Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Nach 57 Jahren versammeln wir uns als frei gewählte Abgeordnete des ganzen deutschen Volkes hier im Reichstag in Berlin.
Ein freies und geeintes Parlament in einem freien und geeinten Berlin, in einem freien und geeinten Deutschland — welch ein Tag in der parlamentarischen Geschichte unseres Landes!Ich begrüße alle hier im Plenarsaal anwesenden Damen und Herren, insbesondere die 144 von der Volkskammer in den Bundestag gewählten Kolleginnen und Kollegen,
zusammen mit jenen, die bis zum 3. Oktober in der Volkskammer außergewöhnliche parlamentarische Arbeit geleistet haben.Auf der Tribüne hat der Herr Bundespräsident Platz genommen.
Ich begrüße Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, ganz besonders herzlich zu dieser Sitzung des Deutschen Bundestages. Ihre Anwesenheit unterstreicht für uns die Bedeutung dieser ersten Sitzung, die wir gemeinsam mit unseren neuen Kolleginnen und Kollegen hier im Berliner Reichstag erleben können.Ich begrüße auf der Tribüne den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Enrique Baron Crespo mit den deutschen Europaabgeordneten.
Durch Sie, Herr Präsident, und unsere Abgeordneten wird die Einbindung Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft und damit in die friedvolle und partnerschaftliche Politik mit allen unseren Nachbarn sichtbar.Ich begrüße die ehemaligen Stadtkommandanten, denen ich für ihre langjährige verantwortungsvolle Arbeit danke.
Wir danken den Schutzmächten des über 40 Jahre freien Teils dieser Stadt: den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und Frankreich, deren entschlossene Präsenz den Frieden und die Freiheit im freien Teil Berlins garantiert hat.
Wir danken aber auch dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow für seinen mutigen Beitrag zur friedlichen Lösung der deutschen Frage.
Ich begrüße auch herzlich die Botschafter, die an unserer Sitzung heute teilnehmen. Wir sind uns bewußt, mit welchen Erwartungen an die Zukunft die Welt in diesen Tagen auf Deutschland schaut.
Ich begrüße den Herrn Regierenden Bürgermeister und die Mitglieder des Senats von Berlin.
Unter den zahlreichen weiteren Ehrengästen begrüße ich mit besonderer Freude auch den früheren Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik, den Kollegen Herrn Josef Felder.
Sie haben es sich trotz Ihres hohen Alters nicht nehmen lassen, an diesem Tag die Reise von München nach Berlin anzutreten. Für Sie, sehr geehrter Herr Felder, wird es eine tiefe Genugtuung sein, nach 57 Jahren die Sitzung eines deutschen Parlaments in diesem Hause zu erleben, dessen Mitglieder die frei gewählten Vertreter des deutschen Volkes sind. Wir wissen, was Ihnen dieser Tag bedeutet.Ich möchte nicht versäumen, aus diesem Anlaß auch den hochbetagten ehemaligen Reichstagsabgeordneten Herrn Hugo Karpff von hier aus zu grüßen,
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18016 Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Präsidentin Dr. Süssmuthder gleichfalls gern bei uns gewesen wäre, aber dessen Gesundheit dies nicht mehr zuläßt.Ich begrüße herzlich die Altbundespräsidenten Scheel und Professor Carstens,
die ehemaligen Bundestagspräsidenten von Hassel und Barzel
und ihre Nachfolger im Amt, die noch Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind, Annemarie Renger, Richard Stücklen und Philipp Jenninger.
Mein Gruß gilt sodann den Präsidenten der Landtage, den ehemaligen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates und zahlreichen ehemaligen Kollegen. Sie alle sind uns herzlich willkommen.
Dieser Reichstag steht für Aufstieg und Fall der Demokratie in Deutschland. Von einem Balkon dieses Gebäudes aus hat am 9. November 1918 Philipp Scheidemann die Republik ausgerufen.
Der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933, der das Gebäude weitgehend zerstörte, gab das Signal zu der ersten großen Welle der Verfolgung von Gegnern des Nationalsozialismus. Am Ende des Krieges war dieses Haus nur noch eine Ruine, bis schließlich 1956 der Beschluß gefaßt wurde, es wiederherzustellen und für parlamentarische Zwecke zu nutzen.Auf dem Westgiebel dieses Gebäudes steht die Inschrift „Dem Deutschen Volke". Wir haben dies in der Zeit der Trennung immer als eine Mahnung empfunden, für die Verwirklichung der Demokratie in ganz Deutschland einzutreten. Mit der heutigen Sitzung kann dieses Haus wieder seiner eigentlichen Bestimmung, der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, dienen. Hier soll für das Wohl des ganzen deutschen Volkes gearbeitet werden.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, am Beginn eines neuen Abschnitts unserer parlamentarischen Arbeit wollen wir all derer gedenken, die als ehemalige Mitglieder des Reichstages
der Weimarer Republik in der Zeit der Diktatur seit 1933 Opfer der Gewaltherrschaft wurden und ihr Leben lassen mußten. Mehr als 100 Reichstagsmitglieder fanden den Tod, sind in den Haftanstalten und nationalsozialistischen Konzentrationslagern umgekommen, wurden ermordet, hingerichtet, in den Tod getrieben, starben an den Folgen der Haft. Viele wurdenOpfer kommunistischer Säuberungen in der StalinÄra. Wir gedenken aller Opfer der Nationalsozialisten, und wir gedenken der Opfer des SED-Regimes, der Opfer von Mauer und Stacheldraht.Lassen Sie uns der Opfer und ihrer Angehörigen, die mit ihnen leiden und sterben mußten, erinnern, indem wir ihrer mit einer Minute des Schweigens gedenken.Meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Berlin, der Reichstag, ist der Ort, an dem wir uns erneut als Parlamentarier verpflichten, Garanten der Menschenrechte zu sein. Freie Parlamentarier und freie Parlamente sind die Garanten für den Schutz der Menschenrechte, der Freiheit und Würde der Person. Unsere Geschichte legt uns im Innern wie nach außen eine besondere Verantwortung auf: Sie fordert von uns, für Frieden und den Schutz der Menschenrechte einzutreten. Sie verlangt von uns, allezeit die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.In den vergangenen Wochen und Monaten haben die beiden Regierungen und Parlamente große Arbeit geleistet, um die Voraussetzungen für die Vereinigung, die Wiedererrichtung der fünf neuen Bundesländer, die Herstellung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und die Errichtung einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung zu schaffen. Hier wurde aus dem Stand heraus parlamentarische Demokratie praktiziert, ein schwieriges, aber lohnendes Unterfangen. Die ausgeschiedenen Kolleginnen und Kollegen der Volkskammer haben Außergewöhnliches geleistet. Wir danken ihnen.
