierunghat ständig in einer einseitigen, neoliberalen Angebots-politik soziale Schutzrechte abgebaut und das sozialeNetz der Bundesrepublik grobmaschiger gemacht. Aufdie versprochenen Arbeitsplätze, wie Sie das hier imPlenum 16 Jahre lang immer wieder beschworen haben,haben die Menschen vergeblich gewartet. Die alte Bun-desregierung hat die Massenarbeitslosigkeit kurzerhandzum Problem der Arbeitslosen erklärt. Sie hat dieLohnersatzleistungen zusammengestrichen und kräftigan der Zumutbarkeitsschraube gedreht. Als wenn zu-sätzlicher Druck auf arbeitslose Bedürftige das zentraleProblem von rund 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzenlösen könnte! Wir wissen: Es ist durch diese Politiknicht gelöst worden.Die Folgen der Politik sind überall sichtbar. Seit 1992sind rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen– auch wenn Sie gegenwärtig davon reden, was im letz-ten Jahr im Zusammenhang mit dem Rückgang der Ar-beitslosigkeit aufgebaut worden sei;
darauf komme ich noch zu sprechen. 2,5 Millionen ver-lorene Arbeitsplätze seit 1992, und die registrierte Ar-beitslosigkeit nahm in den letzten vier Jahren um21 Prozent zu. Wo ist denn da ein wohlbestelltes Haushinterlassen worden?
In dem Zeitraum einer Legislaturperiode sind dieMittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik um 24 Prozentgekürzt worden. Das, was Sie vor der Wahl noch ge-macht haben, war wirklich nur ein ABM-Strohfeuer,mehr nicht. Wir sind nicht dagegen gewesen, aber wirhaben es immer als Strohfeuer gebrandmarkt. Wir wer-den die Arbeitsmarktpolitik sowohl finanziell als auch inder Umsetzung auf eine solide Basis bringen.Gleichzeitig hat die Unordnung auf dem Arbeitsmarktin der Tat katastrophale Ausmaße angenommen. Die620-DM-Jobs, die Scheinselbständigkeit und die ille-galen Beschäftigungsverhältnisse sind nach wie vorauf dem Vormarsch. Hier gibt es die ersten Ansatz-punkte für unser konkretes Handeln.Johannes Singhammer
Metadaten/Kopzeile:
160 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Erinnern Sie sich an die Debatten, als es um dasSchlechtwettergeld auf dem Bau ging, als es um dieEntsenderegelung ging? Da haben Sie doch ständigversucht, nur kleine Reparaturen vorzunehmen, mit derFolge, daß die Arbeitslosenversicherung mehr zahlenmußte und die Bauarbeiter auf die Straße gesetzt wordensind.
Sie haben das, was die Opposition damals an Vorschlä-gen eingebracht hat, nicht begriffen.Die Sozialhilfe, die schon lange nicht mehr allein derÜberwindung besonderer Notlagen dient, ist zum Le-bensschicksal von immer mehr Menschen geworden. In-zwischen sind fast 40 Prozent der Menschen, die vonSozialhilfe leben, Kinder. Die junge ehemalige Fami-lienministerin hat das wohl nur aus den Wolken gese-hen, wenn sie mit der Flugbereitschaft unterwegs war.
Sie wollte nicht wahrhaben, wieviel Armut es bei Kin-dern und bei Familien in diesem Land gibt.Sie haben nicht einmal – Herr Singhammer, dasrichte ich auch an Sie – die wenigen zwischen Ihrer undunserer Partei verabredeten Korrekturen bei der Pflege-versicherung in der letzten Legislaturperiode mitdurchgebracht, weil der Koalitionspartner blockiert hat.Daher, glaube ich, ist es sehr scheinheilig, dieses Themaheute auf die Tagesordnung zu bringen. Sie haben nichteinmal die kleinsten Korrekturen gemacht, und nunbringen Sie plötzlich Forderungen ein.
Es ist zu fragen: Wo soll man dieses wohlbestellteHaus vorfinden, wenn man insbesondere die Sozialpoli-tik in diesem Land betrachtet? Mir scheint, die ehemalsRegierenden haben die gesellschaftlichen Realitäten ausden Augen verloren. Schön reden, schlecht handeln –das war doch die Devise von Helmut Kohl und seinenMinistern, wenn es um die Sozialpolitik ging.
Als das „Bündnis für Arbeit“ von Klaus Zwickel,dem IG-Metall-Vorsitzenden, vorgeschlagen wurde,gingen Sie zum Schein darauf ein. Das Ergebnis war ei-ne schöne Absichtserklärung, die schon kurze Zeit spä-ter, nach der gewonnenen Landtagswahl, nur noch Ma-kulatur war. Statt dessen bekamen die Gewerkschaftenund die Arbeitnehmer das 50-Punkte-Programm serviert– deutlicher gesagt: ins Gesicht geschlagen. Auf dieausgestreckte Hand wurde in der Tat mit einem Horror-katalog geantwortet.Die Bündnisvereinbarung vom Januar 1996 dientenur dazu, vom ehemaligen Arbeitsminister ständig wieeine Monstranz vor sich her getragen zu werden. Siewurde aber nicht umgesetzt, was eigentlich die Aufgabeder Regierung gewesen wäre; sie hat es lange genug ver-sprochen.Ebenso war es mit der Halbierung der Arbeitslosig-keit bis zum Jahr 2000. Dieses Thema hat noch bis vorgut einem Jahr dieses Parlament ständig bewegt. DerKanzler hat sich als letzter davon verabschiedet, alslängst niemand, auch aus seiner eigenen Fraktion, mehrdaran glaubte.Mit leeren Sprüchen konnte die Regierung Kohl auchbei den Menschen in diesem Land nicht mehr landen.Ihre Taten waren etwas anderes als das, was Sie ver-sprachen. Deswegen haben Sie am 27. September dieQuittung bekommen.Heute stellen sich die neuen Oppositionsredner hierhin und wollen kaum etwas davon wissen, was sie über16 Jahre lang getan haben. Das ist schon dreist, das istschon ziemlich unverfroren.
Als Herr Kues hier gesprochen hat, habe ich mir dieFrage gestellt: Wo ist eigentlich Geißler? Wo ist einStück Wahrhaftigkeit in der Politik, die man von einerchristlichen Partei wahrlich verlangen kann?
Herr Kues wirft uns vor, wir wollten abkassieren.Wer hat denn in den letzten Jahren abkassiert? Vor allenDingen: Wo ist abkassiert worden in diesem Land? HerrKues sagte, den Zahlungen stünden keine Leistungengegenüber. Wenn Sie die Politik meinen, die Sie betrie-ben haben, dann haben Sie allerdings recht; dem mußich voll zustimmen. Sie haben auch gesagt, Ihre Regie-rung habe den Mut gehabt, den Arbeitsmarkt nachhaltigzu regeln. Wie zu regeln? Was haben Sie denn geregelt?Ich habe eben einige Punkte genannt. Sie haben deregu-liert und Unordnung geschaffen: Wir haben 5,6 Millio-nen 620-DM-Jobs, wir haben 1 Million Scheinselbstän-dige, wir haben 100 000 illegal Beschäftigte. Ist es das,was Sie geregelt haben in diesem Land? Wildwuchs istentstanden, und gegen den müssen wir angehen.
Frau Schwaetzer hat hier davon gesprochen, daß dieInteressen der Bürger zum Maßstab der Politik gemachtwerden sollten. Meinen Sie Ihre Klientelpolitik, die Siebisher betrieben haben? Zu den 620-DM-Jobs ist bereitsetwas gesagt worden. Sie haben nicht für diese5,6 Millionen Menschen, die einen solchen Job habenund von denen 70 Prozent Frauen sind, etwas in diesemParlament getan, Sie haben nur für Ihre Klientel, die Ar-beitgeber, etwas getan; und diese betreiben durch dieseJobs eine wirklich üble Ausbeutung.
An Herrn Laumann möchte ich auch noch einigeWorte richten, denn er hat sich hier zum großen Kämp-fer für das Versicherungsprinzip aufgespielt. HerrLaumann, ich empfehle Ihnen, die Koalitionsvereinba-rung zu lesen. Dann werden Sie erfahren, was darinsteht.
Adolf Ostertag
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 161
(C)
(D)
Ich glaube nicht, daß sich diese Regierung vom Versi-cherungsprinzip verabschiedet. Ich empfehle Ihnen alsonoch ein bißchen Lektüre für die nächsten Tage, bevorwir im Ausschuß in die Einzelheiten gehen.Meine Damen und Herren, diese Regierung und dieseneue Mehrheit im Parlament treten an, um das angeblichwohlbestellte Haus hinsichtlich einer ganzen Reihe vonPunkten innerhalb der Sozialpolitik instand zu setzen.Die wesentlichen Punkte sind hier genannt worden; dar-auf möchte ich nicht mehr eingehen.Wir haben im Wahlkampf millionenfach Scheckkar-ten verteilt und die Menschen gebeten: Heben Sie diegut auf! Darauf stehen neun gute Gründe, uns zu wäh-len. – Diese sind zum Teil schon genannt worden, zumBeispiel das Programm zur Bekämpfung der Jugendar-beitslosigkeit, die Rücknahme der sozialen Grausam-keiten gegenüber Millionen von Arbeitnehmern beimKündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung und das„Bündnis für Arbeit“. Einen Punkt, den zehnten, habenwir sozusagen schon abgehakt.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Der hieß nämlich: Helmut
Kohl. Nun ist er nicht mehr Kanzler, und darauf sind wir
stolz. Von daher bin ich der Meinung, daß wir das, was
wir uns vorgenommen haben, anpacken können. Diese
Koalitionsfraktionen werden die Regierung dabei mit
kritischer Solidarität begleiten. Ich glaube, die Men-
schen im Land können sich darauf verlassen, daß es ei-
nen Aufbruch gibt und daß wir das, was wir versprochen
haben, auch einlösen werden.
Vielen Dank.
Herr Kollege,
der Kollege Laumann wollte eine Zwischenfrage stellen.
Es handelt sich nunmehr um eine Nachfrage. Möchten
Sie diese noch beantworten?
Selbstverständlich.
Bitte.
Lieber Kollege
Adi Ostertag, ich freue mich, daß Sie mich loben, weil
ich die Idee der Sozialversicherung kämpferisch vertre-
te. Ich habe schließlich nicht geglaubt, daß ich das hier
einmal tun muß.
Ich möchte Sie einmal um Ihre Meinung fragen. Was
halten Sie denn in diesem Zusammenhang von den Mei-
nungsäußerungen des Herrn Lafontaine, bei der Pflege
und der Arbeitslosigkeit das Bedürftigkeitsprinzip einzu-
führen? Wo sind denn Ihre kraftvollen Erklärungen zu
diesem Thema? Auch Sie wissen doch, daß Ihr Wirt-
schaftsminister, Herr Müller, das alles befürwortet und
diese Idee für ganz richtig hält. Ihr Finanzminister erhält
großes Lob von der deutschen Arbeitgeberseite. Das
sind Dinge, zu denen ich den Gewerkschaftsflügel der
SPD in den letzten Tagen überhaupt nicht vernommen
habe.
Herr Laumann, vor Jahren ist
Herr Blüm mit einem langen Besenstil herumgelaufen
und hat Plakate mit der Aufschrift „Die Rente ist sicher“
geklebt.
Ihre Fraktion hat hier über Jahre hinweg eine Verun-
sicherung bei den Menschen heraufbeschworen.
Letzten Endes hat dies dazu geführt, daß Sie die Renten
gekürzt haben.
Das, was unser Parteivorsitzender auf dem Parteitag
als eine Aufforderung an die Partei zu diskutieren ein-
gebracht hat, ist eigentlich nicht zu verwerfen, sondern
ein Angebot – –
– Ja natürlich. Überlegen Sie doch einmal, was Ihr jetzi-
ger Parteivorsitzender, als er es noch nicht war, in Ihre
Partei eingebracht hat, zum Beispiel minimale Ansätze
einer ökologischen Steuerreform. Aber er durfte noch
nicht einmal darüber diskutieren.
Wir werden in der Partei darüber diskutieren; auch das
gehört zur Wahrhaftigkeit.
– Ich bin jetzt dran, Herr Laumann.
Man muß die Behandlung politischer Themen durch-
halten. Sie werden mitbekommen haben, daß wir im
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vor sieben, acht
Jahren, als die SPD ihre ersten Positionspapiere zur
Pflegeversicherung eingebracht hatte, heftig darüber ge-
stritten haben, ob man die Pflegeversicherung aus Steu-
ermitteln finanzieren soll oder ob man sie als ein Versi-
cherungssystem ausgestaltet. Das wissen Sie genauso
wie ich; also seien Sie nicht so scheinheilig.
Damit ist dieAussprache zu diesem Themenkomplex beendet.Wir setzen die Aussprache zur Regierungserklärungnun mit dem Thema Gesundheit fort.Adolf Ostertag
Metadaten/Kopzeile:
162 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Soli-darität in der gesetzlichen Krankenversiche-rung– Drucksache 14/24 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und JugendIch eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Wolfgang Lohmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich jaum eine verbundene Debatte. Deswegen darf ich viel-leicht noch einen Satz an meinen Vorredner richten.Herr Kollege Ostertag, ich finde, es ist ein großartigerAuftakt zu dem vom Bundeskanzler angekündigten„Bündnis für Arbeit“, wenn Sie hier unverhohlen Be-griffe wie „Ausbeutung durch die Arbeitgeberschaft“ inden Raum stellen. Da kann man für die demnächst lau-fenden Verhandlungen nur viel Vergnügen wünschen.
– Ja, ich habe zugehört.Sie haben die Frage gestellt: Wo ist denn das wohlbe-stellte Haus? – Die kann ich Ihnen beantworten. Dieseswohlbestellte Haus finden Sie im Bereich der Gesund-heitspolitik.
In der Gesundheitspolitik heißen sechs Jahre Bundesmi-nister Horst Seehofer: sechs Jahre Beitragssatzstabilität,
keine weitere Steigerung der Belastung der Arbeitsko-sten, die weitere Zur-Verfügung-Stellung des medizi-nisch Notwendigen, aber auch das Einfordern von mehrEigenverantwortung, die ja Ihr Bundeskanzler immerauf seine Fahnen geschrieben hat.Nun hat ja, Frau Ministerin – Sie sprechen gleich –,jeder das Recht auf 100 Tage Schonzeit. Ich muß jetztschon ein wenig das vorwegnehmen, was Sie gleich sa-gen werden. Das weiß man ja so in etwa!
Ich meine sehr wohl, die Schonzeit müßte man Ihnengewähren. Zudem ist im Bereich der Gesundheitspolitikeine lange Einarbeitungszeit unverzichtbar, weil dieProblematik so schwierig ist. Es geht immerhin um über4 Millionen Menschen, deren Arbeitsplätze in diesemBereich sind. Es werden 500 Milliarden DM umgesetzt,allein 270 Milliarden DM in der gesetzlichen Kranken-versicherung. Deswegen muß nach unserer Auffassungjede gesetzliche Änderung wohlüberlegt sein.Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern gesagt – ichzitiere das –: Auch im Gesundheitswesen reichen dieheute zur Verfügung stehenden Finanzmittel für einequalitativ hochwertige Versorgung aus. – Glauben Siedas wirklich selbst?
Wenn Sie an die Überalterung der Bevölkerung, die me-dizinisch-technische Entwicklung, die Multimorbidität,die Erwartungshaltung der Bevölkerung denken, dannwerden Sie leicht einsehen: Alles das wird auch aufDauer mehr Geld kosten. Wenn Sie dann sagen, daß Siedas sektoral oder global budgetieren wollen, dann führenSie – Ihr zweiter Satz in diesem Zusammenhang lautete:Nicht die Rationierung in der gesetzlichen Krankenver-sicherung ist der richtige Weg, sondern die Rationalisie-rung – die gesetzliche Krankenversicherung in die Ra-tionierung.
Ich will ein paar Beispiele nennen; für mehr Beispielereicht die Zeit heute nicht. Beginnen will ich mit demKrankenhausnotopfer. Ist es denn die alte Regierunggewesen, die daran schuld hat, daß bis auf die rühmlicheAusnahme Bayerns alle Bundesländer die Instandhal-tungskosten nicht mehr übernommen haben? Die Kran-kenkassen konnten es ebenfalls nicht bezahlen. DieKrankenhäuser saßen zwischen den Stühlen. Wir habendas Problem beseitigt. Die Einführung des Notopfers derberühmten 20 DM ist uns schwergefallen, aber es mußtesein. Denn die Substanz der Krankenhäuser durfte nichtweiter verrotten; und das nur deswegen, weil die Bun-desländer nicht mehr bereit waren, diese Kosten weiterzu tragen – bis auf Bayern, wohlgemerkt.
Jetzt wollen Sie das Festzuschußsystem beim Zahn-ersatz wieder einführen. Das soll soziale Gerechtigkeitsein? Früher war es doch so: Diejenigen, die sich einenhöherwertigen Zahnersatz leisten konnten, verursachteneinen wesentlich tieferen Griff in die Sozialkasse, weiles ja eine prozentuale Bezuschussung gab. Wer gesagthat, ich habe nicht so viel, bei mir darf die Versorgungnur 4 000 DM kosten, der verursachte Kosten von2 000 DM. Wer sagte, mir können Sie deutlich besserenZahnersatz machen, der dann 8 000 DM kostete, der be-kam aus der Sozialkasse 4 000. Das heißt, diejenigen,die es sich leisten konnten, bekamen auch eine bessereVersorgung. Ist das soziale Gerechtigkeit? Wir meinten,nein. Deswegen haben wir Festzuschüsse auf hohem Ni-veau eingeführt. Damit kam das, was medizinisch not-wendig ist, allen zugute.
Sie haben uns nun über mehrere Jahre diffamiert mitder berühmten Frage der Zuzahlung bei Arzneimitteln.Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 163
(C)
(D)
Sie haben den Menschen eingeredet, die Zuzahlung seivon Übel, das habe mit Eigenverantwortung nichts zutun. Und was kommt dabei heraus? Statt 9, 11 und13 DM sollen es jetzt 8, 9 und 10 DM sein. Es wirddemnächst in den Apotheken ein „Sturm des Jubels“losbrechen, weil für das Arzneimittel nicht mehr 9, son-dern 8 DM zugezahlt werden müssen. Diese für den ein-zelnen marginale Entlastung macht in der Summe fürdie gesetzliche Krankenversicherung rund 1 MilliardeDM aus. Wir fragen Sie, wie Sie dies gegenfinanzierenwollen.Das Krankenhausnotopfer soll gestreckt oder abge-schafft werden. Somit fehlen rückwirkend für das Jahr1998 880 Millionen DM. Oder wollen Sie – denn zurGegenfinanzierung ist unter anderem vorgesehen, die620-Mark-Jobs sozial- und krankenversicherungspflich-tig zu machen – die Beitragszahler rückwirkend zur So-zialkasse bitten? Das wäre ja etwas ganz Neues; bisjetzt habe ich nichts derartiges gelesen. Also fehlen,Frau Ministerin, zumindest für dieses Jahr 880 Millio-nen DM.Zum Arzneimittelbudget: Ich habe immer geglaubt,Herr Kollege Dreßler, nach dem Gesundheitsstrukturge-setz, nach der dreijährigen Budgetierung – später wurdesogar ein viertes Jahr angehängt – hätten alle, auch Sie,die neue Regierung, eingesehen, daß Budgetierung, vorallem die sektorale Budgetierung, ins Elend führt. Ange-sichts der dynamischen Entwicklung im Gesundheitsbe-reich kann Budgetierung nicht der Gedanke der Zukunftsein. Sie kehren dennoch dahin zurück. Spätestens imHerbst nächsten Jahres werden Sie sich mit der Frageder Rationierung auseinandersetzen müssen. Das ist garkeine Frage.
Dann werden all die auf der Matte stehen, denen Sieentweder abverlangen, Leistungen zu erbringen, ohnedafür Geld zu bekommen, oder denen Sie die Leistun-gen, die sie vorher bekommen haben, entziehen wollen.Das wird die Folge Ihrer Politik sein.Aber Sie müssen die Wahlgeschenke, die Sie ver-sprochen haben, schnell umsetzen – zumindest noch an-fangs. Später, wenn Sie die Strukturreform angehen, vonder Sie gesprochen haben, werden Sie hoffen, daß man-ches in Vergessenheit geraten sein wird.Wer sind nun die Finanziers dieser Versprechungenund Wahlgeschenke? Erstens sind es die Leistungser-bringer. Budgetierung heißt: Fallbeil herunter, keinemüde Mark mehr! All das, was wir überwunden glaub-ten, wird wiederkommen. Das gilt zum Beispiel für dendramatisch verfallenden Punktwert: Die freien Berufewerden gezwungen, ihre Leistungen zu einem Zeitpunktzu erbringen, an dem sie gar nicht wissen, was sie späterdafür bekommen werden, weil der Punktwert inzwi-schen verfallen ist.Zweitens soll die pharmazeutische Industrie zah-len: Die Festbeträge sollen gesenkt werden. Mit einemFederstrich werden Erträge abgeschöpft. Sie haben an-scheinend nicht gemerkt, Frau Ministerin, daß nach demGesundheitsstrukturgesetz in diesem Bereich, der phar-mazeutischen Versorgung, wirklich die Schularbeitengemacht wurden: Preissenkung um 5 Prozent, Einfüh-rung von Festbeträgen – all das hat dazu geführt, daß dieUmsätze der gesetzlichen Krankenversicherung nochheute unter den Umsätzen von 1992 liegen. Das habenSie anscheinend übersehen, oder Sie wollen es nicht se-hen. In seiner ideologischen Verblendung sieht auchHerr Ostertag dies nicht.Schließlich sollen – ich habe es eben schon gesagt –ausgerechnet die Geringverdiener die Finanziers IhrerWahlgeschenke werden.
Die „Hannoversche Allgemeine“ schreibt schon heutemorgen: Statt von einem Notopfer für Krankenhäuserwird man künftig von einem „Notopfer von Geringver-dienern“ sprechen.
Ich fasse zusammen: Ihr Erstlingswerk, Frau Fischer– auch wenn ich persönliche Sympathie für Sie nicht be-streiten kann –, ist nicht gelungen. Denn Ihre Formulie-rungsvorschläge für das Gesetz, das ich jetzt hier kriti-siere, gefährden die Beitragssatzstabilität und damitauch die Arbeitsplätze in diesem Bereich sozialerDienstleistungen. Neue werden damit nicht geschaffen.Die qualitativ hochwertige Versorgung wird nicht mehrgewährleistet sein, wenn Sie nicht noch nachbessern.Das ist ja eines der beliebtesten Worte – vielleicht sogarUnworte – des Jahres 1998: Wir müssen noch nachbes-sern. Aber Vertrauen in unsere solidarische gesetzlicheKrankenversicherung schaffen Sie damit nicht. Leiderkein guter Start.
