Gesamtes Protokol
Guten Tag, meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: erstens den Bericht der Bundesregierung zum Bundesausbildungsförderungsgesetz und zweitens das Mietenüberleitungsgesetz.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Dr. Jürgen Rüttgers.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat sich heute mit dem Entwurf eines Berichtes der Bundesregierung über die Möglichkeit einer Erhöhung der Bedarfssätze nach dem BAföG im Jahre 1995 sowie über einen Änderungsbedarf im Recht der Ausbildungsförderung unter Einbeziehung der beruflichen Aufstiegsfortbildung befaßt. Das Kabinett hat diesem Bericht zugestimmt.
Dieser Bericht, werte Kolleginnen und Kollegen, hat drei inhaltliche Schwerpunkte. Zum einen hat die Bundesregierung die Grundstruktur für ein Gesetz zur Förderung der Aufstiegsfortbildung in diesem Bericht festgelegt. Dieser Bericht ist ein wichtiger Bestandteil der Umsetzung der Koalitionsvereinbarung, in der diese Maßnahme mit dem Ziel angekündigt war, die Gleichwertigkeit von schulischer, beruflicher und akademischer Bildung zu erreichen.
Auch vor dem Hintergrund der Situation auf dem Arbeitsmarkt mißt die Bundesregierung der Förderung der Aufstiegsfortbildung eine große Bedeutung zu. Jede Existenzgründung im Handwerk zieht in den ersten Jahren vier bis fünf neue Arbeitsplätze nach sich. Hinzu kommt, daß im Bereich des Handwerks in den nächsten Jahren ein besonderes Problem dadurch entsteht, daß überdurchschnittlich viele Meisterbetriebe ihr Unternehmen an einen
Nachfolger werden übergeben müssen. Allein im Handwerk suchen etwa 200 000 Handwerksunternehmer in den kommenden Jahren einen Nachfolger.
Die Bundesregierung verspricht sich von diesem Gesetz zur Förderung der Aufstiegsfortbildung eine Entspannung in diesem Bereich. Wir wollen eine Förderungsfähigkeit solcher Teilnehmer an Bildungsmaßnahmen, die sich auf eine Berufstätigkeit als Meister oder als mittlere Führungskraft vorbereiten. Die Förderungsfähigkeit soll von qualitativen und zeitlichen Kriterien abhängig gemacht werden. Damit werden etwa 90 000 Begünstigte erreicht. Es geht um Maßnahmen, die nach der Handwerksordnung durchgeführt werden - z. B. für Handwerksmeister: Fachkaufleute für die Handwerkswirtschaft -, die nach dem Berufsbildungsgesetz erfolgen - etwa für Fachkaufleute, Fachagrarwirte, Industriemeister - oder die nach dem Schulrecht der Länder erfolgen; das betrifft dann staatlich geprüfte Betriebswirte und staatlich geprüfte Techniker.
Beabsichtigt ist die Förderung der Teilnahme an Vollzeit- und Teilzeitmaßnahmen. Dabei ist auch noch zu berücksichtigen, daß die Teilnehmer an Teilzeitmaßnahmen die Maßnahmekosten, die nicht durch die Förderung abgedeckt werden, in der Regel steuerlich absetzen können. Die Förderung der Maßnahmekosten soll als Zuschuß geleistet werden, die Beiträge zu den Lebenshaltungskosten teilweise als Darlehen. Wir stellen uns ein eigenständiges Gesetz vor, das in seinen Grundstrukturen vor dem Hintergrund des angestrebten Ziels der Gleichwertigkeit der verschiedenen Ausbildungswege dem Bundesausbildungsförderungsgesetz nachgebildet werden soll.
Der zweite Komplex dieses Berichtes beschäftigt sich mit der Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge im studentischen Bereich. Der Deutsche Bundestag hat am 16. Juni 1994 die Bundesregierung aufgefordert, die Möglichkeit einer Erhöhung der Bedarfssätze zum Herbst 1995 zu prüfen und ihm darüber bis März 1995 zu berichten. In diesem Bericht wird festgestellt, daß eine Erhöhung der Bedarfssätze sowie eine Änderung der Härteverordnung zur Berücksichtigung besonderer Entwicklungen in den
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
neuen Bundesländern zum Herbst 1995 angemessen und möglich ist. Sie wissen, daß ich vorgeschlagen habe, die Bedarfssätze im Rahmen der 17. BAföG- Novelle noch in diesem Jahr um 4 % zu erhöhen. Im übrigen bleibt es dann bei der Beschlußfassung des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 1994, wonach auch die Sozialpauschalen sowie die Freibeträge zum Herbst 1995 um 4 % angehoben werden.
Es hat im Vorfeld dieser Beschlußfassung im öffentlichen Raum die Forderung gegeben, eine rückwirkende Anhebung vorzunehmen. Die Bundesregierung sieht keine Möglichkeit zu einer solchen rückwirkenden Anhebung. Es ist allseits bekannt, daß es bei staatlichen Transferleistungen nicht möglich und nicht üblich ist - weder auf Bundesebene noch auf Landesebene -, eine Unterstützung für in der Vergangenheit liegende Zeiträume zu gewähren.
Der dritte Komplex des Berichtes, Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen, enthält Vorschläge für eine strukturelle BAföG-Reform. Ich verspreche mir von diesem Bericht, daß es auch im Parlament zu einer grundsätzlichen Debatte über die Weiterentwicklung des BAföG kommt. Mir geht es politisch darum, auch das Bundesausbildungsförderungsgesetz an den Vorstellungen für eine Hochschulreform zu orientieren. Sie wissen, daß es im Jahre 1993 einen weitgehenden Konsens zwischen Bund und Ländern über inhaltliche Punkte einer Strukturreform gegeben hat. Das betrifft etwa die Regelstudienzeiten.
Entsprechend schlagen wir erstens vor, darüber zu diskutieren, daß sich die Förderungshöchstdauer des BAföG an den verkürzten Regelstudienzeiten der Studienreform orientiert. Das bedeutet, für die Universitäten generell neun Semester, für die Fachhochschulstudiengänge acht Semester zugrunde zu legen.
Aus der Gefördertenstatistik 1992 - das ist der zweite Punkt - ergibt sich, daß zur Zeit rund 4 000 Studenten in Zweitstudien gefördert werden, mit einem Gesamtaufwand von 38,5 Millionen DM. Der Beirat für Ausbildungsförderung hat empfohlen, den Rechtsanspruch auf Förderung von Ergänzungs-, Aufbau- und Zusatzstudien aufzugeben. Diese Studiengänge sollten ausschließlich im Rahmen der Graduiertenförderung oder von Stipendienregelungen berücksichtigt werden. Auch dieser Punkt wurde in den Bericht aufgenommen.
Der dritte Punkt befaßt sich mit den Absolventen von Berufsakademien, die da, wo es nach dem Landesrecht möglich ist, auch im Hinblick auf folgende Studien den Fachhochschulabsolventen gleichgestellt werden sollen.
Als weiteren Problempunkt haben wir die Frage der Studienfachwechsler zu berücksichtigen. Die 13. Sozialerhebung des Studentenwerks hat ergeben, daß die Quote der Studienfachwechsler in den alten Ländern derzeit durchschnittlich 20 % beträgt. Die Hochschulrektorenkonferenz hat beschlossen, nach dem zweiten oder dritten Fachsemester eine intensive Studienberatung an den Hochschulen durchzuführen, um dann gegebenenfalls einen Fachrichtungswechsel anzuraten. Es ist deshalb zu prüfen, ob die Förderung nach einem Fachrichtungswechsel künftig vom Ergebnis dieser Beratungen abhängig gemacht werden soll. Wichtig ist auf jeden Fall, daß der Fachrichtungswechsel zu einem möglichst frühen Zeitpunkt stattfindet.
Des weiteren gibt es Vorschläge für Angleichungen zugunsten der Studenten und Schüler in den neuen Ländern. Die Bundesregierung geht davon aus, daß wir damit in den nächsten Wochen und Monaten eine Diskussion über ein Gesamtkonzept zur Ausbildungsförderung führen können. Wir freuen uns auf diese Diskussion auch im Parlament.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich bitte, Fragen zunächst zu dem Themenbereich zu stellen, über den berichtet wurde. Ich glaube, Kollege Rixe war der erste. Bitte.
Herr Minister, ich habe Sie wohl richtig verstanden, daß die Aufstiegsförderung im Bereich der beruflichen Bildung durch ein Gesetz geregelt werden soll. Sie haben über die Finanzierung nur vage gesprochen und haben von Zuschuß gesprochen. Weiter nannten Sie ungefähr 90 000 Plätze. Wie sehen nach Ihren Vorstellungen der Zuschuß und die Finanzierung aus? Mit was für einem Zuschuß könnte jemand, der eine Meisterausbildung nach der Handwerksordnung oder dem Berufsbildungsgesetz macht und dafür mindestens ein Jahr benötigt, rechnen?
Herr Kollege Rixe, es ist richtig, daß die Bundesregierung davon ausgeht, daß es sich um ein eigenes Gesetz handelt. Die Zahl 90 000 umfaßt nach unseren Ermittlungen das Gesamtvolumen derjenigen, die dafür in Betracht kommen können. Es ist keiner ausgeschlossen. Sie wissen, daß die Ermittlung solcher Zahlen, vor allen Dingen, wenn man eine neue Maßnahme einführt, natürlich immer auch auf Schätzungen beruht.
Ich gehe aber davon aus, daß wir mit dieser Zahl alle Interessenten erfaßt haben.
Ich bitte um Verständnis, daß ich mich zum jetzigen Zeitpunkt zur Höhe sowohl der Zuschüsse zu den Maßnahmekosten als auch derjenigen zu den Lebenshaltungskosten nicht äußern möchte. Als langjährigem Bildungspolitiker ist Ihnen bekannt, daß wir in den nächsten Wochen eine Vielzahl auch kostenrelevanter Punkte zu diskutieren haben werden: Hochschulbau, Hochschulsonderprogramme. Sie wissen, daß am heutigen Tage im Fachausschuß die Haushaltsplanberatungen 1995 abgeschlossen sind und erst jetzt die Beschäftigung mit den Daten für 1996 beginnt.
Ich meine, es wäre, auch um dieses Gesetz möglichst zum 1. Januar 1996 in Kraft setzen zu können, ein vernünftiger Weg, daß wir zuerst über die Struk-
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
tur diskutieren. Über die Höhe der Finanzleistungen - das ist Ihnen als Bildungspolitiker bekannt - ist man dann meistens in einer Diskussion mit anderen Fachkollegen.
Nun ist die Kollegin Altmann an der Reihe.
Herr Minister, im letzten Jahr wurde die BAföG-Erhöhung ausgesetzt und wurden somit Finanzmittel eingespart. Ich frage die Bundesregierung und Sie, warum die eingesparten Mittel nicht für eine mehr als vierprozentige Erhöhung verwendet werden, wenn schon keine rückwirkende Anhebung stattfindet.
Frau Kollegin, Sie kennen die Grundsätze des Haushaltsrechts, die von diesem Hause beschlossen worden sind. Nach dem deutschen Haushaltsrecht ist es so, daß Mittel, die bis zum Ende des Jahres nicht gebraucht worden sind - es gab eben keine Mehrheit des Deutschen Bundestages für eine BAföG-Erhöhung -, zur Konsolidierung des Haushalts verwendet werden und im nächsten Jahr natürlich nicht mehr zur Verfügung stehen. Insofern kann man nicht wie im privaten Bereich einfach sagen: Dieses Geld ist gespart, und das können wir jetzt ausgeben.
Herr Kollege Thönnes.
Herr Minister, es ist löblich, daß Sie die Kritik der SPD und auch der Handwerksinnungen, daß es ein Fehler gewesen ist, die Finanzierung der Handwerkerausbildung in den letzten Jahren zu reduzieren und am Ende einzustellen, am Ende doch ernst genommen haben. Dennoch bleibt bei Ihrer jetzigen Absicht ein Fragenkomplex offen. Ich gehe dabei auf Ihre vorherige Antwort ein und darf Sie bitten, etwas konkreter zu werden. Wie soll es denn finanziert werden? Sie haben in Ihren Erklärungen auch im Ausschuß die Worte „analog BAföG" gebraucht. Von daher wäre zu hinterfragen, ob die Bundesregierung der Auffassung ist, daß möglicherweise Bund und Länder dies finanzieren sollen, und ob Sie darüber schon mit den Ländern gesprochen haben.
Zweiter Punkt: Wie kommen Sie auf die Zahl 90 000? Liegen hier Zahlen zugrunde, die sich auf die geförderten Meisterlehrgänge in den letzten Jahren beziehen? Da Sie aber den Personenkreis der mittleren Führungskräfte einbezogen haben, wäre es interessant, zu hinterfragen, ob Ihnen denn überhaupt Zahlen und Daten vorliegen, die Ihnen Anlaß geben, hier eine Größenordnung zu beziffern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister.
Herr Kollege, wir haben nach besten Kräften versucht - sowohl mit den Handwerkerverbänden als auch mit den Ausbildern in den anderen Bereichen - zu ermitteln, wie groß etwa der Bedarf ist.
Sie wissen, daß in der öffentlichen Diskussion auch schon einmal Zahlen genannt worden sind, die leicht über der von mir genannten Zahl liegen. Die Zahl 100 000 hat es in der öffentlichen Diskussion einmal gegeben.
Die Fachleute des Ministeriums gehen davon aus, daß sich der Gesamtumfang auf etwa 90 000 belaufen wird. Aber wie bei allen Schätzungen werden wir das natürlich erst später genauer sagen können. Wenn die Maßnahme gut läuft, wovon ich ausgehe, mag das auch überschritten werden. Darüber würde ich mich dann aber nicht ärgern, sondern freuen.
Hinsichtlich der Frage der Mitfinanzierung der Länder gehe ich zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, daß es sich um eine Maßnahme handelt, die vom Bund durchgeführt wird. Der Hinweis auf das BAföG heißt, daß ich aus Verwaltungsvereinfachungsgründen gerne die Grundstruktur des BAföG auch für diesen Bereich möglichst übernehmen möchte, damit wir nicht ein völlig neues Verfahren kreieren müssen. Das ist mit dieser Bemerkung gemeint gewesen.
Herr Kollege Braune.
Herr Minister, Sie selber haben dem Kompromiß im Vermittlungsausschuß zur BAföG-Anhebung, nämlich erstens zur Anpassung der Bedarfssätze um 4 % im Herbst 1994 und zweitens zur Anhebung der Freibeträge um 2 im Herbst 1994 und um weitere 2 % im Herbst 1995, seinerzeit zugestimmt. Können Sie zum einen erläutern, warum dies nicht realisiert wurde? Denn letztlich bedeutet das Verschieben um ein Jahr eine reale Einkommensverschlechterung der Geförderten. Zum anderen: Ist die Bundesregierung der Meinung, daß die soziale Lage der Studenten so positiv ist, daß man das mit gutem Gewissen tun konnte? In diesem Zusammenhang erinnere ich an den Bericht des Deutschen Studentenwerks zur 14. Sozialerhebung.
Herr Kollege Braune, die Bundesregierung weiß natürlich, daß es durch das Ausbleiben der BAföG-Erhöhung im letzten Jahr eine reale Einkommenseinbuße der Studentinnen und Studenten gegeben hat. Ich bin auch der Auffassung, daß die soziale Lage der Studentinnen und Studenten schwierig ist.
Allerdings muß ich darauf hinweisen - das war damals das Motiv; es hat ja eine sehr ausführliche Diskussion in diesem Hohen Hause gegeben -, daß der Bundestag seinerzeit der Meinung war, sich im Bereich der Studenten nicht anders verhalten zu sollen als etwa im Bereich der Sozialhilfeempfänger und
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
der Rentner. Sie wissen, daß es im vergangenen Jahr gerade in diesen Bereichen nur marginale Erhöhungen gegeben hat. Damals hat die Diskussion eben zu diesem Ergebnis geführt.
Die Frage einer rückwirkenden Anpassung ist eine grundsätzliche Frage. Ich habe das auch mit den Kolleginnen und Kollegen Kultusministern diskutiert. Es macht natürlich keinen Sinn - und insofern ist das inhaltlich durchaus konsistent -, daß man, wenn man einen Zuschuß zu den Lebenshaltungskosten zahlt, diesen Zuschuß rückwirkend zahlt. Damit wird natürlich keine Aussage zur sozialen Situation gemacht. Das betrifft schlichtweg die Frage der inhaltlichen Konstruktion solcher sozialen Transferleistungen.
Deshalb würde auch nie ein Finanzminister oder ein Sozialminister eines Landes - wahrscheinlich auch kein Kultusminister bzw. keine Kultusministerin - auf die Idee kommen, bei Zahlungen, die sie zu leisten haben, in diesem Bereich rückwirkende Erhöhungen vorzunehmen.
Herr Kollege Lenzer.
Herr Bundesminister, ich möchte noch einmal auf den ersten Themenkomplex der Aufstiegsfortbildung zurückkommen. Sie haben von der Problematik der Betriebsübergabe an die Nachfolger aus der eigenen Familie gesprochen. Ist diesen Worten zu entnehmen, daß sich die Pläne der Bundesregierung auf das Handwerk beschränken?
Nein, Herr Kollege Lenzer. Es beschränkt sich nicht auf Handwerker, sondern wir waren der Auffassung, daß wir auch im Bereich der mittleren Führungskräfte -Fachkaufleute, Fachagrarwirte, Industriemeister, staatlich geprüfte Betriebswirte - eine vergleichbare Förderung vornehmen sollen, und zwar nicht nur weil die Ausbildungsgänge vergleichbar sind, sondern auch weil das große Ziel, das hinter dieser Maßnahme steht, eine Stärkung der Attraktivität in diesem Bereich ist.
Wir erhoffen uns damit nicht nur eine Erleichterung der von Ihnen gerade angesprochenen Problematik im Handwerk, sondern mittelfristig auch eine Entlastung des Drucks auf unsere Hochschulen.
Herr Kollege Catenhusen, bitte.
Herr Minister, man kann nur hoffen, daß Sie bei der geschätzten Zahl von 90 000 auch tatsächlich den Personenkreis, den Sie gerade angesprochen haben, umfassend in Ihre Berechnungen haben eingehen lassen.
Meine erste Frage zielt darauf ab, ob wir davon ausgehen können, daß die neue gesetzliche Leistung, die wir im Grundsatz begrüßen, weil sie einen
alten Fehler der Bundesregierung korrigiert, durch eine entsprechende Aufstockung Ihres Haushalts im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung finanziert werden kann, oder ob sie eine Umschichtung im Forschungs- und Bildungshaushalt bedeutet.
Meine zweite Frage: Gehen Sie von vornherein davon aus, daß die unterschiedliche soziale und familiäre Situation der Leute, die in dieser Aufstiegs- oder Fortbildungsförderung bedacht werden müssen, auch in der Höhe der Leistung deutlich andere Ergebnisse verlangt als beim studentischen BAföG?
Herr Minister.
Die letzte Frage, Herr Kollege Catenhusen, ist schwer zu beantworten, weil es ein mathematisches Problem ist. Wenn Sie die Anzahl der geschätzten Teilnehmer und die Summe, die Sie zur Verfügung haben, kennen, dann können Sie ungefähr ausrechnen, wie die Höhe der Zahlungen etwa für den Lebensunterhalt ist. Ich gehe davon aus, daß es politisch notwendig ist, hier einen Betrag zu erreichen, der es denjenigen, die eine solche Ausbildung anstreben, auch wirklich ermöglicht, diesen Weg zu gehen.
Die erste Frage ist natürlich eine spannende allgemeine Frage, die mich als Ressortminister, aber natürlich auch als Mitglied der Bundesregierung und als Mitglied dieses Hauses sehr interessiert. Sie wissen, Herr Kollege Catenhusen, daß gerade in finanziellen Dingen mein alter Grundsatz gilt, daß alles mit allem zusammenhängt.
Wenn ich davon ausgehen kann, daß mit der Unterstützung der Opposition, die Sie für den Bereich des Meister-BAföG gerade angesprochen haben, auch in anderen finanziell schwierigen Bereichen zu rechnen ist, so beispielsweise im Bereich der Kohleförderung oder im Bereich des Jahressteuergesetzes oder der Gewerbesteuerreform, dann wird es sicherlich möglich sein, auch andere Finanzmittel für diesen Bereich in einem Umfang einzuwerben, der es erlaubt, von großen Umschichtungen abzusehen. Das hängt davon ab, wieviel Geld insgesamt zur Verfügung steht.
Ich freue mich, daß Sie die Regierung bei diesem Bemühen unterstützen wollen.
Sie dürfen zusätzlich fragen, aber Sie müssen mich vorher fragen. - Sie wollen aber nicht.
Das Wort hat der Kollege Kubatschka.
Herr Minister, bei mir sind Klagen von jungen Handwerkern angekommen, die sagen, bedingt durch die finanzielle Situation könnten sie die Meisterausbildung nicht machen. Können Sie sagen, ob eine „Meisterlücke" entstan-
Horst Kubatschka
den ist - ich gehe davon aus -, und wenn ja, in welcher Größenordnung?
Man kann davon ausgehen, daß es einen gewissen Nachholbedarf gibt, daß die Leute, die jetzt ihre Ausbildung aus finanziellen Gründen nicht machen konnten, die neue Chance ergreifen werden. Werden Sie deswegen eine Altersbegrenzung vorsehen, unter der eine Ausbildung nur möglich ist? Oder werden Sie sagen: „Jeder wird die Chance, die er haben will, bekommen"?
Herr Minister.
Herr Kollege Kubatschka, die letzte Frage würde ich gern dem folgenden Diskussionsprozeß überlassen. Ich habe prinzipiell keine Probleme damit, ohne eine Altersgrenze auszukommen. Das wird man aber im gesamten Kontext betrachten müssen.
Richtig ist - das haben unsere Umfragen bei den Ausbildungsstätten auch ergeben -, daß vor allem in den letzten beiden Jahren - wenn ich das richtig in Erinnerung habe - der Anteil derjenigen, die eine solche Ausbildung begonnen haben, zurückgegangen ist. Ich kann nicht ausschließen, daß das natürlich auch mit den Beschlüssen im Rahmen der Konsolidierung des Bundeshaushaltes, sprich: des Wegfalls der Förderung im Rahmen des AFG, zu tun hat. Es gibt aber genausogut Fachleute, die die These vertreten, daß dies mit der Rezession zusammenhängt, daß sich also das Verhalten in einer solchen wirtschaftspolitischen Situation ändert. Gleich, wo der Grund liegt: Die Zeiträume sind nicht so, daß ich jetzt von einer „ Handwerksmeisterlücke" sprechen würde. Mir kommt es vor dem Hintergrund dessen, was ich geschildert habe, vor allen Dingen darauf an, jetzt möglichst viele zu motivieren, diesen Weg zu einer Meisterprüfung und zu vergleichbaren Ausbildungen und im Anschluß daran auch den Weg in die Selbständigkeit zu gehen.
Meine Damen und Herren, ich breche jetzt die Befragung zu diesem Punkt ab. Ich weiß, es liegen noch Fragen vor, aber es muß ein gewisses Gleichgewicht zu dem zweiten Komplex, der noch ansteht, da sein. Ich bitte um Nachsicht; die Befragung der Bundesregierung ist zeitlich relativ eng begrenzt.
Deshalb rufe ich jetzt den Punkt Mietenüberleitungsgesetz auf. Dazu hatte sich der Kollege Dr. Luther gemeldet.
Sehr geehrter Herr Präsident! Ich habe zwei Fragen. Vor dem Hintergrund der Mietentwicklung, die sich jetzt ergibt, ist einerseits sicherlich beachtet worden, daß der Einigungsvertrag vorsieht, daß sich die Mietentwicklung nach der Einkommensentwicklung zu richten hat. Es sind andererseits sicherlich auch die Erfordernisse des Zinsmoratoriums nach dem 1. Juli dieses Jahres mitberücksichtigt worden.
Für mich lautet die Frage auf der einen Seite: Wie 1 hoch ist bei der fünfzehnprozentigen bzw. fünfprozentigen Steigerung die durchschnittliche Mieterhöhung je Quadratmeter? Auf der anderen Seite, da der Durchschnitt natürlich niemals eine Aussage darüber gibt, wie hoch das für die niedrigeren Einkommensgruppen ausfällt: Ist geplant, daß für die niedrigen Einkommensgruppen das Sonderwohngeld Ost über das Ende dieses Jahres hinaus verlängert wird?
Herr Bundesminister Töpfer bitte.
Herr Präsident! Sehr geehrter herr Kollege Luther, zur ersten Frage: Das Gesetz, das wir vorgelegt haben und das aus zwei Teilen besteht - dem Mietüberleitungsteil und dem Sonderwohngeldteil, die wir zusammen einbringen wollen -, führt auf der einen Seite durch die bis zu fünfzehnprozentige Mieterhöhung zum 1. Juli 1995 bei einer Durchschnittsmiete von 5 DM zu einer Erhöhung pro Quadratmeter von 75 Pfennig. Sie müssen dabei natürlich berücksichtigen, daß zumindest in der Laufzeit von zweieinhalb Jahren die Möglichkeit der Modernisierung mit einer wiederum gekappten Größe von 3 DM pro Quadratmeter hinzukommen könnte.
Zur zweiten Frage: Es ist noch einmal zu unterstreichen, daß die Bundesregierung die Frage der Überleitung ins Vertragsmietensystem unmittelbar und untrennbar an eine Veränderung des Sonderwohngeldgesetzes gekoppelt hat. Das heißt, wir werden die mit den Ländern im Herbst einvernehmlich veränderten Möglichkeiten des Sonderwohngeldgeseizes nicht mehr so belassen, sondern werden eine Änderung dahin gehend durchführen, daß eine degressive Freibetragsregelung gerade für Haushalte mit niedrigeren Einkommen dazu führt, daß dort mögliche Mieterhöhungen sozial bewältigt werden. Wir werden auch dazu beitragen, daß nicht mehr die Bagatellgrenze von 15 % in dem Gesetz Anwendung findet, sondern daß bereits bei einer Mieterhöhung von über 30 DM eine entsprechende Neufeststellung des Wohngeldbescheides möglich wird. Von daher gesehen ergibt sich also eine breite Absicherung im sozialen Bereich.
Ein letztes: Wir sind ebenfalls der Meinung, daß dieses Sonderwohngeldgesetz so lange zu bestehen hat, bis die allgemeine Regelung des Wohngeldes in Deutschland vorgenommen wird. Sie wissen, daß wir das in der Koalitionsvereinbarung ebenfalls festgeschrieben haben.
Kollegin Gleicke.
Herr Minister Töpfer, ich habe Sie so verstanden, daß es hier um ein Artikelgesetz geht. Im Vorfeld dieses Kabinettsbeschlusses gab es einige Verhandlungen mit den ostdeutschen Wohnungsbauministern. In diesen Verhandlungen wurden immer wieder Kompromisse gefunden und Eck-
Iris Gleicke
werte festgelegt. Ich möchte gerne wissen, ob die Bundesregierung bei der Kappungsgrenze bei Neuvertragsmieten dem vielfachen Wunsch der ostdeutschen Bauminister und des Senats von Berlin gefolgt ist, eine neue Kappungsgrenze einzuführen, und ob es bei der Kappung im Bestand bei 15 % in den ersten zwei Jahren plus 5 % im dritten Jahr - ich nenne diese Zahl von 5 %, weil Sie sie gerade nicht genannt hatten - bleiben soll.
Außerdem möchte ich in bezug auf das Sonderwohngeldgesetz folgendes wissen. Ab 1. Juli wird sich dieses ja qualitativ verschlechtern, da einige Freibeträge wegfallen bzw. reduziert werden oder da z. B. die Heizkosten nicht mehr wohngeldfähig sind.
Ich frage Sie: Wird in den Artikeln des Gesetzes, die sich auf den Wohngeldbereich beziehen, dafür Sorge getragen, daß diese qualitative Verschlechterung voll zurückgenommen wird? Wird es darüber hinaus ein erhöhtes, qualitativ verbessertes Wohngeld geben, so daß die Mieterhöhungen, die sich als Folge des Übergangs ins Vergleichsmietensystem ergeben, kompensiert werden können?
Herr Minister, bitte.
Frau Kollegin, zur ersten Frage: Es handelt sich um ein Artikelgesetz; die beiden Dinge sind im gleichen Gesetz zusammengefaßt. Ich sage das besonders nachdrücklich. Damit bedarf das Gesetz der Zustimmung des Bundesrats. Daran sehen Sie sehr deutlich, daß wir in hohem Maße daran interessiert sind und auch darauf hinarbeiten, zu einer gemeinsamen Lösung mit den Bundesländern, in besonderer Weise mit den neuen Bundesländern, zu kommen.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß ich mich bemüht habe, hier schon im Vorfeld zu einer Einigung zu kommen. Wir haben uns zu drei intensiven Gesprächen mit den Kollegen aus den neuen Bundesländern zusammengesetzt. Folgende Eckpunkte sind in das Gesetz hineingenommen worden: Die Geltungsdauer beträgt über zweieinhalb Jahre, geht also bis Ende 1997. Das war einer dieser gemeinsamen Punkte. Ein weiterer Punkt war die damit verbundene Aufteilung der Erhöhungsspielräume von insgesamt 20 % auf anfangs 15 % und dann im dritten Jahr, wie Sie es genannt haben, also Anfang 1997, nochmal 5 %. Wir haben im Kabinett allerdings ebenfalls darauf hingewiesen, daß es not tut, hierüber noch einmal mit den Bauministern zu sprechen, weil es bis in die Frage der Verwaltungskosten einer solchen Regelung hinein möglicherweise noch bessere Wege geben kann.
Wir haben ebenfalls festgehalten, daß die Kappung bei den Modernisierungen so bleibt, wie wir es festgelegt haben, also 3 DM pro Quadratmeter.
In bezug auf die Neuvertragsmieten haben wir noch keine Kappung in diesem Gesetz vorgesehen; sondern es gibt den Hinweis auf § 5 Wirtschaftsstrafgesetz. Sie wissen, das war der Dissenspunkt bei unserem letzten Treffen in Berlin. Wir, die Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger und ich, haben aber im Kabinett den Auftrag bekommen, im Gespräch mit den zuständigen Ministern der neuen Bundesländer über eine Übergangsregelung bei den Neuvertragsmieten noch zu verhandeln, um damit ebenfalls eine einvernehmliche Lösung zu erreichen. Es war mit Blick auf die knappe Zeit, die vor uns liegt, gegenwärtig nicht möglich, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Auch mit dem Hinweis auf die rechtliche Qualität dieses Gesetzes möchte ich noch einmal unterstreichen, daß wir diesen Auftrag des Kabinetts sehr ernst nehmen. Wir werden in Kürze wieder Gespräche mit den Kollegen aus den neuen Bundesländern darüber führen.
Zum Sonderwohngeldgesetz kann ich nur wiederholen: Es sind praktisch drei Änderungen von Bedeutung. Zum einen wird die Laufzeit so verlängert, daß auf jeden Fall der Anschluß an eine allgemeine Novellierung des Wohngeldes in Deutschland erreicht wird und gesichert bleibt. Zweitens wird die sogenannte Neufestsetzung des Wohngeldes auch dann erreicht, wenn die Mietsteigerung unter 15 % bleibt. Drittens wird das im Kern zurückgenommen, was durch die Änderung zum 1. Juli eigentlich eine Verschlechterung des Wohngeldes bewirkt hat. Ob und wieweit sich das mit dem deckt, was wir vorgehabt haben, werden wir auf der Grundlage dessen, was wir vorgelegt haben, weiter mit den Ländern zu erörtern haben.
Wir gehen jedenfalls davon aus, daß die damit verbundenen Kosten deutlich über 120 Millionen DM liegen. Auch daran sehen Sie, daß es sich nicht um eine marginale Änderung handelt, sondern daß es insgesamt eine substantielle Verbesserung auch des Wohngeldes angesichts der sonst eintretenden Verschlechterung darstellt. Ich hoffe, daß wir bei bestimmten Haushalten, gerade bei den Einpersonenhaushalten, den Witwen und den Alleinstehenden, eine sehr, sehr deutliche Entlastung bewirken. Auch hierüber werden wir sicherlich intensiv mit den Kollegen aus den Bundesländern weiter sprechen. Denn Sie wissen, daß die Systematik des Wohngeldes dazu führt, daß Bund und Länder jeweils die Hälfte finanzieren. Ich bin ganz sicher, daß wir dort mit dem richtigen Augenmaß, aber auch mit sozialer Verantwortung tätig sind.
Frau Kollegin Altmann.
Sie haben gerade die Neuvertragsmieten angesprochen. Dazu habe ich eine Frage. Nach allen seriösen Schätzungen liegen ja die Einkommen in den neuen Ländern noch immer 30 % unter dem Durchschnittseinkommen im Westen. Für 1995 werden nur höchst magere Einkommenssteigerungen zwischen 4,5 % nominal und 2 % real vorhergesagt. Zudem leben 10 % im Osten jetzt schon unterhalb der Armutsschwelle.
Gila Altmann
Hält die Bundesregierung angesichts der Preissteigerungen von 15 % - Sie haben zwar soeben die Absicht erklärt, diese 15 % zu unterlaufen; aber sie sind nun einmal real - die Mietsteigerungen für vereinbar mit dem Einigungsvertrag, in dem ausdrücklich festgelegt ist, daß die Mieten schrittweise und in Anlehnung an die Einkommensentwicklung erhöht werden sollen?
Herr Präsident! Frau Kollegin! Erstens. Wir haben uns mit den Kollegen aus den neuen Bundesländern darauf geeinigt, daß wir nicht, wie zunächst vorgesehen, die Mieten in einer einzigen Stufe um 20 % erhöhen, sondern daß wir eine Unterteilung in 15 % plus 5 % vornehmen, um damit die Anbindung an die Entwicklung der Einkommen deutlich zu machen.
Zum zweiten werden gerade die Sozialfälle, die Sie genannt haben und die uns in besonderer Weise fordern, durch das Sonderwohngeld abgedeckt, über das ich gerade gesprochen habe. Ich glaube, in einem solchen Fall, den Sie möglicherweise zusätzlich gesehen haben, wird nicht nur das Tabellenwohngeld, sondern auch das pauschalierte Wohngeld gezahlt, so daß dann hinterher noch höhere Abdeckungen der Miete durch die öffentlichen Kassen vorgenommen werden.
Ich denke, wir haben uns sehr bemüht, hier die soziale Verantwortung mit der Notwendigkeit zu verbinden, der Wohnungswirtschaft entsprechende Investitionsmöglichkeiten zu geben. Denn Sie müssen ja bei alledem sehen, daß das, was wir hier tun, zu einer Begrenzung der Investitionsmöglichkeiten der Wohnungswirtschaft mit außerordentlich negativen Auswirkungen auf die Qualität und auf die so dringliche Modernisierung des Wohnungsbestandes in den neuen Bundesländern führen kann, die über viele Jahre nicht vorgenommen worden ist. Zudem hat es ganz weitreichende Auswirkungen etwa auf den Arbeitsmarkt und die Bautätigkeit. Heute kommen in den neuen Bundesländern über 40 % der Bruttowertschöpfung aus dem Bau. Daher haben wir eine große Verantwortung. Deswegen wollen wir die Investitionsfähigkeit der Wohnungswirtschaft zusätzlich stärken, indem wir etwa über andere Fördermöglichkeiten für diese Investitionen nachdenken, auch dies in enger Zusammenarbeit mit den Kollegen aus den neuen Bundesländern.
