Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord-nungspunkt 1 a bis 1 c – fort: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2000
– Drucksache 14/1400 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung Finanzplan des Bundes 1999 bis 2003:– Drucksache 14/1401 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Sanierung desBundeshaushalts – Haushaltssanierungsgesetz
– Drucksache 14/1523 –
Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß
InnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuß für GesundheitAusschuß für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuß für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungIch erinnere daran, daß wir am Mittwoch für dieheutige Aussprache eine Debattenzeit von insgesamt4,5 Stunden beschlossen haben.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Familien, Senioren, Frauen undJugend. Das Wort hat die Ministerin Christine Berg-mann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den letztenTagen ist an dieser Stelle schon manches über die unter-schiedlichen Aspekte des Zukunftsprogrammes 2000 ge-sagt worden. Trotzdem denke ich, daß es notwendig ist,noch ein paar grundlegende Punkte anzusprechen, da ja– vor allen Dingen gestern – von der Opposition zumTeil einige abenteuerliche Behauptungen aufgestelltworden sind.Als Ministerin, die sich in ihrem Aufgabenbereich füralle gesellschaftlichen Gruppen – für Jung und Alt – ver-antwortlich fühlt, halte ich es für unsere wichtigste Auf-gabe, eine Politik zu betreiben, die soziale Gerechtigkeitzwischen den Generationen herstellt und die eben nichtzu Lasten der kommenden Generationen geht.
Deshalb kann man nicht oft genug wiederholen: EinePolitik, die die finanziellen Lasten in die Zukunft ver-schiebt, ist eine unsoziale Politik. Sie ist unsozial ge-genüber unseren Kindern und Enkelkindern, denen sieihre Zukunftschancen verbaut. Angesichts des Schul-denberges, den die alte Regierung aufgetürmt hat, istSparen geradezu eine Zukunftsinvestition zugunsten derjungen Generation.
Lassen Sie mich noch auf einige Punkte eingehen, diedeutlich machen, wo diese Bundesregierung Schwer-punkte setzt und wo – trotz aller Sparnotwendigkeiten –zusätzliche Mittel bereitgestellt werden.Wenn Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU,die Familienpolitik ins Zentrum Ihrer Politik rückenwollen, dann kann ich das nur begrüßen; das ist sehr lo-benswert.
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Ihre Schwerpunktsetzung zeigt natürlich aber auch, daßSie begriffen haben, daß es offensichtlich beträchtlicheVersäumnisse in der Zeit gab, in der Sie regiert haben.
Einsicht ist zwar immer der erste Weg zur Besserung.Aber dennoch muß ich sagen, daß die Versäumnisse indiesem Bereich, die Ihnen anzulasten sind, wirklich ganzerheblich sind. Von den Familien hört man – manbraucht dazu gar nicht das Bundesverfassungsgericht zubemühen –, daß Versäumnisse bei der finanziellen För-derung der Familien an allen Ecken und Enden zu findensind.Aber darüber hinaus gibt es noch Versäumnisse ananderen Stellen. Familienpolitik hat nämlich nicht nuretwas mit Finanzen zu tun. Familienpolitik hat auch et-was mit dem Bild der Familie in der Gesellschaft unddamit zu tun, welche Rahmenbedingungen geschaffenwerden, die die Familien brauchen, um ihr Leben nachihren Vorstellungen gestalten zu können. In diesem Be-reich haben Sie durch Ihre Politik in den letzten Jahrensehr viel versäumt.
Mit dem Regierungswechsel haben wir begonnen, dieSituation von Familien grundlegend zu verbessern.
– Keine Sorge, ich gebe Ihnen jetzt die Antwort: Zumeinen – das wissen Sie genau – haben wir das Kinder-geld sofort um 30 DM erhöht. Ich erinnere in diesemZusammenhang noch daran: Die letzte Kindergelderhö-hung – man kann diese Tatsache nicht oft genug erwäh-nen –
ist in der letzten Legislaturperiode gegen Ihren Willenzustande gekommen, und zwar auf Betreiben der sozial-demokratisch regierten Länder im Bundesrat. Auch dasgehört zur Wahrheit.
Zum anderen werden wir im Zusammenhang mit denBeschlüssen des Bundesverfassungsgerichtes zum 1. Ja-nuar das Kindergeld nochmals um 20 DM erhöhen.
Sie wissen, daß dies eine soziale Komponente ist;denn die Kinderfreibetragsregelung, mit der wir demBeschluß des Bundesverfassungsgerichts Folge leisten,ist allein eben nicht sozial gerecht, weil durch sie dieFamilien, die viele Steuern zahlen und sich deshalb dieFreibeträge voll anrechnen lassen können, begünstigtwerden, während Familien, die nur wenige oder gar kei-ne Steuern zahlen, dies nicht tun können. Wir erbringenhier also eine zusätzliche Leistung für Familien.Ich möchte ganz kurz auflisten, was wir sonst nochfür die Familien tun. Die Senkung des Eingangssteuer-satzes im Rahmen unseres Steuerentlastungsgesetzeskommt besonders Familien zugute, genauso wie die Er-höhung der Grundfreibeträge. Ich möchte auch dieZahlen nennen, um sie noch einmal zu vergegenwärti-gen: Die Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern wird imnächsten Jahr um etwa 2 200 DM entlastet.
– Diese Zahlen hören Sie nicht gerne. Trotzdem stim-men sie. Sie können auf eine solche Leistung in IhrerLegislaturperiode nicht zurückblicken.Im Jahre 2002 werden die Familien um etwa 3 000DM entlastet. Dies zeigt doch sehr deutlich: Wir redennicht dauernd davon, wie wichtig die Familien sind,sondern wir tun wirklich etwas für sie.
Dies hat etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, mit ei-ner Gerechtigkeit, die Sie, meine Damen und Herrenvon der CDU/CSU, während Ihrer Regierungszeit sträf-lich vernachlässigt haben.Wenn ich in dieser Woche lese, daß der CDU-Sozialminister von Baden-Württemberg, Herr Repnik,sagt: „Wir müssen jetzt endlich das Kindergeld erhö-hen“, dann kann ich darauf nur erwidern: Das ist etwaszu spät. Wir haben es ja gerade erhöht. Seine Forderungwäre in den letzten 16 Jahren sicherlich eher angebrachtgewesen. Aber mit dem Gedächtnis haben Sie ja so IhreProbleme.
Mein oberstes Ziel bei der Aufstellung des Haushalts2000 war es, die familienpolitischen Leistungen in mei-nem Ressort nicht anzutasten. Das bedeutet: Von den11 Milliarden DM meines Haushalts sind 8 MilliardenDM für familienpolitische Leistungen gebunden, über-wiegend für das Erziehungsgeld.
Die Mittel für familienpolitische Leistungen machen al-so 73 Prozent des Gesamtetats aus.
Wenn ich hier keine Kürzungen vornehme, dann heißtdas natürlich, daß in anderen Bereichen gespart werdenmuß. Darauf werde ich noch eingehen. Wir setzen trotzaller Sparnotwendigkeiten, von denen alle Ressorts be-troffen sind und denen sich folglich auch mein Ressortnicht entziehen konnte – mein Ministerium muß Einspa-rungen in Höhe von 880 Millionen DM erbringen –, einganz deutliches familienpolitisches Signal.Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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Ich möchte auch darauf hinweisen: Familienpolitikerstreckt sich nicht nur auf finanzielle Aspekte. Bei derAnpassung der Rahmenbedingungen für junge Familienan die veränderten Lebenswirklichkeiten befinden wiruns auf einem guten Weg. Wir werden demnächst eineNeuregelung des Erziehungsurlaubs einbringen, um Be-dingungen zu schaffen, die es den jungen Familien er-möglichen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen.
In bezug auf die Familienstrukturen gibt es einen großenNachholbedarf.Ich denke, das Ziel einer verbesserten Vereinbarkeitvon Beruf und Familie, sowohl für Mütter als auch fürVäter – die Vereinbarkeit ist nicht nur ein Problem derMütter; das kann man gar nicht oft genug sagen –, ge-hört auch zu einer modernen Gleichstellungspolitik. Un-ser Ziel ist es, gleiche Lebenschancen für Frauen undMänner in allen Lebensbereichen zu schaffen. Wir ha-ben einen Eckpfeiler mit dem Programm „Frau undBeruf“ gesetzt, das zum Teil schon umgesetzt wordenist. Wir haben für dieses Programm die notwendigenMittel bereitgestellt.Ich möchte an dieser Stelle auch darauf aufmerksammachen, daß wir in dieses Programm mit den IT-Berufen einen neuen Punkt aufgenommen haben. Mitder Initiative „D 21“ und dem Aktionsprogramm „Inno-vation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaftim 21. Jahrhundert“ fördern wir Maßnahmen, durch dieFrauen in die neuen IT-Berufe gelangen, damit dieserzukunftsträchtige Arbeitsmarkt Frauen genauso offen-steht wie Männern.
Ich möchte an dieser Stelle nicht mehr darüber sagen.Wir haben ja vorige Woche über das Programm „Frauund Beruf“ diskutiert. Das werden wir auch noch anvielen anderen Stellen tun.
Wir haben in den letzten Tagen sehr viel über die Zu-kunft unserer Alterssicherungssysteme gesprochen, einPunkt, der uns in zweierlei Hinsicht sehr am Herzenliegt. Es geht um Alt und Jung. Es geht zum einen dar-um, die Renten der Älteren zu stabilisieren und zu si-chern. Es geht zum anderen darum, den Jungen klarzu-machen, daß ihre Beiträge nicht ins Unendliche steigenwerden und daß die Alterssicherungssysteme für sie at-traktiv bleiben werden.Mir ist ein Aspekt, den ich hier gerne ansprechenmöchte, etwas zu kurz gekommen. Wenn wir über ältereMenschen reden, dann dürfen wir nicht nur von Fi-nanzen sprechen. Seniorinnen und Senioren in unse-rem Land sind keine Belastung für unsere Gesell-schaft. Sie sind eine Bereicherung. Ich sage das in allemErnst.
Ein Großteil der Menschen, die in den Ruhestand gehen– viele gehen häufig nicht ganz freiwillig mit 55 Jahrensehr früh in den Ruhestand – , ist aktiv und vital, bringtsich in die Gesellschaft ein, arbeitet ehrenamtlich und tutsehr viel, zum Beispiel für die junge Generation. Wirhaben uns auf die Fahnen geschrieben, die Rahmenbe-dingungen für dieses Engagement weiter zu verbessern,um deutlich zu machen, daß es sich um Ressourcen inunserer Gesellschaft handelt, die wir nutzen wollen. Dieälteren Menschen sind uns viel wert. Wir betrachten sieals eine Bereicherung in der Gesellschaft.
Wir dürfen auf der anderen Seite aber auch die hilfs-und pflegebedürftigen alten Menschen nicht vergessen.Trotz der bekannten Qualitätsmängel sowohl in Heimenals auch bei den ambulanten Diensten ist die alte Bun-desregierung sehr untätig geblieben. Wir arbeiten einenkräftigen Reformstau ab.
– Wenn Sie mit dem Kopf schütteln, dann frage ich Sie:Wo sind denn die Gesetze?
Wir sind diejenigen, die die bundeseinheitliche Alten-pflegeausbildung auf den Weg gebracht haben; wir sinddiejenigen, die jetzt das Heimgesetz novellieren. WennSie so empört sind, dann kann ich Sie nur auffordern:Beteiligen Sie sich! Machen Sie Ernst mit einer kon-struktiven Arbeit!
Gerade wenn es darum geht, bei der Pflege Qualitätssi-cherung durchzusetzen, die Heimaufsicht zu verbessernund die Mitwirkung der Heimbewohner zu verstärken,dann handelt es sich nicht um ein Thema, über das mansich parteipolitisch streiten muß. Ich lade Sie zu einerkonstruktiven Mitarbeit ein, damit wir den rechtlichenRahmen für eine Verbesserung der Situation schnellschaffen können.Wir haben in den letzten Tagen schon mehrfach überdas Thema „Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit“gesprochen. Als Jugendministerin liegt mir dieses The-ma sehr am Herzen. Wir haben über das Sofortpro-gramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ge-sprochen. Wir haben mit diesem Programm vielen Ju-gendlichen wieder Hoffnung gegeben. Es geht uns umalle Jugendlichen. Wir haben mit diesem Programm er-reicht, daß 25 Prozent der Teilnehmerinnen und Teil-nehmer – gerade als Berlinerin weiß ich, wovon ichspreche – junge Leute waren, die schon aufgegebenBundesministerin Dr. Christine Bergmann
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hatten, die in keiner Statistik mehr geführt wurden unddie in keinem Arbeitsamt mehr aufgetaucht sind. Wirhaben diese jungen Menschen erreicht. Ich halte das füreinen großen Erfolg.
Ihr Fraktionsvorsitzender hat vor einigen Monatendas böse Wort von der Ruhigstellung der Jugendlichengeprägt. Das stimmt mich bitter.
Es war kein Ausrutscher. Das wird dadurch belegt, daßFrau Merkel vor einigen Tagen in einem Interview mitder „Berliner Zeitung“ erklärt hat – ich war wie vomDonner gerührt –, dieses Programm sei überflüssig undsie würde es am liebsten streichen.
– Reden Sie einmal mit den Jugendlichen, die durch die-ses Programm eine Chance bekommen haben und diefroh sind, einen Ausbildungsplatz, ein Trainingspro-gramm oder einen Arbeitsplatz zu haben. Wenn Sie dasgetan haben, sprechen wir wieder miteinander.
Es ist erfreulich, wenn von Ihrer Seite überhaupt einVorschlag kommt, wo man selber zu sparen gedenkt.Aber an dieser Stelle werden wir Ihren Vorschlag nichtaufgreifen. Dieses Programm wird mit weiteren 2 Milli-arden DM fortgesetzt.
Wir werden dieses Sofortprogramm aus dem Bereichder Jugendhilfe flankieren, weil es uns wirklich um je-den Jugendlichen geht. Es geht uns vor allem um die Ju-gendlichen in den sozialen Brennpunkten, die sehrschlechte Startbedingungen haben. Wenn wir mit einemzusätzlichen kleinen Programm – es handelt sich nichtum ein 2-Milliarden-DM-Programm, aber um ein 15-Millionen-DM-Programm; auch das ist etwas – in densozialen Brennpunkten versuchen, Jugendliche, die dieSchule abgebrochen haben, die die Ausbildung abge-brochen haben, die wirklich ein Stück weit wegge-rutscht sind, dadurch in den Arbeitsmarkt zu integrie-ren, daß wir vor Ort lokale Bündnisse bilden und Schu-len, Arbeitsämter, Betriebe, Krankenhäuser und jeden,der in der Lage ist, einen solchen Jugendlichen auf-zunehmen, zusammenbringen, dann schließen wir eineweitere Lücke.Uns geht es bei unseren Bemühungen um die Inte-gration von Jugendlichen, aber auch darum, deutlich zumachen: Alle in der Gesellschaft sind mitverantwortlichdafür, daß alle Jugendlichen, auch die schwierigen, eineChance bekommen.
Mit diesen lokalen Bündnissen wollen wir erreichen,daß sich jeder in seiner Wohnungsbaugesellschaft oderin seinem Krankenhaus, in seinem Kiez oder in seinemsonstigen Umfeld danach umsieht, wo er noch etwas tunkann, um Jugendliche aufzufangen. Es ist uns ein Her-zensanliegen, allen Jugendlichen eine Chance zu geben.Das, was wir in diesem Bereich machen, kann sich alsoschon sehen lassen.
Meine Damen und Herren, mein Ziel war es, die er-forderlichen Einsparungen im Haushalt meines Ministe-riums zu erreichen, ohne die familienpolitischen Lei-stungen wie das Erziehungsgeld zu kürzen,
ohne den Kinder- und Jugendplan zu beschneiden, ohneden Altenplan zu beschneiden und ohne die Frauenpro-jekte einzuschränken. Das haben wir erreicht.Natürlich müssen wir unseren Konsolidierungsbeitragleisten. Wir werden das in erster Linie durch die Um-strukturierung des Zivildienstes erreichen. Damit rea-gieren wir aber nicht nur auf Haushaltsnotwendigkeiten.Vielmehr liegt seit langem die berechtigte Forderung aufdem Tisch, in bezug auf die Dauer zu einer stärkerenAngleichung des Zivildienstes an den Wehrdienst zukommen. Das schaffen wir damit auch. Wir werden aberauf jeden Fall – hierzu gibt es ja die eine oder andereDebatte – immer absichern können – auch wenn in Zu-kunft 15 000 Zivildienststellen weniger besetzt werdenkönnen –, daß die Dienste im Sozialbereich, bei derPflege von Kranken und Behinderten, über eine ausrei-chende Zahl von Zivildienstleistenden verfügen.
Wir haben jetzt 140 000 Zivildienstleistende. In Zu-kunft werden es 124 000 sein. Gegenwärtig leisten90 000 junge Männer ihren Zivildienst im sozialen Be-reich. Wir sind natürlich im Gespräch mit den Wohl-fahrtsverbänden. Wir werden es hinbekommen, daß indiesem Bereich alle Leistungen abgedeckt werden kön-nen. Hier habe ich durchaus ein gutes Gewissen, wennwir in diesem Bereich unsere Vorgaben umsetzen.Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schlußnoch einmal darauf hinweisen, daß schon der englischePhilosoph und Politiker Edmund Burke im 18. Jahrhun-dert festgestellt hat, daß der Staat eine Gemeinschaft ist„zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebthaben, und denen, welche noch leben sollen“. Das ist einbißchen in Vergessenheit geraten; aber wir haben unsdiese alte Weisheit wieder auf die Fahnen geschrieben.Der Haushalt für das Jahr 2000, den wir hier vorlegen,Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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wird auch in meinem Einzelplan der Forderung gerecht,Solidarität zwischen den Generationen zu schaffen.Danke schön.
Ich erteile nun der
Kollegin Hannelore Rönsch, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
HerrPräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehrverehrte Frau Ministerin, Ihre Rede hat ebenso wie IhreArbeit in diesem Jahr deutlich gemacht, daß Ihr Ministe-rium zu einer Unterabteilung des Finanzministeriumsverkommen ist.
Ich hätte mir gewünscht, daß Sie heute, da Sie schonkeine Mark mehr in der Tasche haben und auch vom Fi-nanzminister nichts mehr bekommen, wenigstens einigeGedanken vorgetragen hätten, wie Sie die Ihnen anver-trauten Personengruppen, die Familien, die Senioren, dieFrauen, die Jugendlichen, ideell stützen wollen.Sie sind seinerzeit in der Koalitionsvereinbarung mitdem Anspruch „Aufbruch und Erneuerung“ angetreten.
Es stimmt, Sie haben an einigen Stellen Wort gehalten:Bewährte Strukturen sind aufgebrochen worden. Famili-enförderung und Stützung der Familie findet nicht mehrstatt.
In der Jugendpolitik gibt es keine innovativen Ideen. Inder Seniorenpolitik, Ministerin Bergmann, sind Siekomplett abgetaucht. Wir haben jetzt das InternationaleJahr der Senioren. Was hat dieses Ministerium in demvon der UN ausgerufenen Jahr für die Senioren ge-macht?
Ich komme nachher noch darauf zu sprechen. Auch ha-ben Sie an keiner Stelle die Interessen der Frauen, dieIhr Ministerium wahrnehmen sollte, vertreten.Es ist ein Gesetzentwurf zur Familienförderungvorgelegt worden, den Sie hier auch angesprochen ha-ben. Aber was tun Sie denn? Sie tun nur das, was dasBundesverfassungsgericht Ihnen zwingend vorschreibt,
keine Mark mehr. Familienförderung findet nicht mehrstatt.
Wenn man dann noch bedenkt, daß Sie die Familien mitzwei und mehr Kindern von angemessener Förderungkomplett abgekoppelt haben
– ich kann verstehen, Herr Kollege, daß auch Ihnen dasweh tut –, empfinde ich das Ganze als ausgesprochenempörend.
Sie haben sich beim Unterhaltsvorschuß für die al-leinerziehenden Mütter, der bisher hälftig vom Bund fi-nanziert wurde, insoweit aus der Förderung zurückgezo-gen, als daß der Bund nun nur noch ein Drittel zahlt.Alles andere können dann die Kommunen bezahlen.
Aber dann müssen die Kommunen andere Sozialleistun-gen kürzen. Wen trifft das wieder? Wieder dieselbe Per-sonengruppe, nämlich die alleinerziehenden Mütter undVäter.Das Thema Ökosteuer sprechen Sie gar nicht mehran. Sie wissen, wie bitter die Einführung dieser Energie-steuer für Familien ist, weil sie in jedem Lebensbereichdavon betroffen sind.
Familien sind die Leistungsträger unserer Gesell-schaft. Sie hatten in Ihrer Rede eben einen ganz gutenAnsatz, bei dem ich gedacht habe: Jetzt kommt etwaszur ideellen Stützung der Familien.
Aber Sie haben kein Wort dazu gesagt, daß das pau-schalierte Wohngeld um 20 Prozent gekürzt und auchdas auf die Kommunen übertragen wird.
Auch zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf habenSie kein Wort gesagt. Hier hätten wir uns schon ge-wünscht, daß neue, innovative Ideen gerade für die jun-gen Frauen und Männer, die Beruf und Familie verein-baren wollen, von Ihnen vorgetragen werden.Der Seniorenpolitik, Frau Ministerin, haben Sie gan-ze drei Minuten gewidmet. Ich verstehe das. Sie müssenein ausgesprochen schlechtes Gewissen haben. Sie ha-ben Anfang des Jahres etwa 500 Senioren aus ganzDeutschland zu einem Kongreß nach Bonn eingeladen.Man muß sich das vorstellen: Die älteren Menschenwollten dort zusammenkommen und die sie bedrängen-den Fragen mit Ihnen diskutieren. Aber Sie haben dreiTage vorher diesen Kongreß ganz einfach abgesagt;manchen hat die Absage noch nicht einmal erreicht.
Wie gehen Sie mit alten Menschen um? Sie habenden Kongreß abgesagt, weil Ihr Kanzler wieder einmalBundesministerin Dr. Christine Bergmann
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ein Machtwort sprechen wollte. Sie haben alte Men-schen wegen Parteipolitik ausgeladen.
Wo waren Sie im Kabinett, als es um die Rente ging?Sie haben an Ihrer Seite eine Kabinettskollegin, die sichin Briefen an Rentner immer wieder für die nettolohnbe-zogene Rente eingesetzt hat,
und zwar nicht nur in einem computergeschriebenenBrief. Nein, mir liegt vor, daß man da noch ein Kreuz-chen macht und mit der Hand darunterschreibt: „Ichverbürge mich selbst für die nettolohnbezogene Rente.“Das war vor der Wahl. Nach der Wahl will man davonnichts mehr wissen.
Frau Ministerin, wo sind Sie? Was unternehmen Sie,um die Lebenssituation von Seniorinnen und Seniorenzu verbessern, um ihnen die Angst vor dem Alter zunehmen, die durch die leidvolle Diskussion, die Sie los-getreten haben, entstanden ist?
Frauenpolitik hat in Ihrem Ministerium überhauptkeinen Stellenwert mehr, schon gar nicht unter dieserBundesregierung. Ich hatte gehofft, daß es Ihnen gelingt,in diesem Jahr das häßliche Kanzlerwort vom „Ministe-rium für Gedöns“ endlich aus der Welt zu schaffen unddurch Ihre Politik möglich zu machen, daß dieses Wortvergessen wird. Aber was passiert? Sie haben ein heiß-beschworenes, effektives Gleichstellungsgesetz auf denWeg bringen wollen. Doch wo ist es?
Besonders schlimm finde ich, daß man jetzt in derZeitung lesen konnte, diese Bundesregierung habe dieAbsicht, die besondere Prüfung von frauenpolitischenThemen in den anderen Ministerien und bei den Kabi-nettsvorlagen ganz klammheimlich abzuschaffen.
Ich empfinde es als unerträglich, daß so etwas passiert.
Es reicht nicht aus, daß Sie jetzt darüber diskutieren,daß Prostituierte eine Anerkennung in der Gesellschafthaben sollen. Daß hier Diskussionsbedarf besteht, FrauMinisterin, bestreiten wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht.
Aber dies reicht für die Frauenpolitik nicht aus. Ichwürde mir schon wünschen, daß Sie ein wenig mehrKreativität und Durchsetzungskraft in diesem Kabinettzeigten.
Jeder Minister – Sie eben auch – hat das Programmfür 100 000 neue Arbeits- und Ausbildungsplätze fürjunge Leute angesprochen. Jeder meint wohl, er müssedies noch einmal betonen, weil Sie sonst in der Jugend-politik nichts vorzuweisen haben.
Meine Damen und Herren Kollegen, ich würde Ihnenempfehlen, zu Hause in Ihren Wahlkreisen
– dann können Sie eigentlich gar nicht so reden – malmit den Jugendlichen, mit den Kreishandwerkerschaften,mit den Handwerkskammern, den Industrie- und Han-delskammern und den Arbeitsämtern zu reden. Dann er-fahren Sie sehr schnell, was hier passiert:
Mit 2 Milliarden DM wird eine Bilanz gereinigt; Ju-gendliche werden vorübergehend in Maßnahmen ge-parkt. Es handelt sich nicht um Ausbildungsplätze.
– Wenn Sie an dieser Stelle so laut werden, dann bitteich Sie, sich nächste Woche einfach einmal zu Hauseschlau zu machen bei den Jugendlichen, den Auszubil-denden, den Ausbildern und denjenigen, die die Ausbil-dungsplätze zur Verfügung stellen.
Mein Kollege Thomas Dörflinger wird nachher nochauf die Zivildienstleistenden eingehen. Auch hier vertei-digen Sie, Frau Ministerin, etwas, obwohl Sie genauwissen, daß gerade alte Menschen und Pflegebedürftige,die Ihnen anvertraut sind, darunter leiden, daß die Zeitvon 13 Monaten auf 11 Monate gekürzt werden soll.Ich fordere Sie auf, Frau Ministerin: Nehmen Sieendlich Ihre Aufgaben wahr, und vertreten Sie die Ihnenanvertrauten Personengruppen – es sind oft die beson-ders Schutzbedürftigen – endlich einmal in diesem Ka-binett!
Es kann nicht sein, daß Familien-, Senioren-, Jugend-und Frauenpolitik zu einem Nichts verkommt bzw. vonanderen Ministerien wahrgenommen wird, während SieHannelore Rönsch
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nur noch als Ministerin eines Ministeriums für Gedönsvorne stehen.
Das Wort hat nunKollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/DieGrünen.
Kollegen! Frau Rönsch, ich hatte immer gedacht, Haus-haltsberatungen seien die Sternstunde der Opposition.
Aber Sie haben heute kein Wort zum Haushalt gesagt,sondern haben uns erzählt, bei welcher Veranstaltungdie Ministerin war und wo sie nicht war. Sie haben IhreChance hier verpaßt.Wir sprechen heute über einen Haushaltsentwurf, derkeine Zuwächse, sondern massive Kürzungen vorsieht.Ich gestehe, für mich als Fachpolitikerin ist das zunächsteinmal bitter. Gerade die Grünen hatten gehofft, bei ei-ner Regierungsbeteiligung mehr für Frauen und Famili-en, für junge und für alte Menschen tun zu können. DieKohlsche Erblast wiegt aber schwer.
– Ich erläutere das. – Sie, meine Damen und Herren vonder Opposition, haben es zu verantworten, daß im letz-ten Jahr jedes Neugeborene mit einer Schuldenlast inHöhe von 30 000 DM auf die Welt gekommen ist.
Für diesen Zustand tragen Sie die Verantwortung; wirwerden ihn beenden.
„Wir haben diese Welt nur von unseren Kindern ge-borgt“ – das war ein Slogan der Grünen aus früherenJahren. Das meinten wir nicht nur ökologisch. Wir dür-fen auch finanziell nicht länger auf Kosten der nächstenGeneration leben. Nur darum akzeptieren wir die Ein-sparungen in Höhe von 863 Millionen DM. Daß dieKürzungen nicht an Stellen erfolgt sind, die die Kernbe-reiche der Frauen-, Familien-, Jugend- und Seniorenpo-litik ausmachen, verdanken wir Ihnen, Frau MinisterinBergmann. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.
Wir gehen davon aus, daß die Haushaltsansätze füreine zielgerechte Politik ausreichen werden. Allerdingswerden wir darauf achten, daß keine Einsparungen zuLasten wichtiger Projekte erfolgen. Kürzungen dürfennämlich nicht an die Substanz einer sinnvollen Politikgehen.Nun zu den Maßnahmen im einzelnen. Einsparungenwurden insbesondere in zwei Bereichen vorgenommen:im Zivildienst – dazu wird gleich mein Kollege Christi-an Simmert etwas sagen – und beim Unterhaltsvorschuß.Durch die Einbeziehung der Kommunen ist es uns ge-lungen, die Finanzierung des Unterhaltsvorschusseszwischen Bund, Ländern und Kommunen gerechter zuverteilen.
Dadurch wird ein Anreiz für eine höhere Rückzah-lungsquote geschaffen;
denn durch die finanzielle Beteiligung haben die Kom-munen nun auch ein eigenes Interesse daran, den Vor-schuß bei den säumigen Vätern zurückzuholen. Dabeiwollen wir ihnen helfen.
Es darf nicht länger – wie bei Ihnen – ein Kavaliersde-likt sein, wenn Väter ihren Kindern den Unterhalt vor-enthalten.
Eine Rückholquote von 30 bis 40 Prozent ist realistisch.Mit den derzeitigen 13 Prozent sind wir davon weit ent-fernt. Ich sehe mit großem Interesse, daß die Justizmini-sterin das Sanktionenrecht erweitern will. Ich deute dashier nur einmal vorsichtig an.Familienpolitisch hat die rotgrüne Koalition schonviel geleistet, auch wenn sich das in diesem Haushalts-plan nicht widerspiegelt. Familien mit zwei Kindern er-halten ab dem 1. Januar 1999 jährlich 1200 DM Kin-dergeld mehr als während der Ära Kohl. Das hilft nichtnur den Familien, sondern wird auch den Konsum an-kurbeln und sich letztendlich in Arbeitsplätze umwan-deln.Im Haushalt 2000 – Frau Rönsch, Sie haben gefragt,wo die ideelle Unterstützung bleibt – gibt es gerade inder Familienpolitik neue Schwerpunkte. Sie haben viel-leicht den Plan gelesen. Aktionsprogramme wie „Ar-mutsprophylaxe in Familien“, „Mann und Familie“ und„gewaltfreie Erziehung“ sind die Stichworte.Die Zahl der wirtschaftlich schwachen Familien steigtkontinuierlich: Immer mehr beziehen Sozialhilfe. Dashat nicht zuletzt der 10. Kinder- und Jugendbericht ge-zeigt. Diesen Familien ist es nur schwer möglich, ihrenAlltag wirtschaftlich zu bewältigen. Die Ursachen hier-für werden wir herausfinden; sie sind zahlreich. Deshalblegen wir einen Schwerpunkt auf die Armutsprophy-Hannelore Rönsch
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laxe. Wir werden ganz besonders die Selbsthilfe dieserFamilien stärken, zum Beispiel durch eine Schuldnerbe-ratung.Ein weiterer Schwerpunkt ist das Thema „Mann undFamilie“. Dies ist mir – wie Sie wahrscheinlich allewissen – ein besonderes Anliegen. Dieses Programmsoll aufzeigen, wie Männer und Väter für die Familien-arbeit gewonnen werden können. Es muß doch endlichdeutlich werden, welchen Nutzen alle Beteiligten voneiner gleichberechtigten Aufgabenteilung in der Familieund in der Berufsarbeit haben.Das dritte große Thema in der Familienpolitik ist diegewaltfreie Erziehung. Ende des Jahres wird es dazueinen Gesetzentwurf geben, wonach körperliche Bestra-fung, seelische Verletzung und andere entwürdigendeMaßnahmen unzulässig sind. Auch hier wird ein Ak-tionsprogramm die parlamentarischen Beratungen be-gleiten und ein Signal setzen für einen Paradigmen-wechsel bei der Erziehung von Kindern.Innerhalb des Haushaltsplans 2000 werden außerdemgezielt Maßnahmen zum Abbau der Diskriminierunggleichgeschlechtlicher Paare gefördert. Dieser schwu-len- und lesbenpolitische Aspekt liegt uns Bündnisgrü-nen besonders am Herzen
– Ihnen auch, Frau Kollegin Lemke; ich weiß –, zumales künftig endlich auch in der Bundesrepublik eine ge-setzliche Gleichstellung geben wird.
Eine Mehrheit in der Bevölkerung für dieses Gesetz gibtes schon lange. Sie haben das hier im Parlament bisherverhindert, meine Damen und Herren.
Damit das Programm „Frau und Beruf“ zu einem Er-folgsmodell wird, sind auch hier entsprechende unter-stützende Initiativen im Haushalt vorgesehen.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Frau Schewe-Gerigk, Sie habenauch der F.D.P. vorgeworfen, sie habe den Gesetzent-wurf zur Gleichstellung gleichge schlechtlicher Partner-schaften verhindert. Ich meine, der Wahrheit wegensollten Sie dann auch sagen, daß unser Gesetzentwurfhier im Plenum schon auf den Weg gebracht worden ist.Ich frage Sie, wann Ihr Gesetzentwurf nun kommt.
gislaturperiode gesprochen. Da hat sich die F.D.P. ver-weigert und keinen Gesetzentwurf eingebracht. Ichweiß, daß es jetzt eine Vorlage von Ihnen gibt. Ich mußsagen: Ich bin absolut enttäuscht darüber, wie dieser Ge-setzentwurf von Ihnen aussieht, wie wenig er regelt.Gleichgeschlechtliche Paare sollen zwar Pflichten, abernicht die entsprechenden Rechte bekommen. Wir wer-den uns in den parlamentarischen Beratungen natürlichauch mit Ihrem Entwurf auseinandersetzen. Aber ichmuß sagen: Das ist wirklich sehr wenig.
– Wir haben eine Menge auf der Pfanne.Ich fahre fort: Wir kehren aber auch vor der eigenenTür. „Gender mainstreaming“, in der EU seit Jahren er-folgreich praktiziert, soll endlich Einzug in die Bundes-verwaltung halten. Ich finde, es ist höchste Zeit, umzu-setzen, daß in allen Ressorts – nicht nur im Frauenmini-sterium – frauenpolitische Maßnahmen durchgesetztwerden.
Ich komme nun zur Seniorenpolitik. Frau Rönsch,Sie hatten in bezug auf das Internationale Jahr der Se-nioren Forderungen gestellt. Dafür sind im letzten Jahr6 Millionen DM bereitgestellt worden.
Es hat viele Veranstaltungen gegeben. Ich denke, daskann sich sehen lassen.Um der demographischen Entwicklung unserer Ge-sellschaft Rechnung zu tragen, ist in der Seniorenpolitik– da gebe ich Ihnen recht – ein Bewußtseinswandel not-wendig. Die Unterstützung, Betreuung und Pflege älte-rer Menschen muß endlich verbessert werden. Darumhaben wir im Haushaltsplan Maßnahmen vorgesehen –die haben Sie offensichtlich überlesen –, mit denen diedringend notwendigen Gesetzesänderungen gesell-schaftlich unterstützt werden. Dies betrifft insbesonderedas Altenpflegegesetz, das in der nächsten Sitzungswo-che auf der Tagesordnung steht.
– Auch hier ist von Ihnen die Mär verkündet worden,wir täten in diesem Bereich nichts. – Außerdem betrifftdies das Heimgesetz. Auch eine Weiterentwicklung derAltenhilfestruktur, die den Bedürfnissen der zunehmen-den Zahl Demenzkranker Rechnung trägt, steht an, undzwar zum Beispiel durch neue Wohn- und Betreuungs-formen für Demenzkranke.Aber nicht nur die kranken Menschen brauchen unse-re Unterstützung. Viele ältere Menschen erfreuen sichtrotz ihres hohen Alters guter Gesundheit. Sie wollen ihrsoziales, kulturelles und politisches Potential in die Ge-Irmingard Schewe-Gerigk
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sellschaft einbringen. Wir werden dafür eine ausrei-chende Infrastruktur zur Verfügung stellen. Aktivitätund Engagement beugen Isolation im Alter vor und tra-gen in hohem Maße zum Miteinander zwischen Jungund Alt bei. Die Chancen eines längeren Lebens könnenso genutzt werden.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich hoffe, meineAusführungen haben deutlich gemacht, daß die Politiktrotz gekürzter Haushaltsansätze nicht handlungsunfähiggeworden ist. Schaffen wir neue Spielräume, damit inden kommenden Jahren wieder strukturelle Verbesse-rungen möglich sind!Ich danke Ihnen.
Für die F.D.P.-
Fraktion erhält nun Kollege Klaus Haupt das Wort.
Es ist doch ein gutes Zeichen,wenn in diesem Zusammenhang ein Mann spricht. –Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! LiebeFrau Ministerin, elf Monate nach Amtsantritt dieser Re-gierung zeigt sich für viele Bürger deutlich: Sie habenviel versprochen und wenig gehalten.
Auch im Etat des Ministeriums für Familie, Senioren,Frauen und Jugend ist das leider nicht anders. Der vonRotgrün groß angekündigte sozialpolitische Quanten-sprung ist einfach nicht zu erkennen.
Frau Ministerin, im Gegensatz zu den in Sie gesetztenErwartungen hat zum Beispiel die Frauenpolitik für Sieoffenbar nicht den Stellenwert, wie er großartig inGlanzbroschüren prophezeit wird. Wenn das stimmt,was der „Focus“ diese Woche berichtet, nämlich daß inZukunft in Fragen von frauenpolitischer Bedeutung keinEinvernehmen mehr mit dem Frauenministerium erzieltwerden muß
und daß in Kabinettsvorlagen auch die obligatorischeAuflistung der Folgen für Frauen entfällt,
dann wird die bisherige Auffassung von Frauenpolitikals Querschnittsaufgabe, als Aufgabe aller Ressorts,aufgegeben, und die ohnehin geringen Einflußmöglich-keiten der Frauenministerin werden enorm beschnitten.
Offenbar setzt der Bundeskanzler auf Frau ohne Power,statt auf Frauenpower.
Ihr Programm „Frau und Beruf“ verkaufen Sie alsAufbruch in der Gleichstellungspolitik und als umfas-sendes gleichstellungspolitisches Arbeitsprogramm.Aber angesichts eines Zuwachses von gerade 2 Millio-nen DM gegenüber dem laufenden Jahr ist dies schlichtheiße Luft. Ausgaben in Höhe von ein paar tausendMark mehr für den Frauenrat bzw. für Pro Familia istlediglich Klientelpflege, aber kein gestalterisches Kon-zept für eine neue Politik.
– Frau Schewe-Gerigk, wir Liberale unterstützen dasZiel, Frauen zu wirklicher Gleichberechtigung in Füh-rungsstrukturen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaftzu verhelfen. Dieses Ziel ist aber nicht durch solcherhetorischen Blasen zu erreichen, sondern nur durch eingesellschaftliches Konzept, das den Realitäten Rech-nung trägt.
Frau Ministerin, Sie haben die schwere Aufgabe, zusparen. Wir Liberale erkennen das an. Wir haben imGegensatz zur SPD schon vor der Wahl gesagt, daß mansparen muß. Wir unterstützen Sie, wenn Sie sich jetztder unvermeindlichen Tatsache stellen, daß wir leiderauch im Bereich der sozialen Leistungen Einschnittevornehmen müssen.Den Großteil der in Ihrem Etat eingesparten 800 Mil-lionen DM erreichen Sie durch die stärkere finanzielleBeteiligung der Zivildienststellen sowie durch die Ver-kürzung des Zivildienstes. Auch wir unterstützen dieVerkürzung des Zivildienstes.
Was wir nicht unterstützen, ist, daß Sie aus rein fiskali-schen Zwängen Zivildienstplätze wegrationalisieren,ohne den davon betroffenen sozialen Einrichtungen ir-gendeine Hilfe zur Bewältigung der dadurch entstehen-den Belastungen zukommen zu lassen.
Sie lassen Altenheime, Behindertenanstalten oder am-bulante Pflegedienste mit diesen Problemen allein. HierIrmingard Schewe-Gerigk
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fehlt ein Konzept. Sparen muß verbunden sein mit Ge-stalten.
Sie aber gestalten nicht, sondern verunsichern die Men-schen, die sich dem Dienst an der Gesellschaft widmen.Auch die Senioren werden von dieser Regierung ver-unsichert. Vor der Wahl brandmarkte die SPD die Ab-senkung des Rentenniveaus als unsozial, verteufelteden demographischen Faktor, beschwor, es werde beiden Renten keine Abkopplung von der Nettolohnent-wicklung geben. Jetzt machen Sie trotz Versprechen desBundeskanzlers genau das Gegenteil. Bereits in zweiJahren soll das Rentenniveau auf einen Beitrag abge-senkt werden, den wir in der alten Bundesregierung imLaufe von 15 Jahren moderat und für alle Betroffenenkalkulierbar und berechenbar erreichen wollten.
An Stelle der bisherigen Berechenbarkeit tritt Willkür.Mit dieser üblen Wählertäuschung verunsichern Sie abernicht nur Rentner, sondern auch junge Menschen.
Wo war Ihr Protest, Frau Ministerin?
Ich sage als einer aus dem Osten: Die Senioren in denneuen Bundesländern werden durch diese Rentenkür-zung nach Kassenlage besonders benachteiligt. Erstens:Sie werden schon bei der Ökosteuer überverhältnismä-ßig geschröpft, weil sie von der damit einhergehendenSenkung der Lohnnebenkosten nicht profitieren können.Zweitens: Mit dieser Willkürmaßnahme wird die Anpas-sung der Ostrenten an das Westniveau unterbrochen.Drittens: In der ehemaligen DDR gab es im Unterschiedzum Westen kaum eine Möglichkeit, durch Betriebs-renten und Vermögenseinkünfte zusätzliche private Al-tersvorsorge zu betreiben.
Deshalb muß statt über Rentenkürzung eigentlich übereine schnellere Anpassung der Bezüge der Rentner imOsten an das Westniveau nachgedacht werden.Die Rentner müssen jetzt befürchten, zur Verfü-gungsmasse rotgrüner Haushaltspolitik zu werden. Ne-ben der Gerechtigkeitslücke, meine Damen und Herrenvon der SPD, haben Sie eine Glaubwürdigkeitslückeaufgerissen, indem Sie feste Wahlversprechen nach derWahl ungeniert wieder einkassiert haben.
Scheinheilig ist auch die Familienpolitik der Bundes-regierung. Die SPD hat das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichtes zur Besteuerung der Familien mit großenVersprechungen für die finanzielle Besserstellung derFamilie begrüßt. Auch diese Maßnahmen sind offenbardem Sparzwang zum Opfer gefallen.
Sie haben auf Anfrage selbst zugegeben, Frau Ministe-rin, daß es durch Ihre Neuregelung des Familienla-stenausgleichs zu Benachteiligungen Alleinerziehenderkommen kann. Alleinerziehende mit einem Jahresein-kommen von 60 000 DM und zwei Kindern haben durchIhre Neuregelung monatlich 100 DM weniger in derHaushaltskasse.
So sieht sozialdemokratische „Familienentlastung“ aus.
– Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt,
Das Verfassungsgericht wollte Verheiratete mit Kin-dern den Alleinerziehenden gleichstellen, nicht aber dieAlleinerziehenden benachteiligen.
Auch Ein-Kind-Familien werden von Ihnen benach-teiligt, indem Sie von der Möglichkeit, für das ersteKind einen höheren Kinderbetreuungsbetrag einzu-räumen, keinen Gebrauch gemacht haben. Warum füh-ren Sie einen undifferenzierten Kinderbetreuungsfreibe-trag von 3 024 DM ein, anstatt die Mehrkosten beim er-sten Kind einfach angemessen zu berücksichtigen?
– Das ist doch eine alte Melodie
– Ich war 16 Jahre lang nicht da, ich bin neu hier.Beim Unterhaltsvorschußgesetz sparen Sie über 200Millionen DM ein, nicht, weil ein geringerer Bedarfvorhanden wäre, sondern weil Sie die Kosten einfachauf die Kommunen abwälzen. Sie entziehen sich IhrenVerpflichtungen, indem Sie andere zur Kasse bitten. Dasist kein Sparen, das ist ein Verschieben. Das ist keinSparpaket, das ist ein Verschiebebahnhof.
Ihre abermalige Kindergelderhöhung in Ehren: Siewird doch durch die Ökosteuer kompensiert.
Klaus Haupt
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Zudem kommt bei den sozial besonders Schwachen, denSozialhilfeempfängern, gar nichts an, weil das Kinder-geld mit der Sozialhilfe verrechnet wird.
Sie stecken den Bürgern Wahlgeschenke von ein paarMark in die eine Tasche, nehmen nach der Wahl einVielfaches aus der anderen Tasche wieder heraus: Dasist unredlich. Familien brauchen keine unredlichen Ver-sprechungen, sondern wirklich nachhaltige Entlastun-gen.
Für bedenklich halte ich auch, Frau Ministerin, daßSie schon wieder für eine Kürzung des Jugendetatsverantwortlich zeichnen.