Das Wort hat
jetzt die Ministerin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die neueOpposition sucht offensichtlich noch nach ihrer Rolle:Gestern hat der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU unsNichtstun vorgeworfen. Andere aus Ihren Reihen sagen,das, was wir bislang vorgeschlagen hätten, sei irgendwiefalsch.
– Das ist eine sehr diplomatische Formulierung, HerrRepnik. Aber es hilft alles nichts: Ich finde, es hatdurchaus etwas Nickeliges, wie Sie darüber reden.
Ich halte fest: Das, was wir machen, machen wirrasch, insbesondere in der Gesundheitspolitik. Wir wol-len mit diesem Vorschaltgesetz die Bedingungen füreine große Gesundheitsreform schaffen, die Legitima-Wolfgang Lohmann
Metadaten/Kopzeile:
164 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
tion für die gesetzliche Krankenversicherung wiederher-stellen und das Preis-Leistungs-Verhältnis ins Lot brin-gen. Wir werben für Solidarität in der gesetzlichenKrankenversicherung, die wir erreichen wollen, indemwir die Belastungen gleichmäßiger verteilen, als das inden letzten Jahren geschehen ist.
Wäre ich an Ihrer Stelle: Mir würde es auch nicht ge-fallen, wenn eine neue Regierung käme und etliche vonden Dingen, worum die alte Regierung lange gerungenhat, einfach wieder rückgängig machen würde. Zumformvollendeten Hinnehmen einer Niederlage gehörtaber, zu erkennen, warum man eine Niederlage einstek-ken mußte. Ihre Gesundheitspolitik hat zu dieser Nie-derlage beigetragen. Dafür haben Sie die Quittung be-kommen.
Es war ganz offenkundig, daß sehr viele Menschenim Land den Eindruck hatten: Das, was ich für die Ver-sicherung zahlen muß, stimmt nicht mit dem überein,was man mir dafür gibt, vor allen Dingen dann nicht,wenn ich bedenke, wofür ich zusätzlich zahlen muß, seies in Form eines Notopfers, sei es in Form von Arznei-mittelzuzahlungen, sei es im Hinblick auf das Drama,das sich dieses Jahr in den Zahnarztpraxen abgespielthat.Ich finde, ein Punkt, den man unter symbolischen Ge-sichtspunkten nicht geringschätzen sollte, war die Bot-schaft: Alle, die nach 1978 geboren sind, werden niewieder in ihrem Leben Zahnersatz über die gesetzlicheKrankenversicherung bekommen. – Wir können vieldarüber reden, Herr Lohmann, daß die Möglichkeitender Prophylaxe verbessert worden sind und daß es Sinnmacht, diese in Zukunft durch Anreizsysteme noch ver-stärkt zu berücksichtigen; aber Sie können den jungenLeuten nicht vermitteln, daß eine Generation noch allesbekommt und die Generationen, die danach kommen,nicht mehr.
Das mag für Sie bitter sein. Aber die Wählerinnen undWähler haben einer Gesundheitspolitik, die sie als ent-solidarisierend und als privatisierend empfunden haben,die rote Karte gezeigt. Deswegen meine ich, Sie solltendiese Niederlage tapfer annehmen und zugeben, daß wirhier einiges machen müssen. Das ist nicht einfach nurdas wohlfeile Bedienen von Wahlversprechen; dahintersteckt vielmehr eine andere Logik: Wir wollen in derGesundheitspolitik neue Wege gehen.Natürlich ist es ein ehrgeiziges Vorhaben – HerrLohmann, da haben Sie völlig recht –, einen solchen Ge-setzentwurf innerhalb weniger Tage vorzubereiten. Aberwenn ich meinem Vorgänger dieses Kompliment ma-chen darf: Das Bundesgesundheitsministerium verfügtüber viele ausgesprochen kompetente Mitarbeiter, mitderen Hilfe ich und die Fraktionen der Bündnisgrünenund der SPD in den letzten Tagen an diesem Entwurfgearbeitet haben. Tun Sie nicht so, als könnten Sie dieTatsache, daß ich bislang keine anerkannte Gesund-heitsexpertin gewesen bin, zum wohlfeilen Argumentgegen das Gesetz nehmen. Das halte ich für ein Argu-ment, das Ihrer nicht würdig ist.
Wir haben hier einen handwerklich soliden Entwurfvorgelegt, der durch die Zusammenarbeit der beidenKoalitionsfraktionen entstanden ist. Wir haben uns inder Beratung dieses Gesetzentwurfes im äußersten Maßebeschränkt, nämlich auf genau das, was in den Koaliti-onsverhandlungen als die notwendigsten Maßnahmen,die bis Ende dieses Jahres durchgeführt werden sollen,festgelegt worden war: Wiederherstellung der Solidari-tät und Gewährleistung von Beitragssatzstabilität. DieBeitragssatzstabilität ist von sehr großer Bedeutung. Diewirklich sehr begrüßenswerte und unmittelbar notwen-dige Senkung der Rentenversicherungsbeiträge durchdie Steuerreform soll und wird von den Krankenversi-cherungsbeiträgen nicht aufgefressen, nicht negativ be-einträchtigt werden. Deswegen ist die Stabilität der Bei-tragssätze in der GKV auch bei diesem Vorschaltgesetzein ganz wichtiges Ziel.
Viele, die mir in den letzten Tagen gratuliert haben,haben mich vor diesem Amt gewarnt. Da fielen die be-eindruckendsten Worte, von denen das „Haifischbek-ken“ fast noch eines der harmlosen ist. Gleichwohl wür-de ich nach den ersten Erfahrungen sagen: Diese War-nungen waren alle weit untertrieben.
Mir sind inzwischen schon wirklich beachtlich vieleFehdehandschuhe hingeworfen worden, noch bevorüberhaupt ein Gesetzentwurf vorlag. Sie dürfen sichersein: Die nehme ich alle auf, versehe sie mit Namen undlege sie schön fein in einen Schrank. Wie Sie mich ken-nen, gehe ich keinem Streit aus dem Weg.Trotzdem, ganz im Ernst: Ich setze weiterhin aufDialog und darauf, daß es dem deutschen Gesundheits-wesen nicht gut tut, wenn alle weiterhin in den Gräben,die sie sich seit Jahrzehnten gegraben haben, sitzen blei-ben und von vornherein mit großen Kanonen schießen.
Ich bin ganz fest davon überzeugt, daß es im deutschenGesundheitswesen sehr viele Menschen gibt, die bereitsind, sich auf einen solchen Dialog einzulassen, die be-reit sind zu Reformen, die unter der Zielsetzung desGemeinwohls stehen und nicht unter der ZielsetzungBundesministerin Andrea Fischer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 165
(C)
(D)
„Ich will am Ende mehr haben“. Auf diese Menschensetze ich, sie lade ich zu Reformen ein.
Ich glaube, die, die mir jetzt diese Fehdehandschuhehingeworfen haben, gibt es auch in vielen der Verbände.Ich kann nur sagen: Es hat einen Vorteil, nicht schonlange in irgendeinem dieser Gräben gesessen zu haben.Vor diesem Hintergrund freue ich mich auf das Ge-spräch mit allen am Gesundheitswesen Beteiligten.Vielleicht ist es ja doch möglich, da einen neuen Stileinzuführen.
Ich will am Anfang einmal darstellen, was überhauptin dem von Ihnen schon jetzt inkriminierten Gesetzsteht.Ja, wir wollen die Zuzahlungen zurückführen, insbe-sondere die für Arzneimittel. Da haben wir wieder dieberühmte Frage: Ist das nun viel oder wenig? Da kannman sagen – ich vermute, die PDS wird das gleich tun –:Das ist aber ein kleiner Schritt; ihr müßt sie viel weiterzurückführen. Die CDU sagt: Wenn ihr unsere Zuzah-lungen nur so wenig zurückführt, waren sie wohl nichtso schlimm.
– Ich bin nicht das Weltkind in der Mitten. Vielmehrgeht es um Beitragssatzstabilität; davon habe ich geradegesprochen.
Es ist doch nicht so, als könnten wir das Geld in der ge-setzlichen Krankenversicherung drucken. – Entschuldi-gung, eine Entlastung der Versicherten um gut 800 Mil-lionen DM ist nicht nichts. Wenn man gleichzeitig Bei-tragssatzstabilität will, muß man darauf achten, daß mansich bei der Rückführung der Zuzahlungen in einemRahmen bewegt, der insgesamt für das System vertret-bar ist. Ich finde, das haben wir getan.
Noch dazu können wir für uns in Anspruch nehmen,daß sich die überproportionale Entlastung bei den gro-ßen Packungen besonders zugunsten von chronischKranken und Älteren auswirkt. Dazu kommt, daß wirdie Befreiungsregelung für die chronisch Kranken deut-lich verbessert haben. Das halte ich nun wirklich für eingelungenes Beispiel zielführender Sozialpolitik, die wiranstreben.
Ich könnte mir auch weitergehende Rückführungenvorstellen. Aber wir nehmen das Ziel der Beitragssatz-stabilität sehr ernst. Wir führen auch noch andere Bela-stungen zurück, die die Versicherten zum Teil noch garnicht gespürt haben, weil sie erst im nächsten Jahr inKraft getreten wären: die Dynamisierung der Zuzahlun-gen, die Psychotherapeutenzuzahlungen, die Koppelungder Beitragssatzerhöhung einer Kasse an eine Zuzah-lungserhöhung. Die Entscheidungen über die Einfüh-rung dieser Regelungen in der gesetzlichen Krankenver-sicherung bedürfen dringend einer Korrektur.Nun haben Sie gesagt, das Krankenhausnotopferhätten auch Sie nicht gern eingeführt. Trotzdem könntenwir es jetzt nicht abschaffen. – Herr Lohmann, wenn andiesem Krankenhausnotopfer irgend etwas zu lernenwar, dann dies: daß Sie da ganz offensichtlich den Bo-gen überspannt hatten. Es ging zum Schluß gar nichtmehr um die 20 DM. Vielmehr hatten die Leute die Fa-xen dicke davon, noch einmal zahlen zu müssen, obwohlsie jeden Monat fast 14 Prozent Beiträge zahlen.
Wir haben an diesem Punkt die Krankenkassen aufunserer Seite. Es ist ja nicht so, daß nur Sie rechnenkönnten, Herr Lohmann, die Krankenkassen aber nicht.Wir haben die Kassen bei diesem Vorhaben auch des-wegen auf unserer Seite, weil sie diejenigen waren, dieden Ärger abbekommen haben, der eigentlich die alteBundesregierung hätte treffen müssen. Die Krankenkas-sen haben feststellen können, daß das Verhältnis vonAufwand und Geld, das man dadurch tatsächlich in dieKassen bekommt, nicht mehr angemessen ist und daßdamit die Verwaltungskosten für diese Maßnahme einAusmaß erreicht haben, das diese Maßnahme einfachsinnlos erscheinen ließ. Es stellt sich also die Frage, obdas Geld, das Sie für 1998 buchhalterisch eingeplant ha-ben, überhaupt in die Kassen gekommen wäre. Deswe-gen weise ich Ihren Vorwurf zurück.
Wir haben auch Privatisierungselemente in der ge-setzlichen Krankenkasse zurückgenommen. Nun gilt jaPrivatisierung per se als modern. Gleichwohl muß mandazu sagen: Der Sinn einer gesetzlichen Krankenversi-cherung besteht darin, Solidarität zu organisieren, näm-lich die zwischen Kranken und Gesunden, die zwischenAlten und Jungen, die zwischen Familien mit Kindernund ohne Kinder und die zwischen Leuten mit hohenund niedrigen Einkommen. In diesem Sinne bekenne ichmich dazu, ausgesprochen altmodisch zu sein.Die Wirkung dieser Privatisierungselemente will ichhier nur an dem Punkt der Kostenerstattung beim Zahn-ersatz deutlich machen. Sie hat ganz offensichtlich nichtdazu geführt, daß es den Versicherten besser ging, daßsie besser versorgt worden wären und daß sie mehr Ver-trauen zu ihren Ärzten gewonnen hätten, im Gegenteil:Der Umsatzrückgang in den Zahnarztpraxen von30 Prozent bis zum Teil 40 Prozent spricht eine beredteSprache, was mit diesen Privatisierungselementen beimZahnersatz angerichtet worden ist. Wenn wir das jetztauf das Prinzip der Sachleistung zurückführen wollen,Bundesministerin Andrea Fischer
Metadaten/Kopzeile:
166 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
dann wollen wir damit Frieden zwischen den Zahnärztenund den Versicherten herstellen. Wir wollen den Versi-cherten wieder Klarheit darüber geben, was sie beimZahnersatz erwartet und wie es funktioniert. Dies ist ei-ne sehr wichtige Maßnahme zur Stärkung der Solidaritätin der gesetzlichen Krankenversicherung.
Vor dem Hintergrund der Debatte, die wir heuteschon über die Pflegeversicherung hatten und in der soemphatisch die Sozialversicherung verteidigt wurde – man muß sich ja im Moment an vieles gewöhnen; aberdie Pflegeversicherung gehört jetzt zu meinen Zuständig-keiten –, höre ich dann den Vorwurf, daß wir die Ge-ringverdiener in die Sozialversicherung einbeziehenwollten. Das sei ein Abkassieren zugunsten der ausge-bluteten Kassen der Sozialversicherung. Ich glaube, damüssen Sie, meine Damen und Herren, Ihr Verhältniszur Sozialversicherung noch einmal ein bißchen klären.Es ist doch nicht wahr: Wir kassieren doch nicht ab, wirstecken uns das Geld doch nicht in die eigene Tascheund hauen damit nach Mallorca ab.
Aber mit dieser Art der Wortwahl erwecken Sie diesenEindruck. Wir reden hier über Solidarität. Eine Sozial-versicherung ist darauf angewiesen, daß die Menschensich an ihr beteiligen. Natürlich kann mir jeder einzelnesagen: Wenn ich keinen Beitrag zahle, geht es mir bes-ser, weil ich ja mehr Geld in der Tasche habe. Aber dasFree-Rider-Prinzip in der Sozialversicherung funktio-niert nur für das Individuum gut. Es funktioniert nichtfür das Kollektiv. Eine Sozialversicherung, aus der sichimmer mehr Menschen verabschieden, bedeutet, daß dieBeiträge für diejenigen, die in ihr bleiben, ständig stei-gen.
Deswegen finde ich es berechtigt, wenn wir sagen: EineSozialversicherung funktioniert nur, wenn wir uns allenach unserer Leistungsfähigkeit daran beteiligen.Jetzt noch einige Worte zu dem, was Sie geradeschon gesagt haben – das ist mir inzwischen auch schonreichlich untergekommen –, zur Frage der Ausgabenbe-grenzung in den verschiedenen Sektoren des Ge-sundheitswesens im nächsten Jahr. Herr Lohmann, dasdarf doch wohl nicht wahr sein, daß Sie sich hier hin-stellen und so tun, als würden wir den Leuten Geld weg-nehmen. Wir begrenzen im nächsten Jahr die Zuwächsein den einzelnen Sektoren. Das ist doch etwas völlig an-deres als die Behauptung, daß wir den Leuten etwaswegnehmen würden. Was erzählen Sie denn hier? Wirbegrenzen die Zuwächse der Umsätze in den verschie-denen Sektoren des Gesundheitswesens auf die zu er-wartende Lohnsteigerung des nächsten Jahres. Sie alsFreunde des freien Wirtschaftens müßten das dochklasse finden. Welche andere Gruppe in dieser Gesell-schaft hat sozusagen garantierte Umsatzzuwächse. Sieerwecken hier die ganze Zeit den Eindruck, als würdenwir den Leuten etwas wegnehmen. Das ist doch über-haupt nicht wahr.Wir haben zusätzlich – weil wir nicht geschichtsver-gessen sind und weil wir die Erfahrungen mit der Bud-getierung, die wir hinter uns haben, nicht vergessen ha-ben – hochdifferenzierte Regelungen für jeden der ein-zelnen Sektoren gefunden. Alle diejenigen, die sich jetztauch aus Interessensgründen darüber beklagen, fordereich auf: Schauen Sie sich genau an, was dort steht. Wirhaben uns die Situation in den einzelnen Bereichen – seies das Krankenhaus, sei es die ambulante Versorgung –jeweils ganz genau angeschaut und eine dafür jeweilspassende Regelung gefunden. Das ist unser Angebot,auch an die Leistungserbringer, von denen immer be-hauptet wird, daß wir ihnen einfach nur noch in die Ta-sche greifen wollten.
Wir begrenzen die Zuwächse der Ausgaben. Das ist et-was anderes als wegnehmen. Ich glaube, daß es sehrrichtig ist, wie wir das gemacht haben, nämlich maßvollund differenziert. Daß wir auf Dauer nicht eine sektora-le, sondern eine globale Begrenzung wollen, ist auchklar.Aber Sie wissen sehr gut, daß es dafür Bedingungenbraucht, die wir erst noch schaffen müssen.
Meine abschließenden Worte zu Pflegeversicherungund Krankenversicherung will ich aus Zeitgründen ineinem sagen. Was die Art und Weise angeht, in der Siedarüber reden, was es an Debatten über die Pflegeversi-cherung in den letzten Wochen gegeben habe: Mit Ver-laub, Sie haben uns immer vorgeworfen, wir seien re-formunwillig; Sie sind sogar schon diskussionsunwillig!
Der Finanzminister hat einige vollkommen richtigeFragen aufgeworfen, nämlich die Frage nach dem Ver-hältnis zwischen steuerfinanzierten und versicherungsfi-nanzierten, an den Arbeitskosten ausgerichteten Sozial-systemen, die Frage nach dem Verhältnis zwischen so-zialversicherungsrechtlich und staatlich definierten An-sprüchen und auch die Frage, ob wir eine zielgenauereSozialpolitik brauchen. Ich halte diese Fragen für be-rechtigt. Ich glaube, daß wir sie nicht mit einem Sy-stemwechsel beantworten können, weil sich die Dinge inder Sozialpolitik viel langsamer und schwerfälliger be-wegen lassen. Aber eine solche Debatte muß man dochführen.
Ich meine das auch im Hinblick auf die gesetzlicheKrankenversicherung. Dazu sage ich abschließendnoch einmal in eigener Sache: Ich weiß um all die vielengroßen Reformversuche, die es im GesundheitswesenBundesministerin Andrea Fischer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 167
(C)
(D)
gegeben hat. Glauben Sie nur nicht, daß ich, bloß weilich auf diesem Feld neu bin, so tun würde, als hätte esdas alles nicht gegeben, und daß ich das alles völlig un-befangen mache. Ich wehre mich aber gegen den Defä-tismus, der zum Teil von denjenigen ausgeht, die all die-se Versuche schon hinter sich haben und gesehen haben,wie schwierig das ist. Ich tue das nicht, weil ich naivund eine Anfängerin bin, sondern ich wehre mich ein-fach gegen die Art von Defätismus, weil jedes Sozialsy-stem – die gesetzliche Krankenversicherung, die Pflege-versicherung, die Rentenversicherung, was auch im-mer – ständig verändert werden muß.
Die Welt ändert sich: Die Arbeitswelt ändert sich, dieVerhältnisse im Gesundheitswesen haben sich deutlichverändert. Eine Reform ist also immer wieder notwen-dig. Ich bin der Auffassung, daß es dabei keine Tabusgeben darf.In diesem Sinne lade ich alle, denen daran liegt, daßwir die Zukunft unserer gesetzlichen Krankenversiche-rung sichern und ausbauen, in die Reformwerkstatt zueinem offenen Dialog ein, der nicht aus den Gräben her-aus, sondern auf gleicher Augenhöhe geführt wird.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Dieter Thomae.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzent-wurf knebelt sowohl die Patienten als auch die Lei-stungserbringer. Das werde ich Ihnen jetzt sehr deutlichsagen.
Mit diesem Gesetzentwurf täuschen Sie die Patien-ten. Sie glauben, Sie könnten den Patienten mit diesemGesetzentwurf entgegenkommen. Letztlich werden diePatienten sehr bald merken, daß sie von Ihnen getäuschtwerden.
Denn es müssen 2 Milliarden DM eingespart werden.Wo wird eingespart? In verschiedenen Bereichen: bei-spielsweise im ambulanten Bereich, im Krankenhausbe-reich, im zahnärztlichen Bereich, im Bereich des Arz-neimittelbudgets und bei den Heil- und Hilfsmitteln.Was bedeutet das? Sie sagen den Bürgern, sie bekämendie volle Leistung. Aber das Geld bleibt knapp. Dasheißt: Das Leistungs- und Qualitätsniveau, mit dem wirdas Gesundheitswesen bisher organisiert haben, wirdnicht erhalten bleiben. Es wird zur Rationierung undletztlich auch wieder zu Wartezeiten kommen.Sie sagen den chronisch Kranken, Sie nähmen sie vonden Zuzahlungen und den vielen Belastungen aus. Diealte Koalition hatte die Ein-Prozent-Regelung. Ihre Ver-einbarung ist aber viel brutaler: Sie führen beispielswei-se rigoros das Arzneimittelbudget und das Heilmittel-budget wieder ein. Wenn Sie das tun, bedeutet das, daßchronisch Kranke schlechter behandelt werden, weil beiinnovativen Produkten gespart wird.
Ich sage es sehr deutlich: Beispielsweise die Krebskran-ken und die chronisch Kranken wie Aids-Infizierte undandere sind durch das Arzneimittelbudget massiv betrof-fen. Dies werden Sie den chronisch Kranken recht balddeutlich sagen müssen.
– Lesen Sie nach, was Arzneimittelbudget bedeutet. Wirhatten den Mut, zu den Richtgrößen überzugehen. BeiRichtgrößen können wir die unterschiedlichen Patien-tengruppen genau differenzieren. Wir können bei denRichtgrößen genau sagen: Hier sind Krebspatienten, hiersind Aids-Patienten. Beim Arzneimittelbudget werdenSie dies nicht machen.Ein anderer entscheidender Punkt beim Arzneimittel-budget: Sie führen wieder die Globalhaftung der Ärzteein, und zwar in einem KV-Bereich. Sie treffen diejeni-gen, die Arzneimitteltherapie vernünftig betreiben, undandere, die großzügig damit umgehen. Halten Sie das ineiner modernen medizinischen Versorgung für einensinnvollen Weg? Ich kann Ihnen nur sagen: Sie werdengegen die Wand laufen.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Sie glauben, Sie könn-ten das Arztbudget fixieren. Haben Sie auch darübernachgedacht, wie das Arztbudget in den neuen Bundes-ländern aussieht? Haben Sie eine Differenzierung? –Nein! Wenn Sie sich um die Situation in den neuenBundesländern wirklich gekümmert hätten, dann hättenSie, Frau Minister, dieses Budget für Ärzte in West undOst nicht in gleichem Umfang fixiert; denn dies ist nichttragbar.
Sie wollen und werden mit diesem Budget die Freibe-ruflichkeit massiv beeinflussen.