In unser aller Namen danke ich den ehemaligen Mitgliedern des Deutschen Bundestages, die zum großen Teil viele aktive Lebensjahre eingebracht haben für eine stabile, demokratische und soziale staatliche Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland. Mit Leidenschaft und Hingabe haben sie für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands gewirkt. Welch ein großer Tag gerade für sie ist dieser heutige Tag.Wir danken den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments und hoffen auf ein rasches Zusammenwachsen in Europa mit erweiterten parlamentarischen Kompetenzen für das Europäische Parlament.
Aber ich denke, bei allem genauen Wissen um unsere Funktion als Parlamentarier, heute ist auch der Tag, nicht nur den Volkskammer-Abgeordneten, sondern auch der Regierung der DDR zu danken für schwierige Arbeit in schwieriger Zeit. Bitte geben Sie, Herr de Maizière, diesen Dank an Ihre früheren Kabinettsmitglieder weiter.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18017
Präsidentin Dr. SüssmuthDer Dank gilt nicht weniger der Bundesregierung, dem Bundeskanzler
und vor allem jenen Kabinettsmitgliedern, die diesen Einigungsprozeß innen- und außenpolitisch ermöglicht haben.
Dank an die Kollegen aus allen Fraktionen, die sehr konstruktiv und phantasiereich am Gelingen der Einigungsverträge in Tag- und Nachtarbeit mitgewirkt haben.
Von nun an hat sich der Deutsche Bundestag als das gesamtdeutsche Parlament den Aufgaben zu stellen, die sich aus der Vereinigung ergeben. Wir werden dabei in besonderem Maße auf das spezielle Wissen der Kolleginnen und Kollegen aus Berlin und Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen angewiesen sein. Wir brauchen ihre spezifische Erfahrung und sagen ihnen zu: Sie sind gleichberechtigte Mitglieder — das ist selbstverständlich — dieses Parlaments.
Die staatliche Einheit ist hergestellt. Für die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Einheit ist der Grundstein gelegt. Jetzt gilt es, Schäden zu beseitigen, Wunden zu heilen, die Folgen 40jähriger Trennung und Unfreiheit zu überwinden. Dazu bedarf es der gemeinsamen Geduld, des Augenmaßes und der Solidarität. Dazu bedarf es der großen Anstrengung aller Verstandeskräfte, aber auch des Herzens. Es ist ein guter Weg zum Wohle unseres ganzen Volkes. Wir alle wollen jetzt gemeinsam mit Mut und Zuversicht ans Werk gehen.Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns allen dazu Glück, Erfolg und Gottes Segen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, meine Damen und Herren, möchte ich Ihnen noch einige Mitteilungen machen.Herr Kollege Porzner hat am 2. Oktober 1990 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Sein Nachfolger, Herr Kollege Weinhofer, hat am 3. Oktober 1990 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den aus früheren Wahlperioden bekannten Kollegen sehr herzlich.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN:Anzahl der Mitglieder des Präsidiums des Deutschen Bundestages— Drucksache 11/7067 —2. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes sowie zur Änderung des Parteiengesetzes— Drucksache 11/8023 —3. Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes— Drucksache 11/8033 —4. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. September 1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland— Drucksache 11/8024 —Zugleich soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.Zur Tagesordnung ist ein Geschäftsordnungsantrag des Abgeordneten Wüppesahl eingegangen.
Danach soll das Bundeswahlgesetz heute abgesetzt und ein anderer Punkt aufgesetzt werden. Damit können wir uns gegebenenfalls vor Aufruf des Zusatztagesordnungspunktes 2 befassen. Ich denke, Sie sind damit einverstanden.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung von BundesministernDer Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom 3. Oktober 1990 folgendes mitgeteilt:Gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf Vorschlag des Bundeskanzlers Frau Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Bundesministerin für besondere Aufgaben und Herrn Lothar de Maizière, Herrn Dr. Günther Krause, Herrn Prof. Dr. Rainer Ortleb und Herrn Prof. Hans-Joachim Walther zu Bundesministern für besondere Aufgaben ernannt.
Wir kommen jetzt zur Eidesleistung der ernannten Bundesminister für besondere Aufgaben.
— Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bitten, sich zurückzuhalten, damit wir die Eidesleistung jetzt vornehmen können.Nach Art. 64 des Grundgesetzes leisten die Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid.
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18018 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Präsidentin Dr. SüssmuthFrau Bundesministerin Dr. Bergmann-Pohl, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten. Ich bitte Sie, den vorgeschriebenen Eid zu leisten.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mit Gott helfe.
Ich beglückwünsche Sie ganz herzlich und wünsche Ihnen Erfolg.
Ich darf nun Herrn Bundesminister de Maizière zu mir bitten und auch ihn um die Eidesleistung bitten.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herzlichen Glückwunsch und alles Gute.
Herr Bundesminister Dr. Krause, darf ich Sie zu mir bitten. Ich möchte auch Sie bitten, die Eidesformel zu sprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister, herzlichen Glückwunsch, Gottes Segen und viel Erfolg.
Herr Bundesminister Prof. Dr. Ortleb, darf ich auch Sie bitten, die Eidesformel zu sprechen.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine
Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herzlichen Glückwunsch, viel Erfolg und Gottes Segen.
Herr Bundesminister Prof. Dr. Walther, darf ich auch Sie bitten, die Eidesformel zu sprechen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herzlichen Glückwunsch, viel Erfolg und Gottes Segen.
Meine Damen und Herren, die Bundesminister haben den vom Grundgesetz vorgeschriebenen Eid vor dem Deutschen Bundestag geleistet.
Für Ihre neuen Aufgaben spreche ich Ihnen die besten Wünsche des Hauses aus.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Politik der ersten gesamtdeutschen Bundesregierung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Plenarsitzung des gesamtdeutschen Bundestages beginnt die parlamentarische Arbeit im vereinten Deutschland. Vor uns liegen innen- wie außenpolitisch große Aufgaben, die in der kommenden Zeit unsere ganze Kraft beanspruchen werden.Ich darf auch meinerseits und namens der Bundesregierung die neuen Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich begrüßen, die jetzt im Deutschen Bundestag die Bevölkerungen von Brandenburg, von Mecklenburg-Vorpommern, von Sachsen, von Sachsen-Anhalt, von Thüringen und dem Ostteil Berlins repräsentieren.
