Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im März 1911 wurde in Deutschland, Dänemark, Österreich und der Schweiz zum erstenmal der Internationale Frauentag durchgeführt. 1913 war er in Deutschland Anlaß für eine Frauenwahlrechtswoche. 1914 wurde er zu einer Demonstration für das Frauenwahlrecht und zugleich zu einer Kundgebung für die Erhaltung des Friedens.
Ich freue mich, daß es uns gelungen ist, heute zum erstenmal in der Geschichte des Internationalen Frauentages - abgesehen von einer Menschenrechtsdiskussion - eine Debatte im Parlament zu führen, und zwar auf Grund einer interfraktionellen Initiative
der Frauen. Das heißt, es gilt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, Initiative zu ergreifen und zugleich an die erste Frauenbewegung zu erinnern, die in einer Verbindung von spontaner Bewegung - es gab auch Frauenstreiks aus Leidensdruck auf Grund der Arbeitsverhältnisse - und politischen Forderungen nicht gewartet hat, bis ein System sie zuließ, sondern zugepackt hat.
Insofern ist diese erste Frauenbewegung für uns auch Anlaß, am heutigen Tag nicht nur an ihre Leistungen für die Gleichberechtigung der Frauen zu erinnern, sondern uns auch zu fragen: Wie setzen wir ihre Arbeit fort, und wie verbinden wir die Arbeit in Organisationen mit der Frauenbewegung? Ich bin persönlich davon überzeugt, daß es bei aller politischen Verantwortung und Erwartung an die Politik entscheidend war, daß sich jeweils dann etwas bewegt hat, wenn die Frauen ihre Geschicke selbst in die Hand genommen und auch öffentlichen Druck ausgeübt haben.
Frauenpolitik hat keine nationalen Grenzen. Es geht heute nicht allein um die Frauen in Deutschland, sondern gerade auch um die Solidarität mit den Frauen in anderen europäischen Ländern und anderen Erdteilen. Trotz vieler positiver Entwicklungstendenzen weltweit dürfen wir nicht übersehen, daß im Zuge von Kriegen, armuts- und ideologisch bedingtem Radikalismus und Fanatismus viele Frauen wieder entrechtet werden, Opfer von Unterdrückung, Intoleranz, Gewalt und massivster Verletzung von Menschenrechten sind. Denken wir an diejenigen, die Opfer von grausamen Kriegsmaschinerien im ehemaligen Jugoslawien geworden sind, denen durch brutalste Vergewaltigungen jedwede Würde und Achtung genommen wurden, aber auch an die bedrängende und katastrophale Lage von Frauen in anderen Erdteilen.
Gewalt ist jedoch nicht nur ein Mittel des Krieges. Auch im scheinbar Friedlichen gehört Gewalt zwischen den Geschlechtern zum Alltag. Wie oft nimmt sich Gewalt in der Partnerschaft am brutalsten aus! Die überfüllten Frauenhäuser legen ein trauriges Zeugnis dafür ab.
Ich erinnere daran, daß Anfang der 80er Jahre die Frauenhäuser noch tabuisiert wurden. Ich schaue auf den Kollegen Heiner Geißler, der dies damals in der CDU zum Thema machte. Früher war es schwierig, darüber zu sprechen, heute ist uns allgemein bekannt, in welchem Maße die private Gewalt Anlaß öffentlicher Politik ist.
Aber vergessen wir auch nicht die Situation der Ausländerinnen in Deutschland. Rund ein Drittel aller in Deutschland lebenden Ausländer sind Frauen. Führen wir uns vor Augen, was ein Leben für sie in einer fremden Kultur bedeutet: Sie stehen zwischen ihrer Herkunftskultur, die sich in der Fremde nicht mehr in der gewohnten Form aufrechterhalten läßt, und der Tendenz zur Lockerung und Aufgabe der alten Bräuche in der neuen Umgebung. Wunschdenken und Illusion auf der einen, ökonomische und so-
Dr. Rita Süssmuth
ziale Realität auf der anderen Seite bilden die diffusen Orientierungsmuster für diese Frauengeneration. Nicht selten zerbrechen im Spannungsfeld von Tradition und Anpassungszwang, von Rückkehrwunsch und Daueraufenthalt die Familienbande. Auch hier muß ausländerpolitisch und frauenpolitisch gehandelt werden, wenn es um das Miteinander von Kulturen geht. Ich halte in diesem Fall eine Neuregelung des Aufenthaltrechts ausländischer Frauen, die mit einem Deutschen verheiratet sind, für besonders dringlich.
Wo stehen wir frauenpolitisch in Deutschland? Wohin geht die Entwicklung? Nach wie vor geht es um Gleichberechtigung, um den Abbau von Diskriminierung. Aber es geht um mehr, nämlich um einen gesellschaftlich revolutionären Wandel.