Der Etat für den Bereich Jugend wurde schon für daslaufende Haushaltsjahr um über 5 Millionen DM ge-kürzt, und das bei einer Steigerung des Gesamtetats. Dieeinzige neue jugendpolitische Maßnahme, die Rot-grün zustande gebracht hat, war das Sofortprogrammgegen Jugendarbeitslosigkeit. Ich finde es folgerich-tig, daß Sie ihr Sofortprogramm fortschreiben, nachdemSie dadurch hohe Erwartungen geweckt haben; denn eswäre unverantwortlich gewesen, Hoffnungen zu wecken,die Jugendlichen dann aber in eine Warteschleife zuschicken. Zur Wahrheit gehört aber auch, daß diesesProgramm selbst bei einem hundertprozentigen Erfolgzirka 400 000 junge Menschen ohne Ausbildung undBeschäftigung läßt.
Wir haben unsere Unterstützung angeboten undbereits im vergangenen Jahr ein eigenes 9-Punk-te-Programm vorgelegt. Es ist zwar liberal und fürmanchen deshalb vielleicht suspekt, aber ebenso rich-tig und ehrlich: Immer neue Staatsprogramme hel-fen nicht, der Jugendarbeitslosigkeit auf DauerHerr zu werden. Ein nachhaltiger Abbau der Ju-gendarbeitslosigkeit ist nur zu erreichen, wenn dieRahmenbedingungen im Standort Deutschland wiederstimmen.
Durch ein vereinfachtes Steuersystem, einen umfassen-den Bürokratieabbau und eine mutige Bildungsreformwollen wir das erreichen.
Die beste Politik für Ausbildungsplätze und gegen Ju-gendarbeitslosigkeit ist eine gezielte Mittelstandspolitik,die wir bis jetzt vermissen.
Diese Bundesregierung hat die Chance vertan, die ihrdas Bundesverfassungsgericht und vor allem der Wäh-lerauftrag vor knapp einem Jahr eröffnet hat. Es gibtheute keine nachhaltige Entlastung der Familien, son-dern zusätzliche Belastungen.
Herr Kollege Haupt,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich komme jetzt zum
Schluß.
Es gibt keine nachhaltige Förderung der Jugend, son-
dern nach wie vor eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und
einen Mangel an Ausbildungsplätzen. Es gibt keine be-
rechenbare Rentenentwicklung mehr, nur noch die
Angst vor dem nächsten Bundeshaushalt. Auch in der
Frauenpolitik klafft, wie ich eingangs sagte, zwischen
Anspruch und Wirklichkeit eine große Lücke. Nein,
politische Ankündigungen sind eben noch lange keine
politische Gestaltung.
Danke.
Nun hat das Wort
Kollegin Sabine Jünger, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Herr Haupt, ich bin zwar auch neuhier, aber daß CDU/CSU und F.D.P. an der Regierungwaren, hätten vielleicht auch Sie mitbekommen können.
Ich finde es schon erstaunlich, wie schnell einige – ganzbesonders Frau Rönsch – vergessen, wer hier in denletzten Jahren die Mehrheit hatte und wie viele tolleVorschläge sie vielleicht in den letzten 16 Jahren hättenmachen sollen.
Dennoch: Frau Ministerin Bergmann hat es ja nichtganz leicht. Von vornherein hat Bundeskanzler GerhardSchröder – auch ich will es noch einmal sagen – ihr Mi-nisterium als „Ministerium für Gedöns“ abqualifiziert.Das Bündnis für Arbeit sollte dann als exklusive Herren-runde stattfinden. Zugleich wurde der groß angekündigteAufbruch in der Gleichstellungspolitik zur „Prüfaufga-Klaus Haupt
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be“ geschrumpft. Jetzt sollte eine neue Geschäftsord-nung mal eben mit der Zumutung Schluß machen, infrauenpolitisch relevanten Fragen das Frauenministe-rium hinzuzuziehen. Das, Frau Bergmann, konnten Siescheinbar durch Ihren Protest noch einmal abwenden.Der nächste Versuch, die Rede vom Gedöns in die Tatumzusetzen, wird jedoch nicht lange auf sich warten las-sen, wenn diese Regierung an ihrem politischen Kursfesthält.Weil hier immer so viel von Zukunft geredet wird,beginne ich mit der Jugendpolitik. Hier dominiert allemAnschein nach die Vorstellung, daß das Jugendministe-rium gegen die politischen und sozialen Versäumnisselediglich Pflästerchen in Form des Kinder- und Jugend-plans bereitzuhalten hat. Sei es die Arbeitsmarktpolitik,die Stadtentwicklung oder die Bildungspolitik: Wenn esbrennt, gibt es ein Aktionsprogramm. Es ist gut, daß die-ser Bereich von Sparmaßnahmen ausgenommen ist; je-denfalls scheint es so.Bei näherem Hinsehen verflüchtigt sich dieser Ein-druck jedoch. Auch dieses Jahr hat die rotgrüne Regie-rung kein Problem damit, den Jugendetat der Jahre 1992bis 1996 deutlich zu unterbieten. Außerdem ist bei ei-nem Etat von 192 Millionen DM auch schlecht zu kür-zen, sonst geht da irgendwann gar nichts mehr. Die Si-tuation ist immer die gleiche: Werden neue Schwer-punkte eingeführt, gehen diese zu Lasten anderer – auchnicht gerade üppig ausgestatteter – Bereiche.Faktisch reduziert sich die Jugendpolitik der Regie-rung mittlerweile fast ausschließlich auf den BereichArbeit und hier wiederum auf das bis jetzt ununterbro-chen schöngeredete Sofortprogramm JUMP. MeineDamen und Herren, wir erkennen sehr wohl, daß dieRegierung als Soforthilfe gegen die Jugendarbeitslosig-keit zwei Milliarden DM zur Verfügung gestellt hat. Eswäre aber im Interesse der Sache, wenn Sie sich aucheinmal der Kritik an dem Programm stellen würden, stattohne Unterlaß vom grandiosen Erfolg zu schwadronie-ren.JUMP ist mit hohen Ansprüchen gestartet, die aberleider meist in der Praxis nicht umgesetzt werden konn-ten. Die meisten Maßnahmen waren nur kurzzeitigeTrainingskurse. Benachteiligte Jugendliche bleiben auchbei JUMP entgegen den postulierten Absichten oft au-ßen vor. Für sie mußten zusätzlich 10 Millionen DM imHause Bergmann bereitgestellt werden. BetrieblicheAusbildungsplätze wurden nur in geringem Maß ge-schaffen. Die Tendenz, Ausbildung staatlich zu subven-tionieren, ist noch verstärkt worden.Verstehen Sie mich nicht falsch: Eine Ausbildung istallemal besser als keine. Aber Sie entlassen die Wirt-schaft ohne Grund aus ihrer Verantwortung, Ausbil-dungsplätze zu schaffen.
Im „Bündnis für Arbeit“ wurde jedem und jeder Ju-gendlichen ein Ausbildungsplatz versprochen. Die ak-tuellen Zahlen sprechen eine andere Sprache. Vor zweiWochen hat das neue Ausbildungsjahr begonnen, undmehr als 170 000 Jugendliche sind noch ohne Ausbil-dungsplatz. Meine Damen und Herren von den Regie-rungsfraktionen, sehen doch auch Sie angesichts dieserZahlen endlich ein, daß Ihr Kuschelkurs gegenüber derWirtschaft den Jugendlichen nicht hilft. Die Arbeitgeberversprechen seit Jahren, mehr Ausbildungsplätze zuschaffen, und demonstrieren regelmäßig ihre Unwillig-keit.Immerhin scheinen das einige Kolleginnen und Kol-legen von SPD und Bündnisgrünen genauso zu sehen.Ich freue mich schon jetzt auf den Oktober, wenn Kolle-ge Simmert und Kollegin Nahles ihren angekündigtenAntrag zur Einführung einer Umlagefinanzierung ein-bringen werden.Führen Sie endlich einen Lastenausgleich für nichtausbildende Betriebe ein! Wer nicht ausbildet, soll zah-len. Dann könnten Sie die 2 Milliarden DM aus demJUMP-Programm dazu verwenden, jungen Leuten nachAbschluß ihrer Ausbildung zumindest für ein Jahr einenArbeitsplatz zu finanzieren. Berufseinsteigerinnen undBerufseinsteiger könnten so Berufserfahrung sammelnund würden nicht wie bisher so oft nach der Ausbildungauf der Straße stehen. Damit würden Sie Jugendlichentatsächlich eine Perspektive geben!In Ihren jugendpolitischen Schwerpunkten für dasHaushaltsjahr 2000 wird als Schwerpunktaufgabe diewirksame Bekämpfung von Extremismus, Rassismusund Fremdenfeindlichkeit unter Jugendlichen genannt.Da stimme ich Ihnen sofort zu. Was ich nicht teilenkann, ist Ihre Auffassung von wirksamer Bekämpfung.Nehmen Sie doch endlich zur Kenntnis, daß wir inunserer Gesellschaft ein ernstes Problem haben, dasRassismus heißt. Da helfen weder Ausbildungsplätzeallein noch Sonntagsreden. Dagegen könnten aber zumBeispiel verstärkte Bemühungen zur politischen undkulturellen Bildung und die Förderung sozialer undkommunikativer Fähigkeiten helfen. Kurzfristig muß aufalle Fälle ein Aktionsprogramm zur Förderung antirassi-stischer Kultur und zum Aufbau emanzipatorischerStrukturen in der Jugendarbeit her.Stellen Sie deutsche und nichtdeutsche Kinder undJugendliche endlich gleich, indem Sie zum Beispiel um-gehend den Zusatz zur Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen. Stellen Sie wie-der mehr Mittel zur Integration junger Menschen nicht-deutscher Herkunft bereit und verbessern Sie die Le-benslage junger Migrantenfamilien.Ein Wort zum Zivildienst: Wenn finanzielle Zwängedazu führen, Wehr- und Zivildienstleistende gleichzu-stellen, dann begrüßen wir das natürlich. Insgesamt be-trachtet sind Kinder und Jugendliche aber die Leidtra-genden der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation.Abschließend möchte ich kurz auf zwei Ihrer famili-enpolitischen Schwerpunkte eingehen. Das Aktionspro-gramm mit dem schönen Titel „Mann und Familie“klingt ganz nett und müßte Männern auch sehr entge-genkommen. Schließlich holt es die Männer scheinbardort ab, wo sie stehen: auf dem Sportplatz.
Sabine Jünger
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– Das steht im Programm, Herr Niebel; aber Spaß bei-seite. – Wir haben nichts gegen dieses Aktionspro-gramm. Wir finden es aber sehr bedauerlich, daß es beigutgemeinten Appellen und beim Sensibilisieren derMänner bleiben soll. Wir vermissen nach wie vor ver-bindliche Festlegungen und gesetzliche Regelungen.Meine Damen und Herren, hinsichtlich der Vereinbar-keit von Beruf und Familie für Frauen und für Männerhaben Sie noch einiges zu tun.Auch der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionenzur Ächtung der Gewalt in der Erziehung ist be-kanntlich hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben.Deshalb bin ich sehr überrascht darüber, daß das Famili-enministerium begleitend ein so umfangreiches Akti-onsprogramm starten will. Ein Gesetz allein ändert ander gängigen Erziehungspraxis weiter Teile der Bevöl-kerung sicherlich noch gar nichts,
zumal der vorgelegte Entwurf bewußt auf Sanktionenverzichtet. Mit dem Aktionsprogramm wächst allerdingsdie Wahrscheinlichkeit, daß die Anwendung von Gewaltin der Erziehung zurückgedrängt werden kann. Das istgut so, denn an dieser Gewalt sind einfach schon zuviele Kinder zerbrochen.Abschließend gestatten Sie auch mir noch ein Wortzur Rente. Wer jetzt behauptet, man müsse bei denRentnerinnen und Rentnern sparen, damit die jungenLeute von heute später auch noch etwas bekämen, machtnichts anderes, als Jung und Alt gegeneinander auszu-spielen.
Was wir brauchen, sind neue, langfristige Rentenmo-delle, die die politischen und sozialen Veränderungenangemessen einbeziehen, nicht aber kurzfristige Ein-schnitte ins soziale Netz unter dem Vorwand der Gene-rationengerechtigkeit.Danke schön.
Das Wort hat nun die
Kollegin Hildegard Wester, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Zunächst gestatten Sie mir ein Wort
zu Ihnen, Frau Rönsch. Als ich Ihre Rede vorhin gehört
habe, habe ich gedacht: So ähnlich hast du in der Oppo-
sition auch geredet, als wir eine Familienministerin na-
mens Hannelore Rönsch hatten.
Ich möchte aber betonen: nur inhaltlich ähnlich, im Stil
hoffentlich nicht.
Zusätzlich gibt es einen wichtigen Unterschied, näm-
lich daß damals die Kritik berechtigt war. An das einzi-
ge, an das ich mich aus Ihrer Regierungszeit noch erin-
nere, ist, daß Sie sich jahrelang darauf gestützt haben,
daß Sie Seniorenbüros eingerichtet haben, was eine löb-
liche Angelegenheit war, aber sicherlich nicht voll das
Maß dessen erfüllte, was man von einer Familienmini-
sterin erwartet.
Ich sehe, daß das, was Frau Bergmann in einem knappen
Jahr vorgelegt hat und in Kürze vorlegen wird – ich
werde nachher noch darauf eingehen –, bei weitem das
übertrifft, was Sie nur ansatzweise auf den Weg ge-
bracht haben.
Noch ein Wort an Herrn Haupt sowie an einige ande-
re Rednerinnen und Redner, die hier offensichtlich im-
mer wieder der Versuchung erliegen, den Medien – ich
glaube, in diesem Fall den Printmedien – zu verfallen.
Die Mitteilung, die Geschäftsordnung sei dahin gehend
geändert worden, daß man den „gender mainstream“ nicht
mehr berücksichtige, ist schlicht und ergreifend falsch. Es
wäre sinnvoll gewesen, daß Sie, als Sie diese Mitteilung
gelesen haben, im Ministerium angerufen oder eine
schriftliche Anfrage an die Bundesregierung gerichtet
hätten. Dann hätten wir es uns sparen können, uns das
ständig wieder anzuhören und darüber reden zu müssen.
Es gibt noch viele von meinen Vorrednern angespro-
chene Punkte, auf die ich an sich gerne eingehen möch-
te. Ich möchte jetzt aber versuchen, meine vorbereitete
Rede zu halten; und werde dabei auf die Rente sowie ei-
nige weitere Punkte noch zu sprechen kommen. Ich hof-
fe, daß meine Redezeit dafür reicht.
Frau Wester, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rönsch?
Das müssen Sie an-
ders anmelden.
In dieser Haushaltsdebattereden wir auf der einen Seite über den Haushalt 2000;auf der anderen Seite steht die Debatte über das Haus-haltssanierungsgesetz stark im Vordergrund. Wir habenSabine Jünger
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5012 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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uns in der Tat vorgenommen, den Haushalt zu sanieren,und uns die Aufgabe auferlegt, bei den Einzelplänen zukürzen. Dies ist eine ungewöhnliche Ausgangssituationfür eine Haushaltsberatung. Normalerweise kümmertman sich ja darum, die Ansätze in dem jeweiligen Ein-zelplan zu erhöhen.Nun haben wir uns aber verabredet, bei vermindertenAusgaben eine effektivere und gerechtere Politik zu ma-chen. Auch unser Haushalt muß dazu einen Beitrag lei-sten. Ich würde nun lügen, wenn ich sagen würde, daßmir Sparen Spaß macht und daß Sparen ein Ziel an sichist. Aber wenn die Einsicht gereift ist, daß ein „Weiterso!“ in eine aussichtslose Situation führen würde, danngeht man zumindest mit einer gewissen Zuversicht annotwendige Sparaktionen.
Der Bereich FSFJ hat in meinen Augen ein besonde-res Interesse daran, den Staat wieder in die Lage zu ver-setzen, eine gezielte und zukunftssichere Politik zu ma-chen. Diese Möglichkeit haben Sie von der Oppositionuns fast verbaut. Ihre Schulden- und Kostentreibungs-politik hat zu dieser prekären finanziellen Situation ge-führt, in der wir heute stecken. Gott sei Dank haben dieWählerinnen und Wähler Sie im letzten September ab-gewählt,
Ihnen diesen verhängnisvollen Weg erspart und es unsermöglicht, nun eine Politik zu machen, die in die Zu-kunft weist. Dazu muß zunächst einmal gespart werden.
– Ja, jetzt sind wir dran. – Wir nehmen den Auftrag an,und zwar, wie ich eben sagte, zuversichtlich. Denn wirhaben vernünftige Schwerpunkte gesetzt, über die wirgleich reden werden.
Bei dem Setzen von Schwerpunkten hat die Bekämp-fung der hohen Arbeitslosigkeit nach wie vor die erstePriorität. Dieses Ziel zu erreichen erfordert große Kraft-anstrengungen und rechtfertigt auch, von den MenschenEinschränkungen abzuverlangen. Denn niemand hierwürde wohl bestreiten, daß der Besitz eines Arbeitsplat-zes in gravierender Weise über das Schicksal von Men-schen und ganzen Familien entscheidet. Auch die gesell-schaftlichen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeitkönnen uns in der Politik nicht ruhen lassen. Wir sindalso bereit, im Interesse der Zukunftsaussichten vonKindern und Jugendlichen, der Sicherheit der Renten,der Ausbildung und Bildung unseren Beitrag zu leisten.Nur unter diesem Aspekt macht Sparen Sinn.Ich begrüße ausdrücklich, daß für den Bereich deraktiven Arbeitsmarktpolitik wieder 6 Milliarden DM inden Haushalt eingestellt worden sind.
Davon werden wir 2 Milliarden DM für das 100 000-Jobs-Programm ausgeben, das im laufenden Jahr so er-folgreich durchgeführt wird. Ich kann Ihnen sagen, FrauRönsch: In meiner Stadt, die kohlrabenschwarz ist, lo-ben selbst der Sozialdezernent und der Vorsitzende derKreishandwerkerschaft, ein CDU-MdL, unser Pro-gramm über den grünen Klee,
ganz zu schweigen von den Jugendlichen, mit denen ichgesprochen habe, die dankbar und froh sind.Natürlich müssen wir auf Kontinuität achten. Mitdem Neuansatz von 2 Milliarden DM haben wir einenersten Schritt dazu getan.
Dieses Programm ist in meinen Augen dringend not-wendig, weil es den Jugendlichen, die nicht so ohneweiteres Anschluß an die Arbeitsgesellschaft finden, ei-ne gute Chance gibt. Hier investiertes Geld ist gut an-gelegtes Geld.Besonders freue ich mich, daß es eine der erstenMaßnahmen der Bundesregierung war, das Kindergeldum 30 DM zu erhöhen, und zwar ohne Druck durch dasBundesverfassungsgericht. Das entsprechende Urteilwar uns, wie Sie genau wissen, zu dem Zeitpunkt nochnicht bekannt. Wir haben erkannt, daß Familien nichtvon schönen Worten in Sonntagsreden leben können.
Trotz dieser schon erfolgten Erhöhung werden wir dasKindergeld im Jahr 2000 um weitere 20 DM für das er-ste und das zweite Kind erhöhen. Auch dafür lohnt essich zu sparen.Sehr erfreulich ist auch, daß es uns gelungen ist, wie-der ein Teilkindergeld für erwachsene Behinderte inHeimen zu zahlen.
Dadurch wird endlich wieder anerkannt, welch großeLeistung Familien in solchen Lebenssituationen erbrin-gen, oft lebenslang. Diese Leistung muß auch finanziellihre Anerkennung finden.
Es ist die Unwahrheit, wenn behauptet wird, daß wirden Alleinerziehenden durch die Reduzierung des Frei-betrages für Kinderbetreuungskosten Geld – ich glaube,eben wurde von 100 DM gesprochen – vorenthalten. Siehaben wohl noch nicht verstanden, daß Alleinerziehendedie Kosten für Betreuung nicht mehr nachzuweisenbrauchen, also pauschal den Freibetrag von zirka 3 000DM in Anspruch nehmen können,
und auch 20 DM mehr Kindergeld erhalten, während bisjetzt lediglich die Alleinerziehenden, die ihre Betreu-Hildegard Wester
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ungskosten nachweisen konnten, von dem Steuerfreibe-trag Gebrauch machen konnten.
– Nur ungefähr 5 Prozent konnten Betreuungskosten vonmehr als 3 000 DM nachweisen.Die genannten Schwerpunkte zeigen einen richtigenWeg auf. Dafür hatten wir in unserem Haushalt einenBeitrag zu leisten: 863 Millionen DM hatten wir aufzu-bringen, aus einem Gesamthaushalt, der rund 10,9 Milli-arden DM beträgt. Davon sind alleine 7,1 MilliardenDM für das Erziehungsgeld festgelegt. Die engen Spiel-räume, die sich durch diese Zahlen aufzeigen lassen, er-leichtern nicht gerade die Aufgabe, das gesteckte Spar-ziel zu erreichen.Knapp 200 000 Kinder erhalten Leistungen nach demUnterhaltsvorschußgesetz. Dafür brachte der Bund imvergangenen Jahr 834 Millionen DM auf. Dem standenRückflüsse aus den Kommunen in Höhe von 128 Mil-lionen DM entgegen. Das sind im Schnitt 15 Prozent.Das ist ein Ergebnis, mit dem man nicht zufrieden seinkann. Natürlich lassen sich die Rückforderungen nichtbis auf 100 Prozent steigern, denn es gibt allein zirka 65000 Kinder mit Unterhaltsansprüchen, bei denen manvon vornherein weiß, daß sie nicht zu realisieren sind.Jedoch ist es durchaus möglich, die Rückflußquotedeutlich zu erhöhen. Ein Mittel dazu ist es, die Kommu-nen mit in die finanzielle Verantwortung zu nehmen. Soist deren Ansporn, die Rückforderungen durchzusetzen,erheblich größer. Schließlich werden sie durch dieRückforderungen im gleichen Verhältnis entlastet, wiesie an der Finanzierung beteiligt sind.
Natürlich ist nicht nur eine finanzpolitische Sicht derDinge angebracht. Selbstverständlich besteht aus Sichtder Familienpolitik ein sehr hohes Interesse daran, dieMenschen, die Kinder haben, dazu zu bringen, zumin-dest ihren finanziellen Verpflichtungen für diese Kindernachzukommen. Denn Kindern und ihren Familien solltees soweit wie möglich erspart bleiben, zu Sozialhilfe-empfängern zu werden. Die zukünftige Drittelung derKosten entlastet den Bundeshaushalt um 218 MillionenDM und trägt darüber hinaus dazu bei, politisch Wün-schenwertes eher zu erreichen.Beim Erziehungsgeld sind die Ansätze für das Jahr2000 gleichgeblieben. Das ist angesichts der dringendenNotwendigkeit, die Einkommensgrenzen zu erhöhen,nicht zu bejubeln. Dies zu tun bleibt nach wie vor einesunserer familienpolitischen Ziele. Es müssen wiedermehr Familien in den Genuß des ungeschmälerten Er-ziehungsgeldes kommen. Nur noch die Hälfte der Fami-lien erhält nach den ersten sechs Lebensmonaten desKindes ungekürztes Erziehungsgeld. Auch in diesemPunkt muß ich noch einmal deutlich machen: Es istwirklich so, daß Familienpolitikerinnen und Familien-politiker stolz darauf sein können, diesen Ansatz von 7,1Milliarden DM erhalten zu haben. Denn die Haushalts-lage, die Sie von der Opposition uns hinterlassen haben,bereitet uns erhebliche Schwierigkeiten, unsere politi-schen Schwerpunkte durchzusetzen.
Wir als Familienpolitikerinnen und Familienpolitikerhaben dafür gesorgt, daß die Umsetzung des Verfas-sungsgerichtsurteils nicht nur über den Steuerfreibetragerfolgt, sondern daß 20 DM für das erste und zweiteKind sowie 30 DM für die behinderten Erwachsenen inHeimen gezahlt werden. Damit sind wir aber noch nichtzufrieden. Wir werden Vorschläge machen, wie wir trotzIhrer Hinterlassenschaft mit dem Erziehungsgeld wiedereine breitere Gruppe von Familien erreichen. In diesemZusammenhang werden wir auch dafür sorgen, daß derErziehungsurlaub keinen Ausstieg aus dem Erwerbsle-ben bedeuten muß, sondern ein echtes Angebot an Väterund Mütter ist, sich Erwerbs- und Familienarbeit zu tei-len.In der vergangenen Woche hat Frau MinisterinBergmann das Programm „Frau und Beruf“ vorgestellt.Darin ist ein zentraler Punkt und ein zentrales Anliegen,endlich ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirt-schaft und den öffentlichen Dienst zu verabschieden, dasseinen Namen verdient. Für den öffentlichen Dienstkönnen wir recht bald mit einem Gesetzentwurf rechnen,der längst überfällig ist und der Regelungen enthaltenwird, die es Frauen erleichtern, ihren Kompetenzen undFähigkeiten entsprechend in berufliche Positionen zugelangen.
Auch in der Privatwirtschaft werden wir zu Regelungenkommen, die zum einen effektiv das Ziel verfolgen,Frauen ihrem Leistungsvermögen nach an Positionen zubeteiligen, und zum anderen die unterschiedlichen Be-lange der unterschiedlichen Wirtschafts- und Betriebs-strukturen berücksichtigen. Das wird ein interessanter,aber auch mühsamer Prozeß. Am Ende wird und muß esaber verbindliche Regelungen geben.
Nun ist es erfreulich, daß der Titel „Verwirklichungder Gleichstellung von Frau und Mann in der Gesell-schaft“ in unserem Haushalt angewachsen ist.Ich sehe, daß sich meine Redezeit dem Ende nähertoder sogar schon überschritten ist. Ich möchte aber nochzwei Sätze zur Seniorenpolitik sagen. Ich habe ebenschon gesagt, daß das, was von der früheren Senioren-ministerin übergeblieben ist, die Seniorenbüros sind.Was die Vereinheitlichung der Altenpflegehilfe angeht,haben wir eine unendliche Geschichte durchgemacht.Jedes Jahr wurde neu angekündigt, daß es nun endlichsoweit sei. Frau Ministerin Rönsch legte ein Gesetz vor,das wir am 1. Oktober in erster Lesung – –
Hildegard Wester
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5014 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
(C)
– Um Gottes Willen, so weit sollte meine Auseinander-setzung mit Ihrer Person eigentlich nicht gehen. Ich ent-schuldige mich.
Frau Kollegin, Sie
müssen zum Schluß kommen.
Auch das Heimgesetz
wird in nächster Zeit im Interesse der Senioren, die in
diesen Heimen leben, novelliert.
Noch ein Satz zur Rente.
Nein, bitte kein neu-
es Thema mehr.
Ich bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat Kollegin Rönsch.
Frau
Kollegin Wester, ich habe eben im „Kürschner“ nachge-
schaut und habe bei Ihrem Eintrag drei Sternchen gese-
hen. Das sagt mir, daß Sie jetzt in der dritten Legislatur-
periode im Bundestag sind. Da kann man es Ihnen nicht
mehr so ganz nachsehen, daß Sie sich an das eine oder
andere nicht mehr erinnern. Deshalb will ich es Ihnen
heute noch einmal sagen.
Während der Amtszeit der alten Regierung wurden
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eingeführt.
Das sind Dinge, die bei Ihnen in der Schublade waren,
die aber in Ihrer Regierungszeit und in der Zeit Ihrer
letzten Familienministerin Anke Fuchs nicht auf den
Weg gebracht wurden. Anke Fuchs zeichnete sich da-
durch aus, daß sie vor einer Wahl das Kindergeld erhö-
hen durfte. Als die Wahl gewonnen war, wurde diese
Erhöhung des Kindergeldes sofort wieder zurückge-
nommen.
Das sage ich Ihnen nur zur Erinnerung.
Ich will auch daran erinnern, daß die Anerkennung
der Kindererziehungszeiten in der Rente von der alten
Bundesregierung auf den Weg gebracht wurde.
Als Maßnahmen der Seniorenpolitik kann ich nennen:
Es wurden die Seniorenbüros eingerichtet, und es wurde
ein Bundesaltenplan gemacht.
Eines bitte ich nicht zu vergessen: Es gab in dieser
Zeit auch die Wiedervereinigung. Sie kam in der Rede
des Herrn Bundeskanzlers mit keinem Wort vor. Das
zog sich nahtlos auch durch die Reden der Mitglieder
seines Kabinetts. Uns stellten sich besonders schwere,
aber auch besonders schöne Aufgaben gerade für die
älteren und alten Menschen, die unter dem lange wäh-
renden DDR-System gelitten hatten.
Denken Sie, Frau Wester, bitte an diese Dinge; er-
kundigen Sie sich. Dann sind Sie nicht so unvorbereitet,
wenn Sie hier reden.
Kollegin Wester,
wollen Sie erwidern?
Frau Ministerin, – –
– Ich meine: Frau Kollegin Rönsch Sie sehen, daß dieZeit, in der Sie Ministerin waren, mich sehr geprägt hat;ich habe sehr darunter gelitten.Frau Rönsch, Sie wissen genauso gut wie ich, daß wirein Gesetz hatten, bevor Sie an die Regierung kamen; eshieß: Gesetz zur Einführung eines Mutterschaftsurlaubs.Es hatte andere Schwerpunkte, und es sah sogar höhereLeistungen vor. Die Zielgruppe war eine andere. Aber eshatte genau das Ziel, über das wir sprechen, nämlich dieVereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen zu ge-währleisten.
Sie haben es, glaube ich, 1985 kassiert
und haben dann das jetzt existierende Gesetz verab-schiedet, das zwischenzeitlich häufiger novelliert wurde.Dieses Gesetz bringt uns in meinen Augen bei weitemnicht das, was Sie uns versprochen haben.
Wir sind dabei es, zu verändern.Wir sind ein knappes Jahr an der Regierung, und ichfinde es unverantwortlich, uns für die Versäumnisse Ih-rer 16 Jahre hier permanent vorzuführen.
Sie werden sich diesen Vorwurf so lange anhören müs-sen, solange Sie nicht zu einer redlichen Zusammenar-beit und zu einer redlichen Geschichtsbetrachtung zu-rückfinden.
Hildegard Wester
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5015
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Ich komme zu den Kosten der deutschen Einheit.Es ist hier in Debatten oft genug angesprochen worden,daß sich auch schon vor der deutschen Einheit die Ko-sten, die Ihr Haushalt zu tragen hatte, dramatisch erhöhthatten. Das Entscheidende ist doch, daß wir nicht soborniert sind, zu sagen, daß die deutsche Einheit etwakein Geld kostet. Wir meinen ja auch, daß dieses Geldgut angelegt ist. Entscheidend ist ferner, daß Sie ver-sucht haben, den Bürgern Sand in bezug auf die Frage,was die deutsche Einheit kostet, in die Augen zu streuen.
Sie haben dadurch verschuldet, Frau Eichhorn, daß dieBereitschaft der Bürger, zu sparen und Geld auch für dieinnere Einheit zu geben, fast verschüttet worden wäre.
Das Wort hat nun
Kollege Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat uns ei-
nen „Sparhaushalt“ auf den Tisch gelegt. In der Tat: Sie
haben wirklich gespart: an Kreativität, an Konsequenz
und letztlich auch an Klugheit.
Nach den gebetsmühlenartigen Vorträgen dieser Tage
von der Erblast möchte ich in diesem Zusammenhang
ein Zitat in Erinnerung rufen, das mir sehr bemerkens-
wert erscheint. Vor einem knappen Jahr hörte sich das in
der Regierungserklärung vom 10. November 1998 noch
so an. Ich zitiere Gerhard Schröder:
Unsere Gesellschaft erwirtschaftet genug, um sich
den Sozialstaat leisten zu können. ... Wir brauchen
die Menschen in Deutschland nicht auf „Blut,
Schweiß und Tränen einzustimmen“.
Vermutlich war das der Teil seiner Rede, für den Oskar
Lafontaine die Ghostwriter-Rolle übernommen hatte.
Vor einem guten Jahr waren die Schulden fast genau-
so hoch wie heute. Damals war man auf der Regie-
rungsbank offensichtlich noch der Meinung, man müsse
nur richtig verteilen, dann wäre alles in Ordnung. Aber
jetzt, da Sie in dieser irrigen Annahme im Etat 1999
schon viel Geld ausgegeben haben, müssen Sie es wie-
der einsammeln. So einfach ist der Sachverhalt.
Dabei legen Sie die Meßlatte recht unterschiedlich an.
In der Rangliste der Einzelpläne, die am meisten bluten
müssen, liegt der Einzelplan 17 auf Platz vier. Dies ist
ein ziemlich unrühmlicher Spitzenplatz, Frau Ministerin.
Es ist unbestritten, daß sich der Staat in puncto Aus-
gaben zurücknehmen muß. Aber der Begriff Staat meint
Bund, Länder, Gemeinden und die Sozialversicherungs-
systeme. Die Ausgaben der öffentlichen Hand insgesamt
müssen also zurückgefahren werden, damit volkswirt-
schaftlich eine Entlastung entsteht und damit die Staats-
quote sinkt.
Sie tun aber genau das nicht. Sie haben es sich ver-
dammt einfach gemacht. Sie sparen nur bei sich selbst,
bürden aber die entstehenden Lasten anderen auf. Für
Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum bringt das letzt-
lich überhaupt nichts. Aber rein optisch sind die Zahlen
des Bundeshaushalts 2000 etwas niedriger als die des
Haushalts 1999. So erweckt man den Eindruck, als sei
etwas gespart worden. Aber Sie sparen nicht; Sie schie-
ben Rechnungen durch die Republik.
Lassen Sie mich das an Hand von drei Beispielen
nachweisen:
Erstens. Die Änderungen beim Zivildienst. Die Dau-
er des Zivildienstes wird von 13 auf 11 Monate verkürzt.
Die Zahl der Stellen sinkt von 140 000 auf 110 000 im
Jahr 2003. Die Unionsfraktion hatte vor wenigen Tagen
die Fachverbände zu einer Anhörung eingeladen. Das
Ergebnis war: Unisono rechnen die Verbände durch die
Pläne der Bundesregierung mit Mehrkosten; schließlich
müssen die Personalpläne neu geordnet werden. So weit,
so schlecht. Jetzt erhebt sich die Frage, wie diese Mehr-
kosten bei den Verbänden kompensiert werden sollen.
Nehmen Sie beispielsweise ein Krankenhaus, in wel-
cher Trägerschaft auch immer. Angesichts der gedek-
kelten Kosten im Gesundheitswesen – über diesen Punkt
sprechen wir nachher – wird die Lösung wohl nur in ei-
ner Ausdünnung der Leistungen liegen können. Nehmen
Sie beispielsweise ein Alten- und Pflegeheim. Ich habe
vor zwei Wochen eines besucht. Dort gehen die Mehr-
kosten zu Lasten der Patienten, zu Lasten der Pflegever-
sicherung oder zu Lasten der Kommunen als Sozialhil-
feträger. Das heißt: Ihre vermeintlichen Sparerfolge,
Frau Ministerin, lassen Sie sich von den Landkreisen,
Städten und Gemeinden und von der Sozialversicherung
bezahlen. So einfach ist das.
Kollege Dörflinger,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Nein, ich möchteim Zusammenhang vortragen.
Aber das ist ja noch nicht alles. Der Bundeszuschußfür den Sold und der Fahrtkostenzuschuß werden umjeweils 5 Prozent gekürzt. Vom Entlassungsgeld der Zi-vis dürfen die Verbände zukünftig auch ein Drittel über-nehmen. In der Erläuterung des Ministeriums zum Ein-zelplan 17 findet sich gleich mehrmals der Satz: „DieseÄnderung ist vertretbar.“ Das mag für jede einzelneMaßnahme durchaus gelten. In der Summe aber gilt diesnicht; denn dies führt in der Konsequenz zu einer deutli-Hildegard Wester
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5016 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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chen Kostensteigerung bei den Trägern und in der Folgevermutlich auch zu einer Verschlechterung der Versor-gung.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch aufeinen weiteren Punkt aufmerksam machen, der in derDiskussion bisher ein bißchen zu kurz kam.
Es besteht ja ein direkter Zusammenhang – das ist nichtzu leugnen – zwischen Zivildienst und Wehrdienst.Nach § 24 Abs. 2 des Zivildienstgesetzes dauert der Zi-vildienst drei Monate länger als der Wehrdienst. WennSie also beim Zivildienst Änderungen hinsichtlich derDauer vornehmen, haben Sie zwei Möglichkeiten: Ent-weder Sie ändern den entsprechenden Passus des Zivil-dienstgesetzes, oder aber Sie nehmen die Korrekturenbei der Wehrpflicht vor. Wenn Sie aber die Dauer ver-kürzen, stellt sich irgendwann generell die Frage nachder Wehrpflicht. Da diese Frage in Koalitionskreisenimmer wieder ganz gerne diskutiert wird, würde ichmich freuen, wenn Sie möglichst bald klarstellen könn-ten, wie Sie dieses neue Ungleichgewicht zwischen Zi-vil- und Wehrdienst auflösen wollen. Sollten Sie diesnicht tun, setzen Sie sich selbstverständlich dem Ver-dacht aus, über das Vehikel Zivildienst quasi nebenbeiauch einen Anschlag auf die Wehrpflicht zu organisie-ren.
Zweitens zur Neuregelung beim Unterhaltsvor-schuß. Zukünftig dürfen sich Länder und Gemeindenmit 280 Millionen DM jährlich an diesen Zahlungenbeteiligen, einmal abgesehen davon, daß dies auch nochdas Plazet des Bundesrates finden muß. Ich prognosti-ziere heute, daß die kommunalen Spitzenverbände fürdiese Verlagerung der Kosten einen Ausgleich fordernwerden, und zwar zu Recht. Diesen Ausgleich wird dieBundesregierung zunächst verweigern. In den anschlie-ßenden Verhandlungen wird ein Kompromiß erzieltwerden, der in der Erfüllung eines Teils dieser Forde-rungen besteht. Der Effekt wird sein: Sie haben die Ko-sten von oben nach unten verlagert und Verwaltungs-aufwand produziert. Durch den zu zahlenden Teilaus-gleich stehen unter dem Strich nicht weniger, sondernmehr Kosten. Das wäre ein toller Sparerfolg.Drittens zur Betreuung von Spätaussiedlern. Nichtzum erstenmal werden die Ansätze für die Betreuungvon jugendlichen Spätaussiedlern zurückgefahren. Die-ser Posten wurde im Etat 1999 schon einmal gekürzt,und zwar um 25 Millionen DM. Jetzt werden in diesemEtat weitere 14 Millionen DM gestrichen. Begründetwird das mit der angeblich deutlich sinkenden Zahl derSpätaussiedler. Ich möchte auf eine Pressemitteilung desBundesministeriums des Innern vom 3. September die-ses Jahres – das ist also noch nicht allzulange her – ver-weisen. In dieser Mitteilung wird die Zahl der Antrags-steller im August 1999 mit 9 548 angegeben. Im glei-chen Monat des Vorjahres waren es 6 531. Das bedeutetalso eine Steigerung um etwa 3 000 Personen, aber kei-nen Rückgang. Der Aussiedlerbeauftragte der Bundes-regierung formuliert in eben dieser Pressemitteilungdeswegen sehr vorsichtig:Deshalb kann davon ausgegangen werden, daß dieZahl der Spätaussiedler gegenüber der des Vorjah-res nicht überschritten wird.– Von einem Rückgang ist schon nicht mehr die Rede.Man geht von Konstanz aus. – Er fährt fort:Trotz der Zuzugszahlen auf niedrigem Niveau istdie Eingliederung der Spätaussiedler schwierigergeworden. Deshalb muß insbesondere die Integra-tion der jungen Generation weiter verbessert wer-den.Aber Sie, Frau Ministerin, fahren den entsprechendenHaushaltsansatz, seit Sie im Amt sind, zurück. Das paßteinfach nicht zusammen.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuß.Vielleicht kann man mich dort über folgende Merkwür-digkeiten aufklären: Warum steigen beim Bundesamt fürden Zivildienst die Personalausgaben für Beamte um2,2 Prozent, aber die für die Angestellten nur um 1,8Prozent, obwohl der Stellenplan in beiden Fällen kon-stant bleibt? Warum sinken bei den Zivildienstschulendie Vergütungen der Angestellten um 4,4 Prozent, ob-wohl auch hier der Stellenplan unverändert bleibt?Rechnen Sie mit unterschiedlichen Tarifabschlüssen?Oder rechnen Sie sich die Haushaltsstellen einfach sozurecht, damit unter dem Strich das, was Sie sich vorge-stellt haben, herauskommt?Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bemerkungmachen: Mich erinnert das, was hier nicht nur familien-politisch, sondern generell veranstaltet wird, fatal an dieZeichentrickserie „Peanuts“, die ich mir als Kind ganzgerne angesehen habe. In dieser Serie spielte auch einernamens Schröder mit. Er spielte sich gerne in den Vor-dergrund. Dieser Schröder war auch stets auf sein Outfitbedacht und hatte meist einen großen Mund. Aber wennetwas schieflief, dann war er auch meistens daranschuld.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das war ein schöner Abgang, Kollege Dörf-linger. Aber ich habe den Eindruck, daß bei derCDU/CSU und auch bei der F.D.P. allmählich ein kol-lektiver Gedächtnisverlust eingesetzt hat. Sie wollen hierdie Wirkungen Ihrer Politik in den letzten 16 Jahren zu-kleistern. Das ist angesichts des Einzelplans 17 und desGesamthaushalts nicht sonderlich angebracht.Thomas Dörflinger
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Gerade in unserem Einzelplan werden die Rahmen-bedingungen für die Kinder- und Jugendpolitik gesetzt.Immer mehr muß, Frau Rönsch, Jugendpolitik heuteauch mit arbeitsmarktpolitischen Aufgaben verknüpftsein, ohne daß dadurch neue Warteschleifen produziertwerden. Auch ich erwähne das Sofortprogramm derBundesregierung, das ein wesentlicher Bestandteil zurBekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit ist. DiesesProgramm wird durch verschiedene Maßnahmen flan-kiert. Das ist richtig, und das ist gut so. Frau Rönsch,wenn Sie das ignorieren, dann tut es mir leid. Jugendli-chen hilft dieses Programm.Das neue Modellprogramm für junge Menschen insozialen Brennpunkten vernetzt deshalb gezielt beschäf-tigungsfördernde Maßnahmen mit nachgehender Ju-gendsozialarbeit vor Ort. Das soziale Trainingsjahrspricht die jungen Menschen in ihrer Umgebung an undmotiviert sie, sich in ihrer Umgebung, in ihrem Stadtteilfür ihr direktes Lebensumfeld einzusetzen. Das ist kon-zeptionelle Jugendpolitik, und es ist alles andere als das,was wir von Frau Nolte gewohnt waren.Ein, zwei oder drei Programme machen noch keinenSommer, vor allem dann nicht, wenn ich mir die Ent-wicklung auf dem Arbeitsmarkt ansehe. Herr Haupt hates gerade erwähnt: mehr Bewerberinnen, noch immer zuwenig Ausbildungsplätze. Nicht nur die Bundesregie-rung, sondern vor allen Dingen auch Unternehmerinnenund Unternehmer mit Ausbildungsplätzen sind gefragt,hiergegen etwas zu tun.
Ich appelliere an dieser Stelle an die Arbeitgeberinnenund Arbeitgeber, diese Ausbildungsplätze bereitzustel-len. Die Lippenbekenntnisse, die im „Rüttgers-Klub“ inden letzten Jahren während Ihrer Regierungszeit verab-redet wurden, reichen nicht mehr.
Trotz aller Anstrengungen wachsen noch immer1 Million Kinder in Sozialhilfeverhältnissen auf. Knapp150 000 Jugendliche sind noch immer ohne Ausbil-dungsplatz. Es handelt sich um Herausforderungen, de-nen sich die Bundesregierung immer neu stellen wird.Es handelt sich um Herausforderungen vor allem an dieKinder- und Jugendpolitik.Leider sind noch immer zu viele junge Menschen oh-ne Perspektive. Perspektivlosigkeit läßt Resignation ent-stehen. Perspektivlosigkeit schürt aber auch Haß undGewalt. Gerade das Abschneiden der DVU in Branden-burg und die Situation speziell in diesem Bundeslandmachen deutlich, was braune Rattenfänger aus Perspek-tivlosigkeit machen. Die Bekämpfung rechter Gewaltund das Vermitteln von Toleranz sind nicht nur Aufgabeder Bundesregierung, sondern eine Herausforderung füruns alle. Wir sollten uns dieser Herausforderung jedenTag aufs neue, immer und immer wieder stellen.
Aber nicht nur Toleranz, sondern vor allem auch In-tegration ist angesagt. Im Gegensatz zur alten Bundes-regierung setzen wir hier deutlichere Akzente. Projektewie das „Interkulturelle Netzwerk der Jugendsozialarbeitim Sozialraum“ ist nur ein Beispiel. Migrantinnen undMigranten, Flüchtlinge sowie Spätaussiedlerinnen undSpätaussiedler gemeinsam anzusprechen leistet einenwichtigen Beitrag zur Integration dieser jungen Men-schen in unsere Gesellschaft.Herr Dörflinger, Anträge sind keine realen Zahlen.Wir müssen uns einmal anschauen, ob die Zahlen in denKursen steigen oder sinken. Auch eine Pressemitteilungdes BMI ist keine ausreichende empirische Darstellung,um uns zu unterstellen, wir arbeiteten nicht sauber.Ich stelle also fest: Die Bundesregierung ist in der Ju-gendarbeit auf dem richtigen Weg.Einen Punkt will ich nicht verschweigen, der mir be-sonders am Herzen liegt: Die Koalition ist bei derGleichberechtigung von Zivildienst und Wehrdiensterneut einen großen Schritt weitergekommen.