Meine Kollegen, Sie sehen, die Zeit für die Befragung der Bundesregierung ist abgelaufen. Ich kann noch eine Frage zulassen, nämlich die des Kollegen Otto; er hatte sich als nächster gemeldet. Dann ist Schluß.
Herr Minister, Mieterhöhungen sind immer unliebsam, und wir werden als Bundestagsabgeordnete sicherlich sehr viel Aufklärungsbedarf gegenüber unseren Wählern haben. Meine Frage: Welche Konsequenzen würden sich für die ostdeutschen Wohnungsunternehmen ergeben, würden wir den Schritt, der jetzt geplant ist, nicht vollziehen?
Herr Kollege Otto, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für diese ergänzende Frage. Ich greife einen konkreten Fall auf. Sie wissen, daß der Magdeburger Kompromiß 1992 in Kenntnis der Tatsache geschlossen worden ist, daß wir nach zwei Grundmietenverordnungen die Oberleitung in das Vergleichsmietensystem Mitte dieses Jahres auch deswegen vornehmen, weil dann die Bedienung eines Teilbereichs der Altschulden in Höhe von nahezu 29 Milliarden DM nicht mehr über den Bund erfolgt, sondern von den Wohnungsunternehmen selbst vorzunehmen ist. Das sind im statistischen Schnitt etwa 150 DM pro Kubikmeter mit der Konsequenz, daß die Wohnungsunternehmen einen Schuldendienst von rund 1 DM pro Kubikmeter zusätzlich haben. Das Ziel müßte natürlich sein, einen möglichst großen Teil dieser einen DM bei den Wohnungsunternehmen - das gilt in den neuen Bundesländern für den größten Teil der Wohnungen der kommunalen und der genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen und der privaten Vermieter; man muß das immer wieder in Erinnerung rufen - auszugleichen, damit die Investitionskraft dieser Unternehmen nicht leidet. Dies werden wir mit unserer Entscheidung nicht voll gewährleisten. Das heißt, es ist davon auszugehen, daß die Investitionskraft der Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern ohne flankierende Maßnahmen, die ich ganz kurz anzusprechen versucht habe, in den nächsten Jahren eher etwas sinken könnte. Um so verantwortungsvoller muß versucht werden, das auszugleichen.
Ich habe auf das Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau mit der Zinsförderung von zwei oder drei Prozentpunkten für die Kredite hinzuweisen. Wir haben darüber zu diskutieren, inwieweit wir etwa das Kumulierungsverbot zwischen der NeueLänder-Förderung und diesen Förderungen lockern könnten. Auch darüber stehen wir in der Diskussion.
Unser Ziel muß es sein - ich sage es noch einmal -, die Mietentwicklung, die sicherlich für viele Menschen in den neuen Bundesländern mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, sozialverträglich zu gestalten und gleichzeitig die Investitionsfähigkeit der Wohnungswirtschaft zu erhalten, die Modernisierung voranzubringen und damit ein Stück Angleichung in Deutschland zu ermöglichen.
Vielen Dank. Damit sind wir am Ende der Befragung und treten in die Fragestunde ein.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde
- Drucksachen 13/676; 13/689 -
Wir kommen zunächst zu dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Die in der Drucksache 13/689 aufgeführten Fragen der Abge-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
ordneten Dietert-Scheuer sind von der Bundesregierung inzwischen schriftlich beantwortet worden. Die Kollegin möchte sich nicht nach den Gründen der Verzögerung erkundigen.
Wir kommen nun zu dem Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Geiger zur Verfügung. - Aber der Kollege Gansel ist nicht im Raum, so daß ich die Fragen 1 und 2 nicht aufrufen kann. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Vielen Dank, Frau Kollegin.
Wir kommen zum Bereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Hans-Peter Kemper auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in diesen Tagen zahlreiche Personen, die Pflegegeld nach § 69 des Bundessozialhilfegeseizes beziehen, Bescheide ihrer Sozialämter erhalten, in denen mitgeteilt wird, daß die Pflegegeldzahlungen mit Ablauf des 31. März 1995 eingestellt werden, weil Ansprüche nach dem Pflegeversicherungsgesetz vorgehen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege, mit Wirkung vom 1. April 1995 werden die Bestimmungen über die Hilfe zur Pflege im Bundessozialhilfegesetz geändert und den entsprechenden Regelungen des Pflege-Versicherungsgesetzes angepaßt. Der Begriff der Pflegebedürftigkeit in den Pflegestufen I bis III und die Höhe der Pflegegelder stimmen dann in beiden Gesetzen überein.
Nimmt der Pflegebedürftige nach dem Pflege-Versicherungsgesetz an Stelle der häuslichen Pflegehilfe, also der Pflegesachleistung, das vom Schwere-grad der Pflegebedürftigkeit abhängige Pflegegeld in voller Höhe in Anspruch, wird daneben Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht gewährt.
Bescheide von Sozialämtern, die auf diese Änderung der Rechtslage hinweisen, sind inhaltlich nicht zu beanstanden. Die Sozialhilfebehörden haben allerdings Sinn und Zweck der Besitzstandsklausel nach Art. 51 des Pflege-Versicherungsgesetzes zu beachten. Danach haben sie, wenn sich die persönlichen Verhältnisse des Pflegebedürftigen nicht geändert haben, zunächst im bisherigen Umfang über den 1. April 1995 hinaus Pflegegeld zu leisten. Im Rahmen ihrer Beratungspflicht haben die Träger der Sozialhilfe die Pflegebedürftigen über diese Rechtssituation und ihre Ansprüche aufzuklären.
Zusatzfrage,
Ein Querschnittsgelähmter beispielsweise bekommt heute 831 DM vom Sozialamt und 400 DM von der Betriebskrankenkasse. Nach dem 1. April wird er nach einem vorläufigen Bescheid nur noch 800 DM Pflegegeld bekommen. Ist die Bundesregierung der Meinung, daß das redlich ist, und ist diese Kürzung gewollt?
Herr Kollege, ich kann zu diesem Einzelfall nicht Stellung nehmen. Ich würde Sie bitten, mir das schriftlich zu geben, damit wir diesen Bescheid kontrollieren können.
Aber ich kann Ihnen sagen: Nach Art. 45 des Pflege-Versicherungsgesetzes - der wird bei diesem Versicherten wahrscheinlich in Frage kommen - werden Pflegebedürftige, die bis zum 31. März 1995 Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit nach den §§ 53 bis 57 SGB V erhalten haben, automatisch der Pflegestufe II zugeordnet. Damit erhöht sich ihr Anspruch auf Pflegegeld von bisher 400 DM auf 800 DM und ihr Anspruch auf Sachleistungen von bisher 750 DM auf bis zu 1 800 DM.
Die Besitzstandsklausel nach Art. 51 des PflegeVersicherungsgesetzes besagt, daß bei einer Festlegung durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen der Betrag weiterzuzahlen ist, den der Versicherte schon vorher bekommen hat. Die Sozialhilfeträger haben nach Sinn und Zweck der Besitzstandsklausel des Pflege-Versicherungsgesetzes auch dann weiter zu leisten, wenn die Pflegekasse über den Antrag des Versicherten entschieden hat und geringere Pflegeversicherungsleistungen gegenüber den bisherigen Leistungen der Hilfe zur Pflege erbringt.
Zusatzfrage.
Bisher wird die Leistung nach dem Bundessozialhilfegesetz als Vorschuß gezahlt, während die Pflegeversicherung nachträglich leistet. Wie sollen die Betroffenen diesen einen Monat überbrücken?
Soweit mir bekannt ist, handelt es sich immer um eine Vorschußleistung. Aber ich kann das gern noch einmal prüfen.
Eine Frage des Kollegen Peter Dreßen.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, daß gerade Schwerstpflegebedürftige oder Schwerbehinderte in der Vergangenheit durch Zivildienstleistende zu einem Stundensatz von im Schnitt 18 DM gepflegt wurden, was in Zukunft nicht mehr der Fall sein wird, weil für die Gewährung einer Sachleistung aus der Pflegeversicherung vorausgesetzt wird, daß eine Fachkraft die Betreuung übernimmt, wodurch unter Umständen eine sehr starke Verteuerung erfolgt, weil eine Fachkraft nicht unter 50 DM pro Stunde zu bekommen ist?
Ich glaube, da existiert eine Lücke im Gesetz, die wir beseitigen müssen, so daß auch in Zukunft Zivildienstleistende die Betreuung übernehmen können, wie das heute in vielen Tausenden von Fällen durch die mobilen sozialen Hilfsdienste geschieht.
Herr Kollege, da Ihre Frage sich primär an das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung richtet und dieses für die Beantwortung zuständig ist, werde ich Ihre Frage gern an das zuständige Ministerium weiterleiten. Es kann Ihnen diese Frage schriftlich beantworten. Ich bin hier heute hauptsächlich zur Beantwortung der Fragen im Zusammenhang mit der Sozialhife.
Ich sehe keine weitere Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 4 des Kollegen Kemper auf:
Hat die Bundesregierung sichergestellt, daß ein nahtloser Übergang der Zahlungen nach dem Pflege-Versicherungsgesetz erfolgen wird?
Bitte.
Herr Kollege, im Hinblick darauf, daß die Sozialämter die Empfänger von Hilfe zur Pflege schon frühzeitig aufgefordert haben, einen Antrag bei der Pflegekasse zu stellen, dürften die Anträge der meisten Betroffenen rechtzeitig beschieden werden können. Wichtig ist für einen reibungslosen Übergang die enge Zusammenarbeit der Pflegekassen und der Sozialhilfeträger vor Ort. Die Bereitschaft hierzu haben beide Seiten erklärt.
Zusatzfrage? - Keine. Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Dann komme ich zum Bereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht Parlamentarischer Staatssekretär Hirche zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Wolfgang Behrendt auf:
Welche Chancen sieht die Bundesregierung, daß auf europäischer Ebene eine Verschärfung der Grenzwerte für Schadstoffemissionen zu einer Katalysatorpflicht für Motorräder führt, und ist die Bundesregierung bereit, bei einer ablehnenden Haltung der LV-Kommission eine Katalysatorpflicht für Motorräder auf nationaler Ebene einzuführen?
Herr Präsident! Herr Kollege Behrendt! Derzeit wird in der Europäischen Union ein Vorschlag der EG-Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Bauteile und Merkmale von zweirädrigen Kraftfahrzeugen vom 30. November 1993 beraten. Darin werden alle technischen Anforderungen für die Erteilung einer EG-Betriebserlaubnis festgelegt.
In Kap. 5 dieser Richtlinie schlägt die EG-Kommission Abgasgrenzwerte für Motorräder ab 1997 vor. Die von der Kommission vorgeschlagenen Grenzwerte entsprechen unserer zweiten Stufe im Dreistufenkonzept. Sie bedeuten gegenüber den jetzt nur national verbindlichen Grenzwerten der ersten Stufe
eine Verschärfung bei den Schadstoffen Kohlenmonoxid und Kohlenwasserstoffe bis über 75 %. Darüber hinaus werden erstmals Grenzwerte für die Stickoxide vorgeschlagen.
Für die Einhaltung dieser von der EG-Kommission vorgeschlagenen zweiten Abgasstufe für Motorräder wird für zahlreiche Fahrzeuge der Einsatz von Katalysatoren erforderlich, allerdings von noch ungeregelten Katalysatoren.
Der Kommissionsvorschlag wird gegenwärtig im Europäischen Parlament beraten. In den bisherigen Ratsverhandlungen bestand Einvernehmen über die von der Kommission vorgeschlagenen Grenzwerte, so daß ich davon ausgehe, daß diese verschärften Anforderungen spätestens zu dem von der Kommission vorgeschlagenen Termin 1. Januar 1997 EU-weit Anwendung finden werden.
Deutschland hätte auch die von Deutschland vorgeschlagene dritte Stufe - geregelter Katalysator - bereits im Kommissionsvorschlag begrüßt, um auf diese ein nationales Förderkonzept stützen zu können. Es bleibt weiterhin Ziel der Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß das Motorrad nicht mehr Schadstoffe emittiert als ein heutiger Pkw mit geregeltem Katalysator.
Bitte schön, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie etwas über die Höhe der Grenzwerte, die angestrebt ist, sagen, und hat Ihr Ministerium Untersuchungen darüber angestellt, in welchem Maße dies, insbesondere in Ballungsgebieten, zu einer Schadstoffentlastung führt?
Die Höhe der Grenzwerte, Herr Kollege, ist dem Dreistufenplan zu entnehmen, den die Bundesregierung der Kommission 1991 als Vorschlag übermittelt hat. Ich will Ihnen die einzelnen Zahlen und die Übersicht dazu nach der Beantwortung Ihrer Frage gern aushändigen. Ich habe hier keine Berechnung vorliegen, wie sich das auf einzelne Flächen auswirken würde. Aber im Rahmen der Diskussion etwa um die Sommersmog-Verordnung spielt dieser Teilaspekt natürlich eine Rolle.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Hirche, können Sie bestätigen, daß es in Brüssel Überlegungen gibt, die Katalysatorpflicht mittels verschärfter Grenzwerte nur auf Zweitaktmotorräder zu beschränken und damit etwa 90 % der Motorräder außen vor zu lassen?
Herr Kollege, ich kann hier nur so viel sa-
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung ist mit dem Gang der Diskussion in Brüssel nicht voll zufrieden.
Eine weitere Frage? - Bitte schön.
Herr Hirche, Sie haben soeben von der Reduktion der Kohlenwasserstoffe gesprochen. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang gerne fragen, ob Sie bei den Verhandlungen in Brüssel zwischenzeitlich weitergekommen sind, um den Benzolanteil im Ottokraftstoff zu senken, der für die Emission von Kohlenwasserstoffen ursächlich ist und der dazu führt, daß krebserzeugende Stoffe wie Benzol in erheblichem Ausmaß an den Motoren emittiert werden.
Herr Kollege Schwanhold, wir haben hier noch keinen Durchbruch erzielt; wir sind nach wie vor in den Verhandlungen. Wir sehen aber die Notwendigkeit, die Gespräche hierüber auch auf nationaler Ebene weiterzuführen, weil das vielleicht noch zu einer Belebung in Brüssel führen könnte.
Ich sehe keine weiteren Zusatzfragen. Vielen Dank, Herr Staatssekretär Hirche.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Verfügung steht Parlamentarischer Staatssekretär Lintner.
Die Fragen 6 und 7 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme dann zu der Frage 8 des Kollegen Tauss:
Welche Risiken für die Gewährleistung der Einsatzbereitschaft von Polizei und Technischem Hilfswerk sieht die Bundesregierung in der Tatsache, daß Werkstätten des Bundes zur Wartung einsatzwichtiger Fahrzeuge und Ausrüstungsgegenstände geschlossen werden sollen und die Wartung von standort- und fachfremden privaten Werkstätten vorgenommen werden soll?
Herr Kollege Tauss, Ihre Frage zielt in erster Linie auf die 33 Zentralwerkstätten des Kastastrophenschutzes, deren Finanzierung der Bund nach der Neukonzeption des Zivilschutzes aufgeben will. In diesen Werkstätten sind bisher die Ausrüstung des Technischen Hilfswerks und die vom Bund finanzierte Ausrüstung des erweiterten Katastrophenschutzes gewartet und instandgesetzt worden. Dieses System hat sich als unwirtschaftlich erwiesen. Es wird noch unwirtschaftlicher, wenn - wie in der Neukonzeption vorgesehen - die Zahl der Fahrzeuge beim THW und im erweiterten Katastrophenschutz um rund 5 500 verringert wird. Die Werkstätten sollen deshalb aufgegeben werden. Fahrzeuge und Gerät des Bundes sollen dann künftig ebenso von privaten Werkstätten gewartet und instandgehalten werden wie jetzt schon die Fahrzeuge
der Feuerwehren, der Rettungsdienste und des Katastrophenschutzes der Länder. Gefahren für ihre Einsatzbereitschaft sind dadurch nicht zu gewärtigen. Die in den neuen Ländern bereits heute mit Ausrüstung des THW und des erweiterten Katastrophenschutzes beschäftigten Privatwerkstätten haben ihre Aufgabe bisher zur Zufriedenheit erledigt.
Auch Ausrüstung des Bundesgrenzschutzes wird heute bereits zum Teil von Privatfirmen gewartet. Es wird derzeit geprüft, ob und in welchem Umfang darüber hinaus in Zukunft Wartungsaufgaben auf Privatfirmen übertragen werden können. Konkrete Ergebnisse hierzu liegen noch nicht vor. Bei der Entscheidung über die Fremdvergabe von Leistungen im Reparatur- und Instandsetzungsbereich sind sowohl einsatztaktische Belange als auch Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit von Bedeutung.
Die Ausrüstung der Bereitschaftspolizeien wird in Werkstätten der Polizeien der Länder gewartet; der Bund beteiligt sich an der Finanzierung ihrer Ausstattung. Über beabsichtigte Schließung von Werkstätten der Länder ist uns nichts bekannt. Es ist Sache der Länder, für die ordnungsgemäße Wartung und Instandsetzung dieser Ausrüstung zu sorgen. Wie die Länder dies im einzelnen regeln, ist ihnen freigestellt.
Zusatzfrage.
Nachdem dies ja nur im Falle der Abwesenheit von Katastrophen festgestellt werden konnte - ich drücke es einmal so aus -, bezieht sich meine Frage darauf, ob diese einsatztaktischen Probleme bei einer einsatzfremden und örtlich sehr weit entfernt gelegenen Reparaturwerkstatt von Ihrer Seite gesehen werden.
Es heißt ja nicht, daß die private Reparaturwerkstatt örtlich fern gelegen sein muß. Im Gegenteil: Zentralwerkstätten sind in der Regel weiter vom Einsatzort entfernt als private Anbieter. Deshalb ist Ihre Frage, glaube ich, auch für den von Ihnen angenommenen Fall dahin gehend zu beantworten, daß Bedenken nicht bestehen.
Bei Spezialfahrzeugen?
Auch Spezialfahrzeuge sollen künftig bei entprechenden Firmen gewartet werden. Wie weit im einzelnen die Firma vom Einsatzort des Fahrzeuges entfernt ist, kann ich jetzt nicht theoretisch ausführen.
Ich nehme an, Herr Tauss, das war Ihre zweite Zusatzfrage.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Herr Staatssekretär, ich beziehe mich jetzt nur auf die Fahrzeuge des Techni-
Horst Kubatschka
schen Hilfswerkes. Wenn man diesen Fahrzeugpark kennt, dann weiß man, daß es oft ein sehr liebevoll, sehr sorgfältig gepflegter Fahrzeugpark ist, der auch in manchem Museum einen würdigen Platz hätte. Das Material ist wirklich gut gepflegt und in Schuß. Sind diese neuen privaten Tankstellen technisch in der Lage, diese Fahrzeuge noch zu warten, und ist es überhaupt wirtschaftlich, weil dann der Aufwand sehr groß wird?
Herr Kollege, es handelt sich um Werkstätten, nicht um Tankstellen. Sie haben gerade „Tankstellen" gesagt.
Ich gehe davon aus, daß die privaten Anbieter - so jedenfalls sind die Erfahrungen bei Feuerwehren und dergleichen, also bei Einrichtungen, die in kommunalem oder im Länderbesitz sind - auch solche Aufgaben durchaus bewältigen können.
Ich sehe keine weiteren Zusatzfragen.
Dann kommen wir zur Frage 9 des Kollegen Tauss:
Wie viele Arbeitsplätze werden durch die beabsichtigte Schließung von Werkstätten beim TIIW und bei Bereitschaftspolizeistandorten vernichtet?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Von der Aufgabe der Finanzierung der Zentralwerkstätten durch den Bund sind derzeit noch 509 Mitarbeiter betroffen. Bund und Länder sind bemüht, dieses Personal an anderer Stelle weiter zu verwenden oder andere sozialverträgliche Lösungen zu finden. Der Abbau wird mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Der Bund hat sich bereit erklärt, den Ländern, soweit sie tariflich oder übertariflich die Rationalisierungsschutztarifverträge für Angestellte und Arbeiter anwenden, die entsprechenden Kosten zu erstatten. Der Bund fördert auch die Bereitschaft der Länder, das Personal weiter zu beschäftigen, indem er die betreffenden Liegenschaften zu einem Preis zum Kauf anbietet, der in gewissem Umfang die Personalkosten mit berücksichtigt.
Zusatzfrage? - Keine.
Dann kommen wir zu den schönen, zu den bildenden Künsten. Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Dr. Dietrich Mahlo auf:
Wie ist es möglich, daß Johann Gregor van der Schardts große Bronzefigur des Merkur, ein „Hauptwerk und Glanzstück nordalpiner Skulptur", aus der Sammlung Schönborn nach über vierhundertjährigem Verbleib in Deutschland ohne Behinderung staatlicherseits an das Museum Getty verkauft und nach Malibu verbracht werden konnte ?
Herr Kollege Dr. Mahlo, die Bundesregierung hat erstmals durch Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst Anfang Januar 1995 von dem Verkauf des Merkur an das Museum Getty Kenntnis erlangt. Nach dem derzeit noch gültigen Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung vom 6. August 1955 wäre die Ausfuhr der Bronzefigur des Merkur nur dann zu verhindern gewesen, wenn dieser Gegenstand in das Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes - derzeit letzter Stand des Verzeichnisses ist übrigens der 30. November 1992 - eingetragen oder seine Eintragung eingeleitet gewesen wäre. Diese Eintragung, für die nach dem oben genannten Gesetz die obersten Landesbehörden zuständig sind, ist nicht erfolgt.
Wenn somit zwar Verkauf und Ausfuhr des Merkur mangels Eintragung nicht hätten verhindert werden können, so hätte seine Ausfuhr aus dem Zollgebiet der Europäischen Union, sofern sie nach dem 1. Januar 1993 erfolgt ist, gleichwohl nur mit einer Ausfuhrgenehmigung erfolgen dürfen. Dieses Erfordernis sieht die am 1. Januar 1993 in Kraft getretene Verordnung der EWG Nr. 3911/92 des Rates vom 9. Dezember 1992 über die Ausfuhr von Kulturgütern für bestimmte Kategorien von Kulturgütern vor.
Soweit bislang in Erfahrung gebracht werden konnte, ist um eine solche Ausfuhrgenehmigung nicht nachgesucht worden.
Die Bundesregierung ist derzeit bemüht, den genauen Sachverhalt, insbesondere hinsichtlich des Zeitpunkts der Ausfuhr, zu ermitteln.
Herr Kollege, eine Zusatzfrage, bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Unter Zugrundelegung Ihrer Darlegung der Rechtslage frage ich: Was ist nun bei diesem konkreten Fall die Folge, wenn sich herausstellt - was nach meiner Ansicht offensichtlich ist -, daß eine Ausfuhr erst nach dem 1. Januar 1993 stattgefunden hat? Hat die Bundesregierung die Möglichkeit, dieses Kunstwerk zurückzuholen? Wenn nicht: Welchen Sinn hat diese Rechtslage, wenn sie offensichtlich nicht geeignet ist, eine solche Abwanderung von Kunstgut aus Deutschland zu verhindern?
Herr Kollege Mahlo, ich gehe davon aus, daß der jetzige Besitzer, das Museum Getty, dieses Kulturgut nicht freiwillig zurückgeben wird. Die Bundesregierung hat keinen hoheitlich durchsetzbaren Anspruch, es dann zurückzuholen. Gleichwohl bleibt natürlich an Hand des ermittelten Sachverhalts zu prüfen, ob sich irgendwelche Stellen in einer Weise verhalten haben, daß es verfolgt werden muß, wenn es sich z. B. um Ordnungswidrigkeit oder dergleichen handelt.
Ich kann aber im einzelnen erst Stellung nahmen, wenn die Aufklärung, die eingeleitet worden ist, tatsächlich zum Abschluß gekommen ist.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung generell, also abgesehen von diesem Fall, von dem ich nicht glaube, daß er reparierbar ist, ihre Bemühungen, hochwertiges Kulturgut in Deutschland zu halten, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern für ausreichend, oder ist mein Eindruck richtig, daß die Bundesrepublik, solange sie existiert, diesem Ziel eigentlich relativ wenig Interesse entgegengebracht hat und daß solche Fragen im Vergleich zu Gewerkschaftswerten usw. immer als nachrangig angesehen worden sind?
Herr Kollege Dr. Mahlo, speziell darauf würden Sie bei Beantwortung Ihrer nächsten Frage eine Antwort bekommen. Deshalb schlage ich vor, daß ich die nächste Antwort heranziehe. Wenn in diesem Punkt dann noch Aufklärungsbedarf besteht, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
Selbstverständlich. Ich rufe daher jetzt die Frage 11 auf:
Was beabsichtigt die Bundesregierung zu veranlassen, um eine weitere Abwanderung einzigartigen Kunstguts und kunsthistorischer Dokumente aus Deutschland zu erschweren?
Dann komme ich jetzt zur Beantwortung der Frage 11: Die Bundesregierung ist derzeit damit befaßt, das Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung vom 6. August 1955 zu novellieren und damit den dort noch vorhandenen Lücken und Schwachstellen des alten Gesetzes zu begegnen. Sie wird damit zugleich den auf Grund des am 15. November 1994 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vorn 27. Oktober 1994 entstandenen neuen verfassungsrechtlichen Gegebenheiten Rechnung tragen.
Mit dieser Verfassungsänderung wurde die bisherige konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für den Schutz des deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland, Art. 74 Nr. 5 GG in der alten Fassung, in eine Rahmengesetzgebungskompetenz, jetzt Art. 75 Abs. 1 Nr. 6 GG, überführt. Das neue Gesetz soll darüber hinaus das zum Kulturgüterschutz bestehende Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union in nationales Recht umsetzen.
Die Bundesregierung hält dieses Gemeinschaftsrecht für ausreichend, um den Schutz wertvoller Kulturgüter, soweit dies möglich ist, zu garantieren. Ihr ist jedoch bewußt, daß ein allumfassender Schutz von Kulturgütern gegen Abwanderung weder durch legislative Maßnahmen noch durch intensivste Kontrollen an den Grenzen zu erreichen sein wird. Die Bundesregierung ist jedoch entschlossen, die Möglichkeiten ihrer Rahmengesetzgebungskompetenz voll auszuschöpfen, um die Abwanderung von national wertvollem Kulturgut aus Deutschland weitgehendst zu verhindern.
Zusatzfrage?
Vielen Dank, ich habe keine weiteren Fragen.
Dann rufe ich Frage 12 des Kollegen Singer auf:
Da nach dem Bericht des Kölner Stadtanzeigers vom 22. Februar 1995 der Drogenbeauftragte der Bundesregierung in seiner Pressekonferenz vom 21. Februar 1995 erklärt hat, daß seinen Aufforderungen zur Einrichtung eines Lehrstuhls, der sich mit dem Thema Sucht befassen solle, bisher von den deutschen Universitäten nicht nachgekommen worden sei, frage ich die Bundesregierung, welche konkreten Bemühungen hat sie bisher im einzelnen unternommen, um ihrem Ziel näherzukommen?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Singer, in der Pressekonferenz am 21. Februar dieses Jahres habe ich im Zusammenhang mit der Vorstellung und Erläuterung der Rauschgiftbilanz 1994 zum Thema Forschung ausgeführt, daß wir uns um ein größeres Interesse von Wissenschaft und Forschung an der Suchtproblematik bemühten. Wir hätten leider festzustellen, daß es trotz des auf den Nägeln brennenden Problems beispielsweise keinen Lehrstuhl für Suchtproblematik an deutschen Universitäten gebe und es deshalb höchst willkommen sei, wenn sich hier jemand engagieren würde.
Was nun das Bemühen angeht, Wissenschaft und Forschung stärker für die Suchtproblematik zu interessieren, so nutze ich jede sich bietende Gelegenheit bei Vorträgen in Diskussionsrunden, bei Besuchen z. B. in Therapieeinrichtungen, bei Interviews, aber auch bei anderen öffentlichen Veranstaltungen, auf die Defizite im Bereich der Suchtforschung und das große Interesse an einer intensiven Befassung von Wissenschaft und Forschung mit der Suchtproblematik hinzuweisen. Dies gilt übrigens auch für meine Gespräche mit Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen, soweit sich gelegentlich der vorerwähnten Termine und bei anderen Gelegenheiten entsprechende Möglichkeiten bieten.
Zusatzfrage, Herr Singer.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß sich die Bundesregierung demnach bisher auf allgemeine Appelle beschränkt hat und keinerlei konkrete Anreize geschaffen hat, die die Einrichtung eines Lehrstuhls für Suchtforschung oder Präventionsforschung herbeiführen könnten?
Herr Kollege Singer, da es sich um eine konkrete Aufforderung in diesen Gesprächen oder bei diesen Anlässen gehandelt hat, haben wir uns nicht auf pauschale Anmerkungen beschränkt.
Zweite Zusatzfrage.
Gibt Ihnen die Tatsache daß bisher nichts passiert ist, Herr Staatssekretär, nicht Veranlassung, darüber nachzudenken, wie man durch konkrete Anreize, auch durch die zur Verfügungstellung von Geld, dem Ziel der Einrichtung eines Lehrstuhls oder einer wissenschaftlichen Tätigkeit auf diesem so wichtigen Gebiet näherkommt?
Herr Kollege Singer, wenn Sie sich zu diesem Thema einmal mit Forschern und Wissenschaftlern unterhalten haben sollten, dann hätten Sie sicher als Antwort bekommen, daß es schwierig ist, das auf einen Lehrstuhl zu konzentrieren, da es sich um eine Querschnittsforschungsaufgabe handelt, und daß im wesentlichen darin im Moment die Problematik liegt, nicht etwa darin, daß die Bundesregierung, wenn Konzepte vorgelegt würden, finanziell nicht zur Seite stehen könnte.
Dann kommen wir zur Frage 13 des Kollegen Singer:
Mit welchen Institutionen und auf welche Weise ist bisher Kontakt aufgenommen worden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie schon in der Antwort auf Ihre Frage 1 dargelegt, mangelt es bislang am konkreten Interesse. Entsprechende Kontakte konnten daher nicht aufgenommen werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trotz der Schwierigkeiten, die Sie eben geschildert haben, die auch mir bekannt sind - Sie können davon ausgehen, daß ich auf diesem Gebiet ähnliche Gespräche mit Forschern führe -, sind Sie offensichtlich davon ausgegangen, daß es möglich ist, einen Lehrstuhl einzurichten. Beklagen Sie nicht auch, daß es nicht einmal eine Fachzeitschrift, die sich konkret mit Problemen der Suchtforschung befaßt, in Deutschland gibt?
hinsichtlich der Suchtproblematik gibt es eine ganze Reihe von Fachzeitschriften. Da ist der Mangel nicht so gravierend.
Aber was wir anstoßen möchten, ist, daß kompetente Wissenschaftseinrichtungen Konzepte vorlegen, wie der Suchtproblematik wissenschaftlich begegnet werden soll. Die Arbeit können wir nicht an Stelle derjenigen leisten, die dazu in erster Linie kompetent und befugt sind, sondern wir wollen durch unsere Anregung und auch mit der Zusicherung, daß wir uns dann in irgendeiner Form unterstützend beteiligen würden, dieses Interesse mobilisieren. Bisher ist es nicht gelungen, aus welchen Gründen auch immer. Ein Teil der Gründe, die mir bekannt sind, habe ich Ihnen bereits genannt.
Noch eine Zu-satzfrage.
Angesichts der Erfolglosigkeit der Bundesregierung bei ihren bisherigen Bemühungen frage ich: Rechnen Sie überhaupt noch damit, daß wir in Sachen Suchtforschung und Präventionsforschung weiterkommen?
Herr Kollege Singer, da ich mittlerweile auch Ihr lebhaftes Interesse daran kenne und darum z. B. auch auf Ihre Unterstützung dieser ständigen Bemühungen der Bundesregierungen hoffen kann, glaube ich, daß unsere gemeinsamen Bemühungen demnächst Erfolg haben werden.
Ich sehe keine weiteren Fragen.
Wir kommen zu Frage 14 des Kollegen Grund. - Ich sehe ihn aber nicht im Raum. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Dann kommen wir zu Frage 15 des Kollegen Mekkel. - Er ist ebenfalls nicht anwesend. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Das gilt auch für die Frage 16 des Kollegen Meckel. Die Frage 17 ist zurückgezogen worden.
Wir kommen zu Frage I 8 des Kollegen Schlee:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung einzelner Landesinnenminister, daß des Schengener Durchlührungsabkommen über den Wegfall der Grenzkontrollen nachbesserungsbedürftig
sei, weil es keine befriedigenden Regelungen für die grenzüberschreitende Nacheile und Observationen enthalte, und wie will sie ggf. der Forderung nach Nachbesserung entsprechen?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Schlee, die Antwort lautet wie folgt: Die Bundesregierung vertritt nicht die Auffassung, daß die Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens über die grenzüberschreitende Nacheile und Observation schon jetzt der Nachbesserung bedürfen.
Abgesehen davon, daß eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt gegenüber den Vertragsparteien erhobene Forderung nach Änderung oder Ergänzung dieses wichtigen Punktes die bevorstehende Inkraftsetzung des Übereinkommens in Frage stellen könnte und auch deshalb nicht durchsetzbar wäre, müßte zunächst abgewartet werden, ob die Regelung nach Anwendung ab 26. März 1995 den praktischen Notwendigkeiten gerecht wird. Dabei geht es um die Eignung des gesamten Normkomplexes, der die Vorschriften des Übereinkommens, die Erklärungen der
Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
Vertragsstaaten über die Ausübung des Verfolgungs- und Festhalterechtes in ihren jeweiligen Hoheitsgebieten sowie die zwischenzeitlich getroffenen Detailabsprachen, an denen die Bundesländer maßgeblich beteiligt waren, umfaßt.
Das eigentliche Regelwerk des Übereinkommens bildet eine bedeutende Errungenschaft und ist sichtbarer Ausdruck dafür, daß die Mitgliedstaaten des Schengener Abkommens bereit sind, im Interesse des Ganzen auf Souveränitätsrechte zu verzichten. Die Schengener Lösung bietet ein offenes System, das voraussichtlich nicht selbst, sondern dessen Ausfüllung durch die Vertragsparteien gegebenenfalls nachzubessern wäre. Hier allerdings ist - ohne der Entwicklung vorzugreifen - auch nach Einschätzung der Bundesregierung fraglich, ob die in der Sache teilweise restriktiven und zudem noch uneinheitlichen Verfahrensweisen in den einzelnen Staaten den Erfordernissen genügen werden.
Sollten sich deshalb in der Praxis Probleme ergeben, würde Deutschland, das mit der weitestgehenden Erklärung über die Modalitäten der Ausübung des Nacheilerechtes vorangeschritten ist, auf eine allgemeine Angleichung an diesen Höchststandard drängen. Einer Änderung des Übereinkommens selbst bedarf es dazu aber nicht.
Herr Kollege Schlee, haben Sie eine Zusatzfrage? - Das ist nicht der Fall.
Dann hat der Kollege Kemper das Wort zu einer Frage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung innerhalb des Schengener Abkommens versucht, den Einsatz von nichtabhörbaren Mobiltelefonen, die die organisierten Kriminellen beim grenzüberschreitenden Verbrechen einsetzen, zu verhindern?
