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ID1400402100

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    Plenarprotokoll 14/4 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 4. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 I n h a l t : Nachträgliche Glückwünsche zu den Geburts- tagen der Abgeordneten Ulrike Mascher, Wolfgang Behrendt und Werner Lensing .... 131 A Erweiterung der Tagesordnung........................ 131 B Absetzung der Punkte 5 und 8 von der Tages- ordnung............................................................ 131 B Tagesordnungspunkt 3: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und PDS Bestimmung des Verfahrens für die Be- rechnung der Stellenanteile der Frak- tionen (Drucksache 14/21)......................... 131 C Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und PDS Einsetzung von Ausschüssen (Drucksa- che 14/22)................................................... 131 C Tagesordnungspunkt 1: Fortsetzung der Aussprache zur Regie- rungserklärung des Bundeskanzlers ...... 131 D Dr. Hermann Kues CDU/CSU......................... 131 D Walter Riester, Bundesminister BMA ............. 135 C Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU............ 138 B Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P......................... 139 D Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 141 D Karl-Josef Laumann CDU/CSU .................144 A, 153 A Dr. Heidi Knake-Werner PDS ......................... 146 D Ulla Schmidt (Aachen) SPD.......................149 B, 153 C Rainer Brüderle F.D.P. .................................... 154 A Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 155 A Johannes Singhammer CDU/CSU................... 156 D Peter Dreßen SPD ...................................... 157 D Adolf Ostertag SPD......................................... 159 B Karl-Josef Laumann CDU/CSU................. 161 B Tagesordnungspunkt 6 (in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 1): Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Solidarität in der gesetz- lichen Krankenversicherung (Drucksache 14/24) ......................................................... 162 A Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) CDU/ CSU ................................................................. 162 A Andrea Fischer, Bundesministerin BMG......... 163 D Dr. Dieter Thomae F.D.P................................. 167 B Rudolf Dreßler SPD......................................... 168 B Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) CDU/ CSU............................................................ 171 A Dr. Ruth Fuchs PDS ........................................ 172 D Wolfgang Zöller CDU/CSU ............................ 174 A II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 Gudrun Schaich-Walch SPD............................ 175 D Wolfgang Zöller CDU/CSU....................... 176 B Ulf Fink CDU/CSU ......................................... 178 A Ausschußüberweisung Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU .... 179 C Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin BMFSFJ........................................................... 182 A Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/ CSU............................................................ 182 D Hubert Hüppe CDU/CSU........................... 184 A Ina Lenke F.D.P............................................... 186 A Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 187 B Petra Bläss PDS............................................... 189 B Maria Eichhorn CDU/CSU.............................. 190 C Hildegard Wester SPD..................................... 192 A Nächste Sitzung ............................................... 194 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten ........... 195 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 131 (A) (C) (B) (D) 4. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 Beginn: 9.00 Uhr
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    Hildegard Wester Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. November 1998 195 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 11.11.98 Bulling-Schröter, Eva PDS 11.11.98 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 11.11.98 Hartnagel, Anke SPD 11.11.98 Homburger, Birgit F.D.P. 11.11.98 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 11.11.98 Kanther, Manfred CDU/CSU 11.11.98 Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 11.11.98 Nolting, Günther Friedrich F.D.P. 11.11.98 Otto (Frankfurt), Hans-Joachim F.D.P. 11.11.98 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 11.11.98 Reichard (Dresden), Christa CDU/CSU 11.11.98 Schütze (Berlin), Diethard W. CDU/CSU 11.11.98 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.98 Vaatz, Arnold CDU/CSU 11.11.98 Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.98 Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 11.11.98
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Ulla Schmidt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Liebe
    Kolleginnen und Kollegen! Sie werden sich nicht wun-
    dern, wenn ich, entgegen allen Kassandrarufen heute
    morgen, sage: Ich habe ein gutes Gefühl bei dieser Re-
    gierung. Hier zu stehen, zur Regierungserklärung zu re-
    den und zu wissen, daß ich nach vielen Jahren im Par-
    lament endlich das, wofür ich jahrelang gestritten habe,
    wofür ich bei den Frauen und Männern in diesem Land
    geworben habe, mit dieser Regierung auf den Weg brin-
    gen kann, das tut gut. Wir sind auf dem richtigen Weg.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Ich verstehe, daß es Ihnen im Moment anders geht.
    Diese Regierung ist kaum 14 Tage im Amt, und bereits
    jetzt hat sie Vorleistungen erbracht, um das bestehende