Das mag Sie von der Opposition stören. Mich stört esnicht. Anfang dieses Jahres haben wir die Besoldung fürZivildienstleistende angeglichen. Jetzt verkürzen wirden Zivildienst auf elf Monate.
Für mich ist das nicht nur ein Beitrag zur Haushaltskon-solidierung. Ich bin in dieser Sache Überzeugungstäter.
Ich betone, daß wir von einem Schritt in Richtung An-gleichung der Dienstzeiten reden. Eine Angleichung derDienstzeit wäre – das sage ich für meine Fraktion – eineVerkürzung des Zivildienstes auf zehn Monate.
Bündnis 90/Die Grünen werden sich darüber hinausmit Nachdruck dafür einsetzen, daß es für Zivildienstlei-stende zu keinen Verschlechterungen mehr kommt.
Kollege Simmert,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja, gerne.
Herr Kollege Überzeugungs-täter, ich kann Ihre Einstellung durchaus verstehen, undin weiten Bereichen teile ich sie sogar. Haben Sie alsÜberzeugungstäter neben der Haushaltskonsolidierungwenigstens drei inhaltliche Punkte, mit denen Sie mirerklären können, wie das, was Zivildienstleistende imsozialen, im kulturellen und im ökologischen Bereichheute tun, auf eine menschengerechte Weise ersetztwerden kann?Christian Simmert
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5018 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Wie soll beispielsweise individuelle Schwerbehin-dertenbetreuung zukünftig aussehen? Wie soll in Kran-kenhäusern überhaupt nocht gearbeitet werden, wennetwa in Berlin 4000 Stellen vorwiegend im Personalbe-reich abgebaut werden? Wie sollen kulturelle und öko-logische Projekte funktionieren, wenn es noch wenigerZivildienstleistende gibt? Ich bitte Sie um drei inhaltli-che Vorschläge.
Kollege Seifert, ich beschränke mich da nicht auf drei
inhaltliche Vorschläge, sondern ich sage Ihnen folgen-
des: Wir haben im Bereich der Zivildienstleistenden die
Zahl der Stellen überwiegend dort reduziert, wo es nicht
den Pflegebereich betrifft. Wir werden konzeptionell –
darauf wäre ich auch noch zu sprechen gekommen – die
Reaktion der Betroffenen und der Träger ernst nehmen
und uns der Herausforderung stellen. Ich weiß, daß das
schwierig ist. Meine Fraktion wird sich dazu Gedanken
machen.
Vor allen Dingen werden wir darüber reden, welche
arbeitsmarktpolitischen Impulse die ersatzlose Strei-
chung des Zivildienstes perspektivisch auslöst. Ich bin
davon überzeugt, daß es dort Möglichkeiten gibt, denn
es ist ein offenes Geheimnis, daß beim Einsatz von Zi-
vildienstleistenden die geforderte arbeitsmarktpolitische
Neutralität nicht vorhanden ist.
Es gilt also, die bisher von Zivildienstleistenden aus-
gefüllten Stellen in reguläre und tariflich entlohnte Ar-
beitsplätze umzuwandeln, so schwierig das auch ist.
Dennoch werden wir Grünen uns der Herausforderung,
den Zivildienst perspektivisch ersatzlos zu streichen,
stellen.
Meine Damen und Herren, mir geht es besonders um
die soziale Ausgewogenheit für die junge Generation.
Mit dem Familienentlastungsgesetz und der Steuerre-
form haben wir die Familien mit Einkommen spürbar
entlastet. Die nächste große Herausforderung ist, Fami-
lien ohne Einkommen in den Mittelpunkt unserer Politik
zu stellen. Gerade Familien, besonders aber alleinerzie-
hende Frauen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, müs-
sen noch stärker unterstützt werden, als es in den
16 Jahren Kohl-Regierung der Fall gewesen ist. Wir
müssen hier eine Grundlage schaffen, damit alle jungen
Menschen bei der Gestaltung der Zukunft gleiche Chan-
cen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einzelnen ju-
gendpolitischen Projekte, der Kinder- und Jugendplan,
die Änderungen beim Zivildienst und die Verknüpfung
von Jugendarbeit und Arbeitsmarktpolitik zeigen, daß
die Bundesregierung in der Kinder- und Jugendpolitik
auf dem richtigen Wege ist.
Wir werden den eingeschlagenen Kurs fortsetzen – egal,
ob die Opposition laut schreit oder nicht –, damit junge
Menschen endlich wieder die Chance haben, ihr Recht
auf gesellschaftliche Teilhabe zu verwirklichen.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kol-
legen Klaus Holetschek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Große Sprüche, nichts da-
hinter – auf diese Formel lassen sich die Leistungen der
rotgrünen Bundesregierung im Bereich der Familienpo-
litik reduzieren.
Die Damen und Herren hier oben auf den Tribünen und
draußen im Land an den Fernsehschirmen wollen nicht
mehr Ihre Mär von der Erblast hören.
Sie sind gewählt worden, damit Sie Konzepte vorlegen.
– Ja, ich verstehe Sie ja. Am Sonntag sind wieder Wah-
len. Ihre Nerven liegen blank; das ist ganz klar. Aber
deswegen wird es ja nicht besser.
Wir wollen Konzepte von Ihnen hören – dafür sind Sie
gewählt worden –, und nicht nur das, was auf dem
Sprechzettel des Bundeskanzleramtes für die Minister
steht. Das können die Leute draußen nicht mehr hören.
Die Realität zeigt, daß wir 16 Jahre lang eine erfolg-
reiche Familienpolitik der CDU/CSU gemacht haben
und daß wir in diesen 16 Jahren die familienpolitischen
Leistungen von 27 auf 77 Milliarden DM im Jahr erhöht
haben.
Meine Damen und Herren, Impulse und Anstöße für
ein nachhaltiges und schlüssiges Gesamtkonzept zur fi-
nanziellen Entlastung von Familien kommen aus der
Union und nicht von Ihnen.
Kollege Holetschek,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Nein, danke.
Dr. Ilja Seifert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5019
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(D)
Derzeit stehen verschiedene Vorschläge in der Dis-kussion, durch welche die wirtschaftliche Situation vonFamilien verbessert und gleichzeitig die Familien- undErziehungsarbeit von Vätern und Müttern finanziell ho-noriert werden soll. Konzepte wie Familiengeld oderErziehungsgehalt haben zum einen eine höhere Aner-kennung der Erziehungsleistung von Eltern und zum an-deren eine Verbesserung der Wahlfreiheit von Familieund Beruf zum Ziel.Wir fordern Ihr Ministerium auf, ein schlüssiges Ge-samtkonzept und nicht nur Stückwerk und Minimallö-sungen vorzulegen. Echte Familienförderung heißt nicht,gezwungen durch das Bundesverfassungsgericht steuer-liche Benachteiligungen auszugleichen.
Das kann keine echte Familienförderung sein. Darübertäuscht auch eine grundsätzlich zu begrüßende leichteErhöhung des Kindergelds nicht hinweg.
– Es wird doch nicht besser, Herr Kollege. Die Leutedraußen sehen doch, was Sie damit anrichten.
Übrigens berücksichtigen Sie dabei in keinster WeiseFamilien mit mehr als zwei Kindern.
Es ist bekannt – machen wir uns doch nichts vor, auchdie Leute wissen das –: Was Sie in die eine Tasche stek-ken, holen Sie aus der anderen wieder raus.
Die Ökosteuer ist das beste Beispiel – da wird es aufeinmal bei Ihnen ruhig; das ist schön – für Verschiebun-gen von Lasten und Verschiebebahnhöfe – der KollegeDörflinger hat es angesprochen. Oder der Unterhalts-vorschuß: Sie belasten die Kommunen, die Sie sowiesoschon zur Ader lassen, auch hier wieder. Ich bin selberStadtrat und Kreisrat und weiß, welche verheerendenAuswirkungen Ihre Politik auf die Kommunen hat.
Aber Sie setzen hier ja eine Tradition Ihrer Fehllei-stungen fort, die Sie in anderen Gesetzesvorlagen be-gonnen haben, zum Beispiel beim 630-Mark-Gesetz undbei der Gesundheitspolitik. Da stehen Sie mit Ihrer Fa-milienpolitik in bester Tradition.
Frau Ministerin, Sie wollen Senioren und Jugendlichefördern. Warum haben Sie im Kabinett nicht IhremKollegen Riester gesagt, daß Millionen von Rentnernverunsichert sind, daß Alt gegen Jung ausgespielt wird?Das konterkariert geradezu Ihre Maßnahmen. Da hättenSie sich zu Wort melden müssen.
Mich beunruhigt auch, daß Sie in der Familienpolitiklangsam einen Grundkonsens der Wertorientierung ver-lassen.
Die Familie als Keimzelle der Gesellschaft ist und bleibtunser wesentliches Fundament.
Die CDU/CSU ist und bleibt der Anwalt der Familienund der Kinder. Das werden die Leute auch sehr schnellmerken.
Ehe und Familie sind auch in Zeiten sich wandeln-der gesellschaftlicher Bedingungen die Lebensformender Zukunft. Wir wenden uns auch gegen eine Gleich-stellung nichtehelicher und gleichgeschlechtlicher Le-bensgemeinschaften, wie es Art. 6 des Grundgesetzesentspricht. Über das Thema Diskriminierungen kannman diskutieren. Aber das darf nicht in wertneutralenBeliebigkeiten enden, wie diese Diskussion bei Ihnengeführt wird. Die Familie vermittelt wichtige Werte, dieIhnen vielleicht unbekannt sind, die aber für die Ge-meinschaft immens wichtig sind. Daran kratzen Sie.
Was Sie wirklich machen sollten: Sie sollten Netz-werke, Bündnisse für Familien initiieren, und zwar aufallen Ebenen, von den Kommunen über die Länder biszum Bund.
Sie sollten eine nachhaltige Familienpolitik machen.Aber die machen Sie nicht.
Die familienpolitischen Leitlinien müssen kontinu-ierlich an die sich verändernden gesellschaftlichenRahmenbedingungen angepaßt und modernisiert wer-den. Aufgabe und Ziel der Familienpolitik muß es wei-terhin sein, die Lebens- und Entwicklungsmöglichkeitenfür Familien zu verbessern. Hierzu zählen für uns auchdie Bedürfnisse von Familien mit unterschiedlichen Le-bensrealitäten und von Alleinerziehenden. Dazu gehörtbeispielsweise auch die Schaffung eines größtmöglichenKlaus Holetschek
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5020 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Handlungsspielraums, damit beide Elternteile Familieund Beruf miteinander vereinbaren können.Gestatten Sie mir noch zwei, drei Sätze zur Jugend-politik. Ich möchte jetzt gar nicht auf das unsäglicheThema der Drogenpolitik eingehen; das ist beim näch-sten Einzelplan anzusprechen. Aber was Sie hier mit Ih-ren Ansätzen zu den Fixerstuben vollführen, ist keineJugendpolitik. Wir brauchen im Ausschuß gar nichtmehr über Prävention zu sprechen, wenn aus dem Ge-sundheitsministerium diese Ansätze kommen.
Kollege Simmert, Sie waren doch bei dem Gesprächmit dem Jugendverband unlängst dabei. Da wurde dochdeutlich: Den Jugendverbänden fehlt die Linie in der Ju-gendpolitik. Sie haben Angst, daß die strukturelle Förde-rung zugunsten einer Projektförderung gestrichen wird.So kann man Ehrenamt nicht fördern. Da nützen auchkeine Enquete-Kommissionen etwas. So schließt manJugendliche von der Partizipation an der Jugendarbeitaus.
Auch das 100 000-Job-Programm – ich kann Ihnendas nicht ersparen – ist eine kurzfristige Maßnahme. Ichfreue mich natürlich über jeden, der einen Arbeits- oderAusbildungsplatz hat. Hierbei handelt es sich aber umeine kurzfristige Überbrückungsmaßnahme, die diestrukturellen Bedingungen nicht ändert. Machen Sieendlich eine vernünftige Wirtschaftspolitik! Sorgen Siedafür, daß die Konjunktur funktioniert, und machen Sievor allen Dingen in den von Rotgrün regierten Länderneine vernünftige Bildungspolitik! Dann würden wir die-ses Problem sehr schnell und viel besser in den Griff be-kommen.
Einige Zahlen, die der Präsident des Zentralverbandesdes Deutschen Handwerks, Dieter Philipp, Anfang die-ser Woche vorgelegt hat, unterstreichen diese Einschät-zung: Von den 52 900 Jugendlichen, die eine Ausbil-dungsmaßnahme beendet haben, seien, so Philipp, wie-der 15 600 arbeitslos; von rund 14 000 Teilnehmernwisse man nicht, wo sie abgeblieben seien. Nur 8 500junge Leute hätten laut Aussagen des ZDH-Präsidententatsächlich einen Arbeitsplatz bekommen, lediglich1 700 hätten einen betrieblichen Ausbildungsplatz ge-funden, 7 500 Jugendliche hätten die Ausbildung schonwieder abgebrochen, während 55 000 Angefragte garnicht erst angetreten seien.
Kollege Holetschek,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grehn?
Nein. Ich komme
sofort zum Ende.
Meine Damen und Herren, all dies zeigt, daß dieses
Programm keine nachhaltige Wirkung besitzt und Sie
auch hier nur an der Oberfläche kratzen und nicht wirk-
lich Substanz in Ihre Politik bringen.
Wenn Sie, Frau Ministerin, wirklich ein Gesamtkon-
zept mit schlüssigen Ansätzen vorlegen, das sich am
Wohl der Familien orientiert, dann werden Sie in uns
konstruktive Ansprechpartner finden. Solange hier aber
nur Stückwerk vorgeführt wird, werden wir Ihnen auf-
zeigen, wie richtige Familienpolitik gemacht werden
muß.
Die CDU/CSU wird dafür sorgen, daß die Familienpoli-
tik wieder in den Mittelpunkt der Politik rückt.
Dort gehört sie nämlich hin.
Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat Kollegin Christa Nickels.
Herzlichen Dank, Herr Präsident, für die Erteilung desWortes zu einer Kurzintervention.Herr Kollege Holetschek, es ist natürlich richtig, daßdieses Parlament der Ort ist, an dem man um das Bestein der Familien-, Jugend- und Drogenpolitik – auch dashaben Sie ja angesprochen – streitet. Ich möchte aberbemerken, daß Maulheldentum nicht den Streit in derSache ersetzt.
Außerdem möchte ich anmerken, daß ein Mitgliedeiner früheren Regierungskoalition, die es neun Jahrenicht geschafft hat, ein Verfassungsgerichtsurteil zurGleichstellung der Familien umzusetzen,
kein Recht hat, eine Regierung, die seit zehn Monatenan der Macht ist und eine ganze Menge von dem, wasdas Verfassungsgericht Ihnen damals auferlegt hat, um-gesetzt hat,
zu kritisieren, und sich besser in Bescheidenheit übenund konstruktive Vorschläge machen sollte.
Klaus Holetschek
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5021
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Auch zu Ihrem kurzen Schwenk auf die Drogenpoli-tik möchte ich eine Anmerkung machen: Wenn einevernünftige Drogen- und Suchtpolitik gemacht undjungen Leuten die Informationen und das Rüstzeug ge-geben werden soll, um nicht in die Sucht abzugleiten,dann hilft es nicht, daß man den moralischen Zeigefin-ger so hoch reckt, daß er fast von der Hand abfällt. Eshilft auch nicht, Worte und Thesen zu benutzen, die beijungen Leuten nicht ankommen. Auch Kampagnen, diezwar 70 Prozent der Bevölkerung kennen, aber bei jun-gen Leuten dazu führen, daß sie sich T-Shirts anziehen,auf denen „Keine Macht den Doofen!“ steht, helfen we-nig. Das zeigt nämlich, daß die Botschaft überhauptnicht ankommt.
Man muß sich in der Drogenpolitik stocknüchterndarum bemühen, die Sprache der jungen Leute zu spre-chen und dort zu sein, wo sie sind, um mit den Informa-tionen auch wirklich überzukommen. Dazu haben wir inden letzten zehn Monaten schon eine ganze Menge vor-zuweisen. Ich bin froh, daß das fraktionsübergreifendauch mit denjenigen, die in der Praxis und vor Ort in denKommunen arbeiten, gut geschieht.
Kollege Holetschek,
Sie haben Gelegenheit zu antworten.
Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin, ich denke, daß der Begriff Maulhel-
dentum in unserem Parlament nicht angebracht ist.
Wir sollten durchaus sachlich streiten. Die Leute verste-
hen es zwar auch, wenn man sich emotinonal darüber
auseinandersetzt, aber in der parlamentarischen Praxis
sollten wir doch bei den richtigen Begriffen bleiben.
Persönlich habe ich Sie auch gar nicht angesprochen.
Der Kinderfreibetrag wurde übrigens von der SPD
abgeschafft.
In der Drogenpolitik haben Sie, sehr geehrte Frau
Staatssekretärin, einen fatalen Weg eingeschlagen. Ich
bin wirklich gerne bereit, mich sachlich mit diesem
Thema auseinanderzusetzen. Aber die Errichtung von
Fixerstuben und die Freigabe von Heroin setzen die
Hemmschwellen herab. Wir werden Probleme bekom-
men. So macht man keine richtige und sinnvolle Dro-
genbekämpfungspolitik. Wir sollten uns viel stärker des
präventiven Bereichs annehmen.
Ich bin gerne bereit, diese Diskussion sachlich fortzu-
führen, aber natürlich nur, wenn Sie nicht solche Worte
wählen, wie Sie es in Ihrem Eingangssatz getan haben.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dieter Dzewas, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Bundes-tagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Oppo-sition tut gut, Herr Haupt und Frau Rönsch.
Ich habe den Eindruck, daß Ihr Engagement für So-zialhilfe und Wohlfahrtsverbände ausgesprochen gut ist.Ich hätte mir das allerdings auch unter Ihrer Regie-rungsverantwortung gewünscht. Angesichts dieses neu-en sozialen Engagements sollte man Ihnen noch langeOppositionszeiten wünschen.
Tatsache ist, daß Kinder- und Jugendpolitik unter Ih-rer Regierungsverantwortung kontinuierlich vernachläs-sigt worden ist.
Die Versäumnisse sind so gravierend, daß viele Struktu-ren reformbedürftig sind. Herr Holetschek, auch wennIhnen das Thema mit der Erblast nicht paßt, kann ich esIhnen nicht ersparen: 1,5 Billionen DM Bundesschuldund 82 Milliarden DM für Zinsen allein in diesem Jahr
versetzen Kinder und Jugendliche in eine unglücklicheAusgangsposition; denn sie müssen diese Schulden be-zahlen.
Wir wollen, daß die 25 Millionen jungen Menschenunter 25 Jahren, die in Deutschland leben, wieder Lichtam Ende des Tunnels sehen und daß wir Ihnen sagenkönnen: Ihr müßt nicht euer ganzes Arbeitsleben langdie Schulden der Vorgängergeneration abtragen. DasUmsteuern ist an dieser Stelle unbedingt erforderlich.
Bereits im Haushalt für das Jahr 1999 haben wir dieAusgaben für den Kinder- und Jugendplan um 20Millionen DM erhöht. Er bleibt trotz der notwendigenKonsolidierungsmaßnahmen für das Zukunftsprogramm2000 auch in diesem Jahr auf diesem hohen Niveau.Präventive Angebote in der Jugendarbeit und der Ju-gendsozialarbeit werden flankierend zur elterlichen Er-ziehungsverantwortung eingesetzt, um jungen Menschendas Hineinwachsen in unsere Gesellschaft zu erleichtern.Meine Damen und Herren von der ehemaligen Regie-rungsbank, als Folge Ihrer langjährig versäumten Sozial-und Arbeitsmarktpolitik und auch auf Grund falscherPrioritätensetzung im Bundeshaushalt gibt es in vielenChrista Nickels
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5022 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Städten und Gemeinden unseres Landes Wohngebiete,in denen sich Kinder und Jugendliche massiv mit sozia-len Problemen wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel,Drogen und ähnlichem auseinandersetzen müssen. Werhier groß wird, hat andere Probleme als die in den besse-ren Vierteln.
Um diesen jungen Menschen gezielt Chancen zu er-möglichen, haben wir die Mittel für das Programm„Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialenBrennpunkten“ bereits um weitere 5 Millionen DM er-höht und es mit einem Gesamtvolumen von 15 Millio-nen DM ausgestattet. Übrigens werden auch junge Mi-granten mit in dieses Programm einbezogen. Bei ihnenkommt häufig das Problem fehlender deutscher Sprach-kenntnisse und das Vorhandensein einer anderen Kulturhinzu. Wir planen die Einrichtung interkultureller Netz-werke.Ich möchte einen besonderen Appell an die Damenund Herren von der CDU/CSU richten, die im Frühjahrdieses Jahres so fleißig Unterschriften für die Integrationausländischer Mitbürger gesammelt haben. Helfen Siean dieser Stelle mit, das mit Inhalt zu füllen.
Benachteiligte Jugendliche und die, die bisher nochkeinen Ausbildungsplatz gefunden haben, sind tatsäch-lich auf zusätzliche Programme angewiesen. Schon dieBegriffe „Parken“ und „Beruhigung“ machen aus mei-ner Sicht deutlich, mit welcher unglaublichen Ignoranzund Arroganz Sie an dieses Thema herangehen, meineDamen und Herren von der CDU/CSU.
Wer vor Ort mit den Praktikern der Arbeitsverwaltungspricht – bei mir wird übrigens auch mit der Kreishand-werkerschaft kooperiert –,
stellt fest, daß es dort hervorragende Ergebnisse gibt,Frau Lenke. Deshalb wird dieses Programm fortgeführt.
Herr Dörflinger, zur Identität von Antragstellern undzu den realen Zahlen beim Zuzug von Aussiedlern hatHerr Simmert schon das ein oder andere gesagt. Ich ge-he davon aus, daß sowohl die Qualität als auch die Kon-tinuität der Arbeit im Bereich des Garantiefonds ge-währleistet ist. Im übrigen sollten Sie sich einmal bei Ih-ren Kollegen erkundigen, wie Kürzungen beim Garan-tiefonds in der Vergangenheit gehandhabt worden sind.
Jugend ist im Zuge des demographischen Wandels si-cherlich nicht mehr in dem Umfang gefragt. Wir glau-ben aber, daß Jugend Chancen haben muß. Deshalbbrauchen wir eine starke Lobby für Jugendliche, undzwar gerade für diejenigen, die sozial und wirtschaftlichbenachteiligt sind. Diesen Anforderungen wird derRichtungswechsel in unserer Kinder- und Jugendpolitikgerecht.Denken Sie an das Jahr zuvor, als der Zehnte Kin-der- und Jugendbericht eine vernichtende Bilanz über16 Jahre konservativ-liberaler Regierungspolitik gezo-gen hat.
Der Bericht hat uns wichtige Einblicke in die Lebens-wirklichkeit der Kinder in unserem Lande gegeben. Inseinen Verbesserungsvorschlägen hat er verdeutlicht,wie wichtig die Zusammenarbeit von Bund, Ländernund Gemeinden in dieser Frage ist. Wir stellen uns mitdem vorliegenden Haushalt der Verantwortung desBundes für diesen Bereich.
Lassen Sie mich jetzt zum Zivildienst kommen. DieEinsparungen, die wir dort vorgesehen haben, sind not-wendig. Sie sind auch strukturell verträglich. Die zu-sätzliche Beteiligung der Träger sowohl an den Sold-und Fahrtkosten als auch an den Entlassungskosten halteich deshalb für vertretbar, weil Träger dadurch, daß sieZivildienstleistende einsetzen können, durchaus wirt-schaftlich arbeiten. Auch die Senkung der Erstattungs-pauschale im Rahmen der Rentenversicherung ist ver-träglich, da sie analog zur Höhe des Einkommens vonWehrpflichtigen und analog zur Höhe des Realeinkom-mens vergleichbarer junger Menschen erfolgt.Ich möchte an dieser Stelle auf zwei Punkte eingehen,die in der vergangenen Zeit immer wieder zu erhebli-chen öffentlichen Diskussionen geführt haben. Da gehtes zum einen um die Verkürzung der Dauer des Zivil-dienstes – sie soll ab 1. Juli nächsten Jahres von 13 auf11 Monate verkürzt werden – und zum anderen um dieVerringerung der Zahl der Zivildienstplätze. Die zeit-liche Angleichung der Dauer von Wehr- und Zivildienstist ein längst überfälliger Beitrag zur Gleichbehandlungbeider Dienste.
Kollege Dzewas, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert,
PDS-Fraktion?
Auf das, was Sie, so glaubeich, fragen wollen, werde ich gleich noch eingehen. In-sofern sollten Sie mir gestatten, daß ich jetzt keine Zwi-schenfrage von Ihnen zulasse. Außerdem ist dies meineerste Rede im Bundestag. Da habe ich das Privileg, Zwi-schenfragen nicht zuzulassen.
Klaus Holetschek
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5023
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Es geht übrigens in keinster Weise um einen An-schlag auf die Wehrpflicht. Damit würde das Pferd voneiner völlig anderen Seite aufgezogen. Der Zivildienstentwickelte sich aus der Wehrpflicht – und nicht umge-kehrt. Insofern ist es völlig aberwitzig, zu behaupten,man wolle über den Zivildienst eine Entscheidung überdie Struktur der Wehrpflicht herbeiführen, Herr Fischer.Bei der vorgesehenen Gleichbehandlung der beidenDienste geht es in erster Linie um das soziale Engage-ment von Zivildienstleistenden in Pflege- und Betreu-ungsdiensten. Sie wissen, wie psychisch und physischbelastend gerade der Dienst in der individuellenSchwerstbehindertenbetreuung ist. Dieser Dienst hat er-heblich zum Imagegewinn von Zivildienstleistendenbeigetragen.Die Sorgen um die Verringerung der Zahl der Dienst-plätze, die in der Vergangenheit gerade von Ihnen ausder CDU/CSU auf aus meiner Sicht unverantwortlicheWeise geschürt worden sind, sind völlig unbegründet.Zivildienststellen werden doch nicht im Bereich derPflege- und Betreuungsdienste eingespart, sondern dortkonzentriert. Gestrichen wird im handwerklichen, kauf-männischen und Verwaltungsbereich. Es geschieht dasgenaue Gegenteil von dem, was Sie behaupten.
Jetzt möchte ich doch einmal an ein paar Zahlen ausdem Jahre 1990 erinnern, in dem ja offensichtlich andereRegierungsverhältnisse geherrscht haben. Da wurde dieDauer des Zivildienstes von 20 Monaten auf 15 Monateverkürzt. Zwischen Ankündigung und Vollzug dieserMaßnahme lagen gerade einmal drei Monate. Die Zahlder Stellen wurde unter Ihrer Regierungsverantwortungvon 96 000 auf 75 000 reduziert. Von irgendwelchenNotständen in den Pflegediensten zur damaligen Zeit istnichts bekannt. Auch von einer zivildienstbedingten so-zialen Verelendung ist nichts bekannt. Die Doppelzün-gigkeit Ihrer Argumentation wird an dieser Stelle beson-ders deutlich.
Durch das Streichen der Maßnahmen im handwerkli-chen, kaufmännischen und verwaltungstechnischen Be-reich wird deutlich, daß die Kürzungen nicht zu Lastender Hilfebedürftigen in unserer Gesellschaft gehen, auchwenn das von Ihnen, meine Damen und Herren von derCDU/CSU, immer wieder behauptet wird. Das ist übri-gens ein gutes Beispiel dafür, daß die ständige Wieder-holung von Behauptungen deren Wahrheitsgehalt inkeiner Weise erhöht.
Mit dem Abbau der Zahl der Dienststellen in diesemBereich rücken wir übrigens wieder viel näher an dieEinhaltung des Zivildienstgesetzes. In § 4 Abs. 1 wirdganz deutlich von einer Konzentration des Zivildienstesauf den sozialen Bereich und auf den Dienst im Um-weltschutz gesprochen.Ich möchte zum Schluß auf diejenigen Dinge einge-hen, die uns – auch aus der Sicht des Ministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend – besonderswichtig erscheinen. Der Beitrag, den wir zur Konsolidie-rung des Haushalts 2000 leisten, ist dringend erforder-lich, damit die Erblast für die junge Generation abgebautwird und neue Zukunftsperspektiven eröffnet werdenkönnen. – Herr Holetschek, hören Sie bitte genau zu. –Junge Menschen, die zukünftig Steuerzahler werden,haben das gleiche Recht wie die Generationen zuvor,daß ihre Steuern in erster Linie für ihre Zukunft, für ihrePerspektiven, für Infrastruktur und für Dienstleistungenausgegeben werden, und nicht in erster Linie zum Ab-tragen von Lasten aus der Vergangenheit. Es mußSchluß sein mit Hypotheken auf die Zukunft. Es mußSchluß sein mit Wechseln, die die nächste Generationund die Enkel bezahlen müssen.
Ein weiterer Punkt: Wir leisten den längst überfälli-gen gerechten Familienlastenausgleich – übrigens ohnePump à la Waigel. Wir tun das solide finanziert. Wennbei Ihnen alles in Ordnung gewesen wäre, dann müßtenwir uns jetzt nicht mit dem Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts beschäftigen.
Das sind lange vernachlässigte Pflichten, die Sie nichterfüllt haben, meine Damen und Herren von der Oppo-sition. Ich denke, Sie sollten jetzt mitwirken, daß wirgemeinsam vorankommen, um die Erblast abzubauenund Familienleistungsausgleich solide und anständigfinanzieren zu können.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Lieber Kollege
Dzewas, Sie haben es ja schon verraten: Dies war Ihre
erste Rede. Unsere herzliche Gratulation.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Manfred
Kolbe, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-ehrte Frau Bundesministerin Bergmann! – Ich begrüßeSie noch einmal ausdrücklich als Bundesministerin, da-mit auch die Kolleginnen der SPD merken, daß Sie imAmt sind; es hat sich ja offenbar noch nicht überallherumgesprochen. Teilweise haben Sie Frau Rönschnoch als Ministerin bezeichnet. Das wundert aber auchnicht; denn damals ist in der Familienpolitik etwas pas-siert, was man jetzt nicht mehr unbedingt sagen kann.
Dieter Dzewas
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5024 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Frau Ministerin, auch Sie waren sich nicht zu schade,wieder von Kohls Erblastschuld zu reden, angeblich 1,5Billionen DM. Frau Bergmann, wir kommen beide ausSachsen und wissen doch, wofür rund ein Drittel diesesGeldes seit 1990 eingesetzt worden ist, nämlich weil 40Jahre lang Dinge versäumt worden sind. Sachsen wareinmal das reichste Land Deutschlands. Das war es 1990nicht mehr, weil die SED 40 Jahre lang das Land her-untergewirtschaftet hat.Wir tun uns als demokratische Parteien doch allenkeinen Gefallen, wenn wir die Dinge vermengen.
Wir sind ganz klar der Auffassung, daß es sich um ge-samtdeutsche Schulden handelt, die von allen Deutschenzu tragen sind. Es war doch eine vernünftige Lösung,diese Schulden im Erblastungstilgenfonds gesondert zuverankern, damit die Verantwortung der Genossen aufder linken Seite klar dargestellt ist.
Daran müssen wir doch alle als demokratische Partei-en ein Interesse haben, Herr Diller. Überlegen Sie sicheinmal, ob Sie sich mit dieser angeblichen KohlschenErblast von 1,5 Billionen selber einen Gefallen getanhaben.Herr Diller – wenn ich Sie kurz in Ihrer Lektüre un-terbrechen darf –, Ihr Erblastgerede ist besonders ärger-lich mit Blick auf die ständigen Erhöhungsanträge derSPD im Haushaltsausschuß zum Einzelplan 17, Familieund Senioren. Sie waren vier Jahre lang Arbeitsgrup-penleiter dort. Sie haben diese Erhöhungsanträge zu ver-antworten. Einen ganzen Packen Anträge – ein Pfundschwer – haben Sie in den letzten vier Jahren im Aus-schuß allein zu diesem Einzelplan gestellt. Wenn wirallen Ihren Erhöhungsanträgen gefolgt wären, hätten wirjetzt eine Erblast von 100 Milliarden DM seit 1990 mehrim Bundeshaushalt. Das wäre eine wirkliche Erblast,aber nicht das, was Sie als solche bezeichnen.
Zugeben muß man allerdings, daß das Familien-ministerium von diesem Sparpaket besonders getroffenist. Warum? Sie haben einen Etat von 11,8 Milliar-den DM. Davon haben Sie als festen Ausgabenblock7,1 Milliarden DM Erziehungsgeld. Das ist eine gesetz-liche Leistung, die Sie nicht verändern können. Sie müs-sen also auf die restliche Etatsumme von 4,7 MilliardenDM den gesamten Sparbeitrag in Höhe von 7,4 Prozenterbringen. Sie müssen also den dreifachen Sparbeitragerbringen wie andere Ressorts, die nicht diese festenAusgabenblöcke haben.Was zeigt das? Das Familienministerium hat keineLobby. Sie werden überobligationsmäßig herangezogen.Frau Rönsch hat das schön formuliert: Unterabteilungdes Finanzministeriums. Das ist leider so. Das bedauernwir, Frau Bergmann.Deshalb sind Sie zu teilweise abenteuerlichen Einspa-rungen gezwungen, etwa beim Unterhaltsvorschuß:242 Millionen DM. Da sparen Sie angeblich ein, indemSie Ausgaben auf Dritte verlagern. Ich darf Ihnen einmalbildlich darstellen, was Sie da machen. Wenn meineBank zu mir kommt und sagt: Herr Kolbe, Sie gebenmonatlich zu viel Geld aus, Sie müssen einmal sparen,dann sage ich: Schauen wir einmal die Ausgabeposi-tion durch. Meine Miete zahlt in Zukunft FrauChristine Bergmann. Dann habe ich hier einen Aus-gabeposten weniger. Genauso gehen Sie vor. Sie verla-gern eine Ausgabeposition auf Dritte und nennen dasSparen.Dies tun Sie auch noch ohne Absprache. Man hättedoch durchaus darüber reden können, daß es beim Un-terhaltsvorschuß eine Diskrepanz gibt, daß diejenigen,die das Geld verwalten, nicht diejenigen sind, die dasGanze bezahlen. Das ist in der Tat eine unglücklicheKonstruktion. Sie aber haben jedes vernünftige Ge-spräch darüber vermieden und dies einseitig diktiert. DieKommunen haben davon erst aus der Zeitung erfahren;und die werden sich wehren. Sie werden das nichtdurchbekommen. – So weit zum Haushalt.Abschließend noch zur Familien-, Frauen- und Senio-renpolitik. Frau Bergmann, wieder nichts gehört habeich von Ihrem früheren Lieblingsthema „Frauen inFührungspositionen“. Früher nahm dieser Bereich gro-ße Blöcke Ihrer Redezeit ein. Warum haben wir davonnichts gehört? Weil wir seit dem 23. Mai dieses Jahreseine Situation haben, die es in der BundesrepublikDeutschland viele Jahrzehnte nicht gegeben hat: Zumersten Mal haben wir in den drei obersten Staatsämternkeine Frau, liebe Kolleginnen von der SPD. Das ist dasErgebnis Ihrer Politik. Ich bedaure das.
Herr Kollege Kolbe,
Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.
Damit bin ich am Ende
meiner Rede:
Sie haben in der Familienpolitik unsere Unterstützung,
aber Sie müssen auch dafür kämpfen, Frau Bergmann.
Danke.
Weitere
Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen
nicht vor.
Wir kommen also zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Gesundheit. Das Wort hat zunächst
die Frau Bundesministerin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erle-ben seit Wochen und Monaten einen heftig und mit allenMitteln geführten Streit um die Gesundheitsreform. So-fern sich die jetzige Opposition noch an die Situationerinnern kann, die wir bis vor einem Jahr hatten, weißManfred Kolbe
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5025
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sie, daß ein solcher Streit bis zu einem gewissen Gradunvermeidlich ist. Dafür ist das Thema – –
– Ich glaube, daß ist eine Frage der Technik. Es kannnicht sein, daß ich hier brüllen muß.
Ich finde auch,
daß der Ton etwas leise ist. Ich kann dies aber leider
nicht von hier oben regeln. Ich bitte also darum, den Ton
etwas lauter zu stellen.
Ich hoffe, daß dies jemand, der dafür zuständig ist, mit-bekommen hat. Ich glaube nämlich, ich halte es nichtdurch, wenn ich die ganze Zeit schreien muß. Ehrlichgesagt, will ich das auch gar nicht; von Können soll hiernicht die Rede sein.
Noch einmal zur Kritik an der Gesundheitsreform:Ich will hier ganz deutlich zum Ausdruck bringen, daßich es mir nicht so einfach mache, zu sagen: Viel Feind,viel Ehr – das allein ist schon ein Beweis für die Rich-tigkeit. Ich glaube aber auch nicht, daß dies ein Beweisfür die Falschheit ist. Natürlich gibt es in der Gesund-heitspolitik eine bestimmte politische Folklore, daß alleSeiten jede Form der Veränderung zunächst einmal mitKatastrophenszenarien belegen. Es ist daher nicht ganzeinfach, Kurs zu halten.Natürlich gibt es richtige, zutreffende Kritik, die unsüberzeugt und die mit Sicherheit dazu führen wird, daßder Gesetzentwurf im Laufe der parlamentarischen Be-ratungen noch Änderungen erfährt. Manche Kritik ent-springt einer Verunsicherung, die eine lange Geschichtehat, auch der Verunsicherung auf Grund der Art undWeise, wie in den letzten Monaten über die Gesund-heitsreform gesprochen wurde, wobei nicht alles, wasgesagt wurde, der Wahrheit entsprach – um es einmalsehr vorsichtig auszudrücken. Wir werden uns bemühen,diejenigen, die verunsichert sind, durch Werben, Über-zeugen und die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen,für diese Reform zu gewinnen.Es gibt aber auch Kritik, die der ungebremsten Ver-tretung von Eigeninteressen entspringt. Hier geht es umdie Eigeninteressen einzelner Gruppen. Es ist wirklichauffällig, daß die Kritik seitens der Patienten und Versi-cherten nicht annähernd mit dem mithalten kann, wasdie Leistungserbringer machen. Sie sind nämlich dieje-nigen, die die Reform heftig kritisieren. Es ist legitim,daß jeder seine Interessen vertritt und versucht, siedurchzusetzen. Ich meine aber, daß die Aufgabe der Ge-sundheitspolitik sowohl von mir als Ministerin als auchvom gesetzgebenden Parlament darin besteht, eine Ver-mittlung zwischen den verschiedenen Positionen herbei-zuführen.An diesem Punkt macht es sich die Opposition wirk-lich zu leicht, indem sie sich bruchlos auf die Seite derLeistungserbringer schlägt, jede ihrer Forderungen mit-trägt und sich nicht die Frage stellt, wie das mit anderenPositionen zu vereinbaren ist.
So einfach kann man es sich nicht machen.Im Zentrum der Auseinandersetzung, in der wir unszur Zeit befinden, steht der Begriff des Globalbudgets,der zugegebenermaßen nicht das ist, was man ein war-mes Wort nennt. Trotzdem möchte ich das Ganze gernauseinandernehmen, um zu prüfen, ob die Aufregung,die darum entfaltet wird, wirklich berechtigt ist.Es geht doch darum, daß wir eine gesellschaftlicheVerabredung treffen, die besagt, wieviel Geld wir für ei-ne kollektive solidarische Gesundheitsversorgung auf-wenden wollen. Wenn ich mich bei all dem, was ich inGesprächen sowohl in Familie und im Freundeskreis alsauch mit Bürgerinnen und Bürgern, mit denen ich aufpolitischen Veranstaltungen geredet habe, erfahren habe,nicht völlig täusche, dann ist es so, daß die Menschenbei uns den Eindruck haben, ihre Belastungen mit Sozi-alversicherungsbeiträgen sei an einer kritischen Schall-mauer angekommen, die sie nicht überschreiten wollen.Daß dies die Leute umtreibt, sieht man, nebenbei be-merkt, daran, daß sich gerade die jüngeren Versichertensehr stark dafür interessieren, wie sie durch einen Kas-senwechsel weniger Beiträge bezahlen können. Dasheißt, dieser Bereich übt erheblichen Druck auf die Ge-sundheitspolitik aus. Deswegen meine ich: Wer die Zu-kunft der gesetzlichen Krankenversicherung sichernwill, wer sichern will, daß die Menschen auch auf Dauerzustimmen, die großen Risiken solidarisch abzusichern,darf sie gleichzeitig nicht mit zu hohen Beitragssätzenüberfordern. Deswegen bekenne ich mich dazu, daß die-se Gesundheitsreform mit dem Ziel gemacht wird, dieBeitragsstabilität dauerhaft zu sichern.
Wir sagen: Wenn man die Ausgaben im Gesund-heitswesen so steigen läßt, wie die Löhne steigen, dannhat man das Ziel erreicht, sie an eine formale Größe an-zubinden. Das ist genau das, was in der Kritik steht, diebesagt, das sei zu wenig, das würde angesichts des me-dizinischen Fortschritts und des demographischen Wan-dels nicht ausreichen. Ich bekenne mich dazu, daß daseine politische Verabredung ist. Die Sicherung der Bei-tragsstabilität ist eine politische Entscheidung und dem-entsprechend wäre die Anbindung an die Lohnentwick-lung ebenfalls eine politische Entscheidung.Die Gegner der Reform sagen aber, der medizinischeFortschritt sei zwangsläufig so teuer, daß er mit demAnstieg der Löhne nicht aufgefangen werden könnte.Die Gegner sagen, daß die Kosten zwangsläufig stärkersteigen. Sie müssen sich dann aber auch fragen lassen:Woher nehmen Sie diese Behauptung? Woher wissenSie, daß das so ist? Woher wissen Sie, daß medizini-scher Fortschritt, wenn wir nicht immer nur Neuesdraufsatteln, sondern etwas anderes dadurch ersetzen,zwangsläufig zu exponentiellen AusgabensteigerungenBundesministerin Andrea Fischer
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5026 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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führt? Ich finde auch, daß sich diejenigen, die das kriti-sieren, die Frage gefallen lassen müssen, ob sie wirklichdavon überzeugt sind, daß in unserem Gesundheitswe-sen nur das Notwendige getan wird.
Mich macht es sehr wütend, wenn in der Öffentlich-keit zum Teil in einer Art und Weise über die Reformgeredet wird, als würde jetzt eine Katastrophe drohen.Wir haben ein sehr hohes Niveau der gesundheitlichenVersorgung, wofür wir international gesehen inDeutschland, gemessen an der Bevölkerungszahl, denzweithöchsten Betrag ausgeben. Das heißt, wenn wir dieAusgaben in den nächsten Jahren entsprechend der Löh-ne steigern, kann es nicht sein, daß wir damit in eineZwei-Klassen-Medizin, in eine Barfuß-Medizin oderwas auch immer zurückfallen. Das ist einfach völlig un-realistisch. Das ist etwas, was Panik verursachen soll,aber mit der Realität nichts zu tun hat.
Ich spreche diejenigen an, die das kritisieren – meinVorgänger im Amt hat das gestern getan – und mit star-ken Worten belegen, indem sie sagen: Das langt nicht,wir brauchen mehr Eigenverantwortung. Dann soll mandoch nicht von Eigenverantwortung reden, sondern sa-gen: Wir wollen mehr Geld von den Patientinnen undPatienten. Das ist offenkundig die Lösung, die Sie dafürvorschlagen.
Im Rahmen der Gesundheitspolitik und auch derGesundheitsökonomie wird schon lange darüber geredet,ob mehr Zuzahlungen irgendeine Lenkungswirkunghaben. Das ist hier aber nicht die Frage. Fakt ist, daßdiese Politik im letzten Jahr abgewählt worden ist. Mitdieser Realität muß man sich auseinandersetzen.
Ganz offenkundig ist die ständige Erhöhung der Zuzah-lungen nicht mehrheitsfähig gewesen. Es ist schon eineFrage des Respekts vor dieser Entscheidung der Bürge-rinnen und Bürger, nicht einfach zu sagen: Das kümmertuns nicht.
Ich bekenne mich dazu – um das ganz deutlich zu sa-gen –, daß wir die Ausgaben der gesetzlichen Kranken-versicherung beschränken müssen, daß wir sie nicht ein-fach steigen lassen können, Stichwort Beitragssatzstabi-lität. Ich bekenne mich auch dazu, daß das natürlich er-fordert, daß wir das in der Gesundheitsversorgung Not-wendige, Ausreichende, Zweckmäßige und Wirtschaftli-che machen, wie es schon lange vorgeschrieben ist.Ausdruck dieses Bekenntnisses und auch des unange-nehmen, zu diesem Bekenntnis gehörenden Teils ist dasAktionsprogramm zwischen Kassen und Ärzteschaft,das wir vermittelt und gestern gemeinsam vorgestellthaben, in dem wir noch einmal deutlich gemacht haben,wofür die Solidargemeinschaft nicht einsteht.Ich verlange von allen, und zwar sowohl von denVersicherten, von den Patientinnen und Patienten, alsauch von denjenigen, die professionell im Gesundheits-wesen arbeiten, daß sie anerkennen, daß ein solidari-sches System Grenzen hat, daß man die Solidarität nichtüberstrapazieren darf und daß von allen die nötigeSelbstbeschränkung erforderlich ist, damit wir diesesSystem nicht durch Überforderung zerstören. Dies istder Hintersinn unserer Reform.Ich glaube allerdings, es würde uns allen helfen, dieDiskussionen über die Frage, was eigentlich genugund was zuviel ist, in Zukunft etwas vernünftiger undbesonnener zu führen, wenn wir das tatsächlich ma-chen, was jetzt schon von verschiedenen Seiten ins Ge-spräch gebracht wurde, nämlich den Sachverständigen-rat oder gegebenenfalls ein anderes Gremium zu beauf-tragen.