Mich empört es immer wieder, daß in erster Linie beim wissenschaftlich-technischen Umbruch von Revolution die Rede ist. Für mich ist die entscheidende revolutionäre Entwicklung der menschliche Wandel, der Wandel der Geschlechterbeziehungen. Ganz entscheidend ist die Frage: Wie gehen wir mit dem grundlegenden Wandel der Frauen in der Gesellschaft und in der Politik um?
Die Frauen haben den Aufbruch gewagt. Sie haben sich übrigens mehr verändert als die Männer.
Sie sind aus der ihnen scheinbar zugeteilten Rolle, aus dem Privaten, ins Öffentliche gegangen, das lange Zeit ausschließlich den Männern vorbehalten war.
Ich sage auch im 50. Jahr nach Beendigung des Krieges: Wie lange hat es gedauert, bis in der Frage des Widerstandes gegen das NS-System Frauen und ihre Leistungen in die öffentliche, in die historische Debatte einbezogen wurden?
Wir reden immer nur von den Defiziten, nicht von den ungeheuren Leistungen von Frauen in Geschichte und Gegenwart.
Es ist ihnen gelungen, in allen gesellschaftlichen Bereichen neue Impulse zu geben, entscheidende Weichen für die Zukunft zu stellen. Sie haben ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Sie haben dort Innovatives geleistet, wo eine Sackgasse drohte. Sie haben ihre Chancen, wo immer es ihnen ermöglicht wurde bzw. sie es sich selbst ermöglicht haben, ergriffen und ihr Leben selbst in die Hand genommen. Sie haben immer wieder konstruktive Unruhe in einem System gestiftet, das bis heute noch weitgehend männlich ausgerichtet ist.
Wir mögen uns fragen, ob denn viele der Dinge, die Männer irritiert haben, falsch waren. Die Entwicklung ist zunächst mit Ignoranz, dann mit Protest und anschließend mit Wachsamkeit und Argwohn
wahrgenommen worden, erst sehr spät mit Einsicht, welche Rolle denn die Frauen im gesellschaftlichen System und für die Lösung der Zukunftsprobleme wahrnehmen.
Lange Zeit galt: Frauen müssen leben wie Männer, sein wie Männer, nur dann können sie gleichberechtigt sein. Heute ist es nicht zuletzt die Wirtschaft, die mit dem Wort „Winning mixture ” sagt: Es kommt ganz entscheidend darauf an, daß wir Sichtweisen und Fähigkeiten der Frauen nutzen - natürlich wiederum, weil es notwendig ist und die Gesellschaft Innovationen braucht. Denn selbst Beratungsfirmen wie McKinsey fragen: Wie gestalten wir denn die Arbeitswelt familienfreundlicher, damit wir die Ressourcen der Frauen nutzen können?
Ich möchte hier sagen: Ob Frauenbeauftragte, Frauenförderung, Frauenministerien, bis hin zu Quoten - sie alle waren als Krücken unabdingbar, weil wir es ohne diese Instrumente auf normalem Wege nicht geschafft hätten.
Wir wären mit diesem Anteil heute weder hier in diesem Bundestag noch in vielen anderen Bereichen vertreten, wenn nicht auf diese Weise Schritt für Schritt und mit sehr viel Widerständen der Anteil der Frauen in allen Lebensbereichen erhöht worden wäre. Ich glaube nicht mehr an das Ammenmärchen, daß sich das alles von selbst nur durch Qualität und Qualifikation vollzieht.
Deswegen stehen wir auch als Frauen zu dem, was wir gefordert haben, auch in der kontroversen Diskussion. Wir alle wünschten uns, wir bräuchten diese Krücken nicht, aber wir haben Jahrzehnt für Jahrzehnt erleben müssen, daß es notwendig ist und daß die Freiwilligkeit ihre Grenzen hat, daß anders die Partnerschaft nicht herbeigeführt werden kann.
Deswegen lassen Sie mich sagen: Ich sehe gegenwärtig nicht nur die Fortschritte, sondern auch die Rückschläge, die Zerreißproben. In den mir verbleibenden fünf Minuten möchte ich darüber noch reden. Bei jeder Rezession, bei jeder Schwierigkeit wird erneut die Frage gestellt: Wohin gehören die Frauen? Sie gelangen bezüglich ihrer Identität nicht zu einer Klarheit, obwohl immer mehr Frauen der Gesellschaft insgesamt deutlich machen: Wir wollen mehreres sein: Mütter, kompetente Erwerbstätige, Beteiligte am öffentlichen Leben, an Kultur, Politik und Wissenschaft.
Aber immer wieder werden die Frauen zurückgeworfen, werden Identitätsblockaden aufgerichtet. Eine Gesellschaft, die dies immer wieder tut, muß sich über die gesellschaftlichen Folgekosten, die materiellen und die immateriellen, nicht wundern, weil sie selbst die Friktionen herbeiführt, die sie eigentlich beseitigen möchte.