    Gerechtigkeitsdefizit in diesem Lande, das unter ande-
    rem dazu geführt hat, daß die Wählerinnen und Wähler
    sie abgewählt haben,


    (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: So was wie Sie wollten die auch nicht!)


    zu beseitigen.
    Mit Beginn des Jahres 1999 werden wir die erste

    Stufe der Steuerreform in Kraft setzen, die vor allen
    Dingen die Normalverdiener entlastet und die Ernst
    macht mit der finanziellen Förderung von Familien. Fa-
    milien mit zwei Kindern werden 100 DM mehr in der
    Tasche haben.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Stimmt doch einfach gar nicht! Sie müssen zuzahlen!)


    – Diese Regierung redet nicht nur von der Senkung der
    Lohnnebenkosten, Herr Dr. Kues, sondern sie senkt sie
    tatsächlich. Sie stabilisiert die Rentenbeiträge nicht nur,
    sie senkt sie um 0,8 Prozent. Sie wissen: Wären Sie an
    der Regierung geblieben, hätten wir die Rentenbeiträge
    erhöhen müssen. Das ist Fakt.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Diese Regierung sichert Arbeitnehmerrechte, nach-
    dem diese in den letzten Jahren Zug um Zug abgebaut
    worden sind. Man spürt das draußen in den Diskussio-
    nen: Zum erstenmal seit vielen Jahren zucken die Men-
    schen bei der Erwähnung des Begriffs Reform nicht
    mehr zusammen – weil sie nicht wissen, was jetzt wie-
    der auf sie zukommt –, sondern setzen ihre Hoffnung in
    eine positive Politik. Ich sage Ihnen: Wir werden diese
    positive Politik umsetzen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Die Hoffnung richtet sich darauf, daß manches von
    dem, was Sie gemacht haben, demnächst eingeleitet
    wird, wie sonst die Märchen eingeleitet werden: „Es war
    einmal . . .“ Es wäre auch schön, wenn wir „Es war ein-
    mal ...“ zu dem sogenannten Wachstums- und Beschäf-
    tigungsförderungsgesetz von 1996 sagen könnten.


    (Beifall bei der SPD)

    Wie im Märchen hatten Sie uns versprochen, daß Ar-
    beitsplätze geschaffen werden, zum Beispiel durch
    Aufweichung des Kündigungsschutzes und durch Ein-
    schnitte bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Tat-
    sache ist jedoch, daß allein die Kürzung der Lohnfort-
    zahlung im Krankheitsfall zwar die Unternehmen um
    Milliardenbeträge entlastet hat, aber dafür keine Ar-
    beitsplätze geschaffen hat. Das ist ungerecht, Herr
    Dr. Kues. Diese Ungerechtigkeit werden wir beseitigen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Als ob diese Ungerechtigkeit ein Beweis für die positive
    Wirkung der alten Bundesregierung sei, werden wir

    Dr. Heidi Knake-Werner






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    heute den ganzen Morgen davor gewarnt, diese und an-
    dere Schandtaten endlich abzuschaffen.

    Frau Kollegin Schwaetzer, Sie sagen, die rotgrüne
    Regierung mache eine Rolle rückwärts; ich lasse jetzt
    einmal beseite, ob Sie die Rolle rückwärts nicht viel-
    leicht mit einer Hechtrolle verwechseln. Haben Sie alle
    denn nicht begriffen, daß der Souverän, das Volk, Sie
    abgewählt hat, weil er nicht wollte, daß es in diesem
    Lande so weitergeht, weil er wollte, daß sich etwas ver-
    ändert?