Sie werden es schaffen, daß viele Ärzte durch die Fixie-rung des Arztbudgets nicht überleben. Vielleicht ist dasauch gewollt; denn es handelt sich um eine ideologischeFrage. Vielleicht wollen Sie die Freiberuflichkeit zu-rückfahren. Vielleicht wollen Sie das Krankenhaus mas-siv stärken. Wenn man die Ausnahmeregelungen, dieSie für das Krankenhaus fixiert haben, sieht, dann mußman glauben, daß Sie die Freiberuflichkeit zurückfah-ren, den freiberuflichen Arzt beseitigen, das GeschehenBundesministerin Andrea Fischer
Metadaten/Kopzeile:
168 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
stärker in das Krankenhaus verlagern und letztlich dasKrankenhaus für die ambulante Versorgung öffnenwollen. Ich sage Ihnen: Hier werden wir massiven Wi-derstand leisten; dies werden wir nicht akzeptieren.
Ich höre immer – auch in der Erklärung Ihres Kanz-lers –: Wir wollen Leistung belohnen. Wenn man dieFormulierung im Budget der Zahnärzte sieht, so stelltman eindeutig fest: Wer fleißig ist, der wird bestraft,seine Honorare werden massiv abgesenkt. Entweder Sieentscheiden sich und sagen: „Wir wollen, daß Leistungbelohnt wird“, dann müssen Sie dies auch in allen Be-reichen durchziehen, oder Sie müssen sagen: „Wir ma-chen Flickwerk“, dann weiß jeder, woran er ist. In derGesundheitspolitik ist Flickwerk auf den Weg gebrachtworden. Es ist so enttäuschend, daß Sie ein Konzept aufden Weg bringen, das uralt ist und aus der Mottenkistekommt. Das ist Planwirtschaft in höchster Potenz.
Sie werden damit scheitern. Sie glauben, Sie könntenmit der Budgetierung die Beitragssatzstabilität sichern.Ich sage Ihnen: Sie werden sie nicht sichern. Die Pati-enten werden recht bald merken, daß sie von Ihnen nichtehrlich behandelt werden – um mich zurückhaltend aus-zudrücken. Sie haben im Wahlkampf in verschiedenenBereichen die Unwahrheit gesagt.
Ich nenne nur ein Thema, den Kur- und Rehabilita-tionsbereich.Was haben Sie nicht alles versprochen, was Sie indiesem Bereich ändern würden! Nichts haben Sie ge-macht! Sie sind doch viel zu feige, dies zurückzuneh-men, weil Sie es nicht finanzieren können.
Ich erinnere daran, wie Sie durchs Land gezogen sindund in den Kurorten und im Reha-Bereich Versprechun-gen gemacht haben, die Sie überhaupt nicht halten kön-nen. Wenn ich eine solche Politik machen würde, dannwürde ich mich als F.D.P.-Mann schämen, weil ich vorder Wahl etwas versprochen hätte, was ich nach derWahl überhaupt nicht hätte halten können.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Nichts kennzeichnet glaubwürdigePolitik erfolgreicher als die auf die Ankündigung un-mittelbar folgende politische Maßnahme.
Wenn wir nämlich heute die Regierungserklärung desBundeskanzlers debattieren und zugleich in erster Le-sung Gesetzentwürfe einbringen, die die Ankündigun-gen aus der Regierungserklärung bereits umsetzen wol-len und sollen, dann beweist die neue Koalition damit,daß die Glaubwürdigkeit von Regierungsarbeit bei ihrwieder einen besonderen Rang erhält, meine Damen undHerren.
Wir demonstrieren ganz einfach: Ankündigungen folgenTaten.Die Koalitionsfraktionen haben sich für das kom-mende Jahr die Durchführung einer grundlegenden Re-form unseres Gesundheitswesens, insbesondere der ge-setzlichen Krankenversicherung, vorgenommen. Wirwerden dabei zum ursprünglichen politischen Reform-begriff zurückkehren. Während die alte Regierung ausCDU/CSU und F.D.P. unter Reformen im wesentlichendie Erhöhung von Belastungen für die Menschen nachdem Motto „weniger Leistungen für mehr Geld“ ver-standen hat,
macht die neue Koalition es wieder richtig: Wir werdendafür sorgen, daß es den Menschen nach den Reformenbesser geht, daß die Systeme besser funktionieren undleistungsfähiger werden als zuvor.
Meine Damen und Herren, eine grundlegende Reformhat Vorbedingungen, die erfüllt werden müssen. Soll siesorgfältig vorbereitet werden, benötigt sie Zeit. Es ist jageradezu eine Lachpille, Kollege Thomae, wenn Sie hiernach 14tägiger Amtszeit der neuen Bundesregierung er-klären, wir hätten Ihr Schlachtfeld im Rehabilitationsbe-reich noch nicht korrigiert. Seien Sie ganz beruhigt: Daswird mit den Betroffenen ordnungsgemäß strukturpoli-tisch in dieser Reform auf den Weg gebracht. Dannkönnen Sie wieder hier stehen und die Wut über denverlorenen Groschen Ihrer Macht im Plenarsaal desDeutschen Bundestages zum Ausdruck bringen.
Herr Thomae, nehmen Sie zur Kenntnis, daß wir mitdem Versprechen eines Politikwechsels angetreten sind.Diesen Politikwechsel werden wir praktizieren.
Daß das eine Korrektur Ihrer unseligen Gesetze bedeu-tet, ist jedem Deutschen, der uns gewählt hat, klar, nurIhnen nicht. Aber uns hat die Mehrheit gewählt! Neh-men Sie das einmal zur Kenntnis.
Dr. Dieter Thomae
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 169
(C)
(D)
Angesichts der dynamischen Problemlage im Ge-sundheitswesen ist Politik, wie ich glaube, dazu ver-pflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß in der Zeit zwischender Vorbereitung der Reform und dem Inkrafttreten derReform den Krankenkassen die Ausgaben nicht davon-laufen, das heißt, die Krankenkassenbeiträge stabilbleiben. Das ist eine unserer grundsätzlichen Vorbedin-gungen. Zum zweiten müssen die von der alten Koaliti-on begangenen politischen Fehler, die zu gravierendenUngerechtigkeiten für die kranken Menschen geführthaben, vorab korrigiert werden.Die neue Koalition erfüllt beide Vorbedingungen füreine Gesundheitsreform. Mit dem heute vorliegendenVorschaltgesetz sorgen wir dafür, daß die Ausga-benentwicklung bis zum Wirksamwerden der Strukturre-form unter Kontrolle bleibt, das heißt, daß die Ausgabennicht stärker wachsen als die Einnahmen. Die Beitrags-sätze zur Krankenversicherung werden also, KollegeThomae und alle anderen Schreier der Opposition, stabilbleiben. Ich unterstreiche: stabil bleiben. Anstatt sichdarüber zu freuen – das ist doch Ihre Forderung –, mä-keln Sie hier herum.Wir sorgen zweitens dafür, daß die unerträglich ho-hen Zuzahlungen erträglicher gestaltet werden. Daß wirIhren ganzen Unsinn nicht auf einmal zurücknehmenkönnen, ist ja selbst demjenigen klar, der nur mit einemjapanischen Taschenrechner arbeitet.
Aber daß hier eine Umkehr Ihrer Politik erfolgt – wegvon den Erhöhungen, hin zu geringeren Zuzahlungen –,das ist das politische Signal, Dieter Thomae. Ich wie-derhole: Hier findet ein Politikwechsel statt. Daß er Ih-nen nicht paßt, weil Sie die Zuzahlungen weiter erhöhenwollten, ist uns klar. Aber wir werden sie herunterdrük-ken, wie wir es versprochen haben.
Meine Damen und Herren, der aus dem Amt geschie-dene Gesundheitsminister Horst Seehofer hat 1995, alsovor drei Jahren, in diesem Hause folgendes ausgeführt:Ich halte eine höhere Selbstbeteiligung im deutschenGesundheitswesen nicht mehr für verantwortbar undmöglich. – Herr Seehofer, das, was Sie den Menschenvor drei Jahren versprochen, aber nie gehalten haben,verwirklicht diese neue Bundesregierung bereits nach14 Tagen mit ihrem ersten Gesetz!
Des weiteren korrigieren wir vorweg strukturelleFehlentscheidungen der alten Koalition. Alle Elementeder privaten Versicherungswirtschaft, wie zum BeispielSelbstbehalte, Beitragsrückgewähr und Kostenerstat-tung, werden ebenso beseitigt wie die Koppelung einerErhöhung der Zuzahlung an Beitragssatzerhöhungen. Esgilt: Vor den Wahlen hat die SPD das versprochen; nachden Wahlen lösen wir es ein – solide finanziert und beistabilen Beiträgen in der Krankenversicherung. Wirhätten gerne etwas weniger umfangreiche Vorschaltge-setze vorangestellt, aber es galt: Das Ausmaß der zwin-genden Vorabkorrekturen war durch das Ausmaß derFehlentscheidungen der CDU/CSU-F.D.P.-Regierungvorgegeben. Zugespitzt formuliert: Hätten die HerrenKohl, Seehofer und Gerhardt sich nicht auf den Weg derZertrümmerung der sozialen Krankenversicherung be-geben, wäre vieles von dem nicht notwendig gewesen.
Auch in der Gesundheitspolitik, Herr Lohmann, hatdie neue Koalition keine gute Erbschaft angetreten.Die Regierungserklärung hat deutlich gemacht, anwelchen Grundsätzen sich SPD und Bündnis 90/DieGrünen in ihrer Gesundheits- und Sozialpolitik orientie-ren werden. Es heißt dort, daß unsere Sozialsysteme aufden Prüfstand gestellt werden müssen. Das bedeutet, sieauf ihre solidarischen Wirkungen zu überprüfen, aufWirkungen, die die Vorgängerkoalition nicht nur argstrapaziert, sondern sogar Schritt für Schritt ausgehöhltund beseitigt hat. Wir wollen zukünftig wieder eineKrankenversicherung, die paritätisch finanziert ist undallen unabhängig von ihrer Brieftasche den gleichenSchutz im Krankheitsfall bietet.
Wir wollen – nun sage ich ein großes Wort – die Ei-genverantwortung stärken,
aber nicht dadurch, daß es, wie CDU/CSU und F.D.P. esgetan haben, einer immer größeren Anzahl von Men-schen erlaubt wird, sich den sozialstaatlichen Ver-pflichtungen zu entziehen und sich klammheimlich ausden Sozialsystemen zu verabschieden.
Nein, wir wollen, daß endlich wieder alle, Herr Loh-mann, ihre Verantwortung für das gemeinsame Ganzewahrnehmen. Nachdem Sie während der RegierungszeitIhrer Partei den Menschen seit Jahren einreden wollten,Eigenverantwortung hieße: heraus aus den Systemen,wird die neue Koalition wieder zum Normalzustand zu-rückkehren, denn Eigenverantwortung heißt für uns:hinein in die Systeme.
Oder wollen Sie, Herr Lohmann, weiter ernsthaft denLeuten einreden, daß der, der 14 000 DM im Jahr zurAlterssicherung in die Rentenkasse zahlt, der 10 000DM im Jahr zur Sicherung der gesundheitlichen Versor-gung in die Krankenkassen zahlt, der 5 000 DM im Jahrzur Absicherung gegen Arbeitslosigkeit in die Kassender Bundesanstalt zahlt und 600 DM im Jahr zur Absi-Rudolf Dreßler
Metadaten/Kopzeile:
170 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
cherung gegen Pflegebedürftigkeit in die Pflegekassezahlt, keine Eigenvorsorge gegen die Wechselfälle desLebens betreibe?
In Wahrheit haben Sie das doch auch nie gemeint,sondern die Unsinnigkeit Ihrer Forderung sollte nur IhrBestreben verdecken, den finanziell etwas Besserge-stellten zu erlauben, ihre eigenen gruppeninternen Siche-rungssysteme aufzubauen, um nicht mehr für die ande-ren eintreten zu müssen. Herr Lohmann, Klientelismusnennt man so etwas.
Das heute eingebrachte Gesetz beweist – die Struk-turreform im Gesundheitswesen wird es im nächstenJahr beweisen –, daß wir damit Schluß machen. Nichtdie Extratour, Herr Lohmann, sondern das Füreinander-einstehen wird bei uns wieder zum gesellschaftspoliti-schen Normalfall.
Die Regierungserklärung hat deutlich gemacht, daßdie neue Koalition auch im Gesundheitswesen diestrukturellen Defizite beseitigen wird.Im Gegensatz zu CDU/CSU und F.D.P. verleugnenwir das zentrale Strukturproblem der Sozialversicherungund damit auch der Krankenversicherung nicht. Wie inallen entwickelten Industriestaaten verschiebt sich auchin Deutschland das Verhältnis des Einsatzes der volks-wirtschaftlichen Produktionsfaktoren Kapital und Ar-beit: Der Einsatz von Kapital steigt relativ an, der Ein-satz von Arbeit geht relativ zurück. Die Finanzierungunserer Sozialsysteme ist aber ausschließlich an denFaktor Arbeit, also den schrumpfenden Faktor, gebun-den. Ein ständig wachsender Teil unserer Volksein-kommen steht also zur Finanzierung der Systeme nichtmehr zur Verfügung.Das bedeutet im Umkehrschluß, daß auf denschrumpfenden Teil eine relativ wachsende Finanzie-rungslast entfällt. Nirgendwo wird dies deutlicher als imGesundheitswesen. Der Anteil der Gesundheitsausgabenam Volkseinkommen liegt seit Jahren stabil bei zirka 10Prozent. Gleichwohl steigen die Krankenversicherungs-beiträge.Deshalb wiederhole ich die daraus logisch zwingendeKonsequenz, und zwar so lange, bis es den Damen undHerren der heutigen Opposition aus den Ohren heraus-kommt: Meine Damen und Herren, unsere Sozialversi-cherung hat ein Einnahmeproblem und kein Ausgabe-problem.
Die alte Koalition hat mit ihrer Politik den widersin-nigen Versuch unternommen, einer schrumpfenden Ein-nahmebasis durch Zusammenstreichen der Ausgabenhinterherzukürzen, mit dem Erfolg, daß jede Kürzungs-runde die Notwendigkeit der nächsten schon in sich trug,weil eben die Ursachen nicht ausgeräumt wurden. Manstelle sich bitte einen Augenblick ein Automobilunter-nehmen vor, dem Monat für Monat weniger Räder zu-geliefert werden und das diesem Problem nicht etwadamit Herr zu werden versucht, sich neue Räder zu be-schaffen, sondern damit, daß es Schritt für Schritt ent-sprechend den weniger zugelieferten Rädern die Auto-mobilproduktion absenkt, bis dann irgendwann Schlußist.Das wäre wohl auch nach Meinung der heutigen Op-position absurd. Aber genau diese Absurdität haben Siebei den Gesetzgebungen, die Sie zu verantworten haben,praktiziert. Weil eine Politik nach diesem Muster in derTat absurd ist, wird die neue Koalition auch damitSchluß machen. Unsere Botschaft lautet daher: DieFlucht aus der Sozialversicherung wird gestoppt.
Wir beginnen damit bei der Beseitigung des Mißbrauchsder geringfügigen Beschäftigung. Der entsprechendeGesetzentwurf wird nächste Woche zur Beratung anste-hen.Nur ein kleiner Hinweis für die Kolleginnen undKollegen der CDU/CSU und F.D.P., weil Sie immer sa-gen, das sei ganz schlimm, der Untergang des Abend-landes stehe bevor: Die seit 50 Jahren bekanntlichkommunistisch regierte Schweiz und das seit 50 Jahrenbekanntlich kommunistisch regierte Holland nehmen fürjede verdiente Mark Sozialbeiträge, und das freieDeutschland läßt 6 Millionen geringfügig Beschäftigteund über eine Million Scheinselbständige zu. Eine sol-che Politik, weiter praktiziert und verstetigt, muß dieSysteme zur Explosion bringen. Das haben Sie in Kaufgenommen. Wir tun das nicht, wir beenden diesen Un-sinn; so einfach ist das. Auch hier ein Politikwechsel.
Die weiteren besonders für die Krankenversicherungin diesem Zusammenhang relevanten Fragen, etwa dieunterschiedliche Behandlung der Beitragspflicht bei denverschiedenen Einkommensarten, werden als Bestandteilder Strukturreform beantwortet werden. Denn diese Ko-alition hat im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin begriffen,daß ohne eine Lösung dieser Probleme die Sozialversi-cherung nicht zukunftsfähig gemacht werden kann.
CDU/CSU, vor allem aber die F.D.P. vertreten seit ge-raumer Zeit die Auffassung, unsere Sozialsysteme seiennicht die Systeme für möglichst viele oder gar für alle,sondern für einen definierbaren Kreis der darauf Ange-wiesenen.
Herr Kollege – –Rudolf Dreßler
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 171
(C)
(D)
Mit Verlaub, meine Damen
und Herren, was sollte das denn sein? Eine Krankenver-
sicherung nur für Bedürftige, für Alte und Kranke oder
eine Pflegeversicherung nur für Arme oder Pflegebe-
dürftige? Vor allem aber: Wie sollte sich das jemals fi-
nanzieren? Wie soll es funktionieren, wenn die zu kurz
Gekommenen oder in Not Geratenen die Folgen ihrer
Not selbst finanzieren, präziser gesagt: untereinander
aufteilen müßten? Auch dies wäre doch völlig absurd.
Ich nehme an, Herr Lohmann, Sie haben eine Zwi-
schenfrage. Bitte.
Ja.
Normalerweise wird das Wort von der Präsidentin er-
teilt.
Ich bitte um Nachsicht.
Wenn man anderswo nichts mehr zu sagen hat, ist das
vielleicht auch so möglich.
Herr Lohmann, ich hatte
mich bei der Präsidentin bereits entschuldigt. Ich weiß
nicht, ob Sie das zur Kenntnis genommen haben.
Sie können das mit beantworten. Sie haben gerade ge-
sagt, die unterschiedliche Behandlung der verschiedenen
Einkunftsarten soll im weiteren Verlauf Ihre besondere
Aufmerksamkeit finden. Habe ich es richtig in Erinne-
rung, daß Sie in den Wahlkampfpapieren zunächst da-
von gesprochen haben, die Beitragsbemessungsgrenze
und möglicherweise auch die Versicherungspflichtgren-
ze fallen lassen oder zumindest nach oben setzen zu
wollen, und daß Sie dann von dem heutigen Minister
Müntefering mit einer weiteren Stellungnahme, daß an
dieser sogenannten Friedensgrenze nichts geändert wird,
zurückgepfiffen worden sind?
Herr Lohmann, ich bitte auchin diesem Punkt vorab um Nachsicht, wenn ich sage: Siehaben ein Problem.
Ihr Problem besteht darin, daß Sie die Zusammenhängeder Sozialversicherungssystematik – Beitragsbemes-sungsgrenze, Sozialversicherungspflichtgrenze und Ein-kommen des Mitgliedes – schon seit längerer Zeit offen-sichtlich durcheinanderbringen. Es geht hier nicht umdie Beitragsbemessungsgrenze. Herr Lohmann, es gehtum etwas ganz anderes: Wenn ein Arbeitnehmer4 000 DM im Monat verdient, dann ist er Mitglied in derKrankenversicherung. Wenn er darüber hinaus noch4 000 DM Mieteinnahmen oder Dividendenerträge hat,dann muß man schon fragen, ob diese Einnahmen nichtzusätzlich zu seinem Einkommen als Bemessungs-grundlage für die Krankenversicherung berücksich-tigt werden müssen. Dieses Prinzip wird in anderenhochindustrialisierten Ländern, die Sie pausenlos alsMusterländer anpreisen, schon lange praktiziert, nur imfreien Deutschland nicht, weil Sie sich 16 Jahre langnicht darum gekümmert haben. Diesen Sachverhaltwollen wir überprüfen.
Anders ausgedrückt: Ich habe angekündigt, daß wiruns diesen Themen widmen müssen – Herr Lohmann,wenn Sie zugehört haben, wissen Sie das –, weil dasMißverhältnis der Entwicklung der ProduktionsfaktorenKapital und Arbeit die Politik in der Zukunft dazuzwingt, diese Fragen zu beantworten und ihnen nichtauszuweichen. Ihre Einschätzung, es handele sich umein Ausgabenproblem – deshalb haben Sie die Leistun-gen gekürzt –, war falsch. Nein, Herr Lohmann, es gehtbei unserem Sozialversicherungssystem empirisch be-legbar um die von mir aufgezeigte Problematik der Ein-nahmeverluste. Zur Lösung dieses Problems gehört inerster Linie, die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt wieder-herzustellen, wie es Walter Riester heute morgen bereitsangekündigt hat.
Auch wir wissen, daß der sehr gut verdienende Ange-stellte die Folgen eines Skiunfalls ebenso privat bewälti-gen könnte. Aber, Herr Thomae, wir wollen ihn in derSozialversicherung halten, damit Herr und Frau Durch-schnittsverdiener die Folgen ihres häuslichen Unfalls zufür sie erschwinglichen Krankenversicherungsbeiträgenabwickeln können. Das ist der entscheidende Unter-schied: Wir brauchen den Gutverdienenden in der So-zialversicherung; eine Sozialversicherung, die nur Be-dürftige und Kranke kennt, ist keine Sozialversicherung,sondern bloße Caritas.
– Na also, wenn Sie in diesem Punkt zustimmen, dannkommen wir vielleicht doch noch zueinander.Wir brauchen den Gutverdienenden als Nettozahler,als denjenigen, der durch seine Beitragszahlungen dasSystem für die weniger Starken zu finanziell erschwing-lichen Bedingungen überhaupt tragbar macht. Wir wol-len kein amerikanisches System, wir wollen kein pri-vates System, in dem 30 Prozent der Bevölkerung nichtversichert sind, weil sie die Beiträge nicht mehr bezah-len können.
Metadaten/Kopzeile:
172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Selbst die private Krankenversicherungswirtschaft hatdoch begriffen, daß sie nur auf der Basis einer breit an-gelegten und leistungsfähigen sozialen Krankenversi-cherung prosperieren kann. Die neue Mehrheit wird mitder Strukturreform im nächsten Jahr dafür sorgen, daßsie leistungsfähig bleibt.Wir sind uns sicher: Ohne eine dauerhafte Orientie-rung der gesamten Krankenversicherungsausgaben andem Wachstum der Gesamteinnahmen wird die Stabili-tät des Systems nicht zu gewährleisten sein. Wir wollendeshalb im Rahmen der Strukturreform ein Global-budget einführen, das diese Orientierung sicherstellt. Zuentscheiden, wie dieses Globalbudget ausgefüllt undwelcher Versorgungsbereich mit wieviel Finanzmittelnausgestattet werden soll, muß Aufgabe vertraglicherVereinbarungen unter den Betroffenen, also Aufgabe derSelbstverwaltung, sein.Herr Thomae, natürlich wissen auch wir, daß es ele-gantere Formen der Kostensteuerung als die jetzt durchdas Vorschaltgesetz wieder eingeführte sektorale Aus-gabenbeschränkung gibt.