Ich halte es für sehr mutig, einen Zusammenhang zu der gestellten Frage anzunehmen. Aber, Herr Staatssekretär, wenn Sie dazu etwas sagen wollen, bitte.
Herr Präsident, auch ich glaube, daß das Schengener Abkommen dafür keinen Anknüpfungspunkt gibt. Ob der Einsatz von nichtabhörbaren Mobiltelefonen verhindert werden kann - so habe ich Sie verstanden -, ist kein Problem der Grenzüberschreitung, sondern beruht auf der Frage, ob nach nationalem Recht die rechtlichen Voraussetzungen bzw. die technischen Möglichkeiten gegeben sind. Ich sehe beim besten Willen den Zusammenhang zum Schengener Abkommen nicht.
Das denke ich auch.
Dann kommen wir zu der Frage 19 des Kollegen Neumann:
I lat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob zwischen Mitarbeitern der Firma Telemit während des Zeitraumes des irakisch-iranischen Krieges Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit bestanden?
Bitte schön.
Herr Kollege Neumann, die Antwort: Der Bundesregierung liegen keine Informationen vor, nach denen während des irakisch-iranischen Krieges Kontakte von Mitarbeitern der Firma Telemit Elektronik GmbH zum Ministerium für Staatssicherheit bestanden. Der Bundesregierung ist lediglich ein Hinweis bekannt, daß ein Außenhandelsbetrieb des Bereichs Kommerzielle Koordinierung zu einem nicht näher genannten Zeitpunkt geschäftlich Kontakte zu westdeutschen Firmen, darunter auch der Firma Telemit, unterhalten haben soll.
Herr Kollege Neumann, haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, bei welchen Behörden haben Sie versucht, Erkenntnisse über den gefragten Sachverhalte zu gewinnen?
Herr Kollege Neumann, das kann ich Ihnen aus dem Stand nicht beantworten. Ich nehme auch an, daß das gar nicht in den Bereich des Innenministeriums fällt.
Noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir dann später schriftlich mitteilen, ob Sie auch versucht haben, Erkenntnisse der Gauck-Behörde in Anspruch zu nehmen?
Ich kann mit Sicherheit ausschließen, daß das der Fall war; denn für diesen Zweck kann und darf die Gauck-Behörde nicht in Anspruch genommen werden.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Bereich des Bundesministers der Justiz. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rainer Funke steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Die Frage 20 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu Frage 21 des Kollegen Antretter:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Änderungsvorschläge zum Entwurf einer Bioethik-Konvention, die die Parlamentari-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
sehe Versammlung des Europarates in ihrer Stellungnahme dem Ministerkomitee empfohlen hat, und wann wird sich der Lenkungsausschuß des Ministerkomitees damit befassen?
Herr Staatssekretär.
Die Änderungsvorschläge der Parlamentarischen Versammlung zeigen, daß sich die Parlamentarische Versammlung der Notwendigkeit einer Verstärkung des Schutzes des Menschen bewußt ist.
Sollten die Vorschläge zu Art. 6 so, wie sie von der Parlamentarischen Versammlung gemacht worden sind, in den Beratungen des Lenkungsausschusses für Bioethik und im Ministerkomitee eine Mehrheit finden, ist allerdings zu bedenken, daß das generelle Verbot eines Eingriffs bei nicht einwilligungsfähigen Personen dazu führt, daß auch die Entnahme regenerierbaren Gewebes, z. B. von Knochenmark, zugunsten eines nahen Angehörigen unzulässig wäre, was die Parlamentarische Versammlung offenbar aber nicht gewollt hat und was auch nicht angezeigt erscheint. Man muß sich hier vor Augen führen, daß es um die Fälle geht, in denen das Leben eines an Leukämie erkrankten Kindes durch eine Knochenmarkspende eines Geschwisterkindes gerettet werden kann.
Ferner muß gesehen werden, daß die von der Parlamentarischen Versammlung vorgeschlagene Fassung - mit Einwilligung der gesetzlichen Vertreter der Betroffenen und unter Einschaltung einer Ethikkommission durchgeführte - Forschung verhindert, die unter ethischen Aspekten möglicherweise unbedenklich ist.
Art. 15 Abs. 1 des Konventionsentwurfs, der Forschung an Embryonen nach dem 14. Tag ihrer Entwicklung verbietet, ist wegen des nach dem Embryonenschutzgesetz bestehenden Verbotes jeglicher verbrauchender Forschung am Embryo bedenklich. Wenn die Stellungnahme die Aufhebung dieser Vorschrift fordert, bliebe die Forschung an Embryonen gänzlich ungeregelt. Damit würde Embryonen aber ebenfalls derjenige Schutz versagt, der in der Bundesrepublik Deutschland durch die bestehenden gesetzlichen Regelungen gewährleistet ist.
Fraglich erscheint schließlich, ob der von der Parlamentarischen Versammlung vorgeschlagene Zusatz in Art. 18, die Mitteilung der Ergebnisse von Gentests an Dritte nur „in Übereinstimmung mit den nationalen Datenschutzbestimmungen " zuzulassen, ausreichend ist, um den Schutz dieser sensiblen Daten sicherzustellen.
Der Lenkungsausschuß für Bioethik wird sich voraussichtlich in seiner Sitzung in der Zeit vom 26. bis 30. Juni 1995 auch mit den Änderungsvorschlägen der Parlamentarischen Versammlung befassen. Der ursprünglich für die Zeit vom 27. bis 31. März 1995 vorgesehene Sitzungstermin ist aufgehoben worden.
Herr Kollege Antretter, Sie haben eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, die Tatsache, daß Sie die Ethikkommissionen angesprochen haben, veranlaßt mich zu einer Zusatzfrage. Die Bioethik-Konvention soll u. a. durch ein Zusatzprotokoll zur Organtransplantation ergänzt werden. Ich möchte Sie fragen: Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Überlegungen für ein Bundestransplantationsgesetz den Vorschlag einiger Ärztekammern, durch die Einrichtung von eigenen sogenannten Kommissionen Organspende das Mißtrauen noch vieler Menschen hinsichtlich der Feststellung des Todeszeitpunkts und der sachgerechten Verteilung der gespendeten Organe zu überwinden? Könnte sie sich vorstellen, auch Vertreter anderer relevanter gesellschaftlicher Gruppen, etwa der Kirchen, für solche Kommissionen vorzusehen?
Herr Kollege Antretter, Sie wissen, daß wir gerade im Zusammenhang mit dem Transplantationsgesetz das sozusagen noch in statu nascendi ist, Überlegungen anstellen. Wir werden das, was Sie eben andeuteten, in die Überlegungen einbeziehen. Ich glaube, es ist wichtig, daß das Bewußtsein in der Bevölkerung gerade für diese Fragen geschärft wird. Dazu können sicherlich auch verschiedene gesellschaftliche Gruppen, wie von Ihnen angedeutet, beitragen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, gibt es vergleichbare diesbezügliche Regelungen bereits in Nachbarländern, und welcher Art wären die gegebenenfalls? Ich wäre gegebenenfalls mit einer schriftlichen Antwort einverstanden, weil Sie die Angaben vielleicht nicht präsent haben.
Ihre Vermutung, daß ich diese Angaben nicht präsent habe, ist richtig. Ich reiche Ihnen die Angaben gerne nach.
Schönen Dank.
Eine Frage von Herrn Dreßen.
Herr Staatssekretär, ich frage Sie: Wäre die Bundesregierung bereit, parallel zu den Überlegungen für ein deutsches Transplantationsgesetz bereits jetzt im Wege einer konzertierten Aktion von Bund, Ländern, Gemeinden, Verbänden, Organempfängern usw. zur Verbesserung der Ausgabe und Nutzung von Spenderausweisen mehr Menschen als bisher zu bewegen, bereits zu Lebzeiten ihre Zustimmung zur Organentnahme zu erteilen?
Dazu muß ich sagen, daß der Sachzusammenhang zu der eigentlich gestellten Frage etwas gewaltsam ist.
Das ist völlig richtig. Aber wir wollen - das kann ich insoweit beantworten, weil ich das aus den Diskussionen präsent habe - dazu beitragen, daß mehr Bereitschaft in der Bevölkerung besteht, zu sinnvollen Transplantationen beizutragen.
Eine weitere Frage von Herrn Catenhusen.
Herr Staatssekretär, da ich mit Ihnen ausdrücklich übereinstimme, daß wir solche Möglichkeiten - wie die Übertragung der Entscheidung der Entnahme regenerierbaren Gewebes von nicht selbstbestimmungsfähigen Menschen auf nahe Angehörige - zulassen müssen, wir aber genauso große Schwierigkeiten haben werden, grundsätzlich nein zu sagen zu Forschung oder auch zu Therapieversuchen - etwa an Menschen, die an Gehirnkrankheiten leiden, z. B. Alzheimer-Patienten -, frage ich Sie: Welche Regelungen sind denn heute in der Bundesrepublik vor allem für diese Bereiche vorgesehen, und decken die neuen Vorschläge der Parlamentarischen Versammlung des Europarates unsere gesetzliche Praxis, die wir zur Zeit haben, ab?
Das ist eine sehr umfassende Frage. Ich glaube, daß man sie nicht in drei oder fünf Sätzen beantworten kann. Ich würde Ihnen hierzu gerne eine schriftliche Ausarbeitung, die etwas umfangreicher wäre, zur Verfügung stellen, da wir hier abgrenzen müssen zwischen dem nationalen Recht, das wir jetzt haben bzw. das wir schaffen wollen, und dem, was europaweit angedacht ist. Das muß man genau abgrenzen. Deswegen wäre ich dankbar, wenn ich Ihnen das schriftlich nachreichen könnte.
Wir kommen zu Frage 22 des Kollegen Hagemann:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, Jugendorganisationen und Jugendverbänden bei ehrenamtlich organisierten und durchgeführten Jugendgruppenreisen, Zeltlagern und ähnlichem durch eine Änderung des Reiserechts die Arbeit zu erleichtern und finanzielle Mehrbelastungen zu ersparen, und kann eventuell mit einer positiven Entscheidung im Interesse der Jugendverbände vor der Ferien- und Freizeitsaison im Sommer 1995 gerechnet werden?
Herr Kollege Hagemann, auch Veranstaltungen im Rahmen ehrenamtlich organisierter und durchgeführter Jugendgruppenreisen können dem Anwendungsbereich der reiserechtlichen Vorschriften unterfallen.
Maßgeblich ist § 651 a Abs. 1 Satz 1 BGB, der seit 1979 gilt und durch die Neuregelung zur Umsetzung der EG-Richtlinie über Pauschalreisen nicht geändert worden ist. Danach liegt eine Reise vor, wenn den Reiseteilnehmern eine „Gesamtheit von Reiseleistungen" zu erbringen ist. Erforderlich ist, daß den Teilnehmern ein bereits vorgefertigtes Pauschalpaket angeboten wird.
Wenn die Merkmale einer Pauschalreise vorliegen, wird der Reisende durch die §§ 651 aff. BGB geschützt, und zwar unabhängig davon, ob der Reiseveranstalter gewerbliche Zwecke verfolgt oder nicht. Daher können - bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen des § 651a Abs. 1 Satz 1 BGB - auch Maßnahmen der Jugendarbeit den reisevertraglichen Schutzvorschriften unterliegen, so daß für die Veranstalter solcher Reisen auch - das interessiert Sie sicher besonders - die Insolvenzsicherungspflicht nach § 651k BGB besteht.
Mit dem seit dem 1. November 1994 geltenden § 651k BGB werden zwingende Vorschriften der EG-Richtlinie über Pauschalreisen in deutsches Recht umgesetzt. Ich darf in Erinnerung bringen: Diese Regelung ist auch von Ihrer Fraktion ganz besonders vehement gefordert worden.
Im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren ist in den beteiligten Ausschüssen des Deutschen Bundestages die Frage diskutiert worden, ob nicht gerade für den Bereich der Jugendförderung Ausnahmen von den Veranstalterpflichten vorgesehen werden können. Diese Möglichkeit wurde verneint, da die europarechtlichen Anforderungen in der EG-Richtlinie über Pauschalreisen dem entgegenstehen.
Diese Richtlinie läßt keine Ausnahme unter dem Aspekt zu, daß eine Reise soziale, karitative, jugendfördernde oder ähnliche Zwecke verfolgt. In Ausnutzung der geringen Spielräume der Richtlinie sind lediglich die in § 651k Abs. 6 BGB aufgeführten Ausnahmen zulässig. Dabei kommt die Bestimmung des § 651 k Abs. 6 Nr. 1 BGB, wonach nichtgewerbliche Gelegenheitsreiseveranstalter von der Insolvenzversicherungspflicht befreit sind, auch den Jugendorganisationen zugute, wenn diese nicht mehr als eine bis zwei Reisen im Jahr veranstalten.
Eine Insolvenzversicherungspflicht bestünde auch dann nicht, wenn bei Reisen im Rahmen der Jugendarbeit darauf verzichtet würde, von den Jugendlichen den Reisepreis im voraus zu kassieren. Ferner läßt der geltende § 651 k BGB eine Anzahlung in Höhe von 10 % des Reisepreises, maximal 500 DM, auch ohne die Übergabe eines Sicherungsscheins zu.
Für weitere Ausnahmen oder Erleichterungen sehe ich unter Berücksichtigung der die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bindenden Vorgaben der EG-Pauschalreiserichtlinie keine Möglichkeit.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Hagemann?
Nein.
Zu einer Zusatzfrage Herr Neumann.
Befürchtet die Bundesregierung nicht, daß eine Vielzahl von Jugendverbänden, die solche Reisen veranstalten, nicht mehr in der Lage sind, die Jugendreisen zu organisieren?
Nein. Erstens hatten wir überhaupt keine andere Möglichkeit. Das habe ich dargelegt. Nach der Richtlinie der Europäischen Union mußten wir hier so vorgehen.
Zweitens ist auch die mögliche Verteuerung von Jugendreisen minimal. Wir schätzen die Verteuerung bei einer Reise z. B. für Jugendliche nach Kreta auf 1 bis 3 DM.
Das war ein etwas verlängertes Nein.
Welche rechtspolitischen oder sonstigen Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Bundesgerichtshofes zur Verjährung von Kriegsverbrechen in Italien?
Gestatten Sie mir, daß ich die Fragen gemeinsam beantworte, da sie beide im Zusammenhang mit dem angeführten Urteil des Bundesgerichtshofs stehen.
Dann rufe ich auch die Frage 24 des Abgeordneten Beck auf:
Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, daß Kriegsverbrechen deutscher Wehrmachtsangehöriger gegenüber der Zivilbevölkerung in Italien vom Oktober 1943 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges jemals von der deutschen Kriegsgerichtsbarkeit verfolgt wurden, so daß von einem Ruhen der Verjährung für solche Verbrechen bis zum Kriegsende ausgegangen werden kann?
Ungeachtet des Umstands, daß eine schriftliche Urteilsbegründung noch nicht vorliegt, weise ich zunächst darauf hin, daß die strafrechtliche Beurteilung von Einzelfällen nach der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland allein unabhängigen, nur dem Gesetz unterworfenen Gerichten obliegt. Insbesondere gehört es nicht zu den Aufgaben der Bundesregierung, höchstrichterliche Entscheidungen zu kommentieren.
Unabhängig von dieser Entscheidung ist jedoch allgemein festzustellen, daß nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Verjährung gemäß § 69 Abs. 1 StGB alter Fassung nicht nur so lange ruhte, wie auf Grund von Hindernissen des geschriebenen Rechts die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden konnte.
Einem gesetzlichen Hindernis steht vielmehr der Fall gleich, daß eine Tat während der Dauer der NS-Herrschaft auf Grund des „gesetzesgleich erachteten" - das setze ich ausdrücklich in Anführungsstriche - Führerwillens aus rechtsstaatswidrigen Gründen nicht verfolgt wurde. Ob im konkreten Fall ein entsprechender Führerbefehl den Verjährungsablauf gehemmt hat, ist eine Frage, deren Beurteilung allein den erkennenden Gerichten obliegt.
Im übrigen ist es dem Gesetzgeber schon aus verfassungsrechtlichen Gründen verwehrt, in Fällen, in denen Verfolgungsverjährung eingetreten ist, die Verjährungsfrist nachträglich wiederaufleben zu lassen. Bereits unter diesem Gesichtspunkt ist ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht ersichtlich.
Sie haben insgesamt vier Zusatzfragen.
Ist es nach Erkenntnissen der Bundesregierung zutreffend - was auch der Sachverständige Dr. Schreiber vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr im Rahmen des zur Debatte stehenden Urteils des Bundesgerichtshofes festgestellt hat -, daß es für Straftaten, insbesondere Kriegsverbrechen, im Rahmen der Partisanen- und Bandenbekämpfung keine Strafverfolgung gegeben hat und wegen des Führererlasses vom 16. Dezember 1942 eine Strafverfolgung durch die Militärjustiz für diese Fälle untersagt war?
Herr Kollege Beck, Sie haben nach dem Urteil und unserer Beurteilung gefragt. Das alles ist vom Bundesgerichtshof sicherlich mit geprüft worden. Ich kenne aber die schriftliche Urteilsbegründung nicht und würde insoweit das Urteil gerne erst gelesen haben, bevor ich Ihnen Ihre Frage beantworte.
Ich habe hier nicht nach der Stellungnahme des Bundesgerichtshofes gefragt, sondern danach, oh der Bundesregierung andere Tatsachen bekannt sind als dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt.
Aber ich möchte eine weitere Zusatzfrage stellen:
Teilt die Bundesregierung denn meine Auffassung, daß, wenn der Führererlaß vom 16. Dezember 1942 der Militärjustiz eine Strafverfolgung für Straftaten im Rahmen der Partisanenbekämpfung verboten hat, hiermit der Beweis erbracht wäre, daß es sich bei der Militärjustiz um eine durch Hitler und andere politisch weisungsgebundene, mithin keine unabhängige rechtstaatliche Justiz gehandelt hat?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Beck, Sie haben mit Ihren Fragen nach einer Beurteilung des Urteils des Bundesgerichtshofs gefragt. Die jetzt von Ihnen zusätzlich gestellte Frage steht wenigstens in meinen Augen nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Beurteilung dieses Urteils.
Parl. Staatssekretär Rainer Funke
Wenn sie im Zusammenhang mit diesem Urteil stehen sollte, habe ich gesagt, daß ich zuerst das Urteil in schriftlicher Fassung lesen möchte, ehe ich hierzu eine Stellungnahme abgebe.
Sie haben eine dritte Zusatzfrage, bitte schön.
Ich möchte danach fragen, ob diese Bundesregierung bzw. die Bundesregierungen seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland noch keinerlei Veranlassung gehabt haben, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welchen Charakter die NS-Militärjustiz gehabt hat, oder ob Sie dazu schon eine Position formuliert haben, die Sie uns mitteilen könnten.
Herr Kollege Beck, die Frage, inwieweit Militärurteile der Kriegsgerichtsbarkeit, damals Militärgerichtsbarkeit, pauschal oder in Einzelfällen rechtswidrig gewesen sind, wird im Deutschen Bundestag zu diskutieren sein. Das wissen Sie. Es gibt dazu entsprechende Beschlußvorlagen. Es gibt dazu auch Empfehlungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages aus der letzten Legislaturperiode. Ich habe das sehr wohl noch in Erinnerung.
Sie können von mir eine Vorwegnahme der Beurteilung der Bundesregierung in bezug auf das Urteil des Bundesgerichtshofs nicht erwarten.
Ihre vierte Zusatzfrage.
Gibt es für die Angehörigen der Opfer rechtliche Möglichkeiten, gegen das Urteil des Bundesgerichtshofes vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen? Falls ja: Wird die Bundesregierung die Angehörigen, die ja im Ausland leben und mit dem deutschen Rechtssystem nicht derart vertraut sind, über ihre rechtlichen Möglichkeiten informieren?
Bevor das schriftliche Urteil des Bundesgerichtshofs vorliegt, kann ich Ihnen nicht sagen, ob eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegebenenfalls Aussicht auf Erfolg hat. Im übrigen ist die Bundesregierung keine Rechtsberatungsstelle; zur Rechtsberatung sind im Einzelfall die Rechtsanwälte, die in der Bundesrepublik Deutschland gut ausgebildet sind, berufen.
Eine Frage von Frau von Renesse.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Zurückhaltung der Bundesregierung gegenüber Kommentierungen höchstrichterlicher Urteile damit begründet, daß die Bundesregierung dieses nicht als ihre Aufgabe betrachtet.
So ist es.
Gibt es irgendwelche besonderen Gründe, die dazu führen, daß bestimmte Urteile oder Entscheidungen höchstrichterlicher Organe der dritten Gewalt sehr wohl von Mitgliedern der Bundesregierung kommentiert werden, wie z. B. die Entscheidung des Verfassungsgerichts, daß die Verwendung des Tucholsky-Zitats „Soldaten sind Mörder" nicht unbedingt als strafwürdig angesehen werden muß?
Ich bin mir jetzt nicht bewußt, daß Mitglieder der Bundesregierung in ihrer Eigenschaft als Angehörige der Bundesregierung Urteile der höchsten Gerichte kommentiert haben, aber ich schließe nicht aus, daß der eine oder andere von uns, der vielleicht gleichzeitig Vorsitzender oder Landesvorsitzender einer Partei ist, in dieser Eigenschaft eine Stellungnahme abgegeben hat. Ich glaube, daß Sie, Frau Kollegin, die Sie ja die Gewaltenteilung ganz besonders hochschätzen, es für richtig halten, wenn die Bundesregierung mit Kritik an der rechtsprechenden Gewalt sehr zurückhaltend ist.
Eine Zusatzfrage von Frau Müller.
Auch ich respektiere, daß Sie sagen, Sie möchten seitens der Bundesregierung keine rechtliche Kommentierung des Urteils abgeben, bevor nicht die Urteilsbegründung vorliegt. Aber Sie werden nicht absprechen können, daß das Urteil auch politische Implikationen hat, die von einiger Bedeutung sind. Ich möchte Sie daher fragen: Wie beurteilt die Bundesregierung die Wirkungen dieses BGH-Urteils im Ausland, insbesondere in Italien? Sehen Sie nicht durch dieses Urteil möglicherweise sogar die Gedenkfeierlichkeiten zum 8. Mai überschattet? Das ist eine politische Frage, die man auch ohne Kenntnis der Urteilsbegründung beantworten kann.
Ich sehe die Gedenkfeierlichkeiten des 8. Mai dadurch nicht überschattet. Im übrigen sollte man sich sein politisches Urteil erst bilden, wenn man das, was man beurteilt, tatsächlich auch gelesen und geprüft hat. Dann sollte man sein politisches, sicherlich auch sein rechtliches Urteil fällen. Ich glaube, insoweit sind die politischen und die rechtlichen Schlußfolgerungen nicht voneinander zu trennen.
Jetzt kommt noch eine Zusatzfrage von Herrn Häfner, und dann sind wir am Ende der Fragestunde.
Zunächst möchte ich folgendes sagen. Es ist ja doch, denke ich, für uns alle erstaunlich, daß nun 50 Jahre
Gerald Häfner
nach Kriegsende die Beurteilung des rechtlichen Charakters der Militärjustiz im Nationalsozialismus noch so unsicher ist, wie sie das offenbar ist. Der Bundesgerichtshof hat ja genau konträr zum Bundessozialgericht entschieden und anderes mehr.
Herr Staatssekretär Funke, Sie wissen, daß ich Sie persönlich außerordentlich schätze. Trotzdem kann ich Ihnen nach Ihren heutigen Antworten die Frage nicht ersparen, ob ich Sie richtig verstehe, wenn ich sage, daß Ihre Antworten ungefähr folgendem Strickmuster entsprechen: Entweder haben die von Ihnen gestellten Fragen nichts mit dem Urteil zu tun - dann werde ich sie hier auch nicht beantworten -, oder sie haben mit dem Urteil zu tun, dann kann ich sie hier nicht beantworten. Ist das bei mir richtig angekommen?
Nein. Ich sage das genauso offen, weil wir uns schon seit langem kennen.
Ich habe hier für die Bundesregierung unter juristischen Gesichtspunkten - danach bin ich gefragt worden - eine Antwort zu geben. Wenn es sich um die Frage der Militärjustiz handelt, ist ein anderes Ministerium zuständig; das wissen Sie. Dann sollte man diesem Ministerium auch die entsprechenden Fragen stellen.
Keine weiteren Fragen mehr. Die Fragestunde ist beendet; die Zeit ist abgelaufen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
„Internationaler Frauentag"
Dazu liegen Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, der SPD, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat die Kollegin Frau Professor Dr. Rita Süssmuth das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im März 1911 wurde in Deutschland, Dänemark, Österreich und der Schweiz zum erstenmal der Internationale Frauentag durchgeführt. 1913 war er in Deutschland Anlaß für eine Frauenwahlrechtswoche. 1914 wurde er zu einer Demonstration für das Frauenwahlrecht und zugleich zu einer Kundgebung für die Erhaltung des Friedens.
Ich freue mich, daß es uns gelungen ist, heute zum erstenmal in der Geschichte des Internationalen Frauentages - abgesehen von einer Menschenrechtsdiskussion - eine Debatte im Parlament zu führen, und zwar auf Grund einer interfraktionellen Initiative
der Frauen. Das heißt, es gilt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, Initiative zu ergreifen und zugleich an die erste Frauenbewegung zu erinnern, die in einer Verbindung von spontaner Bewegung - es gab auch Frauenstreiks aus Leidensdruck auf Grund der Arbeitsverhältnisse - und politischen Forderungen nicht gewartet hat, bis ein System sie zuließ, sondern zugepackt hat.
Insofern ist diese erste Frauenbewegung für uns auch Anlaß, am heutigen Tag nicht nur an ihre Leistungen für die Gleichberechtigung der Frauen zu erinnern, sondern uns auch zu fragen: Wie setzen wir ihre Arbeit fort, und wie verbinden wir die Arbeit in Organisationen mit der Frauenbewegung? Ich bin persönlich davon überzeugt, daß es bei aller politischen Verantwortung und Erwartung an die Politik entscheidend war, daß sich jeweils dann etwas bewegt hat, wenn die Frauen ihre Geschicke selbst in die Hand genommen und auch öffentlichen Druck ausgeübt haben.
Frauenpolitik hat keine nationalen Grenzen. Es geht heute nicht allein um die Frauen in Deutschland, sondern gerade auch um die Solidarität mit den Frauen in anderen europäischen Ländern und anderen Erdteilen. Trotz vieler positiver Entwicklungstendenzen weltweit dürfen wir nicht übersehen, daß im Zuge von Kriegen, armuts- und ideologisch bedingtem Radikalismus und Fanatismus viele Frauen wieder entrechtet werden, Opfer von Unterdrückung, Intoleranz, Gewalt und massivster Verletzung von Menschenrechten sind. Denken wir an diejenigen, die Opfer von grausamen Kriegsmaschinerien im ehemaligen Jugoslawien geworden sind, denen durch brutalste Vergewaltigungen jedwede Würde und Achtung genommen wurden, aber auch an die bedrängende und katastrophale Lage von Frauen in anderen Erdteilen.
Gewalt ist jedoch nicht nur ein Mittel des Krieges. Auch im scheinbar Friedlichen gehört Gewalt zwischen den Geschlechtern zum Alltag. Wie oft nimmt sich Gewalt in der Partnerschaft am brutalsten aus! Die überfüllten Frauenhäuser legen ein trauriges Zeugnis dafür ab.
Ich erinnere daran, daß Anfang der 80er Jahre die Frauenhäuser noch tabuisiert wurden. Ich schaue auf den Kollegen Heiner Geißler, der dies damals in der CDU zum Thema machte. Früher war es schwierig, darüber zu sprechen, heute ist uns allgemein bekannt, in welchem Maße die private Gewalt Anlaß öffentlicher Politik ist.
Aber vergessen wir auch nicht die Situation der Ausländerinnen in Deutschland. Rund ein Drittel aller in Deutschland lebenden Ausländer sind Frauen. Führen wir uns vor Augen, was ein Leben für sie in einer fremden Kultur bedeutet: Sie stehen zwischen ihrer Herkunftskultur, die sich in der Fremde nicht mehr in der gewohnten Form aufrechterhalten läßt, und der Tendenz zur Lockerung und Aufgabe der alten Bräuche in der neuen Umgebung. Wunschdenken und Illusion auf der einen, ökonomische und so-
Dr. Rita Süssmuth
ziale Realität auf der anderen Seite bilden die diffusen Orientierungsmuster für diese Frauengeneration. Nicht selten zerbrechen im Spannungsfeld von Tradition und Anpassungszwang, von Rückkehrwunsch und Daueraufenthalt die Familienbande. Auch hier muß ausländerpolitisch und frauenpolitisch gehandelt werden, wenn es um das Miteinander von Kulturen geht. Ich halte in diesem Fall eine Neuregelung des Aufenthaltrechts ausländischer Frauen, die mit einem Deutschen verheiratet sind, für besonders dringlich.
Wo stehen wir frauenpolitisch in Deutschland? Wohin geht die Entwicklung? Nach wie vor geht es um Gleichberechtigung, um den Abbau von Diskriminierung. Aber es geht um mehr, nämlich um einen gesellschaftlich revolutionären Wandel.
Mich empört es immer wieder, daß in erster Linie beim wissenschaftlich-technischen Umbruch von Revolution die Rede ist. Für mich ist die entscheidende revolutionäre Entwicklung der menschliche Wandel, der Wandel der Geschlechterbeziehungen. Ganz entscheidend ist die Frage: Wie gehen wir mit dem grundlegenden Wandel der Frauen in der Gesellschaft und in der Politik um?
Die Frauen haben den Aufbruch gewagt. Sie haben sich übrigens mehr verändert als die Männer.
Sie sind aus der ihnen scheinbar zugeteilten Rolle, aus dem Privaten, ins Öffentliche gegangen, das lange Zeit ausschließlich den Männern vorbehalten war.
Ich sage auch im 50. Jahr nach Beendigung des Krieges: Wie lange hat es gedauert, bis in der Frage des Widerstandes gegen das NS-System Frauen und ihre Leistungen in die öffentliche, in die historische Debatte einbezogen wurden?
Wir reden immer nur von den Defiziten, nicht von den ungeheuren Leistungen von Frauen in Geschichte und Gegenwart.
Es ist ihnen gelungen, in allen gesellschaftlichen Bereichen neue Impulse zu geben, entscheidende Weichen für die Zukunft zu stellen. Sie haben ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Sie haben dort Innovatives geleistet, wo eine Sackgasse drohte. Sie haben ihre Chancen, wo immer es ihnen ermöglicht wurde bzw. sie es sich selbst ermöglicht haben, ergriffen und ihr Leben selbst in die Hand genommen. Sie haben immer wieder konstruktive Unruhe in einem System gestiftet, das bis heute noch weitgehend männlich ausgerichtet ist.
Wir mögen uns fragen, ob denn viele der Dinge, die Männer irritiert haben, falsch waren. Die Entwicklung ist zunächst mit Ignoranz, dann mit Protest und anschließend mit Wachsamkeit und Argwohn
wahrgenommen worden, erst sehr spät mit Einsicht, welche Rolle denn die Frauen im gesellschaftlichen System und für die Lösung der Zukunftsprobleme wahrnehmen.
Lange Zeit galt: Frauen müssen leben wie Männer, sein wie Männer, nur dann können sie gleichberechtigt sein. Heute ist es nicht zuletzt die Wirtschaft, die mit dem Wort „Winning mixture ” sagt: Es kommt ganz entscheidend darauf an, daß wir Sichtweisen und Fähigkeiten der Frauen nutzen - natürlich wiederum, weil es notwendig ist und die Gesellschaft Innovationen braucht. Denn selbst Beratungsfirmen wie McKinsey fragen: Wie gestalten wir denn die Arbeitswelt familienfreundlicher, damit wir die Ressourcen der Frauen nutzen können?
Ich möchte hier sagen: Ob Frauenbeauftragte, Frauenförderung, Frauenministerien, bis hin zu Quoten - sie alle waren als Krücken unabdingbar, weil wir es ohne diese Instrumente auf normalem Wege nicht geschafft hätten.
Wir wären mit diesem Anteil heute weder hier in diesem Bundestag noch in vielen anderen Bereichen vertreten, wenn nicht auf diese Weise Schritt für Schritt und mit sehr viel Widerständen der Anteil der Frauen in allen Lebensbereichen erhöht worden wäre. Ich glaube nicht mehr an das Ammenmärchen, daß sich das alles von selbst nur durch Qualität und Qualifikation vollzieht.
Deswegen stehen wir auch als Frauen zu dem, was wir gefordert haben, auch in der kontroversen Diskussion. Wir alle wünschten uns, wir bräuchten diese Krücken nicht, aber wir haben Jahrzehnt für Jahrzehnt erleben müssen, daß es notwendig ist und daß die Freiwilligkeit ihre Grenzen hat, daß anders die Partnerschaft nicht herbeigeführt werden kann.
Deswegen lassen Sie mich sagen: Ich sehe gegenwärtig nicht nur die Fortschritte, sondern auch die Rückschläge, die Zerreißproben. In den mir verbleibenden fünf Minuten möchte ich darüber noch reden. Bei jeder Rezession, bei jeder Schwierigkeit wird erneut die Frage gestellt: Wohin gehören die Frauen? Sie gelangen bezüglich ihrer Identität nicht zu einer Klarheit, obwohl immer mehr Frauen der Gesellschaft insgesamt deutlich machen: Wir wollen mehreres sein: Mütter, kompetente Erwerbstätige, Beteiligte am öffentlichen Leben, an Kultur, Politik und Wissenschaft.
Aber immer wieder werden die Frauen zurückgeworfen, werden Identitätsblockaden aufgerichtet. Eine Gesellschaft, die dies immer wieder tut, muß sich über die gesellschaftlichen Folgekosten, die materiellen und die immateriellen, nicht wundern, weil sie selbst die Friktionen herbeiführt, die sie eigentlich beseitigen möchte.
Dr. Rita Süssmuth
Wenn wir nicht endlich konsequent werden im Hinblick auf die klare Zuweisung der Berufsrolle - indem eben nicht gefordert wird, die Frau müsse sich entweder für ein Kind oder für die Rolle als Erwerbstätige entscheiden, weil sie nur dann im Erwerbsleben existieren könne -, kommen wir nicht weiter. Das bedeutet, daß wir endlich dahin kommen müssen - was insbesondere seit dem Ende der 70er Jahre Schritt für Schritt aufgegeben worden ist -: Machen wir keine Gesetze für Frauen, sondern Gesetze für Frauen und Männer!
Das betrifft ihre Rolle in Familie, Beruf und öffentlichem Leben; denn niemals wird ein Mann gefragt, ob er sich denn gegen Kinder entschieden habe, damit er erwerbstätig sein könne. Das gilt nur für die Frauen; das ist nach wie vor so.
Deswegen glaube ich, daß wir keine Zeit zu verlieren haben. Es ist ohnehin ein Anachronismus, jetzt, 1995, über den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zu reden. Das ist in anderen Ländern längst geleistet worden.
Das gilt genauso für die Wiedereingliederung der Frauen nach der Familienphase. Ich sage: Das gilt auch für die Wiedereingliederung der Männer. Es ist ein Hohn, daß nur 1 bis 2 % der Männer Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen. Es muß endlich aufhören, daß ein Vater irritiert angeschaut wird, wenn er überhaupt Erziehungsurlaub nimmt. Das ist eine Aufgabe von Politik und Gesellschaft.