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Sie können in Ihren Reden doch nicht so tun, als wäre
    das alles nicht geschehen. Wenn die Wählerinnen und
    Wähler ein „Weiter so“ gewollt hätten, dann säßen Sie
    heute auf der Regierungsbank und nicht die SPD und die
    Grünen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Der Widerspruch zwischen Ihren offiziellen Reden
    und den persönlichen Erfahrungen der Menschen war
    einfach zu groß geworden, zum Beispiel bei der Be-
    hauptung, die Kürzung der Lohnfortzahlung habe mit
    dazu beigetragen, daß die Krankenstände abgesenkt
    wurden. Abgesehen davon, daß das einzige Mittel, um
    Krankenstände wirklich abzusenken, ist, daß in Betrie-
    ben motiviert wird und daß krankmachende Bedingun-
    gen am Arbeitsplatz beseitigt werden müssen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Das ist in vielen großen Betrieben geschehen. Unbe-
    streitbar ist doch, daß die Belegschaften durch vorzeitige
    Verrentung dauernd verjüngt wurden, daß die stetig
    steigende Zahl der geringfügig Beschäftigten das Volu-
    men der Krankheitstage gesenkt hat. 520-/620-DM-
    Arbeitsverhältnisse sind sozial ungerecht und diszipli-
    nieren schon allein deswegen, weil die Not der Beschäf-
    tigten sie dazu zwingt, ihre Arbeit trotz Krankheit zu
    verrichten. Ich sage Ihnen ganz klar: Ein Ruhmesblatt
    für den Sozialstaat, wie Sie es heute immer gesagt ha-
    ben, ist das wahrlich nicht.

    Darüber hinaus führte dieses Gesetz zu massiver Un-
    gerechtigkeit bei den Beschäftigten. Diejenigen, die
    durch starke Gewerkschaften und Tarifverträge abgesi-
    chert sind, erhalten eine 100prozentige Lohnfortzahlung;
    andere, die nicht so abgesichert sind und zumeist zu
    denjenigen gehören, die am wenigsten verdienen, wer-
    den für Krankheiten bestraft. Deshalb sage ich Ihnen
    ganz klar: Ich bin froh, daß diese Bundesregierung mit
    einem ihrer ersten Schritte diese Ungerechtigkeit besei-
    tigen wird.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Die zweite Frage ist die Einbeziehung der unge-
    schützten Beschäftigungsverhältnisse in die Sozial-

    versicherungspflicht. Viele, die diesem Bundestag
    schon länger angehören, werden sich vielleicht daran
    erinnern, daß 1997 unsere ehemalige Kollegin Babel in
    ihren Pressemitteilungen und hier im Plenum stolz ver-
    kündet hat, daß die F.D.P. zum fünftenmal die geringfü-
    gigen Beschäftigungsverhältnisse als die Errungenschaft
    des Sozialstaates verteidigt hat.


    (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: So hat sie das nie gesagt!)


    – Sie hat gesagt: als letzte Freiheit im Unternehmertum.
    Ich habe die Zitate hier.

    Ich sage Ihnen ganz klar: Es geht hier nicht – wie Sie
    es angesprochen haben – um die Frage von Abkassieren
    oder Füllen von Kassen.


    (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Doch!)

    Es wäre wirklich zu kurz gedacht, wenn wir so argu-
    mentieren würden. Im Gegensatz zu Ihrer Politik basiert
    unsere Politik darauf, daß wir die Erosion des Sozial-
    staates, daß wir Wettbewerbsverzerrungen und Sozial-
    dumping nicht billigend in Kauf nehmen werden.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wir werden es nicht zulassen, daß 5,3 Millionen Arbeit-
    nehmerinnen aus ihrer Erwerbstätigkeit keine eigene so-
    ziale Sicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheits-
    fall und kein Mutterschaftsgeld erhalten. Was an dieser
    Art von Arbeitsverhältnissen frauenfreundlich ist, Kol-
    legin Schwaetzer, darüber würde ich mich gerne mit Ih-
    nen unterhalten; um das nachvollziehen zu können, bin
    ich wahrscheinlich nicht intelligent genug.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Sie haben das nicht nur in Kauf genommen. Durch
    Ihre Politik haben Sie viele Arbeitgeber geradezu er-
    muntert, statt existenzsichernder Vollzeitarbeitsplätze
    und Teilzeitarbeitsplätze sozial ungeschützte Arbeits-
    verhältnisse zu schaffen. Es war ja auch sehr verlok-
    kend, mit der indirekten Subventionierung von Lohnko-
    sten sich leichten Herzens Wettbewerbsvorteile ver-
    schaffen zu können. Damit haben Sie zugelassen, daß
    die Unternehmer und Arbeitgeber, die ihre sozialen
    Verpflichtungen erfüllt haben, die ihre Arbeitnehmerin-
    nen und Arbeitnehmer sozial abgesichert haben, immer
    höhere Lohnnebenkosten aufgebürdet bekamen, genauso
    wie die Beschäftigten selbst, weil immer weniger in die
    sozialen Kassen eingezahlt und dadurch für die, die ein-
    gezahlt haben, alles teurer geworden ist.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Das müßte eigentlich Ihrer Philosophie von Wettbe-
    werbsfähigkeit ganz enorm widersprechen.