Wir wissen aber auch, daß nichts so schnell und sodurchgreifend wirkt wie eine strikte Ausgabenvorgabefür Ärzte, Zahnärzte, Pharmaindustrie und Krankenhäu-ser, um die Beiträge stabil zu halten. Wir wissen vor al-lem: Die sektorale Ausgabenbegrenzung schafft idealeVoraussetzungen dafür, daß sie im Rahmen einerStrukturreform in ein Globalbudget übergeleitet werdenkann.Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen: Mitte der70er Jahre hat der damals für die Krankenversicherungzuständige Bundesminister Walter Arendt in diesemHause darauf hingewiesen, daß die ständige Zunahmeder Zahl von zugelassenen Kassenärzten die gesetzli-che Krankenversicherung alsbald – so sagte er – vor er-hebliche Probleme stellen werde. Damals nahmen36 000 Kassenärzte an der Versorgung teil. Heute sindes deutlich über 110 000 – also fast dreimal soviel, trotzsogenannter Bedarfsplanung und sogenannter Niederlas-sungssperre. Die Folgen für die finanzielle Leistungsfä-higkeit der Krankenversicherung einerseits und für eineangemessene Vergütung über die unterschiedlichenArztgruppen hinaus andererseits sind unübersehbar.Ich sage Ihnen: Die Situation wird unhaltbar. Wenndas Angebot die Nachfrage bestimmt, kann ein solchesSozialversicherungssystem nicht funktionieren. Darummuß hier politisch entscheidend etwas getan werden.Im Gegensatz zur alten Bundesregierung ist die neueKoalition entschlossen, das Problem einer vernünftigenSteuerung der Angebotskapazitäten im Gesundheits-wesen im Rahmen der Strukturreform aufzugreifen. Eskann eben nicht so weitergehen wie bisher, und deshalbwerden wir dazu eine Lösung präsentieren. Diese Lö-sung wird sich auf alle Sektoren der Versorgung bezie-hen müssen, wenn sie Erfolg zeitigen will, also nicht nurauf Ärzte und Zahnärzte, sondern auch auf die Kranken-häuser und die Zahl der pharmazeutischen Produkte.Daß zu letzterem die Koalition bereits einen Vorschlagpräsentiert hat, wird niemanden bei der Opposition über-raschen. Deshalb will ich hier festhalten: Wir wollen dieArzneimittelpositivliste, die Liste verschreibungsfähi-ger Präparate, und wir werden sie in diesem Hause auchdurchsetzen, meine Damen und Herren.
An der Beachtung eines zweiten Grundsatzes führtbei der vor uns liegenden Reform kein Weg vorbei.Niemand sollte sich der Illusion hingeben, als sei dasMengenproblem im Gesundheitswesen, also die Zahl derAnbieter, für die Krankenkassenausgaben über ein Bud-get steuerbar. Weiter steigende Ärzte- und Zahnärzte-zahlen und die steigende Zahl von Betten in Kranken-häusern führen logischerweise zu weiter steigendenKrankenkassenausgaben und damit auch Beiträgen –auch bei einem Budget. Hier gilt es, die Binsenweisheitzu beachten, die jede Köchin und jeder Koch kennt:Einen überschäumenden Topf bekämpft man dadurch,daß man die Flamme kleiner stellt, aber nicht dadurch,daß man den darauf liegenden Deckel festerzurrt.
Die Probleme, die im Rahmen einer Strukturreformim Gesundheitswesen gelöst werden müssen, sindschwierig. Das wissen auch wir. Aber wir werden sieanpacken. Diese Koalition wird ernst machen mit derStrukturreform. Die Versicherten sollen wissen: UnserZiel ist die qualitativ einwandfreie und angemesseneGesundheitsversorung für alle, ohne Blick auf die Dickeder Brieftasche. Und die Interessengruppen des Gesund-heitswesens müssen auch wissen: Das Ende der heiligenKühe ist gekommen.Schönen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die neue Koalition, die ihre Vor-stellungen in der Gesundheitspolitik in zwei Stufen ver-wirklichen will, legt heute als ersten Schritt einen Ge-setzentwurf zur Stärkung der Solidarität in der gesetzli-chen Krankenversicherung vor. Nicht nur vom Namenher klingt das schon wesentlich besser als alles Bisheri-ge. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß auch im Ge-setzentwurf selbst der Wille zur Abkehr von einer aufDeregulierung und Privatisierung des Gesundheitsrisi-kos gerichteten Politik und zur Wahrung eines solida-rischen Gesundheitssystems zum Ausdruck kommt.Wir gehen davon aus, daß die beabsichtigten Rück-nahmen von Leistungskürzungen und Zuzahlungen dasSignal dafür sind, daß es künftig auch im Gesundheits-wesen wieder sozial gerechter zugehen soll. Es ist auchRudolf Dreßler
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 173
(C)
(D)
zu begrüßen, daß Dinge aufgehoben bzw. ausgesetztwerden sollen, deren Sinnhaftigkeit bis heute nieman-dem ernsthaft zu vermitteln war. Ich denke beispielswei-se an das Notopfer Krankenhaus oder an den unseligenAutomatismus zwischen Beitragssteigerungen einerKrankenkasse und der Höhe der Zuzahlungen für ihreMitglieder.Selbstverständlich ist es nur konsequent – um auchdas mit Erleichterung zu erwähnen –, wenn die system-fremden Elemente privater Versicherungen wie Kosten-erstattung oder Beitragsrückgewähr zurückgenommenwerden. Sie hätten über kurz oder lang die finanzielleSubstanz des Solidarausgleichs empfindlich ausgehöhlt.Ohne Frage sind die in der Koalitionsvereinbarunggenannten Bestandteile für die im zweiten Schritt vorge-sehene Strukturreform im Gesundheitswesen wie besse-re Zusammenarbeit von Hausärzten, Fachärzten undKrankenhäusern, die Neuordnung der ambulanten undstationären Vergütungssysteme sowie des Arzneimittel-marktes zweckmäßig und zielführend.Wer allerdings die Kompliziertheit dieser Aufgabeund die Stärke des neoliberalen Zeitgeistes kennt, derweiß, daß auch die neue Regierung keineswegs vor gra-vierenden Fehlentscheidungen gefeit ist.
Ganz entscheidend wird deshalb sein, in welcher Weise,mit welchen Einzelschritten und vor allem auch mitwelcher Konsequenz diese Vorhaben umgesetzt werden.Meine Damen und Herren, uns fällt auch auf, daßMaßnahmen zur finanziellen Stärkung der Solidarge-meinschaft der Versicherten, die von den heutigenRegierenden vor der Wahl ins Auge gefaßt wurden,schon in den Koalitionsvereinbarungen nicht mehr auf-tauchen. Das betrifft zum Beispiel die Entlastung der ge-setzlichen Krankenversicherung von ausgewählten undexakt definierbaren versicherungsfremden Leistungenwie dem Mutterschaftsgeld oder die Zurücknahme jenerVerschiebebahnhöfe, mit deren Hilfe die Rentenversi-cherung und die Arbeitslosenversicherung vor Jahrenauf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung entla-stet wurden. Politischen Willen vorausgesetzt, gäbe esalso durchaus Instrumente zur Gegenfinanzierung wei-tergehender Sofortmaßnahmen.
Dies verlangt allerdings – das scheint noch Ihr Pro-blem zu sein – eine entsprechende Finanz- und Steuer-politik. Es engt schon von vornherein die Spielräumeauch in der Gesundheitspolitik ein, daß die Koalition esnicht gewagt hat, den wirklich Reichen in diesem Landeinen etwas größeren Beitrag zur Bewältigung von Ge-meinschaftsaufgaben abzuverlangen.
Ich sage das auch deshalb, weil bei aller Richtigkeitder im Vorschaltgesetz enthaltenen Maßnahmen festzu-halten ist, daß das Gros der Zuzahlungen und Selbstbe-teiligungen bei Medikamenten, Krankenhausaufenthal-ten und anderen medizinischen Leistungen bestehen-bleibt. Mit anderen Worten: Der Sozialabbau der letztenJahre, den Sie natürlich nicht verursacht haben, wird inseiner Massivität – ob man es wahrhaben will odernicht – noch nicht einmal annähernd zurückgenommen.Bei allem Wissen um die unvermeidliche Begrenztheiterster Maßnahmen ist festzustellen: Von dieser Koali-tion müssen mehr und mutigere Schritte erwartet wer-den.
Jetzt, liebe Frau Ministerin Fischer, werde ich Ihneneine Freude bereiten. Sie haben ja bereits in Ihrer Redevermutet, daß die PDS das sagen wird. Deshalb will ichdies ganz deutlich wiederholen. Für die PDS bleibt esdabei: Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen in einemsolidarischen Krankenversicherungssystem sind unso-zial; sie sind sogar medizinisch kontraproduktiv und ausunserer Sicht bei einem effektiven Ressourceneinsatzvöllig unnötig. Sie müssen vollständig zurückgenommenwerden.
Sofortmaßnahmen über die Unterstützung der Wei-terbildung in der Allgemeinmedizin hinaus verlangt un-serer Auffassung nach der offene Skandal, daß ausgebil-dete und hochmotivierte junge Ärztinnen und Ärzte inzunehmender Zahl generell keine Chance zur Fach-arztweiterbildung und damit zur selbständigen Aus-übung ihres Berufes erhalten. Besonders dringlich sinddie Einrichtung und Finanzierung entsprechender Stellenin den Krankenhäusern und natürlich auch im ambulan-ten Sektor. Hier steht auch der Bund in der Verantwor-tung, die notwendige Abhilfe zu schaffen.
Darüber hinaus müssen wir ebenfalls an die besonde-re Existenzlage der niedergelassenen Ärzte in Ost-deutschland erinnern. Angesichts der bestehenden Ver-gütungsunterschiede zwischen Ost und West und desanhaltenden Honorarverfalls bei gleichen Betriebskostenwird die Situation für viele Ärzte immer bedrohlicher.Wir meinen, daß hier vor allem im Interesse der medizi-nischen Versorgung der Menschen in den neuen Bun-desländern sofort etwas getan werden muß.
Alles in allem hat sich die Koalition in der Gesund-heitspolitik viel Richtiges und Anspruchsvolles vorge-nommen. Die Umsetzung wird nicht leicht sein. Dennaus Erfahrung weiß man: Weder heftige Anfeindungennoch gekonnte Versuche der Vereinnahmung durch be-stimmte Lobbygruppen werden ausbleiben. Aus unsererSicht kann ich sagen – und das wird bis auf weiteresgelten –: Läßt die Koalition ihren Absichten auch dieentsprechenden Taten folgen, wird sie von seiten derPDS eine konstruktiv-kritische Begleitung erfahren.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Alsnächster Redner hat das Wort der Kollege WolfgangZöller, CDU/CSU.Dr. Ruth Fuchs
Metadaten/Kopzeile:
174 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Herr Präsident! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin,zunächst etwas Positives: Wir halten es für sinnvoll, daßim Gesundheitsministerium nun auch die Pflegeversi-cherung mit bearbeitet wird.Aber gestatten Sie mir auch eine kurze Anmerkungzur Arbeitsweise der neuen Mehrheit. Dazu, daß amMontag früh rund 120 Seiten und drei Stunden später 64Austauschseiten ins Büro geschickt wurden, und danngestern früh der Gesetzentwurf vorlag, muß ich doch sa-gen: Ich glaube, man sollte bei einem so diffizilen The-ma wie der Gesundheit doch etwas sorgfältiger vorgehenund unser System nicht zum Spielball unseriöser Wahl-versprechungen werden lassen.
Auf den ersten Blick scheint sich die Gesundheitspo-litik der neuen Regierung in der Rücknahme der Seeho-ferschen Reformansätze zu erschöpfen. Bei nähererBetrachtung zeichnet sich jedoch – wie auch Sie, HerrKollege Dreßler, gesagt haben – nicht nur ein Politik-wechsel, sondern auch ein Systemwechsel ganz deutlichab.In einem stimmen wir mit Ihnen überein: Wenn mandie richtigen Schritte machen will, muß man eine saube-re Analyse betreiben. Wir stimmen auch darin mit Ihnenüberein, daß die letzten Reformen nicht etwa deswegennotwendig waren, weil die Qualität unseres Gesund-heitswesens nicht gestimmt hätte. Vielmehr waren sienotwendig, weil wir ein Finanzierungsproblem haben.Wir sind uns auch mit den Sachverständigen einig, daßdieses Finanzierungsproblem kein Ausgabeproblem,sondern ein Einnahmeproblem war.Es ist schon sehr seltsam, wie Sie nun mit wenigerEinnahmen die Mehrausgaben in den Griff bekommenwollen; denn wir werden Mehrausgaben haben – alleinwenn ich den medizinischen Fortschritt sehe, alleinwenn ich die höhere Lebenserwartung sehe.Deshalb noch einmal: Ihr Geheimnis wird es sein,wie man mit weniger mehr bezahlen will.
In dem vorliegenden Entwurf wird dokumentiert, daßdie von Ihnen gemachten Wahlversprechungen so ein-fach nicht zu halten sind, weil sie nicht finanzierbarsind. Sie haben noch großmundig versprochen: Sobaldwir an der Regierung sind, werden wir die Erhöhung derZuzahlung von 5 DM rückgängig machen. Im Kranken-hausbereich haben Sie sie belassen.
Im Kur- und Reha-Bereich haben Sie sie belassen. ImArzneimittelbereich haben Sie die Zuzahlung in einemFall zum Beispiel von 9 auf 8 DM reduziert.In dem Punkt appelliere ich auch an Sie, Herr Dreß-ler. Wir haben diese Spreizung damals beschlossen, weilwir eine Mengenbegrenzung vornehmen wollten; wirwollten den hohen Arzneimittelverbrauch etwas ein-grenzen. Wenn man jetzt aber die Spreizung verringertund die Zuzahlungen auf 8 DM, 9 DM und 10 DM fest-legt, wie wollen Sie es dann jemandem erklären, wenner für eine Mark mehr die doppelte Menge bekommt?Ich habe die Befürchtung, daß wir eine Mengenauswei-tung in diesem Bereich bekommen werden.
Eines, sehr geehrte Frau Ministerin, möchte ichgleich richtigstellen. Sie haben hier etwas Unwahres ge-sagt. Sie haben den Kollegen Lohmann dafür kritisiert,daß er hier die Meinung verbreitet habe, Sie würden denLeistungserbringern etwas wegnehmen. Sie verneinendas und sagen, Sie würden den Leistungsempfängernzusätzlich zum Beispiel noch den Zuwachs zur Grund-lohnsumme geben.Sie sollten Ihren Text einmal genau lesen: Sie schrei-ben auf Seite 65 als Basis das Budget von 1996 vor. Siemüssen einmal erklären, wie ein Budget von 1996 imJahre 1999 mehr sein soll. Mit Zahlen müssen Sie beimir vorsichtig sein.
Im übrigen sage ich klipp und klar: Ich halte sozial-verträgliche Zuzahlungen für wesentlich gerechter alsAusgrenzungen und Rationierungen teurer Operationen.Diese werden bei der Budgetierung unweigerlich kom-men.
Der uns vorgelegte Gesetzentwurf beeinflußt denKrankenhausbereich in drei Punkten: erstens hinsichtlichNotopfer, zweitens hinsichtlich Budgetierung und drit-tens durch Ihre Zielvorgabe der monistischen Finanzie-rung.Statt die Ursache des Notopfers, nämlich daß dieLänder die Instandhaltungskosten der Krankenhäusernicht mehr bezahlen wollen, zu beseitigen, streichen Sieersatzlos die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversi-cherung um knapp 1 Milliarde DM. Es wäre doch vielsinnvoller gewesen, die übrigen Länder auf das positiveBeispiel des Landes Bayern zu verweisen, das nach wievor die Instandhaltungskosten der Krankenhäuser be-zahlt. Deshalb brauchen die Bürger in Bayern diesesblödsinnige Notopfer auch nicht zu erbringen.
Dieses Notopfer war doch auch nur deswegen notwen-dig, weil sich die übrigen Länder aus ihrer Verantwor-tung gestohlen haben.
Der zweite Punkt: Mit der Budgetierung im Kran-kenhausbereich bestrafen Sie all die Krankenhäuser, diein den letzten Jahren wirtschaftlich gearbeitet haben.
Sie bestrafen auch die Krankenhäuser, die es auf Grundihrer guten Qualität der Leistung zu Fallzahlsteigerun-gen gebracht haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 175
(C)
(D)
Ich befürchte, daß wir erleben werden, daß Endenächsten Jahres wieder Operationen verschoben werdenmit der Begründung: Die Budgetgrenze ist erreicht.
Dabei war ich der festen Überzeugung, daß wir dieseunsinnige Diskussion in diesem Hause nicht mehr hättenführen müssen. Dann aber wird es heißen: Privatpatien-ten ja, gesetzlich Krankenversicherte nein.
Ich sage Ihnen klipp und klar: Eine starre Budgetierungführt unweigerlich zur Zweiklassenmedizin.
Herr Kollege Dreßler, eines hat mich nachdenklichgestimmt. Sie sind doch auch für eine Gleichbehandlungderer, die Mitglied in der gesetzlichen Krankenversiche-rung sind. Was aber haben Sie gemacht? Unsere Rege-lung hatte vorgesehen, daß sich jeder Versicherte auchals Privatpatient behandeln lassen kann und daß die ge-setzlichen Krankenversicherungen den Betrag abrech-nen, der in der Satzung festgeschrieben ist. Dieses Pri-vileg lassen Sie jetzt nur noch für diejenigen gelten, diemehr als 6 300 DM monatlich verdienen. Es ist schonseltsam, daß sich ausgerechnet die SPD
als erstes auf ihre Fahnen schreibt: Für Leute mit 6 300DM und mehr machen wir eine Sonderregelung in dergesetzlichen Krankenversicherung.
Das ist zumindest für mich sehr zweifelhaft.
– Entschuldigung, das steht in Ihrem Gesetzentwurf. Wirhaben diese Möglichkeit allen gegeben; das ist der gra-vierende Unterschied. Gleiche Rechte für alle.
Sie aber privilegieren die Besserverdienenden.Der letzte Punkt: Wer jetzt im Krankenhausbereichdie monistische Finanzierung fordert, daß also dieKassen nicht nur den Betrieb, sondern auch die Kostender Einrichtungen bezahlen müssen, muß einfach zurKenntnis nehmen, daß dadurch die Einsparmaßnahmenzur Stabilisierung des Beitragssatzes ad absurdum ge-führt werden,
daß dies unweigerlich zu höheren Beitragssätzen führt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, in Ihrem so-genannten Vorschaltgesetz wird wieder einmal deutlich,welch unterschiedliche Systeme sich gegenüberstehen.Sie wollen mehr Staat und somit automatisch mehr Bü-rokratie. Wir setzen auf Selbstverwaltung und Eigenver-antwortlichkeit. Sie wollen vorschreiben, zu welchemArzt man gehen muß. Eventuell wollen Sie demnächstnoch vorschreiben, wie oft man zum Arzt gehen darf.Sie wollen vielleicht auch noch vorschreiben, was derArzt verordnen darf.
– Das steht alles drin. Lesen Sie sich das einmal durch!In diesen anderthalb Tagen, die ich zur Verfügung hatte,habe ich das sehr genau gelesen. Das ist der Weg in dieStaatsmedizin und gefährdet unser hochleistungsfähigesGesundheitssystem, das wir bis heute haben. Diese Bud-getierung wird zudem wirtschaftlich sinnvolle Wachs-tumseffekte im Dienstleistungsbereich Gesundheitswe-sen drastisch einschränken.Wer will, daß wir unsere Qualität der medizinischenVersorgung sichern, daß die Finanzierbarkeit ohne wei-tere Beitragssatzanhebungen gewährleistet und niemandwegen seiner finanziellen Situation von medizinischnotwendigen Leistungen ausgeschlossen wird, der mußden Mut haben, sich zu mehr Eigenverantwortlichkeit zubekennen.
Dies ist wesentlich schwieriger, als unseren Bürgernmehr und immer mehr zu versprechen. Vor allen Dingenaber ist dies ehrlicher.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünscheuns allen Gesundheit und mehr Mut zur Ehrlichkeit.
Als
nächste Rednerin spricht Frau Gudrun Schaich-Walch
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Zöller, diesenMut zur Ehrlichkeit hätten Sie vielleicht in der letztenLegislaturperiode, als Sie noch an der Regierung waren,zeigen sollen. Dann wäre uns manches erspart geblie-ben.
Der zweite Punkt: Wenn Sie sich fürchten, Herr Zöl-ler, macht mich das ganz unruhig. Deshalb will ich et-was zur Finanzierung sagen.Wir werden die Einbeziehung der geringfügig Be-schäftigten haben; wir werden die Aussetzung des De-mographiefaktors in der Rentenversicherung habenund damit Mehreinnahmen bekommen.
Wolfgang Zöller
Metadaten/Kopzeile:
176 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Hinzu kommen Mehreinnahmen für die gesetzlicheKrankenversicherung durch die Wiedereinführung derLohnfortzahlung.
Ich nenne noch etwas, was Sie vorhin bedauert ha-ben: Es gibt natürlich die Absenkung der Festbeträgeim Arzneimittelbereich, und auch dadurch ergeben sichMehreinnahmen im Bereich der gesetzlichen Kranken-versicherung.
– Die machen dieses Gesetz nicht. Sie werden hinterhermit uns darüber reden.Sie, Herr Zöller, haben gesagt, daß das alles sofurchtbar schnell gekommen sei. Sie wußten das; dasalles stand in unserem Wahlprogramm, und es stand inunseren Gesetzentwürfen der letzten Legislaturperiode.Also haben wir nichts eingeführt, was unbillig, neu oderunverständlich für Sie wäre.
Mir scheint auch, daß die Haltung der Oppositionganz stark von der Sorge um die Einkünfte im Gesund-heitsbereich geprägt ist.
Ich möchte Ihnen sagen: Die Krankenversicherung isterst einmal dazu da, daß die Kranken ordentlich versorgtwerden, und dann erst ist sie dazu da, daß diejenigen, diean diesem System teilhaben, ihr entsprechend gerechtesEinkommen erhalten.
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Zöller?
Ja.
Frau Kollegin
Schaich-Walch, Sie haben gerade gesagt, Sie erhofften
sich Mehreinnahmen zum Beispiel durch die Wiederein-
führung der Lohnfortzahlung. Das ist auch in den Er-
läuterungen zu dem Gesetzentwurf so vorgesehen. Aber
Sie haben dabei etwas vergessen: Möchten Sie das bitte
zur Kenntnis nehmen
– ich stelle eine Frage; das ist schon richtig –, daß mit
der Wiedereinführung der Lohnfortzahlung natürlich ei-
ne erhebliche Mehrbelastung der gesetzlichen Kranken-
versicherung durch höhere Krankengeldforderungen
entsteht? Das wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht er-
wähnt.