– Wenn Sie mir sagen könnten, was zuviel ist, was Siebrauchen und was nicht, wären Sie erstaunlich schlau.Aber ich habe von Ihnen noch keine sachliche Äußerungund nicht nur eine irgendwie geartete Behauptung dazugehört, was zuviel und was zuwenig ist und was sich än-dern muß.
Das ist der Grund, warum ich glaube, daß es Sinn macht,zu versuchen, sich des Sachverstandes zu bedienen.
Frau Ministe-
rin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr.
Seifert?
Ich würde gern erst noch die Ausführungen zu diesemPunkt zu Ende führen.Ich glaube schon, daß es Sinn macht, darüber eine ra-tionale Debatte zu führen. Welche Schlußfolgerungenman dann daraus zieht, bleibt immer noch dem Parla-ment und der Regierung
– das ist zweifelsohne richtig – sowie dem Wählerüberlassen. Dieser hat letztes Jahr die Schlußfolgerungaus Ihrer Politik gezogen.
Ich will noch einmal deutlich machen: Zur Zeit fin-den Anhörungen im Gesundheitsausschuß statt. ParallelBundesministerin Andrea Fischer
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dazu gibt es vielfältige Gespräche seitens der Fraktionenund auch seitens des Ministeriums zu der Frage, wassich noch ändern muß. Wir werden nach Wegen suchen,wie wir auf die Befürchtungen eingehen, daß die Pflegebei den Veränderungen nicht genügend Berücksichti-gung findet.
Wir werden nach Wegen suchen, wie wir den Befürch-tungen der Krankenhäuser entgegenkommen, daß sie zustark betroffen würden, und trotzdem den notwendigenStrukturwandel einleiten.Wir haben mit der Ärzteschaft über ihre Befürchtun-gen gesprochen, daß sie den Sicherstellungsauftragverliert. Wir suchen dort nach einem Kompromiß, wieman den Sicherstellungsauftrag erhält und trotzdem deninnovativen Charakter der Integrationsversorgung undder Modellverträge nicht behindert. Bei unseren Gesprä-chen mit dem Datenschutzbeauftragten über die Kritikan den Regelungen, die wir hier vorgesehen haben, sindwir auf einem sehr guten Weg.
Meine Damen und Herren, Kompromisse gehörenzum politischen Geschäft. Wir sind dazu ausdrücklichbereit. Das schließt alle ein: die Opposition hier imHaus, aber selbstverständlich auch den Bundesrat. Aufder anderen Seite muß klar sein, daß wir dabei die Liniehalten, weswegen wir diese Gesundheitsreform machen,nämlich daß wir dem Gemeinwohl verpflichtet sind undwir uns nicht nur auf eine Seite schlagen und nur derenInteressen vertreten.Diese Linie heißt: Wir wollen ein Gesundheitswesen,das sich an den Bedürfnissen von Patientinnen und Pati-enten orientiert und diese in den Mittelpunkt stellt.
Diese Linie heißt auch: Wir wollen ein Gesundheitswe-sen, in dem wirtschaftlich gearbeitet wird, in dem Un-nötiges vermieden wird. Das ist übrigens auch im Inter-esse von Patientinnen und Patienten. Hier geht es nichtnur um das Sparen von Geld, sondern auch darum, un-nötige Eingriffe zu vermeiden. Wir haben es schließlichimmer mit der körperlichen Unversehrtheit von Men-schen zu tun.
Wir wollen bei der Gesundheitsversorgung Innova-tionen einbringen – Innovationen, die vor allen Dingendarauf setzen, daß alle Beteiligten mehr und intensiverzusammenarbeiten, als das bislang der Fall war. Dieheute bestehenden Barrieren wollen wir abbauen. Undwir wollen Gesundheitspolitik nicht nur als heilend,sondern auch als vorbeugend begreifen. Wir buchstabie-ren Eigenverantwortung nicht so, daß immer höhereZuzahlungen nötig werden. Eigenverantwortung heißtfür uns, Verantwortung für die eigene Gesundheit unddas Leben mit einer Krankheit zu übernehmen.
Das ist der Grund, warum wir Gesundheitsförderung,Selbsthilfe und Prävention wieder wesentlich stärker be-rücksichtigen wollen.
Ich appelliere deswegen an alle, keine Angstkampa-gne zu führen. Wir werden uns über das Ganze zu strei-ten haben und am Ende feststellen, daß es bei allerKompromißbereitschaft Differenzen gibt, die nicht zuüberwinden sind. Aber ich meine schon, daß alle so vielVerantwortung zeigen müssen, daß die Leute nicht un-nötig in Angst und Schrecken versetzt werden. Damit istniemandem gedient, damit vergrößert man die Problemenur.Ich möchte gerne noch – in gebotener Kürze – auf ei-nige andere Punkte eingehen. Wir haben schon letzteWoche eine Debatte über die Pflegeversicherung ge-führt. Dort ist schon viel über den Zusammenhang vonHaushalt und Pflegeversicherung gesagt worden. Wirwissen alle, daß wir in der Pflegeversicherung noch gro-ße Aufgaben vor uns haben, insbesondere was die Frageder Abgrenzung der verschiedenen Leistungsbereicheanbelangt.Ich finde, Sie sollten nicht immer so tun, als hätte ichdie Pflegeversicherung geschaffen. Mit Verlaub: Im Ge-gensatz zu den meisten, die hier vor mir sitzen, habe ichder Pflegeversicherung nicht zugestimmt. Aber ich wer-de jetzt alles dafür tun, sie weiterzuentwickeln und sievoranzubringen.
Gerade diejenigen, die die Grundsatzentscheidungengetroffen haben, gerade diejenigen, die für die heutigeKonstruktion waren,
sollten nicht so tun, als könnte man in diesem Systemeine Wünsch-dir-was-Politik betreiben.
Sie wissen ganz genau, daß auch das jetzt anstehendeSparpaket die eigentlichen Probleme nicht lösen kann.Das ist eine ganz andere Dimension. Ich appelliere anSie, die Pflegeversicherung auch weiterhin als Ihr Kindzu begreifen
und sich dabei mit uns zusammen darum zu bemühen,daß die schwierigen Fragen, die noch anzugehen sind,bewältigt werden.Bundesministerin Andrea Fischer
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5028 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Ich appelliere auch an Sie, im Bereich der Drogen-politik nicht hinter Erkenntnissen in den eigenen Reihenzurückzufallen. Es kann überhaupt kein Zweifel daranbestehen, daß die Bundesregierung auf eine Politik setzt,die dem Grundsatz folgt: Wir wollen, daß Menschen einLeben ohne Drogen führen. Deshalb machen wir dieKampagne „Kinder stark machen“, deswegen werbenwir für ein drogenfreies Leben. Aber: Wer drogenab-hängig ist, ist krank und bedarf unserer Hilfe. Wir su-chen nach Wegen, zum Teil auch nach neuen Wegen.Wir wissen, daß sie zum Teil durchaus erfolgverspre-chend sind.Weil wir wissen, daß das heikle Fragen berührt, star-ten wir einen Modellversuch. Dafür gibt es, so meineich, gute Gründe. Wir haben gehört, daß längst auch inIhren Reihen ein Nachdenken darüber eingesetzt hat.Gerade auf kommunaler Ebene erleben wir immer wie-der, daß diese Art einer helfenden Drogenpolitik längstüber alle Parteigrenzen hinweg verfolgt wird, weil siedie erfolgreichere ist. Dagegen, daß man Drogenabhän-gigen hilft, sollte man nicht seine grundsätzliche Linie inder Drogenpolitik ausspielen und behaupten, das sageetwas über die Haltung zur Drogenproblematik allge-mein aus.
Ich möchte alle Beteiligten um eine konstruktive Zu-sammenarbeit bei der Beratung des Haushalts bitten, diesicherlich nicht einfach werden wird, weil auch derHaushalt des Bundesministeriums für Gesundheit vomSparpaket nicht unberührt bleibt. Ich hoffe aber, daß wirgemeinsam zu einer guten Beratung kommen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Manfred Kolbe.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Mini-sterin, wir sind in der Haushaltsdebatte, aber außer in Ih-rem Schlußsatz haben Sie leider nichts zum Haushaltgesagt, obwohl das doch ganz interessant gewesen wäre.Angeblich hat die Bundesregierung ein 30-Milliar-den-DM-Sparprogramm aufgelegt. Das ist aber schlichtund ergreifend falsch. Wahrscheinlich haben Sie deswe-gen nichts dazu gesagt. Wenn Sie das einmal mit demHaushalt 1999 vergleichen, dann können Sie feststellen,daß wir gerade einmal 7,5 Milliarden DM einsparen.Aber auch die sparen wir nicht wirklich ein, weil derVorgänger von Herrn Eichel, Oskar Lafontaine, denHaushalt um 30 Milliarden DM erhöht hat. Eichels„Sparhaushalt“ liegt – das müssen wir immer wiedernach außen tragen – um 21 Milliarden DM höher als derletzte Waigel-Haushalt. Wenn Eichel angeblich spart,dann hat der Waigel super gespart!
Es bleibt völlig im dunkeln, was Bezugsgröße Ihrerangeblichen Einsparungen ist. Herr Staatssekretär Diller,vielleicht können Sie einmal nach vorne treten und dasdem Hohen Hause erklären. Wir rätseln nämlich noch,was die Bezugsgröße für Ihr 30-Milliarden-DM-Einsparvolumen ist. Der Vorjahreshaushalt kann es nichtsein; der noch gültige Finanzplan kann es auch nichtsein, weil wir auch insofern 12,9 Milliarden DM höher-liegen. Wenn Sie dieses Rätsel heute aufklären könnten,dann hätten Sie sich große Verdienste erworben.Besonders schwierig ist es, die Einsparungen im Ein-zelplan 15 nachzuvollziehen. Schauen wir doch einmaldie Zahlen an! 1999 gab es Ausgaben von 1,607 Milli-arden DM, im Jahre 2000 haben wir Ausgaben von1,809 Milliarden DM. Alle, die in diesem Hause rechnenkönnen, stellen fest: Es sind 202 Millionen DM anMehrausgaben. Wo wird denn da eingespart? Ihr Hausbemüht sich, das zu erklären. Angeblich lägen drei Son-dersachverhalte vor: 130 Millionen DM an Nachveran-schlagung für Pflegeeinrichtungen, 50 Millionen DM fürden Neubau eines Instituts in Bonn und 26 MillionenDM für Personalausgaben. Die Sonderbelastungen sindschon ein Ding! Wenn ich als Privatmann beschließenwürde, im kommenden Jahr jeden Monat 500 DM weni-ger auszugeben, dann aber zu dem Ergebnis kommenwürde, noch in den Urlaub fahren zu müssen – dasmacht 1 000 DM –, ein neues Auto zu brauchen – dassind 10 000 DM – und daß ein neues Bad auch noch an-genehm wäre, diese Ausgaben entsprechend veranschla-gen und dann von Einsparungen sprechen würde, diewegen der Sonderbelastungen aber leider nicht eintretenkönnen, dann würden wir alle anfangen zu lachen. Sosieht es aber doch mit Ihrem Sparpaket aus: Sie sparengar nicht. Das ist ein großer Sparbluff, eine große Spar-legende, die Sie in die Welt setzen. Das werden wir auf-zeigen.
Genauso verhält es sich mit der „Erblast“. Seit Mo-naten rennen Sie durch das Land und sagen, Sie hätten1,5 Billionen DM Schulden von Helmut Kohl geerbt.Das muß in dieser Woche jeder Minister von seinemSprechzettel ablesen. Obwohl ich es schon zum Famili-enhaushalt gesagt habe, sage ich es noch einmal – eskann auch nicht oft genug gesagt werden –: Von diesen1,5 Billionen DM resultiert ein knappes Drittel aus derFolgelast der DDR. Meine Damen und Herren von derSozialdemokratie, für diesen Bereich haben wir dochgemeinsam gewaltige Aufbauleistungen erbracht. Wiralle sind sicher der Meinung, daß das gesamtdeutscheSchulden sind, die deswegen auch von allen Deutschenzu tragen sind. Aber es machte doch Sinn, sie gesondertin einem Erblastentilgungsfonds zu veranschlagen, da-mit die Verantwortung der SED/PDS-Genossen auf derextrem linken Seite ganz deutlich klargestellt ist. DieseVerantwortung verwaschen Sie jetzt. Das kann nicht imSinne der demokratischen Parteien in der Bundesrepu-blik Deutschland liegen.
Bundesministerin Andrea Fischer
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Und Herr Diller, Sie wissen es doch: Auch die gut1 Milliarde DM, die dann noch übrigbleibt, ist im we-sentlichen unter der sozialliberalen Koalition entstanden.Dort ist mit der Verschuldung begonnen worden. Hel-mut Schmidt – angeblich der größte Weltökonom allerZeiten! – war es, der sich kreditfinanzierte Ausgaben-spielräume verschafft hat. Die Regierung Helmut Kohlhatte kaum kreditfinanzierte Ausgabenspielräume.
In der ersten Zeit der Ära Kohl, also unter Stolten-berg, lagen die neuen Kredite unter den Zinsen derSchmidtschen Altschulden. Selbst nach der deutschenEinheit, als wir die großen Aufbauleistungen Ost zuvollbringen hatten, lagen die neu aufgenommenen Kre-dite mal knapp über, mal unter den Beträgen für dieZinszahlungen. Der einzige in der Geschichte der Bun-desrepublik Deutschland, der sich langfristig kredit-finanzierte Ausgabespielräume verschafft hat, war Hel-mut Schmidt. Alle anderen haben nur mit neuen Kredi-ten die alten Zinsen gezahlt. Sie haben dadurch natürlichauch die Bundesschuld erhöht, aber sie haben sich kaumneuen kreditfinanzierten Ausgabespielraum verschafft.Es ist eine echte Legende, die Sie hier auftischen. Aberdiese Legende wird in sich zusammenbrechen; damitkommen Sie nicht durch.Besonders ärgerlich ist Ihre Erblastlegende auchdann, wenn wir uns einmal anschauen, was Sie in denvergangenen vier Jahren im Haushaltsausschuß gemachthaben. Ich habe mir die Mühe gemacht, Ihre Anträgezum Einzelplan 15 – Gesundheit – des Bundeshaushaltsherauszusuchen – Herr Diller, Sie waren ja Arbeitsgrup-penvorsitzender –: Auch dort nur Erhöhungsanträge!Vier Jahre lang haben Sie keinen einzigen Sparbeitraggeliefert. Dann werfen Sie uns vor, die Ausgaben in dieHöhe getrieben zu haben. Das ist doch widersprüchlich;das hält doch nicht.
– Es waren nur Erhöhungsanträge.
– Dann zeigen Sie mir die.
– Jäger 90: Das war Ihr Deckungsvorschlag in all denJahren.
Lassen Sie mich jetzt zu einzelnen Positionen des Ge-sundheitshaushalts kommen. Der größte Ausgabenpo-sten sind mit 926 Millionen DM die Finanzhilfen zur Fi-nanzierung von Investitionsmaßnahmen bei Pflegeein-richtungen. Diese Ausgabe, die wir hier leisten, ist gut.Wir leisten hier eine wichtige Ausgabe für den Aufbauin den östlichen Ländern. Wer sich den Zustand derPflegeeinrichtungen bis 1990 vergegenwärtigt, der weiß,daß diese Milliarden dort notwendig sind. Es ist sinnvoll– die CDU/CSU hat das eingeleitet; Sie setzen diesesProgramm fort –,
daß wir diese Aufbauleistung vollbringen, Herr Seifert.Sie hätten sich bis 1990 einmal darum bemühen sollen,da etwas zu verbessern.
Sie waren ja dort 40 Jahre an der Regierung.
Ebenso erfreulich ist, daß wir jetzt endlich Mittel zurEntschädigung der Hepatitis-C-Opfer in der ehemali-gen DDR in den Bundeshaushalt einstellen. Dies begrü-ßen wir ausdrücklich.Was wir aber nicht begrüßen, Frau Ministerin, sindzahlreiche Kürzungen bei allgemeinen Bewilligungen.
Sie stocken teilweise auf, wo der Bereich Ihres Ministe-riums betroffen ist. Ich nenne etwa den Erwerb vonFahrzeugen. Dieser Titel steigt um fast das Doppelte.Sie kürzen aber bei den Programmen: Zuschüsse zurEinrichtung, Erweiterung, Ausstattung und Modernisie-rung von Pflegeeinrichtungen: von 68 Millionen DM auf55 Millionen DM; Zuschuß zu den Kosten für Erhebun-gen auf dem Gebiet der Krebskrankheiten: von 3,3 Mil-lionen auf 2,8 Millionen DM; Aufklärungsmaßnahmengegen den Drogenmißbrauch: um 1 Million DM gekürzt;Forschungseinrichtungen und Aufklärungsmaßnahmenim Bereich von Aids.Ich erinnere mich an viele in der letzten Legislaturpe-riode vehement vorgetragene Anträge zur Aidsaufklä-rung. Sie Frau Ministerin, haben vor kurzem auf demRathausvorplatz in Wuppertal-Barmen die Wanderaus-stellung „Liebesleben“ zur Aidsprävention eröffnet unddort verkündet: Aids ist nach wie vor eine große Heraus-forderung; die Aidsbekämpfung liegt mir am Herzen. –Frau Ministerin, leider findet sich das nicht im Haushaltwieder. Der Haushalt ist doch angeblich in Zahlen ge-gossene Politik. Ich halte fest: Die Aidsansätze gehenzurück. Dies ist bedauerlich. Wir werden versuchen, hierim Haushaltsausschuß noch nachzubessern.Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zurGesundheitspolitik sagen. Die Redner, die mir folgenwerden, werden dazu wesentlich vertiefter sprechenkönnen. Ich will nur folgendes sagen: Was wir ablehnen,ist der Systemwechsel von der eigenverantwortlichenMedizin zur Einheits- und Staatsmedizin. Den vollzie-hen Sie mit dem Globalbudget.
Ich darf hier einen bildlichen Vergleich anführen, denich jüngst gelesen habe: Es drängt sich der Vergleich mitManfred Kolbe
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der Feuerwehr auf. Die Kassenärzte sind dazu ver-dammt, alle Krankheiten zu heilen – so wie die Feuer-wehren alle Brände löschen sollen. Den Feuerwehrensteht dafür jedoch nur ein festes Budget für das Lösch-wasser zur Verfügung. Natürlich können sie alles tun,um möglichst sorgsam damit umzugehen. Aber sie ha-ben Einfluß weder auf die Zahl der Brände noch auf dieSchwere der Brände, noch auf den Preis des Löschwas-sers. So sieht die Gesundheitspolitik aus, die Sie betrei-ben, und sie wird unser medizinisches System gefähr-den. Deshalb hoffe ich, daß Sie in diesem Bereich zu ei-ner Umkehr kommen.Abschließend wünsche ich uns, daß wir zu einersachlichen Beratung im Haushaltsausschuß kommen unddaß wir in dem einen oder anderen Punkt Veränderun-gen erreichen.
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich jetzt dem Abgeordneten Diller
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr ge-
ehrten Damen und Herren! Da ich mehrfach angespro-
chen worden bin, möchte ich darauf eingehen.
Der Vorredner hat in der Zeit seiner Zugehörigkeit
zum Deutschen Bundestag dafür gesorgt, daß die Schul-
den, die aus der Ära Helmut Schmidt übernommen wer-
den mußten, in den ersten acht Jahren Ihrer Regierungs-
zeit verdoppelt wurden. Diese Schulden wurden in den
zweiten acht Jahren Ihrer Regierungszeit noch einmal
verdoppelt. In Ihrer gesamten Regierungszeit haben sich
also die Schulden des Bundes vervierfacht. Sie sind die
größten Schuldenmacher aller Zeiten!
Diese Debatte wird von der Opposition mit einem un-
auflösbaren Widerspruch gestaltet. Zum einen sagte
auch der Kollege Kolbe, es werde überhaupt nicht ge-
spart. Zum anderen wird aber bei allen Einzelplänen ge-
sagt, daß da nicht gespart werden dürfe. Was sollen wir
nach Ihrer Meinung also tun?
Es kann nur ein Vorwurf zutreffen: Entweder wird über-
haupt nicht oder aber an den falschen Stellen gespart.
Wir haben von Ihnen jedenfalls überhaupt nichts darüber
von Ihnen gehört, wo denn alternativ gespart werden
soll. Ihre Anträge beziehen sich auf Mehrausgaben und
nicht auf Einsparungen.
Für einen Haushälter – Herr Kollege Kolbe ist ein
Haushälter – ist der vorgebrachte Vorwurf eine Schande,
weil er damit zeigt, daß er entweder die Situation nicht
begreift oder daß man ihm unterstellen muß, daß er be-
wußt die Unwahrheit sagt. Herr Kolbe hat behauptet,
daß wir die 30 Milliarden DM, die der Haushalt 1999
gegenüber dem Haushalt 1998 aufwächst, jetzt mit unse-
rem Sparpaket sozusagen einsammeln würden. Dies
ist absolut falsch. Es sind beim Ist/Soll-Vergleich nur
28,5 Milliarden DM, die der Haushalt 1999 gegenüber
dem Haushalt 1998 aufwächst.
Der Haushalt 1999 wächst deshalb auf, weil in ihm
erstmals die Einnahmen und Ausgaben für die Postun-
terstützungskassen in Höhe von 8 Milliarden DM ent-
halten sind und nicht mehr als Sonderposten geführt
werden. Er wächst um weitere 15 Milliarden DM auf,
weil für 12 Monate, und nicht wie im Vorjahr nur für
neun Monate, Ihre Mehrwertsteuererhöhung zur
Dämpfung des Anstieges des Beitragssatzes in der Ren-
tenversicherung etatisiert werden mußte und weil die
Einnahmen und die Ausgaben der Ökosteuer zugunsten
der Beitragssatzsenkung in der Rentenversicherung eta-
tisiert werden mußten.
23 Milliarden DM der 28 Milliarden DM erklären sich
auf diese Weise.
Auf Ihre Frage, was wir eigentlich sparen, will ich
Ihnen antworten: Wir haben die Waigelsche Finanzpla-
nung zugrunde gelegt und festgestellt, daß in ihr für das
Jahr 2000, über das wir jetzt reden, 20 Milliarden DM
nicht veranschlagt sind, die eigentlich hätten veran-
schlagt werden müssen.
Wir haben außerdem noch Mittel in Höhe von 5 Milliar-
den DM für Maßnahmen vorgesehen, die dem politi-
schen Willen der neuen Regierung entsprechen. Nur
weil Sie im Rahmen der Waigelschen Finanzplanung
weit über 50 Milliarden DM neue Schulden machen
wollten, sind wir bei 80 Milliarden DM Schulden ange-
langt. Weil wir aber weniger als 50 Milliarden DM
Schulden machen wollen, müssen wir 30 Milliarden DM
einsammeln.
Herr Kollege
Diller, eine Kurzintervention dauert nur drei Minuten.
Sie sprechen nicht als Mitglied der Bundesregierung.
Ich bedanke mich für den Hin-
weis, Frau Präsidentin. Darf ich eine letzte Bemerkung
machen?
Bitte.Manfred Kolbe
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1996 haben Sie auf verfassungs-
widrige Weise 78 Milliarden DM Schulden in einem
einzigen Haushaltsjahr gemacht. 1997 mußten Sie den
Deutschen Bundestag bitten, die von der Verfassung
vorgegebene Grenze für die Neuverschuldung über-
schreiten zu können.
1998 haben Sie 20 Milliarden DM aus dem Verkaufser-
lös der Telekom-Aktien, die für die Finanzierung der
Postunterstützungkassen vorgesehen waren, genutzt, um
die Löcher in Ihrem Haushalt zu schließen.
Diese entsetzliche Politik darf nicht fortgesetzt wer-
den. Deswegen mußten wir dieses Sparpaket schnüren.
Es erwidert
jetzt der Kollege Kolbe.
Herr Kollege Diller, es
ist ja erfreulich, daß Sie im Rahmen dieser Debatte end-
lich gezwungen sind, sich zu den Bezugsgrößen Ihrer
angeblichen Einsparungen zu äußern; denn schriftlich
liegt darüber bisher nichts vor. Wenn Sie landauf, land-
ab behaupten, 30 Milliarden DM einzusparen, dann hat
das deutsche Parlament doch wohl Anspruch darauf,
schriftlich zu erfahren, in welchen Positionen Sie diese
Einsparungen vornehmen wollen. Sie haben zwar jetzt
ein paar Ausführungen dazu gemacht, aber schriftlich –
das möchte ich festhalten – liegt diesem Hause nichts
vor.
Auch im Rahmen der Einzelplanberatungen haben
wir die Vertreter der Ministerien gefragt: Wo spart ihr
eigentlich ein? Die Damen und Herren waren nicht zu
einer Auskunft fähig. Es bleibt völlig im dunkeln, auf
welche Bezugsgrößen Sie sich bei Ihren Einsparungen
stützen. Legen Sie bitte endlich etwas Schriftliches vor,
so daß jeder nachvollziehen kann, gegenüber welchem
Ansatz die 30 Milliarden DM angeblich eingespart wer-
den sollen.
Bezugsgröße kann jedenfalls nicht der Vorjahres-
haushalt sein. Darüber sind wir uns einig. Das sind nur
minus 7,5 Milliarden DM. Bezugsgröße kann auch
kaum die Waigelsche Finanzplanung sein; denn auch
gegenüber dieser steigt Ihr Bundeshaushalt 2 000 um
12,9 Milliarden DM. Sie müßten also irgendwo anders
42,9 Milliarden DM einsparen. Listen Sie bitte einmal
auf, wo diese 42,9 Milliarden DM eingespart werden
sollen. Die Beträge, die Sie genannt haben, ergeben in
der Addition nicht diese Summe.
Legen Sie also bitte in der ersten Sitzung des Haus-
haltsausschusses eine saubere schriftliche Berechnung
vor, durch die deutlich wird, auf welche Bezugsgrößen
Sie sich bei der Einsparung von 30 Milliarden DM stüt-
zen. Wenn Sie das tun, können wir seriös darüber disku-
tieren. Wahrscheinlich haben Sie nur Luftbuchungen
eingespart. Damit kommen Sie weder bei uns noch in
der Öffentlichkeit durch, auch wenn Sie es noch so oft
wiederholen.
Zu den Schulden als Erblast: Angeblich hat die Kohl-
Regierung 1,5 Billionen DM Schulden gemacht. Dies ist
blanker Unsinn.
Ich habe heute schon darauf hingewiesen: Es liegt im
Interesse unserer demokratischen Parteien, klarzustellen,
daß ein Drittel dieser Schulden Folgelasten der ehema-
ligen DDR und der SED-Diktatur sind. Diese Klarstel-
lung muß doch auch im Interesse der SPD liegen.
Oder sehen Sie und die PDS sich schon als Einheit? –
Das tun Sie doch nicht!
Es war vernünftig, die rund 400 Millionen DM Fol-
geschulden der ehemaligen DDR im Erblastentilgungs-
fonds zusammenzufassen. Ich weise ausdrücklich darauf
hin, daß es sich hier um gesamtdeutsche Schulden han-
delt, denn die sowjetische Besatzung und die DDR wa-
ren Folgen des zweiten Weltkriegs. Folglich müssen die
daraus resultierenden finanziellen Belastungen von allen
Deutschen getragen werden. Es war aber sinnvoll, diese
gesondert auszuweisen, um die Verantwortung der
SED/PDS-Genossen auf der linken Seite des Hauses
herauszustellen.
Herr Kollege Diller, es war auch sinnvoll, diese
Schulden innerhalb einer Generation tilgen zu wollen.
Nach unserem Konzept wäre das möglich gewesen. Die-
se Tilgung haben Sie, Herr Diller, beendet. Wir haben
bis zum Ende der Regierungszeit Kohl 46,5 Milliarden
DM dieser Erblastschulden getilgt. Durch die Abschaf-
fung dieses Tilgungsanteils haben Sie sich einen zusätz-
lichen Ausgabespielraum von 9 Milliarden DM im Bun-
deshaushalt 1999 verschafft.
Sie reden zwar vom Sparen, aber tatsächlich haben
Sie die einzige Tilgung, die effektiv im Rahmen des
Bundeshaushalts geleistet wurde, abgeschafft. Dies ist
widersprüchlich.
Ich weise Sie
darauf hin, daß Sie Ihre Redezeit überziehen. Das darf
nicht Schule machen.
Ich möchte nur noch
einen Satz sagen.
Wichtig für eine erfolgreiche Finanzpolitik sind eine
erfolgreiche Wirtschaftspolitik, eine echte Steuerreform,
die Senkung der Lohnnebenkosten und der Abbau von
Bürokratie. Weil Sie daran scheitern, geraten Sie mit
Ihrem Haushalt in Schwierigkeiten.
Es liegt nocheine Meldung zu einer Kurzintervention vor. Bitte, HerrAbgeordneter Dr. Seifert.
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5032 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Da mich der Kollege Kolbe
persönlich angesprochen hat, erlaube ich mir, ihm zu
erwidern. Ich werde versuchen, mich dabei an die Drei-
Minuten-Regelung zu halten.
Erstens. Herr Kolbe, Sie haben nicht in der DDR ge-
lebt. Die Einbeziehung in die sozialistische Demokratie
ging nicht so weit, daß man schon zwei Jahre vor seiner
Geburt in die Regierung aufgenommen wurde. Insofern
ist Ihre Aussage über die 40 Jahre meiner Regierungs-
beteiligung nicht ganz zutreffend. Ich bitte um Ent-
schuldigung, daß ich nicht die ganze Verantwortung
persönlich übernehmen kann.
Zweitens, zur Sache: Sie begrüßen es außerordent-
lich, daß sehr viele Investitionen in Pflegeeinrichtun-
gen fließen, weil alles aufgebaut werden muß. Verehrter
Herr Kollege Kolbe, ich glaube, wir sind auf einem ge-
waltigen Irrweg, und die Regierung geht ihn leider wei-
ter. Viel wichtiger wäre es, in ambulante Assistenz-
strukturen zu investieren und keine neuen Sonderein-
richtungen zu bauen, die zu „Aussonderburgen“ oder –
wenn es ganz schlimm kommt – zu „Aussondergettos“
werden.
Das ist etwas anderes, als bestehende Mängel in be-
stehenden Einrichtungen zu beseitigen und dort zu mo-
dernisieren. Ich halte es für einen Irrweg, in neue Son-
dereinrichtungen zu investieren, weil dadurch die Mög-
lichkeiten der ambulanten und selbstbestimmten Assi-
stenz eingeschränkt und nicht ausgebaut werden.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Herr Kolbe,
möchten Sie antworten?
Herr Seifert, Sie be-
haupten Falsches. Ich bin in Naunhof in Sachsen gebo-
ren. Daß mein Vater ab einem gewissen Zeitpunkt nicht
in der DDR gelebt hat, liegt an Ihrer Vorgängerpartei.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Eckhart Lewering. Er hält seine
erste Rede hier. Deswegen bitte ich Sie, besonders auf-
merksam zuzuhören.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DieProbleme, mit denen sich das Gesundheitswesen heutekonfrontriert sieht, sind nicht neu. In 16 Jahren Regie-rungszeit hat es die heutige Opposition nicht vermocht,das deutsche Gesundheitswesen auf eine zukunftsfähigeGrundlage zu stellen.
Leistungskürzungen auf der einen Seite bei gleich-zeitig steigenden Beitragssätzen und Belastungen fürPatienten auf der anderen Seite waren das Kennzeichenkonservativ-liberaler Gesundheitspolitik. Der medizi-nisch-technische Fortschritt, die demographische Ent-wicklung in unserem Land und die Entwicklung am Ar-beitsmarkt machen es unabdingbar, daß wir zu einem ef-fizienteren und qualitätsbewußteren Gesundheitswesenfinden. Hierzu müssen die Leistungserbringer entschei-dend beitragen. Daß sich auch die Leistungsempfängerdabei auf das „medizinisch Notwendige“ einstellen, istebenfalls selbstverständlich.Die rotgrüne Koalition setzt Akzente für eine Ge-sundheitspolitik, die zum Ziel hat, vermeidbare Kostenschon in ihrer Entstehung zu bekämpfen. Aus diesemGrund wird mit der Gesundheitsreform 2000 Präventionwieder zu einem zentralen Bestandteil der Gesundheits-politik werden.
Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege und Rente“wird in Zukunft konsequent umgesetzt werden, weil dasim Interesse der Menschen ist und weil es auch ausvolkswirtschaftlicher Sicht vernünftig ist.
Die Haushaltskonsolidierung ist, so wie die Verringe-rung des Anstiegs der Kosten im Gesundheitswesen ins-gesamt, eine bedeutende Aufgabe. In den letzten Jahrensind die Ausgaben im Gesundheitswesen stark gestie-gen. Zwar hat die heutige Opposition dieses Problem er-kannt, doch fehlte ihr wahrscheinlich der Mut, die Ursa-chen wirksam und dauerhaft zu bekämpfen. Das holenwir jetzt nach.
Es ist unser erklärtes Ziel, die Beitragssätze in der ge-setzlichen Krankenversicherung stabil zu halten, Lohn-nebenkosten zu senken und mit der Schaffung neuer Ar-beitsplätze die Zahl der Mitglieder in der gesetzlichenKrankenversicherung, die in der Lage sind, aus eigenerKraft Beiträge zu leisten, dauerhaft zu erhöhen.Die Finanzierung des Gesundheitswesens ist über-wiegend Angelegenheit der Länder und der gesetzlichenKrankenversicherung. Der Einzelplan 15 gehört deshalbzu den kleineren Einzelplänen des Gesamthaushalts. DerEntwurf des Gesundheitshaushalts für das Jahr 2000weist Ausgaben von rund 1,8 Milliarden DM aus. Diesbedeutet einen Ausgabenanstieg von mehr als 202 Mil-lionen DM gegenüber dem Vorjahr. Dies steht, zumin-dest auf den ersten Blick, im Widerspruch zu den ebengenannten Zielen.Dieser Ausgabenanstieg beruht indes auf besonderenUmständen: Erstens. Für Pflegefinanzhilfen müssen indiesem Jahr Mittel aus früheren Haushaltsjahren nach-veranschlagt werden. Zweitens. Die Verlagerung desBundesinstituts für Arzneimittel und Medizinproduktevon Berlin nach Bonn erfordert in diesem Jahr erhöhteAufwendungen in Höhe von 49,2 Millionen DM. Drit-tens. Die Personalausgaben für Zulassungsaufgaben imselben Institut erhöhen in gleichem Maße die Ausgaben-wie die Einnahmenseite.Läßt man diese Besonderheiten außer acht, so ergibtsich ein tatsächlicher Ausgabenrückgang von 7,4 Pro-zent gegenüber dem bisherigen Finanzplan. Der Ge-sundheitsetat leistet im vorliegenden Entwurf somit den
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von der Bundesregierung geforderten und angekündig-ten und auch von uns gewollten Beitrag zur langfristigenHaushaltskonsolidierung. Die vorgesehenen Kürzungenbetreffen vor allen Dingen den Bereich des Bundes-ministeriums für Gesundheit und weniger den der nach-geordneten Behörden.Im einzelnen ergibt sich folgendes Bild – ich nennenun einige Zahlen –: Für gesundheitspolitisch relevanteMaßnahmen werden rund 84 Millionen DM vorgesehen.Modellprogramme der Pflegeversicherung werden mit63 Millionen DM gefördert. Insgesamt liegt derSchwerpunkt bei den Modellprogrammen in der Krebs-bekämpfung, bei Maßnahmen gegen Drogen- undSuchtmittelmißbrauch sowie bei Vorhaben zur medizini-schen Qualitätssicherung. Im Bereich der gesundheitli-chen Aufklärung werden vor allem Maßnahmen zurDrogen- und Aidsprävention finanziert.Insgesamt gehen die Aufwendungen für disponibleAusgaben weiterhin zurück. Diese Einsparungen sindvertretbar, da Ausgaben für Modellprogramme vielfachin die Regelversorgung übernommen wurden und damitin Zukunft durch die Länder oder die gesetzliche Kran-kenversicherung finanziert werden.Positiv zu bewerten ist, daß es gelungen ist, Einspa-rungen in wichtigen Bereichen, denen eine wachsendegesundheitspolitische Bedeutung zukommt, zu vermei-den. So werden Modellmaßnahmen zur Qualitätssiche-rung und solche zur Verbesserung der Selbstversorgungmit Blut und Blutprodukten sowie für die Bekämpfungdes Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs mit höherenAnsätzen als im Vorjahr fortgeführt. Die Modellpro-gramme im Bereich Drogen werden 1,8 Millionen DMmehr erhalten. Dem stehen Einsparungen im Bereich dergesundheitlichen Aufklärung gegenüber. Insgesamt ste-hen jedoch für den Drogenbereich 800 000 DM mehrbereit.Größter Ausgabenposten sind auch weiterhin dieFinanzhilfen zur Förderung von Investitionen in Pflege-einrichtungen in Ostdeutschland. Die eigentlich ge-setzlich vorgesehene Rate von 800 Millionen DM jähr-lich wird in diesem Jahr um etwa 126 Millionen DMübertroffen werden. Dies ist notwendig geworden, dasich der Bedarf in den neuen Ländern zunächst sehr un-gleichmäßig entwickelte und nun nachveranschlagt wer-den muß. Insgesamt umfaßt das Programm zur Förde-rung der Pflegeeinrichtungen in Ostdeutschland einVolumen von 6,4 Milliarden DM, verteilt auf den Zeit-raum von acht Jahren. Im kommenden Jahr wird einDrittel der Minderausgaben aus dem Jahre 1997 in Höhevon 230 Millionen DM nachgeholt. Hinzu kommen 5Millionen DM aus dem vergangenen Jahr. Abzüglichdes Beitrages zum Zukunftsprogramm der Bundesregie-rung ergibt sich die erwähnte Erhöhung um knapp 126Millionen DM für das Jahr 2000.Für Investitionen sind im Regierungsentwurf 1,122Milliarden DM veranschlagt. Die Bauinvestitionen fürnachgeordnete Behörden belaufen sich auf 113 Millio-nen DM und liegen damit um 42 Millionen DM überdem Betrag von 1999. Diese Kosten entstehen haupt-sächlich durch den erwähnten Neubau des Bundesinsti-tuts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Die für daskommende Jahr veranschlagte Rate für diesen Bau be-trägt 57 Millionen DM.Mit 53,5 Millionen DM werden wissenschaftlicheForschungsinstitutionen finanziert, die der Bund ge-meinsam mit den Ländern fördert.Für die Erstattung von Krankenkassenaufwendungenfür Aussiedler und Leistungen nach dem Mutterschutzstehen 16,5 Millionen DM zur Verfügung.Wie im vergangenen Jahr so trägt die Bundesrepublikmit ihrem WHO-Beitrag auch im kommenden Jahr zumAuf- und Ausbau des internationalen Gesundheitswe-sens bei. Der Ansatz beläuft sich im kommenden Jahrauf 64,5 Millionen DM.Weitere Ausgabenschwerpunkte liegen bei den Per-sonalkosten. Hier sind zirka 308 Millionen DM veran-schlagt. Da seit mehreren Jahren Stellen abgebaut wer-den, ist ein Stagnieren dieser Ausgaben festzustellen.Vorgesehen ist unter anderem ein Wegfall von 39 Stel-len und Planstellen im Ministerium und in den Institu-ten. Die Sachausgaben in diesem Bereich betragen zirka129 Millionen DM und stehen naturgemäß in einem en-gen Zusammenhang mit den Personalausgaben. Die Ein-sparpotentiale im Bereich der Personal- und Sachausga-ben belaufen sich auf 8,4 Millionen DM und liegen so-mit um 2,3 Millionen DM über dem Betrag von 1999.Insgesamt muß festgehalten werden, daß der Bundes-regierung bei den Ausgaben im Gesundheitshaushalt nurein eingeschränkter Gestaltungsspielraum verbleibt, dadie Vergabe der Mittel zu einem großen Teil entwedergesetzlich vorgeschrieben ist oder langfristige Finanzie-rungsverpflichtungen bestehen. So sind mehr als 50 Pro-zent der disponiblen Ausgaben durch Festlegungen ausden Vorjahren bereits gebunden.Die Einnahmeseite des Haushalts weist eine kontinu-ierliche Steigerung auf. Die Einnahmen werden im we-sentlichen von dem Gesundheitsministerium nachgeord-neten Behörden aus der Zulassung von Arzneimitteln er-zielt.Abschließend bleibt festzustellen, daß der Einzelplan15 in der vorliegenden Fassung eine solide Basis für dieErfüllung der Aufgaben des Geschäftsbereichs des Bun-desministeriums für Gesundheit bildet.
Das Gesundheitsressort ist, wie bereits gesagt, in er-ster Linie ein Gesetzgebungsressort. Dennoch trägt auchder Gesundheitshaushalt im Rahmen seiner Möglich-keiten seinen Anteil an der Haushaltskonsolidierung undleistet damit einen Beitrag zur solidarischen Konsolidie-rung unseres Gemeinwesens.Die Menschen in unserem Lande wollen ein Gesund-heitswesen, das auf der Solidarität der Bürger unterein-ander basiert.
Der vorliegende Haushaltsentwurf ist dabei ein weitererSchritt in die richtige Richtung.Ich danke Ihnen.
Eckhart Lewering
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Danke schön
und Gratulation zur ersten Rede!
Das Wort hat der Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Der Haushalt des Bundesgesundheits-ministeriums läuft in den Diagrammen lediglich unter„Sonstiges“. Daraus könnte man schließen, es handlesich um eine Marginalie. Doch dieser Haushalt hat er-hebliche Auswirkungen auf andere Haushalte – auf dieHaushalte der Krankenkassen und Krankenhäuser sowieauf die Haushalte der in den Gesundheitsberufen Tätigen– und auch auf die Beiträge der Versicherten. In all die-sen Bereichen ergeben sich durch die von der Bundesre-gierung auf den Weg gebrachte Reform 2000 einschnei-dende Veränderungen.Wie negativ diese Folgen sind, hat der erste Teil derAnhörung des Gesundheitsausschusses in der letztenWoche gezeigt. Diese Anhörung kann Ihnen, meineDamen und Herren von SPD und Grünen, nur wenigFreude gemacht haben. Vielleicht haben es die Spitzen-beamten des Ministeriums auch deshalb vorgezogen, zureinführenden Sitzung des Ausschusses nicht zu erschei-nen.Für uns ist jedenfalls ein weiteres Mal klargeworden,daß Ihr Weg geradewegs in die Zwangsrationierung vonGesundheitsleistungen führt. Die Budgetierung ist keinprobates Steuerungsmittel. Das hat die Vergangenheitgezeigt, und aus Erfahrungen sollte man lernen.
Jeder Mensch ist anders. Ein und dasselbe Gesundheits-problem kann sich bei verschiedenen Menschen völligunterschiedlich darstellen. Die erforderlichen Maßnah-men lassen sich nicht in ein finanzielles Korsett zwän-gen. Wenn Sie Ihre Berechnungen dann auch noch auffalschen Grundlagen aufbauen – etwa die Morbidität derMenschen im Osten nicht richtig einordnen, die Integra-tionsversorgung aus dem Budget der niedergelassenenÄrzte finanzieren lassen, Modellversuche zukünftig so-gar ohne Zustimmung der Kassenärztlichen Vereinigun-gen aus dem gleichen Geldbeutel bezahlen lassen, unge-deckte Schecks in Höhe von 2 Milliarden DM aus demsogenannten Solidaritätsstärkungsgesetz nicht berück-sichtigen –, dann wird es für die Betroffenen besondersschmerzlich. Eine falsche Aussage wird auch durchnoch so häufiges Wiederholen nicht richtiger.Wann also werden Sie endlich zugeben, daß Ihre ge-betsmühlenartig wiederholte Behauptung, auch in Zu-kunft würden den Patientinnen und Patienten alle Lei-stungen uneingeschränkt zur Verfügung stehen, irrealist?Medizinischer Fortschritt und demographische Ent-wicklung galoppieren in eine ganz andere Richtung undwerden sich auch durch die allerschönsten Budgetkon-struktionen nicht im Zaum halten lassen, Frau Ministe-rin.
Weil Sie das letztendlich auch ganz genau wissen,schieben Sie die Verantwortung auf die Ärzte, die Zahn-ärzte und die Krankenhäuser ab. Sie sollen an IhrerStelle die Rationierungsentscheidungen bei der täglichenArbeit treffen und für die damit verbundenen Qualitäts-einbußen einstehen.Zudem setzen Sie noch das Druckmittel Regreßfor-derungen beim Überschreiten des Arzneimittelbudgetsein. Mit dieser Maßnahme – egal, ob eine Individual-oder eine Kollektivhaftung, die völlig uneinsichtig wäre,vorgesehen wird – sind Sie dabei, viele Praxen, insbe-sondere in den neuen Bundesländern, in die Pleite zu ja-gen. So wurde es gestern abend bei einer Veranstaltungin Chemnitz formuliert.