Das setzt sich fort in der Frage des notwendigen gesetzlichen Anspruchs und des Rechtsanspruchs auf Weiterbildung und Fortbildung. Wir leben in einer Zeit schnellster Veränderungen der Qualifikationen. Wenn es uns nicht gelingt, daß Frauen daran kontinuierlich teilhaben, wird es so weitergehen, daß sie nur bedingt am Erwerbsleben teilnehmen können.
Das gilt auch für die Notwendigkeit einer Flexibilisierung der Arbeitszeit. Nichts ist heute weniger im Lot als Zeitsouveränität, welche die Familie berücksichtigt. Wir erleben das bei der Teilzeitarbeit. Nach wie vor geht es darum, daß sich die Frauen nach den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen zu richten haben, ohne daß beide Aspekte miteinander kombiniert werden.
Ich wünsche mir auch - das ist nicht Teil unseres Entschließungsantrags -, daß die Bundesregierung nach Jahresfrist für die obersten Bundesbehörden einen Bericht vorlegt, was denn mit der Teilzeitarbeit
geworden ist, wie wir wirklich bestehende Hindernisse überwinden und selbst Vorbild sind für eine Gestaltung der Teilzeitarbeit mit allen Varianten, die möglich sind.
Ich fordere eine gleiche Beteiligung der Frauen nicht nur bei den Fortbildungsmaßnahmen, sondern auch bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes, bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben und im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit.
Ich denke, wir Frauen haben uns nicht zu verstekken. Wir sind selbstbewußter geworden und weniger verunsichert. Aber wir kommen nicht umhin, auch den Internationalen Frauentag zur politischen Gestaltung verbesserter Rahmenbedingungen zu nutzen. Das gilt insbesondere in bezug auf Kinderbetreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Rahmen unserer Anträge.
Unser Auftrag für die Zukunft ist ein Friedensauftrag, ist ein Auftrag, insbesondere in der Umweltpolitik, in der Raumplanung auf Änderungen, Verbesserungen hinzuarbeiten. Frauen haben ganz andere Vorstellungen von familienbezogenem Wohnen und Wohnraumumgebung, von regionaler Versorgung, kleinteiligen personalen und sozialen Bezügen. Diese Gesellschaft erlebt ihren Untergang, wenn sie nicht endlich begreift, daß sie Partnerschaft nur mit Frauen und Männern gestalten kann. Wenn wir diesen Gedanken das ganze Jahr über verfolgen, dann hat sich der 8. März wieder einmal gelohnt.
Und denken wir daran: Die Lage von Frauen ist sehr verschieden. Schaffen wir nicht erneut Altersarmut für die nachfolgenden Frauengenerationen! Deswegen sage ich abschließend noch einmal: Dieses Parlament kommt nicht umhin, sich mit den geringfügig Beschäftigten zu befassen.
Zwar dürfen wir dies nicht mit dem rigorosen Ziel tun, daß es keinen einzigen solchen mehr gibt, aber zu bedenken ist: Die hohe Zahl von geringfügig Beschäftigten ist nicht nur wettbewerbsverzerrend, sondern auch eine Ungerechtigkeit in bezug auf die Solidarkassen und schafft neue Armut der geringfügig beschäftigten Frauen, die mehr als 90 der geringfügig Beschäftigten ausmachen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Marliese Dobberthien.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Internationale Frauentag ist nicht nur ein Tag für Festvorträge, sondern auch der politischen Auseinandersetzung.
Vater ist Abteilungsleiter, Vater ist Haushaltsvorstand, Vater ist Erziehungsberechtigter, Autobesitzer, Hauseigentümer, Kontoinhaber, Vereinspräsident und Schützenkönig. Und was ist Mutter? Mutter ist die fürsorgliche Gattin, die Mutter seiner - seiner! -
Dr. Marliese Dobberthien
Kinder, und vielleicht ist sie auch seine Muse, Ratgeberin und Freundin. Kurzum: Mutter ist Hausfrau, allerdings ohne eigenes Geld und meist auch ohne eigene soziale Sicherung. So ist der „Dank" für mehrfache Mutterschaft oft noch die Altersarmut. Ob fröhlich, ob glücklich, fragt niemand die Frau; Hauptsache, das Frauenleitbild stimmt. Drum gibt es am Muttertag auch einen schönen Blumenstrauß.
Aber ohne uns! Denn die Lebenswirklichkeit hat sich längst geändert. Junge Frauen wollen heute alles: Beruf und Familie, Kinder und Karriere. Jugendstudien belegen eindrucksvoll ein gewandeltes Selbstverständnis junger Frauen. Die 900 Mädchen, die der Einladung der SPD-Fraktion am letzten Wochenende gefolgt waren, verlangten Rechte und verabscheuten die larmoyante Klage.
Im 84. Jahr des Internationalen Frauentages ist es - in der Tat - des Jammerns genug. Die Befunde weiblicher Benachteiligung in allen gesellschaftlichen Bereichen sind hinreichend erforscht, bekannt und von vielen schmerzlich gespürt - bis heute.
Gestaltung ist gefragt, politische Gestaltung - und es gibt viel zu tun. Doch die Bundesregierung handelt nach dem Motto: Schön reden tut's auch.
Zum Beispiel Frau Nolte: Die neue Mehrfachministerin mit dem frauenpolitischen Biß eines Mausezähnchens
beklagt, in den vergangenen Jahrzehnten sei es nicht ausreichend gelungen, Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern durchzusetzen. Da fragt frau sich nur erstaunt: Wer hat in den letzten 13 Jahren regiert und die Chance für eine glaubwürdige Frauenpolitik vertan? Zu fragen ist auch: Wer stellt denn die verantwortliche Regierung, die zuläßt, daß die Frauenerwerbsquote in den neuen Bundesländern von 90 % auf 47 % abstürzte? Wo sind denn die Konzepte zur wirksamen Gegensteuerung?
- Wir brauchen eine Rahmengesetzgebung. Die muß die Bundesregierung machen, die kann nicht Herr Stolpe machen.
Liebe Frau Nolte, Sie haben wie Ihre Vorgängerinnen viel und Schönes geredet, und Sie wollen auch ein paar nette Modellversuche durchführen lassen. Aber wo sind die politischen Schlußfolgerungen geblieben, z. B. für Berufsrückkehrerinnen? Ein mit großem Getöse vermarktetes Modellprogramm zeigte zwar die Handlungsdefizite auf, aber gesetzgeberisch warten wir auf Regelungen.
Oder das Verfassungsgebot der Gleichberechtigung. Experten und Expertinnen jeder Couleur waren sich einig, daß Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes zu wenig bewirkt habe und eine Präzisierung vonnöten sei. Aber was tat die Regierungskoalition? Ich fand, es war eine Schande, wie breit sich Ihre männlichen Chauvis zu Lasten von Frauen ausmären durften.
Frau Kollegin Dobberthien, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geißler?
Aber selbstverständlich.
Ich habe von „Chauvis" und nicht von „allen Chauvis" gesprochen. Sehr richtig.
Nachdem ich in der Hoffnung hergekommen war, wir würden uns hier gemeinsam, alle politischen Parteien, notwendigerweise für die weitere Stärkung der Rechte der Frauen einsetzen, Sie aber nun die parteipolitische Auseinandersetzung eingeführt haben, darf ich Sie fragen, Frau Kollegin, wie Sie die Tatsache beurteilen, daß der sozialdemokratische Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz vor kurzem die Frauenministerin abgeschafft und zur Staatssekretärin in der Staatskanzlei degradiert hat.
Wer frauenpolitische Positionen geschwächt und ein Frauenministerium mit zwei Zuständigkeiten inzwischen in ein Ministerium mit drei weiteren Zuständigkeiten eingegliedert hat, der sollte nicht mit dem Finger auf Länder zeigen.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Bitte schön.
Würden Sie mir bitte zugeben, daß Sie meine präzise Frage nach Rheinland-Pfalz und dem dortigen Frauenministerium nicht beantwortet haben?
Ich habe indirekt Ihre Frage sehr wohl beantwortet.
Ich habe etwas kritisiert: mit einer Gegenkritik.
Das politische Schwerpunktprogramm der Frauenministerin, keine 17 Tage jung, enthält auch nicht sonderlich viel Überzeugendes für Frauen. Von 21 Seiten widmen sich gerade 4 dem Thema Gleichberechtigung. Wer Maßnahmen erwartet, wie z. B. ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse mit rund 4 Millionen beschäftigen Frauen eingedämmt werden sollen, wird enttäuscht. Kein Wort auch über die sogenannte Kapovaz oder über das Jobsharing oder über Franchise-Beschäftigungsformen. Obwohl himmelschreiende Mißstände existieren, sind sie der Frauenministerin keine einzige Silbe wert. Dafür aber beredte Ankündigungen: Projekte vor allem anderer Träger, anderer Ministerien und anderer Verantwortlicher werden zitiert. Das vom Europäischen Sozialfonds mit 10 Milliarden DM finanzierte Programm „AFG-Plus" zugunsten von Langzeitarbeitslosen wird vom Frauenministerium vereinnahmt, obwohl es - wie immer - stärker Männern zugute kommt. Auch die Vermehrung der Zahl von Modellprojekten kann eine frauenfreundliche Politik niemals ersetzen.
Gesetzgeberische Schlußfolgerungen sind gefragt und nicht Klagen am Frauentag.
Was sagte doch Frau Merkel 1992?
Wer Gleichberechtigungspolitik nicht ernst nimmt, verstößt gegen internationale Verträge.
Wie wahr! Doch die angemahnte Ernsthaftigkeit läßt bis heute zu wünschen übrig. Es fehlt an wirksamen Gesetzesregelungen. Ein allseits kritisiertes, schwaches Gleichberechtigungsgesetz entfaltet bisher wenig Wirkung. Auf Verbesserungen warten noch immer die Verkäuferinnen und die Fabrikarbeiterinnen - bis zum heutigen Tage vergebens.
In fast allen sozialdemokratisch regierten Bundesländern haben wir inzwischen Quotenregelungen und Gleichstellungsgesetze für den öffentlichen Dienst verabschiedet. Gerne hätten wir auch die Privatwirtschaft erfaßt.
Dies kann aber nur der Bund; und dort blocken penetrant nicht nur die Liberalen ab.
Verhinderung ist jedoch keine Frauenpolitik. Was wir brauchen, ist eine ernsthafte Gleichstellungspolitik, die Frauendiskriminierung nicht länger duldet. Vorschläge, wie Benachteiligungen im Erwerbsleben abbaubar sind und wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gefördert werden kann, liegen zuhauf auf dem Tisch.
Frau Kollegin Dobberthien, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Böhmer?
Aber ja. Bitte, Frau Dr. Böhmer.
Bitte.
Frau Kollegin Dobberthien, Sie erwähnten eben, daß fast alle Länder, die von der SPD regiert werden, Gleichstellungsgesetze haben. Ihnen ist doch sicherlich bekannt, daß jetzt in Rheinland-Pfalz im dritten Anlauf ein Gleichberechtigungsgesetz vorgelegt worden ist, von dem die dort zuständige Ministerin, wohlgemerkt: nicht die Frauenministerin - diese ist ja abgeschafft worden -, sagt, daß es ausdrücklich keine Männer benachteiligen solle und deshalb eine Klausel vorgesehen ist, die die dort viel strapazierte Quotenregelung zu diesem Zweck extra aufhebt.
Ich würde mich freuen, hätten wir eine wirksame Quotenregelung beim Zweiten Gleichberechtigungsgesetz des Bundes.
- Da ist im übrigen die F.D.P. in der Koalition; sehr richtig. Die Bonner Koalition hatte aus Gründen der Koalitionsräson selber die größten Schwierigkeiten gehabt, hier ein wirksames Gleichstellungsgesetz zu verabschieden.
Die Forderungen, die zuhauf auf dem Tisch liegen, beinhalten z. B. eine bevorzugte Einstellung und Förderung von Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Qualifizierung sowohl im öffentlichen Dienst als auch in der Privatwirtschaft, eine Ausbildungsplatz-quote von 50 `% für junge Mädchen vor allein in zukunftssicheren Berufen. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge müssen frauenfreundliche Betriebe berücksichtigt werden. Zu verlangen sind Sanktionen bei Gesetzesverstößen, Frauenbeauftragte mit ausreichenden Kompetenzen, Quotierung betrieblicher Interessenvertretungen und aller arbeitsmarktpolitischen Instrumente.
Zu verlangen ist auch eine verbesserte Sicherung der Teilzeitarbeit; sie muß mit der Vollzeitarbeit gleichgestellt werden. Die geringfügige Beschäftigung ist endlich auf das erträgliche Maß zurück- und in versicherte Beschäftigungsverhältnisse überzuführen. Die frauenfeindliche Praxis „last hired, first fired" ist energisch zu bekämpfen.
Dr. Marliese Dobberthien
Die berufliche Wiedereingliederung von Frauen ist zu fördern, und wer für Kindererziehung beurlaubt ist, muß den uneingeschränkten Kündigungsschutz erhalten und auch nicht irgendwelche Unterbrechungen
oder gar Entlassungen.
Schließlich: Die Lohngleichheit wartet noch immer auf Durchsetzung und Realisierung.
Frauenrechte sind Menschenrechte. Daran wollen wir uns vor allem und besonders am Internationalen Frauentag erinnern. Menschenrechte aber sind unteilbar. Wir wollen nicht betteln und nicht klagen, sondern Rechte und Macht. Mögen wenigstens die Frauen der Regierungsfraktionen auf ihre wachsweiche Entschließung verzichten und dafür für unseren Antrag stimmen.
Danke.
Das Wort hat die Bundesministerin Claudia Nolte.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Geschichte des 8. März, also in der Geschichte des Internationalen Frauentages, ist es das erste Mal, daß der Deutsche Bundestag aus diesem Anlaß über die Probleme von Frauen in unserer Gesellschaft eine Debatte führt.
Der 8. März verliert zunehmend seine ideologische Überfrachtung, die an diesem Tag vor allem in den sozialistischen Ländern bis zum Überdruß zelebriert wurde. Ich erinnere mich noch gut an die Berichte über die Frauen, die ihre Arbeit im besonderen Maße erfüllt haben und deshalb auch ein Lob erhielten. Solche Zeremonie diente nicht der Gleichberechtigung, sondern solche Aktionen sollten die vielen Probleme, insbesondere die mangelnde Freiheit, überdecken.
Heute geht es in der Gleichberechtigungspolitik um die Anerkennung der Verschiedenartigkeit und Gleichwertigkeit unterschiedlicher Lebensentwürfe. Die erwerbstätige Frau will Gleichberechtigung mit den Kollegen im Berufsleben. Die in der Familie tätige Frau will Gleichberechtigung durch Anerkennung ihrer Arbeit. Für die Alleinerziehende bedeutet Gleichberechtigung die Möglichkeit, Erwerb und Kindererziehung miteinander vereinbaren zu können.
Will Politik für sich beanspruchen, Gleichberechtigung durchsetzen zu wollen, dann muß sie solche Rahmenbedingungen schaffen, daß diese Vielfalt ohne Benachteiligung der Frauen verwirklicht werden kann. Gleichberechtigung bedeutet, Frauen und Männern in allen Bereichen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft die gleichen Mitwirkungsmöglichkeiten, die gleichen Rechte und Pflichten zu eröffnen. Gleichberechtigungspolitik bleibt insofern mühsame Kärrnerarbeit, und sie kann ohne die Veränderung der Situation des Mannes nicht erfolgreich sein.
Wenn wir bilanzieren, was wir in der Gleichberechtigungspolitik erreicht oder auch verändert haben, dann sollten wir unseren Blick für die Probleme öffnen, denen sich Frauen weltweit gegenüber sehen.
Der zur Zeit in Kopenhagen stattfindende Weltsozialgipfel zeigt, daß es nicht wenige Länder gibt, in denen sich die Situation der Frauen in den letzten Jahren rapide verschlechtert hat. Dort geht es nicht um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an der Macht wie bei uns und in den anderen nordischen Staaten, sondern da stehen Frauen, die mit allen Kräften gegen die Armut kämpfen müssen, für die der Zugang zu Bildung und ausreichende Gesundheitsvorsorge oft noch eine ferne Utopie sind. In diesem Spannungsverhältnis steht die Gleichberechtigungspolitik weltweit. Diese Spannung wird auch die Weltfrauenkonferenz im September in Peking bestimmen.
Die Benachteiligung von Frauen zeigt sich in den verschiedenen Ländern und Regionen auf sehr verschiedene Weise. Wir müssen uns vor allem fragen, welchen Beitrag wir zu einer Verbesserung der Situation leisten können. Zum einen durch unsere Unterstützung: durch finanzielle Mittel und durch Know-how. In unseren Bemühungen um aktive Entwicklungshilfe dürfen wir nicht nachlassen. Hier müssen wir umdenken und vor allem solche Projekte fördern, die auch den Familien und Frauen in den Ländern Afrikas und Lateinamerikas zugute kommen.
Es verdient hervorgehoben zu werden, daß nach unseren Grundlinien der Entwicklungspolitik von 1991 die Frauenförderung zu den fachlichen Schwerpunkten der Entwicklungszusammenarbeit gehört. Danach sind die Interessen und Bedürfnisse von Frauen in die Planung und Durchführung aller Vorhaben der Entwicklungszusammenarbeit einzubeziehen. Nachteilige Auswirkungen von Vorhaben auf Frauen sollen vermieden und vorgefundene Benachteiligungen durch gezielte Fördermaßnahmen abgebaut werden.
Aber die Bereitschaft der Bundesregierung, die Entwicklungszusammenarbeit zur Förderung von Frauen zu ändern, kann nur dann zu konkreten Verbesserungen führen, wenn auch die Regierungen dieser Länder in der Auswahl und Umsetzung von Entwicklungsvorhaben, in der Änderung von Gesetzen und im Verwaltungshandeln darauf eingehen.
Die Bundesregierung hat sich intensiv für die Berufung einer UN-Beauftragten für Menschenrechtsverletzungen an Frauen eingesetzt. Hier sehe ich eine der wesentlichen Aufgaben in den nächsten Jahren. Wie können wir international wirkungsvoller die Rechte von Frauen schützen? Was können wir tun, damit Mädchen nicht bereits im Mutterleib getötet werden, weil sie Mädchen sind? Was können wir tun, damit Frauen nicht länger Eigentum eines Man-
Bundesministerin Claudia Nolte
nes sind, sondern ein Recht auf eine eigenständige Entwicklung bekommen? Und was können wir gegen den modernen Sklavenhandel von Frauen vor unserer Haustür tun?
Auch zur Lösung globaler Probleme werden Frauen immer wichtiger. Das haben die großen internationalen Konferenzen der letzten Jahre, so der Umweltgipfel in Rio, die Weltmenschenrechtskonferenz in Wien, die Bevölkerungskonferenz in Kairo sowie der Sozialgipfel in Kopenhagen gezeigt. Auch die Weltfrauenkonferenz in Peking wird dies dokumentieren.
Diese Konferenzen machen klar: Gleichberechtigungspolitik steht vor einem bedeutenden Wandel. Sie sprengt den Rahmen einer Politik von Frauen für Frauen. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, daß sich die weltweiten Probleme ohne den Beitrag der Frauen nicht lösen lassen. Insofern ist es folgerichtig, daß es um die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen an den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ressourcen geht.
Aber dazu gehört auch, daß internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen immer wieder einfordern und diese auch in den eigenen Reihen praktizieren, z. B. wenn es um die Besetzung wichtiger Positionen oder um eine institutionelle Verankerung geht. Dies gilt im übrigen auch für die Europäische Union, wo wir erreichen müssen, daß Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern in den Statuten besser verankert wird, als dies zur Zeit der Fall ist.
- Es geht nicht darum, Beifall zu erheischen. Es geht um die Inhalte, über die wir hier sprechen.
In der Bundesrepublik Deutschland sind in den vergangenen Jahren wichtige Fortschritte erreicht worden. Gleichberechtigungspolitik hat einen institutionellen Unterbau erhalten. Ich denke da an die mehr als 1 300 Gleichstellungsstellen, an die Frauenministerien in Bund und Ländern sowie die etablierten Frauenbeauftragten in den Kommunen. Zunehmend greifen Maßnahmen der Frauenförderung, im öffentlichen Dienst und in vielen privaten Unternehmen.
Aber wir haben die Erfahrung gemacht, daß mit wachsender wirtschaftlicher Entwicklung, mit den Absicherungen wichtiger Risiken wie Krankheit oder Alter nicht automatisch die Benachteiligung von Frauen endet. Es bleiben Probleme, die aufgearbeitet werden müssen. Denn auch in Industriestaaten sind es vor allem Frauen, die schlechter bezahlt, als erste entlassen und als letzte wieder eingestellt werden. Auch bei uns ist die finanzielle Not weiblich, und auch bei uns sind es vor allem Frauen, die unter Gewalt zu leiden haben.
Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern ist solange nicht erreicht, wie nur 1,5 der Väter Erziehungsurlaub nehmen, nur 5,7 % der deutschen Hochschullehrer Frauen sind, obwohl sie fast die Hälfte aller Studienanfänger stellen, Frauen in Führungspositionen der deutschen Wirtschaft lediglich mit einem Anteil von 3 % vertreten sind, obwohl sie mehr als 40 % der Mitarbeiter stellen, und nur 7 % Frauen in wichtigen Entscheidungsgremien vertreten sind, obwohl die Entscheidungen alle Frauen betreffen.
An diesem 8. März, an dem neben Erreichtem auch vor allem Schwachstellen benannt werden, möchte ich an die Erweiterung des Grundgesetzes erinnern, die wir gemeinsam beschlossen haben. Wir haben Art. 3 Abs. 2 ergänzt um den Satz:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frau und Mann und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Wir sind uns darüber im klaren: Damit haben wir die nach wie vor bestehenden Benachteiligungen von Frauen nicht aus der Welt geschafft. Grundgesetzartikel sind eine Sache, das alltägliche Leben eine andere.
Dennoch hat das Grundgesetz mit dieser Ergänzung eine neue Qualität erhalten. Erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte wird der Staat verpflichtet, aktiv die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung zu fördern, und erstmals wird ihm zur Aufgabe gemacht, aktiv auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.
Frauen sollen da, wo sie benachteiligt sind, aktiv gefördert werden. Um so mehr muß schon geltendes Recht mit Leben erfüllt werden. Wir können es nicht hinnehmen, daß notwendige Schutzgesetze, wie z. B. beim Erziehungsurlaub, unterlaufen werden. Unser Wirtschaftssystem ist eben keine unkontrollierte Wirtschaftsform, wie sie noch im letzten Jahrhundert die Realität bestimmte, sondern sie ist eine soziale Marktwirtschaft, die Verantwortung für die Menschen, die in ihr arbeiten, trägt.
Es geht in Zukunft darum, daß die Ressourcen unserer Gesellschaft nicht an den Frauen vorbei verteilt werden. Frauenpolitik muß fester Bestandteil im Prozeß der Neustrukturierung sein, wenn es um die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die Sicherung des sozialen Systems, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die Sicherung der ökologischen Grundlagen geht.
Das macht die Gleichberechtigungspolitik nicht einfacher. Denn zum einen ist mehr Phantasie nötig,
Bundesministerin Claudia Nolte
um übernommene Denkweisen zu verändern. Zum anderen muß es auch gelingen, daß Frauenpolitik stärker als bisher in die Gesellschaft hineinwirkt, daß sie sich einmischt und den Veränderungsprozeß aktiv mitgestaltet.
Was heißt das konkret? Frauen dürfen nicht vom Arbeitsmarkt verdrängt werden. Insbesondere in den neuen Bundesländern muß sich die Strukturförderung stärker an den Bedürfnissen von Frauen ausrichten. Die ehrenamtliche soziale Tätigkeit von Frauen muß aufgewertet werden und ihr Beitrag auch im Rahmen der sozialen Sicherung stärker Beachtung finden.
Bessere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit müssen sich gleichermaßen an Frauen und Männer richten. Auch die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen müssen dies als ihre Aufgabe ernster nehmen und die Möglichkeiten zu Fortschritten in diesem Bereich verstärkt in ihren Tarifvereinbarungen nutzen. Die Durchsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz ist zu einer Frage des Vertrauens vieler Frauen in die Fähigkeit des Staates, seine Versprechen auch einzuhalten, geworden. Wir müssen darauf bestehen.
Die eigenständige soziale Sicherung von Frauen muß auch in Zukunft weiter ausgebaut werden. Frauen müssen verstärkt da beteiligt werden, wo die Entscheidungen fallen.
Wir müssen alles tun, damit sie ein natürliches Verhalten zur Macht bekommen. Macht ist nicht etwas Unmoralisches, sondern die Grundlage von Einfluß-, Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten.
Wir wissen alle: Viele Aufgaben liegen vor uns. Es ist schon richtig, daß wir über den jeweiligen Weg in der konkreten Frage gemeinsam streiten und beraten müssen, denn in der Tat gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie wir diese Ziele erreichen können. Ich bin schon skeptisch, liebe Frau Kollegin Dobberthien, ob einfachgesetzliche Reglementierungen den Frauen in jedem Fall weiterhelfen.
- Es gibt sehr wohl differenzierte Lösungsmöglichkeiten, die in vielen Unternehmen - wenn Sie genau hinschauen, können Sie dies feststellen - sehr phantasievoll genutzt werden.
Wir müssen uns gemeinsam anstrengen, um unserem Anspruch gerecht zu werden, Frauen und Männern eine gleichberechtigte Teilhabe in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu ermöglichen. Ich füge hinzu, daß ich in diesen Bereichen viel machen werde. Ich wäre dankbar, in konkreten Fällen dann auch Ihre Unterstützung zu bekommen.
Danke.
Das Wort hat die Kollegin Rita Grießhaber.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sei es der Muttertag oder heute der Internationale Frauentag, schuldbewußt wird an einem oder zwei Tagen im Jahr der Frauen gedacht, die tagtäglich den Großteil der Arbeit leisten, ohne die unsere Gesellschaft überhaupt nicht funktionieren würde. Die Geschichte des Internationalen Frauentags weist diesem Tag einen anderen Platz zu als nur den des pflichtbewußten Gedenkens. Die Eröffnung der Debatte durch Sie, Frau Süssmuth, hat die Tradition dieses Tages hergestellt und seinen Bezug zur ersten Frauenbewegung, zu einer Geschichte, die uns sonst leider viel zu wenig präsent ist, benannt.
Frauen haben einen langen und zähen Kampf geführt und sehr viel erreicht. Bei der Diskussion der ersten deutschen Verfassung 1848 mußte sich Malvida von Meysenburg bei den Verhandlungen in der Frankfurter Paulskirche noch auf der Kanzel verstecken, um miterleben zu können, was für eine Verfassung sich die deutschen Männer ausdachten.
Bis 1908 galt ein Vereinsgesetz, das sich die Maxime des Apostels Paulus „Das Weib schweige in der Gemeinde" zu eigen gemacht hatte und Frauen von der politischen Betätigung auszuschließen versuchte. Erst 1919 konnten Frauen in Deutschland an allgemeinen und freien Wahlen teilnehmen. Eine späte Genugtuung für z. B. Hedwig Dohm, die noch Ende des letzten Jahrhunderts gegen biologistische Männerargumente mit folgender Begründung für das Frauenstimmrecht werben mußte:
Die Stimmritze der Frau ist enger und ihr Kehlkopf kleiner, belehrt uns Herr von Bischof. Ich würde daraus die Tatsache erklären, daß bei vorkommenden Duetten er Tenor und sie Sopran singt. Der kausale Zusammenhang aber zwischen der Stimmritze und dem Stimmrecht erhellt sich daraus für mich nicht.
Aber es gibt heute immer noch solche Argumentationen; die sind gar nicht so althergebracht.
Wer weiß, ob es die Verankerung der Gleichberechtigung der Geschlechter in Art. 3 Grundgesetz heute gäbe, wären da nicht die zähen GrundgesetzMütter Elisabeth Seibert, Helene Wessels, Helene Weber und Friederike Nadig gewesen?
Rita Grießhaber
Die Erweiterung, Frau Nolte, war hier ja wohl schwer genug und längst nicht so weitgehend, wie Ihr Problembewußtsein heute erwarten läßt.
Trotz des Zusammenbruchs nach dem Krieg: Die Männerbastion Politik blieb bestehen. Frauen durften als Trümmerfrauen die Schäden männlichen Kriegswahns beseitigen, wofür sie vor nicht allzu langer Zeit auch noch rentenrechtlich bestraft werden sollten. In der Politik waren sie allerdings in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur sehr marginal vertreten. 29 Frauen bei 381 Männern zählte der erste Bundestag, und im Politbüro des Zentralkomitees der DDR, dem Machtzentrum der SED, hat es nie weibliche Vollmitglieder gegeben.
Die erste bundesrepublikanische Ministerin bekamen wir mit Frau Dr. Schwarzhaupt erst 1961. Sie mußte sich mit dem Gesundheitsministerium begnügen, obwohl sie selbst viel lieber das Amt der Justizministerin bekleidet hätte. Mit ihr jedoch begann das Gruppenbild mit Dame auf Kabinettsebene.
Die neue Frauenbewegung nach 1968 und auch grüner Druck haben viel bewirkt, um verkrustete Verhältnisse aufzubrechen. Die Quotendiskussion hat inzwischen auch die anderen Parteien erreicht. Die CDU macht sich auf die Suche nach der „SoftQuote", und auch die F.D.P. kommt laut Äußerungen von Herrn Kinkel nicht mehr an diesem Thema vorbei. Man darf gespannt sein, was dabei herauskommt.
In den 50er Jahren schrieb die Rechtsprechung noch fest - ich zitiere -:
Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.
Diese Rechtslage ist seit 1972 Vergangenheit. Auch sonst hat sich auf der rechtlichen Ebene, wenn auch langsam und mir immer viel zu langsam, einiges getan. Die Reform des Familienrechts in den 70er Jahren war ein erster wichtiger Schritt, um mit Anachronismen aufzuräumen. Allerdings ist der Gesetzgeber hierbei immer wieder auf halbem Wege stehengeblieben.
Ich erinnere nur an das Ehegattensplitting, das bei seiner Einführung in den 50er Jahren eine gewisse gesellschaftliche Berechtigung hatte, da Ehe und Familie damals noch weitgehend identisch waren und man das so als Familienförderung begreifen konnte. Den heutigen Erfordernissen der Förderung eines Lebens mit Kindern entspricht es allerdings schon lange nicht mehr, und hier, Frau Nolte, können Sie mit Ihren Taten loslegen.
Es reicht nicht, daß Frauen in langen Kämpfen einen gesellschaftlichen Bewußtwerdungsprozeß in Gang gesetzt haben, der sich nicht mehr rückgängig machen läßt. Die Politik muß endlich auch angemessen auf diesen Wandel in Bewußtsein und Verhalten reagieren.
Anlaß zur Hoffnung gibt mir in diesem Zusammenhang die Debatte, die vor drei Wochen hier über das Thema Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe geführt wurde. Damals wurde von Frau Süssmuth angemahnt, daß Menschenrechte auch für Frauen eingeklagt werden müßten. Beim Thema Vergewaltigung in der Ehe - und das ist ein Erfolg zäher frauenpolitischer Argumentation - ist sich dieses Haus im Grundsatz einig. Die gleiche Einigkeit wünschen wir uns beim Vorgehen gegen Frauenhandel und Kinderprostitution. Die Menschenrechte von Frauen und Mädchen sind ein unveräußerlicher allgemeiner Bestandteil der Menschenrechte. Vor den Menschenrechtsverletzungen, auch vor diesen, darf die Regierung die Augen nicht verschließen.
Wir sehen auch, daß alte, weit weg liegende Themen sehr nahe gerückt sind; zunächst und vor allem der Krieg. Die Zahl der Kriege hat sich vermehrt. Heute werden weltweit 44 Kriege geführt. Und der Krieg, in dem Frauen immer wieder Opfer von brutalen, gezielten Vergeltungsmaßnahmen werden, ist nach Europa zurückgekehrt. Die Bilder von den Frauen, die in Vergewaltigungslagern im ehemaligen Jugoslawien waren, sind uns allen noch vor Augen.
Eine Konsequenz daraus für uns ist, daß endlich geschlechtsspezifische Verfolgung als Flucht- und Asylgrund anerkannt wird.
Auch wenn die Töchter vielleicht den Zorn ihrer Mütter über bestimmte Themen heute nicht mehr nachvollziehen mögen, so sehen sie doch wahrhaft kein neues, vielversprechendes Zeitalter heraufziehen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und wird es bleiben. Im Februar waren in Deutschland 1,8 Millionen Frauen arbeitslos gemeldet. Das ist fast die hälfte aller als erwerbslos gemeldeten Personen.
Die Frauenerwerbslosenquote liegt für das gesamte Bundesgebiet bei 11,8 %, in den neuen Bundesländern bei fast 20 %. Damit ist sie dort fast doppelt so hoch wie die der Männer, und das bei einem zunehmenden unfreiwilligen Rückzug der Frauen aus dem Erwerbsleben. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, Frau Nolte, wenn Sie in einer Presseerklärung zum 8. März Handlungsbedarf bei der Gleichberechtigung im Erwerbsleben und bei der eigenständigen sozialen Sicherung von Frauen feststellen.
Diese Worte und diesen Handlungsbedarf kennen wir und Sie schon lange. Sie sind Mitglied der Regierung, und wir wollen nicht darauf verwiesen werden, daß die Bundesregierung mit ihren Veräumnissen
Rita Grießhaber
weltweit nicht allein dasteht und es woanders noch schlimmer ist, sondern wir wollen endlich hören, was Sie zu tun gedenken, um diesem Handlungsbedarf nachzukommen.
Wir wollen auch nicht das berühmte Schwarzer-Peter-Spiel: Sind die Länder schuldig, ist die Bundesregierung schuldig? Die Frauen in diesem Land wollen von Bundesregierung und Bundesländern die Taten sehen: Gleichstellungskonzepte auf der Grundlage von Vollzeitarbeitsplätzen für alle haben ihre Plausibilität längst verloren und eingebüßt.
Zwar sind mittlerweile die verschiedensten Modelle von Arbeitszeitverkürzung bis ins Lager ihrer früheren Kritiker konsensfähig geworden; unter dem Gesichtspunkt feministischer Reformanliegen reicht das aber nicht. Zwei Bedingungen sind hierfür mehr denn je erforderlich und längst noch nicht erfüllt: Es geht erstens um eine wirkliche Umverteilung von Aufgaben, Pflichten und materiellen Ressourcen zwischen den Geschlechtern und zweitens um eine neue gesellschaftliche Bewertung von bezahlter und unbezahlter Arbeit und eine Diskussion über die Frage, wie wir in Zukunft eigentlich leben wollen. Wir verbrauchen doch nicht nur die ökologischen, sondern auch die sozialen Ressourcen in unverantwortlicher Weise auf Kosten der Frauen in dieser Gesellschaft.
Politisch haben sich Frauen Macht angeeignet und dabei ihr Verhältnis zu selbiger erfreulich verändert. Sie sind im System der Macht stärker repräsentiert, ihr Umgang mit ihm ist professionalisiert. Trotzdem werden sie weiterhin von umfassender gesellschaftspolitischer Gestaltung ausgeschlossen.