Erstens einmal mußauch schon jetzt Krankengeld gezahlt werden. Zweitensmöchte ich dazu sagen, daß wir davon ausgehen, daß dieMehreinnahmen zur Erhöhung der Krankengeldleistun-gen ausreichen, zumal wir ja sehen konnten, daß dieZahlen der Krankschreibungen allgemein und auch derlangfristigen Krankschreibungen in der letzten Zeitglücklicherweise sehr stark rückläufig gewesen sind.
Wir werden ja sehen, wie weit wir kommen.Ich denke, es sollte eigentlich möglich sein, daß wiruns in diesem Hause darauf verständigen, daß der kran-ke Mensch und die für ihn notwendige Hilfe im Mittel-punkt der Gesundheitspolitik zu stehen haben und daßdanach erst das Einkommen der Ärzteschaft und derPharmaindustrie Berücksichtigung finden kann.
Wir sind im Wahlkampf mit Versprechungen vor-sichtig gewesen. Im Gegensatz zu Ihnen sind wir bereit,unsere gemachten Versprechungen auch einzulösen, undwir tun es sehr schnell. Wir tun es deshalb sehr schnell,weil wir verhindern wollen, daß die ungerechten gesetz-lichen Maßnahmen, die Sie in der letzten Legislaturperi-ode beschlossen haben, die aber clevererweise erst nachder Wahl in Kraft treten sollten, die Menschen zusätz-lich belasten. Wir verteilen in diesem Land nicht belie-big Wohltaten an diejenigen, die sie gar nicht brauchen,wie Sie immer suggerieren wollen, sondern wir sorgenletztendlich nur dafür, daß Ungerechtigkeiten, die Sieverursacht haben und für die Sie die Quittung des Wäh-lers bekommen haben, beseitigt werden.
Wir machen aus der Krankenversicherung wieder das,was sie sein sollte, nämlich Hilfe im Krankheitsfall –und das solidarisch finanziert.
Herr Lohmann, Sie haben auf die sechs Jahre erfolg-reiche Gesundheitspolitik von Herrn Seehofer verwie-sen,
die von vielen gebrochenen Versprechungen, was dieZuzahlungen betrifft, gekennzeichnet ist.
Die Belastung der Patientinnen und Patienten hat sich indiesen letzten sechs Jahren verdreifacht. 1998 erreichtesie ein Finanzvolumen von 20 Milliarden DM. Allein fürArzneimittel zahlen Versicherte heute das Fünffache anZuzahlungen gegenüber den Jahren 1991 und 1992. Beijedem sechsten Arzneimittel zahlen die Versicherten denGudrun Schaich-Walch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 177
(C)
(D)
vollen Apothekenpreis. Was ist das denn anderes als ei-ne ausgegrenzte Leistung?, frage ich Sie hier.
Wir sind jetzt an dem Punkt, daß wir feststellen müs-sen, daß ein Rentnerehepaar, das 2 400 DM netto hatund chronisch krank wird, nach den jetzigen Regelungenetwa einen Zuzahlungsbeitrag von einer gesamtenMonatsrente zu leisten hat. Dazu sagen wir: Das ist so-zial ungerecht; das ist ausschließlich eine Bestrafungvon kranken und alten Menschen.Wir werden das deshalb ändern. Wir streichen für diechronisch Kranken, die ein Jahr lang die Grenze derZuzahlungen überschritten haben, die Zuzahlungen imzweiten Jahr vollständig. Das Krankenhausnotopfer wirdwegfallen. Die von Ihnen geplante Dynamisierung derZuzahlungen, die kommen sollte, wird wegfallen, eben-so wie die Zuzahlung in Höhe von 10 DM bei jedemArzt für psychisch Kranke.Das sind, Frau Fischer, im ersten Ansatz zwar nur 2Milliarden DM. Aber wenn wir das weiter seriös finan-zieren wollen, dann brauchen wir erst den nächstenSchritt, nämlich den der Strukturreform, bevor wir wei-tere Zuzahlungen abbauen können. Denn im Gegensatzzur Opposition sind wir der Überzeugung, daß es in die-sem System durchaus Wirtschaftlichkeitsreserven gibt.
Jetzt möchte ich noch einmal zu dem Bereich desZahnersatzes kommen. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich:Was die Zahnärzte zur Zeit machen, ist Jammern aufhohem Niveau.
– Sie beklagen einen Umsatzrückgang. Aber warum?Weil Sie ein Gesetz geschaffen haben, bei dem man zumTeil Privatpatient werden konnte.
Ich kann es Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn ich mitmeinem Zahnersatz bis zum nächsten Jahr gewartet hät-te, statt es dieses Jahr machen zu lassen, hätte ich 600DM gespart. Das wird auch bei anderen so sein.Hinzu kommt: Die Verunsicherung wird beendet. DieKrankenkasse wird sich wieder genau anschauen, wasabgerechnet wird, nach Qualität und nach Wirtschaft-lichkeit. Und auch Jugendliche werden ihren Anspruchauf Zahnersatz behalten.
Sie sagen, uns laufen die Kosten weg. Aber gleich-zeitig sind Sie ganz empört darüber, daß wir eine Aus-gabenkontrolle einführen. Wir werden diese Ausga-benkontrolle brauchen, um für das nächste Jahr ver-nünftig planen zu können.Es ist ja auch nicht so, daß etwas gestrichen wird. Diewerden alle nicht des Hungers sterben, sie erfahren allenoch Zuwachs aus ihren verschiedensten sektoralenBudgets. Das Krankenhaus kommt dabei, Herr Zöller,noch relativ gut weg. Sie wissen ganz genau, daß die in1998 einen Zuwachs von 5 Prozent verzeichneten. Dasbleibt ihnen erhalten; auf diesem Budget wird aufge-setzt.
– Er hat das Krankenhaus aber bedauert.Ein weiterer, ganz wichtiger Punkt, glaube ich, ist,daß wir die bisherige Begrenzung aus dem Risikostruk-turausgleich zwischen Ost und West aufheben. Ich binder festen Überzeugung, daß das ein guter Beitrag dazuist, die Sozialmauer ein Stück einzureißen, und daß wirauf einem guten Weg zu einheitlichen Lebensbedingun-gen für uns alle in dieser Bundesrepublik Deutschlandsind.
Echte Strukturveränderungen in der Leistungserbrin-gung, die wir im nächsten Jahr angehen werden, die dasZiel der Qualitätsverbesserung und der Wirtschaftlich-keit haben, sind allerdings – das muß klar sein – mit Be-sitzstandswahrung nicht zu haben. Integrative neue Ver-sorgungskonzepte, die für mehr Qualität und Wirt-schaftlichkeit sorgen, haben Umverteilungen zur Folge.Das Geld wird der Leistung folgen müssen.Wenn wir diese Strukturschritte angegangen sind,sind natürlich noch nicht alle Probleme der gesetzlichenKrankenversicherung gelöst. Das Einnahmeproblemmuß angegangen werden.Letztendlich ist – so sehe ich das – Gesundheitspoli-tik mehr als GKV-Politik. Es gilt, sich um den gesund-heitlichen Verbraucherschutz zu kümmern, Patienten-rechte zu stärken, berufsrechtliche Fragen der Heilberu-fe, die Verbesserung der ärztlichen Ausbildung, den Re-ha-Bereich, Drogenpolitik und nicht zuletzt die sozial-rechtsstaatliche Entwicklung Europas in Angriff zunehmen. Wir hoffen auf kooperative Partnerschaft, undwir hoffen, daß sich die, die im Gesundheitswesen tätigsind, auch als Anwälte der Patientinnen und Patientenverstehen und nicht nur als Sachwalter ihrer eigenen In-teressen.Auf dieser Basis sind wir jederzeit und immer zu ei-nem offenen Dialog bereit, der durchaus auch die Inter-essenslagen derer, die im Gesundheitswesen arbeitenund dort verdienen, berücksichtigen wird.
Alsnächster Redner hat der Kollege Ulf Fink von derCDU/CSU-Fraktion das Wort.Gudrun Schaich-Walch
Metadaten/Kopzeile:
178 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die Regierungskoalitionlegt heute einen ersten Gesetzentwurf im Gesundheits-bereich vor. Es ist anerkanntermaßen nicht die großeGesundheitsreform, sondern es ist ein Vorschaltgesetz.Warum diese große Eile?
Die Regierungskoalition begründet diese große Eile da-mit, daß die Grundlage der gesetzlichen Krankenversi-cherung, die Solidarität, auf das schwerste gefährdet sei.Ich erinnere mich, daß SPD und Grüne, als wir die Zu-zahlungen für Arzneimittel und dergleichen erhöht ha-ben, dieses in der Tat als zutiefst unsozial bezeichnethaben. Sie haben gesagt: ein Anschlag auf die Grundfe-sten unseres Gesundheitswesens.Deswegen habe ich in dieses Vorschaltgesetz ge-schaut, um festzustellen, was verändert worden ist. Wasmuß ich feststellen? Die Zuzahlungen sind bei den gro-ßen Arzneimitteln um 3 DM, bei den mittleren Arznei-mitteln um 2 DM und bei den kleinen Arzneimitteln umgenau 1 DM vermindert worden. Die Zuzahlung imKrankenhausbereich ist gar nicht vermindert worden.Auch die Zuzahlung im Kurmittelbereich ist nicht ver-mindert worden. Die Zuzahlungen für Heilmittel sindebenfalls nicht vermindert worden. Ich habe auch nichtsdavon gelesen, daß Sie die Veränderung beim Kranken-geld rückgängig machen wollen.
Es kann sein, daß Sie eine andere Einschätzung desSolidaritätsprinzips haben. Sie sagen vielleicht: DasSolidaritätsprinzip war doch nicht so stark beeinträch-tigt. Vor den Wahlen konnte man bei Ihnen aber etwasganz anderes lesen.
Da haben Sie plakatiert: „Wir machen nicht alles anders,aber vieles besser.“ Jetzt muß es, glaube ich, heißen:Wir machen nicht alles besser und vieles auch überhauptnicht anders.
Eine wichtige Zielsetzung des vorliegenden Gesetz-entwurfes ist nach Ihren eigenen Aussagen, daß die Bei-tragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung stabilbleiben sollen. Diese Zielsetzung ist absolut richtig.Auch wir sind der Meinung, daß steigende BeitragssätzeGift für Arbeitsplätze wären. Die Frage ist aber: Errei-chen Sie dieses Ziel mit Ihrem Gesetzentwurf? HabenSie für die Mehrausgaben und die Mindereinnahmeneine echte, seriöse Gegenfinanzierung?Wir müssen feststellen, daß nach Ihrer eigenen finan-ziellen Begründung im nächsten Jahr fast 2 Milliar-den DM an Mindereinnahmen und Mehrausgaben ent-stehen werden. Gegenfinanziert wird im wesentlichennur durch die Versicherungspflicht für geringfügige Be-schäftigung. Diese Gegenfinanzierung geben Sie in Ih-rem eigenen Gesetzentwurf zur gesetzlichen Kranken-versicherung mit 1,3 Milliarden DM bis 1,4 Milliar-den DM an.
Dazu kann ich nur sagen: Sie wissen ja noch nichteinmal, wie Sie diesen Gesetzentwurf für die geringfü-gigen Beschäftigungsverhältnisse ausgestalten wollen.Das geht zwischen Kanzler und Arbeitsminister offenbarnoch hin und her: ob Pauschbesteuerung oder nicht, obRente oder nicht, ob Krankenversicherung oder nicht. Indiesem Gesetzentwurf aber schreiben Sie: Diese Versi-cherungspflicht für geringfügige Beschäftigung bringt1,3 Milliarden DM mehr. – Das ist eine Luftnummersondergleichen.Ich finde, Heinz Schmitz hat das im „Handelsblatt“vom 9. November sehr gut beschrieben:Sieht man genauer hin, so fordern BundeskanzlerGerhard Schröder und seine Minister nachBundesbankpräsident Hans Tietmeyer nun einenoch größere Autorität der Deutschen heraus:Adam Riese, den Altmeister des Rechnungswesens.
In der Tat: Höhere Sozialleistungen und niedrigere Bei-träge gleichzeitig zu beschließen – das geht auch bei ei-ner rotgrünen Regierung nicht auf.
Thema Krankenhausnotopfer. Es ist erfreulich,wenn die Versicherten nichts mehr bezahlen müssen.Die Frage ist aber: Wer bezahlt denn nun die Instand-haltungen im Krankenhaus? Wer bezahlt notwendigeReparaturen im Operationssaal? Wer bezahlt die In-standhaltung des Fahrstuhls? – In Art. 5 Abs. 3 Satz 6Ihres Gesetzentwurfes steht die Antwort. Niemand be-zahlt mehr, überhaupt niemand. Das heißt, die Instand-haltungskosten sollen ab 1999 nicht mehr pflegesatzfä-hig sein. Wer bezahlt dann für die Instandhaltungen, fürdie Reparaturen?Eine wirkliche Leistung wäre es gewesen, wenn esIhnen im Unterschied zur alten Regierungskoalition ge-lungen wäre, die eigentlich Verantwortlichen, nämlichdie Länder, zur Zahlung dieser Kosten zu veranlassen.
Bayern zahlt ja. Aber die anderen Länder zahlen nicht.Manche hatten sogar die Hoffnung, daß Ihnen mit einerrotgrünen Mehrheit im Bundestag und einer rotgrünenMehrheit im Bundesrat das möglich würde, was unsnicht möglich war.Was müssen wir aber nun sehen? Sie versuchen nichteinmal, die Länder, wie es sich gehört, zur Finanzierungdieser Kosten heranzuziehen. Das läßt nun in der Tatwenig Gutes für die angekündigte große Gesundheitsre-form erahnen. Wenn Sie sich selbst in einer so eindeuti-gen Frage nicht an die Länder heranwagen, wie wollenSie denn dann die Schlüsselfrage des Gesundheitswe-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 179
(C)
(D)
sens lösen, nämlich die Kostenentwicklung im Kranken-hausbereich?Es ist doch dieser Bereich, der kostenmäßig aus demRuder gelaufen ist. Es sind nicht, wie Sie immer wiedervorgeben, die Kosten für die Ärzte. Denn die hatten frü-her einen Anteil von 20 Prozent an den Krankenkassen-ausgaben, jetzt nur noch von 18 Prozent. Der von Ihnenso viel geschmähte Arzneimittelbereich nahm früher 15bis 17 Prozent der Krankenkassenausgaben in Anspruch,jetzt nur noch etwas über 13 Prozent. Nein, es ist derKrankenhausbereich mit über 34 Prozent der gesamtenKrankenkassenausgaben, der weit überproportional ge-wachsen ist. Ich nenne Ihnen einmal die Vergleichszah-len. Anteil des Krankenhausbereichs an den Kranken-kassenausgaben 1960: 17,5 Prozent, Anteil des Kran-kenhausbereichs an den Krankenkassenausgaben 1970:25 Prozent, jetzt – ich wiederhole es – über 34 Prozent.Das A und O jeder Gesundheitsreform ist, daß auch derKrankenhausbereich seinen Beitrag zur Kostendämp-fung leistet.An den sektoralen Budgets kann man genau sehen,mit wem Sie es gut und mit wem Sie es weniger gutmeinen. Im Krankenhausbereich sind Sie mit dem Bud-get relativ großzügig. Mit dem ärztlichen Bereich mei-nen Sie es schon sehr viel weniger gut. Mit den Zahn-ärzten meinen Sie es gar nicht gut. Bei den Arzneimit-teln schlagen Sie einmal so richtig zu.Ob Sie, Frau Fischer, sehr glaubwürdig sein werden,will ich bezweifeln. Denn in Ihrem Gesetzentwurf steht,was mit denen geschieht, die sich nicht an die Budgetie-rung gehalten haben. Was steht nämlich in Art. 14 IhresGesetzentwurfes? Da steht, daß bei all denjenigen, diedie Budgets überzogen haben, also denjenigen, die sicheben nicht an die Budgets gehalten haben, keine Sank-tionen erfolgen. Sie haben eine Generalamnestie in dasGesetz geschrieben. Wie sollen sich die Leute daranhalten, wenn diejenigen, die sich am schlechtesten ver-halten haben, am ehesten in den Genuß einer Amnestiekommen?
Frau Fischer, Sie haben am Donnerstag vergangenerWoche vor Journalisten erklärt, Sie wollten die Akteurein der Gesundheitspolitik für einen gemeinwohlorien-tierten Reformprozeß gewinnen. Sie haben weiter ge-sagt, das Gesundheitssystem sei auf einen fairen Interes-senausgleich angewiesen. Ja, Frau Fischer, was Sie sa-gen, ist richtig. Genau so sollte man es machen. Aberwas die Regierungskoalition hier vorgelegt hat, atmeteinen ganz anderen Geist.Frau Ministerin, wenn Sie Erfolg haben wollen, denwir Ihnen im Interesse unseres Gesundheitswesens wün-schen, dann müssen Sie sehr aufpassen, daß sich in derRegierungskoalition nicht die Kräfte durchsetzen, dieeine uralte Politik verfolgen. Sie müssen sehr aufpassen,daß die alten Ressentiments aus der sozialdemokrati-schen Mottenkiste nicht fröhliche Urständ feiern. Nochhaben Sie Zeit dazu.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfes auf Drucksache 14/24 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse, jedoch nicht an den
Haushaltsausschuß, vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Themenbereich Familie, Senioren,
Frauen und Jugend.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Kollegin Hannelore Rönsch von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
HerrPräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen! Liebe Kollegen! Gestern hatten wir dieGelegenheit, zwei Stunden lang dem Bundeskanzler beiseiner Regierungserklärung zuzuhören.
Natürlich haben diejenigen, die für Familien-, Senioren-,Frauen- und Jugendpolitik zuständig sind, mit besonde-rem Interesse gehört, welchen Stellenwert dieses Mini-sterium für den neuen Bundeskanzler hat: Zwei StundenBeliebigkeit und zwei Stunden wenig zu diesem Thema.
Frau Ministerin Bergmann, ich wünsche Ihnen für dienächsten vier Jahre sehr viel Kraft und vor allem Durch-setzungsvermögen. Sie werden uns an Ihrer Seite haben,wenn es gilt, für den Personenkreis zu kämpfen, für denSie verantwortlich sind. Sie werden uns auch immerdann an Ihrer Seite haben, wenn es darum geht, die In-teressen Ihres Ministeriums gegenüber denen zu vertre-ten, die die Arbeit, die dort geleistet wird, mit „Gedöns“abtun. Fragen Sie uns, wir werden Ihnen helfen.
Es ist heute schon mehrfach gesagt worden, daß inden unterschiedlichen Ministerien ein gut bestelltesHaus übergeben wird.
Ich möchte das auch für das Ministerium für Familie,Senioren, Frauen und Jugend ausdrücklich wiederholen.Denn man merkt, daß hier die Abrißbirne herausgeholtwerden soll und daß Leistungen, die in den vergangenenJahren und Jahrzehnten unserer Bevölkerung zugute ge-kommen sind, auf einmal gar nicht mehr erwähnt wer-den. Da so vieles vergessen wird, will ich Ihnen sagen,was dieses Ministerium für die Generationen, die nunIhnen anvertraut sind, in den vergangenen 16 Jahrengeleistet hat – oft gegen den Widerstand der SPD,manchmal auch auf der Grundlage von GesetzentwürfenUlf Fink
Metadaten/Kopzeile:
180 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
der SPD, die sie zwar immer in der Schublade hatte,aber nie selbst verwirklichen konnte.
Ich nenne als erstes Erziehungsgeld und Erzie-hungsurlaub. Wer sich noch ein bißchen erinnern kann,wird doch wohl noch wissen, daß die Umsetzung vonErziehungsgeld und Erziehungsurlaub auch immer einWunsch von Ihnen gewesen ist. Sie hatten dafür nur nieeine Mark in der Tasche. Ich werde an anderen Stellennoch darauf zurückkommen.Ich nenne die Anerkennung der Kindererziehungs-und der Pflegezeiten in der Rente, eine Leistung, dieganz besonders den Frauen zugute gekommen ist.
Ich nenne die Freistellung von der Berufstätigkeit beiKrankheit der Kinder, die Verbesserung der Bedingun-gen für Teilzeitarbeit, den Rechtsanspruch auf einenKindergartenplatz, den wir gemeinsam erkämpft haben –es hat lange genug gedauert – und die Wiedereinführungdes Kinderfreibetrages sowie die sukzessive Erhöhungdes Kindergeldes.Gestern wurde uns angekündigt – es wurde in derRegierungserklärung wirklich nur über Monetäres ge-sprochen –: Das Kindergeld wird erhöht, so wie es vorder Wahl versprochen wurde. Wir freuen uns mit Ihnenfür die Familien. Auch hier werden wir an Ihrer Seitestehen und dafür kämpfen. Denn wir mußten in diesemHause schon einmal erleben, daß eine Familienministe-rin – das war das letzte Mal, als Sie regiert haben –nämlich Anke Fuchs, eine Kindergelderhöhung ange-kündigt hat, die dann auch tatsächlich unmittelbar vorder Wahl umgesetzt wurde. Aber bereits ein Jahr spätermußte Frau Fuchs die Wahlversprechen wieder einkas-sieren.
Die Familien haben das Nachsehen gehabt. Wir werdenIhnen, Frau Ministerin, zur Seite stehen, aber Ihnen auchsehr auf die Finger schauen, damit die Familien nichtwieder betrogen werden.
Die Familien werden zumindest dann betrogen, wennich mir Ihre Vorschläge zur Ökosteuerreform betrachte.Es ist unglaublich, daß die Familien durch eine Kinder-gelderhöhung mehr Geld in die eine Tasche bekom-men, was ihnen durch die Ökosteuerreform wieder ausder anderen Tasche gezogen wird.
Es ist vollkommen egal, welchen Bereich Sie betrachten,ob Strom oder Gas: Es sind immer die Familien, die esbetrifft.
Nehmen Sie zum Beispiel das Benzin. Mit Sicherheitwird der Schulbus für die Familie teurer werden. DieBäckereien als die energieintensivsten Betriebe werdensich auch ihre Gedanken machen und die Energiever-teuerung auf die Preise für das Brot umlegen. Das sollden Familien an gar keiner Stelle wehtun? Sie habendoch hoffentlich auch einmal die Berechnungen ange-stellt, über die man momentan in allen großen Tages-zeitungen nachlesen kann, bevor Sie an solche Reform-vorhaben herangehen; denn hier wird Ihnen ja von denWirtschaftswissenschaftlern vorgerechnet, daß die Kin-dergelderhöhung durch die Ökosteuer aufgezehrt wird.
Dazu müssen Sie sich – das muß ich Ihnen sagen –schon einmal vorher Ihre Gedanken machen.Im Bildungsbereich haben wir Programme zur Heran-führung von Mädchen und Frauen an moderne Techno-logien und weit angelegte Initiativen wie „Frauen inMännerberufen“ aufgelegt. Wir haben Art. 3 des Grund-gesetzes geändert und die staatliche Verpflichtung fest-geschrieben, „die tatsächliche Durchsetzung der Gleich-berechtigung von Frauen und Männern“ zu fördern undBenachteiligungen zu beseitigen.