    Deshalb haben wir versprochen, diesen Mißstand zu
    beseitigen. Wir werden die Geringfügigkeitsgrenze auf
    monatlich 300 DM festsetzen. Wir werden die Privile-

    Ulla Schmidt (Aachen)







    (A) (C)



    (B) (D)


    gierung der geringfügigen Nebenbeschäftigung beseiti-
    gen,


    (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sie werden damit die Schwarzarbeit fördern!)


    weil niemand einsehen wird, warum der Facharbeiter,
    der Überstunden ableistet, mit seinen Löhnen voll in die
    Sozialversicherung zahlt, während der andere, der neben
    einem sozialpflichtigen Arbeitsverhältnis eine Nebenbe-
    schäftigung hat, nicht in die Sozialversicherungskassen
    einzahlt; das untergräbt auf Dauer den Sozialstaat und
    die Solidarität.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wir werden die Arbeitgeber verpflichten, ihren Beitrag
    zur Sozialversicherung für Tätigkeiten ab 300 DM zu
    leisten.

    Wir werden Ausnahmen bei der Saisonbeschäftigung
    zulassen; sie bleibt sozialversicherungsfrei. Damit er-
    halten wir die Flexibilität überall dort, wo sie gebraucht
    wird. Das macht deutlich: Wir werden nicht die gering-
    fügige Beschäftigung abschaffen. Es geht uns nicht um
    ihre Beseitigung, sondern um die Beseitigung des Miß-
    brauchs und der Flucht aus der Sozialversicherung. Ge-
    nauso werden wir den Skandal der Scheinselbständigkeit
    beseitigen.


    (Beifall bei der SPD)

    Kolleginnen und Kollegen, ich muß hier noch einmal

    etwas klarstellen, was offensichtlich bei einigen von Ih-
    nen falsch angekommen ist. Ich höre heute morgen im-
    mer etwas von sozialer Ungerechtigkeit, die mit unserer
    Politik verbunden ist.


    (Zuruf von der CDU/CSU: Leider!)

    Mir klangen die Ohren; ich dachte immer, Sie reden von
    Ihrer Politik.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Ich sage Ihnen ganz klar: Der Unterschied ist, daß wir
    mit unserer Politik und mit der gestrigen Regierungser-
    klärung des Bundeskanzlers Schröder endlich Abschied
    nehmen von der Ausgrenzung und Entsolidarisierung in
    dieser Gesellschaft, von der Ausgrenzung und Entsoli-
    darisierung gegenüber Sozialhilfeempfängern, von der
    Ausgrenzung und Entsolidarisierung gegenüber den Ar-
    beitslosen, von der Ausgrenzung und Entsolidarisierung
    gegenüber Alleinerziehenden, gegenüber Frauen und
    gegenüber den Jugendlichen in unserem Land. Sie reden
    immer von sozialen Ungerechtigkeiten und sehen gar
    nicht, daß es Ihre Politik der letzten Jahre gewesen ist,
    die zu genau diesen Ungerechtigkeiten geführt hat.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Für all die, von denen ich jetzt gesprochen habe, galt
    nicht mehr das Prinzip, daß alle, und zwar auch die mit
    den stärkeren Schultern, für diejenigen in unserer Ge-
    sellschaft einstehen, die in Not geraten sind.

    Herr Kollege Laumann,

    (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ja!)