Männer wehren sich heftig gegen eine 50 %-Quote für Frauen in allen Bereichen, weil sie sich weiterhin das Recht vorbehalten wollen, den Rahmen des Ganzen - die grundlegenden Spielregeln - zu bestimmen. Kontrolle, Definitions- und Herrschaftsmacht über das Allgemeine - Nation, Werte, Polizei, Außenpolitik, Technik, Arbeitsmarktpolitik und Körper, wie es der § 218 StGB zeigt - sollen ihr Monopol bleiben. Hier knüpft der Antrag an, den wir heute einbringen.
Zur Zeit tagt, wie Sie wissen, in Kopenhagen der Weltsozialgipfel. Von 118 dort angemeldeten Staats- und Regierungschefs sind 113 Männer; Männer, die über gleiche Rechte, gleichen Lohn und gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung und Bildung für Frauen und Mädchen entscheiden sollen. Zwar gibt der bisher einzige Punkt der Abschlußdeklaration, auf den sich die Teilnehmer von Kopenhagen einigen konnten, etwas Anlaß zur Hoffnung, allerdings auch zur Befürchtung, daß es wieder einmal bei schönen Worten bleiben wird, und die kennen Frauen zur Genüge.
In der Abschlußerklärung heißt es:
Wir verpflichten uns, Gleichberechtigung und
Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern zu
erreichen sowie die Beteiligung und Führungsrollen von Frauen im politischen, zivilen und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben anzuerkennen und voranzutreiben.
Um nicht bei solchen Erklärungen stehenzubleiben, stellt die Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heute den Antrag, eine Änderung des Parteiengesetzes herbeizuführen. Wir wollen sicherstellen, daß die Frauen in der nächsten Legislaturperiode wirklich mit gleichen Chancen und gleichberechtigt durch die Parteien als Bewerberinnen für Mandate aufgestellt werden. Das muß natürlich auch für die Länder und die kommunale Ebene gelten und darf auch vor den obersten Gerichten, insbesondere dem Bundesverfassungsgericht, nicht haltmachen.
Es ist ja unbestritten, daß wir alle die Gleichberechtigung von Frauen und Männern erreichen wollen. Aber entscheidende Fortschritte wird es nur geben, wenn Frauen in die Entscheidungsfindung auf allen Gesellschaftsebenen einbezogen werden. Formale Chancengleichheit allein reicht nicht automatisch, um eine angemessene Vertretung von Frauen auf allen Ebenen zu sichern. Tiefverwurzelte institutionelle und kulturelle Hemmnisse müssen auch mit Hilfe von Gesetzen ausgeräumt werden.
Meine Damen und Herren, die Demokratie lebt von den Teilhabemöglichkeiten ihrer Bürgerinnen und Bürger. Sie braucht das Engagement möglichst vieler, um lebendig zu sein. Ochsentour und Platzhirschrituale haben nicht alle Frauen abgeschreckt. Aber sie haben für viele die traditionellen Parteien nicht sonderlich attraktiv gemacht. Das muß nicht so bleiben. Lassen Sie uns heute einen weiteren Schritt machen, weg von Malvidas Versteck in der Paulskirchen-Kanzel! Ermöglichen wir die Hälfte der Plätze für die Frauen in diesem Hause!
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, es ist doch ein paar Bemerkungen wert, daß wir heute überhaupt zum erstenmal im Deutschen Bundestag im Rahmen einer Debatte zum Internationalen Frauentag sprechen.
Im alten Westen, wenn ich das noch einmal so nennen darf, schütteln sich ja viele, wenn man ehrlich ist, und sie betrachten das Ganze als ein sozialistisches Relikt. Tatsächlich hat in der früheren DDR der 8. März für Frauen eine große Rolle gespielt. Die Frauen haben ihn begangen, und sie haben ihn nach meiner Meinung auch recht fröhlich begangen, sie haben ihn nämlich gefeiert. Ich finde, das sollten wir
Cornelia Schmalz-Jacobsen
uns vergegenwärtigen, bevor hier schnelle Urteile gefällt oder Vorurteile weiter gepflegt werden.
Rücksicht auf andere Erfahrungen sollten wir nehmen und in unsere gemeinsame Arbeit mit einbeziehen. Das tun wir heute.
Eines zeigen die Frauentage - es ist heute wohl der 84., wenn ich richtig rechne - und ihre Themen durch die Jahre hindurch überdeutlich, nämlich wie mühsam es ist, den Rechten der Frauen zum Durchbruch zu verhelfen. Meine Damen und Herren, wer die Beschäftigung mit diesen Fragen als Lieblingshobby verbohrter Feministinnen betrachtet, der ist schlicht auf dem falschen Dampfer
oder, etwas härter gesagt, der muß sich vorwerfen lassen, borniert und auch nur sehr bedingt zukunftsorientiert zu sein.
Was tun eigentlich Eltern, deren Kinder einen Kindergartenplatz hatten, dann, wenn ihre Kinder in die Schule kommen und man niemals weiß, ob der Sprößling jetzt um 11 Uhr oder um 12.30 Uhr vor der Tür steht, wenn in Wirklichkeit das Schulende für 13 Uhr angesagt war? Ich finde es ungeheuerlich, daß die Schule heute bei dem Halbtagsunterricht nicht die Verantwortung für die Schulkinder übernimmt, sondern daß nach wie vor Mütter stillschweigend als verfügbare Feuerwehr in Anspruch genommen werden.
Ich sage es noch einmal. Ich trete hier nicht nur für eine Verantwortung der Schulen ein, wenn sie als Halbtagsschulen organisiert sind. Vielmehr bin ich für eine vernünftige ganztägige Schule, und zwar auch im Sinne einer pädagogischen Förderung. Als
Cornelia Schmalz-Jacobsen
es die ersten Debatten um die Kindergartenplätze in den 70er Jahren gab, lautete das Schlagwort: Förderung der Kinder. Heute besteht die Gefahr, daß das Ganze nur noch unter dem Gesichtspunkt der Bewegungsfreiheit der Eltern gesehen wird. Beides muß berücksichtigt werden; sonst macht es keinen Sinn.
Meine Damen und Herren, an diesem Tag richtet sich unser Blick auch auf die Frauen und Mädchen in den armen Regionen unserer Welt. Die internationale Bilanz ist hier bedrückend; die Benachteiligungen sind eklatant. Nur ganz allmählich nimmt sich die Entwicklungshilfe gezielt der Förderung von Frauen an. Langsam beginnt man in den Industriestaaten zu begreifen, daß diese Förderung kein Selbstzweck ist. Nur die Verbesserung der Bildungschancen von Frauen und die Aussicht auf ein Mindestmaß an Gleichberechtigung bieten überhaupt die Aussicht, etwas gegen das Bevölkerungswachstum und damit gegen die fortschreitende Verelendung auszurichten.
Die Situation der Zuwanderinnen, die heute in unserem Land leben, wäre eine eigene Debatte wert. Ich möchte mich hier aber auf einen einzigen Punkt beschränken, der im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen steht. Es geht dabei um das eigenständige Aufenthaltsrecht von ausländischen Ehepartnern; fast ausschließlich betrifft es Ehefrauen. Ich möchte allerdings dem Eindruck entgegentreten, daß binationale Ehen etwa besonders gefährdet wären; das ist überhaupt nicht der Fall. Das Gegenteil ist der Fall. Es geht hier um einen Teil der binationalen Ehen, nämlich um die, bei denen Gewalt im Spiel ist. Da reicht dann eben die dreijährige Mindestaufenthaltszeit als Härtefallregelung einfach nicht aus.
Wenn eine ausländische Frau vor der Gewalt ihres deutschen Ehemanns flieht und woanders Zuflucht sucht, z. B. im Frauenhaus, so gilt diese Zeit in aller Regel nicht als Ehebestandszeit. Beantragt der Mann die Scheidung vor der Dreijahresfrist, so erlischt das Aufenthaltsrecht der Frau; wenn sie die Scheidung beantragt, ebenso. Für den Rücktransport sorgen notfalls unsere Behörden und der Steuerzahler. Das ist kein Zustand. Mehr Humanität und mehr Einzelfallgerechtigkeit sind hier dringend erforderlich.
Ich habe mit Interesse Ihre Worte, Frau Kollegin Süssmuth, gehört. Ich schöpfe eine gewisse Hoffnung daraus, daß Sie in Ihrer Fraktion für die Herabsetzung der Dreijahresfrist werben.
Denn auch in diesem Bereich ist Solidarität angezeigt. So, wie es bisher gegangen ist, sollten wir es nach unseren eigenen Vorstellungen von Humanität, Mitmenschlichkeit und Solidarität nicht weitergehen lassen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man sich die Situation im internationalen Maßstab anguckt, so stellt man fest, daß ein besonderer Brennpunkt die Situation in Bosnien-Herzegowina ist. Es gibt einen Aufruf von Frauen in Bosnien-Herzegowina an die Frauen der Welt, den ich Ihnen hier zur Kenntnis geben will. Es geht darum, am 22./23. März einen Konvoi nach Bihac auf den Weg zu bringen. Ich möchte die Frauen in den Parteien, die hier im Bundestag vertreten sind, auffordern, diese Aktion nach Kräften zu unterstützen.
Jetzt will ich auf die Situation in der Bundesrepublik Deutschland eingehen. Denn es liegt in unserer Hand als Parlamentarierinnen und Parlamentarier, an dieser Situation etwas zu verändern. Ich muß sagen: Ich wundere mich schon, wenn auf der einen Seite Frau Professor Süssmuth für kritische Passagen, die die Situation von Frauen in unserem Land beschreiben, Beifall bekommt, insbesondere auch von der konservativen Seite dieses Hauses. Wenn es aber auf der anderen Seite darum geht, mit konkreten Gesetzesinitiativen und mit konkreten Anträgen an dieser Situation tatsächlich etwas zu ändern, dann ist der Widerstand gerade auf konservativer Seite beinhart.
International von besonderem Interesse sind die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die Situation der Frauen in den neuen Bundesländern.
Das ist wahr, das ist tatsächlich wahr. Allerdings kann man nur hoffen, daß sich die Teilnehmerinnen der Weltfrauenkonferenz ihr Bild über die Folgen der deutsch-deutschen Vereinigung für die Frauen aus der DDR nicht an Hand des Berichts der Bundesregierung machen.
Ich halte diesen Bericht an die Weltfrauenkonferenz gerade in diesem Punkt für eine bewußte Falschinformation der UNO und auch der Frauen dieser Welt.
Kern des Berichts ist die Aussage, daß die Wiedervereinigung Deutschlands - ich zitiere -
zur Weiterentwicklung der Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern beigetragen hat.
An anderer Stelle des Berichts heißt es:
Seit. 1985 traten zahlreiche Gesetze bzw. Gesetzesänderungen in Kraft, die die Rechtsposition
Christina Schenk
von Frauen in einzelnen Lebensbereichen verbessern bzw. die tatsächliche Gleichberechtigung von Mann und Frau befördern.
Da möchte ich von der Bundesregierung wissen, was denn der Maßstab dafür war. Die gesetzlichen Regelungen, die es für Frauen in der DDR gegeben hat, doch ganz sicher nicht. Denn dann hätte eine eindeutige Negativbilanz für Ostfrauen auf rechtlichem Gebiet formuliert werden müssen.
Ich denke an die Wiedereinführung des § 218 oder an die Tatsache, daß in der DDR Frauen während ihrer Freistellung nach der Geburt ihrer Kinder nicht nur ein Almosen zugebilligt wurde, sondern daß sich ihr finanzieller Anspruch aus ihrem bisherigen Einkommen errechnete.
Die adäquatere Berücksichtigung weiblicher Biographien in der Ausgestaltung des Rentenrechts ließe sich hier ebenso erwähnen wie der umfangreiche Kündigungsschutz für Mütter, ein - wie den Medien in den letzten Tagen zu entnehmen gewesen ist - höchst aktuelles Thema.
In dem Bestreben, sich selbst und der Weltöffentlichkeit eine Positivbilanz vorzulegen, wird ausgelassen, weggelassen, uminterpretiert. Um sich selbst zu lobpreisen, verweist der Regierungsbericht lediglich auf das in der vergangenen Legislaturperiode verabschiedete Gleichberechtigungsgesetz hin, von dem ich hier schon mehrfach gesagt habe: Das ist das Papier nicht wert, auf dem es steht.
Diese Politik des Schönredens - auch das muß ich ganz klar sagen - ist mir äußerst vertraut. Auch in der DDR wurde von Parteitag zu Parteitag, von Fünfjahrplan zu Fünfjahrplan alles besser, größer, schöner, mit dem Effekt, daß Parteiführung und Regierung es langsam selber geglaubt haben und das Handeln zum Abbau der Mißstände vergaßen. Das Ergebnis ist bekannt.
Wie sehr sich die rechtliche und insgesamt die Lebenssituation von Frauen in den ostdeutschen Bundesländern infolge der Wiedervereinigung verändert hat, zeigt der drastische Geburtenrückgang im Osten. Diese Tatsache liest sich dann im Bericht der Bundesregierung an die Weltfrauenkonferenz so - ich zitiere -:
In den alten Bundesländern ... ist die Zahl der Geburten seit Mitte der 80er Jahre kontinuierlich angestiegen, in den neuen Bundesländern hat der seit Beginn der 80er Jahre einsetzende Trend sinkender Geburtenzahlen angehalten.
Hier findet also in der Lesart der Bundesregierung Kontinuität statt und nicht etwa ein Prozeß, der in Ausmaß und Schnelligkeit ohne Beispiel in der deutschen Geschichte - wahrscheinlich in der Menschheitsgeschichte - ist. Immerhin hat sich die Zahl der jährlichen Geburten seit dem Beitritt der DDR um etwa die Hälfte reduziert.
Der Bruch, der durch die Art und Weise, wie die deutsche Einheit vollzogen wurde, in den individuellen Lebensverhältnissen der überwiegenden Zahl der Ostfrauen eintrat, hat u. a. dazu geführt, daß Frauen heute für sich nur dann eine Chance sehen, wenn sie auf ihren Kinderwunsch verzichten.
Zu der hohen Frauenerwerbslosigkeit im Osten heißt es in dem Bericht schlicht - ich zitiere wiederum -:
In den neuen Bundesländern sind Frauen im Zuge der wirtschaftlichen Neustrukturierung und der Anpassung an die soziale Marktwirtschaft in besonderem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen.
Also wieder kein Grund zur Beunruhigung! Es wird suggeriert, daß die doppelt so hohe Erwerbslosenquote von Frauen nur ein Problem der Anpassung an wirtschaftliche Prozesse darstellt, also kein besonderer I Iandlungsbedarf besteht.
Noch ein Zitat: Herr Milbradt, seines Zeichens Sachsens Finanzminister und Mitglied der CDU, befand erst kürzlich in der „Lausitzer Rundschau", daß an der hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern weniger der Zusammenbruch der vorhandenen Industriestrukturen schuld ist, sondern „die überdurchschnittliche Erwerbsneigung der weiblichen Bevölkerung". Ich meine, eins muß man dem Herrn lassen: Er spricht wenigstens Klartext.
Nein, es geht hier eben nicht um allgemeine wirtschaftliche Anpassungsprozesse, sondern es geht um das Frauenbild, es geht um die Vorstellung, daß die eigentliche Befähigung von Frauen doch eher im Bereich der Hausarbeit und der Kindererziehung und nicht in dem der Erwerbsarbeit liegt.
Jedenfalls läßt die praktische Politik der Bundesregierung genau diesen Ansatz vermuten. Sie zielt doch genau darauf ab, den Arbeitsmarkt vor allem dadurch zu entlasten, daß Frauen als Putzfrauen oder Teilzeitbeschäftigte den Männern weiterhin den Vortritt lassen, wenn es um die Verteilung der qualifizierten, gutbezahlten, karrierefördernden Arbeitsplätze geht.
Die Konsequenzen dieser Politik sind bekannt: Für einen Erwerbsarbeitsplatz nehmen Frauen in den ostdeutschen Bundesländern gravierende Status-und Einkommensverluste und auch eine schlechtere Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Berufstätigkeit in Kauf.
Frauen lösen heute das Vereinbarkeitsdilemma, indem sie sich an extensive männliche Erwerbsmuster anpassen. - Das ist genau das, was Frau Süssmuth vorhin kritisiert hat. - Sie mobilisieren alle verfügbaren Ressourcen, um für sich individuell die Kinderbetreuung zu sichern.
Nur dort, wo die Folgen von Erwerbslosigkeit so drastisch sichtbar werden wie im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, deutet die Bundesregierung Handlungsbereitschaft an. Das diesbezüglich beschlossene Programm ist jedoch ein Tropfen auf den
Christina Schenk
heißen Stein. Vor allem bleibt doch die Frage offen: Wo bleibt die Quotierung der zur Verfügung stehenden Mittel entsprechend dem Anteil von Frauen und Männern an den Langzeitarbeitslosen?
Wenn diese Bundesregierung in Sachen Arbeitsmarktpolitik überhaupt etwas tut, dann ist es lediglich Nachsorge. Es gibt keinerlei Versuche, entsprechend den durchaus vorhersehbaren Entwicklungen des Arbeitsmarktes - in Berlin ist erst vor kurzem eine Studie dazu veröffentlicht worden - und den entsprechenden Tendenzen der Frauenerwerbsarbeit Maßnahmen zu entwickeln, die die Arbeitsmarktchancen von Frauen langfristig verbessern.
In dem Bericht der Bundesregierung an die Weltfrauenkonferenz findet sich im Abschnitt „Schwerpunkte der zukünftigen Gleichberechtigungspolitik" als Aufgabe, daß „das Gesellschaftsmodell zwischen Frauen und Männern erneuert werden muß". Was das heißt und wie das passieren soll, wird nicht gesagt; ganz sicher nicht nur aus Platzgründen, sondern vor allen Dingen deshalb, weil die Bundesregierung nichts vorzuweisen hat, was die Chancengleichheit von Frauen im Erwerbsarbeitsbereich tatsächlich wirksam erhöhen könnte.
Wo bleiben denn die Initiativen der Bundesregierung zur Qualifizierung der Frauen in zukunftsträchtigen Berufsfeldern? Wo ergreift die Bundesregierung die Initiative für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung? Wo sind Maßnahmen, um die Chancen für Frauen zu verbessern, entsprechend ihrer Qualifikation und ihrer Berufserfahrung Aufstiegschancen zu erhalten? Wo sind die Initiativen, damit Männer endlich ihren Anteil an der unbezahlten Arbeit übernehmen?
Damit die Erfahrungen der deutsch-deutschen Vereinigung auf der Weltfrauenkonferenz adäquat widergespiegelt werden, fordern wir, die PDS, daß die offizielle Delegation der Bundesregierung zur Weltfrauenkonferenz quotiert wird, und zwar nach Ost und West. Weiterhin fordern wir, daß die Berichte der Arbeitsgruppen auf der Konferenz von den Vertreterinnen der offiziellen Delegation der Bundesrepublik ebenso wie der Bericht der Bundesregierung vorgestellt und verbreitet werden.
Denn während Frau Merkel diese Berichte noch für geeignet hielt, das Ansehen der Bundesrepublik zu schädigen, rechtfertigte Frau Nolte die separate Veröffentlichung dieser Berichte mit dem Argument, daß sie viel zu gut seien, um nur als Anhang im of fiziellen Bericht zu erscheinen. Ich kann Frau Nolte nur auffordern: Lassen Sie diesen Worten Taten folgen! Drucken Sie diese schönen Worte nicht nur, sondern machen Sie sich die Forderungen, die sich daraus ergeben, zu eigen, machen Sie sie endlich zum Inhalt Ihrer Politik! Der Entschließungsantrag der PDS benennt die wichtigsten Punkte noch einmal. Vielleicht, Frau Nolte, würde es Ihnen helfen, wenn Sie sich ihn über Ihren Schreibtisch hängten.
Das Wort zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag hat die Kollegin Ingrid Holzhüter.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe wenige Männer, die ich besonders begrüßen möchte! Soweit ich das überblicken kann, sitzt kein einziges Mitglied der Regierung auf der Regierungsbank.
- Das sind Staatssekretäre, aber keine Ministerinnen und Minister. Ich denke, da fehlt bei manchem die nötige Leidenschaft, die Ziele bei denen anzufordern, die sie letztendlich politisch zu verantworten haben.
Die Minister sind gewählt, die Ministerinnen sind gewählt, die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre sind ernannt. Ich denke, daß die unterschiedliche Anwesenheit auch Unterschiede in der Bewertung des Themas hier im Hause zum Ausdruck bringt.
Wir haben ja schon einmal Herrn Kanther zurückholen müssen. Ich verkneife es mir, hier dieses Ansinnen an die gesamte Regierungsriege zu richten. Ich meine, ich sollte das sagen, was ich sagen will.
In den vorangegangenen Redebeiträgen hier im Hohen Hause ist mir deutlich vor Augen geführt worden, daß auch 1995 der Internationale Frauentag in Deutschland kein Tag zum Feiern ist, sondern zum Protestieren,
wie im übrigen aus den Entschließungsanträgen aller Parteien hervorgeht, die darüber hinaus im wesentlichen von Männern unterzeichnet wurden.
Leider haben die bundesweiten Frauenstreik- und -protestaktionen vor einem Jahr nicht den Erfolg gebracht, den deutsche Frauen sich auf Grund von Erfahrungen mit Frauenstreiks in anderen Ländern erhofft hatten. Als Neuling im Deutschen Bundestag kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, auch wenn dies der erste Tag ist, an dem dieses Thema hier besprochen wird, daß anläßlich des Internationalen Frauentages Pflichtveranstaltungen stattfinden mit Hinweisen auf die immer noch nicht verwirklichte Gleichstellung von Frau und Mann. Das führt hier und anderswo, namentlich aber auch von seiten der Regierung, alle Jahre wieder nur zu Lippenbekenntnissen.
Einmal im Jahr werden bestehende Benachteiligungen von Frauen beklagt, um dann wieder 364 Tage wenig kreativ zu sein. Anders lassen sich die kümmerlichen frauenpolitischen Initiativen von CDU/CSU und F.D.P. nicht erklären. Was also ist die
Ingrid Holzhüter
Kernfrage, Frau Schmalz-Jacobsen, die Sie von uns anmahnen? Sie und die Regierung hätten die Möglichkeit, diese Kernfrage zu stellen und auch zu beantworten. -
Andernfalls läuft diese Debatte Gefahr, zur Alibiveranstaltung zu werden. Davon haben die Frauen bereits mehr als genug.
Mein Redebeitrag konzentriert sich auf die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West. Auch das ist ein zentrales Thema für den Internationalen Frauentag; denn die besagte Angleichung hat - wenn überhaupt - bisher nur unter negativen Vorzeichen stattgefunden.
Viel wurde in den Jahren seit 1989 von einem dramatischen frauenpolitischen Rollback geredet. Ich denke, diese Beschreibung ist nicht übertrieben. Als Berlinerin weiß ich das aus eigener Anschauung. Denn bis zum Herbst vergangenen Jahres habe ich in Ausübung meines Mandats als frauenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin tagtäglich mit Frauen aus Ost und West zu tun gehabt, die Berlin als Brennpunkt der Unterschiede mit allen für sie nachteiligen Auswirkungen am eigenen Leibe erfahren haben. Mir wurde sehr deutlich vor Augen geführt, daß man den Menschen in den neuen Ländern, Männern wie Frauen, nicht 40 Jahre ihrer Biographie stehlen darf, indem man alles, was geschehen ist, per se als schlecht und minderwertig definiert.
Es gibt unzählige Frauen, die arbeitslos sind, obwohl sie über umfangreiche Ausbildungen, Zusatzqualifikationen und Universitätsabschlüsse verfügen. Aber all diese Abschlüsse haben einen entscheidenden „Nachteil": Sie wurden in der ehemaligen DDR erworben. Meine Damen und Herren, Hand aufs Herz! Ich frage Sie, ob das wirklich alles untaugliche Qualifikationen aus dem „Tal der Ahnungslosen" sind. Warum ist es so schwierig, z. B. die Berufsausbildung von Frauen im Gesundheitswesen anzuerkennen? Können wir uns die massenhafte Vergeudung von gut ausgebildeten Arbeitskräften wirklich leisten?
Vielen dieser Frauen wird vom Arbeitsamt ernsthaft die „Perspektive" eröffnet, sie sollten sich als ungelernte Aushilfskräfte verdingen. Oder ihnen wird gesagt, sie müßten sich erst einmal in einen frauentypischeren Beruf umschulen lassen. In ähnlicher Weise werden offenkundig auch Mädchen bei der Auswahl ihrer Berufsausbildung „beraten".
Mir ist in Gesprächen mit Berlinerinnen sehr schnell der Gedanke gekommen, einmal zu fragen: Wo sind denn all die Kranführerinnen und die anderen gestandenen Frauen in sogenannten Männerberufen abgeblieben, die es in der DDR ja in großer Zahl gegeben hat? Sieht so etwa die von Herrn Blüm angestrebte Angleichung der Lebensverhältnisse auf Westniveau aus? Oder ist damit gar die Angleichung der Frauenerwerbsquote gemeint, frei nach der Devise: zurück zu Heim und Herd bzw. zur stillen Reserve, weil sich das in den Statistiken immer so gut macht?
Sagen wir doch einmal ehrlich, wie es ist: Es wird den im Stich gelassenen Frauen als Arbeitsmarktinitiative z. B. das sogenannte Dienstmädchenprivileg in Aussicht gestellt.
Wo sind die anderen Initiativen? - Fehlanzeige!
- Natürlich, beschäftigt, klar: Die Männer machen Karriere, und die Frauen sind beschäftigt. Dann können sie nicht soviel meckern.
Das war schon in der Wilhelminischen Zeit eine Möglichkeit: Wenn eine Frau da aufmuckte, dann wurde dem Mann anempfohlen, ihr ein Kind zu machen, damit sie eine Beschäftigung hat. Das können wir heute ja auch einmal wieder anbieten.
Trotz aller angesprochenen Widrigkeiten bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz ist der Wunsch der Ost-Frauen, wieder berufstätig zu sein, unvermindert hoch. Sie machen bei Vorstellungsgesprächen aber die Erfahrung, daß Arbeitgeber es als ein untragbar hohes Risiko betrachten, sich für eine Bewerberin zu entscheiden, die Kinder hat oder noch gebärfähig ist. Wie Sie alle in verschiedenen Publikationen immer wieder nachlesen können, hat dies ein starkes Ansteigen der Sterilisationen sowie einen starken Geburtenrückgang zur Folge gehabt. Diese Entwicklung hält unvermindert an.
Der jüngst bekanntgewordene Erziehungsurlaubsskandal hat zutage gefördert, daß annähernd jede zweite Frau in den neuen Ländern, die ihren Anspruch auf Erziehungsurlaub geltend macht, ihren Arbeitsplatz verliert. Wo bleiben angesichts all dessen die Angebote, die Frauen ihre Entscheidung für ein Kind erleichtern sollen? Bestehende Betreuungseinrichtungen müssen mangels Kindern schließen. Für Kinder und Jugendliche außerhalb der Lebensjahre drei bis sechs fehlen Einrichtungen, Einrichtungen, ohne die Frauen nicht ohne schlechtes Gewissen erwerbstätig sein können. - Frau Schmalz-Jacobsen hat hier dankenswerterweise zu diesem Thema schon etwas gesagt.
Mein Fazit: In Ost und West ist von einer frauen-
und kinderfreundlichen Gesellschaft keine Spur. Der Silberstreifen am Horizont, der in der frauenpoliti-
Ingrid Holzhüter
schen Wüste Hoffnung geben soll, heißt laut offiziellem deutschem Statement für die im kommenden Herbst stattfindende Pekinger Frauenkonferenz: politische Teilhabe der Frauen im Jahre 2005.
Spätestens in zehn Jahren also ist garantiert, daß Politik auch Fraueninteressen häufiger als einmal pro Jahr in den Blickwinkel rückt. Ob die Geduld der Frauen so lange reicht?
Frau Süssmuth hat heute früh gesagt, die Frauen müßten wieder den Druck der Straße mobilisieren. Recht hat sie. Nur die Ungeduld der Frauen bricht die Macht der Männer. Eine kluge Frau hat einmal gesagt: Wir haben die Gleichberechtigung erst dann erreicht, wenn es überall so viele mittelmäßige Frauen wie Männer gibt. Recht hat sie.
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede, liebe Kollegin! Es ist schön, wenn man sie in der Frauendebatte halten darf.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleichberechtigung, insbesondere im Erwerbsleben, haben wir Frauen noch längst nicht erreicht. Immer wieder stehen wir vor schwierigen Entscheidungen, werden uns Steine in den Weg gelegt.
Schauen wir uns die Situation einer jungen Frau von heute an! Sie studiert, macht einen für Frauen ungewöhnlichen Abschluß, lernt Elektroingenieurin. Die ersten Schwierigkeiten liegen bereits darin, dieses Studium gegenüber ihren Eltern durchzusetzen, weil es „kein Beruf für Frauen" ist. Nach dem Studium unter Männern macht sie zum Neid vieler Kommilitonen einen sehr guten Abschluß und bewirbt sich bei verschiedenen Firmen, wo sie sich in einer Sonderrolle befindet: Bisher haben sich nur männliche Ingenieure beworben.
Diese Frau gehört zu den weiblichen Studierenden, deren Zahl an deutschen Universitäten erfreulicherweise ständig zugenommen hat. Sie gehört zu der steigenden Zahl von Frauen, für die die Berufsausübung selbstverständlich mit einem eigenen Lebenswert und mit Freude verbunden ist. Diese jungen Frauen sehen Erwerbstätigkeit als Grundlage für Selbständigkeit und materielle Eigenständigkeit.
Leider sind wir heute jedoch weit davon entfernt, daß Frauen im Beruf die gleichen Chancen haben wie ihre männlichen Kollegen. Dies liegt bestimmt nicht an der Qualifikation. In meinem Beispiel wird
die junge Ingenieurin von ihren Kollegen akzeptiert. Beim beruflichen Aufstieg gibt es aber häufig Barrieren. Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt verschlechtern sich vor allem dann, wenn die Verpflichtungen und die Mehrbelastungen als Mutter hinzukommen. Denn in den meisten Familien bleibt die traditionelle Rollenverpflichtung der Familienarbeit bestehen. Das Berufsleben hingegen orientiert sich überwiegend an den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die vollzeiterwerbstätig sind, Überstunden machen und ständig einsetzbar sind.
Diese Diskrepanz müssen wir überwinden. Die Familienaufgaben dürfen nicht allein auf den Schultern der Frauen liegen. Für eine verantwortlich gelebte Partnerschaft ist es selbstverständlich, daß sich die Männer an der Kindererziehung und der Hausarbeit beteiligen. Zudem müssen wir es Frauen und Männern ermöglichen, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Wir müssen ihnen Wahlmöglichkeiten geben, wegen der Kindererziehung eine Zeitlang aus dem Berufsleben auszuscheiden.
Mit den bisher umgesetzten Maßnahmen zur Vereinbarkeit sind wir auf dem richtigen Wege. Ich greife nur den Ausbau des Erziehungsurlaubs heraus. Dieser Ausbau hat übrigens, Frau Kollegin Holzhüter, auch bewirkt, daß während dieser drei Jahre für die Frau oder auch für den Mann ein Recht zur Rückkehr an den Arbeitsplatz besteht. Ich denke, das ist für die Rückkehr in den Beruf ganz wichtig. Es ist natürlich auch nicht ganz unproblematisch; darauf komme ich noch zu sprechen. - Weiter können wir auf die Erhöhung der Freistellungstage im Krankheitsfall des Kindes und wichtige Maßnahmen im Arbeitsförderungsgesetz verweisen.
Ein weiterer Ausbau der Infrastruktur familienunterstützender Maßnahmen ist jedoch erforderlich. Das heißt, der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für Kinder ab drei Jahren muß realisiert werden. Versäumnisse aus der Vergangenheit dürfen nicht in die Zukunft verschoben werden.
Wir dürfen allerdings die Kinderbetreuung nicht allein auf den Bereich des Kindergartens beschränken. Neue Ideen sind notwendig. Ich erinnere nur an den Beruf der Tagesmutter oder auch des Tagesvaters, der weiter aufgewertet werden muß.
Wir brauchen in diesem Bereich eine unbürokratische Organisation, um auch für kurze Zeiten Betreuungspersonen abrufen zu können. Ganz wichtig ist mir auch, die Betreuung der Kinder in den Schulen so zu organisieren, daß ihre Freistunden nicht zu einem Problem der berufstätigen Eltern werden.
Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld sind für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz wichtig; das haben wir heute schon mehrmals festgestellt. Deswegen wollen wir das Erziehungsgeld ausbauen, insbesondere die Einkommensgrenzen anheben, damit, wie bei der Einführung im Jahre 1986, ein hoher Prozentsatz der Familien wieder das volle Erziehungsgeld erhält.
Maria Eichhorn
Erziehungsurlaub darf für Väter kein Tabu bleiben. Ich appelliere heute an die Väter, sich endlich die Freiheit zu nehmen, auch wirklich Väter zu sein.
Allein die Möglichkeit, Erziehungsurlaub zu nehmen, löst aber nicht immer die Probleme. Ich komme zurück auf mein Beispiel: Nach sechs Jahren Unternehmenszugehörigkeit möchte diese Ingenieurin Erziehungsurlaub nehmen. Ihr Arbeitgeber macht ihr aber unmißverständlich deutlich, daß sie nach drei Jahren Abwesenheit keine Chance habe, Karriere zu machen. - Diese Diskrepanz zwischen Arbeitswelt und Familie werden wir nur dann überwinden können, wenn auch die Wirtschaft erkennt, daß sie auf die Kenntnisse und Fähigkeiten von Frauen nicht mehr verzichten kann. Es gibt dafür bereits beispielhafte Vorbilder.
Vor kurzem las ich, daß in einem Unternehmen Koordinierungsstellen zur Betreuung von Kindern eingerichtet wurden, um insbesondere Frauen an das Unternehmen zu binden. Auch die Fragen der Wiedereingliederung und Möglichkeiten zur Urlaubsvertretung oder Fortbildung während der Familienphase werden von Unternehmen erfreulicherweise immer mehr aufgegriffen. Das ist der richtige Weg, um berufliche Nachteile wegen Kindererziehung möglichst zu vermeiden.
Nicht nur für Großunternehmen, sondern auch für kleine und mittlere Betriebe müssen immer wieder neue Wege gefunden werden. Mit dem Modellprojekt „Beratungsangebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in kleinen und mittelständischen Betrieben" sind wir auf guten Wegen. Damit ist eine Fortführung der bisherigen Arbeit der zusammengeführten Ministerien erreicht. Den Unternehmen können viele Hilfestellungen an die Hand gegeben werden; leider aber werden diese noch viel zu wenig genutzt. Für alle Unternehmen gilt: Das Angebot an flexibel ausgestalteten, familiengerechten Arbeitszeiten und das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen muß vergrößert werden. Das ist nicht nur eine Forderung der Eltern, die Kinder zu betreuen haben, sondern auch eine Forderung der Familien, die die Pflege von Angehörigen übernehmen. Hier müssen wir im Auge behalten, daß deren Zahl ständig steigen wird.