Wie war es denn am Anfang der Legislaturperiode,Herr Finanzminister und Frau Ministerin? Wollten Sienicht Arbeitsplätze schaffen? Wollten Sie sich nicht dar-an messen lassen? Das Gegenteil ist durch diese Ge-sundheitspolitik der Fall.An einer Neubestimmung des Verhältnisses von Sub-sidiarität und Solidarität führt auch im Gesundheitswe-sen kein Weg vorbei. Abgesehen von manchen Sozial-romantikern der SPD und manchen Staatsgläubigenbei den Grünen ist diese Erkenntnis längst politischesAllgemeingut geworden. Man werfe nur einen Blick indas Schröder-Blair-Papier. Wir brauchen einfach mehrEigenverantwortung und mehr Wettbewerb. Die in denletzten Jahren im Gesundheitswesen durchgeführten Re-formen, waren, auch wenn Sie sie, Herr Dreßler, kritischgesehen haben, Ausdruck dieser Erkenntnis und Schrittein die richtige Richtung.
Auch die Beweggründe der Befürworter einer Posi-tivliste, also der Aufstellung erstattungsfähiger Arznei-mittel, sind vordergründig und wenig überzeugend. DieKoalition und mit ihr die Krankenkassen hoffen aufeinen Rückgang der Arzneimittelausgaben und verken-nen dabei die Gefahr teurer Substitutionseffekte. Sie er-richten ein Gefängnis eingeschränkter Therapiefreiheit,wobei die Umstellung vieler Patientinnen und Patientenauf wirkungsgleiche Billigmedikamente mit Problemenverbunden ist und in vielen Fällen teuer bezahlt werdenwird. Das ist jedenfalls unsere Prognose.Daß Patienten in Zukunft bestimmte Mittel aus eige-ner Tasche bezahlen müssen, erwähnen Sie in IhrenLobliedern über die Stärkung der Patientenrechte nicht.Auch auf die Forschung, die Wirtschaftskraft und dieweit über 100 000 Arbeitsplätze des PharmastandortsDeutschland wirkt sich diese weitere Innovationshürdenegativ aus.
Letztendlich bringt das ganze Unterfangen einenenormen bürokratischen Aufwand mit sich; der vonBundeskanzler Schröder gewohnt medienwirksam pro-pagierte Bürokratieabbau wird im Gesundheitswesen mit
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der Schaffung gleich zweier neuer Behörden eindrucks-voll dokumentiert. Das wäre ein weiterer geeigneter Ge-genstand für eine Satire, diesmal allerdings eine anstän-dige.
Ein anderes Thema – danke für den Hinweis, DieterThomae –, das der F.D.P. besonders am Herzen liegt,lassen Sie mich ansprechen: Das ist der Datenschutz imGesundheitswesen. Die Pläne der Bundesregierung sto-ßen zu Recht auf massive und breite Kritik. Uns liegt jaeine Resolution aller Datenschutzbeauftragten der Län-der und des Datenschutzbeauftragten des Bundes vor,mit der Sie sich offensichtlich zur Zeit beschäftigen. Wirsind gespannt, Frau Ministerin, was dabei herauskommt.
Besorgniserregend ist nicht nur die Beeinträchtigungdes informationellen Selbstbestimmungsrechtes des ein-zelnen. Die Brisanz des Vorhabens geht aus unsererSicht weit über den datenschutzrechtlichen Bereichhinaus. Der Gesetzentwurf bricht mit der bisherigenPraxis der Datenerhebung im Gesundheitsbereich, der-zufolge die Krankenkassen nur in Ausnahmefällen Zu-gang zu personenbezogenen medizinischen Daten hat-ten. In Zukunft sollen diese Daten nun an zentrale Da-tensammelstellen gemeldet werden, und zwar generellfall- und patientenbezogen. Dies hat aus unserer Sichtzur Folge, daß bei den gesetzlichen Krankenkassen um-fassende Dateien über jeden einzelnen Versicherten ent-stehen,
die lückenlos Aufschluß über seine ureigenste Privat-sphäre geben können, nämlich über Körper und Seele.Die Vorstellung, Frau Schaich-Walch, daß sich Patien-tenprofile aller Art ohne Schwierigkeiten erstellen lassenund auch sensibelste Diagnosen wie Aids-Infektionenoder psychiatrische Befunde aus den Datenbanken ab-rufbar sind, ist für mich und sicher auch für Sie – ich binsicher, daß wir in den Beratungen darüber noch redenwerden – ein Alptraum, der auf keinen Fall Realitätwerden sollte.
Das Anliegen, die Effizienz des Gesundheitswesenszu steigern und damit Kosten zu sparen, ist lobenswertund findet zu Recht breite Zustimmung und Unterstüt-zung. Das ist ja schon in den vergangenen Jahren so ge-wesen. Es bleibt allerdings völlig unklar, welchen zu-sätzlichen Erkenntnisgewinn das massenhafte personen-bezogene Sammeln von Daten für dieses erstrebens-werte Ziel hat. Im Gegenteil: Die Bürokratie wird weiteraufgebläht. Kontrolle und Mißtrauen bestimmen denWeg, statt Vertrauen in ein freiheitliches System zu set-zen, die Selbstverwaltung zu stärken und Marktmecha-nismen breiteren Raum zuzugestehen.
Wir werden in der Debatte immer wieder nach Alter-nativen gefragt. Ich will einmal an Hand von vier Bei-spielen aufzeigen, wie wir uns – im Gegensatz zu denstarren Regularien, die Sie einführen wollen – eine Öff-nung des Gesundheitswesens vorstellen.Erstens. Sagen Sie den Versicherten doch endlich dieWahrheit! Die Entwicklung der Ausgaben im Gesund-heitswesen ist geprägt durch eine zunehmende Anzahlälterer Menschen, durch einen rasanten medizinischenFortschritt und durch steigende Ansprüche. Die gesetzli-che Krankenversicherung kann einfach nicht grenzenlosalle wünschenswerten Leistungen finanzieren. Wir brau-chen eine Begrenzung der Leistungen auf das medizi-nisch Notwendige. Nicht alles, was zu unserem Wohlbe-finden beiträgt, ist Sache der Pflichtversicherung undschon gar nicht der Solidargemeinschaft.
Zweitens: Wenn wir es mit der Eigenverantwortungwirklich ernst meinen, dann zahlen wir dem Versicher-ten doch den Arbeitgeberbeitrag aus. Lassen wir ihnselbst bestimmen, wo er sich in welchem Umfang gegendas Krankheitsrisiko absichern will. Er muß seineGrundversorgung – gemeint sind existenz-, lebenser-haltende und notwendige Leistungen – nach seinen eige-nen Wünschen aufstocken und ergänzen können. Ledig-lich angenehme und individuell nützliche Leistungensollten zusatzversichert werden oder individuellen Ver-trägen zwischen Arzt und Patienten unterliegen können.Drittens. Stärken Sie wirklich die Patientenrechte!Räumen Sie den Pflichtversicherten die Möglichkeit ein,zum Beispiel eine Krankenkasse mit Selbstbehalttarifbei entsprechend niedrigem Beitragssatz zu wählen oderaber eine Krankenkasse, die bei nicht in Anspruch ge-nommenen Leistungen einen Teil der Beiträge zurück-zahlt – warum eigentlich nicht?
Lassen Sie eine individuelle Entscheidung für eineKrankenkasse zu, Herr Seifert, die erweiterte Leistungenetwa der Prävention anbietet.
Viertens. Sorgen Sie für mehr Kostentransparenz!Die Menschen müssen wissen, was ein Arztbesuch ko-stet. Das können sie nur, indem Sie das Sachleistungs-prinzip durch das Kostenerstattungsprinzip ersetzen.Allein vor dem Hintergrund Europa ist das dringend er-forderlich.
Dann kommen wir zu mehr Markt und zu weniger Diri-gismus. Das ist der Weg, den wir beschreiten wollen.Reinhard Mohn hat in einer Schrift der Bertelsmann-Stiftung gesagt – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsiden-tin –:Der Verlust eines auf gemeinsamen Überzeugun-gen basierenden Grundkonsenses macht es heutefast unmöglich, in Politik und Wirtschaft zu weiter-führenden Konzepten zu gelangen. Es stellt sichDetlef Parr
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uns entsprechend die Frage, ob die Misere desStandorts Deutschland nicht möglicherweise aufeiner Krise unseres Zielverständnisses beruht. Ord-nungssysteme haben auf Dauer nur Bestand, wennsie den Aufgabenstellungen ihrer Zeit entsprechendund von der Zustimmung der Menschen getragenwerden.Ihre Vorstellungen, meine Damen und Herren vonSPD und Grünen, entsprechen nicht den Aufgaben-stellungen unserer Zeit im Gesundheitsbereich. Sie ver-suchen, mit Spielregeln der Vergangenheit die Zukunftzu gestalten. Sie haben auch nicht die breite Zustim-mung der Menschen, wie die jüngsten Wahlergebnissezeigen.
– Frau Schaich-Walch, auch wir haben unsere Probleme;das gebe ich zu. Aber das wird sich ändern, und dieMenschen werden erkennen, wo die richtigen politi-schen Konzepte zu finden sind, nämlich bei uns Libera-len.
Wir sollten die Chance der veränderten Mehrheits-verhältnisse im Bundesrat für einen Neuanfang bei denReformüberlegungen nutzen,
statt im Vermittlungsausschuß Stück um Stück einenGesetzentwurf nachzubessern, der ordnungspolitisch indie Irre führt, voller Widersprüche steckt und Folgenhat, die wir gegenwärtig in ihren Dimensionen nur erah-nen können. Meine Damen und Herren, wenn Sie anFlickwerk herumbasteln, dann führt das nur zu weiteremFlickwerk mit noch kleineren Karos. Das ist der falscheWeg.Am 22. September wird das Bündnis Gesundheit2000 – –
Herr Kollege,
das wäre jetzt ein schöner Schlußsatz gewesen. Ihre Re-
dezeit ist nämlich abgelaufen.
Dann lassen Sie mich noch ei-
nen Satz sagen, was die Frage angeht, wie wir zukünftig
weiter verfahren wollen. Der Kanzler hat gesagt, es gebe
keine Alternativen, weder zu ihm noch zu seinen Sach-
aussagen. Ich will ein Wort von Benjamin Disraeli da-
gegenhalten: Das Wort „endgültig“ gibt es nicht in der
Sprache der Politik. – Lassen Sie uns so gemeinsam
weiter streiten.
Danke schön.
Das Wort hat
die Abgeordnete Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Lieber Kollege Parr, ich bin schonder Meinung, daß es zu den Konzeptionen von HerrnSchröder Alternativen gibt. Aber Ihre Alternative wärenicht die meine. Das wollte ich einmal feststellen.
Der heute zur Debatte stehende Haushalt des Bun-desministeriums für Gesundheit ist unübersehbar vonder generellen Spar- und Kürzungspolitik der Regie-rung Schröder geprägt. Erfreulich ist, daß an den mitdem Pflegeversicherungsgesetz auf den Weg gebrachtenerheblichen Finanzhilfen des Bundes zur Förderung vonInvestitionen in Pflegeeinrichtungen der neuen Länderfestgehalten werden soll. Das ist für den Bauzustand undfür die materielle Ausstattung dieser Einrichtungen vonnicht zu unterschätzender Bedeutung.Um so bedauerlicher ist jedoch, daß in diesem Haus-halt die Ausgaben für dringend notwendige Verbesse-rungen bei den unmittelbaren Betreuungs- und Versor-gungsleistungen für pflegebedürftige Menschen weiterreduziert werden. Positiv zu nennen ist meines Erach-tens, daß die Aufwendungen auf dem Gebiet der Sucht-bekämpfung – und hier insbesondere für Modellmaß-nahmen – erhöht werden sollen.Da aber der Großteil der Leistungen in der Kranken-und Pflegeversicherung nicht im Bundeshaushalt, son-dern von den entsprechenden Trägern der Sozialversi-cherungen bereitgestellt wird, sind die negativen Aus-wirkungen von Sparpaket, Rentenplänen und Gesund-heitsreform auf die allgemeine Finanzbasis wesentlichbedeutsamer als die Kürzungen im Haushalt des Bun-desministeriums für Gesundheit. Immerhin führen alleindas Sparpaket und die Rentenkürzungen zu Einnahme-verlusten der Krankenversicherung in Höhe von zirka 3Milliarden DM und zu Einnahmeverlusten der Pflege-versicherung von etwa 1,6 Milliarden DM. Außerdemstehen der Pflegeversicherung durch die Senkung derBeiträge von Arbeitslosenhilfebeziehern weitere Ein-nahmeverluste in Höhe von 400 Millionen DM jährlichins Haus. Von diesen Entwicklungen müssen schwer-wiegende Auswirkungen auf die Lebenssituation vonälteren, chronisch kranken und behinderten Menschenbefürchtet werden.Völlig unklar ist, wie all dies mit dem einschneiden-den Sparkurs im Gesundheitswesen zusammengehensoll, den die Regierung mit der Gesundheitsreform 2000eingeschlagen hat. Bekanntlich soll die Erschließungvon Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesundheitswesennicht primär der Verbesserung der medizinischen Ver-sorgung dienen, sondern eine rigorose Sparpolitik inForm von Budgetierung begründen, die die jährlicheMittelanhebung lediglich an den Anstieg der Grund-lohnsumme bindet.Diese Grundentscheidung, die das Gesundheitswesenzugleich von der Entwicklung der wirtschaftlichen Lei-stungskraft abkoppelt, berücksichtigt in keiner Weiseden jeweils gegebenen Versorgungsbedarf und die sach-lichen Notwendigkeiten dieses Bereiches. Sie ist direktaus dem – zunehmend wirtschaftsliberalen – Gesamt-konzept der Regierung abgeleitet und damit in erster Li-Detlef Parr
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nie eine wirtschaftspolitisch determinierte Vorgabe. Da-bei setzt die Regierung – inzwischen ebenso einseitigwie ihre Amtsvorgänger – auf die Stärkung der Ange-botskräfte, um Wirtschaftswachstum und die Senkungder Arbeitslosigkeit zu erreichen.Folgerichtig heißt die übergreifende Vorgabe für dasGesundheitswesen und damit das oberste Ziel dieser Re-form: Beitragsstabilität. Allerdings wird von Voraus-setzungen ausgegangen, deren Eintreten nach allen Er-fahrungen eher unwahrscheinlich ist. Das möchte ichbegründen:Erstens. Weder von der Stärkung der Position derHausärzte noch von integrierten Versorgungsformennoch von einer Positivliste, die wir übrigens begrüßen,können kurzfristig Einsparungen erwartet werden.Zweitens. Rationalisierungsreserven sind bestenfallsschrittweise in einem Reformprozeß, der über mehrereJahre angesetzt werden muß, zu erschließen. Hinzukommt, daß es sich im Erfolgsfall um einen gut gesteu-erten, durch wirksame Einzelschritte unterlegten Prozeßhandeln muß, dessen Sinnhaftigkeit zumindest von ei-nem großen Teil der Leistungserbringer verstanden undvor allen Dingen mitgetragen wird.Der jetzt vorgesehene blanke Einsparungsdruck läßterfahrungsgemäß den fragwürdigen Einsatz von Mittelnebenso weiterlaufen wie eine bestehende Unterversor-gung – dies alles natürlich auf einem deutlich abge-senkten Niveau. Die Verlierer solcher Art von Reformensind stets die sozial Schwächeren und insgesamt all jene,die sich am wenigsten wehren können. Soziale Gerech-tigkeit und Chancengleichheit in der gesundheitlichenVersorgung können auch auf solche Weise erheblichuntergraben werden. Es kann kaum verwundern, wennein so wenig durchdachtes und überstürztes Herangehenan ein anspruchsvolles Reformvorhaben im Gesund-heitswesen von den Leistungserbringern vor allem alsDruck in Richtung Qualitätsminderung und Rationie-rung empfunden wird. Im übrigen treffen die vorgesehe-nen Restriktionen vor allem jene Ärzte und andere Lei-stungserbringer am härtesten, die ihre Arbeit vorwie-gend an den Interessen ihrer Patienten und weniger anbetriebswirtschaftlichen Überlegungen orientieren.
Vor diesem Hintergrund verstärkt sich verständli-cherweise die Sorge, daß die bereits im laufenden Jahrakut aufgebrochenen Finanzprobleme der gesetzli-chen Krankenversicherung in Ostdeutschland weiterzunehmen. Rasche – noch 1999 wirksame – Abhilfe,wie sie vor der Sommerpause angekündigt wurde, läßtbisher auf sich warten. Vor allem bedarf die prekäreEinnahmesituation der ostdeutschen Krankenkassen, be-dingt vor allem durch höhere Arbeitslosigkeit und nied-rigere Einkommen, dauerhaft stabiler und tragfähigerLösungen. Sie sollten entsprechend ihrer Dringlichkeitnoch Bestandteil des gegenwärtigen Reformvorhabenssein.Lassen Sie mich im übrigen an dieser Stelle erneutdarauf hinweisen, daß die Leistungserbringer in denneuen Bundesländern, beispielsweise im ambulantenBereich, nach wie vor nur etwa 75 Prozent der Erlöse ih-rer jeweiligen westdeutschen Berufskollegen erzielen.Auch diese Gerechtigkeitslücke sollte endlich zielstrebiggeschlossen werden.
Im Gegensatz zum vorliegenden Reformentwurf derKoalition vertreten wir die Auffassung, daß sich Ge-sundheitspolitik auch in ihren Prämissen und Zielen kei-neswegs in der Übertragung wirtschafts- und finanzpo-litischer Strategien auf den Bereich des Gesundheitswe-sens erschöpfen darf. Sie verlangt ein eigenständigesGesamtkonzept, welches es ermöglicht, soziale Gerech-tigkeit mit hoher fachlicher Qualität und wirtschaftli-chem Einsatz der Mittel zu verbinden.
Natürlich ist es richtig – ich glaube, niemand in die-sem Haus bestreitet das; egal, von welcher Seite –, daßdas Gesundheitswesen Strukturreformen braucht, umdie vorhandenen Wirtschaftlichkeitsreserven zu er-schließen. Dies allein genügt aber nicht. Ebenso dring-lich ist eine schrittweise Erweiterung seiner Finanzie-rungsbasis. Dafür tun Sie aus meiner Sicht nichts odersehr wenig. Die Sachverständigenanhörung hat diesbe-züglich deutlich gemacht, daß der Wachstumssektor Ge-sundheitswesen Entwicklungsspielräume – mindestens –parallel zur Steigerung des Bruttoinlandsproduktes be-nötigt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Die zweite
Runde beginnen wir jetzt mit dem Beitrag der Abgeord-
neten Helga Kühn-Mengel.
Frau Präsidentin! ImRahmen einer Haushaltsdebatte ist es auch notwendig,neue Perspektiven aufzuzeigen. Das Gesetz zur Reformder GKV ab dem Jahr 2000 unterstreicht die Bedeutungvon Prävention, Gesundheitsförderung, Selbsthilfe undPatientenschutz; Bereiche, die von der Wissenschaft als– zumindest in Deutschland – hoch defizitär beschriebenund von der letzten Regierung stiefmütterlich behandeltworden sind.
Der alte § 20 nahm bei der alten Bundesregierung nacheiner nur sieben Jahre dauernden Existenz im SGB V am13. September 1996 ein trauriges Ende. Wir haben die-sen Paragraphen reanimiert. Wir schaffen mit diesemGesetz den Einstieg in das bedeutsame Politikfeld derKrankheitsverhütung und der Gesundheitssicherung.Wir fühlen uns hier im Einklang mit allen namhaftenVerbänden, mit der Wissenschaft und vor allem mit denPatienten und Patientinnen, den Versicherten, die wirdarin unterstützen wollen, sich im Gesundheitswesen zuorientieren und ihre Rechte wahrzunehmen.
Dr. Ruth Fuchs
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Durch die Maßnahmen zur Gesundheitsförderungund Prävention werden die Eigenverantwortung und dieSouveränität der Bürgerinnen und Bürger im Umgangmit ihrer Gesundheit gestärkt. Wir haben die gesetzli-chen Aufgaben der Krankenkassen um ebendiese Maß-nahmen zur Prävention erweitert. Solche Maßnahmenwerden also künftig wieder im Leistungskatalog derKrankenkassen angeboten werden können. Angebote derSelbsthilfe mit präventiver oder rehabilitativer Zielset-zung werden gefördert. Dies hat unser Gesetz ausdrück-lich klargestellt. Wenn wir durch Vorbeugung Krank-heiten gar nicht erst entstehen lassen, haben wir mehrgeleistet, als wenn wir das Gesundheitssystem zum rei-nen Reparaturbetrieb für bereits entstandene Krankhei-ten verkommen ließen.
Auch die Experten bestätigen uns seit vielen Jahren, daßkonsequente Gesundheitsförderung und Prävention nichtnur Behandlungskosten senken und Produktivkraft er-halten, sondern langfristig auch Berufs- und Erwerbsun-fähigkeit vorbeugen und damit die Rentenkassen entla-sten.Es ist vernünftig, daß durch diesen Gesetzentwurf denKassen Aufgaben der Prävention zuwachsen, zumal dieErfahrungen aus den Jahren 1989 bis 1996 gezeigt ha-ben, daß sie auf diesem Feld engagiert und effizient ge-arbeitet haben. Vielleicht konnten diese Maßnahmen imEinzelfall zum Wettbewerb um „gute Risiken“ genutztwerden. Der immer wieder als Totschlagsargument ge-gen § 20 SGB V herangezogene Bauchtanzkurs oder dasangeblich mitfinanzierte Indoor-Climbing kann dieQualität sinnvoller Maßnahmen nicht diskreditieren.Wir betonen deshalb zum einen, daß die Kinder undJugendlichen eine Zielgruppe darstellen, die es beson-ders zu berücksichtigen gilt, werden doch bereits in denfrühen Lebensphasen zahlreiche gesundheitsrelevanteEinstellungen und Verhaltensweisen geprägt.
Zum anderen war es uns wichtig, daß die präventivenAufgaben sowohl verhaltens- als auch verhältnispräven-tive Maßnahmen umfassen. Mit dieser Akzentuierungstellen wir klar, daß die Präventionsangebote nicht nurmittelschichtorientiert sind, sondern vor allem jene Be-völkerungsgruppen erreichen sollen, die auf Grund psy-chosozialer Defizite in ihrer gesundheitlichen Entwick-lung in besonderem Maße beeinträchtigt und gefährdetsind.
Sehen wir uns nur einen kleinen Ausschnitt aus denMorbiditäts- und Risikostatistiken für das Jugendalteran! Repräsentative Studien kommen zu dem Ergebnis,daß im Durchschnitt etwa 10 bis 12 Prozent der Kinderim Grundschulalter an Störungen der Leistungsfähigkeit,der Wahrnehmung und des Kontaktes leiden, daß dasAsthma bronchiale im Spektrum der psychovegetativenBeeinträchtigungen auf 5 bis 7 Prozent geschätzt wird,daß neben den bekannten ZivilisationskrankheitenSüchte eine immer größere Rolle spielen, daß in derGruppe der 12- bis 13jährigen jeder vierte gelegentlichoder regelmäßig Wein oder Bier trinkt – Herr Parr, dieBetrunkenen werden immer jünger –, jeder zehnteSchnaps oder Weinbrand, daß 16 Prozent der 12- bis17jährigen rauchen und 8 Prozent mit Drogen Kontakthatten. Angesichts dieser Zahlen wird die Notwendigkeitpräventiver Maßnahmen überdeutlich.
Das Ziel einer verbesserten Prävention verfolgen wirzum Beispiel auch dadurch, daß wir im Gesundheitsre-formgesetz in § 21 eine erweiterte Gruppenprophylaxebei Jugendlichen zur Verhütung von Zahnerkrankungenfestschreiben. Wir haben die Gruppenprophylaxe für be-sondere Risikogruppen bis zum 16. Lebensjahr erweitert– eine klare Verbesserung für unser Gesundheitssystem,auch wenn sich dies vielleicht erst in einigen Jahren ko-stensparend bemerkbar machen wird.Die Spitzenverbände der Krankenkassen werden ent-sprechend ihrer Verpflichtung zur Wirksamkeit undWirtschaftlichkeit einen Katalog geeigneter Maßnahmenzur Prävention vereinbaren. Dieser Katalog hat sich ander jeweiligen Zielgruppe und an dem Versorgungsbe-darf der Versicherten zu orientieren. Der Gewinn für dieVersicherten soll im Mittelpunkt stehen, nicht der Wett-bewerb der Krankenkassen.
Solche Maßnahmen der Prävention sind jedoch nurdann sinnvoll und für die Versicherten zweckmäßig,wenn die Leistungen in Kooperation mit den bereitsvorhandenen Strukturen stattfinden. Hier meine ich ins-besondere die Sportverbände, die Bildungseinrichtungenund die Landesvereinigungen für Gesundheit.Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Krankenkassenwerden stärker in die betriebliche Gesundheitsförderungeinbezogen. Im Rahmen dieser Gesundheitsförderungkönnen sie Maßnahmen durchführen, die den Arbeits-schutz ergänzen; sie sollen auch bei der Verhütung ar-beitsbedingter Gesundheitsgefahren mitwirken – einförderlicher Beitrag zur menschengerechten Gestaltungder Arbeit.
Es ist für uns selbstverständlich, die Qualität der Prä-ventionsleistungen zu sichern, zum Beispiel durch aus-schließlich nachweisgestützte Interventionen. Das heißt,daß mit der Aufgabenzuweisung eine Verpflichtung derKrankenkassen zur regelmäßigen Qualitätssicherungund Evaluation verbunden wird. Dazu werden die Spit-zenverbände der Krankenkassen in Kooperation mit an-deren Akteuren der Gesundheitsförderung und unabhän-gigem Sachverstand Qualitätskriterien erarbeiten. Diesist sinnvoll, da so dem Gedanken einer evidenzbasiertenMedizin der wirksamen und notwendigen Präventionentsprochen wird, und dies ist für die Bürgerinnen undBürger in doppeltem Sinne interessant: Als Nutzer sindsie an einer qualitativ hochwertigen Angebotspalette in-Helga Kühn-Mengel
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teressiert, als Beitragszahler an einer möglichst effi-zienten Verwendung der finanziellen Mittel.Selbsthilfe – ein weiterer wichtiger Baustein unseresGesundheits- und Sozialsystems – bedeutet eigenver-antwortliches und gemeinschaftliches Handeln, bessereBewältigung einer Krankheit, bedeutet Hilfe nicht nurfür den Kranken, sondern auch für die Menschen in sei-ner näheren Umgebung. Darüber hinaus ist es wichtig,daß chronisch kranke und behinderte Menschen anderseingebunden werden. Sie lehnen es ab, von den Reprä-sentanten eines professionellen Versorgungssystems alsObjekt betrachtet zu werden. Sie stellen die berechtigteForderung, als Experten in eigener Sache bei der Pla-nung und Durchführung aller sie betreffenden Maßnah-men eingebunden zu werden.
Wir stärken der Selbsthilfe den Rücken, wir integrierensie in das Gesundheitswesen. Das ist ein wichtigerPunkt.Patientenrechte und Patientenschutz wurden bereitsangesprochen. Die Verbesserung auch dieser Rechtebzw. dieses Schutzes verfolgt unser Gesundheitsreform-projekt 2000. Bisher hat das Recht den Patientinnen undPatienten nur dann geholfen, wenn es bereits zu einemBehandlungsfehler gekommen war. Unsere Vision rich-tet sich darauf, daß die Patientinnen und Patienten vonvornherein aktiv in den Behandlungsprozeß einbezogenwerden. Dazu brauchen sie verbesserte Informationen.Die im Arztrecht schon seit langem verankerte Pflichtdes Arztes, seinen Patienten aufzuklären, bevor dieserseine Einwilligung zu einer ärztlichen Maßnahme gibt,reicht oft nicht aus. Wir stärken diesen Bereich. Dazuwerden zum Beispiel Einrichtungen der Verbraucher-und Patientenberatung gezielt gefördert. Die Kranken-kassen erhalten die Möglichkeit, Modellprojekte zu fi-nanzieren. Unabhängige Stellen sollen diese Arbeitübernehmen. Auch das ist ein wichtiger Punkt in unse-rem Reformvorhaben.
Ich möchte Sie abschließend darauf aufmerksam ma-chen, daß sich die Rolle der Patienten und Patientinnenin unserer Gesundheitsreform verändert hat. Sie warenbisher eher Objekte der Fürsorge. Wir rücken sie wiederals Handelnde, als gleichberechtigte Partner in den Mit-telpunkt und unternehmen dafür die richtigen Schritte.Sie wissen, daß wir an der Erstellung einer Patienten-Charta arbeiten. Da sind bereits wichtige Akzente ge-setzt worden.Die These unbegrenzter Nachfrage im Gesundheits-system setzt einen uninformierten Patienten voraus.Wenn wir lesen, daß jede zweite der jährlich rund100 Millionen Röntgenuntersuchungen nach Aussageder Deutschen Röntgengesellschaft überflüssig ist, daßnach einem Bericht des BMG mindestens 25 Prozent derdurchgeführten Eierstock- und Eileiteroperationen ver-meidbar wären, wissen wir, worauf es ankommt: Nurder gut informierte Patient, die gut informierte Patientinist in der Lage, Eigenverantwortung zu übernehmen unddie Angebote im System sinnvoller und kostensparenderzu nutzen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zöller.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Frau Mini-sterin hat uns unterschwellig vorgeworfen, wir würdenauf der Seite der Leistungserbringer stehen. Ich frageSie: Ist es unredlich, sich für berechtigte Belange vonKrankenschwestern, Ärzten und Pflegepersonal einzu-setzen?
Wie weit Sie wieder einmal von Ihren Worten ent-fernt sind, zeigt sich daran, daß wir mehr auf der Seiteder Patienten stehen. Wir haben den Antrag eingebracht,500 Millionen DM mehr für Demenzkranke auszugeben.Mit der Begründung, das sei nicht finanzierbar, wurde erim Gesundheitsausschuß mit Ihrer Mehrheit abgelehnt.Im gleichen Jahr nehmen Sie aber 400 Millionen DMaus der Pflegeversicherung heraus und verbuchen sie beider Bundesanstalt an einer anderen Stelle. Das ist keinEinsatz für Patienten.
Wir werden, ob Sie es wollen oder nicht, leider dazukommen, daß das Ergebnis Ihrer rotgrünen Gesund-heitspolitik sein wird: je reicher, desto gesünder, je är-mer, desto kränker.Ich will Ihnen das an Beispielen belegen. Ihre Posi-tivliste wird zur Zwei-Klassen-Medizin führen. Fürviele chronische Erkrankungen gibt es nämlich nochkeine Arzneimittel, die eine ursächliche Therapie er-möglichen. Es gibt aber sehr viele Präparate, die denPatienten substantiell und subjektiv helfen. Mit IhrerPositivliste grenzen Sie also solche Mittel aus der Lei-stungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen aus, unddie Patienten müssen sie zu 100 Prozent selbst zahlen.Ich frage Sie: Ist es patientengerecht, die Zuzahlung um1 DM zu senken, aber dafür 30 Prozent der Arzneimittelvollständig von den Patienten bezahlen zu lassen?
Auch dies bedeutet wieder: Vermögende Patienten wer-den sich bewährte Präparate leisten können; für chro-nisch Kranke und ältere Menschen ist es ein Nachteil.Die Positivliste ist auch medizinisch der verkehrteAnsatz. Es besteht nämlich die Gefahr, daß nach derAusgrenzung von etwa einem Drittel der Verordnungenein Ausweichen auf stärker wirksame Präparate stattfin-det. Aber stärker wirksame Präparate haben nun leiderauch stärkere Nebenwirkungen. Dies kann wiederumnicht sinnvoll für Patienten sein.Helga Kühn-Mengel
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5040 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu Ihremsogenannten „Benchmarking-Modell“ möchte ich fol-gendes sagen: Ich verstehe darunter Orientierung amBesseren, am Sinnvolleren. Sie verstehen darunterscheinbar Orientierung am Billigsten.
Das bestätigt auch wieder, daß Sie Gesundheitspolitikzur Zeit rein fiskalisch und nicht bedarfsorientiert ge-stalten.
Wie widersprüchlich dieses Modell ist, kann ich Ih-nen auch beweisen: In einer Region, in der sehr vielePatienten statt stationär ambulant versorgt werden – waswir übrigens alle wollen –, fallen automatisch höhereArzneimittelkosten an. Nach Ihrem System werden füreine solche Region im kommenden Jahr die Mittel mitdem Ergebnis gekürzt, daß man wieder ins Krankenhauseinweisen wird. Sie sparen also einige hundert Mark fürArzneimittel, geben aber einige tausend Mark mehr fürKrankenhausaufenthalte aus. Das kann nicht sinnvollsein.
Ein weiteres Beispiel, das die Widersinnigkeit diesesModells belegt: In einer Region mit einer sehr hohenArbeitslosenquote sind auf Grund der großen Zahl vonPatienten, die von der Zuzahlung befreit sind, die Aus-gaben der gesetzlichen Krankenversicherungen für Arz-neimittel höher. Aber gerade hier nehmen Sie dann imFolgejahr Kürzungen vor. Sie kürzen also bei Arbeitslo-sen. Es tut mir leid: Mit sozial hat das nichts zu tun.Dieses Gesetz ist wirklich Pfusch.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit Argu-menten, die vor zehn Jahren noch Gültigkeit gehabt ha-ben mögen, aber heute nicht mehr zutreffen, propagierenSie die Abgabe von Reimportarzneimitteln. Durch IhreRegelung werden die Apotheker verpflichtet, preisgün-stige reimportierte Arzneimittel abzugeben.
Nun könnte man sagen: Das ist sinnvoll. Aber die Muß-Vorschrift, die Sie jetzt geschaffen haben, bedeutet inletzter Konsequenz, daß die Apotheker alle deutschenArzneimittel aus ihrem Regal herausnehmen
und die Versorgung mit reimportierten Arzneimittelnsicherstellen konnten.
– Wenn Sie auch den nächsten Satz hören, werden Siemerken, daß Ihr Zwischenruf nicht sinnvoll war. Wennman nämlich weiß, daß die Arzneimittelpreise im Aus-land staatlich reguliert oder sogar staatlich bezuschußtwerden, weiß man, daß dies ein Vernichtungsprogrammfür deutsche Arbeitsplätze ist.
Auch wird der Arzt künftig nicht mehr wissen, wel-ches Arzneimittel der Patient wirklich bekommen hat,weil der Apotheker ihm ein anderes als das verordnetegeben kann. Herr Kollege Dreßler, in diesem Fall wäreeine prozentuale Zuzahlung die intelligentere und ziel-führendere Lösung. Über diese Lösung sollten wir unsunterhalten. Sie ist auf jeden Fall besser als eine staatli-che Überreglementierung. Apropos Überreglementie-rung: Sie gründen jetzt ein neues Institut, das die Zulas-sungen der Zulassungsbehörde darauf überprüfen soll,ob deren Zulassungen als zugelassen gelten. Es tut mirleid, aber ich verstehe nicht, was das mit Entbürokrati-sierung zu tun haben soll.
Wie konzeptlos und unausgegoren Ihr Gesetz ist,sieht man auch an der Regelung für Zahnersatz. Wirhatten ein Festzuschußsystem für Zahnersatz einge-führt. Das bedeutete, daß der Patient für eine zahntech-nische Lösung, zum Beispiel eine Brücke, einen einheit-lichen Betrag von seiner Kasse erhielt. Dabei spielte eskeine Rolle, für welche Versorgungsform er sich ent-schied. Sie haben diese Regelung zu Beginn dieses Jah-res gekippt und eine prozentuale Bezuschussung einge-führt.Gestern lese ich, daß der Kollege Dreßler zurück zumFestzuschuß will, da dies – so bestätigte Dreßler – sozialgerechter ist als ein prozentualer Zuschuß.
Ja, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Re-gierung, wissen Sie eigentlich noch, was Sie wollen? Sielegen ein Gesetz vor, sagen aber, das andere sei sinn-voller. Vielleicht sollte man sich da einigen.Lassen Sie mich noch ein weiteres Beispiel Ihrer In-konsequenz ansprechen. Ich zitiere aus einer Pressemit-teilung des Bundesministeriums für Gesundheit vomApril diesen Jahres:Die Bundesregierung wird die Gebühren für tier-ärztliche Leistungen der aktuellen Entwicklung an-passen. Die derzeitige Fassung der Gebührenord-nung für Tierärzte ist seit dem 1. April 1988 inKraft. In den vergangenen 11 Jahren sind die Pra-xiskosten, vor allem auch die Personalkosten, er-heblich gestiegen, so daß eine Anpassung überfälligwar.
Frau Ministerin, Sie hatten Recht. Nur, die Gebühren-ordnung für Zahnärzte ist noch länger nicht mehr ange-paßt worden.
Was für Hunde gilt, sollte für Patienten schon längstgelten. So kommt es nämlich zu der sehr seltsamenRegelung, daß für eine Zahnfüllung bei einem HundWolfgang Zöller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5041
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135 DM gezahlt wird, für eine Zahnfüllung bei einemKassenpatienten aber nur 30,75 DM.
Meine Befürchtung, daß wir mit dieser Regierung aufden Hund kommen, hat sich leider bewahrheitet.
Ich darf noch eine gute Äußerung Ihres KollegenDreßler zitieren, und zwar:Die Tatsache, daß Qualität vor Schnelligkeit geht,hätten wir schon früher berücksichtigen sollen.Das unterstreiche ich voll. Deshalb mein Vorschlag: Mitunserem Gesundheitsgesetz hatten wir 1997 und 1998einen Überschuß in der gesetzlichen Krankenversiche-rung. Jetzt sagt Frau Fischer, auch 1999 gebe es keinDefizit. Wenn dem so ist, dann lassen Sie doch unserReformgesetz so lange wirken, bis wir gemeinsam einsinnvolleres Gesetz mit den Beteiligten erarbeitet haben.Wir bieten hierzu unsere Mitarbeit an.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Katrin Göring-Eckardt.
ärztinnen und Zahnärzte in Deutschland eine besonders
benachteiligte Gruppe sind. Deswegen kann ich gut ver-
stehen, daß Sie sagen, Sie wollen sich nicht auf die Seite
derer stellen, die die Leistungserbringer vertreten. Sie
sagen, das seien alles berechtigte Ansprüche, die da ge-
stellt werden. Aber daß Sie ausgerechnet die Zahnärzte
als Beispiel für jene anführen, die berechtigte Ansprüche
haben, macht mich stutzig.
Ich will Ihnen eines sagen: Der Unterschied zwischen
Ihnen und uns ist, daß Sie mit Ihren Gesundheitsgeset-
zen der Vergangenheit immer, insbesondere in der letz-
ten Legislaturperiode, als Tiger gesprungen und als
Bettvorleger gelandet sind. Und warum? Weil Sie sich
nicht getraut haben, mit den Leuten ins Gespräch
zu kommen, weil Sie einseitige Lobbypolitik betrieben
haben,
und weil Sie sich nicht getraut haben, in einen Dialog
einzutreten, sondern schon bei der ersten Kritik von
seiten der Leistungserbringer den Schwanz eingezogen
haben.
Herr Zöller, schauen Sie sich einmal an, was jetzt
passiert: Gestern ist ein Aktionsprogramm vorgestellt
worden, das ein gutes Beispiel dafür ist, daß sich Politik
im Dialog machen läßt – auch im Dialog mit der Lei-
stungserbringerseite – und daß bei dieser Regierung
endlich die Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt
stehen und nicht zweifelhafter Lobbyismus.
Das müssen Sie sich ins Stammbuch schreiben lassen.
Lassen Sie mich noch etwas zum Globalbudget sa-
gen. Wir stehen ja heute eigentlich in Beratungen über
den Haushalt.
Frau Kollegin,
es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage des
Kollegen Seifert.
gleich auf Sie zurück, möchte jetzt aber kurz auf das
Globalbudget eingehen. – Wir befinden uns in der Be-
ratung über einen Sparhaushalt. Wir müssen sparen, weil
es durch die Ergebnisse Ihrer Regierung nötig geworden
ist.
Wir stehen aber bei der Gesundheitsstrukturreform mit
dem Globalbudget vor einem Programm, mit dem mehr
Geld ins System soll und das Regulierung und nicht Re-
glementierung will. Genau das ist die Art von Politik,
die uns weiter führen wird – als das, was Sie uns ge-
bracht haben.
Das ist nämlich Abgrundpolitik gewesen, und Sie waren
ganz verwundert, als Sie runtergeschaut haben.
Wir machen gerade im Gesundheitssystem eine Politik,
die uns weiterführen wird
und die es uns schaffen lassen wird, das solidarische Sy-
stem zu erhalten.
Jetzt zu Ihnen, Herr Kollege Seifert.
Vielen Dank, Frau Kollegin – Da Sie wie auch die Ministerin immer betonen, daßdie Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt IhrerPolitik stehen, sagen Sie mir doch bitte einmal eines:Wolfgang Zöller
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5042 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Wie können Sie das mit der Praxis vereinbaren, die wirzum Beispiel in Berlin erleben? Dort sollen im Gesund-heitsbereich jetzt 4 000 Stellen abgebaut werden, undzwar vorwiegend im pflegerischen Bereich. Wo sind dadie Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt? Wiekönnen Sie es mit Ihrer Politik – ich kaufe sie Ihnen jagrundsätzlich ab –, bei der es darum geht, die Patientin-nen und Patienten und nicht irgendwelche anderenGruppen in den Mittelpunkt zu rücken, vereinbaren, daßbeispielsweise in Ost-Sachsen zuerst pflegerischesPersonal entlassen wird und erst dann eventuell andereEinsparmaßnahmen ins Auge gefaßt werden?
noch in den Ausschüssen zu führen haben. Es muß tat-sächlich zu denken geben, daß ausgerechnet beimPflegepersonal eingespart wird. Das hat aber nichts mitder Politik der Regierung zu tun. Das wissen Sie auch.
Das hat vielmehr mit der Frage zu tun, wo das Gelddenn im System bleibt.
Wenn man mit Pflegekräften spricht, dann erfährt man,
daß diese Menschen eine ganze Reihe von sehr sinnvol-len Vorschlägen machen, wie man im System etwas än-dern kann.
Ich glaube, darauf müssen wir eingehen. Das ist abernicht die Aufgabe der Politik von oben. Das muß viel-mehr – das wissen Sie alle – innerhalb des Systems ge-schehen. Dort, wo wir etwas beitragen können, daß dieseVorschläge gehört werden, werden wir das auch tun.
Dazu gibt es auch eine ganze Reihe sinnvoller Vor-schläge aus den Anhörungen.Lassen Sie mich, da meine Redezeit schon so gut wieum ist, noch eines sagen: Sie haben doch alle in den An-hörungen gesessen. Dort haben Sie erlebt, daß das, wasSie an ziemlich unsachlicher Argumentation angestiftethaben, durch eine sehr sachliche Argumentation undinsbesondere viel Lob für diesen Gesetzentwurf
abgelöst worden ist – gerade dort, wo es um die Rechtevon Patientinnen und Patienten geht, ihre Möglichkeiteneigenverantwortlich und selbstbestimmt wahrzunehmen,und dort, wo man die Chance hat, ein System der ge-meinschaftlichen Kompetenz von Ärzten, Patienten undPflegepersonal zu schaffen. Ich glaube, daß wir insofernauf dem richtigen Weg sind und daß es uns auch vonaußen bestätigt wird.Vielen Dank.
Ich erteile jetzt
dem Abgeordneten Wolfgang Lohmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe noch in Berlin gebliebene Kolleginnen undKollegen! Ich weiß, daß Sie nur meinetwegen hierge-blieben sind; denn Sie erwarten Ausführungen, die nichtan der Sache vorbeigehen.Frau Ministerin, zunächst habe ich eine Bitte – ichbeschwöre Sie fast –: Hören Sie doch bitte damit auf,den Menschen mit schönen Überschriften – darin sindSie Meister; das haben Sie wahrscheinlich vom Bundes-kanzler übernommen – einzureden,
daß in der Gesundheitspolitik etwas geschieht, was denMenschen und Patienten dient, während Sie die Konse-quenzen Ihrer Politik verschweigen! Ich nenne einmalein paar Beispiele: Verbesserung von Qualität und Wirt-schaftlichkeit im Gesundheitswesen, Sicherung der Bei-tragsstabilität durch Globalbudgets, Verzahnung vonambulanter und stationärer Versorgung, stärkere Orien-tierung an der Prävention oder bedarfsgerechte Investi-tionen im stationären Bereich – das klingt alles großar-tig.
In den ersten öffentlichen Anhörungen ist ja auch bestä-tigt worden, daß das großartig klingt; nur kann es nichtzur Durchführung kommen. Das haben übrigens alleBeteiligten so gesagt.
Sagen Sie doch den Menschen, daß sich die medizini-sche und gesundheitliche Versorgung der Bevölkerungin Deutschland bei Inkrafttreten dieser Reform negativentwickeln wird, weil den Menschen die notwendigeVersorgung zum Teil radikal, zum Teil aber auch nurschleichend vorenthalten werden wird!
Ihr Staatssekretär hat mir neulich bei einer Podiums-diskussion, an der ich beteiligt war, gesagt, er könnedieses Gerede von Rationierung nicht mehr hören, esgehe ihm auf den Geist.