In den vergangenen Wochen und Monaten haben sie,ebenso wie alle anderen Mitglieder der Volkskammer
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18019
Bundeskanzler Dr. Kohlund wie die Regierung der bisherigen DDR unter Führung von Ministerpräsident Lothar de Maizière, unter schwierigsten Bedingungen ein großes Arbeitspensum bewältigt. Dafür gebührt ihnen allen unser Respekt, unser Dank und unsere Anerkennung.
Meine Damen und Herren, in wenigen Wochen geht die Legislaturperiode des 10. Deutschen Bundestages zu Ende.
— Meine Damen und Herren, wenn Sie beim Blick auf die 8 Jahre meiner Regierungszeit nur dies als Fehler entdecken, gönne ich Ihnen das.
Am 2. Dezember wählen alle Deutschen gemeinsam ihr neues Parlament. Ich will mich daher heute bei dieser Erklärung auf jene Fragen konzentrieren, die gerade vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung unseres Landes vordringlich sind.Mit der heutigen Regierungserklärung will ich darüber hinaus die Grundsätze erläutern, von denen sich die Bundesregierung leiten läßt. Die Politik der Bundesregierung wird geprägt sein vom Bewußtsein für die deutsche Geschichte in allen ihren Teilen und der daraus folgenden Verantwortung. Nur wer seine Herkunft kennt und sich zu ihr bekennt, hat einen Kompaß für die Zukunft.Wir vergessen nicht, wem wir die Einheit unseres Vaterlandes zu verdanken haben. Viele haben dazu beigetragen, zu allererst die Menschen in der bisherigen DDR. Gerade hier in Berlin möchte ich die Vereinigten Staaten von Amerika nennen, allen voran Präsident George Bush.
Ich nenne auch unsere französischen Freunde, und ich nenne unsere Freunde in Großbritannien.Wir danken allen unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis für ihre Solidarität.
Dank schulden wir vor allem auch den Bürgerrechts- und Reformbewegungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.
Vor gut einem Jahr ließ Ungarn die Flüchtlinge ausreisen. Damals wurde der erste Stein aus der Mauer geschlagen. Die Freiheitsbewegungen in Polen und in der Tschechoslowakei haben den Menschen in der DDR Mut gemacht, für ihr Recht auf Selbstbestimmung einzutreten.Präsident Michail Gorbatschow hat einen unschätzbaren Beitrag zur Überwindung der Teilung unseres Vaterlandes geleistet.
Er hat das Recht der Völker auf den eigenen Weg anerkannt. Ohne das neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik hätten wir den Tag der Deutschen Einheit nicht so bald erlebt.
Wann je, meine Damen und Herren, hatte ein Volk die Chance, Jahrzehnte der schmerzlichen Trennung auf so friedliche Weise zu überwinden? Ohne Krieg und Gewalt, ohne Blutvergießen, in vollem Einvernehmen mit unseren Nachbarn und Partnern und mit ihrer Zustimmung haben wir die Einheit Deutschlands in Freiheit wiederherstellen können. Dies ist ein wichtiges Kapital für die Zukunft unseres Volkes.Das vereinte Deutschland sieht sich in der Tradition jener freiheitlichen Strömungen unserer Geschichte, die weder Krieg noch Gewaltherrschaft auszulöschen vermochten. Zu dieser Tradition zählt das Hambacher Fest ebenso wie die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.Meine Damen und Herren, hier im Reichstag denken wir heute gerade auch an jene, die die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, gegen ihre Feinde von rechts und von links bis zum bitteren Ende in Schutz nahmen.Wer könnte jemals das unerschrockene Bekenntnis zur Demokratie vergessen, mit dem Otto Wels, der Vorsitzende der SPD-Reichstagsfraktion, dem nationalsozialistischen Machtanspruch trotzte?
Seine Rede in der Kroll-Oper — nach dem Brand des Reichstages — am 23. März 1933, die mit einem Gruß an die „Verfolgten und Bedrängten" schloß, wurde zu einem ergreifenden Zeugnis freiheitlicher Gesinnung.Mit besonderer Dankbarkeit erinnern wir uns des deutschen Widerstandes gegen Hitler, eines Widerstandes aus allen Gruppen unseres Volkes. Ich nenne hier besonders die mutigen Männer und Frauen des 20. Juli 1944. Im Kampf für ein friedliches, für ein freies und der Menschenwürde verpflichtetes Deutschland gaben viele ihr Leben hin.Das Grundgesetz, unsere Verfassung, gilt jetzt „für das gesamte Deutsche Volk". So heißt es nun in der Präambel. Damit stellen sich alle Deutschen bewußt auch in die Tradition der Väter und Mütter unserer Verfassung, die sich damals von dem doppelten Schwur leiten ließen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Diktatur! — Stellvertretend nenne ich hier Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Theodor Heuss — und hier in Berlin vor allem auch den unvergessenen Ernst Reuter.
In das Selbstverständnis des vereinten Deutschland geht auch die Erinnerung an den 17. Juni 1953 ein. Wir denken an all jene Deutschen, die in der ehemaligen DDR im Kampf für die Freiheit Gesundheit und Leben aufs Spiel setzten und oft auch verloren. Ihr Vermächtnis erfüllte sich in der friedlichen Revolution, mit der das SED-Regime überwunden wurde.