– Ja, aber selbstverständlich; in allen Lebensbereichenhaben wir es umgesetzt.
Ich habe vier Jahre ein Ministerium geleitet, und die-ses Ministerium für Familie und Senioren war das Mi-nisterium, das gerade im höheren Dienst den höchstenFrauenanteil hatte. Nun sind Sie gefragt. Liebe Kolle-ginnen aus der SPD-Fraktion, ich hätte mir schon ge-wünscht, daß Sie Ihrem Kanzler wenigstens etwas mehrüber Frauenpolitik in sein Redemanuskript geschriebenhätten;
davon stand an keiner Stelle etwas.
Für uns heißt Familienpolitik auch, daß wir die Fa-milien mit Preisstabilität in die Lage versetzen, für ihrGeld tatsächlich etwas zu bekommen. Im Moment habenwir eine Inflationsrate von 0,7 Prozent. Die Familienbehalten das in der Tasche, was sie tatsächlich erarbei-ten. Auch in diesem Punkt werden wir darauf achten,daß das in Zukunft so bleibt.Frau Kollegin, einige Punkte liegen mir auch nochsehr am Herzen. Bisher habe ich Äußerungen von IhnenHannelore Rönsch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 181
(C)
(D)
dazu immer nur in Presseinterviews gelesen. Deshalbwill ich doch noch einige Anmerkungen zum Stellen-wert der Familien machen. Es mag nämlich sein –persönlich habe ich Sie dazu noch nicht gehört –, daßSie verkehrt zitiert worden sind. Ich will Ihnen unserePositionen zum Stellenwert der Familie in der Gesell-schaft einmal deutlich darstellen. Für uns bleiben dieFamilien die wichtigste Einheit in unserer Gesellschaft;denn sie vermitteln die Werte und die Verhaltensweisen,ohne die eine freie und solidarische Gesellschaft nichtmöglich ist.
Dazu haben wir über 16 Jahre die Grundlagen geschaf-fen, und dazu haben wir über 16 Jahre gestanden.
Jetzt gibt es aber offensichtlich Auflösungserscheinun-gen – auch bei Ihnen in der SPD. Wenn Sie sich einmaldie Statistiken anschauen, dann sehen Sie, daß immernoch 80 Prozent der jungen Männer und Frauen in einerFamilie leben, heiraten und Kinder haben wollen.
Für uns gilt es, die Familie weiterhin auch ideell zustärken. Wir stimmen Ihrer Definition im Koalitionsver-trag „Familie ist, wo Kinder sind“ nicht zu.
Für uns ist Familie grundsätzlich: Mann, Frau, Kinder.
Alle anderen Lebensformen sind Ausnahmeerscheinun-gen, die wir schützen und tolerieren.
– Warum sind Sie so aufgeregt? Können Sie diese Posi-tionen nicht mehr ertragen?
Wir werden die nächsten vier Jahre sehr ausführlichdarüber diskutieren. Von uns können Sie Toleranz ge-genüber anderen Lebensformen erwarten. Ich erwarteaber auch von Ihnen Toleranz.
– Zwischenfragen von der PDS werde ich mit Sicherheitnicht zulassen.
– An dieser Stelle verstehe ich Ihre Aufregung nicht.
Es mag sein, daß Ihnen das Wort ,,Toleranz“ fremd ist.Sie werden erleben: Wir werden Toleranz in der Oppo-sition, also in der Rolle, die wir jetzt haben, immer wie-der einfordern.Ein Weiteres, sehr verehrte Frau Ministerin, das mirin Ihren Interviews aufgefallen ist: Sie haben sich fastausschließlich auf die berufstätige Frau konzentriert. Icherwarte von Ihnen Respekt auch vor anderen Lebens-entwürfen. Wenn sich Frauen in der alten Bundesrepu-blik dazu entschieden haben, ihre Arbeitsleistung in derFamilie zu erbringen und Kinder zu erziehen, dann hatdas auch Ihren Respekt und Ihre Anerkennung verdient.
Ich bitte Sie, in der Zukunft mit Ihren Aussagen hierzuein wenig vorsichtiger zu sein.Ich will noch ganz kurz zum seniorenpolitischen Teilkommen. Ich habe mir Ihre Koalitionsvereinbarung an-geschaut. Es scheint hier wenig Widersprüche zu unse-rer Politik zu geben, und darüber bin ich ausgesprochenfroh. Denn ich denke, gerade unsere ältere Generationhat es nicht verdient, in die Mühlen der Politik zu gera-ten. Ich empfehle Ihnen – dieser Rat muß gestattet sein –,daß Sie den Bundesaltenplan weiter ausbauen. Ich habe1993 die Institution der Seniorenbüros ins Leben geru-fen, und wir haben mittlerweile 114 in der Bundesre-publik Deutschland. Gerade in der letzten Woche hateine große Veranstaltung stattgefunden, an der auch ichteilgenommen habe. Die älteren Menschen nutzen die114 Seniorenbüros; sie treffen sich dort und bringen ihreFähigkeiten ein. Ich bitte Sie, den Bundesaltenplan fort-zuschreiben und die Seniorenbüros zu unterstützen. Bis-her waren im Haushalt 30 Millionen DM veranschlagt.Ich denke, daß Sie hierfür noch ein Stück mehr einfor-dern müssen.
Gerade 1999 – es ist das Internationale Jahr der Se-nioren – bietet die beste Gelegenheit, die Solidaritätzwischen den Generationen verstärkt einzufordern:Denn auch durch die von Ihnen mitverursachte Diskus-sion um die Rentenversicherung ist ein Stück dieser So-lidarität von jungen zu alten Menschen verlorengegan-gen. Hier ist es Ihre Aufgabe, zur Versöhnung beizutra-gen.Für Ihre Arbeit wünsche ich Ihnen Kraft und dieStandfestigkeit, sich der Männerwelt – das hat sich ge-stern in der Regierungserklärung sehr deutlich gezeigt –zu widersetzen,
so daß wir das Wort „Gedöns“ für die Arbeit, die Sieleisten, nie mehr hören.
Alsnächste Rednerin hat die Bundesministerin ChristineBergmann das Wort.Hannelore Rönsch
Metadaten/Kopzeile:
182 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe FrauRönsch, zunächst einmal herzlichen Dank für Ihrefreundlichen Wünsche. Ich weiß sie durchaus zu schät-zen, auch wenn ich nicht allen Ihren Empfehlungen fol-gen werde. Auch dafür haben Sie sicher Verständnis.
Sie können ziemlich sicher sein, daß ich mich in derMännerwelt ganz gut durchsetzen kann. Das habe ichschon zeitig gelernt. Ich bin mit drei Brüdern groß ge-worden. Das hat mir im späteren Leben immer sehr ge-holfen,
egal von welcher Seite der Widerstand kam. Ich werdedas eine oder andere zu diesem Thema noch sagen.Zu Ihrer Behauptung vom gut bestellten Haus kommeich noch, wenn ich auf die einzelnen Themen eingehe.Ich sehe leider, daß einiges neu zu beackern und zu be-stellen ist, damit es im Interesse von Familien, vonFrauen, von Jugend und Senioren in diesem Lande einStück weitergeht. Frau Rönsch, Sie haben sicherlichnicht immer genau hingehört: Der Kanzler hat einigeDinge zur Frauenpolitik sehr detailliert angesprochen.Darüber können wir noch reden.Wenn wir über Familien-, Frauen-, Jugend- und Se-niorenpolitik sprechen, müssen wir uns auch darüber imklaren sein, daß wir dann vor allen Dingen auch über dasThema Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sprechen.
Genau das haben wir heute sehr ausgiebig getan. – Sienicken. Das ist so. Arbeitslosigkeit ist häufig die Ursa-che sozialer Probleme in den Familien. Arbeitslosigkeitist die Ursache der Armut von Alleinerziehenden, undAusbildungsplatzmangel ist die Ursache der Perspektiv-losigkeit von Jugendlichen. Wir haben dieses Thema aufden obersten Platz unserer Liste gesetzt, weil wir vielegesellschaftspolitische Probleme mit lösen können,wenn es uns gelingt, kräftig anzupacken.Unsere Vorstellung von mehr Menschlichkeit undsozialer Gerechtigkeit meint eine Gesellschaft, in derdie Familien mit Kindern gut aufgehoben sind, in der dieGleichstellung von Mann und Frau nicht nur auf demPapier steht und rechtlich fixiert ist, sondern auch wirk-lich gelebt wird. Sie beinhaltet ein Land, das seiner Ju-gend eine Zukunft gibt und den älteren Menschen einenPlatz in seiner Mitte einräumt. Wir reden nicht nur dar-über – das ist der Unterschied –, sondern wir tun dafürauch etwas.
Einiges haben wir schon auf den Tisch gelegt.Ich beginne mit dem Thema Familienpolitik. Siekönnen doch nicht über das hinwegsehen, was wir imMoment zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situationder Familien tun. Sie haben das mit Recht angemahnt.Wir haben gesagt: Wir werden das Kindergeld ab 1999auf 250 DM erhöhen. – Wenn ich an das denke, was Siesich an Verbesserungen der Familien- und Frauenpolitikder letzten Jahre auf Ihre Kappe geschrieben haben,dann fällt mir beim Kindergeld ein, daß Erhöhungenhäufig durch die Opposition gegen Ihren Widerstand er-zwungen worden sind.
2002 werden wir das Kindergeld auf 260 DM erhöhen.Wir werden Familien steuerlich beträchtlich entla-sten. Für eine durchschnittlich verdienende Familie mitzwei Kindern soll schrittweise eine steuerliche Entla-stung von 2 700 DM erreicht werden. Dies ist, denkeich, ganz wirksam, auch wenn wir uns alle immer nochmehr vorstellen.
Zum Teil haben Sie hierzu schon eine Vorlage auf demTisch.Frau Rönsch, Sie haben auch das Erziehungsgeldund den Erziehungsurlaub angesprochen. Wir habenvereinbart, daß wir beim Erziehungsgeld schrittweise dieEinkommensgrenzen anheben wollen. Das steht schonlange an; darüber haben wir schon mehrfach geredet.
– Ja, gerne.
Frau
Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Aber sicher.
FrauMinisterin, die Genehmigung für eine Zwischenfragegibt immer nur der Präsident. Deshalb habe ich nocheinen Augenblick gezögert.
– Ich habe das nur zum Einstieg gesagt, und es war auchüberhaupt nicht böse gemeint. Würden Sie nicht immerso verkniffen reagieren, hätten Sie das vielleicht auchzur Kenntnis genommen.
– Es ist ja nun wirklich schlimm: Sie haben immer nochdie Oppositionsstimmung drauf. Gewöhnen Sie sichdoch einmal ans Regieren, und seien Sie entspannter!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 183
(C)
(D)
Frau Ministerin, ich möchte von Ihnen wissen, ob Siesich jetzt auch an die sozialdemokratischen Bundeslän-der wenden, damit diese endlich ebenso wie die von derCDU und der CSU regierten Bundesländer ein eigenesErziehungsgeld finanzieren.
In Bayern, Sachsen und Baden-Württemberg wird eineigenes Landeserziehungsgeld gezahlt. In Rheinland-Pfalz gab es das einmal, eingeführt durch die CDU. Esist dann aber durch die von der SPD geführte Regierungabgeschafft worden. Sehen Sie Möglichkeiten, auf dievon der SPD regierten Bundesländer Einfluß zu nehmen,damit es auch dort zur Entlastung der Eltern ein Lan-deserziehungsgeld gibt?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, ich kann dielange Frage in der Tat knapp beantworten: Das werdeich nicht tun. Sie haben mich ja gerade dafür gescholten,daß für mich die Erwerbsarbeit für Frauen so im Vor-dergrund steht. Ich werde nichts unterstützen, das Frau-en noch länger vom Arbeitsmarkt fernhält, weil ichweiß, welche Konsequenzen das hat.
War das klar genug?
Wir waren bei der Anhebung der Einkommensgren-zen beim Erziehungsgeld. Dies halte ich nun wirklichfür sehr wichtig. Sie wissen, daß hier seit zwölf Jahrennichts passiert ist. Wir werden schrittweise wieder dafürsorgen, daß die Mehrzahl der Familien ein Erziehungs-geld bekommt.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen.Wir haben auch ganz klar gesagt – auch das spielt inder Debatte ja eine Rolle –, daß wir den Splittingvorteilder Ehepaare kappen wollen. Es ist durchaus zu vertre-ten, daß man bei den höheren Einkommen zugunsten derFamilien mit Kindern umverteilt. Das ist nämlich ausmeiner Sicht Familienpolitik, und das ist auch nicht ver-kniffen.
Weil Sie es ebenfalls ansprachen, sage auch ich klar,welches unser Familienbegriff – es ist auch der meinige –ist. Wir definieren Familie weiter, als Sie es tun. Daswird der Realität einfach mehr gerecht. Familie wirdheute in vielfältiger Form gelebt. Damit respektierenwir, daß Alleinerziehende oder auf Dauer angelegtenichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern Fa-milien sind.
Sie haben die Alleinerziehenden ausgeschlossen; das hatmir weh getan. Das sind für uns Familien.
Damit gehen wir durchaus nicht gegen den Art. 6 desGrundgesetzes vor. Wir wollen auch in gar keiner Weise– ich lebe selber seit 35 Jahren in einer Ehe, die mir vielgibt – gegen eheliche Lebensgemeinschaften vorgehen.Wir tragen nur der Realität Rechnung. Es ist einfach so,daß viele Menschen in diesem Land anders zusammen-leben.Für uns zählen – ich sage Ihnen das, weil Sie immerso sehr auf den Wertbegriff abstellen – Fürsorge fürein-ander und Verantwortung zwischen den Generationen.Diese Werte wollen wir politisch unterstützen, und dieseWerte werden eben auch in unterschiedlichen Familien-formen gelebt. Das ist die Realität; sie müssen wir ein-fach zur Kenntnis nehmen. Aber mit der Realität habenSie sich ja schon manchmal schwergetan.
Wenn wir über Erziehungsurlaub reden, müssen wirnatürlich auch darüber reden, wie wir ihn weiterentwik-keln wollen. Wir wollen diesen Erziehungsurlaub zueinem Elternurlaub umwandeln, damit wirklich einepartnerschaftliche Erziehung in dieser Gesellschaftmöglich wird. Wir wollen ein Konto, von dem beideElternteile, Vater und Mutter, Erziehungszeiten abrufenkönnen, und einen Anspruch auf Teilzeitarbeit einfüh-ren, damit beide Elternteile Kindererziehung und Be-rufsarbeit miteinander vereinbaren können. Damit wirdauch die Sorge darüber, wie man auf den Arbeitsmarktzurückkommt, geringer. Wir wollen die Wahlfreiheitfördern. Eine partnerschaftliche Teilhabe an Familie undBeruf von Müttern und Vätern ist ein vernünftiges Mo-dell. Dazu werden wir demnächst einen Gesetzesentwurfvorlegen. Vielleicht können wir dem auch gemeinsamzustimmen.
Wir wollen auch eine Arbeitswelt, die familien- undfrauenfreundlicher ist. Dafür werden wir sorgen. Ich la-de alle Tarifpolitiker ein, das Ihre dazu zu tun.
FrauMinisterin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-gen Hüppe?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja. Ich halte michjetzt an die Form. Bitte.
Hannelore Rönsch
Metadaten/Kopzeile:
184 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Frau Ministerin, vordem Hintergrund Ihrer Aussage, daß ein Landeserzie-hungsgeld für das dritte Jahr nicht notwendig ist, frageich Sie, ob Sie dann auch konsequenterweise einenRechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab demzweiten Lebensjahr einführen und den Erziehungsurlaubvon drei auf zwei Jahre kürzen wollen.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich will den Erzie-hungsurlaub nicht kürzen. Das ist ganz klar. Zu demThema Kinderbetreuung kommen wir noch. Wir habennicht zuviel, sondern zuwenig Kinderbetreuungsein-richtungen.
Wir brauchen vor allen Dingen Kinderbetreuungsein-richtungen auch für Kinder unter drei Jahren und fürSchulkinder, wenn wir wollen, daß Frauen und MännerKindererziehung mit Erwerbsarbeit verbinden könnenund dieses auch gesellschaftlich akzeptiert wird. In denneuen Bundesländern gibt es noch eine bedarfsgerechteVersorgung, die Standard für ganz Deutschland werdensollte. Das wird nicht ganz einfach sein, aber ich hoffeauf Unterstützung in diesem Hause und von vielen ande-ren gesellschaftlichen Gruppen.
Meine Damen und Herren, wir haben über das ThemaErziehungsurlaub geredet. Ich möchte noch einmal aufeinen für mich wichtigen Schwerpunkt eingehen; FrauRönsch, Sie haben das angesprochen; auch das ist ge-sellschaftliche Realität. Wir zwingen nicht Frauen, diesich lieber um Erziehungsarbeit kümmern wollen, in dieErwerbsarbeit hinein; aber wir gehen davon aus, daßFrauen und Männer das gleiche Recht auf Erwerbsarbeithaben, und wollen, daß sie dieses Recht in dieser Gesell-schaft auch wahrnehmen können.
Dazu gehört zum einen der Ausbau von Kinderbe-treuungseinrichtungen; das setzt den gleichberechtigtenZugang zum Arbeitsmarkt und auch eine gesellschaftli-che Akzeptanz des Anspruchs von Frauen auf Er-werbsarbeit voraus. Hier sehe ich bei uns in Deutschlandeinen großen Nachholbedarf, gerade auch im Vergleichzu unseren Nachbarländern.Ich wurde eben aufgefordert, mich in der Männerweltgut durchzusetzen. In diesem Zusammenhang will icheinmal sagen, was mir bei der gestrigen Debatte sehrunangenehm aufgefallen ist: Offensichtlich ist die Ak-zeptanz von kompetenten Frauen auch hier nicht allseitsverbreitet. Es gab gestern ein paar Hiebe auf ChristaMüller, bei denen ich mich fragte, was das eigentlichsoll.
Das war nicht nur ein schlechter Stil, sondern schon fastfrauenfeindlich.
– Ja, das ist so. – Wenn sich kompetente Frauen zu har-ten Themen wie zum Beispiel zur Geldpolitik äußern,finde ich das sehr gut. Von mir aus könnte es ruhig nochmehr kompetente Frauen in diesen Bereichen geben.Das gilt auch für Frauen von Bundesministern.
Denen können wir kein Rede- oder Berufsverbot ertei-len. Herr Glos, der sich ja in dieser Weise geäußert hat,
hat, wie ich glaube, auch bei den Frauen seiner eigenenFraktion nicht viel Zustimmung bekommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein-mal auf das Thema „gut bestelltes Haus“ und darauf zu-rückkommen, wie es mit der Gleichberechtigung derGeschlechter aussieht. Sie wissen, daß wir – das hatauch der Kanzler gestern sehr deutlich ausgeführt – einAktionsprogramm „Frau und Beruf“ starten wollen. Da-zu gehört ein ordentliches Gleichstellungsgesetz, dasdiesen Namen auch verdient, ein effektives Gleichstel-lungsgesetz, das auch für den Bereich der Privatwirt-schaft Anwendung findet. Dazu gehören arbeitsrechtli-che Regelungen, wie Benachteiligungsverbote und dieverbesserte Absicherung der Teilzeitarbeit. Dazu gehörtauch die bevorzugte Vergabe öffentlicher Aufträge ansolche Unternehmen, die Frauen fördern. Das soll einAnreiz zur beruflichen Gleichstellung sein. Dazu gehörtauch, daß Frauen grundsätzlich die Hälfte der Ausbil-dungsplätze in den zukunftsträchtigen Berufen bekom-men. Wir wissen, dafür ist einiges zu tun. Man kannzum Beispiel Anreizsysteme schaffen. Auf diesem Ak-ker ist durchaus noch einiges zu bestellen. Wir wollenFrauen gezielt unterstützen, die in die Selbständigkeitgehen. Auch die Förderung von Frauen in Lehre undForschung muß vorangebracht werden. Aber das ist beider Wissenschaftsministerin mit Sicherheit in gutenHänden.
Wir werden auch die Verschlechterungen im Arbeitsför-derungsgesetz wieder rückgängig machen. Wir wußtenimmer, was eigentlich passiert, hatten aber leider nichtdie Mehrheiten, um das zu verhindern.Meine Damen und Herren, auch das Thema „Gewaltgegen Frauen“ ist ein Schwerpunkt unserer Regierungs-politik. Ich denke, daß wir da gemeinsam handeln kön-nen. Dieses Thema muß stärker in das öffentliche Be-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 185
(C)
(D)
wußtsein rücken. Wir müssen neue Initiativen entwik-keln, die Gewalt vorbeugen, die Frauen mehr Schutzund Hilfe gewähren, wie zum Beispiel die vereinfachteZuweisung der Ehewohnung in den Fällen, in denenGewalt ausgeübt wird.
Dazu gehört natürlich auch die Bekämpfung desFrauenhandels. Hier können wir in der Kontinuität derArbeit bleiben. Es ist schon eine ganze Menge passiert.Im Bereich der nationalen Arbeit und der internationalenZusammenarbeit muß aber mehr erfolgen.Beim Thema „Gewalt“ müssen wir natürlich auch aufdas Thema „Jugendpolitik“ zu sprechen kommen. Leiderist das so. Ein Schwerpunktthema dieser Legislaturperi-ode wird die Stärkung der Kinderrechte, der Schutzvon Kindern vor Gewalt, Mißbrauch und sexueller Aus-beutung sein. Auch hier können wir an vieles anknüp-fen, was schon gelaufen ist. Aber es müssen auch neuePunkte hinzukommen; denn die Stärkung von Kinder-rechten und der Schutz vor Gewalt fängt schon bei derErziehung an. Es ist unbestreitbar, daß zwischen der er-lebten Gewalt von Kindern und Jugendlichen und derAusübung von Gewalt ein enger Zusammenhang be-steht. Deswegen ist es für uns logisch und richtig, daßwir das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehungauch gesetzlich verankern. Hierfür bitte ich ebenfalls umUnterstützung.
Sie alle wissen genau, daß wir damit nicht Elternkriminalisieren wollen, sondern daß es einfach darumgeht, ein gesellschaftliches Leitbild zu formulieren, dasder Gewalt von vornherein keine Chance gibt. Kinderdürfen gar nicht lernen, daß Gewalt ein Mittel der Kon-fliktbewältigung ist, sondern müssen andere Formen derErziehung erleben.