Dr. Ilja Seifert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5043
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Den Leuten, denen demnächst die medizinischen Lei-stungen vorenthalten werden, geht das nicht nur auf denGeist; denen geht es auf den Körper.
Sie waren vielleicht in einem Akt vorauseilenden Ge-horsams bereit, durch Beteiligung an dem „Aktionspro-gramm zur Einhaltung der Arznei- und Heilmittel-budgets 1999“ die Verantwortung dafür wenigstensmitzuübernehmen. Mir ist gesagt worden, dieses Akti-onsprogramm unterscheide sich von dem Notprogramm,das drei Wochen lang in der Diskussion war, nur da-durch, daß es erstens nicht „Notprogramm“ heißt, son-dern „Aktionsprogramm“, und daß zweitens das WortWarteliste dort nicht vorkommt. In der Tat: Das WortWarteliste steht nicht mehr drin.
Ich habe ein Exemplar dieses Blattes mitgebracht undes vergrößert, damit Sie es auf die Entfernung auch le-sen können. Dort ist als Zusammenfassung von zig Sei-ten aufgeführt, was den Menschen demnächst nichtmehr verordnet werden darf. Dort steht zum Beispiel: Eswerden Originalpräparate durch preiswertere, aber wir-kungsgleiche Produkte mit gleicher Substanz ersetzt.
Das ist also fast ein Veränderungsverbot. Die forschendeIndustrie in Deutschland mit ihren Arbeitsplätzen wirdsich sehr darüber freuen,
wenn Sie so weit gehen, daß diese Originalpräparatenicht mehr verordnet werden dürfen.
Das gleiche gilt für altbewährte Medikamente und fürArzneimittel bei geringfügigen Gesundheitsstörungen.In Deutschland ist es ja so, daß man, wenn zwei Profes-soren über ein Arzneimittel unterschiedlicher Meinungsind, sofort sagt: Das sind umstrittene Arzneimittel. Beidiesen Medikamenten wird der therapeutische Nutzeninfrage gestellt.Schließlich heißt es zu Massagen und Krankengym-nastik:… werden bei Störungen des Befindens– da würde ich sagen, das ist in Ordnung –und bloßen Verspannungen– denken wir in diesem Zusammenhang an Behinderte –nicht verordnet. Ihr Arzt wird Sie aber zu eigen-ständigen Übungen anleiten und auf geeigneteSchulungen hinweisen!Jetzt ist mir auch klar, warum § 20 SGB V fröhliche Ur-ständ feiert. Das heißt, demnächst sollen über § 20 dieDinge, die im Rahmen des Globalbudgets verhindertwerden müssen, möglich gemacht werden.Frau Kühn-Mengel, Sie haben das ja in den Mittel-punkt Ihrer Rede gestellt. Als wenn ich es geahnt hätte,habe ich eines dieser sagenumwobenen Hefte in Kopiemitgebracht. Denn Sie oder die Kollegin Freitag, diesich ja besonders auf dem Gebiet des Sports betätigt,oder auch die Kassen selbst sagen: Der Mißbrauch, denes seinerzeit gab, war eine leichte Ausfallerscheinung; ingrößerem Umfang hat es das nicht gegeben.Das Heft, das ich mitgebracht habe, ist von der AOK.Ich will nicht all die Stellen vorlesen, in denen ich einLesezeichen stecken habe. Gesundheitswochen würdenja noch in Ordnung gehen. Dann kommt die Ernäh-rungsberatung. Hier wird gesagt: „Pfund um Pfund we-niger“. Ferner geht es um Aerobic-Unterricht und umBewegung und Tanz im Vorschulalter. Weiterhin wirdPartnermassage angeboten. Ein anderer Kurs heißt: „Daswundersame Nichts – wassergestützte Entspannung undMeditation für Frauen“. Was das auch immer heißenmag: Das alles wurde durch Pflichtbeiträge zur gesetzli-chen Krankenversicherung finanziert. Das haben wir ab-geschafft, und nun wird versucht, dort wieder einzustei-gen. Sie haben hoch und heilig versprochen, daß Siedarauf achten wollen, daß solch ein Mißbrauch nichtmehr passiert, und daß diesmal die entsprechenden Si-cherungen eingebaut werden. Wir haben aber Zweifel,ob das so kommt.Sie wollen das Programm umsetzen. Jeder in der Re-gierung – auch Sie – sagt: Wir ziehen das jetzt durch.Nach den Wahlen sagten Herr Clement oder Herr Mün-tefering im Fernsehen: Nun reicht es aber auch mit denOhrfeigen; wir haben jetzt verstanden. Anschließend tratder Bundeskanzler auf und sagte: Das ziehen wir jetztdurch. Das heißt also, er hat es immer noch nicht ver-standen. Deswegen müssen die Wahlen in den nächstenWochen zu ähnlichen Ergebnissen führen wie die, dieschon stattgefunden haben.
Herr Kollege
Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Dreßler?
Ja, natürlich.
Herr Kollege Lohmann, wä-ren Sie so freundlich, dem Hohen Hause noch einmalvorzulesen, welcher Mißbrauch während Ihrer Regie-rungszeit von den deutschen Krankenkassen zugelassenwurde? Ich habe das nicht alles verstanden, was Sie ge-rade vorgelesen haben. Das ereignete sich ja währendIhrer Regierungszeit.
Wolfgang Lohmann
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5044 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Würden Sie dem Hohen Hause bitte noch einmal vorle-sen, welcher Mißbrauch während Ihrer Regierungszeitvon deutschen Krankenkassen zugelassen wurde?
Lieber Herr Dreßler, Sie müssen sich schon bessere
Tricks einfallen lassen, um mich auf diese Weise aufs
Kreuz zu legen.
Entsprechende Anderungen sind in unserer Regierungs-
zeit umgesetzt worden. Nach 1992 haben wir gemein-
sam Anstrengungen unternommen.
Wir haben die Konsequenzen gezogen und § 20 SGB V
stark verändert, um nicht zu sagen: abgeschafft. Diese
Maßnahme haben Sie gegeißelt, obwohl die Mißstände,
die Sie erwähnt haben, nicht mehr vorkamen. Nun will
Ihre Regierung aber zu einer Finanzierung im Rahmen
des § 20 SGB V zurückkehren. Das ist die Wahrheit.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?
Ja, bitte schön, obwohl ich aus der Vergangenheit noch
weiß, daß Herr Dreßler meine zweite Zwischenfrage nie
zugelassen hat. Ich will mich aber anders verhalten.
Herr Kollege Lohmann, ich
werde mich in Zukunft bei Zwischenfragen von Ihnen
bessern.
Ich möchte nachfragen: Habe ich Sie richtig ver-
standen, daß sich die Kritik, die Sie geäußert haben,
nicht gegen das von uns geänderte Gesetz richtet, son-
dern daß Sie mit dieser Kritik unterstellen, Absicht
des Gesetzes ist es, den alten, von Ihnen in Ihrer dama-
ligen Regierungszeit korrigierten Zustand wiederher-
zustellen? Das heißt, Sie haben nicht gesagt, es ist so,
Sie haben vielmehr behauptet, es würde so sein. Ist das
korrekt?
Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Ge-fahr angesichts Ihrer Versprechungen groß ist.
Zunächst einmal muß man Ihre Vorschläge so, wie siesind, zur Kenntnis nehmen.
– Was nun stimmt, konnten wir ja inzwischen erfahren.– Unsere Fraktion hält die Grundkonzeption dieses Ge-sundheitsreformgesetzes ab dem Jahr 2000 für verfehlt.Ich möchte noch das zitieren, was Professor Arnoldauf der letzten Anhörung vor wenigen Tagen gesagt hat:Zusammenfassend: Die Höhe der mit dem Global-budget verfügbaren Mittel ergibt sich nicht ausVersorgungsnotwendigkeiten. Die für die eigentli-che Versorgung verfügbaren Anteile des Budgetswerden durch die Kosten einer überbordenden Bü-rokratie und zusätzliche Aufgaben gemindert. ...Die Knappheit macht es unmöglich, alle – wie un-scharf auch immer zu definierenden – notwendigenLeistungen zu erbringen.Die so unvermeidliche Rationierung wird, da aufeine offene Diskussion über verträgliche Rationie-rungsansätze im Glauben an die Mobilisierbarkeitvon Wirtschaftlichkeitsreserven verzichtet wird,verdeckt erfolgen und zur Zweiklassenmedizin füh-ren.Soweit Professor Arnold.
Sie haben bisher kein Wort über die fehlenden Ein-nahmen gesagt. Sie haben immer nur über die überbor-denden Ausgaben gesprochen, obwohl wir alle wissen,daß das Problem auf Grund der hohen Arbeitslosigkeitin einem erheblichen Maße in den geringen Einnahmensteckt. Dazu wird in dem Gesetzentwurf nichts gesagt.Sie geben keine Antworten auf die Folgen der demogra-phischen Entwicklung. Es findet sich kein Wort zummedizinisch-technischen Fortschritt. Sie stellen auchnicht die Frage, ob der Leistungskatalog der gesetzli-chen Krankenversicherung angesichts geänderter Rah-menbedingungen überprüft werden muß.Ich möchte in diesem Zusammenhang zitieren, wasProfessor Wille auf der eben schon erwähnten Anhörunggesagt hat. Professor Wille ist auf allen Seiten des Hau-ses als einer der wenigen neutralen Sachverständigenanerkannt. Er sagte folgendes:Es erfolgt per saldo keine Weiterentwicklung derWettbewerbsorientierung; der Gesetzentwurf setztvielmehr in weiten Teilen auf Regulierung, Zentra-lisierung und Kontrolle. Besonders deutlich zeigtsich dies beim Globalbudget, dessen Einhaltung ei-
diese „Kontrollorgie“ dann in eine rechtlich schwa-che Sollvorschrift ...Wenn Sie uns schon nicht glauben, nehmen Sie sichdoch wenigstens die Äußerungen dieser Sachverständi-gen zu Herzen und denken über den Gesetzentwurf nocheinmal nach. Mit ihm wird das Gesundheitswesen zu ei-nem Brennpunkt dauernder Diskussionen, die wir allegemeinsam nicht mehr wollen. Das Ergebnis wäre ausmeiner Sicht – ich habe am Anfang Ihre Ziele zitiert –:Rudolf Dreßler
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5045
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Beitragssatzsteigerungen ab Mitte 2000, schleichendeBeeinträchtigung der freien Arztwahl, Abbau der Thera-piefreiheit durch Listenmedizin – Stichwort Positivliste –,wozu sich schon der Kollege Zöller geäußert hat.Die Investitionen in den Krankenhausbereich wer-den auf den Stand vor 1972 zurückgeworfen. Wie sah esdenn aus, Herr Dreßler – dies müßten Sie eigentlichdoch noch wissen –, als die Krankenkassen über die In-vestitionen in die Krankenhäuser bestimmt haben? – DieSubstanz ging vor die Hunde. 1972 wurde deshalb be-wußt die Monistik abgeschafft und die Finanzierung undPlanung in die Hand der Länder gelegt.Tausende von Arbeitsplätzen werden verlorengehen.Deswegen die Bitte: Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurfendlich zurück! Lassen Sie den Beteiligten ein Jahrmehr Zeit, um eine vernünftige Reform zu erarbeiten.Nachbessern – das Wort des Jahres 1998 – ist keine Lö-sung. Wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallenist, wenn es lange Wartelisten gibt und wenn die Ar-beitsplätze bereits vernichtet sind, dann sind Nachbesse-rungen nur ein schwacher Trost. Wenn Sie Ihre Planun-gen so, wie von Herrn Schröder beabsichtigt, durchzie-hen, dann legen Sie die Axt an das System einer ge-sundheitlichen Versorgung, die nach wie vor und aner-kanntermaßen in Deutschland an der Spitze liegt. Dashaben weder die Beitragszahler noch die Patienten ver-dient. Auch unser Land hat dies nicht verdient.Danke.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Martin Pfaff.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Natürlich sind Haushaltsde-batten auch Anlaß, um über den gesundheitspolitischenKurs zu sprechen; denn sie geben uns Gelegenheit, unsnicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit Per-spektiven auseinanderzusetzen. Wir haben dies getan.
Auch in diesem Bereich gilt die Erkenntnis: Wernotwendige Strukturreformen aus Angst vor mächti-gen Lobbyinteressen und aus Angst davor, Klientelinter-essen zu verprellen, verweigert, genießt vielleicht einekurzfristige Atempause, aber er verspielt die Zukunft.Dies wollen wir alle nicht.
Schon einmal in der jüngeren Vergangenheit standenwir vor einer ähnlichen Situation. Auch damals warenStrukturreformen notwendig, um Qualität und Wirt-schaftlichkeit sowie Stabilität der Beiträge zu gewährlei-sten. Schon einmal in der Vergangenheit war wirklichentschlossenes, konzertiertes Handeln gefordert. Schoneinmal geriet der zuständige Gesundheitsminister unterden erbarmungslosen Druck organisierter Klientelinter-essen. Sie werden sich daran erinnern. Aber damit sinddie Parallelen leider schon zu Ende; denn im Gegensatzzu Ihnen von der heutigen Opposition haben wir dendamaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer nichtallein im Regen stehen lassen.
Wir haben Konsensverhandlungen angeboten. In Lahn-stein haben wir Verantwortung für das Ganze übernom-men. Eine solche Haltung haben Sie in Ihren heutigenBeiträgen leider vermissen lassen.
Sie haben im Gefolge von Lahnstein das Gesund-heitsstrukturgesetz ausgehöhlt. Sie haben vor Wahlenaus Gründen kurzfristiger politischer Opportunität
und der Befriedigung von Klientelinteressen vor derPharmaindustrie und vor den Ärzteverbänden den Knie-fall geübt. Sie haben damit die Bremsen gegen die Aus-gabendynamik entfernt. Anschließend waren Sie immerwieder erstaunt darüber, daß die Beitragssätze unterenormen Druck geraten sind. Sie wußten sich dann nichtanders zu helfen, als die Zuzahlungen zu erhöhen unddie Leistungen zu privatisieren. Dies war Gift für dieWettbewerbsfähigkeit unseres Landes und für unsereArbeitsplätze.Die Beitragssatzstabilität konnten Sie auch nichtüber längere Zeit aufrechterhalten. Die zweijährige Bei-tragssatzstabilität, auf die Sie hingewiesen haben, habenSie nur deshalb erreicht, weil Sie den Patientinnen undPatienten Zuzahlungen in Milliardenhöhe aufgebürdethaben. Das ist die Kunst der Primitiven in der Gesund-heitspolitik. Das kann jeder.
Wir lehnen es ab, diesen Weg weiterzugehen. Wirwissen, daß wir den Weg immer höherer Zuzahlungennicht gehen können und wollen; denn er ist unsozial. MitHilfe von Zuzahlungen kann die Entwicklung im Ge-sundheitswesen nicht gesteuert werden. Die Zuzahlun-gen belasten die Schwachen, die Alten und die Kranken.
Auch den Weg steigender Beitragssätze können undwollen wir nicht gehen; den Männern und Frauen, dieüber Jahre erwerbstätig waren und stagnierende oder so-gar sinkende Realeinkommen hinnehmen mußten, kannman keine höheren Beiträge zumuten.Was uns bleibt, ist nichts anderes als die Politik derStrukturreformen, um über Rationalisierungen Wirt-schaftlichkeitsreserven zu aktivieren. Auch Sie wissen:Eine solche Strategie kostet Zeit. Das ist das schwereVermächtnis Ihrer Regierungszeit für die Gesundheits-politik dieser Regierung.
Das Problem ist, daß Sie dazu nicht stehen.Wolfgang Lohmann
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Trotz dieser Erblast haben wir schon einige der zen-tralen Wahlversprechen umgesetzt. Wir haben nicht nurdie Privatisierung des Zahnersatzes für Jüngere gestoppt.Wir haben das Krankenhausnotopfer, diese absurde fi-nanzpolitische Konstruktion, gekippt. Wir haben dieKoppelung von Beitragssatzanhebung und Zuzahlungebenfalls gekippt, und wir haben die Zuzahlung, aus fi-nanziellen Gründen leider nur moderat, senken können.Die chronisch Kranken haben wir ganz entlastet.
Wir haben auch unter schwierigen finanziellen Bedin-gungen Wort gehalten.Sie haben in der Diskussion beklagt, daß wir zurFinanzierung der Umsetzung des 630-Mark-Gesetzesnicht genügend gesagt haben. In diesem Bereich habenwir sehr schnell gehandelt. Wie haben Sie dieses Gesetzverteufelt, lächerlich gemacht und heruntergeredet! Jetztzeigt sich, daß die Einnahmeschätzungen nicht nur er-reicht, sondern sogar übertroffen werden. Schon in die-sem Jahr werden die Ansätze von 1,3 Milliarden DMallein von den Hauptbeschäftigten erreicht. Die Neben-beschäftigten werden diesen Betrag erhöhen. Im Jahr2000 wird dieser Betrag noch sehr viel höher sein.
Das absurde Theater, das wir in diesen Tagen von Ihnenund auch von den Interessenverbänden erleben, ist ex-trem unglaubwürdig.
Dies alles ist leider noch kein Anlaß zur Entwarnung.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppe-
lin?
Natürlich, mit Vergnügen.
Vom Gesundheitsexperten Koppelin nehme ich immer
gern Fragen entgegen.
Danke schön.
Herr Kollege, da Sie das 630-Mark-Gesetz angespro-
chen haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie heute die
„taz“ gelesen haben, in der Ihre Kollegin von Renesse
interviewt wird. Sie nimmt Stellung zum 630-Mark-
Gesetz. Ich darf zitieren:
Wir haben eine Reihe von Dingen tun müssen, die
bei den kleinen Leuten schlecht angekommen sind.
Stichwort 630-Mark-Gesetz. Bei diesen Entschei-
dungen hatten die Verantwortlichen nicht die Men-
schen vor Augen, um die es geht.
Was sagen Sie dazu?
Ich habe diese Zeitung heutenoch nicht gelesen. Ich kann Ihnen nicht zustimmen, daßman auf der einen Seite eine Verbesserung der Finanzie-rungsgrundlage einfordert und es dann verteufelt, wenndie Regierung handelt. Das ist unredlich und wider-sprüchlich.
Richtig ist, daß in diesem Bereich kein Anlaß zurEntwarnung besteht; denn die Ausgaben der gesetzli-chen Krankenversicherung werden im Jahr 1999 imWesten wahrscheinlich um 2,3 Prozent steigen, währenddie Grundlöhne nur um 2,0 Prozent steigen werden. InOstdeutschland ist diese Lücke noch sehr viel bedrohli-cher. Einer Ausgabenentwicklung von voraussichtlich 3Prozent im Jahr 1999 stehen Grundlohnzuwächse vonnur 1 Prozent gegenüber. Das Dilemma der Finanzie-rung der gesetzlichen Krankenversicherung im Ostenbesteht darin, daß sich das Ausgabenniveau sehr vielschneller an das Westniveau annähert, teilweise viel-leicht sogar überschritten hat, daß aber die Einnahmenangesichts der hohen Arbeitslosigkeit zurückbleiben.Das ist eine Herausforderung für die Solidarität in unse-rem Land.Was wäre denn geschehen, wenn wir in diesemJahr keine Budgetbremsen eingebaut hätten? Wie wäredie Defizitentwicklung dann verlaufen? Auch wennwir in diesem Jahr keine Strukturmaßnahmen durchfüh-ren, wird das Defizit des nächsten Jahres enorm sein.Auch deshalb sind wir alle gefordert. Wir müssen mehrtun, um die Beitragssätze längerfristig zu stabilisieren,um Qualität und Wirtschaftlichkeit längerfristig zusichern.
Um Wirtschaftlichkeitsreserven zu mobilisieren, müssendie Rahmenbedingungen verändert werden.Es gibt Schwachstellen, die eigentlich unstreitig seinsollten: die mangelnde Verzahnung und Integration, diefehlsteuernden Anreize im Vergütungssystem, die man-gelnde Transparenz bei den Kostenstrukturen beispiels-weise im Krankenhaus, die unzureichende Förderungvon Gesundheit, Prävention und Rehabilitation, dieÜberkapazitäten im ambulanten und im stationären Be-reich, die unbefriedigende Stärkung der Eigenkompe-tenz und des Patientenschutzes. Die Kollegin HelgaKühn-Mengel hat darüber schon einiges gesagt.Ich kann mir wirklich nicht ernsthaft vorstellen, daßSie diese Ziele, die Sie selbst in der Vergangenheitmehrfach bejaht haben, nur deshalb in Frage stellen,weil Sie jetzt in der Opposition sind.
– Dann laßt uns doch über die Wege reden! Davon habeich heute relativ wenig gehört, und das, was ich gehörthabe, war widersprüchlich.
Dr. Martin Pfaff
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Selbst die Wege oder die Instrumente – Sie haben sichvielfach auf die Anhörung bezogen – wurden ganz an-ders dargestellt.Herr Kollege Parr, Sie haben behauptet, wir hättenmit den Anhörungen keine Freude gehabt. Ich sehe dasüberhaupt nicht so. Ich zitiere einen von mir sehr ge-schätzten früheren Kollegen aus dem Sachverständigen-rat, Herrn Professor Arnold, der sicherlich nicht im Ver-dacht steht, rotgrüne Gedanken zu vertreten:Ich halte die Vorgabe einer Obergrenze nicht per sefür schlecht. Ich bin da ganz derselben Meinungwie, glaube ich, alle, die hier am Tisch sitzen.
Also nicht die Idee einer globalen Begrenzung wird be-zweifelt, allenfalls die Mechanismen.
– Wie war es denn mit Ihren Krankenhausbudgets aufLandesebene? Wie war es denn mit den sektoralenBudgets, die Sie während Ihrer Regierungszeit einge-führt haben?
Die waren in Ordnung, aber wenn wir jetzt von Budget-grenzen sprechen, dann ist das nicht in Ordnung. Ichhalte das nicht für redlich.
Wo ist denn der Unterschied zwischen der Forderungnach Beitragssatzstabilität und einem Globalbudget, dasmit den Grundlöhnen wächst? Das ist doch im Endeffektdasselbe. Das sollte man auch eingestehen.
Das Mittel des Regresses, das hier ebenfalls kritisiertwurde, haben Sie eingeführt. Herr Kollege Parr, Siehaben heute auch wieder in beispielhafter Widersprüch-lichkeit gesagt, wir bräuchten eine Begrenzung derLeistungen auf das medizinisch Notwendige. Wie sollenwir denn die Begrenzung umsetzen, wenn wir nicht ir-gendeine Form der Budgetierung vorsehen? Sind Sienun für oder gegen das Globalbudget?Ich kann mir angesichts dieser Diskussion nichternsthaft vorstellen, daß kein Weg, der zu einer Begren-zung führt, gefunden werden kann; denn die internatio-nale Erfahrung zeigt, daß in all den Ländern, in denenBudgetierungen und Begrenzungen nicht umgesetztwerden,
die Ausgabendynamik ein Ausmaß erreicht, die niemandin diesem Hohen Hause wünschen oder akzeptierenkann.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Zöller?
Sehr gerne.
Herr Kollege Profes-
sor Pfaff, Sie haben angesprochen, daß wir auch eine
Budgetierung im Bereich des Krankenhauses hatten.
Möchten Sie bitte eingestehen, daß es einen gravieren-
den Unterschied zwischen Ihrem Budget und unserem
Budget gibt? Ihr Budget enthält eine Vorgabe plus eine
von der Regierung festgelegte Steigerungsrate – in die-
sem Jahr beträgt sie 1,6 Prozent, obwohl die Löhne um
3,1 Prozent gestiegen sind –, ist also von vornherein
schon mit einem Defizit versehen, während wir in unse-
rem Budget einen BAT-Ausgleich und Fallzahlregulie-
rungen vorsahen, also Ausnahmen, die krankenhaus-
spezifisch waren, in unsere Budgetüberlegungen einge-
schlossen hatten? Sehen Sie diesen Unterschied?
Herr Kollege Zöller, wirsind uns also einig, daß Sie auch ein Budget vorgesehenhatten. Sie reden nur über die Art der Ausnahmen in die-sem Bereich. Die Frau Bundesministerin hat heute schonim Zusammenhang mit dem GKV-Strukturreformgesetzauf Gespräche mit Ärzten und anderen hingewiesen undgesagt, daß – darüber werden wir im Ausschuß diskutie-ren – unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen inZukunft möglich sein werden.
– Ja, das hat sie in Ihrer Anwesenheit gesagt.
Ich halte aber fest: Ich nehme mit Befriedigung zurKenntnis, daß Sie, Herr Zöller, sich endlich als erster zurTatsache bekannt haben, daß auch Sie budgetiert unddamit Ausgabenbegrenzungen vorgenommen haben.
Ein zweiter Bereich, die Monistik, wurde hier eben-falls moniert. In Lahnstein gab es dazu eine andere Mei-nung. Wer wirklich leistungsbezogene Vergütungen imKrankenhaus will, wer chancengleiche, faire Bedingun-gen des Wettbewerbs der Krankenhäuser untereinanderwill, muß für die Finanzierung der Investitionen und lau-fenden Ausgaben aus einer Hand sein. Ich verstehenicht, daß das, was damals richtig war, heute falsch seinsoll, nur weil Sie in der Opposition sind. Dies ist einfachnicht nachvollziehbar; es ist für mich, liebe Kolleginnenund Kollegen, in höchstem Maße unredlich.Sie haben noch mehrere andere Argumente gebracht,die ich aus Zeitgründen jetzt leider nicht im Detail ent-kräften kann. Nur auf eines möchte ich zu sprechenkommen: Datenschutz. Sie haben mehr Kostentranspa-renz gefordert und sich auch für integrierte Versor-gungsformen ausgesprochen. Wie soll denn mehrKostentransparenz erreicht werden? Wie soll der Haus-arzt beispielsweise über die Patientenkarriere entschei-den können, wenn er nicht weiß, was in anderen Lei-stungsbereichen verordnet und in Anspruch genommenDr. Martin Pfaff
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5048 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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wird? Ohne Daten, ohne Informationen sind eine ratio-nale Ausübung der Gesundheitsberufe und eine rationaleGesundheitspolitik leider nicht möglich.Ich appelliere an Sie: Geben Sie doch nicht alleÜberzeugungen auf, die Sie in Ihrer Regierungsperiodevertreten haben! Die Vorstellungen zur Strukturreform,die Sie vor einigen Jahren vertreten haben, waren – dassagen alle Sachkenner – in vielen Bereichen sehr nahean den Positionen, die wir mit dem Gesundheitsstruktur-gesetz II dargelegt hatten. Das war alles vor Ihrem Sün-denfall, bevor Sie nach den zwei Landtagswahlenglaubten, durch eine Politik der Privatisierung und derBedienung einer neoliberalen Klientel Wahlerfolge er-zielen zu können.
Vorher waren wir sehr, sehr nah beieinander.
Auch in Zukunft muß unser Gesundheitssystemfinanzierbar bleiben, muß es eine hohe Qualität derVersorgung gewährleisten, müssen auch Junge und Ge-sunde Vertrauen haben können, daß sie, wenn sie alt undkrank sind, eine Versorgung auf sehr hohem Niveau er-halten. Damit wir diese soziale Krankenversicherungauch in Zukunft erhalten können, müssen jetzt Struk-turreformen durchgeführt werden. Dies ist eine Nagel-probe, nicht nur für die Regierung, sondern auch für dieOpposition. Ich hoffe, Sie sind sich Ihrer Verantwortungbewußt.
Weitere Wortmel-
dungen zu dem Geschäftsbereich des Bundesministeri-
ums für Gesundheit liegen nicht vor.
Wir kommen damit zur Schlußrunde. Ich gebe das
Wort dem Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieHaushaltsdebatte in dieser Woche war jedenfalls in ei-nem Punkte erhellend: Die Opposition hat kein eigenesKonzept.
Die Positionen, die Sie hier aufgebaut haben, warenPositionen, die widersprüchlich blieben, die verharmlosthaben – das müssen sie angesichts Ihrer eigenen Ver-gangenheit offenbar auch –
und die der wirklichen Lage nicht ins Auge sehen.Widersprüchlich, Herr Kollege Schäuble – das ist üb-rigens auch von allen Kommentatoren bemerkt wor-den –, sind Ihre Positionen, weil Sie aus dem schlichtenGegensatz von „Es muß gespart werden“ und der an-schließenden Feststellung, an welchen Ecken unsereSparmaßnahmen nicht erfolgen dürften, nicht heraus-gekommen sind.
Zweitens haben Sie überall erklärt, es würde gar nichtoder wenig gespart. Auf der anderen Seite stellen Siesich aber bei allen möglichen Interessengruppen hin undsagen, genau diesen Bereich würden wir kaputtmachen.Sie müssen sich einmal entscheiden, ob Sie uns vor-werfen, daß wir sparen, oder ob Sie selber meinen, daßgespart werden muß.
Entweder wird gespart – dann geht es auch jemandemans Leder, das ist ganz unvermeidlich –, oder es wirdnicht gespart, dann geht es niemandem ans Leder, undSie brauchen sich nicht zu empören. Auch aus dieserFalle sind Sie nicht herausgekommen.
Verharmlost haben Sie, worum es wirklich geht. Sietun so, als würde es nur darum gehen, daß der Finanz-minister Eichel im Haushalt 2000 das zurücknimmt, wasder Finanzminister Lafontaine im Haushalt 1999 drauf-gelegt hat.
Das ist, wie Sie wissen, grundfalsch.Es ist übrigens, Herr Kollege Schäuble, schon traurig,wenn ein Oppositionsführer, der selber nichts an Kon-zeptionen, nicht einmal an einzelnen Vorschlägen, an-zubieten hat,
seine ganze Strategie auf Fakten aufbaut, die nichtstimmen.
Das ist ein solches Drama für die Opposition, wie manes sich in der Tat schlimmer nicht vorstellen kann.Sie wissen das. Sie wissen ganz genau, daß im Haus-haltsentwurf des Jahres 1999, den der Kollege Waigelvorgelegt hat, eine Fülle von Dingen, die veranschlagtwerden mußten, nicht veranschlagt sind. Das haben wirIhnen oft genug gesagt, und das ist Ihnen auch alles be-kannt. Ihre Strategie wird Ihnen also nicht weiterhelfen,vielleicht noch am nächsten Sonntag und bei ein paaranderen Wahlen; das mag wohl sein, und das müssenwir leider mit einkalkulieren. Sie werden aber nichtglauben, daß Sie damit zum Beispiel die Beratungen imBundesrat, wenn Sie denn darauf überhaupt EinflußDr. Martin Pfaff
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5049
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nehmen und es nicht ganz den Ländern überlassen wol-len, überstehen.
Das wäre dann auch ganz falsch, weil das zeigen würde,daß Sie die Größe des Problems überhaupt nicht begrif-fen haben.
Das ist nämlich nicht eine einmalige Aufblähung desHaushalts, die man zurücknehmen müßte – so falsch dieThese ist. Die 82 Milliarden DM Zinsen, die wir ausge-ben müssen, resultieren aus den 1,5 Billionen DMStaatsverschuldung. Das ist das Problem, das uns nochlange beschäftigen wird. Wir stehen nicht vor einer ein-maligen Aktion, sondern vor einer langfristigen Kon-solidierungspolitik.
Weil Sie nicht einmal die Basis analysieren, von derman ausgehen muß, sind Sie auch nicht in der Lage, einepolitische Strategie aufzubauen, die auch nur ansatzwei-se eine Alternative zu dem darstellt, was wir hier prä-sentiert haben.
Sie haben sich eine zweite Verharmlosung zuschul-den kommen lassen. Es ist sehr bedenklich, daß diesesEingeständnis erst zehn Jahre nach der Wiedervereini-gung kommt. Jetzt erklären Sie, daß Klarheit darüberbestand, daß die Kosten dafür noch von einer ganzenspäteren Generation getragen werden müßten. HättenSie das einmal 1990 erklärt! Dann wären Sie wenigstensehrlich gewesen. Statt dessen taten Sie damals so, alsginge es um gar nichts; dabei ging und geht es um sehrviel.
Ich habe übrigens zu keinem Zeitpunkt – ich wieder-hole das, weil auch das zu den Märchen gehört, die Sieerzählen – die Kosten der deutschen Einheit in Fragegestellt. Ich habe nur Ihr Vorgehen kritisiert – das habenSie ja auch zugegeben, Herr Kollege Schäuble –, dieKosten in die Zukunft zu verlagern, statt sie zu demZeitpunkt solide zu finanzieren, als sie anfielen. Darinliegt das Problem.
Jetzt haben wir die Möglichkeit, so weiterzumachenund alles unsere Kinder zahlen zu lassen. Dann stelltsich aber die Frage, welche Gestaltungsmöglichkeitendiese dann noch haben. Ich verstehe übrigens nicht, daßden Kritikern von ganz links außen – oder von woherauch immer – überhaupt nichts an der Frage zu liegenscheint, welche Rolle der demokratische Staat in dieserGesellschaft überhaupt noch spielt. Verteilungs- oderumlauftheoretisch kann ich mir auch einen hochver-schuldeten Staat vorstellen.
– Seien Sie da ganz vorsichtig! – Ökonomisch funktio-niert das alles, nur wird der Staat dann nicht mehr ernst-genommen, da es sich nicht mehr lohnt, wählen zu ge-hen, wenn überhaupt nichts mehr zu entscheiden ist. Soein Staat ist dann auch kein demokratischer Staat mehr.Dieser fundamentale Fehler wird häufig von Linksaußengemacht.
Herr Bundesfinanz-
minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein,
ich möchte sie jetzt nicht zulassen, um das Ganze
schneller zu Ende zu bringen.
Eine Zins-Steuer-Quote von 22 Prozent schränkt uns
heute schon direkt ein; das ist in der Tat das Schlimmste,
was man sich vorstellen kann. Es bedeutet nämlich –
genau das befürchten wir –, daß nicht nur Lasten in die
Zukunft geschoben werden. Nein, schon heute erreicht
uns diese Last, so daß wir schon jetzt unsere Aufgaben
nicht mehr erfüllen können.
Jetzt können Sie eine Zwischenfrage stellen. Ich war
eben im Eifer des Gefechts. Ich entschuldige mich dafür.
Ich wollte die Frage gar nicht verhindern.
Also, bitte schön.
Herr Bundesfinanz-
minister, Sie haben eben von der Aushöhlung der demo-
kratischen Instanzen gesprochen. Stehen Sie auch ange-
sichts der Tatsache zu Ihrer Aussage, daß Sie große
Teile der Einsparungen im Bundeshaushalt finanzieren,
indem Sie die Bundeslasten wie auf einem Verschiebe-
bahnhof auf die Städte, Gemeinden und Landkreise
umwälzen?
Haben Sie angesichts der Auswirkungen überhaupt die
Gesamtsicht auf die öffentlichen Haushalte gewahrt, da
ja der Bund entlastet, die Gemeinden aber ohne Aus-
gleich belastet werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehrverehrter Herr Kollege, Sie sind als Abgeordneter desDeutschen Bundestages gewählt, das heißt, daß Sie hierBundesminister Hans Eichel
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5050 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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unter Berücksichtigung der Interessen aller Staatsebenendarauf zu achten haben, daß auch die Bundesebene indem Gesamtgefüge von Bund, Ländern und Gemein-den zu ihrem Recht kommt.
– Natürlich ist es so, das ist eines Ihrer Probleme.
– Ich habe das Amt eines Ministerpräsidenten innege-habt, aber seien Sie vorsichtig: Einem Bundesfinanzmi-nister, der zugleich Vorsitzender einer Regionalparteiist, sind erst recht die Hände gebunden, wenn es darumgeht, die Interessen des Bundes zu vertreten. Das wardoch Ihr Problem.
Wie solidarisch sich der Bund verhält, sehen Sie dar-an, daß der gesamte Solidarpakt, alle wesentlichen In-vestitionen und sogar zusätzliche Programme für denAufbau Ost vom Bund auf den Weg gebracht wor-den sind und er alleine für die Haushaltsnotlagen derLänder Saarland und Bremen einsteht, obwohl seineHaushaltslage schlechter ist als zum Beispiel die desSaarlandes. Deswegen müssen der Bund und jede Ebeneim gemeinsamen Geflecht je nach eigener Leistungs-fähigkeit für die Erhaltung der Leistungsfähigkeit deranderen Ebenen Sorge tragen. Dabei darf es aber nichtzu so einer Schieflage kommen, wie wir sie mittlerweilehaben.Sie werden noch darüber nachdenken müssen, wasSie eigentlich vertreten. Denn angesichts einer Zins-Steuer-Quote von 22 Prozent beim Bund und von 11Prozent bei Ländern und Gemeinden sieht doch jeder,daß das so nicht weitergehen kann. Diese Erkenntnismüssen Sie auch einmal gegenüber Ihren Parteien, IhrenLandes- und Kommunalpolitikern vertreten.
Bundestreue ist nämlich eine Veranstaltung auf Gegen-seitigkeit, nicht nur Treue des Bundes gegenüber denLändern, sondern auch Treue der Länder gegenüber demBund.
Wenn Sie nicht einmal in der Lage sind, wenigstensdas zu sehen, dann tun Sie mir allerdings leid. Dannsage ich Ihnen: Sie schädigen in Wahrheit das Ganze;
denn nur dann, wenn alle drei Ebenen – Bund, Länderund Gemeinden – vernünftig funktionieren und wennsich alle drei Ebenen wechselseitig aufeinander ver-lassen können, funktioniert die ganze Veranstaltung.
– Ich werfe keinem Land vor, daß es seine Interessenvertritt. Ich werfe auch keiner Kommune vor, daß sie ih-re Interessen vertritt. Aber ich werfe Ihnen vor, daß Siewährend Ihrer Regierungszeit die Interessen des Bundesnicht richtig vertreten haben.
Das machen wir anders.
Der Bund muß seine Konsolidierungspolitik konse-quent machen können.
– Es gibt auch eine Fülle von Entlastungen. Das ist ty-pisch und zeigt, daß Sie aus dem Wahlkampf immernoch nicht herausgekommen sind. Den Belastungen ste-hen auch Entlastungen gegenüber.Es ist beispielsweise völlig falsch, wie es heute läuft,daß etwa beim pauschalierten Wohngeld die Kommu-nen die Rechnungen schreiben, Bund und Länder aberbezahlen. Ich bin mir mit fast allen Länderfinanz-ministern darin einig, daß derjenige, der über die Höheder Rechnung entscheidet, ein erhebliches materiellesInteresse daran haben muß zu erfahren, wie hoch dieRechnung tatsächlich ist. Da muß man dann auch ent-sprechend verfahren. Wenn Sie nämlich ein effizientesund sparsames Staatswesen wollen, dann muß derjenige,der die Entscheidungen trifft, auch die wirtschaftlichenKonsequenzen seiner Entscheidungen tragen.
Wir sparen zuallererst, damit unsere Kinder nicht dieLasten unseres Konsums zu bezahlen haben.
Wir sparen aber auch um der Erhaltung bzw. Wiederher-stellung der Leistungsfähigkeit des Bundes wegen, fürden Aufbau Ost.
– Hören Sie mal, irgendwann müssen die Schulden dochbezahlt werden. Diese wunderbaren Konstruktionenkenne ich alle. Damit schieben Sie es immer weiter indie Zukunft. Sie werden sehen, wann Sie endgültig vorder Wand sitzen.
Was den Aufbau Ost betrifft, sehr verehrter HerrKollege, so setzt die Tatsache, daß der Bund seine Auf-gaben erfüllen kann, voraus, daß er einen konsolidiertenHaushalt hat.
Deswegen machen wir das nämlich. Ich will einenBund, der sein Wort hält.Bundesminister Hans Eichel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5051
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Die 6,5 Milliarden DM, die wir bei der Arbeits-marktpolitik noch draufgelegt haben, kommen zumgrößten Teil den ostdeutschen Ländern zugute. Das hättees bei einer anderen Regierung gar nicht gegeben.
Daß wir ein Zwei-Milliarden-Programm für die Aus-bildung und Arbeit von jungen Leuten auflegen, das zu 40Prozent in die neuen Länder geht, hilft der Jugend insge-samt, aber vor allem der Jugend dort. Ferner stocken wirdie Zukunftsinvestitionen im Bereich Forschung auf.Das alles ist nur möglich, weil wir auf der anderenSeite die notwendigen Konsolidierungsschritte tun. Dasalles ist eingebettet in ein Konzept zur Verbesserung derRahmenbedingungen für Wachstum und Beschäfti-gung.Haushaltskonsolidierung ist vor diesem Hintergrundauch notwendig, um unseren Beitrag dazu zu leisten,daß das Zinsniveau möglichst weit unten bleibt. Das istwichtig für die Beschäftigung und für die Investitionen.Zweitens. Stärkung der Kaufkraft der großen Masseder Bevölkerung durch das Steuerentlastungsgesetz.Ich will das jetzt nicht im einzelnen wiederholen. EineEntscheidung wie die bezüglich des Steuerentlastungs-gesetzes hat es noch in keiner Wahlperiode des Deut-schen Bundestages gegeben.
Bereits in diesem Jahr erhalten normalverdienende Fa-milien mit zwei Kindern 1 200 DM mehr. Dieser Betragwird im Jahre 2002 auf 3 000 DM ansteigen.Ich nenne ferner die Senkung der Lohnnebenko-sten, um den Rationalisierungsdruck ein Stück weit he-rauszunehmen. Während Ihrer Regierungszeit sind dieLohnnebenkosten immer nur gestiegen und die Mineral-ölsteuer auch.
Reden Sie in dem Zusammenhang nur nicht über dieRentnerinnen und Rentner! Haben Sie etwa 1990 und1994, als Sie die Mineralölsteuer um insgesamt 50Pfennig erhöht haben, gefragt, was das für die Rentne-rinnen und Rentner bedeutet? Kein Wort davon!
Drittens. Von der bewußt langfristig und systematischangelegten und verträglichen Verteuerung des Res-sourcenverbrauchs wird auch ein Innovationsschub fürunsere Wirtschaft ausgehen. Nachhaltiges Wirtschaf-ten ist die Frage, um die es in der Zukunft genauso gehtwie um nachhaltiges Produzieren und eine nachhaltigeFinanzpolitik.
Schließlich ist eine Verbesserung der Investitionsbe-dingungen durch eine Unternehmenssteuerreform zunennen, die die kleinen und mittleren Betriebe entlastetund uns europaweit ein konkurrenzfähiges Steuersystemund konkurrenzfähige Steuersätze bringt. All das packenwir in kurzer Zeit an. Sie haben das gar nicht zuwegegebracht.
Daß Sie im übrigen Pech haben, sehen Sie, wenn Sieheute das „Handelsblatt“ lesen: In den Vorstandsetagender Unternehmen und in den Unternehmen insgesamt istangekommen, daß der Standort Deutschland besserwird. Es herrscht Optimismus, und es wird wesentlichmehr investiert.
Auch das ist eine Konsequenz unserer Politik.
– Verehrter Herr Kollege, die Kaufkraft, die wir schonAnfang dieses Jahres, als der Export lahmte, angekurbelthaben, hat uns am Absturz gehindert und hat wenigstensüber die Inlandsnachfrage die Konjunktur gestützt. Nun zum Thema soziale Gerechtigkeit. Das, was ichvon Herrn Gysi dazu gehört habe, war reine Demagogie.
Sie sollten sich einmal mit der Frage beschäftigen, wasStaatsverschuldung sozialpolitisch bedeutet. Dann soll-ten Sie sich damit beschäftigen, welches Maß anSchlupflöchern wir bereits geschlossen haben. Die offe-nen Scheunentore sind zu großen Teilen geschlossen. Indem Kampf, der in diesem Frühjahr auch in diesemHause geführt worden ist und der sehr konkret war,wollten Sie plötzlich all die Schlupflöcher, bei denen Sievorher so heldenhaft gewesen sind, nicht mehr schlie-ßen. Dies nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen – dassage ich an die ganz linke Seite dieses Hauses – ist reineDemagogie.
Ich komme zum Schluß. Wir sind mit dieser Konzep-tion auf dem richtigen Wege. Das ist nicht einfach. Wirwerden in diesem Lande sehr viel diskutieren und umVertrauen werben müssen. Das wird dauern. Da macheich mir keine Illusionen. Selbstverständlich ist es auchmöglich, dieses Konzept zu ändern. Ich glaube aller-dings nicht – davon habe ich bis heute nichts gehört –,daß die Leitplanken dieses Konzepts in Frage gestelltwerden. Das hat bisher niemand getan. Wenn man ausder Staatsverschuldung herauskommen will, kann mandies auch nicht tun.Bundesminister Hans Eichel
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5052 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Was mich mehr besorgt macht – es muß zwar nichtunbedingt besorgt machen; aber ich finde es schade –:Wir haben nicht einmal im einzelnen konkrete Gegen-vorschläge gehört.
Es ist zu billig, zu einzelnen Elementen nein zu sagenund sich nicht der Mühe zu unterziehen, vorzuschlagen,was statt dessen getan werden sollte.Das kann möglicherweise noch geschehen. Dazu ladeich Sie herzlich ein. Nach wie vor sind Sie eingeladen,entweder ein gänzlich alternatives Konzept vorzulegen –davon war überhaupt nichts zu hören – oder im Rahmendieses Konzeptes Alternativvorschläge zu machen. Überdiese kann man dann, wenn sie vernünftig sind undwenn sie dieselben finanzpolitischen Konsequenzen ha-ben, in aller Ruhe reden.Die erste Lesung des Haushaltsgesetzes 2000 hat lei-der nicht erbracht, daß es ein Konzept der Oppositiongibt.