Die Teilzeitoffensive, die die Bundesregierung in den letzten Jahren gestartet hat, muß fortgeführt werden. Teilzeitbeschäftigung darf jedoch nicht als reine arbeitsmarktpolitische Maßnahme verstanden werden. Sie wird erst dann zu einer familienpolitischen Maßnahme, wenn sie nicht nur in weniger qualifizierten und damit auch geringer entlohnten Arbeitsbereichen eingesetzt wird, sondern auch in Schlüsselfunktionen möglich ist.
Daß dieses erfolgreich laufen kann, hat die bayerische Staatministerin für Arbeit und Soziales in einem Modellprojekt vor einigen Jahren bewiesen, in dem sie Teilzeitkräfte ganz bewußt in Führungspositionen eingesetzt hat.
Nach anfänglicher Skepsis bei manchen Vorsetzten
hat sich sehr schnell gezeigt, daß dies ohne Probleme
sogar in hervorragender Weise möglich ist. Heute ist es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbstverständlich, daß auch Führungsfunktionen aufgeteilt werden können. Viele Unternehmen müssen davon jedoch noch überzeugt werden.
Meine Ingenieurin in dem Beispiel, die nach dem Erziehungsurlaub eine Teilzeitstelle übernehmen wollte, wurde mit einer Äußerung konfrontiert, wie sie heute oft vielfach anzutreffen ist, nämlich: Im Ingenieurbereich geht das nicht; dafür haben wir keine Möglichkeit. Oft ist es erst nach langen Diskussionen möglich, einen Betrieb zu überzeugen, daß auch in diesem Bereich Teilzeitarbeit möglich sein kann.
Meine Damen und Herren, neben der Aufforderung an die Arbeitgeber, Frauenförderung großzuschreiben, appelliere ich an die Frauen selbst, den wirtschaftlichen Strukturwandel, die wachsende Bedeutung des Dienstleistungsgewerbes und die Einführung neuer Technologien zu nutzen. Chancengleichheit hier setzt aber Chancengleichheit in Bildung und Ausbildung voraus. Das bedeutet insbesondere, daß der Anteil von Frauen an attraktiven Berufsausbildungen gerade in den gewerblich-technischen Bereichen, wie mein Beispiel zeigt, deutlich zunehmen muß. Denn ein zentrales Problem in den alten Bundesländern ist es, daß sich Mädchen nach wie vor auf wenige Ausbildungsberufe konzentrieren. Diese sogenannten Mädchenberufe bieten zum Teil nur geringe Aufstiegsmöglichkeiten. In den neuen Bundesländern nutzen sie ihre Chancen in den technischen Berufen weit besser, allerdings ist auch hier die Tendenz zum traditionellen Rollenverständnis gestiegen. Gerade aber hier sollten wir die Chance des Neuaufbaus nutzen, um zu einer breitgefächerten Ausbildungsstruktur zu kommen. Hier sind insbesondere die Lehrerinnen und Lehrer gefordert, die jungen Frauen immer wieder zu vielleicht ungewöhnlichen Schritten zu ermutigen.
Daß Frauen im Erwerbsleben benachteiligt sind, zeigt sich auch an der Arbeitslosigkeit von Frauen, besonders auch in den neuen Bundesländern. Die Situation ist vor allen Dingen dann prekär, wenn es sich um alleinerziehende Mütter handelt. Deswegen müssen wir immer wieder neue Wege der Unterstützung und der Förderung suchen. Wir brauchen neue Instrumentarien und Wege, insbesondere bei der Vermittlung von langzeitarbeitslosen Frauen. Hier gibt es bereits Modellprojekte, bei denen jungen alleinerziehenden Müttern, die bisher keinen beruflichen Abschluß erreicht haben, Qualifikationsmöglichkeiten auf der Basis ihrer ganz persönlichen Interesssen und Fähigkeiten eröffnet werden. Dabei wird nicht nur die besondere Lebenssituation berücksichtigt, sondern auch die Möglichkeit, auf dem regionalen Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden.
Meine Damen und Herren, die Arbeitswelt muß sich der Familienwelt anpassen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung zur Verwirklichung von Chancengleichheit von Frauen im Erwerbsleben. Ein gutes Stück sind wir schon vorangekommen. Die
Maria Eichhorn
Frauen haben sich auf dem Wege der Gleichberechtigung Schritt für Schritt nach vorne gearbeitet. Das gilt für alle Bereiche unserer Gesellschaft. Aber es gibt noch viel zu tun.
Die Verwirklichung der Gleichberechtigung ist nicht alleine eine Frauen-, sie ist auch eine Männerfrage. Wir haben bereits, Gott sei Dank, viele männliche Verbündete.
Ich rufe heute, am 8. März, alle Männer auf - vor allem die Männer, die noch zweifeln -, gemeinsam mit uns selbstbewußt diesen Weg zu gehen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Frauen fühlen uns außerordentlich geehrt, daß die Herren der Schöpfung so absolut einverstanden damit sind, daß es einen Internationalen Frauentag gibt. Wenn die Entwicklung so weitergeht, verwandelt sich der Frauentag irgendwann zu einem zweiten Muttertag: Man macht uns Komplimente, man überreicht uns Blumen, man respektiert uns und bittet uns zum Tanz, wie es auch der Abteilungsleiter in meinem früheren Baubetrieb zu tun pflegte. Wir debattieren aus diesem Anlaß sogar zum erstenmal im Deutschen Bundestag. Es fehlt bloß noch, daß man uns das Frühstück an das Bett bringt. Herzlichen Dank!
Als alleinerziehende Mutter aus Ostdeutschland weiß ich sehr gut, wie schwer es in DDR-Zeiten war, Kindererziehung und Beruf unter einen Hut zu bringen. Das ist seit der Wiedervereinigung nicht leichter, sondern noch schwerer geworden. Und mir als Bundestagsabgeordnete geht es ja sehr viel besser als vielen Frauen aus dem Osten, denen man den Stuhl vor die Tür gesetzt und die Küchenschürze wieder umgebunden hat.
Wenn heute über Gleichstellung und Gleichbehandlung diskutiert wird, muß das vielen Frauen wie der blanke Hohn erscheinen. Mit schöner Regelmäßigkeit weist die Statistik des Arbeitsamtes bei mir zu Hause in Südthüringen aus, daß zwei Drittel aller Arbeitslosen Frauen sind - und das unfreiwillig, Frau Kollegin Eichhorn, denn das haben sie sich nicht gewünscht.
Die neuesten Zahlen aus Nürnberg sind alarmierend: Drei Viertel der derzeit 333 000 Langzeitarbeitslosen in Ostdeutschland sind Frauen. Die ostdeutschen Frauen, für die es vor der Wende selbstverständlich war, arbeiten zu gehen, werden von der Katastrophe auf dem Arbeitsmarkt mit brutaler Wucht getroffen; am schlimmsten gilt das für die Gruppe der Über-50-Jährigen. Ohne Hoffnung und Perspektive, jemals wieder ins Erwerbsleben zurückzukehren, gehören diese Frauen in schlimmster Weise zu den Verliererinnen der Einheit.
Aber auch für die Frauen, die Arbeit haben, sieht es oft nicht gut aus. Weil das Geld vorne und hinten nicht reicht, sehen sich viele Frauen gezwungen, die miesesten und am schlechtesten bezahlten Jobs anzunehmen. Oft sind die Wege zum Arbeitsplatz unerträglich weit. Viele fahren täglich in den Westen, weil es zu Hause keine Chance auf einen Arbeitsplatz gibt.
Die konservativen Ideologen, die uns Frauen sowieso zurück an den Kochtopf verbannen möchten, die von der Erfüllung durch Kindererziehung und vom Glück daheim schwärmen, finden diese verhängnisvolle Entwicklung natürlich völlig in Ordnung. Die liberalen Ideologen in ihrem blindem Vertrauen auf die angeblichen Selbstheilungskräfte des Marktes möchten am liebsten alle staatlichen Maßnahmen im Bereich von Arbeitsbeschaffung verhindern, die den in die Arbeitslosigkeit gefallenen Frauen weiterhelfen könnten.
Und die damalige Frauenministerin Merkel, von der man sich wirklich etwas Besseres gewünscht hätte, half federführend dabei mit, ein sogenanntes Gleichberechtigungsgesetz durch die parlamentarischen Instanzen zu prügeln, das seinen Namen nicht verdient hat.
Denn diese „Gleichberechtigung" beschränkt sich auf die Frauen, die beim Bund arbeiten. Sie machen gerade mal 1 % der erwerbstätigen Frauen aus. Für den gesamten Bereich der Privatwirtschaft ist keine Frauenförderung vorgesehen. Die neue Frauenministerin, Frau Nolte, scheint dieser Linie treu zu bleiben. Anstatt die Arbeitslosigkeit mit kreativen Ideen zu bekämpfen, anstatt Arbeit als das vielleicht wichtigste gesellschaftliche Gut gerecht zu verteilen, verdrängt man die Frauen vom Arbeitsmarkt.
Auch mit den Maßnahmen, die unser Entschließungsantrag vorsieht, kann man die Frauenarbeitslosigkeit selbstverständlich nicht von heute auf morgen beseitigen. Aber man kann so dafür sorgen, daß die Frauen wenigstens gleiche Chancen auf einen Arbeitsplatz haben.
An dieser Gerechtigkeit, an dieser Chancengleichheit haben selbstverständlich all diejenigen kein Interesse, deren Frauenbild im 19. Jahrhundert angesiedelt ist. Das sind fast immer nur Männer. Ich betone: Es sind fast nur Männer. Diese Herren reiben
Iris Gleicke
sich verwundert die Augen, wenn sie feststellen müssen, daß vor allem die ostdeutschen Frauen wütend protestieren, wenn es um den § 218 oder darum geht, daß eine ganztägige Kinderbetreuung erhalten bleibt. Diese Herren haben Schwierigkeiten mit selbstbewußten und modernen Frauen, die sich nicht einfach die Butter vom Brot nehmen lassen. Leider gibt es auch Frauen, die diesem konservativen Geschwätz auf den Leim gehen.
Aber in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit wissen die Frauen, daß die Arbeitsteilung in der modernen Industriegesellschaft eben nicht zwangsläufig darin besteht, daß sich die einen um den Nachwuchs und den Haushalt kümmern und die anderen das Geld nach Hause bringen und Karriere machen. Nein, es geht um die gerechte Verteilung der gesamten Arbeit, also sowohl der Lohnarbeit als auch der Hausarbeit und der Kindererziehung. Es ist völlig in Ordnung, wenn sich Frauen zeitweise oder ganz für Hausarbeit und Kindererziehung entscheiden, aber bitte, das muß ihre freie Entscheidung sein. Statt dessen werden sie auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Das führt auch noch dazu, daß Frauen bei den existenzsichernden Sozialleistungen ins Hintertreffen geraten. Denn unser Rentensystem ist abhängig von der individuellen Erwerbsbiographie: Wer wenig verdient, bekommt wenig Rente. Damit geht die Benachteiligung weiter bis ins Alter.
Um die derzeitige Gleichbehandlung der Frauen in Beruf und Gesellschaft ist es also nicht eben rosig bestellt. Als unverbesserliche Optimistin vertraue ich jedoch darauf, daß die vielen Frauen, die heute noch diskriminiert werden, ihr Schicksal nicht einfach hinnehmen werden.
Ich vertraue darauf, daß sie sich entschieden zur Wehr setzen, und das nicht nur am Internationalen Frauentag, sondern an allen Tagen des Jahres und in allen Bereichen der Gesellschaft. Das wird nicht einfach, denn eine selbstbewußte Frau hat bekanntlich alle dummen Männer zum Feind. Das weiß ich als Frau, das weiß ich als Mutter eines siebenjährigen Sohnes, und das weiß ich auch als Mitglied des Deutschen Bundestages.
Es bleibt dabei: Wir bekommen die Kinder, wenn wir sie bekommen wollen. Wir erziehen diese Kinder, gerne gemeinsam mit den dazugehörigen Vätern, wenn wir sie ebenso lieben wie unsere Kinder und wenn diese Väter das auch wollen; wenn nicht, dann eben nicht. Notfalls bekommen wir das mit der Erziehung auch alleine hin. Das beweisen die vielen alleinerziehenden Mütter Tag für Tag.
Am vielzitierten „kleinen Unterschied" wollen wir Frauen gar nicht rütteln. Wir möchten ihn ja, und wir möchten ihn auch nicht missen. Wir wollen unsere
Freude an ihm haben, und wir wollen ihn auch genießen. Aber es wäre doch zu schön, wenn aus diesem „kleinen Unterschied" endlich ein wirklich kleiner und feiner Unterschied würde.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Bärbel Sothmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bereits Platon, der altgriechische Philosoph, gestand den Frauen gleiche Begabung und gleiche Rechte zu, doch er konnte oder wollte sich mit seiner Ansicht lange Zeit nicht recht durchsetzen. Die Frauen selbst begannen erst Jahrhunderte später, ihre Rechte einzufordern. So verlangten im 17. Jahrhundert gelehrte Frauen - die es, sogar eine ganze Menge, schon damals gab -, „daß gleiches Recht allen zusteht".
Seit 84 Jahren gehen Frauen am 8. März für ihre Rechte auf die Straße. In der DDR wurde dieser Tag leider für ideologische Zwecke mißbraucht. Seit 75 Jahren gibt es in Deutschland das Frauenwahlrecht.
Seit 45 Jahren ist die Gleichberechtigung in unserem Grundgesetz festgeschrieben und im letzten Jahr durch die Änderung des Art. 3 nochmals ausdrücklich bestätigt worden. Sind wir Frauen also endlich am Ziel?
Nach UNICEF-Berichten sind weltweit 81 Millionen Mädchen ohne Bildung und Aufklärung. Zwei Drittel der 960 Millionen Analphabeten sind Frauen. Außerdem sterben jedes Jahr 1,5 Millionen Mädchen, weil Söhne bevorzugt und Mädchen schlechter versorgt werden, von den zahlreichen Abtreibungen weiblicher Föten z. B. in Indien ganz zu schweigen.
Unter dem Mullah-Regime im Iran gibt es für Frauen keine freie Berufswahl, kein Scheidungsrecht, dafür strikte Kleidervorschriften und Geschlechtertrennung in Schulen, Universitäten, Banken, Kinos, Taxis und Bussen. Meine Damen und Herren, diese Apartheid der Geschlechter muß beseitigt werden!
Bei uns in Deutschland hat sich in diesem Jahrhundert dagegen für die Frauen vieles zum Positiven gewendet, zumindest auf dem Papier. In Schule und Ausbildung gibt es kaum noch Probleme für Mädchen und junge Frauen. Trotzdem sind auch in unserer Gesellschaft die Frauen tatsächlich immer noch vielfältigen Benachteiligungen, Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt, besonders dann, wenn sie Kinder haben.
Bärbel Sothmann
Auch bei uns sind Frauen überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen - wir haben heute sehr viel darüber gehört -, denn sie sind die ersten, die in wirtschaftlichen Krisenzeiten entlassen, und die letzten, die wieder eingestellt werden.
Auch bei uns reicht es eben nicht, daß nur auf dem Papier gleiches Recht allen zusteht.
- Wir haben eine ganze Menge gemacht, und wir werden da auch weitermachen. Aber es wäre ganz gut, wenn Sie - insbesondere Sie von der SPD - uns dabei besonders helfen würden.
Meine Damen und Herren, ich begrüße es deshalb sehr, daß wir hier eine Debatte zum Internationalen Frauentag führen. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier wollen heute noch einmal und immer wieder an die Verwirklichung des Gleichberechtigungsgebots erinnern
und öffentlich unsere Solidarität mit den Frauen in aller Welt demonstrieren.
Ich hätte mich sehr gefreut, wenn sich die hier vertretenen Parteien anläßlich des Frauentages solidarisch gezeigt und einen gemeinsamen Entschließungsantrag mit den wichtigen Themen „Frauen und Arbeit" sowie „Gewalt gegen Frauen" eingebracht hätten.
Meine Damen und Herren, dies ist leider schon im Vorfeld der Debatte gescheitert. Ich kann nur sagen: Schade, denn das wäre wirklich ein Beweis von Solidarität gewesen.
Wie dem auch sei: Wir alle müssen uns mit aller Kraft, mit Mut und Kreativität dafür einsetzen, daß die rechtliche und tatsächliche Gleichberechtigung der Frauen weltweit endlich wahr wird. Zwei der größten Herausforderungen der kommenden Jahre liegen nach unserer Auffassung darin, die tatsächliche Chancengleichheit der Frau in der Arbeitswelt herzustellen und die Gewalt gegen Frauen entschieden zu bekämpfen.
Wir haben hier heute viel über Arbeitsplätze und Familienförderung gehört. Ich möchte hier speziell auf das in meinen Augen besonders gravierende Problem der Gewalt gegen Frauen eingehen; denn durch Gewalt wird die Frau an sich - ihr ganzes Leben, ihre Identität, ihre Menschenwürde, ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung - in Frage gestellt und verneint.
Laut Amnesty International erfolgen weltweit die meisten Menschenrechtsverletzungen an Frauen. Angst vor Gewalt, vor Unterdrückung, Erniedrigung und Verletzung beherrscht das Leben vieler Frauen. Wichtige Voraussetzung für den Abbau der Gewalt gegen Frauen ist ein neues Bewußtsein in unserer Gesellschaft, bei Männern und bei Frauen.
Es gilt, für das Thema „Gewalt" immer wieder zu sensibilisieren und unbeirrbar für ein partnerschaftliches, gleichberechtigtes Verhältnis der Geschlechter zu werben. Das ist nicht einfach, auch im Hinblick auf die Tatsache, daß die Medien, besonders das Fernsehen, täglich unzählige Gewaltszenen ausstrahlen, die Gewalt damit alltagsfähig machen und darüber hinaus ein realitätsfernes, oft negatives und einseitiges Bild von den Frauen zeichnen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Schenk?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, habe ich Sie eben richtig verstanden, daß Sie das Phänomen Gewalt gegen Frauen in dieser Gesellschaft lediglich für ein Problem des Bewußtseinsstandes oder der Einstellungen halten?
Auch, aber es geht noch weiter. Wenn Sie weiter zuhören, werden Sie merken, daß damit noch mehr zusammenhängt.
- Das ist in dem Antrag schon enthalten. Wenn Sie freundlicherweise meiner Rede weiter folgen würden, dann würden Sie merken, daß es uns damit sehr ernst ist.
Bei dem angestrebten Bewußtseinswandel kommt also den Medien eine besondere Schlüsselrolle zu.
Wichtig ist auch, die Gewalt gegen Frauen richtig zu definieren. Das fällt oft sehr schwer; denn Gewalt gegen Frauen hat vielfältige Formen. Drohen, Schlagen, Vergewaltigung, Menschenhandel und Zwangsprostitution sind eindeutig gewalttätige Handlungen gegen Frauen.
Gewalt gegen Frauen ist oft aber auch sehr subtil und für einen Außenstehenden schwer oder gar nicht zu erkennen. Gewalt gegen Frauen ist also nicht ob-
Bärbel Sothmann
jektiv meßbar, sondern „Gewalt ist das, was Frauen als Gewalt empfinden".
Diese Definition von Gewalt liegt auch der vom Bundesministerium für Frauen und Jugend 1993 initiierten Kampagne „Gewalt gegen Frauen" zugrunde. Ziel dieser Kampagne ist es, den Blick für die Gewalt zu schärfen, den betroffenen Frauen einen intensiven und selbstbewußten Umgang mit ihrer Erfahrung der Gewalt zu ermöglichen und erstmalig auch die Männer aktiv in die Auseinandersetzung mit diesem Thema einzubeziehen.
Zum Glück hat bereits ein Umdenken bei vielen gewalttätigen Männern eingesetzt, wie verschiedene Selbsthilfegruppen und Initiativen von Männern, die Gewalt gegen Frauen ausüben oder ausgeübt haben, zeigen.
Auch die Arbeit von Beratungsstellen für mißhandelte Frauen und von Frauenhäusern muß weiter unterstützt werden. Allein die Tatsache, daß es diese Einrichtungen gibt, ist für viele Frauen von unschätzbarem Wert. 1976 wurde in Berlin das erste Frauenhaus gegründet, und mittlerweile gibt es über 330, in die sich jährlich rund 40 000 Frauen mit ihren Kindern flüchten müssen. Einen ausführlichen Bericht über alle Aktivitäten der Bundesregierung zum Schutz von Frauen vor Gewalt hat das Kabinett kürzlich als Information für die seit letztem Jahr tätige UN-Sonderberichterstatterin „Gewalt gegen Frauen" verabschiedet.
Auch aus diesem Bericht geht hervor, daß Bewußtseinswandel und Beratung mißhandelter Frauen nur eine Möglichkeit ist, Gewalt gegen Frauen zu verhindern und die Folgen zu mildern. Genauso wichtig ist eine konsequente Strafverfolgung der Täter.
Dies gilt auch für die Vergewaltigung in der Ehe, die so schnell wie möglich unter Strafe gestellt werden muß.
Ausländische Ehefrauen, die von ihrem Mann mißhandelt werden, haben ein Problem besonderer Art, das angegangen werden muß. Das ist heute schon einige Male erwähnt worden. Nach § 19 Ausländergesetz erhalten derzeit nachgezogene ausländische Ehefrauen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erst dann, wenn die Ehe in Deutschland seit mindestens vier, in Härtefällen seit drei Jahren rechtmäßig bestanden hat.
Wir setzen uns dafür ein, daß die Frist für besondere Härtefälle verkürzt wird; denn es muß gewährleistet sein, daß sich mißhandelte ausländische Frauen aus einer gewalttätigen Beziehung lösen können, ohne befürchten zu müssen, mittellos und ohne ihre Kinder ins Heimatland abgeschoben und damit zusätzlich bestraft zu werden.
Auch die Bundesregierung hat bereits mehrfach deutlich gemacht, daß sie hier Handlungsbedarf sieht. Frau Schmalz-Jacobsen, wir Frauen werden uns jedenfalls für eine Änderung einsetzen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Frau Sothmann, Sie haben hinsichtlich des § 19 des Ausländergesetzes gesagt, daß Sie meinen, bei Härtefällen müsse die Frist verkürzt werden. Sind Sie nicht mit mir einer Meinung, daß ein I lärtefall immer ein Härtefall ist, egal, welche Frist besteht?
Ja, damit werden wir uns in weiteren Beratungen auseinandersetzen müssen: Was ist hier Härtefall und was nicht? Wir sind zunächst einmal für eine Verkürzung der Frist. Wir sagen, daß in besonderen Härtefällen drei Jahre zu lang sind.
Für mich von allergrößter Bedeutung beim Abbau der Gewalt gegen Frauen ist die Förderung ihrer finanziellen Unabhängigkeit. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Bereichen, meine Damen und Herren, ist eindeutig. Zahlreiche Frauen werden von ihren gewalttätigen Ehemännern jahrelang gequält, weil sie finanziell von ihnen abhängig sind,
sei es, daß es zuwenig Arbeitsplätze - und zwar geeignete Arbeitsplätze - in ihrer Umgehung gibt, sei es, daß sie keine Kinderbetreuungsmöglichkeiten finden - deshalb bestehen wir auf der Kindergartenplatzgarantie zum 1. Januar 1996 -
- das ist ja prima -, sei es, daß sie nicht genügend
qualifiziert sind, um überhaupt berufstätig werden
zu können. - Wenn auch Sie dieser Auffassung sind,
Bärbel Sothmann
dann haben wir in diesem Punkt auf jeden Fall eine Gemeinsamkeit.
Ihre Redezeit geht zu Ende.
Auch aus dieser Perspektive sind also unsere Forderungen zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen in unserem Entschließungsantrag eine logische Konsequenz. Meine Vorrednerinnen haben darüber bereits ausführlich berichtet. All dies zeigt: Die Verwirklichung der Gleichberechtigung und der Abbau von Gewalt gegen Frauen bedingen einander, sie gehen Hand in Hand.
Ihre Redezeit ist leider wirklich vorbei, Frau Kollegin.
Aber ich habe noch so gute Sachen.
Sie haben schon eine Minute überzogen.
Jetzt muß ich Ihnen leider das Beste vorenthalten. Ich kann Sie nur aufrufen, meine Damen: Bleiben sie unbequem.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Mascher.
Ich hoffe, daß alle Frauen im Deutschen Bundestag der Forderung, unbequem zu bleiben, Folge leisten, um endlich unsere Ziele hier auch durchzusetzen.
Aber ich möchte mich auf eine andere, sehr viel poetischere Formulierung und Forderung von Frauen beziehen: Brot und Rosen. So hat eine Forderung von Frauen zum Internationalen Frauentag und zu vielen Frauenstreikaktionen gelautet. Leider ist diese Forderung noch immer ganz aktuell. In vielen Ländern der Erde hungern Frauen, verhungern Mädchen. Frauen beim Weltsozialgipfel, aber auch bei der Bevölkerungskonferenz in Kairo haben versucht, die elende Lage vieler Frauen ins öffentliche Bewußtsein zu rücken und Konzepte und Hilfe für eine dauerhafte Verbesserung der Lebenssituation von Frauen mit den Frauen zu entwickeln.
Jede von uns und jeder, der durch die Fülle der Schreckensbilder noch nicht abgestumpft ist, erinnert sich an Bilder von Frauen auf der Flucht, von Frauen als Opfer von Kriegen. Amnesty International spricht davon, daß ca. 80 % der Kriegsopfer Zivilisten sind, überwiegend Frauen und Kinder.
Neben solchen Bildern scheint die Lebenssituation von Frauen in Deutschland gesichert. Also Brot und Rosen für alle? Auch wenn die Bundesregierung alle vorgelegten Berichte über Armut in Deutschland wegzudefinieren sucht und die Zeiten, als Heiner Geißler die „neue Armut" in der CDU/CSU thematisiert hat, lange vorbei sind, ist Armut für Frauen in Deutschland immer noch eine Lebensrealität. Warum ist Armut auch in Deutschland immer noch weiblich?
Der fast schon klassische Fall der weiblichen Armut sind die armen alten Frauen, Frauen, die ein Leben lang gearbeitet haben, vor allem in der Familie, bei der Erziehung von Kindern und bei der Pflege von Angehörigen, und die im Alter nur eine geringe Rente bekommen und den Gang zum Sozialamt aus Scham und aus Angst vor dem Rückgriff auf die Kinder scheuen. Oft sind das Frauen, die erwerbstätig waren, aber ohne eine soziale Sicherung. „Geringfügig beschäftigt" nennt man das dann.
Diese Altersarmut von Frauen ist kein unabwendbares Schicksal.
Eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit, ermöglicht durch ein ausreichendes Kinderbetreuungsangebot für alle Altersgruppen, verbessert die Einkommenssituation von alten Frauen entscheidend. Das zeigen die Renteneinkommen der Frauen in den neuen Bundesländern. Ich bin froh, daß wir das erreicht haben. Eine Sozialversicherungspflicht für alle Beschäftigungsverhältnisse und eine Ergänzung der gesetzlichen Rentenversicherung um eine bedarfsabhängige soziale Grundsicherung - damit Frauen mit niedrigen Renten nicht mehr auf das Sozialamt angewiesen sind - sind weitere wichtige Schritte für eine bessere Alterssicherung von Frauen. Ich freue mich schon auf einen Gesetzentwurf - das konnte ich den Ankündigungen von Frau Süssmuth entnehmen -, der das Ziel hat, die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse abzuschaffen. Wir werden Sie dabei nachhaltig unterstützen.
Am 21. Juni hat sich der Bundestag in einer gemeinsamen Entschließung im Anschluß an die Verabschiedung des RentenÜberleitungsgesetzes eine wichtige Aufgabe gestellt. Ich zitiere:
Die Zeit bis zum Auslaufen der Bestandsschutzregelungen des RentenÜberleitungsgesetzes 1997 muß nun dazu genutzt werden, die Alterssicherung der Frauen in der leistungsbezogenen Rentenversicherung zu verbessern. Eine solche Reform der Alterssicherung der Frauen soll vor aller die Anerkennung von Zeiten der Kinder-
Ulrike Mascher
erziehung und der Pflege verbessern und dabei die Tatsache berücksichtigen, daß Familienarbeit oft auch gleichzeitig mit Erwerbsarbeit geleistet wird,
- das sollte schon in der letzten Legislaturperiode passieren -
zweitens eigenständige Anwartschaften der Frauen ausbauen und drittens einen wichtigen Beitrag zur Lösung des Problems der Altersarmut leisten. Das Gesamtkonzept soll bis zum Jahresbeginn 1997 verwirklicht werden.
Aufmerksam habe ich die Koalitionsvereinbarungen und die Ankündigungen des Bundesarbeitsministers verfolgt. Ich finde leider überhaupt keinen Hinweis auf irgendeine Aktivität, um diese gemeinsam beschlossene Entschließung des Parlamentes umzusetzen.
Aber vielleicht werden wir ja zum Internationalen Frauentag 1996 plötzlich mit einem Gesetzentwurf überrascht. Ich fürchte allerdings, daß es ohne nachhaltigen Druck, ohne Initiativen von Frauen, ohne Arbeit auf seiten der Opposition dabei nicht vorangehen wird.
Aber längst ist Armut von Frauen in Deutschland nicht mehr die Armut der alten Frauen, bei der man sich vielleicht damit beruhigen kann, daß es neue Aktivitäten gegeben hat und daß junge Frauen, die gut ausgebildet sind, davon nicht mehr betroffen sind. Nein, immer mehr junge Frauen mit Kindern, alleinerziehende Frauen leben an der Armutsgrenze, leben von Sozialhilfe. Diese Frauen leben oft in einem Teufelskreis ohne eigene Erwerbstätigkeit, auf Sozialhilfe angewiesen, ohne ausreichende Kinderbetreuung kaum in der Lage, eine ausreichende Erwerbstätigkeit zu finden, als Alleinerziehende mit Kind eine schwer vermittelbare Arbeitskraft, als geringfügig Beschäftigte nicht sozialversicherungspflichtig und künftig eine arme alte Frau. Noch einmal: Auch hier ist Armut kein unabwendbares Schicksal von Frauen, sondern das Ergebnis fehlender Erwerbschancen, deshalb fehlender Beitragsleistungen für die Alterssicherung.
Der Dreh- und Angelpunkt ist die Schaffung von ausreichenden altersgerechten Kinderbetreuungsangeboten, um wenigstens eine Chance für eine Erwerbstätigkeit zu eröffnen. Ich halte die Aufrechnung, in welchem Bundesland es nun vielleicht annäherungsweise ein wirklich angemessenes Kinderbetreuungsangebot gibt, langsam für ziemlich lächerlich und unwürdig. Vielmehr denke ich, wir müssen uns alle gemeinsam anstrengen, in allen Bundesländern, in den großen Städten und in den kleinen Gemeinden, den Frauen diese Chance zu eröffnen. Da gibt es für jede Partei und für jede Regierung - in welcher Koalition auch immer - genug zu tun.
Die SPD hat in ihrem Entschließungsantrag die Forderungen zur Erwerbstätigkeit von Frauen in den Mittelpunkt gestellt. Erwerbstätigkeit ist zwar sicher nicht alles im Leben. Frauen wissen, daß auch andere Formen von Arbeit für die Familie und für unsere Gesellschaft unverzichtbar sind. Aber Frauen haben auch lernen müssen, daß sich unsere Gesellschaft über die Erwerbsarbeit definiert. Deshalb müssen Frauen ihr Recht auf Erwerbsarbeit, ihre verfassungsrechtlich verankerte Gleichberechtigung auch im Arbeitsleben, einfordern. Ich hoffe, daß der Ankündigung von Frau Nolte, daß die Ergänzung des Grundgesetzartikels von Elisabeth Seibert kein totes Papier bleiben soll, auch Taten folgen. Denn bisher frage ich mich: Was tut diese Frauenministerin, was tut diese Bundesregierung, um Frauen Erwerbsarbeit zu eröffnen, die eine menschenwürdige Existenz sichert? Wenn ich mir die Arbeitslosenstatistik, wenn ich mir die Sozialhilfestatistik ansehe, stelle ich fest, daß es leider noch sehr viel zu tun gibt, bis wir die symbolische und poetische Forderung der Frauen von vor 80 Jahren nach Brot und Rosen, nach materieller Sicherung, aber auch nach gesellschaftlicher Teilhabe, nach der Teilhabe an Kultur, an Wissenschaft und auch an Schönheit in unserem Leben, wenigstens in unserem Land erfüllt haben.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Edzard Schmidt-Jortzig. Ich begrüße damit den ersten männlichen Redner in dieser Debatte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben mir den Gag meines Redebeitrags vorweggenommen; denn ich wollte natürlich darauf hinweisen. ich tue es gleichwohl, weil der Stolz unbegrenzt ist. Sie alle haben vorhin beim Beitrag von Frau Schmalz-Jacobsen geklatscht, als in diesem speziellen Bereich die Solidarität der Männer mit den Frauen eingefordert wurde. Alle haben geklatscht, die F.D.P. löst die Solidarität ein. Ich bitte Sie auch zu registrieren, daß wir damit eine 50prozentige faktische Geschlechlerbeteiligung haben, ohne eine normative Quote zu benutzen. Es wäre vielleicht ganz hübsch, wenn das auch woanders liefe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe mich hier gezielt zu Wort gemeldet - ich will mich gar nicht lange mit Vorreden aufhalten, weil die Zeit eh knapp ist -, um auf etwas hinzuweisen, was immer wieder als wünschenswert angesprochen wurde, was aber - diesen Eindruck habe ich - zu wenig wirklich verinnerlicht ist. Erst vor vier Monaten - es ist in der Tat noch nicht länger her - ist der von vielen hier gepriesene Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes in Kraft getreten. Ich will nicht darauf zurück-
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
kommen, wie mühsam es gewesen ist, diese Ergänzung zu schaffen.
- Das will ich unkommentiert lassen, weil Sie nachlesen können, daß Schmidt-Jortzig dazu eine andere Meinung hatte.
Es steht im Art. 3 Abs. 2: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Und nun kommt es: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. "
Meine Damen und Herren, das ist geltende Verfassung, nicht nur schönes politisches Programm, sondern normativ verbindlich.
Um es gleich einmal deutlich zu sagen: Viele Aussagen in allen Entschließungen, auch in Ihrer speziellen Entschließung, sind völlig unnötig. Ich möchte dazu aufrufen und dafür werben, sich der Verfassung anzunehmen und die Verfassung zu benutzen. Sie können mittlerweile nämlich mehr machen, als Sie - noch auf dem Stand von vor dem 1. November 1994 - glauben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen das erläutern. Selbst wenn dabei herauskommt, daß die Politik durch die Gerichte geknebelt werden wird, bleibe ich dabei: Das, was hier eingefügt ist, ist eine Staatszielbestimmung, also eine rechtsverbindliche Vorschreibung einer ganz bestimmten Zielfassung und Zielverwirklichung. Da haben wir in der Tat von vielen in der Diskussion über die Verfassungsreform gehört, es sei eine bedenkliche Auslieferung der Politik an die Gerichtsbarkeit, eine Verrechtlichung der Politik, wenn man das jetzt so verbindlich in die Verfassung hineinschreibe. Und die Warner haben recht. Das muß man nüchtern sehen. Deswegen ist das Grundgesetz relativ sparsam mit solchen Staatszielbestimmungen umgegangen. Aber bei den grundlegenden Werten und Leitbildern, insbesondere da, wo bisher die praktische Politik nicht ohne diese rechtliche An-die-Hand-Nahme auskam, ist es eben doch legitim und richtig.