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18020 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Bundeskanzler Dr. KohlMeine Damen und Herren, wenn wir uns zur deutschen Geschichte in allen ihren Teilen bekennen, dann wollen wir auch nicht ihre düsteren Kapitel ausblenden. Niemals darf vergessen, verdrängt oder verharmlost werden, welche Verbrechen in diesem Jahrhundert von deutscher Hand begangen worden sind, welches Leid Menschen und Völkern zugefügt wurde. Indem wir diese geschichtliche Last gemeinsam tragen, erweisen wir uns auch der gemeinsamen Freiheit würdig. Die Erinnerung auch an das dunkelste Kapitel unserer Geschichte wachzuhalten, schulden wir den Opfern. Wir schulden es vor allem den Opfern des Holocaust, des beispiellosen Völkermords an den europäischen Juden.Uns leitet auch in dieser Stunde der feste Wille, über die Gräben der Vergangenheit Brücken zu bauen für ein gemeinsames Werk der Verständigung, des Friedens und der Versöhnung im Geiste der Menschenrechte. Das gilt für alle Bereiche — im Innern wie nach außen.Kontinuität und Neubeginn — das vereinte Deutschland steht für das eine wie für das andere. Wir können auf den bewährten Grundlagen aufbauen, die in der Bundesrepublik errichtet und entwickelt wurden, und wir halten fest an unserem Engagement für die europäische Einigung, für den Bau der vereinigten Staaten von Europa und in der Atlantischen Allianz.Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch, daß wir nach der staatlichen Wiedervereinigung in vieler Hinsicht erst am Anfang stehen. Wirtschaftliche und soziale Fragen sind jetzt dringlich, aber sie sind wahrlich nicht die einzigen, die wir lösen müssen. Ich denke vor allem auch an die schwerwiegenden Folgen, die vier Jahrzehnte kommunistischer Diktatur im geistigen Leben und in den Seelen der Menschen hinterlassen haben.Die meisten Menschen — in der DDR und in der Bundesrepublik — hatten sich in all der Zeit, die wir erlebt haben, ein waches Bewußtsein dafür bewahrt, daß wir als Deutsche zusammengehören. Ihre Herzen schlugen für die Freiheit und für die Einheit. Die friedliche Revolution im vergangenen Herbst hat dafür auf bewegende Weise Zeugnis abgelegt.Das ändert nichts daran, daß über vier Jahrzehnte hinweg die Deutschen in Ost und West ihr Leben unter ganz unterschiedlichen Bedingungen gestalten mußten, daß sie von völlig verschiedenen, manchmal auch durchaus gegensätzlichen Erfahrungen geprägt wurden. Wir müssen deshalb mit Verständnis und mit gegenseitiger Achtung aufeinander zugehen. Dabei dürfen wir einander nicht überfordern. Gefragt sind Offenheit und Toleranz und die Bereitschaft, einander besser begreifen zu lernen.Die Diktatur der SED mit ihrem Stasi- und Propagandaapparat, mit ihrem praktisch alles erstickenden Geflecht aus Unterdrückung und Verführung hat gerade auch in den Herzen der Menschen Wunden geschlagen. Gezielt versuchten die kommunistischen Machthaber, Menschen gegeneinander auszuspielen, Vertrauen zu zerstören und Haß zu säen.Wir dürfen jetzt nicht zulassen, daß noch im nachhinein diese Saat der SED aufgeht.
Das heißt, meine Damen und Herren, wir müssen unbeirrt den Weg des Rechtsstaates gehen. Denn nur im Rechtsstaat verbindet sich die Forderung nach Gerechtigkeit mit dem Willen zum inneren Frieden. Wer schwere Schuld auf sich geladen hat, der wird die Konsequenzen dafür tragen müssen. Er wird zur Rechenschaft gezogen werden. Um jedoch für unser Volk den inneren Frieden zu gewinnen, müssen wir auch die Kraft zur inneren Aussöhnung aufbringen.Mir ist durchaus bewußt, wie schwierig das ist, vor allem für viele, die gelitten haben. Wir alle müssen uns dieser Herausforderung stellen. Ich sage ganz bewußt, meine Damen und Herren: wir alle. Denn in einem vereinten Deutschland müssen wir die Lasten gemeinsam tragen, auch jene, die aus der Vergangenheit stammen. Wir würden sonst die Barrieren, die wir niedergerissen haben, in unserem Denken nur neu aufrichten und befestigen. Deutschland zusammenzuführen — in jeder Hinsicht: geistig-kulturell, wirtschaftlich, sozial — , das ist die umfassende Aufgabe der kommenden Jahre.Dabei hat jeder Wichtiges und Bedeutendes einzubringen: die Deutschen in der bisherigen Bundesrepublik außer ihrer erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialordnung eben auch noch anderes, vor allem eine bewährte freiheitliche und rechtsstaatliche Verfassung, unser Grundgesetz, das jetzt in ganz Deutschland gilt. Die Menschen in der bisherigen DDR bringen insbesondere das Selbstbewußtsein jener ein, die sich in einer friedlichen Revolution gegen eine Diktatur durchgesetzt haben. Mit ihrem unverstellten Blick für den Wert der Freiheit schärfen sie vielen den Blick dafür, welch kostbares Gut das ist: eine freiheitliche Demokratie in einem vereinten Vaterland.
Freiheit und Verantwortung gehören unauflöslich zusammen. Deshalb gilt es, jene Institutionen zu stärken, die den Menschen Halt und Orientierung geben. Liebe und Geborgenheit werden zuallererst in der Familie erfahren. Sie ist und bleibt der wichtigste Ort für die persönliche Entwicklung und für die Vermittlung von Werten und Tugenden.
Der Staat muß die Familie bei der Erfüllung dieser Aufgaben unterstützen. Er darf sich niemals anmaßen, die Familie ersetzen zu wollen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, zum Beitrag der Länder zwischen Elbe und Oder, zwischen Rügen und der Sächsischen Schweiz gehört nicht zuletzt ein unschätzbares kulturelles Erbe. Es sind alte, traditionsreiche Landschaften mit einzigartigen Zeugnissen unserer Geschichte.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18021
Bundeskanzler Dr. KohlDie Schlösser in Schwerin oder in Potsdam, die großartigen Figuren des Naumburger Doms, die SemperOper in Dresden, sie alle stehen für das eine Deutschland. Auf der Wartburg übersetzte Luther die Bibel für alle Deutschen, und Weimar ist weltweit auch zum Synonym der deutschen Klassik geworden. Wir freuen uns, daß diese Stätten unserer gemeinsamen Geschichte und Kultur wieder für alle zugänglich sind.
Aber dieses Erbe — das zugleich ein europäisches Erbe ist — nimmt uns auch gemeinsam in die Pflicht. Insbesondere müssen wir dafür sorgen, daß die Kulturinstitutionen von europäischem Rang auf dem Gebiet der bisherigen DDR ihre Bedeutung für Deutschland und Europa behalten. Ich weiß um die Verantwortung, die die Bundesregierung — unbeschadet der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder — für das Fortbestehen dieser Einrichtungen trägt. Wir werden uns in diesem Sinne auch zu verhalten haben.
Das Bewußtsein der Menschen für die Einheit unserer Nation hat sich niemals auf die kulturelle Dimension beschränken lassen. Sie wollten als ein Volk in einem vereinten und freien Deutschland leben. Jetzt, meine Damen und Herren, kommt es darauf an, daß Deutschland auch wirtschaftlich und sozial möglichst rasch wieder eins wird. Das wird uns große Anstrengungen abfordern, und dafür werden wir auch Opfer bringen müssen.Aber ich weiß: Wir werden es schaffen, wenn wir jetzt zusammenstehen.