Dr. Rita Süssmuth
Wenn wir nicht endlich konsequent werden im Hinblick auf die klare Zuweisung der Berufsrolle - indem eben nicht gefordert wird, die Frau müsse sich entweder für ein Kind oder für die Rolle als Erwerbstätige entscheiden, weil sie nur dann im Erwerbsleben existieren könne -, kommen wir nicht weiter. Das bedeutet, daß wir endlich dahin kommen müssen - was insbesondere seit dem Ende der 70er Jahre Schritt für Schritt aufgegeben worden ist -: Machen wir keine Gesetze für Frauen, sondern Gesetze für Frauen und Männer!
Das betrifft ihre Rolle in Familie, Beruf und öffentlichem Leben; denn niemals wird ein Mann gefragt, ob er sich denn gegen Kinder entschieden habe, damit er erwerbstätig sein könne. Das gilt nur für die Frauen; das ist nach wie vor so.
Deswegen glaube ich, daß wir keine Zeit zu verlieren haben. Es ist ohnehin ein Anachronismus, jetzt, 1995, über den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zu reden. Das ist in anderen Ländern längst geleistet worden.
Das gilt genauso für die Wiedereingliederung der Frauen nach der Familienphase. Ich sage: Das gilt auch für die Wiedereingliederung der Männer. Es ist ein Hohn, daß nur 1 bis 2 % der Männer Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen. Es muß endlich aufhören, daß ein Vater irritiert angeschaut wird, wenn er überhaupt Erziehungsurlaub nimmt. Das ist eine Aufgabe von Politik und Gesellschaft.
Das setzt sich fort in der Frage des notwendigen gesetzlichen Anspruchs und des Rechtsanspruchs auf Weiterbildung und Fortbildung. Wir leben in einer Zeit schnellster Veränderungen der Qualifikationen. Wenn es uns nicht gelingt, daß Frauen daran kontinuierlich teilhaben, wird es so weitergehen, daß sie nur bedingt am Erwerbsleben teilnehmen können.
Das gilt auch für die Notwendigkeit einer Flexibilisierung der Arbeitszeit. Nichts ist heute weniger im Lot als Zeitsouveränität, welche die Familie berücksichtigt. Wir erleben das bei der Teilzeitarbeit. Nach wie vor geht es darum, daß sich die Frauen nach den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen zu richten haben, ohne daß beide Aspekte miteinander kombiniert werden.
Ich wünsche mir auch - das ist nicht Teil unseres Entschließungsantrags -, daß die Bundesregierung nach Jahresfrist für die obersten Bundesbehörden einen Bericht vorlegt, was denn mit der Teilzeitarbeit
geworden ist, wie wir wirklich bestehende Hindernisse überwinden und selbst Vorbild sind für eine Gestaltung der Teilzeitarbeit mit allen Varianten, die möglich sind.
Ich fordere eine gleiche Beteiligung der Frauen nicht nur bei den Fortbildungsmaßnahmen, sondern auch bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes, bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben und im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit.
Ich denke, wir Frauen haben uns nicht zu verstekken. Wir sind selbstbewußter geworden und weniger verunsichert. Aber wir kommen nicht umhin, auch den Internationalen Frauentag zur politischen Gestaltung verbesserter Rahmenbedingungen zu nutzen. Das gilt insbesondere in bezug auf Kinderbetreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Rahmen unserer Anträge.
Unser Auftrag für die Zukunft ist ein Friedensauftrag, ist ein Auftrag, insbesondere in der Umweltpolitik, in der Raumplanung auf Änderungen, Verbesserungen hinzuarbeiten. Frauen haben ganz andere Vorstellungen von familienbezogenem Wohnen und Wohnraumumgebung, von regionaler Versorgung, kleinteiligen personalen und sozialen Bezügen. Diese Gesellschaft erlebt ihren Untergang, wenn sie nicht endlich begreift, daß sie Partnerschaft nur mit Frauen und Männern gestalten kann. Wenn wir diesen Gedanken das ganze Jahr über verfolgen, dann hat sich der 8. März wieder einmal gelohnt.
Und denken wir daran: Die Lage von Frauen ist sehr verschieden. Schaffen wir nicht erneut Altersarmut für die nachfolgenden Frauengenerationen! Deswegen sage ich abschließend noch einmal: Dieses Parlament kommt nicht umhin, sich mit den geringfügig Beschäftigten zu befassen.
Zwar dürfen wir dies nicht mit dem rigorosen Ziel tun, daß es keinen einzigen solchen mehr gibt, aber zu bedenken ist: Die hohe Zahl von geringfügig Beschäftigten ist nicht nur wettbewerbsverzerrend, sondern auch eine Ungerechtigkeit in bezug auf die Solidarkassen und schafft neue Armut der geringfügig beschäftigten Frauen, die mehr als 90 der geringfügig Beschäftigten ausmachen.
Ich danke Ihnen.