Das war im übrigen auch eine Empfehlung des leidernur sehr einseitig diskutierten Zehnten Kinder- undJugendberichtes der Sachverständigen. Ich kündigehier an, daß ich mich mit den Sachverständigen nocheinmal zusammensetzen werde. Wir werden darüberdiskutieren, wie wir Kinderrecht stärken, wie wir Kin-derarmut in der Gesellschaft besser bekämpfen können.Das ist kein Thema, das man sozusagen in einem Vier-teljahr erledigen kann. Ich bitte, weil ich davon ausgehe,daß es unser aller Anliegen ist, auch hier um Ihre Mitar-beit.
Wenn wir über die gesellschaftliche Integration vonjungen Menschen reden, muß sich unser Blick auch aufdie jungen Aussiedlerinnen und Aussiedler und auf diebei uns lebenden ausländischen Jugendlichen richten.Wir müssen auch diesen jungen Menschen eine berufli-che Perspektive schaffen, damit sie eine Zukunft in un-serem Lande haben.
Meine Damen und Herren, die Seniorenpolitik ist hierschon angesprochen worden. Ich denke, hier werden wirdie wenigsten Konflikte miteinander haben, obwohlauch hier noch viel zu bestellen ist. Politik für ältereMenschen muß wieder in den Vordergrund kommen,aber nicht nur verbal.Es geht wirklich darum, die Mitspracherechte undMitbeteiligung älterer Menschen, die schon jetzt vielewichtige Aufgaben übernehmen, im Rahmen der Inte-gration in die Gesellschaft zu stärken. Wir müssen denMenschen, die immer früher aus dem Arbeitsleben aus-scheiden und nur schwer wieder hineinfinden, wenn siezum Beispiel mit 55 arbeitslos geworden sind, eine neuePerspektive in der Gesellschaft geben, zumal die Gesell-schaft ihre Mitarbeit dringend braucht. In diesem Be-reich werden wir einiges auf den Weg bringen.Wir müssen im Bereich der rechtlichen Regelungeneine ganze Menge tun. Es liegt viel auf dem Tisch: dasHeimgesetz, die Heimmindestbauverordnung, das The-ma ambulante Dienste, das Thema Altenpflegeausbil-dung. Wie Sie wissen, ist die Diskussion zum ThemaAltenpflegeausbildung – in diesem Zusammenhangmuß man deutlich sagen: jedes Land hat eine eigene Re-gelung; wir müssen aber eine bundeseinheitliche Rege-lung erreichen – in den letzten Jahren immer wieder dar-an gescheitert, daß sich die Bundesregierung von derBayerischen Staatsregierung, die eine bundeseinheitlicheAusbildung nicht wollte, bremsen ließ.
Es ist richtig, in diesem Bereich ein Gesamtpaket zuschnüren und ein ordentliches Strukturgesetz zu entwer-fen, in dem all diese angesprochenen Novellierungenenthalten sind und in dem eine Leitlinie für eine moder-ne, zukunftsorientierte Altenpolitik festgeschriebenwird.
FrauMinisterin, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, ich komme zumSchluß.Die zentralen Leitlinien unserer Politik sind die Be-kämpfung von Armut, die Durchsetzung der tatsächli-chen Gleichstellung von Frauen und Männern, die Äch-tung und Bekämpfung jeder Form von Gewalt und so-zialer Ausgrenzung. Ich bitte Sie dabei um Ihre Unter-Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
Metadaten/Kopzeile:
186 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
stützung. Viele Menschen im Lande warten darauf, daßauf diesem Feld endlich wieder Politik stattfindet.Ich danke Ihnen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ina Lenke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Ganz zu Anfang möchte ich bemerken: Mirist aufgefallen, daß Kanzler Schröder kein sehr großesInteresse an diesem Bereich der Politik hat.
Auch das Kabinett ist nur sehr schwach vertreten.
Herr Hombach, es freut mich, daß wenigstens Sie anwe-send sind. Vielleicht können Sie unsere Interessen ge-genüber dem Kanzler vertreten und ihm mitteilen, waswir gesagt haben, denn er hat sicherlich keine Zeit, dasProtokoll zu lesen.Liberale Frauen haben im Bundestag stets für dieVerbesserung der Lebensverhältnisse von Familien,Frauen, Jugendlichen und Senioren gestritten. Ich nennenur einige Erfolge liberaler Politik in der letzten Legis-laturperiode: die Änderung des § 218, Verbesserungenim Kindschaftsrecht, Verbesserungen beim Familienla-stenausgleich,
die strafrechtliche Verfolgung der Vergewaltigung inder Ehe. Dafür steht unsere Abgeordnete SabineLeutheusser-Schnarrenberger in ganz besonderer Weise.
Die letzte Legislaturperiode, in der ich leider nochnicht Mitglied des Bundestages war, hat eine Entlastungfür Familien von 16 Milliarden DM erbracht. Dahermüssen Sie von der Regierungsbank nicht so sehr wei-nen. Wir haben etwas für die Familien getan.
Für eine erfolgreiche Frauen- und Familienpolitikbrauchen wir in der Bundesrepublik Grundvorausset-zungen. Die Grundvoraussetzungen sind die, für die dieF.D.P. im Bundestagswahlkampf gekämpft hat: Wirbrauchen erstens eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik,die Arbeits- und Ausbildungsplätze schafft.Wir brauchen zweitens eine wirklich große Steuerre-form und kein Reförmchen.
Die zögerliche Senkung des Eingangssteuersatzes beider Lohn- und Einkommensteuer durch die Regierungschafft für die Familien keine wesentliche Entlastung.Ich möchte auf die Steuerklasse V eingehen, die michschon immer aufgeregt hat. Hinzuverdienende Frauen inFamilien werden sich bei Ihnen bedanken, daß sie mitder Steuerklasse V weiterhin weniger im Portemonnaiehaben. Unsere Steuerreform hätte das Problem mit ge-löst.
Wir brauchen drittens nicht Ihre, sondern eine andereReform der sozialen Sicherungssysteme. Es kann dochwirklich nicht sein, daß eine Seniorin über ihre Zahlungder Ökosteuer nun zum zweitenmal in die Rentenkasseeinzahlt. Das wollen wir nicht.
Ich komme zu einem Punkt, der Sie sicher wiederaufregen wird, aber das freut mich. Es geht um die 620-DM-Arbeitsverhältnisse. Die F.D.P. will nicht, daß sieabgeschafft werden.
Im Bundestagswahlkampf haben viele von Ihnen bei denBürgern und Bürgerinnen den Eindruck erweckt, hier seiein ordentlicher Rentenanspruch zu realisieren: Ein Jahrmonatlich 620 DM gleich 6 DM Altersrente im Monatist wirklich viel zuwenig. Das Ergebnis Ihres Handelnswird auch sein, daß diese Arbeitsplätze – auch das sindArbeitsplätze – verschwinden werden.
Meine Damen und Herren, ich will mich recht kurzfassen, denn ich habe nur noch zwei Minuten.Ein weiterer Kritikpunkt ist die von Ihnen angespro-chene Scheinselbständigkeit von Frauen. Sie stellenPrüfkriterien auf, an denen Sie Scheinselbständigkeitmessen wollen. Existenzgründerinnen werden hiervonbesonders betroffen sein.
Die Frauen beginnen ihre Selbständigkeit im kleinenRahmen als Unternehmerinnen ohne zusätzliches Perso-nal, vielleicht mit einem Kunden, vielleicht für einenAuftraggeber und mit geringem Startkapital. Wenn Siejetzt auch noch mit den Belastungen aus dem Sozialver-sicherungsbereich kommen, dann, denke ich, werdenviele Frauen wieder abspringen und das gar nicht ma-chen.Dann ganz kurz zu Ihrem Versprechen: 100 000 Ar-beits- und Ausbildungsplätze. Der MinisterpräsidentSchröder hat in Niedersachsen eine miserable Unter-richtsversorgung hinterlassen.
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 187
(C)
(D)
Das heißt, wir brauchen erst eine gute Schulausbildung,erst dann können Sie mit diesem Programm erfolgreichsein.
Meine Damen und Herren, ich komme zu dem Ak-tionsprogramm „Frau und Beruf“. Knackpunkte sindhier für mich das Gleichstellungsgesetz mit verbindli-chen Regelungen für die private Wirtschaft, die gesetzli-che Quotierung der Ausbildungsplätze – das verstehe ichüberhaupt nicht – 50:50, die Bindung der öffentlichenAuftragsvergabe an frauenfördernde Maßnahmen.
Ich war im Niedersächsischen Landtag. Frau Dückert,wir beide haben festgestellt, daß es nicht geht. Nunwollen wir mal sehen, ob es im Bundestag geht. Ich ha-be da keine Hoffnung, und das freut mich. Ich sage Ih-nen: Nicht mit meiner Stimme und auch nicht mit denStimmen unserer Fraktion werden Sie diese wirtschafts-feindlichen Dinge durchbringen.
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion wirdsich im Bereich Frauen, Familie, Senioren und Jugendbesonders engagieren: Verbesserungen der Betreuungs-möglichkeiten für Kinder, eigenständige Alterssicherungfür Frauen, Förderung der Familie, aber auch Abbau derDiskriminierung nichtehelicher Lebensgemeinschaften.Die rechtliche Gleichstellung von schwulen und lesbi-schen Lebensgemeinschaften wollen wir ebenfalls. Ichwill mich einsetzen für die soziale Absicherung vonProstituierten und endlich – endlich! – für die Einfüh-rung von RU 486. Ich hoffe, zumindest da sind wir unseinig.Recht herzlichen Dank.
Das wardie Jungfernrede von Frau Lenke. Vielen Dank.Als nächste Rednerin hat die Kollegin IrmingardSchewe-Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Darauf haben die Frauen der Republik lange wartenmüssen: auf den Paradigmenwechsel in der Frauenpoli-tik. Schluß mit Politikersatz durch Modellprojekte undBroschüren! Schluß mit der Heim und Herdpolitik, mitder Ehefrau als Zuverdienerin! Statt dessen heißen dieStichworte materielle Unabhängigkeit, gleichberechtig-ter Zugang zur Erwerbsarbeit und gerechte Verteilungder Familienarbeit zwischen Männern und Frauen.
Es waren die Frauen, die die Regierung Kohl abge-wählt haben. Sie gaben der rotgrünen Regierung einenVertrauensvorschuß, und sie erwarten von uns nun zuRecht einen Politikwechsel.
„Ein neuer Aufbruch in der Frauenpolitik“ – so ist einKapitel im Koalitionsvertrag überschrieben. Das ist füruns keine Leerformel: Zum ersten mal in der Geschichtedieser Republik wird es ein Gleichberechtigungsgesetznicht nur für den öffentlichen Dienst, sondern auch fürdie Privatwirtschaft geben, ein Gesetz, das Frauen dengleichen Zugang zur Erwerbsarbeit sichert und Mädchendie Hälfte der Ausbildungsplätze garantiert. Endlichwird Ernst gemacht, Frau Rönsch, mit der Umsetzungder Grundgesetzänderung von 1994, wonach der Staatverpflichtet ist, die Nachteile zu beseitigen.Keine konservative Mehrheit wird mehr blockieren,daß per Gesetz für Unternehmen Anreize zur Frauenför-derung geschaffen werden, indem die Vergabe der öf-fentlichen Aufträge an frauenfördernde Maßnahmen ge-bunden wird. Keine konservative Mehrheit wird mehrverhindern, daß Frauen und Männer endlich einenRechtsanspruch auf Arbeitszeitreduzierung während desErziehungsurlaubs erhalten. ABM und Weiterbildungwerden mit der Erziehung von Kindern vereinbar sein,und von der alten Bundesregierung eingeführte frauen-diskriminierende Regelungen, zum Beispiel betreffendPendelzeiten von zweieinhalb Stunden bei einer Ar-beitszeit von vier Stunden, werden zurückgenommen.
Für Ihren Vorschlag, Frau Bergmann, Kinderbetreu-ungskosten für erwerbstätige Eltern wieder steuerlichabsetzbar zu machen – also Babysitter- statt Dienstmäd-chenprivileg –, finden Sie bei den Bündnisgrünen offeneTüren.Da ich gerade beim Loben bin – eigentlich mache ichdas gar nicht so oft –, schließe ich den Kanzler einfacheinmal mit ein. Seine gestrige Ankündigung, ein Schul-und Betreuungssystem zu schaffen, das die Lebenswirk-lichkeit moderner Familien und Alleinerziehender be-rücksichtigt, zeigt, daß auch in diesem Punkt endlichmehr für Vereinbarkeit von Familie und Beruf getanwird.
Auch im Gewaltbereich zeigt sich der Paradigmen-wechsel. Gewalt von Männern an Frauen wird nichtlänger als Frauenproblem abgetan, sondern als Problemder inneren Sicherheit angesehen.
Das heißt, Frauen und Kinder werden bei Gewalt in derFamilie nicht mehr nur in das Frauenhaus flüchten kön-nen, sondern die Täter werden die Ehewohnung verlas-sen müssen.Ina Lenke
Metadaten/Kopzeile:
188 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Für Opfer von Frauenhandel wird es ein Zeuginnen-schutzprogramm und einen besseren rechtlichen Schutzdurch die Erweiterung der entsprechenden Definition imStrafrecht geben. Wir dürfen nicht länger zulassen, daßdie Rechtlosigkeit der Opfer zum besten Täterschutzwird.
Auch die rechtliche und soziale Diskriminierung desältesten Gewerbes der Welt wird zu Beginn des drittenJahrtausends endlich beseitigt. Ich freue mich sehr, daßdie F.D.P. hier auf unserer Seite ist.
Aber es gibt auch Punkte, angesichts deren wir denKoalitionsvertrag weiterentwickeln müssen. Nicht ak-zeptabel ist für uns, daß die Verfolgung auf Grund desGeschlechts immer noch nicht generell als Asylgrundanerkannt wird. Es wäre für die Bundesregierung einguter Start gewesen, Frauen, die im Krieg Vergewalti-gung oder Zwangsabtreibung erlitten haben oder wegenanderer frauenspezifischer Verfolgung wie zum Beispielgenitaler Verstümmelung aus ihrer Heimat flüchten, ge-nerell politisches Asyl zu gewähren, wie es andereStaaten tun.
Daß ausländische Ehefrauen hier nicht sofort ein vomEhemann unabhängiges Aufenthaltsrecht erhalten undOpfer von Menschenhandel bisher nur – ich muß leideraus den Koalitionsverhandlungen zitieren – „gegebenen-falls“ eine Duldung bis zum Ende des Gerichtsverfah-rens erlangen können, entspricht nicht bündnisgrünenVorstellungen.Auch die Subventionierung des Trauscheins darf kei-ne Zukunft haben. Wir brauchen keine Eheförderung;wir brauchen Familienförderung.
Die vorgesehene Kappung des Ehegattensplittings, dieerst im Jahre 2002 greifen soll, ist mit 2 Milliarden DMäußerst bescheiden ausgefallen. Denn statt eine Art Ehe-geld von mehr als 42 Milliarden DM im Jahr zu zahlen,müssen Familien mit Kindern viel höher direkt finanziellentlastet werden, damit Kinder eben nicht das Armutsri-siko Nummer eins bleiben.Die Erhöhung des Kindergeldes um 40 DM ist si-cherlich ein guter Anfang. Sozialhilfebezieher und -be-zieherinnen haben davon allerdings überhaupt nichts.Die Regelsätze für Kinder entsprechend der Kindergeld-erhöhung anzupassen hätte 150 Millionen DM gekostet.Das ist weniger als der Preis für einen Eurofighter.
Für uns versteht es sich von selbst, daß die Sozialhilfegenerell erhöht werden muß und daß auch die Unter-haltssätze für Kinder nicht weiter unter dem Existenz-minimum liegen dürfen. Aber das heißt auch, daß dasGeld in Zeiten knapper Kassen umverteilt werden muß.
Doch bekanntlich gibt es in den Köpfen der „oldboys“ zuweilen andere Prioritäten. Da will einer nurVerteidigungsminister werden, wenn er seine Eurofigh-ter behalten darf. Im Rahmen der Steuerreform werdendie Steuervergünstigungen für Jahreswagen als Lieb-lingskind des Kanzlers dann doch von der Streichlistegenommen.
Ich finde, liebe Kolleginnen, hier müssen die Frauen desParlaments fraktionsübergreifend Stärke beweisen. Wirmüssen deutlich machen, was gesellschaftlich notwen-dig ist und wenn es sein muß, müssen wir den Männernihre Lieblingsspielzeuge einfach auch einmal wegneh-men.
Wieso eine Steigerung des Wehretats statt Kinderbe-treuungseinrichtungen, statt Hilfsprogrammen für Opfervon Menschenhandel, statt einer Erhöhung des Erzie-hungsgeldes?Ich komme zur Jugendpolitik. Auch die letzten etwaspositiveren Zahlen auf dem Lehrstellenmarkt dürfennicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bekämpfungder Jugendarbeitslosigkeit eine der größten Herausfor-derungen ist. Hier hat die alte Bundesregierung versagt.Wir dürfen die Jugendlichen nicht allein lassen, geradedie nicht, die durch wenig qualifizierte Abschlüsse, ihreHerkunft oder eine Behinderung benachteiligt werden.Warteschleifen mit schlechten Qualifizierungsmaßnah-men müssen der Vergangenheit angehören.Wir werden die Herausforderung annehmen und be-rufliche Chancen für Jugendliche schaffen. Das Sofort-programm der neuen Regierung, mit dem 100 000 neueAusbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen werden, isthier ein erster Schritt. Wir werden besonders daraufachten, daß auch junge Frauen zu ihrem Recht auf einegute Ausbildung kommen.Aber wir brauchen nicht nur Veränderungen in derJugendpolitik, sondern wir sehen auch Reformbedarf inder Politik für ältere Menschen. Nur zwei Stichworte:Wir werden nicht nur mehr Mitbestimmungsrechte fürältere Menschen in Heimen verankern, sondern auch dieDefizite bei der Heimaufsicht beheben. Auch der Alten-pflegeberuf – die Frau Ministerin hat es eben angespro-chen –, für den es in jedem Bundesland eine andereAusbildung gibt, wird kein Durchlauferhitzer mehr blei-ben, in dem die Pflegekräfte wegen Überlastung,Irmingard Schewe-Gerigk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 189
(C)
(D)
schlechter Arbeitsbedingungen und Burn-out verständli-cherweise kaum mehr etwas hält.Mit einer bundeseinheitlichen Regelung werden wirdie Pflegeausbildung auf eine gemeinsame Grundlagestellen und auch die Qualitätsstandards verbessern. Auchhier werden wir die Blockade der alten Bundesregierungaufheben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in dennächsten vier Jahren dafür sorgen, daß der Koalitions-vertrag mit Leben erfüllt wird. Während der Verhand-lungen haben wir körbeweise Zuschriften von Verbän-den, Initiativen und Gewerkschaften erhalten. Vielewichtige Forderungen finden sich im Koalitionsvertragwieder, aber alles haben wir nicht durchsetzen können.Darum brauchen wir die kritische Begleitung aller ge-sellschaftlichen Gruppen. Wir wollen nicht länger Poli-tik gegen Menschen, wir wollen Politik mit Menschenmachen.Die Regierung Kohl hat die soziale Spaltung der Ge-sellschaft betrieben. An Rotgrün ist es jetzt, dies zu ver-ändern.Ich danke Ihnen.
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss von der PDS-
Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ja, es waren vor allem Frauen, dieam 27. September der neoliberalen Regierungskoalitionund einer in die Sackgasse geratenen konservativenFrauen- und Familienpolitik eine klare Absage erteilthaben. Zu groß war am Ende der Ära Kohl die Kluftzwischen dem Pochen auf traditionelle Werte, den gera-de hier zu gern gehaltenen Sonntagsreden und der All-tagserfahrung von Millionen von Frauen in diesemLand.Die anhaltende Frauenerwerbslosigkeit und -dequali-fizierung, die wachsende Zahl ungeschützter Beschäfti-gungsverhältnisse, die Frauendiskriminierung im Ar-beits- und Sozialrecht, die fehlende eigenständige Exi-stenzsicherung und Anerkennung der Lebensleistung imAlter, völlig unzureichende Bedingungen für die Ver-einbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft sowiedie Tatsache, daß es immer noch ein Armutsrisiko indiesem reichen Land ist, Kinder zu haben, machen denpolitischen Handlungsbedarf deutlich und die großenErwartungen an einen rotgrünen Kurswechsel gerade inder Frauen- und Familienpolitik verständlich.Der Anspruch, für einen neuen Aufbruch in der Frau-enpolitik und für eine sichere Zukunft der Familien zusorgen, findet ebenso die Unterstützung der PDS wie dasAnliegen, die Gleichstellung von Mann und Frau wiederzu einem großen gesellschaftlichen Reformprojekt zumachen.
Aber eben daran wird sich die Gesamtpolitik der neuenRegierung zukünftig messen lassen müssen. Nach dergestrigen Regierungserklärung des neuen Bundeskanz-lers bleibt für mich noch ein bißchen offen, welchenPlatz die Frauen in der „Neuen Mitte“, beim „Zukunfts-bündnis“, bei der „neuen Zivilität und Partnerschaft“und beim „modernen Chancenmanagement“ tatsächlichhaben werden.Die Gleichstellung der Geschlechter muß von vorn-herein in allen Politikbereichen sowie in Gesetzen undMaßnahmen verankert und umgesetzt werden. Nach wievor bleibt die Umsetzung der Aktionsplattform der4. Weltfrauenkonferenz in Peking und des Überein-kommens zur Beseitigung jeder Form der Diskriminie-rung der Frau Meßlatte sämtlicher politischer Entschei-dungen; denn Frauenrechte sind Menschenrechte, ohneWenn und Aber.
Lassen Sie mich im folgenden an vier Punkten exem-plarisch zeigen, daß die PDS viele frauenpolitische An-sätze der neuen Bundesregierung unterstützt, sie unsaber gleichzeitig in einigen Punkten nicht weit genuggehen, weil sie letztlich zu wenig an patriarchalenStrukturen rütteln.Erstens. Zu Recht werden die berufliche Integrationund der Aufstieg von Frauen in Unternehmen und Ver-waltung in den Mittelpunkt gestellt. Auch wir halten eineffektives Gleichstellungsgesetz, das auch für die Pri-vatwirtschaft verbindliche Regelungen zur Frauenförde-rung festschreibt, die Korrektur der frauendiskriminie-renden Regelungen im Arbeitsförderungsrecht, die vor-rangige Vergabe öffentlicher Aufträge an frauenfreund-liche Unternehmen, die Durchsetzung des Grundsatzes„gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sowie die fünfzigpro-zentige Quotierung aller Ausbildungsplätze für das, wasso schnell wie möglich angepackt und vor allem durch-gesetzt werden muß. Offen aber bleibt gerade angesichtsder Erfahrungen massiven Widerstands der Front derDeregulierer und Standortpolitiker bei diesbezüglichenVorstößen auf Länderebene, in welchem Maße es tat-sächlich durchzusetzen ist, gleichberechtigungspoliti-schen Druck auf die Wirtschaft zu nehmen.Vorrangig auf den Ausbau von Haushaltsdienstlei-stungen und privaten Dienstleistungsagenturen zu setzenhalten wir im übrigen nicht für den Königsweg; dennhier besteht tatsächlich die Gefahr, geschlechtshierarchi-sche Arbeitsteilung weiter zu zementieren.