In diesem entscheidenden Augenblick unserer Geschichte müssen wir mehr denn je zu Solidarität fähig sein.Dann werden wir auch die tiefe geistige, wirtschaftliche und ökologische Krise überwinden, die der Kommunismus und Sozialismus in der bisherigen DDR hinterlassen haben. Es kommt darauf an, daß wir jetzt offen Bilanz ziehen — und daß wir zugleich mit dem Aufbruch beginnen. Jeder weiß: Die Hinterlassenschaft der SED-Diktatur ist verheerend.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die wirtschaftliche Lage in der DDR wird bestimmt durch den schwierigen Übergang von der sozialistischen Kommandowirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft. Diese Aufgabe ist ohne Beispiel. Nachdem sich zwei unvereinbare Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen über Jahrezehnte hinweg auseinanderentwickelt haben, geht es jetzt und heute darum, die Zukunft in Freiheit gemeinsam zu gestalten. Ich bin sicher, wir haben alle Chancen, diese Herausforderung gemeinsam erfolgreich zu bestehen.So müssen sich Wirtschaft und Unternehmen durchgreifend ändern und neu orientieren; denn viele der bisherigen Industriegüter können sich im internationalen Wettbewerb nicht behaupten. Dienstleistungen — etwa im Handel, Finanzwesen und Tourismus — wurden stark vernachlässigt.Vollbeschäftigung gab es im real existierenden Sozialismus nur zum Schein. In Wahrheit bestand in nahezu jedem Betrieb und jeder Verwaltung das, was man als verdeckte Arbeitslosigkeit bezeichnet. Allein der öffentliche Dienst war fast doppelt so stark besetzt wie in der Bundesrepublik. Und niemand wird behaupten, daß der öffentliche Dienst in der Bundesrepublik zu schwach besetzt sei.
— Ich weiß nicht, warum gerade Sie von der SPD hier Einwände machen. Bei der Ausweitung des öffentlichen Dienstes waren Sie immer Weltmeister. Das war immer ein Teil Ihrer Geschichte.
Wer dann noch veraltete Produktionsanlagen und verbreitete Energieverschwendung hinzunimmt, den wundert es nicht, daß die Produktivität nur etwa 40 des Niveaus der bisherigen Bundesrepublik beträgt. Hier wollen wir gemeinsam durch eine zügige Modernisierung der Betriebe und durch nachhaltig verstärkte Umschulung und Weiterbildung der Arbeitnehmer Abhilfe schaffen. Mit massiven Maßnahmen zur Weiterqualifizierung, zu Investitionszulagen und regionalen Wirtschaftshilfen geben wir die notwendige Unterstützung. Mit der jetzt vorgesehenen Wirtschaftsförderung kann ein Investitionsvolumen von rund 50 Milliarden DM sehr bald verwirklicht werden.Wie groß die Investitionsbereitschaft ist, zeigt nicht zuletzt die jüngste Umfrage des Ifo-Instituts. Danach will rund die Hälfte der befragten Unternehmen bereits bis Ende kommenden Jahres, also in den nächsten 15 Monaten, in der bisherigen DDR investieren.Wirksame Hilfen zur Umstrukturierung erhalten ebenso die Landwirtschaft und die Ernährungswirtschaft. Enteignung und Staatsdirigismus haben oft gigantische, aber häufig unproduktive Betriebe entstehen lassen. Die jetzt notwendige Neuorientierung bietet leistungsfähigen landwirtschaftlichen Betrieben eine faire Chance, sich im Markt zu behaupten, und neben Familienbetrieben gehören dazu auch Genossenschaften.Meine Damen und Herren, mit der Einheit Deutschlands ist die Landwirtschaft der bisherigen DDR zugleich voll in den europäischen Agrarmarkt integriert. Dank günstiger Standortbedingungen verfügen die Landwirte in ganz Deutschland über gute Voraussetzungen im europäischen Markt zu bestehen. Aber jeder von uns weiß, daß wir hier noch erhebliche Übergangsprobleme mit Auswirkungen auch auf das Gebiet der bisherigen Bundesrepublik zu bewältigen haben.Gemeinsame Anstrengungen brauchen wir ferner im Blick auf Wohnungsbau und Infrastruktur. Jeder kann, wenn er durch die Städte und Gemeinden der bisherigen DDR geht, sich ein Bild davon machen, wie sehr Häuser, ja ganze Stadtteile vom Verfall bedroht sind. Dieser Entwicklung wollen wir Einhalt gebieten. Das neue Wohnungsbaumodernisierungsprogramm für die ehemalige DDR bietet hierfür konkrete Hilfen.18022 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin. Donnerstag. den 4. Oktober 1990Bundeskanzler Dr. KohlZu ungewöhnlich günstigen Bedingungen steht jetzt ein Kreditvolumen von rund 10 Milliarden DM zur Verfügung. Nicht zuletzt aus dieser Sicht eröffnet die Bauwirtschaft neue Beschäftigungsperspektiven für viele, die sich jetzt auch beruflich neu orientieren müssen.Auch für den westlichen Teil Deutschlands haben wir eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, um die Wohnungsengpässe, vor allem in Ballungsgebieten, beseitigen zu können. Bis 1992 werden eine Million neue Wohnungen gebaut werden können, davon weit über ein Drittel Sozialwohnungen. Zur weiteren sozialen Flankierung haben wir gerade das Wohngeld noch einmal nachhaltig verbessert.
Meine Damen und Herren, für das Gebiet der bisherigen DDR haben wir ein umfassendes Infrastrukturprogramm eingeleitet. Dabei geht es vorrangig darum, das Straßen-, Schienen- und Telefonnetz instand zu setzen und vor allem zu modernisieren. Nur mit einer leistungsfähigen Infrastruktur kann eine dauerhafte wirtschaftliche Erholung einhergehen. Wir müssen sehr bald dahin kommen, daß es genauso einfach ist, von Dresden nach Rostock zu telefonieren wie heute etwa von Köln nach München.Um dieses Ziel so rasch wie möglich zu erreichen, hat die Bundespost Milliardeninvestitionen beschlossen. Bis 1997 sind für den Ausbau des Fernmeldenetzes rund 55 Milliarden DM vorgesehen, davon allein über 7 Milliarden DM in den nächsten 18 Monaten. Das bedeutet: In der bisherigen DDR werden jetzt jährlich bis zu eine Million neue Telefonanschlüsse hergestellt.