    Sie haben ja recht, daß die Solidargemeinschaft davon
    lebt, daß jeder und jede nach seinen bzw. ihren Mög-
    lichkeiten Beiträge leistet und dadurch individuelle Ri-
    siken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Invalidität
    durch Rechtsansprüche abgesichert sind. Aber wenn Sie
    einmal ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, daß doch
    genau Sie – nicht Sie persönlich, sondern Sie mit Ihrer
    Bundestagsfraktion, als Sie noch in der Regierung waren –
    es gewesen sind, die durch die immer stärkere Abwäl-
    zung der Lasten auf diejenigen, die tatsächlich bedürftig
    sind, auf die Kranken, auf die Arbeitslosen, auf die Al-
    leinerziehenden, auf die Frauen, genau diese Rechtsan-
    sprüche ausgehöhlt haben und damit einen der Grund-
    sätze unseres Sozialstaates – daß wir keine Entwicklung
    zu einem karitativen Wohlfahrtsstaat, sondern einen
    Sozialstaat mit einklagbaren Rechtsansprüchen wollen –
    aufheben wollten.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Deshalb sehen Sie mich auf Ihrer Seite, wenn es darum
    geht, diese Rechtsansprüche beizubehalten und auch zu
    verwirklichen. Denn ich sage Ihnen ganz klar: Bei aller
    Notwendigkeit, über die Zielgenauigkeit von Soziallei-
    stungen und über die Effizienzsteigerung auch der Lei-
    stungssysteme zu streiten, ist der Erhalt dieser Rechtsan-
    sprüche für mich die Basis, auf der alle Reformen auf-
    gebaut werden müssen; denn sie allein schaffen Freiheit,
    und mit ihnen wird die Würde des Menschen respektiert.

    Die heute vom Bundesarbeitsminister angekündigte
    Verstärkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist im
    übrigen ein Weg in diese Richtung. Wir kehren das be-
    stehende Verhältnis von aktiver zu passiver Leistung
    Zug um Zug um. Damit machen wir nicht nur die In-
    strumente staatlicher Arbeitsmarktpolitik effizienter;
    vielmehr konzentrieren wir die finanzielle Leistung vor-
    rangig auf Investitionen in die menschliche Arbeitskraft.
    Das ist auf Dauer eben nicht nur sinnvoller, vielmehr ist
    es auch billiger, und es entspricht unserer sozialdemo-
    kratischen Auffassung von Sozialpolitik. Sie ist dadurch
    gekennzeichnet, daß durch staatliche Rahmenbedingun-
    gen nicht nur Türen geöffnet werden müssen; vielmehr
    soll es durch die Förderung der eigenständigen Existenz-
    sicherung den Menschen ermöglicht werden, auf eige-
    nen Füßen durch diese Türen zu gehen und den Weg
    selber zu bestimmen, den sie gehen wollen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Das ist die Basis, auf der Freiheit geschaffen wird.
    Das ist die Basis, mit der die Würde des Menschen re-
    spektiert wird. Deshalb stehen wir für eine andere Poli-
    tik, eine Politik, die gerecht die Lasten und Chancen
    verteilt, eine Politik, die die Erwerbsarbeit verteilt, eine
    Politik, die Chancengleichheit in Bildung und in Kultur
    durchsetzt, eine Politik, die die Benachteiligung der Ge-
    schlechter überwindet und die Zukunftsperspektiven für
    junge Menschen schafft.

    Ulla Schmidt (Aachen)







    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Ohne Gerechtigkeit, ohne Solidarität und ohne so-
    ziale Sicherheit ist Demokratie auf Dauer nicht lebens-
    fähig. Sie kann auch nicht mehr so blühen, wie wir es
    alle wollen. Deshalb ist unsere Politik ein Beitrag zur
    Verfestigung der Demokratie und der demokratischen
    Strukturen in unserem Lande.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Ein letzter Punkt. In seiner Regierungserklärung hat
    der Bundeskanzler gestern auf das Versagen der alten
    Bundesregierung angesichts der horrenden Jugendar-
    beitslosigkeit hingewiesen. Ich muß Ihnen, Kolleginnen
    und Kollegen, einmal ehrlich sagen: Ich habe Ihre Re-
    aktionen gestern überhaupt nicht verstanden, als Sie bei
    der Regierungserklärung so laut gelacht haben.


    (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Gestern, das war eine bodenlose Frechheit!)


    Es ist doch unbestreitbar, daß es Ihnen nicht gelungen
    ist, den dramatischen Verlust von Ausbildungsplätzen
    aufzuhalten. Auch bestreitet niemand mehr ernsthaft,
    daß die hohe Jugendarbeitslosigkeit die Integration jun-
    ger Menschen gefährdet. Deshalb war Ihr Lachen fehl
    am Platz. Es entspricht doch auch dem christlichen Bild
    vom Menschen, daß er sich selber ernähren kann. Wenn
    dem so ist, dann springen Sie doch einmal über Ihren
    Schatten. Warum begrüßen Sie es hier nicht, daß wir ein
    Programm zur Schaffung von 100 000 Arbeitsplätzen
    für junge Frauen und Männer auflegen?