Infolgedessen steht unser Konzept. Sie sind eingeladen– vielleicht gelingt dies ja nach den Wahlen –, in derzweiten und dritten Lesung endlich eigene Vorschlägezu machen.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nunmehr die Kollegin Dr. Angela
Merkel.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Wocheüber den Haushalt 2000 debattiert. Herr Eichel, wenndas Maß der Erregung ein Maß für die Güte Ihres Haus-halts wäre, dann hätten Sie die Chance, gut dabei weg-zukommen. Das ist es aber nicht.
Es besteht überhaupt kein Zweifel, daß das Datum2000 uns besonders dazu anregen sollte, daß wir unsüber diesen Haushalt Gedanken machen.
Lassen wir uns das noch einmal auf der Zunge zergehen:456,9 Milliarden DM, das waren die Ausgaben 1998. ImJahre 2000 werden es 478,2 Milliarden DM sein.
Was ich Ihnen zugute halte, ist: Nach Ihren Plänen spa-ren Sie im nächsten Jahr im Vergleich zum Jahre 19997,5 Milliarden DM. Herr Eichel, das ist sicherlich keinschlechter Schritt. Aber es ist alles andere als eine Hel-dentat. Sie steigern sich hier in eine Heldenpose hinein,als hätte es Ähnliches in Deutschland noch nie gegeben.
Dabei haben Sie, Herr Eichel, mit dem Haushalt 2000noch Glück im Unglück. Denn Ihr Vorgänger hat dieSzene beizeiten verlassen und Ihnen einen aufgeblähtenHaushalt hinterlassen.
Ich habe mir aus dem Finanzausschuß erzählen las-sen, daß Sie den Kolleginnen und Kollegen dort bisheute nicht gesagt haben, woraus genau die Deckungs-lücke von 30 Milliarden DM besteht, die Sie immerwieder in Abrede stellen. Es ist doch völlig unstrittig –darüber brauchen Sie sich gar nicht aufzuregen –, daßeine solide Finanzpolitik zu einer vernünftigen Politikdazugehört.Es ist im übrigen auch nicht verwunderlich, HerrEichel, daß die Mehrheit der Bevölkerung – das wissenwir genauso wie Sie – das Sparen im Grundsatz fürrichtig hält. Dieser Ansatz, weil er von der Mehrheit derBevölkerung geteilt wird, muß Sie doch zu der Frageveranlassen, warum Sie trotz allem, obwohl Sie angeb-lich das Richtige tun, Wahl für Wahl verlieren und im-mer wieder Niederlagen einkassieren. Was mag derGrund für diese Tatsache sein?Sie müssen sich einfach einmal fragen, ob denn nunIhre Politik die richtige ist. Hier ist Ihre erste Erklärung:Wir „vermitteln“ es nicht richtig, wir haben es nochnicht geschafft, wir müssen es den Leuten nur lange ge-nug erklären. Ich habe die Vermutung, Herr Eichel undHerr Bundeskanzler, daß hinter Ihrem Bild des Wählersetwas steht, was dem Wähler in der BundesrepublikDeutschland längst nicht mehr Genüge tut. DieserWähler ist mündig, nicht dumm und nicht blöd.
Dieser Wähler läßt sich nicht verschaukeln.
Die Ursache, daß Sie trotz der grundsätzlichen Zu-stimmung zu einer Politik der soliden HaushaltsführungWahlen verlieren, besteht darin, daß Sie unentwegtWillkür, Chaos und Wortbruch zur Grundlage IhrerPolitik gemacht haben.
Bundesminister Hans Eichel
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Wir werden doch auch von unseren Wählerinnen undWählern gefragt: Was ist denn nun an diesen Schuldendran? Es ist doch vollkommen klar, daß die Zahlen, dieSie immer wieder aufgeführt haben, nämlich 1,5 Billio-nen DM, der Wahrheit entsprechen.
Aber es ist auch klar – Sie haben erst zu einem ganzspäten Zeitpunkt damit begonnen, dies in die Debatteeinzuführen –, wie sich diese verschiedenen Schuldenzusammensetzen. Hier muß man erst einmal sagen: 1969war die Verschuldung bei nahezu Null. Das ist hierschon gesagt worden. Sie ist dann auf 308 MilliardenDM bis zum Jahre 1982 angewachsen. Es gibt hier übri-gens eine Partei im Hause, die das nicht länger mit an-sehen konnte. Dann ist die Verschuldung von uns miteinem sehr viel langsameren Wachstum der Neuver-schuldung – aber immer noch einer Neuverschuldung –in eine sehr solide Finanzpolitik weitergeführt worden.Herr Eichel, wenn Sie Vertrauen gewinnen wollen,dann sagen Sie den Menschen die Wahrheit. Damals gabes einen Finanzminister Stoltenberg, an dem Sie sich einBeispiel nehmen können, wie man Steuerreformenmacht, Unternehmen entlastet und mehr Einnahmen indie Kasse bringt.
Herr Eichel, ich finde bei Ihren Plänen in Ordnung,daß Sie in den nächsten Jahren die Neuverschuldungherunterfahren wollen. Aber dann sagen Sie doch derRedlichkeit halber, daß es auch unter der Regierung vonHelmut Kohl gelungen ist, von 1982 bis 1989 die Netto-neuverschuldung beim Haushalt genau zu halbieren.
Auch das gehört mit zur historischen Wahrheit. Warumsagen Sie nicht, daß im Jahre 1989 die Neuverschuldung19,7 Milliarden DM betrug, während sie bei Regie-rungsübernahme nach der sozialliberalen Koalition nochbei 37 Milliarden DM lag? Das ist eine Leistung, dieman würdigen muß. Sie können sie nachmachen. Bitteschön, nur zu!
Was mir persönlich wirklich weh tut – auch das mußich ganz klar sagen –, ist die Tatsache, wie Sie mit derdeutschen Einheit und ihrer Finanzierung umgehen.
– Da brauchen Sie doch gar nicht zu schreien. Wer hatdenn gelogen?
Ich frage Sie einmal in diesem Hause: Wer hat denn ge-wußt, wie es in der früheren DDR aussah?
Da schaue ich einmal den Kollegen Schulz und noch einpaar andere an. Ich würde sagen, daß sie und ich aus derfrüheren DDR einen vergleichsweise guten Überblickhatten. Die meisten im Westen hatten darüber keinenÜberblick.
– Auch jetzt brauchen Sie nicht zu schreien. Es ist so.Daraus entstanden doch die legendären Protokollnoti-zen im Vertrag zur deutschen Einheit, was man dennalles mit dem Vermögen machen und wie man es etwazur Hälfte auf die Länder verteilen werde. Das ist dochdie Realität. Nun stehen Sie doch dazu!
Wenn man das in der vollen Dimension nicht wissenkonnte oder nicht gewußt hat, dann, lieber Herr Eichel,kann man uns heute nicht vorwerfen, wir wollten das aufmehrere Generationen verteilen. Wir haben pro Jahr un-gefähr 100 Milliarden DM an Transferleistungen in dieneuen Bundesländer gebracht. Was hätten Sie denn ma-chen wollen, um dies in der gleichen Generation zu be-zahlen? Wollten Sie die Mehrwertsteuer um 6 Prozenterhöhen, oder welchen Vorschlag hatten Sie? Es ist dochabsurd, zu glauben, man hätte eine solch gigantische, hi-storische Leistung bereits zum gleichen Zeitpunkt be-gleichen können. Das ist doch völlig ausgeschlossen.
Es gab eine lange Debatte, bei der sich die Länderauch nicht besonders rühmlich hervorgetan haben,
nämlich die Debatte um die Einführung des Euro. Icherinnere mich daran, daß es Länder gab – darunter aucheinige von unserer Seite regierte –, die nicht glaubenwollten, daß wir die Stabilitätskriterien für den Euro,insbesondere was die Nettoneuverschuldung anbelangt,einhalten. Es gehört auch zur Redlichkeit, Herr Eichel,zu sagen, daß wir es geschafft haben – gegen alle Augu-ren –, die Inflationsrate niedrig zu halten und die Netto-neuverschuldungsgrenze von 3,0 Prozent einzuhalten.
– Was heißt hier „Aber wie“?
– Daß die PDS glaubt, die Einführung des Euro sei keinRuhmesblatt gewesen, weiß ich. Sie machen nach wievor Wahlkampf gegen den Euro.
Aber daß Sie, obwohl Sie heute Vertrauen in die euro-päischen Institutionen haben, hier einfach sagen, dieDr. Angela Merkel
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Kriterien seien quasi nicht erfüllt worden, ist schon einstarkes Stück.
Meine Damen und Herren, die Einführung des Eurowar eines der besten Stabilitätsprogramme für alle euro-päischen Währungen; das werden auch Sie sicherlich ir-gendwann einsehen. Wir haben die Kriterien erfüllt unddamit einen wichtigen Beitrag zu einer soliden Haus-halts- und Finanzpolitik für die nächsten Jahre geleistet.Auch das gehört zur historischen Wahrheit.
Ihr Problem ist nicht die Vermittlung. Ihr Problem istdie Glaubwürdigkeit Ihrer Regierung, insbesondere diedes Herrn Bundeskanzlers. Er hat am 4. Oktober 1998 inder „Bild am Sonntag“, einer nicht am wenigsten gele-senen Zeitung, gesagt: „Ich habe nichts versprochen,was ich nicht halten werde. Mein Wort gilt.“ HerrSchröder, wir wollen es mit der Ehrlichkeit nicht zu weittreiben, aber wir können sagen: Was Sie in diesemknappen Jahr schon alles versprochen und nicht gehaltenhaben, das geht wirklich auf keine Kuhhaut.
Ich will nur ein Beispiel nennen. Wir haben es unsimmer wieder im Fernsehen anschauen dürfen – Vilsho-fen, Februar 1999 –: „Ich stehe dafür, daß die Renteweiter entsprechend der Nettolohnentwicklung angepaßtwird. Das tasten wir nicht an“, haben Sie noch hinzu-gefügt, damit es besonders glaubwürdig wird. – HerrEichel, Sie werden zugeben, daß damals alle Fakten aufdem Tisch lagen. Gestern aber stand der Bundeskanzleran dieser Stelle und hat gesagt: Ich würde das so gernetun, wenn ich nur könnte, aber ich kann es nicht.Was hat denn stattgefunden zwischen Februar unddem gestrigen Tag? Es gibt keine neue Erkenntnis, keinneues Faktum. Es gibt nur gebrochene Worte. Verspro-chen, gebrochen – das ist Ihr Motto. Deshalb nehmenIhnen die Leute nichts mehr ab.
Herr Eichel, es geht um Wahrhaftigkeit, Redlichkeitund Glaubwürdigkeit. Sie sind nun seit wenigen Mona-ten Bundesfinanzminister. Vorher waren Sie Minister-präsident eines Landes. Hier halten Sie plötzlich Reden,die inhaltlich weit von denen entfernt sind, die Sie frü-her gehalten haben. Jetzt reden Sie von Bundestreue;damals hatten Sie mit dem Bund nichts zu tun. Was istdenn das für ein Verfassungs- und Staatsverständnis?Wenn nicht alle für alles verantwortlich sind, kann die-ser Staat nicht funktionieren. Mit ihrer heutigen Redetragen Sie hierzu bei.
Ich habe schon gemerkt, daß Sie immer dann, wennman vom hessischen Haushalt spricht, unruhig werden.Ich kenne ihn nicht so gut wie Sie.
Aber ich habe gehört, daß die Zinsausgaben während Ih-rer Regierungszeit um 60 Prozent gestiegen sein sollen.Relativ sicher aber weiß ich, daß die Schulden in Nie-dersachsen während der Amtszeit von MinisterpräsidentSchröder von 37 Milliarden DM im Jahr 1990 auf65 Milliarden DM in 1998 angewachsen sind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dies ein Grund,apodiktisch zu sagen, wir hätten von Finanzen keineAhnung? Wir haben die deutsche Einheit gemeistert. Si-cher, Sie haben in den Ländern Ihren Beitrag dazu gelei-stet,
aber ungerne. Sie haben mehrmals erklärt, Sie wollten esnicht tun. Ich vermute, durch den Bund-Länder-Finanzausgleich sind Sie nicht aus dieser Pflicht entlas-sen worden. Sich aber nun hier hinzustellen, über solideHaushaltsführung zu reden und zu sagen, wir hätten al-les falsch gemacht, ist schon ein starkes Stück.
Ich sage Ihnen: Glaubwürdigkeit hat auch etwas damitzu tun, mit wem man politisch kooperiert und wie manauf die Menschen zugeht. Sie müssen sich das schonüberlegen, wenn sie mit einer Partei wie der PDS, dieüberall in den neuen Bundesländern
das Geld mit offenen Händen und großen Scheffeln aus-gibt, ohne sich darüber Gedanken zu machen, woher eskommt, zusammenarbeiten wollen. Wie wollen Sie denMenschen in den neuen Bundesländern klarmachen, daßdas ausgerechnet sie Menschen sind, die eine soziale Fi-nanzpolitik betreiben?
Für die Bürgerinnen und Bürger paßt das nicht zusam-men.
– Würden Sie entweder um eine Fragestellung bittenoder den Mund halten. Ich weiß sonst nicht, was hier losist, wer hier spricht.
Dr. Angela Merkel
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– Ich möchte jetzt aber keine Zwischenfrage zulassen,Herr Präsident.
Ich kann Ihnen genau sagen, warum ich keine Frage zu-lasse. Ich bin gerade mit den Sozialdemokraten beschäf-tigt konkret damit, daß die Sozialdemokraten eine völligwidersprüchliche Politik einerseits der Konsolidierungund andererseits der Kooperation mit Leuten betreiben,die sich über den Haushalt wenig Gedanken machen,
und daß das zu einem massiven Glaubwürdigkeitspro-blem führen wird.Ich sage Ihnen voraus, daß Sie am Sonntag abendwieder erleben werden – die Gefahr besteht –, daß Siezwischen CDU und PDS zerrieben werden, weil Sie inden neuen Bundesländern für nichts glaubwürdig gera-destehen. Das ist die Konsequenz; so war es in Thürin-gen.
Es ist mit Sicherheit so, daß ein solider Haushalt einewichtige Größe in einer modernen, vernünftigen und zu-kunftsorientierten Politik ist. Es ist aber mit Sicherheitauch so, daß ein solider Haushalt nicht die gesamtePolitik ist. Wir stehen an der Schwelle zum 21. Jahr-hundert.
Wir haben die Frage zu beantworten, wie wir im 21.Jahrhundert unter international offenen Bedingungen,die wir mit „Globalisierung“ beschreiben, denWohlstand in unserem Land sichern wollen.
– Warum schreien Sie immer? – Wir haben neue Fragenvon hohem Interesse miteinander zu diskutieren.Herr Eichel, ich sage ihnen folgendes: Ich glaube, daßsie im Finanzministerium inzwischen der Meinung sind,Sie könnten alle Politikbereiche fast vollständig beherr-schen. Man kann Ihnen angesichts der Säumnisse in denMinisterien auch nicht verübeln, daß Sie etwas tun. Ih-nen unterlaufen dabei aber grobe logische Fehler, mitdenen Sie in der Zukunft nur ganz schwer werden klarkommen können.
– Ich nenne Ihnen jetzt einen, aber ich könnte viele nen-nen.Ein Fehler ist, daß Sie jetzt die Rentenbeiträge fürdie Arbeitslosenhilfeempfänger nach dem ausgezahl-ten Arbeitslosenentgeld berechnen, die Krankenversi-cherungsbeiträge aber auf 80 Prozent des letzten ver-dienten Bruttoentgelds beruhen. Können Sie den Men-schen in Deutschland erklären – Ich kann es nicht, viel-leicht können Sie es –, warum Sie in dem einen sozialenVersicherungssystem so und in dem anderen anders ver-fahren? Es ist nur damit zu erklären, daß Frau Fischer ineiner anderen Partei ist als Herr Riester und daß Sie esdem einen aus Koalitionsgründen aufdrücken könnenund dem anderen nicht. So einfach ist die Logik.
Ich nenne Ihnen einen weiteren Fehler. Das ist dieÖkosteuer. Wir haben alle miteinander, wahrscheinlichsogar parteiübergreifend, in diesem Haus den Grundge-danken vertreten – dabei gibt es immer Ausnahmen –,
den Faktor natürliche Ressourcen zu verteuern und denFaktor Arbeit zu entlasten. Das ist ein neuer Gedanke,und seine Einführung in die Politik bedarf besondererSorgfalt.Ich sage Ihnen zur Ökosteuer folgendes. Daß sie ge-gen die Rentner gerichtet ist, wissen wir. Wir haben ge-sagt, okay, das ist ein Sonderopfer. Deshalb hat der HerrBundeskanzler damals gesagt: Wir wollen die Netto-lohnbezogenheit der Rente erhalten, weil wir die Rent-ner mit der Ökosteuer nicht entlasten. Daß es für dieneuen Bundesländer besonders schwer ist, ist auch klar;denn 0,5 Prozent Entlastung im Rentensystem bedeutenbei weniger Lohn und weniger Beiträgen weniger Entla-stung bei gleicher Ökosteuerbelastung. Das ist ein fal-sches Signal in die falsche Richtung, aber ich will dashier nicht vertiefen.Daß die Ökosteuer aber auch familienfeindlich ist, hatIhnen Ihre Familienministerin bisher offensichtlich nochnicht gesagt. Nehmen wir einmal eine Familie mit dreiKindern, in der eine Person erwerbstätig ist. Dann wirdeiner davon entlastet, aber fünf zahlen Ökosteuer.
Die in sich familienfeindliche Ökosteuer frist die Erhö-hung des Kindergeldes sofort wieder auf.
Nun, meine Damen und Herren, kommt der eigentli-che Höhepunkt. Sie müssen sich einmal genau anschau-en, wie Sie mit dem Bundeszuschuß für die Renten-versicherung herumhantieren, um verschiedene Postenverschieben zu können. Seit dem 1. Juni 1999 haben Siestatt des bisherigen Bundeszuschusses in Höhe von 7Milliarden DM für die zu leistenden Rentenzahlungenan die heutigen Rentnerinnen einen Zuschuß von 17Milliarden DM für die späteren Zahlungen an die heuti-gen Mütter mit kleinen Kindern eingebucht. DieserDr. Angela Merkel
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5056 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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fließt in die Rentenversicherung, obwohl die heute be-stehenden Rentenansprüche viel geringer sind.Sie senken zwar jetzt die Beiträge, werden aber einesTages nicht das Geld haben, um die dann bestehendenRentenansprüche wirklich bedienen zu können. Damithaben Sie mit der Ökosteuer schon den nächsten struktu-rellen Fehler gemacht.
Zu der schon in sich familienfeindlichen Ökosteuerkommt noch hinzu, daß sie dazu benutzt wird, dieRentenansprüche für Kindererziehungszeiten tatsäch-lich noch zu erhöhen. Das halte ich für einen grobenFehler.
Frau Kollegin Mer-
kel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Metzger?
Nein, jetzt nicht.Deshalb sage ich Ihnen, meine Damen und Herren:Sie verwischen die Grenzen in dem sozialen Sicherungs-system. Sie werden an der letzten Stufe Ihrer Ökosteuer-reform im Rentensystem einen Bundeszuschuß in Höhevon 160 Milliarden DM haben.Herr Eichel, bitte beantworten Sie mir einmal – mei-netwegen unter vier Augen; was Herr Riester sagt, istrelativ egal – eine Frage: Wohin möchten Sie mit demRentensystem? Möchten Sie bei der leistungsbezogenenRente bleiben? Wollen Sie eine steuerfinanzierte Grund-sicherung? Wollen Sie eine beitragsfinanzierte Grundsi-cherung? Wir kennen Ihre Richtung nicht. Der Bürgerkennt sie nicht. Das ist ein ziemlich schwieriger Zustandin Deutschland.
Es ist nicht so, daß wir hierzu keine Vorschläge oderIdeen hätten. Ein Mann wie Peter Müller hat im Saar-land mit außerordentlich unbequemen Botschaften ge-wonnen, nämlich unter anderem mit der Botschaft, daßdort der Steinkohlebergbau beendet wird. Herr Eichel, inIhrem Bundesland gibt es keine Steinkohle. Ich erinneremich aber noch sehr genau daran, wie es war, als wir dieSubventionen für den Steinkohlebergbau gekürzt ha-ben. Vorreiter war Herr Scharping mit flammenden Re-den gegen jede Subventionskürzung.
Gleich nebenan war Herr Fischer. Beide haben geschrie-en, was das Zeug hielt, daß wir die Steinkohlesubven-tionen ja nicht in irgendeiner Weise antasten. Sie lebenheute davon und sind glücklich, daß der Plafond wenig-stens einigermaßen abgesenkt wird. Das muß ganz klargesagt werden.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir haben auch Fehlergemacht. Meiner Meinung nach haben wir manche Re-form zu spät angefangen. Wir hätten die Steuerreformgleich 1994 machen sollen. Ich glaube, das wäre bessergewesen.
Dann hatten wir auch nicht Oskar Lafontaine die Mög-lichkeit gegeben, das zusammen mit Ihnen, Herr Schrö-der und allen anderen SPD-Ministerpräsidenten, dieheute, im Gegensatz zu Lafontaine, noch aktiv politischtätig sind, zu blockieren.
Aber dann, meine Damen und Herren, war es 1998.Jetzt haben Sie wegen dieser Obstruktionspolitik – HerrSchröder würde das „schnöde Parteipolitik“ nennen, diedann aber zu einem Wahlerfolg auf tönernen Füßen ge-führt hat – die Verantwortung, endlich eine Unterneh-menssteuerreform zu machen. Dann war es 1998. Dannist der Finanzminister weggerannt. Dann haben Sie dieReform bis zum Jahre 2000 nicht geschafft. Nun stellenSie uns für 2001 etwas in Aussicht. Von 1994 bis 2001gehen zwei Jahre auf uns, aber auf Ihre Kappe gehenfünf Jahre, in denen die Bundesrepublik Deutschlandanständige Einnahmen verloren hat.
Es ist mit Sicherheit wichtig, daß wir gemeinsamdarüber diskutieren, wie wir auf die neuen Herausfor-derungen des 21. Jahrhunderts reagieren. Dabei istder Haushalt eine Sache. Die an uns alle gerichtete Fra-ge heißt: Wie können wir die Mechanismen der sozialenMarktwirtschaft in dieser veränderten Welt durchsetzen,in der auf den Finanz- und Wirtschaftsmärkten interna-tional agiert wird und die sozialen Ausgleichsmecha-nismen national organisiert werden müssen?
– Ich mache Ihnen einen Vorschlag und sage Ihnen alserstes: Ich wäre im Traum nicht darauf gekommen, daßder von Rotgrün am zweitstärksten geschröpfte Haushaltder Haushalt des Entwicklungsministeriums ist.
Wenn die internationalen Probleme der Zukunft nichtmehr die Probleme der klassischen Sicherheitspolitiksind, sondern die Probleme von Umweltverschmutzungund Überbevölkerung – Sie halten demnächst großeVeranstaltungen zum Thema „6 Milliarden Menschendieser Erde“ ab –, die Probleme der globalen Erhaltungunserer Ressourcen, dann muß ich Sie doch fragen: Wasreitet Sie, in diesem Einzelplan an vielen Stellen, bei In-stitutionen und bei privaten Initiativen, derart zu strei-chen? Ich verstehe es nicht, und Sie haben es auch nochnicht erklären können.
Sie wollen private Initiative stärken, Sie wollen dasEigenengagement fördern – und Sie treten allen privatenOrganisationen in diesem Lande, die sich mit Ent-Dr. Angela Merkel
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wicklungs- und Umwelthilfe beschäftigen, vor dasSchienbein.
– Genau so ist es. Unterhalten Sie sich doch mit den ent-sprechenden Stellen! Wenn man in der Verantwor-tung war, soll man sich bei der Beurteilung seines Nach-folgers zunächst ein ganzes Jahr zurückhalten. Das Jahrist fast herum, nun wollen wir mal nicht so scharf agie-ren.Was ich aber über die internationale Umweltpolitikder Bundesrepublik Deutschland höre, spricht nun füralles andere als dafür, daß man sich überhaupt für diesenBereich interessiert.
Herr Trittin interessiert sich für die Abschaltung vonzwei – am besten noch mehr – nationalen Kernkraftwer-ken. Er interessiert sich vielleicht marginal noch für dieÖkosteuer – aber auch das machen andere für ihn –, undansonsten interessiert ihn das alles überhaupt nicht. Sohinterläßt man ein fürchterliches Bild, wenn es um Kli-maschutz, Naturschutz und Ressourcenschutz in derWelt geht.
– Ich kenne meine Schwächen, ich kenne meine Stärken.Ich weiß nur, daß Deutschland in diesen Fragen im Pro-zeß der internationalen Verhandlungen eine absolutwichtige Rolle spielt.
Alle, die schon einmal dabei waren, wissen, wie wichtiges wäre, daß dies auch weiter der Fall ist.
Wir brauchen also internationales Engagement.Aber natürlich brauchen wir auch nationale Verände-rungen. Deshalb zu einem weiteren Punkt, den ich füraußerordentlich wichtig halte: Wie organisieren wirMehrheiten für Reformen, für Veränderungen in die-sem Lande? Ohne Glaubwürdigkeit wird es auf keinenFall gehen. Dafür ist es ganz wichtig, sich noch einmaldarüber klar zu werden, was wir in diesem Lande unter„Gemeinwohl“ verstehen. Herr Bundeskanzler, Sie ste-hen für ein Bild, das den Eindruck vermittelt: Der Staatbin ich, der Rest sind Partikularinteressen – „schnödeParteipolitik“.
Herr Bundeskanzler, mit dieser Einstellung werden Siekeine Mehrheiten gewinnen.
Es ist bedauerlich, wie Sie auf dem Bauerntag inCottbus aufgetreten sind. Sie haben nur für die Kamerasgesprochen und sich überhaupt nicht dafür interessiert,welche Probleme die einzelnen Bauern – die kleinen ausdem Allgäu und die großen aus den neuen Bundeslän-dern – haben. Sie wollten einfach nur zeigen, daß Siegegen die sogenannten Partikularinteressen in diesemLande vorgehen. So schafft man – das sage ich Ihnenvoraus – keinen Interessenausgleich.
Deshalb: Niemand hat behauptet, daß das Gemein-wohl die „Summe“ aller Einzelinteressen ist, wie derBundeskanzler gestern unterstellt hat. Das war es nochnie, das wird es nie sein. Trotzdem sind die Einzel-interessen wichtig. Es wird darauf ankommen – ich sageIhnen zu: wir werden uns beteiligen –,
in einem vernünftigen Ausgleichsmechanismus nach denMaßstäben der Gerechtigkeit eben diesen Ausgleich derInteressen im Lande zu finden. Das war der Charme dersozialen Marktwirtschaft zu Zeiten Ludwig Erhards, unddas muß wieder so werden in einer Welt, die offen undglobalisiert ist. Wir werden uns dieser Herausforderungstellen.
Ich sage Ihnen: Weder die Regelung für die 630-Mark-Jobs noch die Regelung zur Scheinselbständigkeithaben dazu beigetragen, genauso wenig die Verschie-bung der Unternehmensteuerreform und die Tatsache,daß Sie erst den Mittelstand belastet haben, auch wennSie jetzt sagen, er werde irgendwann entlastet. Das ko-stet uns über Jahre hinweg Arbeitsplätze. All dies warenkeine sinnvollen Beiträge. Aber ich verspreche Ihnen:Sollten Sie sich besinnen,
sollten Sie neben all dem Addieren und Subtrahierenversuchen, vor den wirklichen Herausforderungen derZukunft zu bestehen, dann werden wir Sie tatkräftig un-terstützen, dort wo wir gefragt sind.
Für Bündnis 90/Die
Grünen gebe ich jetzt der Kollegin Antje Hermenau das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnenund Kollegen! Frau Merkel, man merkt Ihnen richtig an,Dr. Angela Merkel
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wie erleichtert Sie sind, daß Ihre Partei in der Opposi-tion jetzt die Chance hat, sich zu erneuern.
Ich gönne Ihnen das und wünsche Ihnen die nötigeKraft, um das all den alten Männern in Ihrer Partei bei-zubringen.
Die Schulden müssen runter. In den letzten Tagenwurde viel gestritten. CDU und SPD führten einenSchlagabtausch darüber, wer die ganzen Schulden ver-ursacht hat und wer dafür zuständig ist. Dann wurdenoch etwas über die sozialliberale Koalition – die warschon fast vor meiner Zeit – erzählt; dann wurde etwasvon einer christlichliberalen Koalition erzählt, die nochmehr Schulden angehäuft hat. Das alles ist richtig. Übri-gens waren wir Ossis an den ungefähr 750 MilliardenDM Schulden, die in der Regierungszeit Kohl angehäuftsind, nicht beteiligt; das ist nicht unsere Erblast. Aberdazu kommen wir später noch, um die Zahl von 1,5 Bil-lionen DM vollzumachen. Egal, wie man das bewertet:Sie haben die Schulden nicht gesenkt, und Sie habenauch nicht die Nettokreditaufnahme gesenkt. Diese bei-den Schritte haben Sie nicht vollzogen.Mir ist noch etwas aufgefallen. Es ist eindeutig undauch historisch belegt, wer beim Schuldenmachen ambesten gewesen ist. Die F.D.P. war – einmal mit derSPD, einmal mit der CDU – seit 1969 immer an der Re-gierung.
Es sind auf jeden Fall liberale Schulden, Herr Koppelin.
Es sind auf gar keinen Fall grüne Schulden. Auch dassteht fest, denn wir sind das erste Mal an der Regierung.
In der ganzen Debatte wurde immer behauptet, anStaatsschulden könne man nicht mit der Denkweise ei-nes privaten Schuldners herangehen. Das sei kindisch,der Staat sei ganz anders. Sinn macht diese Argumenta-tion dann, wenn man auf die Einflüsse der Wirtschaftschaut. Aber die Grundprinzipien gelten trotzdem, egalob private oder staatliche Schuldnerschaft. DieseGrundprinzipien besagen, daß man einen Kredit nurdann aufnehmen darf, wenn man etwas erwirbt, von des-sen Nutzung man länger etwas hat, als man Zinsen zah-len muß. Das macht doch die Debatte aus, die wir füh-ren. Wir reden doch davon, daß es nicht mehr angeht,jeden Tag einen Kredit für die Bedürfnisse des täglichenLebens aufzunehmen. Doch das ist das, was wir gerademachen. Wir leben über unsere Verhältnisse.
Herr Merz hat sich vor zwei Tagen darin gefallen,darzustellen, wie eisern gespart worden sei. Für die ÄraStoltenberg ist das auch richtig.
Ich gebe dem Kollegen Merz ausdrücklich recht: UnterStoltenberg wurde versucht, den Haushalt zu konsolidie-ren. Im Sommer 1989 kam dann die Wende, aber nichtdie ostdeutsche und gemeinsame, sondern die Wende inder christlich-liberalen Finanzpolitik. Im Sommer 1989,also vor der deutschen Einheit, hat Herr Waigel dieWende in der Finanzpolitik vorgenommen. Damals sindin der mittelfristigen Finanzplanung, bei der Nettokre-ditaufnahme und bei der Verschuldung deutliche Erhö-hungen vorgesehen worden. Das wurde ein Jahr vor derBundestagswahl 1990 und vor der deutschen Einheit ge-plant, um – panem et circenses – die Bundestagswahl zugewinnen.
Als Ossi lasse ich es deshalb nicht auf mir sitzen, wirseien schuld daran, daß die Schulden nach der Wende sostark angestiegen sind. Die Folgen der Wiedervereini-gung kommen hinzu; das stimmt.Kommen wir zu dem Tafelsilber! Wir müssen unsbeim Einsparen heute sehr hart anstrengen, weil – soleid mir das auch manchmal tut – das ganze Tafelsilberbereits verjuxt ist. Sie haben das 1997 und 1998 aufge-braucht. Deswegen haben wir gar keine Alternative: Wirmüssen richtig einsparen, denn wir haben nichts mehr zuverkaufen. Sie wissen ganz genau, wie hoch die Risikensind: Wenn die Zinsen um einen Prozentpunkt steigen,dann haben wir im Jahr darauf über 3 Milliarden DMmehr an Zinsen zu zahlen. Das müssen Sie sich einmalüberlegen. Deswegen ist es genau richtig, jetzt die Not-bremse zu ziehen, bevor wir in die Zahlungsunfähigkeitkommen.Jetzt sage ich etwas als jemand, der 25 Jahre in demanderen Teil Deutschlands aufgewachsen ist. Ich habeeinmal erlebt, wie das ist, wenn ein Staat zusammen-bricht und nicht mehr handlungsfähig ist. Ich bitte Sieherzlich: Tun Sie mir das nicht ein zweites Mal an!
Es kommt hinzu, daß ich auch noch ein junger Menschbin und eigentlich vorhabe, dieses Land nicht zu verlas-sen. Auch da sollten wir uns Chancen erarbeiten.
Nun machen Sie es für mich attraktiv, hier als Rentnerinzu leben, hier mehrere Kinder zu bekommen, so daß ichmich hier wohlfühlen kann!
Sie haben das nicht geschafft; ich bin sehr stolz dar-auf, daß wir in der Koalition genau diese Fragen, die dieAntje Hermenau
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Zukunft betreffen – sie beschäftigen mich auch politisch– wirklich anpacken.
Ich habe hier in den letzten zwei, drei Tagen von Ihnenständig nur Radio Jerewan gehört: „Im Prinzip sind wirdafür, aber…“ Sie haben im Bundesrat die Möglichkeit,Ihr gesamtes Aber in kleinen Anträgen vorzulegen. Wirwerden uns jeden einzelnen anschauen und bewerten.Wenn vernünftige Vorschläge dabei sind, glaube ich so-gar, daß sie eine Chance haben, durchzukommen.
Die Lage ist verzweifelt, das gebe ich gerne zu. Sichhinzustellen und nach dem Sankt-Florians-Prinzip zusagen: „Zünde bitte die andere Hütte an“, das halte ichnicht für redlich. Sie haben in den letzten Jahren selbereigene Einsparvorschläge gemacht; gegen sie hatten wirpolitisch zum Teil etwas. Das war alles der normaleSchlagabtausch in der Politik. Aber jetzt unterstellen Sieetwas. Sie unterstellen, daß wir nicht wirklich sparenwollen. Das ist falsch; das stimmt nicht. Wir meinen esernst, und es ist das Grundprinzip unseres Handelns. Wirwollen wirklich sparen, weil wir darin die einzige Mög-lichkeit sehen, diesen Staat handlungsfähig zu erhalten.
Sie haben auch – das finde ich ebenfalls unredlich –in der Debatte immer wieder darauf hingewiesen, daßdas ja eigentlich nur die 30 Milliarden DM aus dem La-fontaine-Haushalt seien. Das ist zumindest die Auffas-sung, die Sie draußen verbreiten; intern wissen es diemeisten von Ihnen besser. Es ist unredlich, die Auf-wüchse aus dem Haushalt 1999 jetzt mit dem Sparpaketund dem Haushalt 2000 zu vergleichen. Was wollen Siedenn wieder zurücknehmen? Die Bundesergänzungszu-weisungen an das Saarland, die Sie nicht ordentlich inden Haushalt eingestellt hatten? Nach dem Machtwech-sel wahrscheinlich nicht mehr. Wollen Sie die Kinder-gelderhöhung zurücknehmen? Da ist das BVG davor.Wollen Sie die Postunterstützungskassen verschweigen?Die Leute haben einen Rechtsanspruch auf ihr Geld.Es wäre eventuell denkbar, daß Sie beim Zuschuß andie Bundesanstalt für Arbeit kürzen. Aber dann fielezum Beispiel das JUMP-Programm weg, das geradejungen Menschen eine Chance auf dem Arbeitsmarktgeben soll. Das fände ich völlig falsch. Wir stehen dazu,daß wir uns für die Zukunft der jungen Leute verschul-den. Das ist ordentlich; das ist vernünftig.
Wir können jetzt auch jene Nebelkerzen wegräumen,die Sie werfen, wenn Sie sagen, wir würden unsere Ein-sparmaßnahmen nicht richtig benennen und die Men-schen darüber im dunkeln lassen. Ich meine die globalenMinderausgaben, von denen immer die Rede ist. Wirlassen Sie über keine einzige globale Minderausgabe imunklaren. Ich selber habe gestern im Auswärtigen Amtein Berichterstattergespräch gehabt. Wir haben alles he-runtergebrochen, bis auf die letzte müde Mark. Sie wis-sen ganz genau, daß das schmerzhafte Prozesse sind.Aber es wird jede einzelne Sparmaßnahme
in dem Haushalt, den wir als Gesetz verabschieden,deutlich belegt und ausgewiesen. So muß es auch sein.Denn es ist wichtig, daß die Leute ganz genau einschät-zen können, was auf uns alle zukommt.
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition,werfe ich, ehrlich gesagt, einen gewissen Opportunis-mus vor. Auch Sie haben eine demokratische Verant-wortung. Ich werde abwarten, wie Sie sie im Bundesratwahrnehmen werden. Eigentlich stehen Sie im Momentdaneben und reiben sich die Hände. Sie diffamieren dieUmbruchstimmung auch als Chaos, was ich nicht red-lich finde. Sie schämen sich auch nicht für diese zumTeil etwas billig errungenen Wahlsiege.
Sie würden doch nur weniges anders machen. Viel-leicht haben Sie es nicht immer ehrlich gemeint, wennSie sagten, daß Sie jetzt gleich an die Macht zurückkeh-ren wollen. Denn Sie müßten dann mit jenen Maßstäbenin der Politik weiter operieren, die wir in diesem Jahrsetzen. Daran können Sie sich nicht vorbeimogeln; daswissen Sie auch. Deswegen glaube ich, daß es sehr in-teressant sein wird, zu sehen, was Sie im Bundesrat an-zubieten haben.
Ich werde mir dann genausoviel Zeit nehmen wie heuteund werde in Ruhe auf Ihre Argumente eingehen.
Denn Sie werden dann offenlegen müssen, was substan-tielle und tragfähige Vorschläge sind und was nicht.Ich komme noch einmal auf den Generationenkon-flikt zu sprechen, der manchmal ein wenig unglücklichaufgebaut wird. Wenn wir uns einmal anschauen, wiehoch die Jugendarbeitslosigkeit in den anderen europäi-schen Ländern ist, dann muß ich sagen, daß wir inDeutschland sehr gut dastehen. Das hat nicht zuletztdamit etwas zu tun, daß wir uns erkühnt haben, Kreditedafür aufzunehmen, um den jungen Leuten zusätzlicheChancen auf dem Arbeitsmarkt geben zu können. DiesesJUMP-Programm für junge Leute ist steuerfinanziert.Das stimmt; das steckt im Zuschuß der Bundesanstaltfür Arbeit. Aber ich finde das völlig in Ordnung – wasfür eine Familie gilt, kann auch in einem Gemeinwesengelten –, wenn die Oma Hilde nun dabei hilft – das ge-schieht dadurch, daß wir ihre Rente nur um einen Infla-Antje Hermenau
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tionsausgleich erhöhen –, daß ihrem Enkel Mirko nundoch noch eine Lehrstelle angeboten werden kann.
Sie wissen ganz genau, wovon ich rede: Es geht umMachtpolitik. Die Anzahl der Personen über 65 Le-bensjahre beträgt rund 13 Millionen in Deutschland; dassind zirka 16 Prozent der Bevölkerung; die Anzahl derPersonen zwischen 18 und 25 Jahren beträgt 6 Millio-nen; das sind rund 7,5 Prozent. Und wir wissen ganz ge-nau, wovon wir reden; wir reden von Wählerstimmen.Das ist eine ganz einfache Sache. Wir sagen: Hinsicht-lich des Generationenkonfliktes muß man sich über die-se Bedenken hinwegsetzen. Es ist wichtig, jungen Leu-ten eine Zukunft zu geben.
Ich will nun – das ist eine wirklich neue Leistung derBundesregierung – darüber sprechen, wie wir uns überden Aufbau Ost unterhalten. Herr Kollege Schwanitzhat es in bemerkenswerter Weise geschafft – das ist inden letzten zwei Tagen vielleicht untergegangen; aber esist sehr wichtig, dies herauszustellen –, die überzogeneDarstellung der Transfers zu beerdigen. Das haben Sieüber Jahre nicht geschafft. Das ist eine hervorragendeLeistung, für die wir uns beim Kollegen Schwanitz be-danken müssen.
Ich weiß, daß Herr Biedenkopf, der von allen Seitenviel gelobt wird, seit mehreren Jahren durchs Land ziehtund sagt, man müsse die Kosten redlich berechnen undman dürfe die Transfers bei der Rente und beim Ar-beitslosengeld nicht hineinrechnen. Dieses Geld stehtden Menschen doch zu. Wir sollten nur über die wirkli-chen Investitionen zum Beispiel in den Infrastrukturbe-reich und in den Forschungsbereich reden. Dann kommtman nur auf eine Summe von 38 Milliarden DM für dieAufbauhilfe Ost. Das ist also mitnichten dieser riesigeBruttotransfer, der immer als Popanz aufgebaut wordenist.Herr Schwanitz hat damit der Diskussion an denStammtischen den Nährboden entzogen. Das ist einewirklich große Leistung. Herr Biedenkopf, der sächsi-sche Finanzminister Milbradt, selbst Kollegen aus derCDU/CSU-Fraktion wie Herr Kolbe haben für dieseSichtweise gekämpft, konnten sich aber nicht durchset-zen. Herr Schwanitz hat es aber in einem Dreivierteljahrgeschafft, Redlichkeit einzuführen. Herr Schröder, ichbin froh darüber. Ich hatte nämlich befürchtet, daß wirso weitermachen wie bisher, weil es sich gut verkaufenläßt zu sagen, der Osten komme uns so furchtbar teuer.Ich bin dankbar für die Redlichkeit, für die wir hier ste-hen.
Ich komme auf die Anregungen der LändergruppeOst in der Grünen-Fraktion und auf die Erwartungen zusprechen, die wir mit diesem Zukunftsprogramm verfol-gen. Wir haben im Osten lange – Herr Gysi hat dies inetwas populistischer Art gemacht – über die Ungerech-tigkeit im Zusammenhang mit dem Einkommensgefällegesprochen. Es ist schon schwierig, sich damit abfindenzu müssen, in fast allen Branchen nur 60 bis 75 Prozentdes Westgehaltes zu beziehen. Dies ist eine schwierigeLebenslage, zumal sie noch Auswirkungen auf die Ren-tenansprüche hat.Es ist aber, glaube ich, nicht möglich, einen ganz ge-nauen Zeitplan festzulegen, wann man die Angleichungder Einkommensverhältnisse in Deutschland erreichenkann – obwohl dieser Wunsch existiert. Aber eines istmöglich: Man kann sich anstrengen, die Wirtschafts-struktur zu verbessern. Das ist genau das, was wir vor-geschlagen haben, nämlich die Investitionen für diewirtschaftsnahe Forschung und für die Infrastruktur imOsten zu erhöhen.
Wenn man durch diese Maßnahmen die wirtschaftlicheSituation verbessert, dann haben wir die Chance, dieEinkommen zu erhöhen.In Richtung PDS sage ich: Sie lagen schon einmaldaneben, die Produktivität nicht als entscheidendenFaktor für Lohnzuwächse zugrunde zu legen. Ichmöchte dies kein zweites Mal erleben. Ich denke, wirsind gut beraten, die Wirtschaftskraft der ostdeutschenLänder deutlich zu stärken und darauf unser Hauptau-genmerk zu legen. Sie wissen selbst, wie heikel Zeitplä-ne sind. Die blühenden Landschaften haben sich auchnur sehr verzögert eingestellt.Ich komme nun auf den zweiten Punkt, der der Län-dergruppe Ost von Bündnis 90/Die Grünen sehr amHerzen liegt. Es geht darum, die Diskussion über denLänderfinanzausgleich von der Diskussion über denAufbau Ost zu entkoppeln. Die Vermischung bei derDiskussion hindert uns an unserer Arbeit. Die erste Dis-kussion wurde von Herrn Stoiber und Herrn Teufel an-gefangen. Sie sagten, daß man den Ostländern nicht so-viel bezahlen könne und daß über den Länderfinanzaus-gleich – die Neuregelung steht 2004 an – verhandeltwerden müsse. Die Angst in den ostdeutschen Ländernist natürlich groß. Ich finde es auch nicht in Ordnung,daß man schon Jahre vorher mit dem Teufelaustreibenbeginnt.Mein Vorschlag ist, daß wir im nächsten Jahr eineKonferenz abhalten, zu der wir die Landesfinanzministerund die Landeswirtschaftsminister der ostdeutschenLänder zusammen mit dem Bundesfinanzminister unddem Bundeswirtschaftsminister einladen. Auf dieserKonferenz soll über die Aufbauhilfe Ost gesprochenwerden; man könnte dann über vier bis fünf Jahre festle-gen, wie sie verlaufen soll. Damit würde die Diskussionzum Länderfinanzausgleich vom Aufbau Ost entkoppeltwerden. Damit schaffen wir einen gewissen psychologi-schen Rahmen, weil dann die ostdeutschen Bundeslän-der damit rechnen können, wie ihnen der Bund zur Seitesteht. Man könnte dann entspannt in die Diskussion zumLänderfinanzausgleich gehen. Wir können uns im näch-Antje Hermenau
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sten Sommer große Meriten verdienen, indem wir denostdeutschen Bundesländern auf die Beine helfen.Ein dritter Punkt ist mir wichtig; ich kämpfe schonseit Jahren dafür. Der Haushalt für das Jahr 2000 sollendlich ein Haushalt sein, bei dem auch die westdeut-sche Steinkohle ihren Sparbeitrag leisten muß.
