Rede von
Dr.
Helmut
Lippelt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Tage hat mich einer der jugoslawischen Kriegsdienstverweigerer, um die ich mich gelegentlich kümmere, angerufen und mir aufgeregt mitgeteilt, in einer Belgrader Zeitung stehe, am 6. März begonnen offizielle Verhandlungen mit Vertretern des deutschen Innen- und des Außenministeriums über ein Rückführabkommen. Die Zeitung berufe sich auf eine deutsche Quelle.
Nur durch diesen Hinweis habe ich an einer entlegenen Stelle in der „Aachener Volkszeitung" die Geschichte gefunden. Dort heißt es, 400 000 Bürgerkriegsflüchtlinge lebten hier. Die restjugoslawische Regierung habe jetzt per Verbalnote vorgeschlagen, über die ersten 50 000 bis 60 000 und ihre Rückführung zu sprechen - Rückführung gegen Kopfgeld; denn die jugoslawische Regierung Milosevic will ja dafür etwas haben. In einer dpa-Meldung ist schon von 120 000 die Rede.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die schockierende Nachricht veranlaßt zu fünf Fragen an die Bundesregierung, und danach sind vier Bemerkungen zu machen.
Erstens. Ist der Bundesregierung bekannt, daß es in Jugoslawien ein Militärsystem gibt, das alle Männer von 17 bis 40 Jahren der Militärdienstpflicht unterwirft und dann bis 50 Jahren auch noch der Reservistenpflicht?
Zweitens. Ist der Bundesregierung bekannt, daß von Oktober 1991 bis Mai 1992, also während des serbisch-kroatischen Krieges, Ausnahmezustand herrschte und deshalb alle Männer zwischen 17 und
50 Jahren, die in dieser Zeit das Land verließen, nach dortigem Recht Fahnenflucht begingen und theoretisch mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden können?
Drittens. Ist Ihnen bekannt, daß es dort ein rotierendes System des Kriegsdienstes gibt, nach dem die Männer für drei bis sechs Monate an die Front geschickt werden und dann die Männer der nächsten Straße oder des nächsten Dorfes dran sind?
Viertens. Ist Ihnen bekannt, daß einer Menge von Kriegsdienstpflichtigen die Beteiligung an Vergehen gegen die Zivilbevölkerung bis hin zum Mord befohlen wurde und daß durch das Rotationssystem große Bevölkerungsteile in diese Verbrechen verstrickt wurden und gerade deshalb so viele Kriegsdienstverweigerer ins westliche Ausland geflohen sind? Der Bericht des Helsinki-Menschenrechtkomitees in Belgrad vom Oktober letzten Jahres spricht von bis zu 300 000 Kriegsdienstverweigerern im westlichen Ausland.
Fünftens. Ist Ihnen bekannt, daß diese bei Rückkehr Prozesse erwarten? 5 000 sind schon durchgeführt, mehr als 3 000 sind noch anhängig.
Wenn dem Innen- und dem Außenministerium das alles bekannt ist - das sollte man vor Aufnahme solcher Verhandlungen eigentlich voraussetzen -, dann sind hier vier Skandale öffentlich anzuprangern.
Skandal 1. Männer, die hier als Bürgerkriegsflüchtlinge abgeschoben werden, landen drüben als Kriegsdienstverweigerer. Ein Jugoslawe wird es schwer haben, hier zu belegen, daß seine Verweigerung keine Verweigerung im Rahmen eines Heeres ist, wie wir es kennen, sondern eine Verweigerung gegenüber einer Armee ist, die in dem Lande „ethnische Säuberungen" betrieben hat. Da das aber so ist, ist Verweigerung dort etwas ganz anderes, nämlich eine politisches Asyl begründende Tatsache.
Skandal 2. Gerade diese politische Dimension seiner Tat wird ihm aber dort bestritten. Denn was wird Milosevic sagen? „Seht ihr", wird er sagen, „selbst die Deutschen halten eure Kriegsdienstverweigerung nicht für gerechtfertigt; denn, bitte schön, sie schicken euch zurück."
Skandal 3 liegt in der Aufwertung des Milosevic-Regimes durch diese offiziellen Verhandlungen. Denn wenn man unter solchen Bedingungen trotz der Blutspur, die sich durch Bosnien zieht, zurückschickt, bescheinigt man dem Land der Erfinder der „ethnischen Säuberungen" einen Rechtsstaatscharakter: Es ist gewissermaßen ein sicheres Ausland. Nur für seine Bürger offensichtlich nicht. Erzählen Sie das den Bewohnern, die „ethnisch gesäubert" worden sind.
Skandal 4. Die Kriegsgefahr wächst stündlich. Die dritte und fürchterlichste Runde des Krieges steht bevor. Wenn der Krieg in Kroatien ausbricht und auf Bosnien übergreift, wenn die kroatischen und bosnischen Serben, die Träger der großserbischen Idee, im Kriege stehen, wie lange wird sich dann Rest-Jugoslawien, wie lange wird sich Milosevic heraushalten können? Mit dieser Rückführaktion aber geben Sie
Dr. Helmut Lippelt
diesem Regime das Kanonenfutter, auch wenn es sich dabei um Kosovo-Albaner handelt, wie Sie sagen. Genau diese sind die Sklaven dieser Kriegsführung; genau diese sind das Kanonenfutter.