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Es geht nicht nur darum, daß wir damit die Jugendar-
    beitslosigkeit bekämpfen; es geht auch darum, daß wir
    dadurch das Fundament unserer Gesellschaft, Freiheit,
    Toleranz und Demokratie, verteidigen, indem wir jun-
    gen Menschen wieder eine Chance in dieser Gesellschaft
    geben und ihnen eine Perspektive eröffnen.

    Ein weiterer Punkt, Herr Kollege Laumann, betrifft
    das, was Sie über die Bedingungen für Kinder, die hier
    aufwachsen, gesagt haben. Haben Sie denn einmal dar-
    über nachgedacht, wie diese Gesellschaft eigentlich in
    zehn Jahren aussehen soll? Wenn wir zulassen, daß
    mehr als 10 Prozent einer Generation den Weg in den
    ersten Arbeitsmarkt oder zu einer Ausbildung nicht fin-
    den, dann stellt sich die Frage, wie diese Menschen über
    Jahre hinweg in das Erwerbsleben integriert werden
    sollen. Sie werden doch der Erwerbsarbeit entwöhnt.


    (V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


    Wer will mit mir denn noch über die Zukunftschan-
    cen für Familien reden, wenn wir nicht die Bedingungen
    dafür schaffen, daß junge Frauen und Männer durch Si-
    cherung ihrer eigenen Existenz auch Bedingungen für
    eine partnerschaftliche Erziehung ihrer Kinder und für
    ein Leben ohne Sorge für die nachwachsende Genera-
    tion schaffen können. Das müßte Ihnen doch zu denken
    geben. Das entspricht doch auch dem christlichen Men-
    schenbild. Deshalb müßten Sie jetzt eigentlich mit mei-

    ner Fraktion für die Beantwortung dieser Fragen eintre-
    ten.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen.
    Wenn es darum geht, jungen Menschen eine Perspektive
    zu geben, dann geht es auch darum, daß die jungen
    Frauen in der Erwerbstätigkeit die gleichen Chancen
    wie die jungen Männer erhalten.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Junge Frauen wollen einen Beruf erlernen, der ihren Fä-
    higkeiten und Kompetenzen angemessen ist und sie fi-
    nanziell unabhängig macht. Die jungen Frauen können
    sicher sein, daß wir bei unseren politischen Vorstellun-
    gen und in der Gesetzgebung darauf achten werden, daß
    das auch umgesetzt wird. Das ist nicht nur eine Frage
    von Demokratie – wie es die Gleichstellung der Ge-
    schlechter eben ist –, sondern auch eine Frage der Zu-
    kunftsfähigkeit des Sozialstaates.

    Wenn wir wissen, daß die lebenslange Erwerbsbio-
    graphie für Männer in der Zukunft nicht mehr so sein
    wird, wie sie es in der Vergangenheit war, sondern sich
    derjenigen der Frauen anpaßt, dann entspricht es dem
    Sozialstaatsgebot, dafür zu sorgen, daß junge Frauen ih-
    re Existenz genauso wie junge Männer sichern können
    und daß in den sich wandelnden Welten – auch in der
    Berufswelt, die von Phasen der Weiterbildung, der Ar-
    beitslosigkeit und des Wiedereinstiegs gekennzeichnet
    sein wird – in einer Familie immer einer der Partner in
    der Lage ist, die Existenz der Familie zu sichern. Wer
    das nicht sicherstellt, der zielt darauf ab, daß diese Risi-
    ken der Erwerbsbiographien in Zukunft immer durch
    staatliche Leistungen aufgefangen werden. Auch das
    würde den Sozialstaat sprengen, und auch das werden
    wir nicht mitmachen. Denn der Sozialstaat der Zukunft
    verlangt, daß junge Frauen und Männer gleiche Chancen
    haben, damit die Familien gleiche Chancen haben.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Ich glaube, daß Frauen und Männer in diesem Lande
    Veränderungen wollen. Sie erwarten von uns zu Recht,
    daß wir neue Maßstäbe setzen; sie erwarten, daß Solida-
    rität und Gerechtigkeit wieder eine Bedeutung erlangen.
    Sie sind bereit, sich den Anforderungen des
    21. Jahrhunderts zu stellen, verlangen aber, daß es dabei
    gerecht zugeht. Diese Gerechtigkeit – auch bei Ent-
    scheidungen unter finanziellen Zwängen – ist das, was
    ich den Menschen in diesem Lande von dieser Stelle aus
    zusage. Dazu werden wir, liebe Kolleginnen und Kolle-
    gen, mit dieser Regierung an unserer Seite einen guten
    Schritt nach vorne machen. Das ist gut für Deutschland,
    das ist gut für die Familien, und das ist gut für die Men-
    schen, die in Deutschland leben.