Es ist schon fast ein persönliches Anliegen von mir. WirOstdeutschen erwarten von dem Zukunftspaket, daßauch bei der Förderung der westdeutschen Steinkohlemindestens ein dreistelliger Millionenbetrag eingespartwird. Es kann nicht sein, daß die Steinkohlesubventio-nen entgegen den Entwicklungen in anderen Bereichenaufrechterhalten werden. Als diese Subventionen damalsausgehandelt wurden, herrschten andere Verhältnisse alsheute. Den Rentnern und Sozialhilfeempfängern sagenwir: Heute sind die Verhältnisse anders. Dies müssenwir jetzt auch den Bergleuten mitteilen. Da hilft nun al-les nichts.
Man wird in zwei Monaten, wenn die abschließendeBeratung des Haushalts 2000 beginnt, sehen, ob sich dieErwartungen von Bündnis 90/Die Grünen an diesenHaushalt erfüllt haben. Auf jeden Fall bin ich schon jetztsehr zufrieden und stolz darauf, daß es uns gelungen ist,einen redlichen Haushalt aufzustellen. Das ist das ersteMal, daß ich dies erlebe, obwohl ich schon seit fünf Jah-ren Bundestagsabgeordnete bin.Ich bedanke mich bei Ihnen.
Für die F.D.P.
spricht der Kollege Jürgen Koppelin.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Wochezum ersten Mal über den von Hans Eichel vorgelegtenHaushalt beraten. Im Gegensatz zum „Zahlenkünstler“Lafontaine haben wir es bei Herrn Eichel mit einem Mi-nister zu tun, der sparen möchte. Das ist nichts Schlech-tes. Das ist ehrenwert und eigentlich auch die Aufgabedes Finanzministers. Es ist richtig, wenn Herr Eichelsagt, daß Einsparungen vorgenommen werden müssenund der Haushalt entlastet werden muß, damit wir zu-künftig Entscheidungsspielräume haben und zukünftigeGenerationen nicht belasten. So weit, so gut.Sie, Herr Finanzminister, haben dann aber etwas ge-sagt – darauf ist auch schon Frau Merkel eingegangen –,das ich nicht akzeptieren kann: Wie können Sie der altenKoalition aus CDU/CSU und F.D.P. Vorwürfe über de-ren Haushaltspolitik machen? Ich glaube, daß diesePolitik gar nicht so schlecht gewesen sein kann. Sie ha-ben nach der Regierungsübernahme ja alle politischenBeamten – das kritisiere ich nicht – ausgewechselt. Aberden Staatssekretär, der Herrn Waigel bei der Aufstellungseiner Haushalte beraten hat, haben Sie behalten. Da-für müssen Sie doch Gründe gehabt haben. Ich vermutealso, daß unsere Haushaltspolitik gar nicht so schlechtwar.
Sie, Herr Minister, haben vor einiger Zeit gesagt – in-zwischen haben Sie es mehrfach wiederholt –: „Durch-mogeln hilft nicht mehr.“ Wenn ich mir jetzt IhrenHaushalt anschaue, kann ich Ihnen den Vorwurf nichtersparen: Sie mogeln und tricksen! Es gibt Einsparungenin Milliardenhöhe, die nur eine Verlagerung vom Bundauf andere öffentliche Haushalte bedeuten. Es werdenmehr als 5 Milliarden DM den Sozialversicherungenaufgebürdet. Beim Wohngeld wird ein Milliardenbetraggestrichen. Dies alles geht zu Lasten der Kommunen.Dies ist wirklich nicht die feine Art, Herr Finanz-minister.Weil Sie denken, daß Ihnen keiner auf die Schlichekommt, machen Sie im bisherigen Stil munter weiter.Ich nenne das Stichwort globale Minderausgaben. DieKollegin Hermenau verwaltet ja nicht die ganz großen,sondern nur die kleineren Etats.
Da ist es möglich, daß sie – wie sie gesagt hat – alles bisauf die letzte müde Mark herunterrechnen kann. Aberich bin gespannt, wie das im Verteidigungshaushalt undin den anderen Etats aussehen soll.Ich sage Ihnen folgendes: Im Sozialetat liegt dieglobale Minderausgabe bei 2,4 Milliarden DM. BeimVerteidigungsetat ist es fast genauso viel. Das sindgroße Positionen. Zählt man alle zusammen, betragendie globalen Minderausgaben 5,8 Milliarden DM. „Glo-bale Minderausgaben“ bedeutet doch wohl – wenn ichSie in der bisherigen Haushaltsberatung richtig verstan-den habe –: Eichel weiß noch gar nicht, wo er sparenwill. Das ist die Botschaft, die von diesen großen glo-balen Minderausgaben ausgeht. Sie paßt zu Ihrem Spar-paket.
Ich möchte Sie auch daran erinnern, was Sie vor derWahl alles den Bürgern versprochen haben, nämlichsoziale Sicherheit und Gerechtigkeit, den Abbau derArbeitslosigkeit – dazu habe ich von Ihnen bisher weniggehört – und die Erhöhung der Renten. Das waren IhreHauptversprechen. Den Bürgern wurde das Gefühl ver-mittelt, für all diese Wohltaten sei genug Geld vorhan-den. Haben Sie mit Ihren Haushältern vorher nie gespro-chen? Gerechtigkeitslücken wurden von der SPD aus-gemacht. Diese Lücken wollten Sie durch Ihre Umver-teilungspolitik schließen. So waren Ihre Aussagen vorder Wahl.Nun spricht der Bundesfinanzminister von Eigenver-antwortung, Risikobereitschaft und Selbstvorsorge. Diesmuß man loben; denn das sind alles Begriffe, HerrFinanzminister, die den Liberalen nicht fremd sind. Aberals wir damals von diesen Dingen gesprochen haben,wurden wir von der SPD-Fraktion mit Begriffen wie„Neoliberalismus“ und „soziale Kälte“ bedacht. DiesAntje Hermenau
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waren Ihre Schlagworte. Trotz dieser Vorwürfe habenwir nie eine Politik der sozialen Kälte verfolgt. Sie ver-folgen eine solche Politik.
Der Bundeskanzler hat auch in dieser Debatte dasSparpaket, aber auch sogenannte Reformen seiner Re-gierung als „von historischer Tragweite“ bezeichnet.Welche Reformen meint er denn? Spricht er von derverkorksten Reform zur Scheinselbständigkeit? Sprichter von der verkorksten Reform zu den 630-Mark-Jobs?Spricht er von der verkorksten Ökosteuer, die überhauptkeine Ökosteuer ist? Spricht er von den rotgrünen Ren-tenplänen? Hat all dies historische Tragweite? – Ja, indem Punkt hat er recht: Das hat historische Tragweite.Es sind allesamt Anschläge auf die Bürger und ihrschwerverdientes Geld. Das hat es in dieser Form bishernicht gegeben; insofern ist es historisch.
Dazu paßt die Diskussion in der SPD-Fraktion zu die-sem sogenannten Sparpaket, die wir in der Sommer-pause erlebt haben. Bei einem so unausgewogenen, teil-weise richtig chaotischen Paket des Finanzministers ver-stehe ich das. Ein vielstimmiger Chor von sozialdemo-kratischen Überzeugungstätern versucht sich in Forde-rungen, Vorschlägen, Rücknahmen dieser Vorschlägeund Dementis.Wenn der Bundeskanzler im Plenum des Bundestageserklärt, die Koalition stehe hinter dem Sparpaket – ichnehme einmal an, das ist so –, dann sagen Sie doch bitteden Kolleginnen und Kollegen vor allem der SPD-Fraktion, daß sie auch in den Wahlkreisen dazu stehensollen. Bis jetzt mußte ich jede Woche in irgendeinemWahlkreis von irgendeinem SPD-Abgeordneten lesen,daß er gegen dieses Paket und deshalb gegen die Politikdes Bundeskanzlers sei. Ihre Kollegen sollen in denWahlkreisen dazu stehen. Wenn das geschieht, dannwird unser Geschäft als Opposition, mit diesen Abge-ordneten über das Sparpaket zu diskutieren, etwas einfa-cher.
Während des Sommertheaters hatte ein richtigerKnüller Uraufführung. Ich meine die Äußerungen desSPD-Fraktionsvorsitzenden Struck. Er hat laut über dasSteuersystem nachgedacht. Herr Finanzminister, dieDiskussion um das Sparpaket allein reicht nicht. DieDiskussion um die steuerlichen Rahmenbedingungenkam dazu. Herr Struck ist zu ganz tollen Erkenntnissengekommen. Ich zitiere ihn wörtlich:Ich glaube nicht, daß die alte Position einer Arbei-terpartei, von den Reichen nehmen, um es den Ar-men zu geben, die Politik in unserer modernen Ge-sellschaft ist.Einen weiteren Satz von Herrn Struck will ich Ihnennicht vorenthalten, auch wenn sie ihn kennen:Was die F.D.P. in der Steuerpolitik vorschlägt, istdoch völlig richtig.
Herr Struck hat recht. Ich kann ihn nur auffordern, seineAnstrengungen in diese Richtung fortzuführen. Wir, dieFreien Demokraten, werden ihn dabei selbstverständlichgern unterstützen.Mit unserem Konzept wird etwas für Deutschland ge-schaffen, was von enormer Bedeutung ist. Das hat HerrStruck erkannt. Mit unserem Konzept werden die Bürgerentlastet, es werden Arbeitsplätze geschaffen – ich finde,in dieser Haushaltsdebatte haben wir darüber viel zuwe-nig gesprochen – und unser Steuerrecht wird vereinfacht.Hinzu kommt etwas, was Sie uns vielleicht gar nicht zu-trauen: Auch wir wollen den Abbau von Vergünstigungenund den Abbau von Subventionen betreiben. Würde un-ser Steuerkonzept umgesetzt, dann wäre das gerecht.
Die Umsetzung eines solchen Steuerkonzepts würdedazu führen, Herr Bundesfinanzminister, daß Sie nichtso stark streichen müßten, weil die Einnahmen kräftigsprudelten, ohne daß Sie Steuererhöhungen vornehmenmüßten. Das ist der entscheidende Punkt. Durch diesesKonzept würde die Abgabenlast der Bürger reduziert,und die Unternehmen würden entlastet. Für die Unter-nehmen würden Anreize geschaffen, mehr Menschen inLohn und Brot zu bringen. In Ihrem Haushalt bestehtdas Problem, daß Sie unglaublich viel Geld wegen dergroßen Zahl an Arbeitslosen ausgeben müssen. Wirmüssen die Zahl der Arbeitslosen senken, damit es dieentsprechenden Einsparungen gibt.
Entscheidend ist: Wenn Sie die Steuern radikal sen-ken, dann werden Menschen eingestellt und dann habendie Unternehmen die Möglichkeit, Gewinne zu erzielenund wieder zu investieren. Vor allem sprudelt dann dieSteuerquelle. Andere Länder haben uns das vorgemacht.
Wenn wir während der Debatte der letzten Tage ge-sagt haben, die Grünen und vor allem die SPD hätten inder letzten Legislatur jede Möglichkeit eines Steuer-kompromisses verhindert, dann haben Sie das immerbestritten. Die Kollegin Hermenau hat eben vom Berg-bau gesprochen. Ich möchte Ihnen ein Zitat des damali-gen SPD-Fraktionsvorsitzenden Rudolf Scharping ausdem Jahre 1997 vorlesen – es ist gerade zwei Jahre alt;es gibt bergeweise Aussagen von Sozialdemokraten,warum sie die Steuerreform verhindert haben –:Für meine Partei gibt es derzeit Wichtigeres als dieSteuerverhandlungen mit der Koalition.– Das waren damals wir. –Eine Fortsetzung der Steuergespräche kommt erstin Frage, wenn die Zukunft des Bergbaus ohne be-triebsbedingte Kündigungen gesichert ist.Jürgen Koppelin
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Man muß sich einmal vorstellen, auf welchem Niveaudamals gesprochen wurde. Solche Vermischungen ha-ben Sie vorgenommen.Der Bundeskanzler hat in der Debatte gesagt: Wirziehen unser Programm jetzt so durch, und die Koalitionsteht dazu. Herr Bundesfinanzminister, ich frage mich,was Ihr Wort überhaupt wert ist, wenn Sie der Oppositi-on Gespräche anbieten. Was stimmt denn? Ziehen SieIhr Vorhaben durch, oder wollen Sie mit uns wirklichGespräche führen? Wir sind zu Gesprächen bereit.Herr Finanzminister, Ihre heutige Rede hat ebensowie Ihre Einbringungsrede gezeigt, daß Sie Ehrenmit-glied des PEN-Clubs werden sollten: Ich habe lang nichtmehr so viel Lyrik in Reden gehört wie bei Ihnen.
Sie sind nicht konkret geworden, Sie sind nicht auf dieFakten eingegangen. Warum sagen Sie nicht, das Kon-zept sei ganz furchtbar, aber als Finanzminister müßtenSie Einschnitte machen, auch wenn es Ihnen leid tue?Dann könnten Sie auch in aller Deutlichkeit sagen, wenSie schröpfen und wo Sie abkassieren.Sie bedienen sich bei der Landwirtschaft, womit Siees sich sehr einfach machen, weil die Landwirte keineChance haben, ihre Produkte zu ändern oder ins Auslandzu gehen. Die Landwirtschaft können sie kräftig schröp-fen. Sie schröpfen die Bundeswehr, Sie kassieren beimMeister-BAföG, Sie kassieren beim Wohngeld. Sie kas-sieren sogar bei den sozialen Verbänden in Deutschland,weil Sie sich von denen den Zivildienst künftig bezahlenlassen. Das muß man sich einmal vorstellen: Manchmalwaren wir doch froh, daß überhaupt Zivildienststellenvon den Sozialverbänden geschaffen wurden. Ich binfest davon überzeugt, daß es da einen Rückgang gebenwird.Sie streichen bei der Forschung.
Sie nehmen das BaföG aus dem Bundeshaushalt heraus.Das tollste Ding ist, daß der BGS als Bahnpolizei künf-tig von der Bahn AG bezahlt werden soll. Ich will jetztnicht sagen, daß der BGS zu einer Söldnertruppe wird.Aber eines frage ich mich wirklich, Herr Eichel: Warumlassen sie sich dann nicht auch von den Bundesligaver-einen den BGS-Einsatz bezahlen?
Sie wälzen Milliardenbeträge auf die Kommunen ab.Damit rede ich gar nicht einmal von dem Verkauf derEisenbahnerwohnungen; in diesem Zusammenhang gibtes ja noch ein Loch in Ihrem Haushalt. Dies alles zeigt,daß Sie sich nur durchmogeln. Ihr Etat ist wirklich nichtseriös.Nun möchte ich darauf zurückkommen, daß Sie unsaufgefordert haben, unsere Alternativen vorzulegen. Wirhaben unsere Alternativen vorgelegt, und zwar nicht nurein Steuerkonzept. Wir von der F.D.P. haben auf Druck-sache 14/1132 einen Antrag eingereicht, der – ich sageIhnen das, falls Sie nicht wissen, wovon ich rede – dasSchröder-Blair-Papier beinhaltet. Das sind die richti-gen Rahmenbedingungen. Warum ist die Koalition nichtbereit, über das Papier, das von Ihrem Bundeskanzlerkommt, und, was Sie ja zugeben, in großen Teilen vonder F.D.P. abgeschrieben ist, auch mit uns, der F.D.P.,zu diskutieren? Wir sind dazu bereit; denn das, was indiesem Papier steht, ist vollkommen in Ordnung.
– Wir werden es in die Diskussion um den Haushalt ein-bringen.Ich freue mich auf die Haushaltsberatungen. Aber,Herr Eichel, kommen Sie nicht nur mit Ihrem Konzept.Wenn Sie wirklich gesprächsbereit sind, dann lassen Sieuns beispielsweise über die Steuerreform und auch ein-mal über das Schröder-Blair-Papier reden. Ich bin ge-spannt, was Sie zu diesem Papier sagen und ob Sie unse-rem Antrag, dem Schröder-Blair-Papier, dazu zustim-men werden.Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und wünsche Ihnenein schönes Wochenende.
Für die PDS spricht
der Kollege Uwe-Jens Rössel.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen, liebe Kollegen! Im Koalitionsvertrag heißtes:Der Schlüssel zur Konsolidierung der Staatsfinan-zen ist die erfolgreiche Bekämpfung der Arbeitslo-sigkeit sowie eine sparsame Haushaltspolitik, dieSpielräume erst für Zukunftsinvestitionen eröffnenkann.
Wie hat die Bundesregierung diesen selbstgestelltenAnspruch beim Haushaltsentwurf 2000 erfüllt? Gewiß,manches ist positiv und wird auch von der PDS unter-stützt. Ich nenne beispielhaft das fortgeführte Programmfür 100 000 Lehrstellen, das neu initiierte Programm fürdie Förderung regionaler Investitionen. Auch die Anhe-bung des Kindergeldes ist ein Schritt in die richtigeRichtung.Herr Finanzminister, wenn Sie aber behaupten, diePDS erkenne nicht die Notwendigkeit von Haushalts-konsolidierung an, dann sprechen Sie nicht die Wahr-heit. Selbstverständlich erkennen wir diese Notwendig-keit angesichts von Zinszahlungen auf die Bundesschuldin Höhe von jährlich 82 Milliarden DM aus Steuergel-dern an; das ist unbestritten. Aber über das Wie dieserHaushaltskonsolidierung müssen wir heute sprechen;das ist unser Kritikpunkt. Darauf muß sich die Debattekonzentrieren.Jürgen Koppelin
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5064 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999
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Sie setzen an die Stelle einer dringend notwendigengesamtwirtschaftlichen Perspektive für mehr Beschäfti-gung, für soziale Gerechtigkeit, für einen ökologischenUmbau, für die Stärkung des Mittelstandes sowie derFinanzkraft der Kommunen in vieler Hinsicht schädlicheSparwut. Sie brechen damit in hohem Maße Wahlver-sprechungen Ihrer Partei.
Bundesfinanzminister Eichel beeinträchtigt mit seinerSparbesessenheit Wachstum und Beschäftigung. Für ihnist nicht mehr der Abbau der Massenarbeitslosigkeit dasgrößte gesellschaftliche Problem, sondern der Abbau derStaatsverschuldung.Dem namhaften Ökonomen Hickel ist zuzustimmen,wenn er heute im „Handelsblatt“ schreibt, daß staatlicheSchulden von Hans Eichel als Erblast für Kinder undEnkel stigmatisiert würden, dabei aber völlig vergessenwerde, daß Haushaltskonsolidierung ausschließlich überAusgabenreduzierung insbesondere die sozial und finan-ziell Schwachen treffe.
Ausgerechnet Zukunftsbereiche wie Infrastruktur, Um-welt, Forschung und Entwicklung, aber auch Kultur undEntwicklungshilfe kommen im Budget viel zu kurz.Der Haushaltsentwurf von Hans Eichel zementiertsoziale Ungerechtigkeiten, anstatt sie abzubauen.
Er ist nicht nur eine Fortsetzung neoliberaler Politik inden Farben von Rotgrün – wenn auch mit anderer Rhe-torik, das erkennen wir an –, sondern er leitet einen Sy-stembruch in der Finanzierung der sozialen Sicherungs-systeme ein, der für uns nicht hinnehmbar ist.
Auch die Rentenreform, nach der die Entwicklungder Renten zumindest für zwei Jahre nicht mehr an dieder Nettolöhne, sondern an die Preissteigerungsrate ge-koppelt wird, stellt einen eindeutigen Bruch von Wahl-versprechen dar. Die Rentenzahlung nach Kassenlage,wie sie die Herren Riester und Eichel jetzt praktizierenwollen, nimmt zugleich den heutigen und den künftigenRentnerinnen und Rentnern in Ostdeutschland die Chan-ce auf eine Angleichung ihrer Altersbezüge an das Ni-veau im Altbundesgebiet.Oder nehmen wir die Wohngeldreform. Sie istlängst überfällig, wurde aber von CDU/CSU und F.D.P.über Jahre hinaus verschleppt und wird nun von der jet-zigen Regierung erneut in das nächste Jahr verschoben.Der Haushaltsentwurf der Regierung gibt in Zahlenunbestechlich wieder, daß Bundeskanzler Schröder denAufbau Ost eben doch nicht zur Chefsache macht. Inder PDS ist der Aufbau Ost tatsächlich Chefsache. DieWählerinnen und Wähler können sich tagtäglich davonüberzeugen.
Staatsminister Schwanitz, der heute von den eigenenReihen gelobt worden ist, führt, so meinen wir, im Bun-deskanzleramt nicht nur räumlich, sondern auch, wassein Budget und seine Kompetenzen betrifft, ein Mauer-blümchendasein.
Die PDS-Fraktion wiederholt den Vorschlag, daß dieBundesregierung zehn Jahre nach dem Mauerfall end-lich einen Plan zur Angleichung der Lebensverhältnissein Ost und West vorlegen soll.
Zehn Jahre sind verstrichen, und dieser Plan gehört aufden Tisch der Öffentlichkeit.
Auch wenn Kanzler Schröder von großzügiger Mit-telstandförderung spricht, ist dabei viel heiße Luft. Diefür das Jahr 2001 angekündigte Körperschaftsteuerre-form kommt bekanntlich Kapitalgesellschaften zugute.In Deutschland sind aber rund 85 Prozent der Unter-nehmen davon nicht betroffen, weil sie Einzelunterneh-men bzw. Personengesellschaften sind. Wem also dientdie Steuersenkung?Die PDS, Herr Bundesfinanzminister Eichel, hat ebennicht nur den Bundeshaushalt, sondern alle öffentlichenHaushalte, Bund, Länder und Gemeinden, gleicherma-ßen im Blickfeld. Diesen Blick habe ich bei Ihnen –trotz rhetorischer Beteuerungen – vermißt.
Im Rahmen des sogenannten Sparpakets sollen – dar-über ist gesprochen worden – im nächsten Jahr minde-stens 3,5 Milliarden DM Ausgaben vom Bund auf dieKommunen verlagert werden, nach dem Motto: Seht,wie ihr damit zurechtkommt. Denn es gibt keinen fairenAusgleich. Das belegen Sie auch heute in dieser Debat-te.Ein Beispiel. Die ohnehin von argen Finanzsorgengeplagte Viertelmillionenstadt Halle an der Saale müßte,würde Ihr Sparpaket so angenommen – was wir allenicht wollen –, im nächsten Jahr mit Zusatzbelastungenin einer Höhe von 25 Millionen DM rechnen. Darunterzu leiden hätten viele von der Stadt Halle zu erfüllendesoziale Projekte, soziale Vereine und selbstverständlichauch die städtischen Investitionen.Notwendig ist eine sofortige umfassende Reform derKommunalfinanzierung, für die die PDS einen Antrageingebracht hat, der in der nächsten Sitzungswoche be-raten wird.
Dr. Uwe-Jens Rössel
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Erforderlich sind vor allem dauerhaft sprudelnde Steuer-einnahmen, die Ausreichung einer kommunalen Investi-tionspauschale sowie die Entlastung der Kommunen vonAusgaben, für die sie nicht verantwortlich sind, zumBeispiel für die Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit.Die PDS hat selbstverständlich Alternativen. Ich nen-ne nur stichpunktartig einige:Verabschieden Sie sich sofort von Prestigeobjekten,die Milliardengräber werden, wie dem Eurofighter. Ersoll bis zum Jahre 2014 immerhin Steuergelder in Höhevon 20 Milliarden DM verschlingen; dieser Betrag liegtum das 20fache höher, als der Haushalt des Bundesum-weltministers 2000 umfaßt. Verabschieden Sie sich vomMilliardengrab Transrapid konsequenter, als es FranzMüntefering heute nacht in der Debatte gemacht hat, in-dem er ein abgespecktes Projekt ankündigte.Nutzen Sie die gesetzlich verbrieften Möglichkeiten,um von Zinslasten zumindest teilweise herunterzu-kommen. Warum wurde das Niedrigzinsniveau der Ver-gangenheit nicht auch über Zins-Swapgeschäfte festge-schrieben? Da offenkundig am Kapitalmarkt die Zinsenweiter im Steigen begriffen sind, dürfte es jetzt erhebli-che zusätzliche Belastungen für den Bundeshaushalt ge-ben. Hans Eichel schweigt sich darüber aus.Die Wiedereinführung einer Vermögensteuer auf re-formierter Bemessungsgrundlage könnte mehr als 9Milliarden DM in die Haushaltskassen spülen. Wir hof-fen immer noch, daß sich in der SPD-Fraktion diejeni-gen durchsetzen, die sich schon in der Vergangenheit füreine Wiedereinführung der Vermögensteuer stark ge-macht haben.
Auch die Reformierung der Erbschaftsteuer steht aufder Tagesordnung; genauso die seit Jahren überfälligeAbschaffung der noch auf Franz Josef Strauß zurückge-henden Steuerbefreiung für Flugbenzin. DeutlicheMehreinnahmen wären dadurch erzielbar; Finanzmi-nister Eichel schweigt sich auch darüber aus.Zum Schluß frage ich, warum nicht Banken, Versi-cherungen und Industriekonzerne, die mit zweistelligenGewinnzuwächsen aufwarten und sich immer stärkerdem Shareholder Value verpflichtet fühlen, durch eineVermögensabgabe zur Finanzierung von Aufgaben desGemeinwohls beitragen sollten. Wir meinen, daß dafürdie Zeit längst reift ist.
All das und weiteres zeigt, daß es realistische Alter-nativen und einen anderen Weg zur Haushaltskonsoli-dierung in diesem Hause gibt, Herr Finanzminister. Bittenehmen Sie dies von der PDS zumindest zur Kenntnis.
Herr Kollege, ich
bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Diese PDS-Alterna-
tiven – das ist mein letzter Satz – fühlen sich der Förde-
rung von Wachstum und Beschäftigung verpflichtet. Sie
dienen der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost
und West. Wir bitten, auch in eine Debatte zu diesen
Fragen einzutreten.
Danke schön und schönes Wochenende.
Für die SPD-
Fraktion spricht nun der Kollege Hans Georg Wagner.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Restverbliebe-ne hier im Raum!
Die anderen haben das schöne Wochenende, das JürgenKoppelin uns gewünscht hat, schon; wir haben es nochnicht, werden es aber auch noch bekommen. Nachdemich die Debatte über drei Tage meistens hier im Saalverfolgt habe, ist mir in Anlehnung an das Neue Testa-ment ein Wort dazu eingefallen: Herr, vergib ihnen,denn sie wissen immer noch nicht, was sie angerichethaben.
Etwas weiteres möchte ich feststellen, Herr Präsident:Die Klimaanlage im Plenarsaal funktioniert; denn dieganze heiße Luft, die die Opposition in den letzten dreiTagen produzierte, hat nicht zu einer spürbaren Anhe-bung der Raumtemperatur geführt. Das ist wenigstensetwas Erfreuliches.
Nun zu den Punkten, die genannt wurden; Alternati-ven sind ja keine aufgezeigt worden:Frau Merkel brachte den obskuren Vorschlag, dieSteinkohlesubventionen abzubauen, obwohl das dieeinzige Subvention ist, die vertraglich geregelt im Laufeder Jahre zurückgeführt wird.
– Sie kenne ich ja. Ihre Forderungen werden nichtWirklichkeit werden. Ich habe mit ihr ja schon des öfte-ren darüber Diskussionen geführt.Die Kollegin Hermenau hat jedoch recht, daß HerrEichel, wenn man alle Subventionen in der Form wiebei der deutschen Steinkohle abbauen würde, im Jahr170 Milliarden DM mehr in seiner Kasse hätte. Das istdie Wahrheit. Vielleicht kann man auch einmal IhrenOberbefehlshaber aus München einladen, herzukommenund sich nicht vor den Debatten zu drücken. Dannkönnte er hier verkünden, daß er in der Landwirtschaftdie Subventionen in ähnlicher Weise abbaut wie imSteinkohlebergbau.
Dr. Uwe-Jens Rössel
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Ich habe übrigens heute morgen, Herr Kollege Kalb,dem bayerischen Ministerpräsidenten etwas Entlastungverschafft. Ich habe nämlich einen Brief an den Bundes-rechnungshof mit der Bitte unterschrieben, daß er ein-mal den Verkauf der Bundesanteile an der bayerischenWohnungsbaugesellschaft LWS untersuchen soll. Beidiesem Störverkauf ist ja auch der Kollege Waigel be-teiligt gewesen. Auch der Kollege Oswald, der erst dreiTage Bauminister war, hat dabei mitgemacht. Wir wol-len jetzt einmal die Stellungnahme des Bundesrech-nungshofes dazu abwarten: Vielleicht wird der bayeri-sche Ministerpräsident dadurch ja etwas entlastet. DieseSache wurde jetzt auf einen guten Weg gebracht.
Lassen Sie mich noch einige Anmerkungen machen.Das Stichwort Verkehrspolitik wurde eben genannt.Der Kollege Eichel hat es schon einmal gesagt: Dasgrößte Lügenbuch der Nation ist der von Ihnen verab-schiedete Bundesverkehrswegeplan. Das ist das größteLügenbuch in Deutschland.
Sie – auch Sie, Frau Schwaetzer – haben den Leutenin den neuen und in den alten Ländern permanent er-zählt: Die Straße wird gebaut. Die Ortsumgehung wirdentstehen. Dies und jenes wird passieren. – Passiert istjedoch gar nichts, weil das alles hoffnungslos, nämlichum 70 Milliarden DM, unterfinanziert ist.
Es dauert bis zum Jahre 2050, bis die letzte Ortsumge-hung gebaut werden kann.
– Überhaupt nicht. Wenn Sie wüßten, wie eng wir mit-einander befreundet sind, dann würden Sie so etwasnicht sagen. – Ich sage nur eines: Sie haben den Leutenin den neuen Ländern vorgegaukelt, Sie würden etwasrealisieren, was einfach nicht realisierbar ist. Das ist nuneinmal die Wahrheit. Ich bin froh, daß die jetzige Bun-desregierung dabei ist, den Bundesverkehrswegeplan andie Realität anzupassen.
Thema Bundeswehr. Ich verstehe die Welt nichtmehr, muß ich Ihnen sagen. Eben hat Frau Merkel ge-sagt, daß die klassische Sicherheitspolitik nicht mehrbenötigt werde. Dafür bräuchte man mehr Entwick-lungshilfepolitik. Gestern wurde Herr Scharping be-schimpft, er mache die Bundeswehr kaputt. Tatsache ist,daß die Ausstattung der Bundeswehr unter aller Kanoneist. Das ist Ihre Schuld und nicht die Schuld der jetzigenRegierung. Hier müssen wir einen Scherbenhaufen be-seitigen.
– Frau Schwaetzer, schwätzen Sie mal nicht so viel undhören Sie besser zu!Die Hälfte der Panzer, die im Kosovo standen, mußteausgeschlachtet werden, damit die andere Hälfte über-haupt fahren konnte. Als sie fahrtüchtig war, hat mangemerkt, daß gar keine Munition bestellt worden war.Beim Beschaffungswesen der Bundeswehr herrscht einabsolutes Chaos. Das muß auf gesunde, neue Füße ge-stellt werden.
Herr Glos hat hier gestern erklärt, wir seien Gefange-ne von Interessenkartellen.
Ich sage: Wir sind einem Interessenkartell sehr verbun-den. Wir versuchen nämlich, das Sozialprogramm derbeiden großen deutschen Kirchen umzusetzen. Sie habenIhnen ja ins Stammbuch geschrieben, wie vernichtendIhre Familienpolitik und Ihre Arbeitsmarktpolitik war.Nicht nur das Bundesverfassungsgericht – auch ein In-teressenkartell – hat sich dazu geäußert. Das, was dasGericht zum Familienlastenausgleich gesagt hat, setzenwir um. Auch dem Interessenkartell Bundesverfas-sungsgericht versuchen wir gerecht zu werden. Ich weißnicht, was Sie wollen und wen Sie meinen, meine Da-men und Herren
Also, die großen Kirchen sind nach Auffassung vonHerrn Glos Interessenkartelle. Wir wollen sie unterstüt-zen.Vorhin sind die 30 Milliarden DM genannt worden,die Lafontaine draufgelegt und Eichel wieder herunter-genommen hat. Ich will das einmal aufschlüsseln, damitSie es kontrollieren können und es auch glauben, meineDamen und Herren.Die Steuereinnahmen waren auf Grund der Wachs-tumsraten mit 3 Milliarden DM zu hoch angesetzt.
Die Ausgaben für den Arbeitsmarkt waren mit7 Milliarden DM zu niedrig angesetzt. Die Gewährlei-stungsrisiken – diese sind, insbesondere was osteuropäi-sche Staaten angeht, nicht zu leugnen – wurden völligignoriert: 3 Milliarden DM.Für die Haushaltsnotlage des Saarlandes und Bre-mens wurden nicht 3 Milliarden DM angesetzt, obwohldazu nach einem Gerichtsurteil eine Verpflichtung be-stand. Der gesetzlichen Verpflichtung, zum Beispiel denKohlekompromiß oder den Zuschuß zum Bundeseisen-bahnvermögen mit 2 Milliarden DM zu berücksichtigen,wurde nicht Rechnung getragen.Zwangsläufig nicht berücksichtigt – das konnten Sienicht wissen – waren die Belastungen durch den Koso-vo-Einsatz in Höhe von 2 Milliarden DM und durch dasHans Georg Wagner
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Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Familienla-stenausgleich in Höhe von 1,5 Milliarden DM.Letztlich sind Sie dann mit den 10 Millionen DM, dieohnehin als Defizit im Haushalt von Herrn Waigel vor-handen waren, exakt bei den 30 Millionen DM.
– Milliarden. Wenn es Millionen wären, dann wäre dasherrlich, das wäre ein Taschengeld. – Das sind die 30Milliarden DM, die wir im Haushalt 1999 drauflegenmußten.Jetzt kommt der echte Sparhaushalt in einer Grö-ßenordnung von 30 Milliarden DM, weil wir unsereHandlungsfähigkeit zurückgewinnen wollen, damit un-sere Jugend, unsere Kinder und Enkelkinder eine Bil-dung erfahren, die Sie fit macht für die künftig globali-sierte Welt.
Wir müssen Handlungsspielraum zurückgewinnen.Die 30 Milliarden DM sind keine einmalige Veranstal-tung. Das geht beim nächsten Haushalt weiter so, bis zuden 50 Milliarden DM im Jahre 2003. Da müssen wirhinkommen, weil die Nettokreditaufnahme dann bei 30Milliarden DM liegen soll. Sie soll in der nächsten Le-gislaturperiode auf Null zurückgeführt werden, denn nurdann, wenn erreicht ist, daß Investitionen aus den Steu-ereinnahmen finanziert werden können und nicht mehrüber Kredite finanziert werden müssen, entspricht derHaushalt dem Grundsatz der Klarheit und Wahrheit.
Ich möchte einmal einige Zahlen nennen – sie sindfür die Zuschauer und Zuschauerinnen vielleicht interes-sant –: Mit dem Ende der heutigen Sitzung hat HansEichel für die letzten drei Tage 660 Millionen DM fürZinsen an die Banken überwiesen. Diese Zahl und dieGesamtverschuldung in Höhe von 82 Milliarden DMverdeutlichen, daß wir das Ruder dringend herumwerfenmüssen.Stichwort Renten. Ich habe mich gewundert, wie hierdie Menschen belogen und – das füge ich heute hinzu –um ihre Rente betrogen worden sind. Im Jahre 1995stieg die Preissteigerungsrate um 1,7 Prozent. Sie habendie Renten nur um 0,5 Prozent erhöht, den Rentnerinnenund Rentnern also 1,2 Prozent vorenthalten.
Im Jahre 1996 betrug die Preissteigerungsrate 1,4 Pro-zent. Ihre Rentenanpassungen betrugen 0,95 Prozent. ImJahre 1997 betrug die Preissteigerungsrate 1,9 Prozent.Ihre Rentenerhöhungen betrugen 1,65 Prozent. Im Jahre1998 betrug die Preissteigerungsrate 1 Prozent. Ihre An-passungen betrugen 0,44 Prozent.Durch Aussetzung Ihrer Kürzungsmaßnahmen habenwir erreicht, daß die Renten nicht, wie bei Ihnen vor-gesehen, um 0,79 Prozent erhöht werden, sondern um1,34 Prozent. Wir haben das Dreifache dessen gemacht,was Sie letztes Jahr getan haben. Angesichts dessensprechen Sie noch von Kürzungen!
Sie sollten sich schämen, die Menschen so zu belügen.Sie haben zwar Erfolge. – Dies gilt nicht für die F.D.P.Deutschland ist mittlerweile fast F.D.P.-frei. Es wird soweitergehen, daß sie aus den Parlamenten ausscheidet. –Die Frage aber ist, warum Sie die Menschen in dieserForm belogen haben.
Herr Kollege Wag-
ner, es ist außerordentlich schwierig, Sie zu unterbre-
chen. Es gibt zwei Kollegen, die einen Fragewunsch ha-
ben. Ich frage Sie, ob Sie Fragen zulassen.
Nachdem man mich
gebeten hat, nicht so lange zu reden, wie mir Redezeit
eingeräumt wurde, verstehe ich nicht, warum jetzt noch
Fragen gestellt werden. Aber wir können das gerne tun.
Als erstes, Frau
Christa Luft, bitte.
Herr Kollege Wagner, ichfrage, und Sie können Ihr Herz jetzt einen Moment aus-ruhen lassen. – Ich bin vorhin, als der Bundesfinanzmi-nister gesprochen hat, leider verhindert gewesen. Ent-schuldigen Sie bitte, daß ich jetzt dem haushaltspoliti-schen Sprecher der SPD-Fraktion diese Frage stelle.Herr Kollege Wagner, können Sie ausschließen, daßzur Senkung der Zinslast – ich wollte Sie zu dem Stich-wort Zinslast fragen; mittlerweile sind Sie schon bei ei-nem weiteren Punkt angekommen – alle seriösen Mög-lichkeiten ausgeschöpft worden sind, um zum Beispieldurch Zinsswapgeschäfte Erleichterungen zu bewirken?Ich persönlich bin keine euphorische Verfechterin vonZinsswapgeschäften. Aber angesichts der Tatsache, daßwir jetzt, um die Zinslast zu senken, tiefe Sozialein-schnitte vornehmen müssen, fange ich an, zu überlegen,ob man dieses Instrument nicht tatsächlich einführensollte. Im Fonds Deutsche Einheit sind Kredite zusam-mengefaßt worden, die in einer Hochzinsphase, nämlich1990 bis 1992, aufgenommen worden sind. Mit 8 bis9 Prozent stehen sie heute noch in den Büchern.
– Ich habe gefragt, ob er ausschließen kann, daß dieseMöglichkeiten genutzt worden sind. Dazu will ich nocheine Erklärung geben.1990 bis 1992 bestand ein Hochzinsniveau. Mittler-weile haben wir ein dauerhaftes Niedrigzinsniveau. Hof-fentlich bleibt es noch eine Weile dabei; eine Änderungist nicht abzusehen. Können Sie das also ausschließen,oder gibt es nicht noch weitere Möglichkeiten, zum Bei-spiel über Butterfly-Geschäfte, also über Geschäfte, beidenen man keine Verträge kündigen muß, um solches zutun?Hans Georg Wagner
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Frau Kollegin Luft,
ich glaube, Ihre Frage ist verstanden worden.
Das war zwar keine
Frage; aber ich sage: Ich schließe nichts aus. Es stand
alles auf dem Prüfstand. Warum dies nicht auch?
Herr Kollege Kalb.
Herr Kollege
Wagner, würden Sie bestätigen, daß wir 1992 die Ren-
tenreform mit Zustimmung der SPD beschlossen haben
und daß damals die Rentenformel so festgelegt worden
ist, daß sich der Rentenanstieg nach dem Anstieg der
Nettolöhne der Arbeitnehmer richtete?
Das kann ich aus-drücklich bestätigen.
– Wenn wir aber in den nächsten beiden Jahren im Hin-blick auf die Renten einen Inflationsausgleich zusagen,dann dürfen Sie nicht von Rentenkürzungen sprechen.Was wir tun, ist ein Erhalt der Kaufkraft. Das sollten Siewissen.
Im Zusammenhang mit diesen Dingen möchte ichnoch etwas sagen. Wie war das mit der Mineralölsteuer,die Sie um 50 Pfennig erhöht haben?
Wir haben das Kindergeld um 50 DM erhöht. Das habenSie hier abgelehnt.
– Weil Sie es nicht wollten. Sonst hätten Sie ja zuge-stimmt.
Wir haben die steuerliche Freistellung des Existenz-minimums angehoben. Wir haben den Eingangssteuer-satz gesenkt. Dies alles ist ein Ausgleich für die Öko-steuer. Sie haben damals die Mineralölsteuer um50 Pfennig erhöht und haben keiner Rentnerin undkeinem Rentner sowie keiner Familie auch nur einenPfennig entgegengebracht. Das war Ihre Politik. Diehaben wir beendet. Das ist jetzt vorbei.
Wenn Sie hier jetzt eine erfolgreiche Wirtschaftspoli-tik anmahnen, dann sollten Sie sich einmal die Wachs-tumsraten in der Europäischen Union ansehen. Seit fünfJahren liegen wir unter dem Durchschnitt der Europäi-schen Union. Es liegt an Ihrer erfolgreichen Wirt-schaftspolitik, daß wir unterhalb des Durchschnitts derEuropäischen Union liegen. Also spielen Sie sich nichtso auf; denn es hat wirklich keinen Sinn.Was Frau Merkel zur Steinkohle gesagt hat, ist einAufruf zum Vertragsbruch. Das kann man nicht hin-nehmen. Es gibt zwischen Nordrhein-Westfalen, demSaarland und der Bundesregierung einen Vertrag, dernoch von Ihnen abgeschlossen wurde. Bis zum Jahre2005 tritt eine Halbierung der Subventionen für denSteinkohlenbergbau ein.Ich muß Ihnen –, weil Sie eben so technologie-freundlich geklungen haben, sagen: Wer gegen dieSteinkohle so wettert wie Sie – ich bin gespannt, was derwerdende Ministerpräsident im Saarland demnächst ma-chen wird –, der sollte bedenken, daß daran Tausendevon Arbeitsplätzen im Zuliefererbereich hängen. DieHochtechnologie Steinkohlenbergbau, Bergbautechnikund Steinkohlenkraftwerkstechnik, ist weltweit nachge-fragt und ein Wachstumsmarkt. Diesen wollen Sie ver-nichten, indem Sie sagen: Wir müssen den Steinkohlen-bergbau dichtmachen. – Ich sage das an die Adresse vonFrau Merkel, damit Sie darüber nachdenken können.
Noch ein letzter Punkt: Es ist wieder behauptet wor-den, daß der Titel für Forschung keine Zuwächse auf-wiese. Das ist falsch. Sie müssen sich nun wirklich ein-mal die Mühe machen, die mittelfristige Finanzplanunganzusehen. Das ist doch nicht so schlimm: Es ist ge-druckt und kann in einer Minute gelesen werden. Imnächsten Jahr sind es allein bei Frau Bulmahn 735 Mil-lionen DM mehr. Hinzu kommt noch etwas für denWirtschaftsminister, wie Sie wissen.Diese Beträge steigen ständig an, und zwar bis über1 Milliarde DM. Im Jahre 2002 werden es etwa 1,3 Mil-liarden DM sein. Das sind Steigerungsraten; das kannich erkennen. Aber Sie sagen: Nein, da ist wiederumnichts. – Deshalb müssen wir abwarten, was sich in denBeratungen ergibt.
Wir wünschen, daß wir im Haushaltsausschuß wieimmer sehr sachlich beraten.
– Sie waren doch noch nie im Haushaltsausschuß gewe-sen, vielleicht einmal als Gast. Sie haben aber nicht ver-standen, um was es da ging. Der Kollege Kalb oder dereine oder andere könnte es Ihnen sicherlich bestätigen,daß es dort wirklich sehr sachlich zugeht.Ich lade Sie zur Mitarbeit ein. Arbeiten Sie mit uns!Dann werden wir sehen, daß dabei ein guter Haushaltfür das Jahr 2000 verabschiedet wird. Möglicherweisegeschieht dies sogar mit Ihren Stimmen, damit auch dieInvestitionen in einer Größenordnung von 58 MilliardenDM zur Arbeitsplatzsicherung und zur Schaffung neuerArbeitsplätze erhalten bleiben.Glück auf und ein schönes Wochenende!
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. September 1999 5069
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Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/1400, 14/1401 und 14/1523 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen, wobei der Entwurf des Haushaltssanie-
rungsgesetzes auf Drucksache 14/1523 zusätzlich an den
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie und an den
Verteidigungsausschuß überwiesen werden soll. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, am
Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen
eine gute Heimreise in Ihre Wahlkreise. Ich wünsche
auch den anwesenden Zuhörern und Zuhörerinnen ein
gutes Wochenende.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 29. September 1999, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.