Parallel müssen wir für den Ausbau eines modernen Straßen- und Schienennetzes große Anstrengungen unternehmen und besondere Ideen entwickeln. Der Infrastruktur dient zugleich das neue Gemeindeinvestitionsprogramm mit einem Projektvolumen von 10 Milliarden DM. Es unterstützt Kreise, Gemeinden und Städte vor allem dabei, Gewerbeflächen zu erschließen, kommunale Verkehrswege zu verbessern, Stadt- und Dorferneuerung zu ermöglichen sowie Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen zu modernisieren. Ich fordere Städte und Gemeinden auf, für solche Aufgaben auch die bereitstehenden Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verstärkt zu nutzen. Mit ihnen läßt sich Arbeitslosigkeit kurzfristig verringern, und dringende Arbeiten können mit geringem Kostenaufwand für die Städte und Gemeinden schon jetzt in Angriff genommen werden.
Im übrigen unterstreiche ich: Mit dem Einigungsvertrag verfügen die Städte, Kreise und Gemeinden über die Voraussetzungen, unverzüglich Grundstücke und Gebäude für arbeitsplatzschaffende Investitionen bereitzustellen.
Von dieser Regelung soll und muß jetzt im Interesse der Beschäftigung sofort Gebrauch gemacht werden.Noch größerer Handlungsbedarf besteht beim Schutz von Natur und Umwelt. Viele Böden sind vergiftet, Seen und Flüsse oft verseucht oder ökologisch tot. Das Trinkwasser ist häufig hoch belastet. Das SED-Regime hat zu verantworten, daß es in der ehemaligen DDR bis zuletzt höhere Belastungen mit Schwefeldioxid und Kohlendioxid gab als irgendwo sonst in der Welt.Die Kernkraftwerke entsprechen in keiner Weise unseren Sicherheitsanforderungen.
Daß die DDR-Regierung diese Kraftwerke sogar nach Tschernobyl weiter betrieben hat, war unverantwortlich.
Inzwischen haben wir bereits vier der fünf Kernkraftwerke abgeschaltet. Der letzte Kernkraftwerksblock in Greifswald wird in Kürze ebenfalls vom Netz genommen werden.
Dies wird die Stromversorgung nicht in Frage stellen. Mit dem kürzlich abgeschlossenen Stromvertrag wird vielmehr der rasche Aufbau einer leistungsfähigen und umweltfreundlichen Stromerzeugung und -versorgung durch private Energieversorgungsunternehmen sichergestellt.
Allein in den nächsten fünf Jahren werden hierfür mehr als 20 Milliarden DM investiert.Meine Damen und Herren, für uns gehören wirtschaftlicher Aufschwung und ökologischer Neubeginn zusammen. Besonders gesundheits- und umweltbelastende Betriebe und Betriebsteile wurden inzwischen geschlossen. Mit Nachdruck arbeiten wir an einem ökologischen Sanierungs- und Entwicklungsprogramm, vor allem für hoch belastete Gebiete wie Bitterfeld und Espenhain, für die Region um Mansfeld, für das Obere Elbtal. Einmal mehr erweist sich, wie sehr die Leistungskraft der Wirtschaft Voraussetzung für Entwicklung und Einsatz modernster Umwelt- und Sicherheitstechnik ist.Ohne eine leistungsfähige Wirtschaft ist auch nicht denkbar, was viele inzwischen für selbstverständlich halten: ein tragfähiges Netz sozialer Sicherung. Was hier aufzuholen ist, zeigt zuallererst die Situation der Rentner in der bisherigen DDR. Ihre Renten waren niedrig und wurden überdies nur unzureichend an die Lohnentwicklung der Arbeitnehmer angepaßt. Wir haben sichergestellt, daß die Rentner — wie schon bisher in der Bundesrepublik — an der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung ihren gerechten Anteil haben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18023
Bundeskanzler Dr. KohlAuch in der bisherigen DDR muß gelten, daß die Rente angemessener Lohn für ein ganzes Arbeitsleben ist.
Im Gesundheitswesen gab es in der ehemaligen DDR ein Zweiklassensystem. Nur für sehr wenige Privilegierte standen Spitzenmedizin und leistungsfähige medizinische Einrichtungen zur Verfügung. Das galt keineswegs für den sogenannten Normalbürger. Wir führen jetzt unsere bewährte Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung ein, selbst wenn das mit hohen Anlaufkosten verbunden ist. Mit dem Einigungsvertrag ist gewährleistet, daß wir auf diesem wichtigen Feld Schritt für Schritt einheitliche Verhältnisse in ganz Deutschland erreichen; denn wirksame soziale Sicherung ist untrennbar verknüpft mit unserer Politik der Sozialen Marktwirtschaft.
Zur Bestandsaufnahme gehört auch die Lage der Staatsfinanzen in der bisherigen DDR. Verfügbare Mittel wurden für staatliche Prestigeobjekte, für überbesetzte Verwaltungen und für das Unterdrückungssystem ausgegeben. Statt in die Zukunft zu investieren, ist die Substanz verwirtschaftet worden. Bereits vor Jahresfrist — das kann man gar nicht häufig genug sagen — sind führende Funktionäre der SED selbst zu dem Ergebnis gekommen, daß der DDR gegenüber dem westlichen Ausland sehr kurzfristig die Zahlungsunfähigkeit drohe.Meine Damen und Herren, unter derart bedrückenden und entmutigenden Verhältnissen haben die Menschen in der DDR über 40 Jahre leben und arbeiten müssen. Um so höher wissen wir einzuschätzen, was sie in dieser Zeit dennoch geleistet haben. Wer seit über vier Jahrzehnten gleichsam auf der Sonnenseite deutscher Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland leben durfte, sollte sich dies immer bewußt machten.
Es ist zutiefst deprimierend, daß das SED-Regime die Früchte jahrzehntelanger Anstrengungen der Bürger weitgehend zunichte gemacht hat.Viele fühlen sich auch jetzt noch von denen verunsichert, die den Neubeginn mit altem Denken bewußt erschweren und verschleiern. Die alte Kommandowirtschaft ist gescheitert. Aber die Konturen der neuen Wirtschaftsordnung sind oft noch nicht klar erkennbar.Damit verbindet sich die verständliche Frage der Menschen nach der eigenen Zukunft — die Frage nach dem Arbeitsplatz, nach Einkommen oder Rente, nach der Wohnung, nach den neuen Anforderungen einer wettbewerbsorientierten Wirtschaft. Wir alle, auch ich selbst, nehmen diese Fragen und auch die Ängste ernst; es sind Fragen des persönlichen Betroffenseins, Fragen, die uns alle angehen.Daran knüpfen sich zugleich Hoffnungen und Erwartungen — Erwartungen, die manchmal über das hinausgehen, was staatliche und private Unterstützung und Hilfe kurzfristig leisten können. Wir verstehen diese Erwartungen. Wir werden alles in unserer Kraft Stehende tun, um die Folgen der Teilung soschnell wie möglich zu überwinden. Doch meine Damen und Herren, was in vier Jahrzehnten zunichte gemacht wurde, kann nicht in wenigen Wochen und Monaten aufgeholt und ausgeglichen werden.