    Vielen Dank.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Ulla Schmidt (Aachen)







    (A) (C)



    (B) (D)




Rede von Dr. Antje Vollmer
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich jetzt dem Kollegen Laumann das
Wort.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Karl-Josef Laumann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Kollegin
    Schmidt, Sie haben mich persönlich angesprochen. Sie
    haben gesagt, daß Sie einen Wohlfahrtsstaat


    (Klaus Lennartz [SPD]: Sozialstaat!)

    mit Rechtsansprüchen wollen und daß wir nach Ihrer
    Meinung in den letzten Jahren zu viele Kürzungen vor-
    genommen hätten.


    (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Da hat sie recht!)

    Dazu möchte ich einfach einmal anmerken, daß wir nach
    meiner tiefen Überzeugung in der Sozialpolitik das
    Ganze nur gerecht und bezahlbar gestalten können,
    wenn wir soziale Leistungen mit Eigenverantwortung
    verbinden.


    (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

    Deswegen haben wir in der letzten Wahlperiode zum
    Beispiel gesagt: Außer beim Vorliegen bestimmter so-
    zialer Voraussetzungen – Sozialklausel, Überforde-
    rungsklausel – gibt es im Gesundheitssystem Zuzahlun-
    gen. Das war richtig, denn die Leute müssen mit den
    Leistungen des Gesundheitssystems sparsam umgehen.
    Daß es richtig war, sehen wir jetzt auch an Ihrem Re-
    formentwurf: Wenn Sie bei den Zuzahlungen eine Mark
    wegnehmen, dann ist das, gemessen an der Ankündi-
    gung, sie abzusenken, eher eine Lachnummer.


    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Warum haben Sie das nicht gemacht?)


    Sie werden Eigenverantwortung mit Sozialleistungen
    verbinden müssen. Das ist richtig und wird an einem
    Beispiel deutlich: Wenn ich vier Wochen zur Kur fahre,
    muß ich dafür als Eigenverantwortungsteil eine Woche
    Urlaub einbringen. Nur so kann das doch funktionieren.
    Sie müssen immer eine Lösung finden, bei der die wirk-
    lich Bedürftigen die Leistung bekommen, aber diejeni-
    gen, die sie nicht unbedingt brauchen, sie nicht mit
    Leichtigkeit erwerben können. Sie sind gut beraten,
    wenn Sie an diesem Weg festhalten.

    Noch ein Wort zu der Geschichte mit den Jugend-
    lichen. Wir springen in der Debatte viel zu kurz, wenn
    wir glauben, man könne durch ein Programm das Pro-
    blem, daß 10 bis 15 Prozent der Jugendlichen nach zehn
    Jahren Schule nicht ausbildungsfähig sind, lösen. Dieses
    Problem hat ganz viele Ursachen. Das hängt mit Eltern-
    häusern zusammen. Das hängt mit Sozialverhalten zu-
    sammen. Das hängt mit der Art, wie die Schule organi-
    siert ist, zusammen. Dazu habe ich heute vieles gesagt.
    Ich glaube, wir sollten das einmal vernünftig anpacken,
    um die Probleme schon dann zu lösen, wenn Menschen
    im Alter von Kindern oder Jugendlichen sind. Am be-
    sten würden wir das Problem lösen – davon bin ich
    überzeugt; man muß diese Ansicht nicht teilen –, wenn
    wir in unserer Gesellschaft wieder stärker zu einem
    christlichen Wertekonsens finden würden.

    Danke schön.

    (Beifall bei der CDU/CSU)