Was bedeutet nun dieses „Der Staat fördert, verfassungsrechtlich verbindlich vorgeschrieben, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin"?
Meine Damen und Herren, zunächst steht dort „Gleichberechtigung" drin - das will ich nicht verschweigen -, es steht nicht „Gleichstellung" drin. Es
geht also um eine Gleichheit in den Möglichkeiten, in den Chancen und nicht in den Ergebnissen. Aber immerhin ist Gleichberechtigung zu verwirklichen nun verfassungsrechtlich fest vorgeschrieben und der Staat verfassungsrechtlich verbindlich aufgefordert, zu fördern, was da noch nicht voll auf dein Stand der Norm ist.
Das ist erstens also ein verbindlicher Auftrag an den Gesetzgeber, in der angegebenen Richtung gestalterisch tätig zu werden, also etwa Gleichberechtigungsgesetze zu verabschieden. Deswegen ist noch längst nicht das Ende der Fahnenstange erreicht, wenn Sie mit dem Gleichberechtigungsgesetz, das dieser Bundestag beschlossen hat, noch nicht zufrieden sind. Gesetze sind nicht für die Ewigkeit, sondern nur immer erste Schritte, zweite Schritte, dritte Schritte; es kann weitergehen.
- Nein, man darf nicht nur immer auf andere warten, sondern man muß notfalls auch selber darangehen und um Mehrheiten werben.
Es geht um den Abbau rechtlicher Hemmnisse, es geht um die Inangriffnahme neuer Regelungsfelder. Ich sage ganz deutlich: Verfassungsrechtlich ist es jetzt möglich, Kompensationsformen zu schaffen. Das war vorher immer äußerst streitig und problematisch. Man muß sehen: Das ist nun geltende Rechtslage. Man ist da nicht mehr in der Position des Bittstellers.
- Ich will Sie zum Schluß herzlich gern dazu aufrufen, die Verfassung anzuwenden. Das Schönste an der Verfassung ist ja, daß man sie eben auch anwenden muß.
Staatszielbestimmung bedeutet als zweites: Befehl an Regierung und Verwaltung, beim Gesetzesvollzug die Gleichberechtigung zu optimieren. Das gilt für Ermessenssituationen, wobei dann bei bestimmten Belangen die Gleichberechtigung ein besonderes Gewicht erhält. Das gilt bei Gestaltungs- und Entwicklungsvorhaben, wo Gleichberechtigung nun vom Verfassungsrecht her ein Planungsziel mit dem ganzen Gewicht normativer Authentizität ist.
Staatszielbestimmung bedeutet drittens für die Gerichtsbarkeit - gleich welcher Stufe - eine Auslegungsdirektive bei der Anwendung von offenen Rechtsbegriffen, bei Güterabwägungen etc.
Meine Damen und Herren, ergehen Sie sich also bitte nicht immer nur in schönen Forderungen, sondern sehen Sie, was wir - ich will das im Sinne der Geschlechtersolidarität ganz deutlich auch für die Männer sagen - zum 1. November 1994 bereits in Kraft gesetzt haben.
Dr. Edzard Schmidt-Jontzig
Gehen Sie mit Ihren Forderungen nicht hinter diesen Stand zurück, sondern bauen Sie darauf auf. Ich hoffe, daß wir alle zusammen an diesem Ziel, weil es Verfassung ist, selbstbewußt weiter arbeiten.
Danke sehr.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hanna Wolf.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Schmidt-Jortzig, zu Ihren Ausführungen: Es ist immer interessant, zu sehen, wie sich Männer an diesen Tag annähern. Ich möchte Ihnen nur antworten: Ihre Kolleginnen, die nicht in den Bundestag zurückgekehrt sind, werden erfahren haben, daß ihnen das Grundgesetz in dieser Frage überhaupt nicht geholfen hat. Denen wären Quoten in der Satzung der F.D.P. weitaus lieber gewesen.
- Warten Sie einmal ab!
Wir haben hier heute zwar eine gemeinsame Debatte, aber wir ziehen nicht am gleichen Strang, wie auch der dürftige Antrag der Koalition zeigt. Wenn ich mir die heutigen Reden aus der Koalition vergegenwärtige, muß ich feststellen: Wenn mehr Frauen dort in der Koalition wären - es sind leider weniger geworden -, dann wären Sie mit diesem dürftigen Antrag heute hier nicht erschienen, sondern die Frauen hätten in der Koalition mehr durchgesetzt.
Es ist also ein Ausdruck der Nichtteilhabe von Frauen in der CDU/CSU und der F.D.P.
Der dürftige Entschließungsantrag bezieht sich auch auf die Gewalt gegen Frauen. Auf diesen Aspekt möchte ich jetzt noch besonders eingehen. Heute, zum Internationalen Frauentag, wollen wir also nicht nur über die strukturelle Gewalt in Form von Benachteiligungen reden, sondern wir müssen auch die nackte physische Gewalt gegen Frauen nennen. Ich zitiere: „Gewalt gegen Frauen in allen Erscheinungsformen ist nicht hinnehmbar. Wir müssen ihr wirksam entgegentreten." So schrieb Ministerin Nolte anläßlich des Berichts der Bundesregierung an die UNO-Sonderberichterstatterin „Gewalt gegen Frauen".
Natürlich stimmen wir diesem zu. Gewalt ist in keinem Fall hinnehmbar. Wie aber mit Gewalt tatsächlich umgegangen wird, hängt davon ab, wer oder was typischerweise geschädigt ist. Handelt es sich um Eigentumsdelikte bzw. um sogenannte allgemeine Gewaltdelikte, so erfolgt selbstverständlich nach Möglichkeit der unmittelbare Zugriff auf den Täter. Bei Gewalt gegen Frauen begnügt sich die Bundesregierung aber fast nur damit, sich den Opfern zuzuwenden und einzelne Modellprojekte der Opferberatung zu fördern. Darüber hinaus gibt es Ankündigungen und schöne Worte, wie heute hier wieder.
Die Täter selbst scheinen zu verschwinden. Bei Gewalt gegen Frauen zeigt die Bundesregierung eine sonst nicht gekannte „Hemmschwelle" gegen die Täter. Jede Gesetzesinitiative, die wir zum besseren Schutz von Frauen eingebracht haben, wurde von Mal zu Mal von der Regierungsmehrheit abgelehnt oder verschleppt, selbst wenn im Parlament Zustimmung signalisiert wurde.
Ausdrücklich ausnehmen möchte ich hier die Bemühungen in der letzten Legislaturperiode, die schließlich zum Erfolg geführt haben: Das Ruhen der Verjährungsfrist bis zum 18. Lebensjahr des Opfers von sexuellem Mißbrauch. Hier konnten wir endlich eine parteiübergreifende Mehrheit herstellen.
Ich hoffe auf einen solchen Erfolg ohne faule Kompromisse auch im Falle der Vergewaltigung in der Ehe. Bisher gibt es dazu von der Regierung allerdings wieder nur Ankündigungen. Das Kabinett hat sich noch nicht geeinigt. Ich bin sehr gespannt, ob wir diesmal unseren Ansprüchen, die wir in Reden geäußert haben - die vor allem in Ihren Reden geäußert wurden -, gerecht werden.
Die Regierungsmehrheit kann ihre Ernsthaftigkeit in der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auch beweisen, indem sie unserem wieder eingebrachten Antrag zur Änderung des Ausländergesetzes zustimmt. Ich habe heute hier dazu einiges gehört. Das hätten wir schon in der letzten Legislaturperiode haben können, wenn Sie wirklich so empört sind, wie Sie es hier sagen.
Es ist nicht hinzunehmen, daß eine ausländische Frau, die noch kein eigenständiges Aufenthaltsrecht hat, der Willkür eines schlagenden oder sie verstoßenden Ehemannes ausgesetzt bleibt. Sie muß dann zu ihrem Schutz ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bekommen können, unabhängig von der Dauer der Ehe in Deutschland.
Auch Frauenhändlern kann man damit das Handwerk erschweren.
Wir bringen auch ein Gesetz zur Stärkung der Opfer im Strafprozeß ein. Es geht nicht an, daß ein Vergewaltiger von Amts wegen einen Pflichtverteidiger bekommt und die Frau ihren Anwalt selbst bezahlen muß, um ihre Nebenklagerechte wahrnehmen und sich im Prozeß vor erniedrigenden Verhandlungsmethoden schützen zu können. Die Regierungsmehrheit hat auch hier wieder Gelegenheit, ihre Ernsthaftigkeit bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zu beweisen.
Hanna Wolf
Die angesprochenen Änderungen im Sexualstrafrecht, im Ausländerrecht und im Strafprozeßrecht wären dringende Beiträge zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen durch einen effektiven rechtlichen Schutz der Opfer.
Die Bundesregierung sagt in ihrem Bericht an die UN-Sonderberichterstatterin - ich zitiere wieder -:
Gewalt gegen Frauen kann ... nur durch eine umfassende Politik zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Mädchen verhindert werden. Dieser Abbau von gesellschaftlichen Benachteiligungen und Diskriminierungen ist allerdings ein langwieriger Entwicklungsprozeß. Jahrhundertelange kulturelle Traditionen und Verhaltensweisen von Männern und Frauen können nur durch Bewußtseinsänderungen und Lernprozesse verändert werden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Tatsache ist doch, daß die Langwierigkeit dieses Bewußtseinsprozesses nur auf die schleppende Bewußtseinsänderung dieser Regierung zutrifft,
auf keinen Fall jedoch auf die Frauen, denen Sie das in Ihrer sogenannten Analyse unterschieben wollen. Frauen, die von Ungleichbehandlung betroffen sind, werden doch im Ernst nicht gegen die Aufhebung dieser Ungleichbehandlung sein. Eine Regierung aber, die nicht oder nur schleppend handelt, ist für die Verfestigung des Status quo voll verantwortlich.
Ist Ihnen schon aufgefallen, in welcher Deliktgruppe wir vor allem von dem Phänomen der Dunkelziffer, von nicht angezeigten Delikten reden? - Bei Gewalt gegen Frauen und Kinder! - Und wissen Sie, warum das so ist? - Die Opfer glauben - vielleicht zu Recht -, daß ihnen ohnehin keine Gerechtigkeit widerfahren wird. Oder sie glauben, sie selbst tragen - zumindest teilweise - Schuld an dem Verbrechen. Und so gehen die Verbrechen eben weiter.
Es gibt ein unausgesprochenes gesellschaftliches Schweigegebot - ich möchte sagen: ein patriarchalisches Schweigegebot -, das da heißt: Sprich nicht über Männergewalt. - Frauen, die dieses Tabu brechen, müssen mit Sanktionen rechnen, die irgendwo im Spektrum zwischen Geringschätzung und Mord anzusiedeln sind, je nachdem, wer sich durch die Offenlegung bedroht fühlt.
Nur Gesetze, die die Täter klar benennen und die Opfer eindeutig schützen, können eine Aufhebung dieses Schweigegebots bewirken.
Eine so genannte „jahrhundertelange kulturelle Tradition" der Gewalt und der Ungleichbehandlung kann keine Basis für einen modernen Rechtsstaat sein. Bei anderen Deliktformen ist der Rückgriff auf derartige Traditionen auch unbekannt. Die Regierung muß also handeln.
Ich habe heute darauf verzichtet, auf die weltweite Gewalt gegen Frauen hinzuweisen, weil wir erst vor unserer eigenen Tür kehren sollten. Ich ersuche jedoch die Bundesregierung - nicht nur bei der diesjährigen Weltfrauenkonferenz in Peking -, für die Beendigung der Gewalt gegen Frauen insgesamt energisch einzutreten, so wie es auch amnesty international anläßlich des heutigen Tages fordert.
Die meisten Kriegsopfer, die meisten Flüchtlinge, die meisten Opfer von Gewalt, die meisten Opfer von sogenannten kulturellen Traditionen sind Frauen. Unsere außenpolitischen, wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Handlungen müssen darauf ausgerichtet sein, dem entgegenzusteuern. Es hilft den Frauen nicht, Frau Nolte, wenn man aus Handelsinteressen Rücksichten nimmt und Menschenrechtsverletzungen nicht deutlich benennt, sondern lieber das Geschäft macht.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Ich komme zu meinem Schlußsatz. - In diesem Zusammenhang fordern wir auch noch einmal die Anerkennung der Verfolgung auf Grund des Geschlechts als Asylgrund in unserem Land.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort zur Kurzintervention hat die Kollegin Matthäus-Maier beantragt. Bitte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da während einer über zweistündigen Debatte zu dem Thema aus Anlaß des Internationalen Frauentages außer der unmittelbar zuständigen Ministerin keine einzige Ministerin und auch sonst kein einziger Minister - geschweige denn der Bundeskanzler - den Weg hierher gefunden hat, habe ich meine großen Zweifel, ob unsere Aufforderung an die Bundesregierung durchgeführt werden wird, wenn Sie hier nicht einmal zuhören können.
Das war der letzte Wortbeitrag in dieser Debatte, die ich damit schließe.
Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P., der SPD, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS auf den Drucksachen 13/699, 13/701, 13/703 und 13/705 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beginn der Verhandlungen der Bundesregierung mit der Regierung in Belgrad am 6. März 1995 über die Rückführung von Asylbewerbern und/oder Bürgerkriegsflüchtlingen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Helmut Lippelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Tage hat mich einer der jugoslawischen Kriegsdienstverweigerer, um die ich mich gelegentlich kümmere, angerufen und mir aufgeregt mitgeteilt, in einer Belgrader Zeitung stehe, am 6. März begonnen offizielle Verhandlungen mit Vertretern des deutschen Innen- und des Außenministeriums über ein Rückführabkommen. Die Zeitung berufe sich auf eine deutsche Quelle.
Nur durch diesen Hinweis habe ich an einer entlegenen Stelle in der „Aachener Volkszeitung" die Geschichte gefunden. Dort heißt es, 400 000 Bürgerkriegsflüchtlinge lebten hier. Die restjugoslawische Regierung habe jetzt per Verbalnote vorgeschlagen, über die ersten 50 000 bis 60 000 und ihre Rückführung zu sprechen - Rückführung gegen Kopfgeld; denn die jugoslawische Regierung Milosevic will ja dafür etwas haben. In einer dpa-Meldung ist schon von 120 000 die Rede.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die schockierende Nachricht veranlaßt zu fünf Fragen an die Bundesregierung, und danach sind vier Bemerkungen zu machen.
Erstens. Ist der Bundesregierung bekannt, daß es in Jugoslawien ein Militärsystem gibt, das alle Männer von 17 bis 40 Jahren der Militärdienstpflicht unterwirft und dann bis 50 Jahren auch noch der Reservistenpflicht?
Zweitens. Ist der Bundesregierung bekannt, daß von Oktober 1991 bis Mai 1992, also während des serbisch-kroatischen Krieges, Ausnahmezustand herrschte und deshalb alle Männer zwischen 17 und
50 Jahren, die in dieser Zeit das Land verließen, nach dortigem Recht Fahnenflucht begingen und theoretisch mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden können?
Drittens. Ist Ihnen bekannt, daß es dort ein rotierendes System des Kriegsdienstes gibt, nach dem die Männer für drei bis sechs Monate an die Front geschickt werden und dann die Männer der nächsten Straße oder des nächsten Dorfes dran sind?
Viertens. Ist Ihnen bekannt, daß einer Menge von Kriegsdienstpflichtigen die Beteiligung an Vergehen gegen die Zivilbevölkerung bis hin zum Mord befohlen wurde und daß durch das Rotationssystem große Bevölkerungsteile in diese Verbrechen verstrickt wurden und gerade deshalb so viele Kriegsdienstverweigerer ins westliche Ausland geflohen sind? Der Bericht des Helsinki-Menschenrechtkomitees in Belgrad vom Oktober letzten Jahres spricht von bis zu 300 000 Kriegsdienstverweigerern im westlichen Ausland.
Fünftens. Ist Ihnen bekannt, daß diese bei Rückkehr Prozesse erwarten? 5 000 sind schon durchgeführt, mehr als 3 000 sind noch anhängig.
Wenn dem Innen- und dem Außenministerium das alles bekannt ist - das sollte man vor Aufnahme solcher Verhandlungen eigentlich voraussetzen -, dann sind hier vier Skandale öffentlich anzuprangern.
Skandal 1. Männer, die hier als Bürgerkriegsflüchtlinge abgeschoben werden, landen drüben als Kriegsdienstverweigerer. Ein Jugoslawe wird es schwer haben, hier zu belegen, daß seine Verweigerung keine Verweigerung im Rahmen eines Heeres ist, wie wir es kennen, sondern eine Verweigerung gegenüber einer Armee ist, die in dem Lande „ethnische Säuberungen" betrieben hat. Da das aber so ist, ist Verweigerung dort etwas ganz anderes, nämlich eine politisches Asyl begründende Tatsache.
Skandal 2. Gerade diese politische Dimension seiner Tat wird ihm aber dort bestritten. Denn was wird Milosevic sagen? „Seht ihr", wird er sagen, „selbst die Deutschen halten eure Kriegsdienstverweigerung nicht für gerechtfertigt; denn, bitte schön, sie schicken euch zurück."
Skandal 3 liegt in der Aufwertung des Milosevic-Regimes durch diese offiziellen Verhandlungen. Denn wenn man unter solchen Bedingungen trotz der Blutspur, die sich durch Bosnien zieht, zurückschickt, bescheinigt man dem Land der Erfinder der „ethnischen Säuberungen" einen Rechtsstaatscharakter: Es ist gewissermaßen ein sicheres Ausland. Nur für seine Bürger offensichtlich nicht. Erzählen Sie das den Bewohnern, die „ethnisch gesäubert" worden sind.
Skandal 4. Die Kriegsgefahr wächst stündlich. Die dritte und fürchterlichste Runde des Krieges steht bevor. Wenn der Krieg in Kroatien ausbricht und auf Bosnien übergreift, wenn die kroatischen und bosnischen Serben, die Träger der großserbischen Idee, im Kriege stehen, wie lange wird sich dann Rest-Jugoslawien, wie lange wird sich Milosevic heraushalten können? Mit dieser Rückführaktion aber geben Sie
Dr. Helmut Lippelt
diesem Regime das Kanonenfutter, auch wenn es sich dabei um Kosovo-Albaner handelt, wie Sie sagen. Genau diese sind die Sklaven dieser Kriegsführung; genau diese sind das Kanonenfutter.
Ihre Redezeit ist leider zu Ende.
Ich denke, ich habe das Nötige rübergebracht. Ich kann meine Rede beenden, Frau Präsidentin.
Das Wort hat der Abgeordnete Erwin Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was hier von den Antragstellern als Gelegenheit für populistische Stimmungsmache genutzt werden soll,
ist in Wirklichkeit zwingende Notwendigkeit einer Außenpolitik, die humanitären Grundsätzen verpflichtet ist und diese auch beachtet, meine Damen und Herren.
Unsere Politik will Verfolgte schützen. Dem dient unser Asylrecht; dem dient auch unser Ausländerrecht. Deswegen haben wir 400 000 Flüchtlinge aufgenommen, mehr als alle Länder Westeuropas zusammen. Das ist keine Stimmungsmache, sondern humanitäre Politik, Politik für die Menschen. Deswegen haben wir gesagt: Wir wollen für Bosnien-Herzegowina einen generellen Abschiebestopp verhängen. Dies haben wir getan.
Wer jedoch die Aufnahmefähigkeit und die Aufnahmebereitschaft Deutschlands für Verfolgte erhalten will, der muß auch prüfen, ob all denen, die in Deutschland Zuflucht gefunden haben, weiterhin ein Bleiberecht gewährt werden kann. Nicht jeder, Herr Kollege, ist Flüchtling, der sich dem Kriegsdienst entzogen hat. Nicht jeder ist Kosovo-Albaner; von denen wissen wir, daß sie besondere Repressalien haben erdulden müssen. Nicht jeder ist politisch Verfolgter oder hat aus sonstigen Gründen eine rechtsstaatswidrige Behandlung zu befürchten.
Vielmehr ist festzustellen: Eine Vielzahl dieser Menschen ist leider wegen der fraglos besseren Lebensbedingungen von Schleppern nach Deutschland gebracht worden. Wir sind uns doch einig: Hier werden die Menschen auf das schäbigste ausgebeutet und in Armut, manchmal sogar in Kriminalität gedrängt. Deswegen müssen wir gerade diesen Schleppergangstern den Kampf ansagen, was wir auch getan haben.
Unter diesen Umständen besteht kein Grund, von Rückführungen generell - auf dieses Wort lege ich die Betonung - abzusehen. Herr Kollege, diese Auffassung wird auch vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ausdrücklich geteilt; dies wurde in einem Gespräch beispielsweise mit mir deutlich. Eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall ist hier angebracht. Die Probleme, die Sie lösen wollen, können durch eine Betrachtung im Einzelfall geregelt werden. Wem unmenschliche Behandlung droht, wem Folter oder der Tod droht, der kann nach unserer Rechtslage ohnehin nicht abgeschoben werden. Das tun wir in keinem einzigen Fall.
Was haben wir gemacht? Wir haben gemacht, was Schweden, offensichtlich ein völlig undemokratisches Land, und die Schweiz, offensichtlich ebenfalls ein völlig undemokratisches Land, unternehmen: Wir haben untergeordnete Beamte nach Belgrad geschickt, die sondieren sollen, ob die Möglichkeit besteht, Leuten, denen keine Gefährdung bevorsteht, nach Jugoslawien zurückzubringen. Das sind mehr als 100 000, meine Damen und Herren. Unser Land hat über 500 000 Flüchtlinge aufgenommen. Es wird problematisch, alle Fälle zu regeln.
Ich sage Ihnen: Es ist unsere Pflicht, untergeordnete Beamte dorthin zu schicken, genauso wie es die völkerrechtliche Pflicht Jugoslawiens ist, diese Leute aufzunehmen.
Dies hat mit einer Anerkennung des Systems überhaupt nichts zu tun. Wir erkennen Rest-Jugoslawien nicht an, solange Rest-Jugoslawien Bosnien-Herzegowina und auch andere Gebiete wie z. B. Kroatien nicht mit allen Konsequenzen anerkennt. Uns geht es darum, meine Damen und Herren, Verfolgten Schutz zu gewähren, im Einzelfall zu urteilen und natürlich dafür zu sorgen, daß Aufenthaltsrechte, die wir gewährt haben, auch nicht für illegale Zuwanderung mißbraucht werden. Dies ist eindeutig deutsche Rechtslage, die humanitärste und liberalste Rechtslage in der ganzen Welt, und dies ist natürlich auch unser politischer Wille.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Duve.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Marschewski! Ich weiß nicht, ob dieser Gegenstand und ob der Zeitpunkt, ihn zu diskutieren, sinnvoll angewandt werden, wenn Sie hier noch einmal erklären, wie dramatisch die Gesamtzahl für Deutschland ist. Wir haben einen ganz speziellen Vorgang, über den wir gerne reden können. Ich möchte einmal Zahlen relativieren: Wenn Kroatien die Bevölkerung der Bundesrepublik hätte, dann wären dort jetzt 8 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge. Kroatien beherbergt zur Zeit so viele Flüchtlinge, ge-
Freimut Duve
messen an der eigenen Bevölkerung. Ich will das sagen, damit wir auf dem Teppich bleiben.
Natürlich ist es richtig, daß wir von allen westeuropäischen Staaten diejenigen sind, die am meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Wir sind dort auch in einer besonders schwierigen Lage. Ich sage das immer wieder. Selbst ein kleiner Stadtstaat wie Hamburg hat mehr Flüchtlinge als zwei unserer großen westeuropäischen Partner aufgenommen.
Aber das ist nicht der Gegenstand unserer Diskussion, sondern es ist die Frage - Sie sagen: „untergeordnete Beamte" -, ob es überhaupt möglich ist - ich hoffe, daß die Bundesregierung dies einmal klar sagt -, daß wir mit Belgrad verhandeln und gar noch weiter verhandeln, nachdem die Verbalnote vom 19. Januar in einer ganz eindeutigen Weise sagt: Mit uns gibt es gar nichts zu verhandeln, denn wir wollen zwei Dinge von euch. Wir wollen zum einen anerkannt werden, und zum zweiten wollen wir Geld haben. Wie kann man mit jemanden, der so geächtet ist und nicht mehr in der KSZE ist, so verhandeln, daß Herr Wimmer - ich bin erstaunt, daß er nicht da ist, und wir werden ihn noch einmal in seiner Eigenschaft als OSZE-Vizepräsident ansprechen, der das öffentlich gemacht hat - dorthin fahren und sagen kann: Wir verhandeln jetzt.
Das möchte ich von der Bundesregierung genau wissen.
Wir können uns über die Fragen der Rückführung, die für beide Seiten, aber auch für die Personen ein Drama ist, sehr gerne unterhalten. Wir haben eine sehr klare Linie. Die haben wir erarbeitet, auch mit den Bundesländern. Wir haben dazu einen Antrag eingebracht. Nur, das ist heute nicht das Thema.
Heute ist das Thema: Kann man in dieser Weise mit Belgrad überhaupt - „untergeordnete Beamte"! - verhandeln, nachdem die ganz klar haben erkennen lassen: Wir wollen Anerkennung, und wir wollen Geld. Beides gibt es nicht. Also möchte ich gerne wissen: Was hat es mit dem Datum des 8. März auf sich, an dem es solche Verhandlungen geben soll? Was ist passiert? Das wollen wir ganz genau wissen.
Das muß man dann hier im Bundestag sehr deutlich sagen. Das ist das einzige, worüber wir heute diskutieren: das große europäische Drama der bisher aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Europa gekommenen Menschen. Wenn all das geschieht, was wir heute morgen im Auswärtigen Ausschuß miteinander beraten haben, ist es ein großes und furchtbares Thema, auch für den Bundestag. Nur, wir sollten das jetzt möglichst ausklammern und uns auf diese Frage konzentrieren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir ist manches zu plakativ, was hier gesagt worden ist. Ich kann Ihnen für meine Fraktion versichern, daß wir uns von niemanden in der Erfüllung humanitärer Pflichten übertreffen lassen werden, auch wenn wir das manchmal etwas verhaltener durchsetzen. Ich freue mich, daß Sie, Herr Duve, die Absicht der Rückführung von Kroaten angesprochen haben, beschlossen von den Innenministern. Ich freue mich - wir haben das zum Gegenstand einer Aktuellen Stunde gemacht -, daß sich die Innenminister nun entschieden haben, jedenfalls die 20 000 Kroaten, die aus serbisch besetzten Gebieten kommen, nicht abzuschieben, sondern hierzubehalten. Das verstehe ich unter praktischer humanitärer Politik.
Nun muß man sich ja überlegen, was eigentlich passiert ist. Meine Vorredner haben erstaunlicherweise nicht gesagt, was sie meiner Meinung nach wissen könnten:
daß die Gespräche, die in Belgrad begonnen worden sind, zu Ende sind, weil wir dieses Land, Rest-Jugoslawien, nicht anerkannt haben und Herr Milosevic versucht, die völkerrechtliche Anerkennung auf dem Rücken von Menschen durchzusetzen.
Aber ganz ohne Zweifel, Herr Kollege Lippelt, geht es nicht um die Frage, welche Personen zurückgeführt werden, sondern darum, ob Jugoslawien seine an sich bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllt, nämlich die Leute, denen es einen Paß gegeben hat und die ohne Zweifel aus diesem Gebiet kommen, zurückzunehmen, wenn sie keine persönlichen Gefährdungen auszustehen haben.
Es gibt 835 000 Menschen aus Jugoslawien, die sich in der Bundesrepublik aufhalten.
- Ich rede von 835 000 Menschen, die, aus dem früheren Jugoslawien kommend, sich in der Bundesrepublik aufhalten und von denen 120 000 kurzfristig ausreisepflichtig sind, weil ihr Asylbegehren abgelehnt worden ist und weil sich Bund und Länder -
Dr. Burkhard Hirsch
auch das sage ich - in der Frage der Durchführung des Bürgerkriegsstatus nicht haben verständigen können. Deshalb besteht das Problem: Was geschieht mit diesen Menschen?
Ich bin der Meinung, daß es in der Tat vertretbar ist, diejenigen, Herr Kollege Lippelt, die kein persönliches Risiko auszustehen haben, bei denen Asylgesuche rechtskräftig abgelehnt worden sind, und zwar auch unter Prüfung der ausländerrechtlichen Voraussetzungen - Aufenthalt aus humanitären Gründen -, zurückzuschicken, wie wir das auch bei Menschen aus anderen Ländern tun.
Ein Problem besteht in der Tat, nämlich das, das Sie in den Mittelpunkt Ihrer Ausführungen gestellt haben: Was geschieht mit Wehrdienstpflichtigen, die sich dem Wehrdienst entzogen haben? Nun hat dieses Parlament beschlossen, daß die Verweigerung des Wehrdienstes im Grundsatz kein Asylgrund ist, sondern nur dann ein Asylgrund sein kann, wenn diese Männer befürchten müssen, in völkerrechtswidrigen Einsätzen verheizt zu werden. Das ist der Punkt.
Ich weise auch auf folgendes hin - das hat auch Herr Marschewski in seiner etwas lauteren Art hier zutreffend dargestellt -:
Wir müssen in der Tat prüfen, ob wir Menschen aus einem potentiellen Kriegsgebiet zurückschicken, sehenden Auges, daß das Zurückschicken dieser Menschen nicht nur zu ihrer strafrechtlichen Verfolgung führt, sondern sie dann dort zum Militärdienst eingezogen werden und damit die Lage verschärfen.
Nur, lieber Herr Lippelt, Sie müssen differenzieren: Die Frage, ob dieses Land überhaupt bereit ist, seine völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen - in dieser Frage sind alle Länder der Europäischen Union, eine Vielzahl von Ländern, gemeinsam der Überzeugung, daß darüber mit Rest-Jugoslawien gesprochen werden muß -, präjudiziert nicht die sehr viel schwierigere und weitergehende: Wen schicken wir tatsächlich zurück, und wen behalten wir aus notwendigen humanitären Überlegungen hier, wenn eine solche Vereinbarung zustande gekommen sein sollte?
Es ist notwendig, diese Verhandlungen zu führen bzw., wenn dies möglich ist, fortzuführen. Es ist notwendig, sich nicht erpressen zu lassen. Und es ist notwendig, zu beachten, daß durch die Zurückführung von Menschen die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung in diesem Bereich nicht vergrößert werden darf. Das ist unsere Position.
Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben uns erst vor drei Wochen mit den Massenabschiebungen von kroatischen Bürgerkriegsflüchtlingen beschäftigt. Damals sagte der Parlamentarische Staatssekretär Lintner:
Die künftige Entwicklung kann niemand sicher voraussagen. Aber im Moment ist die Lage so stabil, daß es gerechtfertigt ist, davon auszugehen, daß Kriegsflüchtlinge wieder nach Kroatien zurückgebracht werden können.
Herr Lintner und Herr Marschewski, ich möchte Ihnen gerne sagen: Sie hätten sich lieber einmal vorher bei Ihrem Bundesverteidigungsminister Volker Rühe erkundigen sollen. Der weiß nämlich sehr genau, wovon er spricht, wenn er sagt, daß angesichts der „realen Abzugsplanungen für die in Kroatien stationierten UN-Blauhelmsoldaten mit dem Ausbruch militärischer Kämpfe noch in diesem Frühjahr zu rechnen ist".
Die Bundesregierung bereitet sich auf dieses blutige Ereignis auf dem Balkan auf ihre Weise vor. Zuerst wurde beschlossen, alle kroatischen Bürgerkriegsflüchtlinge in ihre kriegsgeschüttelte Heimat zwangsweise zurückzuschicken. Natürlich sehe auch ich, was Herr Burkhard Hirsch eben gesagt hat, daß es ein Fortschritt ist, wenn jetzt in die Gebiete, aus denen die UN-Blauhelme hinausgeworfen werden, nicht abgeschoben werden soll. Aber ich möchte dennoch darauf aufmerksam machen: In dieser Region werden kroatische Soldaten und die der serbischen Minderheit in Kroatien als erste aufeinander schießen, mit all den schrecklichen Konsequenzen für die Zivilbevölkerung und hierbei speziell auch für Frauen; denn die waren bekanntlich im gesamten Verlauf des Balkankrieges systematischen Vergewaltigungen ausgesetzt.
Nun setzt die Bundesregierung dem noch eines darauf: Am 6. März 1995 begannen Verhandlungen mit der Regierung des ehemaligen Jugoslawien. Hierbei geht es um Massenabschiebung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern sowie jugoslawischen Bürgerkriegsflüchtlingen.
Die allgemeine Menschenrechtslage in Serbien und Montenegro ist mehr als besorgniserregend. Ich möchte nur an das Schicksal der jugoslawischen Deserteure erinnern. Diese haben, teilweise unter großen persönlichen Gefahren, ihren Dienst an dem völkermörderischen Krieg, der zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien tobt, verweigert. Sie haben Zuflucht in der Bundesrepublik gesucht. Im Falle ihrer Abschiebung haben sie nach Erkenntnissen von Amnesty International mit drakonischen Strafen für ihr vorbildliches Verhalten zu rechnen.
Willy Wimmer, der sich kürzlich im Auftrag der OSZE in Belgrad aufhielt, bezifferte die Zahl der abzuschiebenden jugoslawischen Asylbewerberinnen und Asylbewerber auf 40 000. Zusätzlich erwartet die jugoslawische Seite, daß ihr aus der Bundesrepublik 40 000 bis 50 000 Bürgerkriegsflüchtlinge auf dem silbernen Tablett als Reservearmee zugeschoben werden. Die Bundesregierung möchte so Einfluß auf die innerserbischen Verhältnisse nehmen, um dieses Land berechenbarer zu machen und es wieder an die Staatengemeinschaft heranzuführen.
Ulla Jelpke
Wieso, so frage ich mich, hat sich die Bundesregierung für ihr heikles Spiel ausgerechnet das hochsensible Thema der serbischen Bürgerkriegsflüchtlinge herausgesucht? Für die betroffenen Menschen ist dies ein Spiel mit einem unberechenbaren, womöglich sogar tödlichen Ende. Rest-Jugoslawien ist nicht irgendein Staat. Es ist ein Land, gegen das immer noch Sanktionen in Kraft sind, in dem die Menschenrechte verletzt werden, in dessen Hoheitsgebiet international gesuchte Kriegsverbrecher geduldet werden und das auf einen Krieg zusteuert, der durch den Rausschmiß der UN-Blauhelme aus Kroatien vorgezeichnet ist.
In der geplanten massenweisen Rückführung jugoslawischer und kroatischer Bürgerkriegsflüchtlinge wird deutlich, wie gnadenlos die Bundesregierung ihre Flüchtlings- und Menschenrechtspolitik betreibt. Wenn sie, wie geplant, diese Menschen als Kanonenfutter auf die Schlachtfelder des völkermörderischen Balkankrieges zurückschickt, wer soll dann zukünftig überhaupt noch eine Chance haben, in diesem Land Zuflucht zu finden?
Das Wort hat jetzt Staatssekretär Lintner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte es noch einmal klarstellen: Die Bundesregierung führt keine Verhandlungen mit der Regierung in Belgrad etwa über den Abschluß eines völkervertragsrechtlichen Rückübernahmeabkommens; denn solange die Europäische Union die Bundesrepublik Jugoslawien - das sind Serbien und Montenegro - völkerrechtlich nicht anerkannt hat, stellt sich nicht die Frage, ob und gegebenenfalls welche völkerrechtlichen Verträge mit Jugoslawien geschlossen werden sollen.