Finanzielle Anforderungen finden dort ihre Grenze, wo die Stabilität der D-Mark und die finanzielle Solidität des Gesamtstaates berührt werden. Denn dies ist das Fundament, auf dem wir alle heute stehen und auf dem wir die gemeinsame Zukunft aufbauen wollen.Meine Damen und Herren, um so wichtiger ist es, in der öffentlichen Diskussion nicht nur nach den Kosten des Neubeginns zu fragen. Denn es ist ja ein leichtes — wir erleben es — , hier horrende Zahlen aufzuaddieren. Wer so redet, der sollte bitte auch an die Kosten der Teilung in den letzten 40 Jahren denken —
Kosten der Teilung nicht nur in der Bundesrepublik, sondern ebenso in der DDR. Er sollte denken an die vielen Milliarden für Berlin- und Zonenrandförderung, für Transitpauschalen, für Häftlingsfreikäufe — und dies Jahr für Jahr. Er sollte vor allem auch denken an die immensen Ausgaben für das Überwachungs- und Unterdrückungssystem von Stasi, von Mauer und von Stacheldraht.Wer diese Diskussion führt und diese Summen einmal in Relation zueinander setzt, der kommt bei den Kosten der Teilung sehr rasch zu Größenordnungen in vierstelliger Milliardenhöhe. Will jemand diese gigantischen Kosten der Teilung wirklich weiter in Kauf nehmen, anstatt jetzt in die Einheit unseres Vaterlandes sinnvoll und mit Augenmaß zu investieren?
Investitionen in unsere gemeinsame Zukunft haben auch mit Kosten zu tun — aber eben nicht nur mit Kosten, sondern auch mit Erträgen. Auch das ist ja eine der Erfahrungen von 40 Jahren Bundesrepublik.
So sichert und schafft der wirtschaftliche Wiederaufbau in der ehemaligen DDR Arbeitsplätze in ganz Deutschland; die jüngste Arbeitslosenstatistik zeigt dies ja überdeutlich. Von dieser zusätzlichen wirtschaftlichen Dynamik profitieren zunächst einmal vor allem westliche Lieferanten von Maschinen und Ausrüstungen. Dies trägt aber ebenso dazu bei, die bisherige DDR als Produktionsstandort rasch auszubauen. Dies, meine Damen und Herren, bedeutet zugleich: steigende Unternehmenserträge und wachsende Einkommen, die ihrerseits wieder zu höheren Staatseinnahmen führen. Auch das ist ja in klassischer Weise während der vergangenen Jahre in der Bundesrepublik deutlich geworden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, zu solchen Erträgen gehören auch Entlastungen unserer Umwelt:
18024 Deutscher Bundestag — ï 1. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990Bundeskanzler Dr. KohlWeniger Schadstoffe, vor allem in Luft und Wasser: das kommt allen zugute. Das heißt beispielsweise: jede Mark, die wir bereits in Dresden in die Wasserqualität der Elbe investieren, macht eine Sanierung bei Hamburg zwar nicht überflüssig, aber doch wesentlich einfacher und weniger kostspielig.
Wer jetzt polemisch durchs Land zieht und die Kosten der Einheit als ein beinahe unüberwindliches Hindernis darstellt, der sollte ebenso offen über die wegfallenden Kosten der Teilung sprechen und über die Erträge der Einheit — Erträge, die in den kommenden Jahren immer mehr an Gewicht gewinnen werden.
Dazu gehört, meine Damen und Herren, daß das vereinte Deutschland in der Mitte eines nicht mehr geteilten, sondern zusammenwachsenden Europas liegt. Es ist offensichtlich, daß aus dieser Brückenfunktion für uns und unsere Partner handfeste wirtschaftliche Vorteile erwachsen werden.Noch etwas gehört in den Zusammenhang von Kosten und Erträgen: Es ist einfach unredlich, den Eindruck zu erwecken, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR könne auf absehbare Zeit nichts oder nur sehr wenig aus eigener Kraft finanziert werden. Richtig ist vielmehr — das ist eine Erfahrung der frühen 50er Jahre in der Bundesrepublik — : Großzügige Hilfen am Beginn einer marktwirtschaftlichen Neuorientierung sind notwendig, zumal die sozialen Lasten der Menschen damit erträglicher werden. Wer wüßte dies besser als die Deutschen in der bisherigen Bundesrepublik, deren Aufbau mit Geldern des Marshall-Plans aus den USA ebenfalls erleichtert wurde!
Gerade unsere Erfahrungen zu Beginn der Sozialen Marktwirtschaft in der Zeit nach 1948 zeigen aber ebenso, daß solche Starthilfe im besten Sinne des Wortes Hilfe zur Selbsthilfe ist. Dies wird in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und in Sachsen nicht anders sein. Auch dort werden Bürger, Kommunen und Länder bald einen wachsenden Teil zur Finanzierung ihrer eigenen Zukunft selbst tragen können.Meine Damen und Herren, neben den Kosten sehen wir in gleicher Weise die ermutigenden Perspektiven, die sich dem vereinten Deutschland, aber auch Europa als Ganzem eröffnen. Kosten, Erträge, Perspektiven — dies ist ein unauflöslicher Gesamtzusammenhang. Dazu gehören selbstverständlich ebenso immaterielle Vorteile, die eben nicht in Mark und Pfennig meßbar sind. Hier ist vor allem die persönliche Freiheit zu nennen. Das ist das wichtigste Gut im wiedervereinten Deutschland.
Die freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und mit ihr die Soziale Marktwirtschaft waren ja auch im westlichen Teil Deutschlands nicht immer unumstritten.