Die eigentliche Herausforderung aber – da kann undmuß eine geschlechtsspezifische Sichtweise wesentlicheImpulse geben – bleibt im Zeitalter der Globalisierungund des Wandels der Arbeitsgesellschaft eine radikaleNeuaufteilung der Arbeit, sowohl der bezahlten als auchder unbezahlten.
Irmingard Schewe-Gerigk
Metadaten/Kopzeile:
190 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Zweitens. Ohne eigenständige Existenzsicherungvon Frauen wird es keine Chancengleichheit der Ge-schlechter geben. Ein wesentlicher Schritt dazu, abgese-hen von den 30 bis 40 Milliarden DM, die hier zu holenwären, ist die Individualbesteuerung. Nicht einmal alshalbherziger Einstieg in den Ausstieg kann die Ankün-digung zur geplanten Einschränkung des Ehegattensplit-tings ab dem Jahre 2002 gewertet werden. Damit verab-schieden sich im übrigen SPD und Grüne von ihren ei-genen frauenpolitischen Forderungen.
Während bei anderen steuerrechtlichen Vorstellungeneuropäische Normalität eingefordert wird, zementiertRotgrün in der Frage der Ehegattenbesteuerung die pa-triarchale Sonderrolle Deutschlands.Die PDS sieht keinen Grund, die Ehe an sich steuer-rechtlich zu bevorzugen. Wir wollen das Leben mit Kin-dern fördern und sozialrechtliche Ansprüche individuali-sieren.
Drittens. Die Rahmenbedingungen für die Verein-barkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft endlichgrundlegend zu verbessern und europäischen Standardsanzupassen ist überfällig. Auch wenn wir die zugegebe-nermaßen spärliche Anhebung des Kindergeldes und derEinkommensgrenzen für das Erziehungsgeld und dieSchaffung eines gesetzlich garantierten Teilzeitan-spruchs begrüßen, sehen wir noch keine ausreichendeBedingung, um hier den notwendigen Paradigmenwech-sel zu schaffen und überholte Strukturen wirksam anzu-gehen.Die PDS fordert, die Rahmenbedingungen für einewirkliche Wahlmöglichkeit von Frauen und Männernzwischen Beruf und Kindererziehung gesetzlich festzu-schreiben. Wir haben bereits in der letzten Legislaturpe-riode einen konkreten Vorschlag gemacht, an dem wirweiterarbeiten werden.
Viertens und letztens. Auch wenn sich weder in derRegierungserklärung noch in der Koalitionsvereinba-rung ein Wort zu einem weiteren frauenpolitischen Dau-erbrenner findet – das ist sicher kein Zufall –, noch einekurze Anmerkung: Die letzte Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts zu § 218 zielt eindeutig auf dieWiederherstellung der Rechtssicherheit im Bund. DieAblehnung des frauenfeindlichen bayerischen Sonder-weges ist ein wichtiges und notwendiges Signal.
Sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir esin der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor mit ei-nem äußerst restriktiven Abtreibungsrecht zu tun haben.Noch immer steht der Schwangerschaftsabbruch imStrafgesetzbuch. Insofern geht die Debatte um die Zu-lassung der Abtreibungspille RU 486 am eigentlichenProblem vorbei. Solange nämlich Frauen unter der Ku-ratel des § 218 stehen, wird ihnen auch unter einer rot-grünen Regierung – ich bedaure das sehr – das Recht aufSelbstbestimmung über ihren eigenen Körper abgespro-chen.
Hier liegt der eigentliche politische Handlungsbedarf –
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte allmählich zum Schluß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
– ja, ich bin sofort fertig –, aber
auch die Chance, mit neuen Mehrheiten einen Straf-
rechtsparagraphen dorthin zu befördern, wo er hinge-
hört: auf den Müllhaufen der Geschichte.
Das
Wort hat als nächste Rednerin die Kollegin Maria Eich-
horn von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die Aussage des jetzigen Bundes-kanzlers vor einigen Wochen über den Aufgabenbereichvon Familien-, Senioren-, Frauen- und Jugendpolitik –er hat sie als „sonstiges Gedöns“ bezeichnet – war wohlwirklich ernst gemeint. Denn die Regierungserklärungdazu war sehr deutlich: nur sehr wenige und dann nochunverbindliche Aussagen.Frau Ministerin, ich habe heute die Regierungserklä-rung nochmals nachgelesen, weil ich dachte, ich hättevielleicht das eine oder andere überhört. Es finden sichdazu nur ganz wenige Sätze – leider. Kein Wort zumStellenwert der Familie, dafür aber wurde das Ziel in derKoalitionsvereinbarung genannt, daß alle auf Dauer an-gelegten Lebensformen künftig Anspruch auf Schutzund Rechtssicherheit haben. Soll das die neue Familien-politik sein?
Wir lehnen dieses gesellschaftspolitische Experiment alsindiskutabel ab.
Ganz bewußt haben die Väter und Mütter des Grund-gesetzes Ehe und Familie in Art. 6 unter den besonde-ren Schutz des Staates gestellt. Wir werden daran fest-halten und dafür kämpfen, daß sie die tragenden Leitbil-der unserer Gesellschaft bleiben und die notwendigestaatliche Unterstützung weiter erhalten. Denn nicht zu-letzt wegen der demographischen und sozialen Heraus-forderungen wird die Solidarität innerhalb der Familieauf Dauer noch stärker gefordert sein.Die Ankündigungen der neuen Bundesregierung ausdem Wahlkampf werden nur halbherzig erfüllt. Ich be-grüße natürlich die Erhöhung des Kindergeldes.
Petra Bläss
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 191
(C)
(D)
Wenn Sie, Frau Ministerin Bergmann, jedoch noch zuIhren Schlußfolgerungen aus dem Zehnten Jugendbe-richt stehen, müßten Sie eigentlich besonderen Wertdarauf legen, daß das Kindergeld gerade für Mehrkin-derfamilien stärker erhöht wird. Ihr Versprechen, Fami-lien mehr zu fördern, werden Sie jedoch nicht einhalten,wenn die Kindergelderhöhung durch Veränderungenbeim Ehegattensplitting gegenfinanziert wird. Dies be-deutet lediglich Umverteilung und die Bestrafung derFrauen, die wegen der Kindererziehung auf eine Er-werbstätigkeit verzichten.Ich vermisse auch eine klare Aussage in der Koali-tionsvereinbarung zur Anhebung der Einkommens-grenze für die Gewährung des Erziehungsgeldes bzw.des Elterngeldes, wie Sie es nennen. Daß dieses Ziel fürSie keinerlei Priorität hat, Frau Bergmann, ist aus IhrenAusführungen sehr deutlich geworden. Wenn Sie dasdritte Jahr Erziehungsgeld vorhin grundsätzlich in Fragegestellt haben, dann zeigt das Ihre wahre Einstellung.Wir erwarten jetzt von Ihnen, daß Sie das tun, was Sievorher in der Opposition immer eingefordert haben,nämlich die Einkommensgrenzen sofort anzuheben.
Was die Weiterentwicklung der Kinderbetreuungs-möglichkeiten angeht, so sind in erster Linie die Bun-desländer gefordert. Wir erwarten von der neuen Regie-rung auf Grund ihrer engen politischen Bindung zu vie-len Ländern jetzt Fortschritte. Dabei können Sie sich dieunionsregierten Länder ruhig zum Vorbild nehmen, zumBeispiel Bayern.
Wenn ich jedoch in diesen Tagen lese, daß Niedersach-sen die Zuschüsse für die Kindergärten binnen zwei Jah-ren um über 60 Millionen DM kürzen will, so muß ichfeststellen: Sie tun das genaue Gegenteil von dem, wasSie ankündigen.Die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungs-kosten für alle Familien – nicht nur für Alleinerziehen-de – wäre wichtig. Aber ich frage: Ist das eineWunschvorstellung, die Sie, Frau Ministerin, in einemInterview geäußert haben, oder werden Sie diese Vor-stellung im Rahmen der Steuerreform auch unterbringenkönnen?Nachdem zwei Vorrednerinnen das Thema RU 486angesprochen haben, eine deutliche Stellungnahme vonmir. Ich bin gegen die politische Auseinandersetzung,weil damit der fatale Eindruck erweckt wird, daß eswichtiger ist, über Abtreibungsmethoden zu reden, stattdas gesellschaftliche Bewußtsein für den Schutz desungeborenen Lebens zu fördern.
Die immer wieder hochstilisierte Frage der Einführungvon RU 486 verkehrt die Absicht, für den Schutz desungeborenen Lebens zu sorgen, ins Gegenteil. Die Tö-tung ungeborenen Lebens wird doch, so wie bisher überdieses Thema diskutiert wird, nur verharmlost.
Erst recht eignet sich diese Diskussion nicht zur frauen-politischen Profilierung.
In Ihrer Koalitionsvereinbarung beschreiben Sie densogenannten Aufbruch in der Frauenpolitik. Eine neueProgrammatik kann ich jedoch nicht erkennen. Ich binangesichts der vielfältigen Kritik an unserer Gleichbe-rechtigungspolitik positiv überrascht, daß Sie in vielenPunkten genau unseren Weg fortführen wollen. Daszeigt doch, daß wir den richtigen Weg beschritten hat-ten. Daß manches Ziel nicht gleich vollständig erreichtwird, ist eine leidvolle Erfahrung, die Sie, verehrte Kol-leginnen von der Regierungskoalition, jetzt bereits beider Vergabe der Ämter selbst erleben. Zwischen An-spruch und Wirklichkeit kann schnell eine Lücke entste-hen. Solange es in Zeiten der Opposition nur um verbaleBeteuerungen zur Machtbeteiligung von Frauen ging,waren SPD und Grüne stets sehr freigiebig. Wenn esaber tatsächlich um die Besetzung von Positionen geht,dann zeigt sich, wie schwierig es sein kann, die Theoriein der Praxis durchzusetzen.Tatsächlich neu ist Ihr Ziel, ein Gleichberechti-gungsgesetz für die private Wirtschaft auf den Weg zubringen. Wir wissen alle um die damit verbundenenProbleme. Ich bin gespannt, ob Sie dieses Vorhabendurchsetzen werden. Wir hoffen, daß sich die Frauen-und Jugendministerin im Bündnis für Arbeit das not-wendige Gehör verschaffen wird, damit die Frauen-förderung in den Unternehmen weitere Impulse erhält.Gleiches gilt natürlich für die Schaffung von Ausbil-dungsplätzen. Für uns bleibt es ein besonderes jugend-politisches Anliegen, die Beschäftigungsmöglichkeitenbenachteiligter junger Menschen zu verbessern.
Als im Sommer die Pornohändlerringe im Internetaufgedeckt wurden, war das Entsetzen groß. WeitererHandlungsbedarf wurde von allen Seiten angemahnt.Deshalb bin ich jetzt doch sehr verwundert, daß dieseRegierung zum Jugendmedienschutz keinerlei Aussagetrifft. Der Schutz von Kindern vor Gewalt muß ein ju-gendpolitischer Schwerpunkt bleiben. Vor allem kommtes darauf an, daß die nationalen Schutzvorschriftendurch internationale Vereinbarungen flankiert werden.Die Weichen dafür hat die bisherige Bundesregierunggestellt. Wir fordern die neue Bundesregierung auf, imnächsten Jahr die deutsche EU-Präsidentschaft zu nut-zen, um auf europäischer und internationaler Ebene zuklaren Ergebnissen in diesem Bereich zu kommen.
Frau Ministerin, Sie haben die gewaltfreie Erziehungangesprochen. Wir sind natürlich für gewaltfreie Erzie-Maria Eichhorn
Metadaten/Kopzeile:
192 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
hung, aber wir sind gegen die Kriminalisierung der El-tern. Dagegen wehren wir uns.
Meine Damen und Herren, die Wählerinnen undWähler werden die Arbeit von Rotgrün nicht mehr wiebisher an Worten, sondern jetzt an Taten messen. Wirwerden Ihre Politik in dieser Legislaturperiode kritischbegleiten.
Als
letzte Rednerin hat die Kollegin Hildegard Wester von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Am 27. September dieses Jahreshaben die Bürgerinnen und Bürger sehr deutlich ge-macht, daß sie einen Politikwechsel wünschen. DiesesEreignis hat unter anderem dazu geführt, daß wir gesterndie Regierungserklärung des Bundeskanzlers Schröderzur Kenntnis nehmen durften – wir natürlich sehr er-freut. Ich höre aber, daß einige Kolleginnen hier imHause wesentliche Kapitel vermissen, die sich mit derStellung der Frau in der Gesellschaft beschäftigen,was bei uns natürlich auf völliges Unverständnis stößt.Denn ich lese sehr wohl – und habe das auch gehört –,daß Herr Schröder sehr Wesentliches zu dieser Positiongesagt hat. Aber ich kann sehr gut nachvollziehen, daßSie damit nicht sehr einverstanden sind; denn es hat sehrviel mit Ihrem Rollenverständnis zu tun.
Herr Schröder hat nämlich eindeutig die Chancen-gleichheit für Frauen in Beruf und Familie eingefordert.
Das dürfte nicht so besonders auf Ihr Einverständnisstoßen.
Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem machen,was Frau Eichhorn gesagt hat. Ich habe nirgendwo ge-hört – weder in der Regierungserklärung noch in irgend-einer Rede vorher, noch in irgendeiner Äußerung einerunserer Kolleginnen oder eines unserer Kollegen –, daßwir gegen den Schutz der Familie im Grundgesetz sind.
Wir werden natürlich dafür streiten. Wir haben abernicht die Einstellung, daß Einelternfamilien irgendwel-che Ausnahme- oder Randerscheinungen oder sogar ex-perimentelle Lebensformen sind. Vielmehr nehmen wirdie Lebenswirklichkeit so, wie sie ist, und versuchen,die Rahmen für die Menschen zu stecken, in denen siezu leben wünschen. Das haben sie uns durch die Art,wie sie leben, sehr deutlich gemacht.
Die Bürger haben am 27. September Rotgrün ge-wählt, weil sie sich in erster Linie gewünscht haben, daßdie Arbeitslosigkeit massiv bekämpft wird. Ich kannder neuen Ministerin für Familie, Senioren, Frauen undJugend nur recht geben, wenn sie sagt, daß der Abbauder Arbeitslosigkeit der Schlüssel zu einer erfolgreichenPolitik in unserem Bereich ist.
Vor allem viele Frauen haben ihre Hoffnung in einerotgrüne Koalition gesetzt und dies durch ihre Stimmab-gabe dokumentiert. Viele junge Menschen sind diesemBeispiel gefolgt. Wir freuen uns sehr darüber und sehenin diesem erwiesenen Vertrauen eine Bestätigung undAnerkennung unserer Arbeit auch in den vergangenenLegislaturperioden.
Wir nehmen diesen Auftrag an, zumal wir gut vorbe-reitet sind. Wir haben in der SPD-Bundestagsfraktionumfangreiche Vorarbeiten geleistet, die die neue Regie-rung jetzt umsetzen kann. Die Vereinbarungen im Ko-alitionsvertrag, die Regierungserklärung des Bundes-kanzlers und das, was wir eben von der MinisterinBergmann gehört haben, zeigen, daß wir ernst machenwollen und daß wir jetzt endlich zur Tat schreiten.
Deshalb sagen wir der Bundesregierung, insbesondereFrau Ministerin Bergmann, unsere Unterstützung bei ih-rer Arbeit zu.
Wir wissen genau, daß gerade Frauen große Erwar-tungen an uns haben. Sie haben sich in ihrer Mehrheitschon sehr lange von dem veralteten Familienbild verab-schiedet, das noch immer in vielen konservativen Sonn-tagsreden herumgeistert. Sie haben sich anders entschie-den. Wir werden dem Rechnung tragen.Gesellschaftlicher Konsens und soziale Gerechtigkeitsind ohne Gleichstellung der Geschlechter nicht denk-bar. Deshalb werden wir den Stillstand der vergangenenJahre beenden und entsprechend dem Verfassungsauf-trag die Position der Frauen im Berufsleben stärken.
Mit einem Gleichstellungsgesetz werden wir endlichauch die Privatwirtschaft zur Frauenförderung ver-pflichten. Unsere Vorstellungen dazu liegen seit Jahrenvor. Sie sind bereit, eingebracht zu werden.Maria Eichhorn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 193
(C)
(D)
Der Amsterdamer Vertrag hat Klarheit geschaffen,daß Frauenförderung im Einklang mit europäischemRecht steht. Wir werden auch die europarechtlichenVorgaben einbeziehen und die Lohngerechtigkeit zwi-schen Männern und Frauen herstellen. Es darf nicht da-bei bleiben, daß die bestausgebildete Frauengenerationein Drittel weniger verdient als ihre männlichen Kolle-gen.
Es darf auch nicht dabei bleiben, daß Frauen überwie-gend auf schlechter gesicherten Arbeitsplätzen sitzen. Esist ein Märchen, daß Frauen nur ein bißchen hinzuver-dienen wollen und dankbar wären, wenn sie wenigstensin geringfügiger Beschäftigung statt in sozial gesicher-ten Teilzeitberufen arbeiten könnten.An dieser Stelle möchte ich eine Bemerkung zu derneuen Kollegin aus der F.D.P.-Fraktion machen: Mir isteinfach unerklärlich, wie die Bekämpfung von Schein-selbständigkeit und die Einbeziehung von geringfügi-gen Beschäftigungsverhältnissen in die Sozialversiche-rungspflicht die Existenzgründung von Frauen verhin-dern oder erschweren sollten. Natürlich ist es uns einAnliegen, Existenzgründungen zu fördern. Das ist einwesentlicher Bestandteil unserer Politik zur Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit und unserer Politik der Frauen-förderung.
Es ist gut, daß die neue Regierung dies unmittelbaraufgreift und den Mißbrauch bei den geringfügigen Be-schäftigungen beseitigen will. Ich habe mit Genugtuunggehört, daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regie-rungserklärung auch den Abbau der Pauschalbesteue-rung bei geringfügiger Beschäftigung angekündigt hat.Eines muß klar sein: Die Neuregelung bei der geringfü-gigen Beschäftigung darf nicht nur dazu dienen, die So-zialkassen mit Beiträgen zu füllen. Sie muß auch denvielen gering beschäftigten Frauen in Ost und Westmehr soziale Gerechtigkeit und mehr soziale Sicherheitbringen.
Wir haben den Sozialabbau zu Lasten der Frauenimmer wieder kritisiert. Auch die damit verbundenenHoffnungen müssen eingelöst werden. Zu einer Politik,die auf Gleichheit und Partnerschaftlichkeit ausgerichtetist, gehört eine Gestaltung der Arbeitswelt, die es Frauenund Männern erleichtert, Familie und Erwerbstätigkeitmiteinander zu vereinbaren. Wir werden dazu mit fami-liengerechten flexiblen Arbeitszeiten für Frauen undMänner Raum schaffen. Dies muß Gegenstand bei denGesprächen des Bündnisses für Arbeit sein. Denn dortsitzen die Hauptakteure zusammen.Wir werden die dringend notwendige Runderneue-rung des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubsdurchsetzen, wie wir sie bereits mit unserem Konzept„Elterngeld und Elternurlaub für Mütter und Väter“ vor-gelegt haben.
Der Erziehungsurlaub wird zu einem Elternurlaub miteinem Erziehungszeitkonto umgewandelt, so daß beideElternteile die Chance auf Teilzeit haben. Die Wahl-möglichkeiten werden für beide Elternteile erweitert,und damit wird eine Voraussetzung für eine partner-schaftliche Kindererziehung geschaffen. Darüber hinauswollen wir Wege finden, wie Elternurlaub auch für Vä-ter attraktiv gemacht werden kann. Auch Männer habenein Recht auf Rollenwandel.
– Davon sollten Sie lernen.Wenn Frauen oder Männer sich entschieden haben,ihre Kinder allein zu erziehen, oder die Umstände esnicht anders ermöglichen, werden wir dazu beitragen,ihre Situation zu erleichtern. Dazu gehört nicht nur dieErhöhung des Kindergeldes.Hierzu eine Bemerkung: Wir erhöhen das Kinder-geld deutlich, natürlich auch für Eltern mit mehr alszwei Kindern. Denn jede Familie, die mehr als zweiKinder hat, also drei oder vier oder fünf Kinder, hat na-türlich auch ein erstes und ein zweites Kind. Sonst gehtdas rechnerisch nicht. So wird auch da die Erhöhungbemerkbar werden.
Es gehört aber nicht nur die Erhöhung des Kindergel-des dazu; Alleinerziehende brauchen endlich auch be-darfsdeckende Unterhaltssätze für ihre Kinder.
Dabei ist die finanzielle Ausstattung nur ein Teil ei-ner erfolgreichen Kinder- und Jugendpolitik. Die Mini-sterin wird die Diskussion über den Zehnten Kinder-und Jugendbericht aufnehmen und Handlungsschritteaus den Empfehlungen der Sachverständigen ableiten.Das begrüßen wir sehr, weil sich die Auseinanderset-zung über diesen Bericht bisher im Wegleugnen derArmut erschöpft hat.
Frau
Kollegin, kommen Sie allmählich zum Schluß, bitte.
Aufbruch in der Kinder-und Jugendpolitik bedeutet nicht nur, die Förderschwer-punkte des Kinder- und Jugendplanes zu überarbeiten.Er bedeutet auch, Kinderrechte gesetzlich zu verankernund die politische Teilhabe von Jugendlichen zu fördernund ihnen mit dem Bündnis für Arbeit und AusbildungPerspektiven am Arbeitsplatz zu eröffnen.Es reicht eben nicht, weder in der Kinder- und Ju-gend- noch in der Seniorenpolitik, zu der ich jetzt ausHildegard Wester
Metadaten/Kopzeile:
194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998
(C)
Zeitgründen nicht mehr komme, hohle Worte und Ver-sprechungen bei Sonntagsreden zu besonderen Anlässenvon sich zu geben. Frau Nolte hat die Quittung dafür be-kommen, daß sie sich mit symbolischer Politik begnügthat. Nun ist es Zeit, Taten folgen zu lassen.
Es ist Zeit für eine Politik, die den gesellschaftlichenZusammenhalt stärkt, die Chancengleichheit herstelltund das partnerschaftliche Zusammenleben in ihrenMittelpunkt stellt.Ich bedanke mich.
Für die
heutige Sitzung liegen keine weiteren Wortmeldungen
vor.
Bevor ich die Sitzung schließe, teile ich mit, daß der
heute morgen eingesetzte Ausschuß für Fremdenverkehr
und Tourismus auf Grund einer interfraktionellen Ver-
einbarung den Namen „Ausschuß für Tourismus“ tragen
soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich gehe davon
aus. Dann ist das so beschlossen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 12. November
1998, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.