Ich kann Ihnen, Herr Kollege Duve, auch den Grund nennen, weil Sie die Position ja kritisiert haben. Der Grund liegt einfach darin, daß Ex-Jugoslawien seinerseits Bosnien-Herzegowina und Kroatien nicht anerkannt hat, wir also diese Position auch aufrechterhalten zum Schutz dieser beiden Staaten vor möglichen Aggressivitäten Ex-Jugoslawiens.
Meine Damen und Herren, die Beachtung dieser Rechtslage ist politisch außerordentlich wichtig - auch in der Diktion, damit erst kein falscher Eindruck auch nach außen hin entstehen kann. Lassen Sie mich also die derzeitige Lage einmal ganz einfach und sachlich darstellen.
Erste Feststellung. Die Bundesrepublik Jugoslawien verweigert in großem Umfang völkerrechtswidrig die Rücknahme der eigenen Staatsangehörigen. Selbst diejenigen Jugoslawen, die freiwillig in ihre Heimat zurückkehren wollen, haben keine Gewähr, in Serbien überhaupt einreisen zu dürfen. Auch der Besitz eines gültigen jugoslawischen Passes allein bietet keine solche Gewähr.
Erst recht verweigert Serbien-Montenegro eigenen Staatsangehörigen, die abgeschoben werden sollen, die Einreise. Das gilt im übrigen vor allem auch für diejenigen, die sich angeblich oder tatsächlich dem Wehrdienst entzogen haben - auch in der Zeit des Krieges, also von Mai 1991 bis Mai 1992.
Zweite Feststellung. Mit dieser Situation ist eben nicht nur die Bundesrepublik Deutschland allein konfrontiert, sondern die übrigen westeuropäischen Staaten stehen vor dem gleichen Problem.
Dritte Feststellung. Das völkerrechtswidrige Verhalten Jugoslawiens führt dazu, daß sich die Zahl der ausreisepflichtigen Jugoslawen im Bundesgebiet fortlaufend erhöht. Die jugoslawische Haltung muß letztlich auch als zusätzlicher Anreiz zur illegalen Zuwanderung gewertet werden, weil eben die illegalen Zuwanderer davon ausgehen können, daß sich ihre Rückführung mit hoher Wahrscheinlichkeit wesentlich verzögern wird.
Im übrigen erlaube ich mir auch hier den Hinweis, daß jeden Monat, meine Damen und Herren, etwa 2 000 bis 3 000 Jugoslawen bei uns einen Asylantrag neu stellen.
Vierte Feststellung. Die von dieser jugoslawischen Haltung betroffenen westeuropäischen Staaten sind sich darin einig, daß dieses völkerrechtswidrige Verhalten so nicht hingenommen werden kann. Deshalb haben z. B. Schweden und die Schweiz bereits Gespräche mit der Regierung in Belgrad geführt. Auch die Bundesregierung hat zu diesem Zweck Gesprächskontakte zur jugoslawischen Seite geknüpft. Dazu haben Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums des Innern am 6. und 7. März 1995 Gespräche in Belgrad geführt.
Ich kann über diese Gespräche insgesamt sagen, daß dabei kein Fortschritt erzielt werden konnte. Meine Damen und Herren, insbesondere Herr Duve, nicht mehr und nicht weniger ist Gegenstand dieser Gespräche gewesen und ist bei diesen Besuchen passiert. Die Bundesregierung wird allerdings - wie auch die Schweiz und Schweden - ihre Bemühungen fortsetzen und eine zweite Gesprächsrunde anstreben.
Fünfte Feststellung. Aus diesen Gesprächen wissen wir - wiederum ganz aktuell, aber das entspricht nur der alten Erkenntnis -, daß eben auch denjenigen Fahnenflüchtigen, die in der Zeit des Krieges zu uns gekommen sind, in Ex-Jugoslawien keine derartige Behandlung droht, daß sich daraus ein allgemeines Abschiebehindernis nach unserem Recht ergeben würde.
Diese Erkenntnis entspricht auch den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes, des UNHCR und anderer. Ein Gruppenschutz - ich betone: Gruppenschutz - ist deshalb nicht erforderlich. Ich darf hier zur Begründung oder zur rechtlichen Seite der ganzen Angelegenheit auf die Ausführungen des Kollegen Dr. Hirsch verweisen.
Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
Meine Damen und Herren, unabhängig davon ist es auch verfehlt, in bezug auf die Staatsangehörigen von Serbien-Montenegro von Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlingen zu sprechen. Eine Kriegssituation besteht in Bosnien und Herzegowina, und nur die von dort Geflüchteten sind Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlinge. In Serbien und Montenegro herrscht jedoch weder Krieg noch Bürgerkrieg.
Es gibt daher keine Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlinge aus der Bundesrepublik Jugoslawien.
Die Frage, was bei neuerlichen kriegerischen Auseinandersetzungen wäre, ist erst bei einer neueren Auseinandersetzung zu beantworten. Sie ist nach unserer Rechtslage eindeutig zu beantworten. Es können hier keine Zweifel entstehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ach so, gut.
Lassen Sie mich zum Schluß einen Appell an alle Seiten dieses Hauses richten, natürlich vor allem an die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die diese Aktuelle Stunde eingefädelt hat.
- Herr Fischer, auch Sie empfinden ein gewisses Maß an Verantwortung, so nehme ich an, für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Im Interesse dieser Position darf ich auch Sie auffordern: Unterstützen Sie die Position der Europäischen Union; denn sie entspricht genau der Position der Bundesregierung.
Der Eindruck, daß Ex-Jugoslawien für seine Position Anwälte oder Unterstützung bei deutschen Politikern hätte, würde die Haltung der serbischen Regierung, die wir hoffentlich gemeinsam beklagen, nur noch versteifen. Das wollen wir doch beide nicht.
Das Wort hat die Kollegin Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man sieht am Verlauf der Debatte: Dieser spezielle Anlaß und dieses Thema taugen nicht für pathetische Rundumschläge. Das sage ich sowohl an die Adresse des Kollegen Marschewski als auch zu Ihnen, Herr Kollege Lippelt.
Wir beschäftigen uns nicht zum erstenmal mit der Frage, unter welchen Umständen und Bedingungen man Menschen zurückschicken kann, soll und darf. Es gibt einerseits die rechtliche Situation, die mit Begriffen wie Ausreisepflicht oder Abschiebungshindernis umschrieben ist. Auf der anderen Seite kann es uns aber unter humanitären Erwägungen nicht gleichgültig sein, in welche Situation wir Flüchtlinge entlassen und welche Bedingungen sie bei einer möglichen Rückkehr vorfinden.
Ich will dazu Beispiele aus Debatten der letzten zwölf Monate nennen. Da gab es zu Beginn des vergangenen Jahres eine ziemlich erregte Diskussion um die Rückführung der kroatischen Bürgerkriegsflüchtlinge. Gottlob rückten seinerzeit die Innenminister von ihren zunächst pauschalen Abschiebungsplänen ab und verständigten sich auf ein abgestuftes Verfahren. Es war modifiziert und zeitlich gestreckt.
Selbst bei diesem Stufenprogramm werden jetzt Überlegungen angestellt, ob die Rückkehrer vor allem in die Regionen, in denen sie wieder heimisch werden sollen, vielleicht wegen der dort vorhandenen desolaten Verhältnisse doch nicht so schnell zurückgeschickt werden sollten. Was Wohnungen und Infrastruktur betrifft, ist die Rede von einer weiteren zeitlichen Verzögerung.
Dann gab es am Anfang dieses Jahres großspurige Ankündigungen für ein demnächst auszuhandelndes Rückführungsabkommen mit Vietnam, das mit Geld und Wirtschaftshilfe erkauft werden sollte. Das ist inzwischen geplatzt, zumindest bis auf weiteres. Ich konstatiere, daß wir Sozialdemokraten in dieser Debatte mit unseren kritischen Fragen und Einwendungen völlig recht hatten.
Jetzt geht es um die Möglichkeit, Flüchtlinge nach Serbien und Montenegro zurückzuschicken. Nichts anderes ist Gegenstand der heutigen Debatte. Wir gehen erst einmal ganz nüchtern auf die tatsächliche Lage ein: Faktisch besteht ein Abschiebungshindernis, wir haben es soeben von Herrn Lintner gehört. Belgrad ist nicht bereit, Staatsangehörige der Bundesrepublik Jugoslawien, wie sie sich nennt, aufzunehmen, wenn sie nicht freiwillig kommen.
Einige Versuche anderer Länder, nach der Aufhebung des Flugembargos ausreisepflichtige Serben abzuschieben, schlugen fehl. Belgrad ließ sie nicht einmal auf den Flughafen einreisen, Also werden die betroffenen Ausreisepflichtigen einstweilen geduldet. Ihre Lage ist hier wahrhaftig nicht rosig. Sie ist natürlich von Unsicherheit, Angst und einem Leben zwischen Hoffen und Bangen geprägt.
Am Beispiel Nordrhein-Westfalen aufgezeigt: I lier leben zur Zeit etwa 60 000 Serben, und etwa die hälfte von ihnen ist ausreisepflichtig. Selbst wenn
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
ein Abkommen - oder wie immer Sie es auch nennen wollen - zustande käme, würde sich die Abschiebung über einen längeren Zeitraum hinziehen. Das sagen uns Experten.
Aber das politische Kernproblem besteht ja darin: In Belgrad gibt es praktisch kein Interesse, Gespräche oder Verhandlungen - wie wollen Sie es denn nun nennen, Herr Lintner? - über ein derartiges Abkommen zu führen. Es sei denn, die deutsche Seite würde die „Bundesrepublik Jugoslawien" völkerrechtlich anerkennen oder für eine solche Vereinbarung mit hohen Geldsummen zahlen. Das kann ja wohl nicht das Ziel von Verhandlungen und Gesprächen sein. Darüber mögen wir uns einig sein. Ich frage mich: Was sollen dann politische Kontakte, Gespräche, Verhandlungen, wie auch immer? Ich weiß gar nicht, worüber wir hier eigentlich reden. Das könnte man ja auch über Mittler machen, wenn man es klären oder vorklären will.
Ich nutze diese Gelegenheit, das Schicksal der Gruppe noch einmal aufzuzeigen, das auch viele Bürger hier in der Bundesrepublik sehr stark bewegt. Es geht um die schon angesprochenen ehemaligen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Serbien und Montenegro. Wir fordern die Bundesregierung auf - das, was wir fordern, ist, glaube ich, nicht zuviel verlangt -, daß die Abschiebung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren, die sich zwischen Mai 1991 und dem 30. Juni 1992 dem Militärdienst in der jugoslawischen Volksarmee entzogen haben, ausgesetzt wird - das soll auch für die Ehegatten und die minderjährigen Kinder gelten -,
und zwar insgesamt so lange, bis die Rückkehrer durch ein wirksames Amnestiegesetz in Rest-Jugoslawien geschützt werden.
Wir haben diese Forderungen in enger Absprache mit der Vertreterin des UNHCR abgefaßt und gründlich erläutert.
Ich will zu diesem Zeitraum nur noch erklären: Dies war die Phase, Herr Marschewski, des offiziellen Kriegszustandes, also der tatsächlichen Kampfhandlungen. Wer sich damals in Serbien der Wehrpflicht entzog, tat es aus Gewissensgründen, aus politischer oder religiöser Überzeugung, daß man einem völkerrechtswidrigen, einem bewaffneten Konflikt nicht seine Hand reichen dürfe.
Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.
Diese Menschen müssen wir unabhängig davon schützen, daß gegenwärtig de facto keine Abschiebung stattfindet.
Sie brauchen Anerkennung als Flüchtlinge. Wir werden eine entsprechende Initiative hier ja noch diskutieren. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Mehrheit des Hauses diesem Anliegen die Zustimmung versagt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Eckart von Klaeden.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, die Debatte hat gezeigt, daß der Eindruck, den der Antrag zur heutigen Aktuellen Stunde erwecken will, falsch ist, nämlich, daß die Mehrheit dieses Hauses und die Bundesregierung diejenigen, die sich durch Desertation oder Kriegsdienstverweigerung dem völkerrechtswidrigen und abscheulichen Krieg gegen Kroatien und Bosnien entzogen haben, ausliefern und einem ungewissen Schicksal überlassen will. Dieser Eindruck ist falsch.
Ich glaube, es ist selbstverständlich, daß wir die Aggression auf dem Balkan zutiefst verurteilen. Es ist auch selbstverständlich, daß sich diese außenpolitische Bewertung in unserer Flüchtlingspolitik widerspiegelt. Herr Marschewski hat darauf hingewiesen: Die Bundesregierung hat dafür gesorgt, daß mehr Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland haben kommen können als in jedes andere Land in Europa. Auch ist der intendierte Eindruck falsch, daß das Regime in Rest-Jugoslawien ein Interesse an der Rückführung von Kriegsdienstverweigerern oder Deserteuren habe.
Zur Klarstellung gehört meiner Ansicht nach folgendes: Zunächst meine ich, daß diejenigen, die sich dem Kriegsdienst während des völkerrechtswidrigen militärischen Konflikts in Kroatien und Bosnien entzogen haben, und - darauf ist ja heute schon hingewiesen worden - diejenigen, die damals trotz der Androhung der Todesstrafe desertierten, unsere hohe moralische Achtung verdienen. Droht auf Grund dieses Umstandes eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit dieser Personen, so bieten die derzeitigen asyl- und ausländerrechtlichen Bestimmungen - Herr Hirsch hat darauf hingewiesen - ausreichend Möglichkeit, dem gerecht zu werden.
In den Fällen derjenigen Personen aber, die sich in den letzten zweieinhalb Jahren dem Kriegsdienst in der sogenannten Bundesrepublik Jugoslawien entzogen haben, verdient die Entwicklung seit Mitte 1992 besondere Beachtung. Ich will dazu nicht nur auf die Berichte des Auswärtigen Amtes verweisen, sondern auch auf die Erkenntnisse des UNHCR. Dazu ist zunächst festzustellen, daß sich seit dem
Eckart von Klaeden
6. Juni 1992 in Bosnien keine regulären Bodentruppen der jugoslawischen Armee mehr befinden.
- Das können Sie dem Bericht des UNHCR nur entnehmen.
Ende Juni 1993 wurde die Todesstrafe für alle bundesrechtlichen Straftaten - dazu gehören alle Wehrstraftaten - abgeschafft. Etwaige bereits verhängte Todesstrafen durften seitdem nicht mehr vollstreckt werden. Mehrere tausend Fälle von Wehrdienstentziehung sind gegenwärtig bei den für diese Straftat zuständigen Militärgerichten anhängig, ruhen aber in der Regel. Der Staat Rest-Jugoslawien ist weder in der Lage noch willens, mit der Fülle dieser Fälle fertig zu werden; Urteile ergehen nur in Ausnahmefällen.
Das bislang höchste Urteil, das bekannt geworden ist, sind acht Monate Freiheitsentzug gewesen.
Trotz dieser zweifellos eingetretenen Besserung darf nicht verhehlt werden, daß die Menschenrechtssituation im ehemaligen Jugoslawien nach wie vor sehr angespannt ist. Das gilt insbesondere für die Kosovo-Albaner. Die Bundesregierung wird im Falle weiterer Gespräche mit dem Regime Rest-Jugoslawiens daher weiterhin besonders auf die Einhaltung der Menschenrechte zu achten haben. Deswegen will ich zusammenfassen: Wir werden besonders darauf drängen, daß diejenigen Kriegsdienstverweigerer, die zurückkehren, dort nach unseren Begriffen rechtsstaatlich behandelt werden, und wir werden unser besonderes Augenmerk auf diejenigen richten, die sich während des Krieges in Kroatien und Bosnien dem Kriegsdienst entzogen haben, weil sie das organisierte Morden nicht hinnehmen wollten. Für die geäußerten Befürchtungen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN besteht daher kein Anlaß.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war die erste Rede von Herrn von Klaeden. Deswegen wollen wir ihm gratulieren.
Das Wort hat jetzt Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich halte Ihnen, Herr Kollege, zugute, daß es Ihre erste Rede war. Aber das Problem ist leider, daß Sie die Lage in Serbien und besonders im Kosovo ebenso vernachlässigt haben wie Ihre Vorredner aus der Koalition und wie leider auch die SPD-Rednerin, Frau Sonntag-Wolgast.
Diese Verharmlosung der Situation, der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen beispielsweise im Kosovo gab es schon im vergangenen Jahr in einer vergleichbaren Debatte. Auch da ging es um die Kosovo-Albaner. Was ist denn so skandalös an dem ganzen Vorgang, den Sie, Herr Lintner und Herr Hirsch, nicht „Verhandlungen" nennen wollen, sondern „Gespräche"? Mir ist es ziemlich egal, ob Sie das „Verhandlungen" oder „Gespräche" nennen.
Aber mit einer Regierung, die für Kriegsverbrechen und die sogenannten ethnischen Säuberungen verantwortlich ist, mit einem mörderischen Regime, das zu Recht von der internationalen Gemeinschaft geächtet wird, mit einem solchen Regime führt man keine Verhandlungen und redet auch nicht in dieser Weise mit ihm.
Die Aufwertung Belgrads, die Sie damit betreiben, ist eine De-facto-Anerkennung dieses Regimes und unterläuft direkt die Sanktionen der Vereinten Nationen.
Worüber wird verhandelt? Über die zwangsweise Rückführung von Menschen, die sich nicht am serbischen Aggressionskrieg beteiligen wollen, von Menschen, deren Rechte massiv verletzt worden sind und deren Rechte dann, wenn sie zurückkommen, noch einmal verletzt werden; denn dann landen sie nämlich entweder im Gefängnis oder eben in der serbischen Armee.
In welcher Weise wird verhandelt? Geheim. Die deutsche Öffentlichkeit sollte nichts erfahren. Zum Glück hat Herr Wimmer gegenüber einer Regionalzeitung überhaupt einmal von dem Vorgang berichtet.
Sonst wüßte überhaupt niemand etwas davon.
Welche Argumente werden benutzt? - Ich stelle fest: Auch das Auswärtige Amt ist nicht da. Ich bin sehr verwundert.
- Ich will trotzdem noch einmal darlegen, was aus dem Auswärtigen Amt gesagt wird.
Etwas erinnert mich da auf fatale Weise an die berühmten Tschetschenien-Briefe. Da wird einer Fraktionsmitarbeiterin nach Bekanntwerden unseres Antrags aus dem Auswärtigen Amt gesagt, wir sollten uns überlegen, ob wir nicht die „ethnischen Säuberungen" unterstützen, wenn durch uns die sogenannten Rückführungen beeinträchtigt werden. Welch ein Zynismus ist das! Die Opfer sollen dahin zurück, wo ihnen eben dieses Schicksal droht. Die
Gerd Poppe
Kritiker der Verhandlungen werden dann sogar noch als Unterstützer großserbischer Pläne denunziert, während die eigentliche Komplizenschaft als humanitäre Aktion gefeiert wird.
Zu welchem Zeitpunkt, meine Damen und Herren, finden diese Verhandlungen statt? Zu einem Zeitpunkt, wo der Waffenstillstand in Bosnien-Herzegowina außerordentlich brüchig geworden ist, wo nach der kroatischen Entscheidung alle Welt befürchtet, daß dieser Krieg eine neuerliche Eskalation findet.
- Herr Marschewski, Sie sollten mal da hinfahren und sich die Situation ansehen; dann würden Sie vielleicht anders reden.
Sie verhandeln, nachdem befürchtet wird, daß auch Serbien wieder stärker involviert wird und wieder am Krieg teilnehmen will, und nachdem Rußland vor einer Woche mit Serbien einen Militärvertrag abgeschlossen hat und massenhaft Waffen nach Serbien schickt. Das ist der Skandal.
Wer sind die Opfer? Natürlich in erster Linie die Albaner. 80 % der Betroffenen sind Albaner. Jeder kann sich informieren, welches Ausmaß die Menschenrechtsverletzungen dort haben.
Es ist ja richtig, daß Milosvevic diese Leute nicht zurücknehmen will. Aber warum wollen Sie ihn denn überreden? Warum sagen Sie, es wurde kein Fortschritt erreicht, weil er sie nicht zurücknehmen will? Vergleichen Sie mal. Ich komme aus Ostdeutschland. Ich habe damals erlebt, wie Sie Flüchtlinge aufgenommen und noch dafür bezahlt haben. Jetzt wollen Sie dafür bezahlen, daß Sie sie loswerden.
Den Kriegsdienstverweigerern und den Deserteuren, die sich im Ausland befinden, drohen Strafen von zehn Jahren bzw. im Kriegszustand sogar von 20 Jahren. Vergessen Sie das nicht!
Wenn bisher die Strafen in Belgrad niedriger ausgefallen sind, nämlich bis zu zwei Jahre, dann betrafen sie Leute, die eben nicht ins Ausland gegangen sind.
Noch ein Wort zum Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen; Sie haben sich auf ihn bezogen. Er hat schon 1993 zur Situation der Kosovo-Albaner, also immerhin 80 % derer, von denen hier die Rede ist, gesagt, sie würden diskriminiert; die Handlungen der serbischen Regierung seien von Willkür geprägt; ganz speziell bedroht seien die Kriegsdienstverweigerer und die Deserteure. Das Forschungsinstitut für Friedenspolitik in Weilheim hat am 31. Januar dieses Jahres gesagt - ich zitiere -:
Die aus dem von der Administration Milosvevic geschürten Klima resultierende Unverhältnismäßigkeit des Strafmaßes unter den bekannt extremen Haftbedingungen sollte für den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland Anlaß sein, auf jede Abschiebung eines unter die Militärgesetzgebung fallenden Mannes zu verzichten und sich die Position von Amnesty Internatipnal und des Hochkommissars für Flüchtlingsfragen der Vereinten Nationen dabei zu eigen zu machen.
Die Redezeit ist leider abgelaufen.
Ich komme zu meinem letzten Satz.
Hören Sie bitte auf mit diesem unmenschlichen Abschiebeverfahren, und hören Sie vor allen Dingen auf, mit Kriegsverbrechern über Menschenrechtsverletzungen so zu reden, als wären sie unsere normalen Gesprächspartner und Verbündeten! Machen Sie endlich Ernst mit Ihrer Ankündigung, sie würden in der Außenpolitik den Menschenrechten einen hervorragenden Stellenwert einräumen! Hier, in diesem Fall, haben Sie die beste Gelegenheit dazu, das zu beweisen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Zeitlmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich verstehe die Diskussion hier wirklich nicht mehr.
- Herr Duve, wenn Sie solche Zwischenrufe machen, wundert mich gar nichts mehr.
Wissen Sie, Sie hätten viele Jahre oft genug Gelegenheit gehabt, draußen zu sagen, daß Sie dagegen sind, daß die Bundesrepublik Gespräche auf unterer Verwaltungsebene führt.
Da haben wir mit allen Ländern und mit allen Regimen dieser Erde Kontakte im Interesse der Menschen gepflegt.
Wolfgang Zeitlmann
- Gut. - Ich sage Ihnen noch einmal: Es kann doch nicht wahr sein, daß Sie dieser Bundesregierung vorwerfen, daß sie mit einem Regime Gespräche führt, aus dessen Landstrichen etwa 120 000 bis 140 000 Menschen hier bei uns sind, die von dieser Regierung nicht zurückgenommen werden. Es ist hier kein Satz dazu gesagt worden, daß es völlig völkerrechtswidrig ist, eigene Leute einfach im Ausland zu belassen und sie nicht mehr aufzunehmen. Das Urproblem ist doch, daß es in Europa Regime gibt, die sich weigern, ihre eigenen Leute zurückzunehmen. Das ist doch das Urübel
- Herr Lippelt, wenn Sie weniger schreien würden und statt dessen häufiger denken würden, dann hätten Sie z. B. eine solche unsinnige Aktuelle Stunde nicht beantragt.
Es kann doch nicht richtig sein, daß wir mindestens hunderttausend Menschen vor Verwaltungsbehörden, vor Gerichten im einzelnen abprüfen und feststellen, daß sie rückführungspflichtig sind, daß sie zurückgehen müssen - zum Teil, weil sie Straftaten begangen haben; auch die sind ja dabei, das wird in diesem Flause niemand bestreiten wollen -, und daß wir dann an der Weigerung des Heimatlandes scheitern, ihre eigenen Leute aufzunehmen.
Der Herr Dr. Hirsch hat völlig zu Recht gesagt, man könne über humanitäre Aktionen reden.
- Herr Vorsitzender Penner, Ihr Neid, weil Herr Dr. Hirsch dreimal erwähnt wird, ist schon deutlich.
Aber er hat es halt verdient. Er hat zu diesem Thema ausnahmsweise einmal abgewogen gesprochen.
Er muß halt auch einmal von der CSU gelobt werden und nicht immer nur von links.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mich stört an der ganzen Diskussion, daß der Eindruck erweckt wird und voller Freude eigentlich immer nur darauf abgestellt wird, daß wir möglichst alle hierlassen müssen, daß jeder, der einmal zu uns gekommen ist und hier als Flüchtling über viele Jahre anwesend war, dann quasi unter einen generellen Abschiebestopp fällt. Das ist doch die Tendenz in Ihren Diskussionsbeiträgen. Das kann nicht gewollt sein. Wir wollen die Einzelfallprüfung, und diese Einzelfallprüfungen sind in diesen hunderttausend Fällen abgeschlossen.
Für mich sind humanitäre Aktionen, wie sie jetzt von der Innenministerkonferenz für Kroatien beschlossen wurden, völlig akzeptabel. Nur, ich erinnere mich noch ganz genau, Frau Sonntag-Wolgast: Wir haben seinerzeit über einen generellen Abschiebestopp diskutiert, nicht über einen Stopp der Abschiebungen in Gegenden der Krajina. Vielmehr ging es um alle Kroaten. Ich erinnere mich noch sehr genau, daß wir gesagt haben: Ein Land wie Kroatien, das auf der ITB in Berlin für Tourismus und um deutsche Touristen wirbt, kann doch wohl nicht erwarten, daß eine deutsche Regierung sagt: In dieses Land, in das unsere Touristen gebeten werden, schieben wir niemanden mehr ab.
Das gilt für Kriegsgebiete - einverstanden; darüber können wir reden. Aber wenn Sie das jetzt auf Jugoslawien beziehen, dann müssen Sie einfach feststellen: Es herrscht weder in Serbien noch in Montenegro Kriegszustand. Dann gibt es keine generelle Lösung, sondern es kann nur Einzelfallösungen geben.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es wird niemand bestreiten können, daß wir in Deutschland mit der jetzigen Einzelfallprüfung ohnehin ein hohes Maß an Gerechtigkeit haben. Daß es ohne Zweifel bei allem menschlichen Handeln auch einmal eine Fehlentscheidung geben kann, kann durchaus zugestanden werden. Aber deswegen kann man doch nicht immer sagen: Wir dürfen generell und überall nicht abschieben. Das zieht sich doch durch wie ein roter Faden, ob das Vietnam, ob das Kroatien, ob das Rest-Jugoslawien ist. Sie wollen generelle Abschiebestopps, und die wollen wir nicht. Wir wollen die Einzelfallprüfung. Darüber kann man mit uns reden.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat noch einmal der Kollege Duve.
Herr Kollege Poppe, ich habe mich noch einmal gemeldet, weil Sie ein Problem angesprochen haben, bei dem ich nicht erkannt habe, ob Sie wirklich nachvollziehen können, was eigentlich passiert.
Es gibt in der Tat serbische Pläne, Kosovo so aufzuteilen, daß dort möglichst viele Kosovo-Albaner verschwinden. Denen ist es völlig egal, wohin sie gehen. Sie würden auch noch helfen, wenn sie nach Deutschland oder wenn sie nach Albanien gingen. Es werden bereits Pläne zur territorialen Zerschneidung von Kosovo diskutiert. In einem Teil, möglichst ohne große Städte, sollen sie noch sein, der andere Teil soll „ethnisch gesäubert" werden.
Daß alle anderen Staaten mit einem liberalen Rechtssystem dann die Opfer der Geiselnehmer werden und in eine moralische Falle geraten, aus der man ganz schwer herauskommt, das müssen wir gemeinsam anerkennen. Es ist sehr schwer, mit dieser Falle umzugehen. Je offener wir sind - das ist ein ethisches Problem, und ich habe keine Lösung dafür -, um so mehr bedienen wir solche Ziele der
Freimut Duve
Serben. Das hat jetzt mit der Rückführungsfrage gar nichts zu tun. Sie hatten irgend jemanden zitiert und gesagt: Da bedient man ja die „ethnische Säuberung".
Bei der Rückführungsfrage sind wir uns, so hoffe ich, deshalb einig, weil wir uns - das ist mein zweiter Punkt, Herr Kollege - auf ein grundsätzliches Positionspapier des UNHCR vom 12. Januar 1995 beziehen, das Sie wahrscheinlich auch kennen, in dem ganz klar der Vorschlag gemacht wird: kein ganz genereller Abschiebestopp, sondern Einzelfallprüfung; ganz generell allerdings für die Deserteure, die Kriegsdienstverweigerer zwischen den bei den hier bereits genannten Terminen. Dort ist ganz hart und klar zu sagen: Diese Leute sind von Verfahren bedroht.
Diese Position des UNHCR, die er selber schriftlich vorgelegt hat, ist die Position, die sich die Bundesländer - jedenfalls die sozialdemokratisch regierten - und die SPD-Bundestagsfraktion zu eigen gemacht haben.
Ich denke, das ist eine Basis, auf der man gemeinsam etwas tun kann. Aus der moralischen Falle, in die ihn ein brutaler, geiselnehmender Staat immer wieder bringt, wird der liberale Rechtsstaat nie herauskommen. Das ist unser Problem. Wir dürfen nicht so miteinander reden und streiten, als gäbe es diese Falle, in die wir immer wieder geraten, nicht.
Ich habe mich noch einmal zu Wort gemeldet, um das deutlich zu machen.
Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Schlee,
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Ende dieser Aktuellen Stunde noch einige wenige Bemerkungen machen.
Erstens. Ich meine, dies ist eine Debatte zur völligen Unzeit.
Sie ist nicht nur grob unnötig; ich meine, sie ist auch schädlich. Sie schwächt die Position der Bundesregierung, und sie engt den Handlungsspielraum der Bundesregierung auf Monate, wenn nicht noch länger, ein. Das ist meine feste Überzeugung. Eine solche Debatte, lieber Herr Kollege Penner, gehört bestenfalls in den Innenausschuß, aber nicht ins Plenum des Bundestages.
Vorhin wurde von den monatlich 2 000 Asylbewerbern aus Jugoslawien gesprochen. Ich bin nicht sicher, ob solche Debatten das nicht weiter anheizen
und wir demnächst statt 2 000 Anträge im Monat dann 3 000 Anträge im Monat haben.
Zweitens. Eine solche Debatte ist auch deshalb in höchstem Maße problematisch, weil wir es mit einem außerordentlich schwierigen Gesprächspartner zu tun haben. Rest-Jugoslawien, das von der Völkergemeinschaft nicht anerkannt ist, ein Land, das sich weigert, eigene Landsleute aufzunehmen, stellt doch eine völlig neue Dimension der Problematik dar, meine Damen und Herren.
Ich glaube, ein solches Gespräch ist auch schon deshalb dringend notwendig, um den Jugoslawen zu sagen, daß es nicht geht, die eigenen Landsleute nicht aufzunehmen.
- Herr Kollege Schily, wenn hier pausenlos von der völkerrechtlichen Anerkennung die Rede ist, wenn in die Debatte eingeführt wird: „Das wollen die ja nur erreichen", wenn vom Geld die Rede ist, das wir ihnen zahlen sollen, dann treiben wir doch selber die Preise hoch. Auch deshalb brauchen wir eine solche Debatte am allerwenigsten.
Drittens. Ich möchte einige wenige Zahlen nennen. 140 000 Menschen aus Serbien und Montenegro sind in diesem Land. Es ist einfach unerträglich, daß sich ein Staat weigert, diese Leute aufzunehmen. Sie müssen auch einmal überlegen, wie wir gegenüber unseren Bürgern dastehen. Die nehmen nicht einmal die Straffälligen auf, meine Damen und Herren,
Leute, die, was die Brutalität angeht, Gewalttaten in unvorstellbarem Ausmaß gerade in den letzten Wochen und Monaten in diesem Lande verübt haben.
Sie spüren doch, daß da Emotionen hochgehen. Und da stehen wir da und sagen: Mit denen kann man nicht einmal reden, während alle anderen europäischen Staaten - lassen Sie das doch auf der EU- Ebene - in diese Richtung Gespräche führen. Glauben Sie doch nicht, daß sich Rest-Jugoslawien am Ende nicht bewegt, wenn sich die europäischen Staaten auch in diesem Punkt einig sind!
Herr Lippelt, was mich nachhaltig stört, sind Ihre moralisierenden Rundumschläge in den Raum hinein.
Mir gefällt auch nicht das ständige Zurückkeilen, wenn man auf Zahlen hinweist. Wir haben 1992/93 in der Bundesrepublik Deutschland 1,3 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, weit mehr als 400 000 aus dem ehemaligen Jugoslawien. Da kann man doch nicht den Eindruck erwecken, als ob da Leute unterwegs seien, die sich dieses Problems nicht gewärtig sind, die nicht bereit sind, dieses Problem zu lösen.
Dietmar Schlee
Was ist da nicht alles von unserer Bevölkerung gemacht worden! Wenn Sie weiter so argumentieren, Herr Lippelt, dann werden wir alle noch mehr an Glaubwürdigkeit verlieren, weil die Menschen in unserem Land der Auffassung sind, daß sie eine ganze Menge gemacht, daß sie sich angestrengt, daß sie humanitäre Hilfe im wahrsten Sinne des Wortes geleistet haben. Wir haben bisher für humanitäre Hilfsaktionen allein in Richtung Jugoslawien rund 600 Millionen DM ausgegeben - mehr als jedes andere Land in Europa und in der Welt. Das wissen doch die Bürger in diesem Land. Dann wollen sie das von uns auch honoriert haben und nicht ständig zusätzliche Nackenschläge einstecken. Das haben unsere Bürger nicht verdient, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die letzte aber!
Die letzte Bemerkung, Frau Präsidentin.
Es wird immer der Eindruck erweckt, da seien unsensible Leute am Werk, die nicht wissen, was es für problematische Altfälle, Bleiberechtsfälle und Abschiebestoppfälle gibt. Ich habe es dabei: Auf sechseinhalb Seiten, Herr Duve, ist dargestellt, welche
Ausnahmefälle wir - die Länder, der Bund - haben, in allen nur denkbaren Differenzierungen. Auch das sehen die Bürger unseres Landes, das wollen sie honoriert haben. Sie wollen keine Diskussion, die angesichts der obwaltenden Umstände und angesichts der Belastung unserer Bevölkerung niemand mehr nachvollziehen kann.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich Schluß machen.
Allerletzte Bemerkung: Das Problem muß - das Beispiel Jugoslawien macht es deutlich - auf die europäische Ebene gehoben werden. Nur hier - das ist meine feste Überzeugung - kann es gelöst werden.
Danke schön.
Vizepräsidentin. Dr. Antje Vollmer: Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit auch am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 9. März, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.