Gerade der Neubeginn 1948 war alles andere als einfach: Vorübergehende Preissteigerungen, heftige Auseinandersetzungen bis hin zum Generalstreik begleiteten den Anfang der Sozialen Marktwirtschaft.Und die Frage der Kursbestimmung der Sozialen Marktwirtschaft stellte sich für die Bundesregierung erneut, als es 1982, vor acht Jahren, darum ging, aus der Rezession heraus eine neue wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in Gang zu setzen — eine Aufwärtsentwicklung, aus der inzwischen der längste Aufschwung der Nachkriegszeit geworden ist. Er geht jetzt mit ungebrochener Dynamik ins neunte Jahr.
Meine Damen und Herren, heute können wir mit Stolz feststellen: Der Standort Deutschland zählt zu den ersten Adressen in der Welt, und die D-Mark gehört zu den gefragtesten und härtesten Währungen.
Am Arbeitsmarkt eilt die Beschäftigung boomartig von Rekord zu Rekord, zuletzt auf 28,5 Millionen. Meine Damen und Herren, was ist eigentlich übrig geblieben von Ihrem Katastrophengerede in der Vergangenheit?
Binnen Jahresfrist entstanden allein über 700 000 neue, zusätzliche Arbeitsplätze. Ein derart erfreuliches Ergebnis gab es in der Nachkriegszeit nur ein einziges Mal, im Jahre 1955. Das ist heute die Realität in Deutschland.
Obwohl in den letzten 12 Monaten annähernd eine Million Aus- und Übersiedler in die Bundesrepublik gekommen sind, ist die Arbeitslosigkeit rückläufig. Kurzarbeit und Jugendarbeitslosigkeit, einst große Belastungen, sind nahezu verschwunden.Allein dieses Beispiel zeigt: Wir haben allen Grund, den Wiederaufbau zwischen Elbe und Oder mit Zuversicht anzugehen.
Wann, wenn nicht jetzt, waren wir hierauf auf diesen Wiederaufbau zum vereinten Deutschland, zum Aufbauwerk für ganz Deutschland besser vorbereitet?Mit dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und dem Einigungsvertrag haben wir die entscheidenden Weichen für den Übergang zur Sozialen Marktwirtschaft gestellt. Wer sagt, dies alles sei zu schnell gegangen, der muß sich fragen lassen, wie er denn sonst den Menschen in der DDR eine neue Zukunft eröffnet hätte, wie er denn sonst den weiteren Zustrom Hunderttausender von Übersiedlern verhindert hätte.
Ich füge hinzu: Wer sagt, dies alles sei ihm viel zuschnell gegangen, der soll unseren Landsleuten in der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18025
Bundeskanzler Dr. Kohlbisherigen DDR auch sagen, daß er die D-Mark noch eine Weile gern für sich allein behalten hätte
und daß Solidarität nur langfristig und auf Raten zu haben sei.
Die Wahrheit ist — dies muß angesprochen werden — , daß wir, wenn wir die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli nicht eingeführt hätten, bis zum heutigen Tag ungefähr eine Million Übersiedler aus der DDR in der Bundesrepublik gehabt hätten
und daß diese Entwicklung zu katastrophalen Verwerfungen in der Gesellschaft der Bundesrepublik wie in jener DDR geführt hätte.
Nach über 40 Jahren, meine Damen und Herren, ist uns die geschichtliche Chance zur deutschen Einheit eröffnet worden — eine Chance, von der naturgemäß niemand wußte, wieviel Zeit uns zu ihrer Verwirklichung eingeräumt sein würde. In dieser historischen Situation haben wir gehandelt.Zur Wirklichkeit des Jahres 1990 gehört auch, daß der wirtschaftliche Neubeginn für viele Menschen einen tiefen Einschnitt bedeutet. Für viele — das zeigt auch die derzeitige Lage auf dem Arbeitsmarkt der bisherigen DDR — ist dies eine persönlich schwierige Phase. In zahlreichen Betrieben muß kurzgearbeitet werden. In vielen Familien wächst die Sorge um Arbeitsplatz und um Bewältigung des Alltags. Doch alle, die jetzt von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit betroffen sind, haben Anspruch auf Hilfe und Solidarität der Gemeinschaft. Unser bewährtes System der sozialen Sicherung bietet dafür Gewähr. Solidarität bedeutet für uns genauso, daß jungen Menschen, die die Schule verlassen, eine Zukunft eröffnet wird. Konkret heißt das, daß wir wie vor einigen Jahren in der Bundesrepublik alles tun müssen, daß sie so schnell wie möglich eine Lehrstelle erhalten können.
Deshalb haben Wirtschaft und Handwerk für das Gebiet der ehemaligen DDR eine neue Lehrstelleninitiative in Gang gebracht, die ich nachdrücklich unterstütze. Auch die Bundesregierung leistet hier mit rund 300 Millionen DM ihren Beitrag.Im übrigen, meine Damen und Herren, ist bereits jetzt zu erkennen: Nach gerade drei Monaten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist viel in Bewegung gekommen. So ist die Gründungswelle voll angelaufen. In diesem Jahr wurden schon knapp 170 000 Betriebe neu eröffnet, davon allein 40 % nach Einführung von D-Mark und Sozialer Marktwirtschaft. Banken, Handels- und Dienstleistungsunternehmen bauen flächendeckende Zweigstellennetze auf und schaffen Tausende von Arbeitsplätzen. DiePrivatisierung, Sanierung und, wenn nötig, Stillegung der bisherigen Kombinate und Betriebe unter dem Dach der Treuhandanstalt kommen inzwischen gut voran. Auch die dringend notwendige Reorganisation der Treuhand-Außenstellen macht erkennbare Fortschritte.Ich möchte in diesem Zusammenhang denen, die sich unter vollem Einsatz ihrer Person für den Wiederaufbau der bisherigen DDR in Wirtschaft und Verwaltung engagieren, ein herzliches Wort des Dankes sagen.
Ich nenne bewußt stellvertretend für viele die Herren Rohwedder und Odewald an der Spitze der Treuhandanstalt.
Die Preise liegen entgegen manchen Befürchtungen deutlich niedriger als noch vor einem Jahr, und dies bei qualitativ erheblich verbessertem Warenangebot. Damit hat die Kaufkraft von Arbeitnehmern und Rentnern — auch nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank — binnen Jahresfrist spürbar zugenommen. Dies ist nicht zuletzt Ergebnis der reibungslosen Einführung der D-Mark in der bisherigen DDR. Hier hat die Deutsche Bundesbank hervorragende Arbeit geleistet. Ich danke Präsident Pöhl und allen seinen Mitarbeitern für diese Hilfe.
Meine Damen und Herren! Mit dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und mit dem Einigungsvertrag ist der Grundstein für Aufschwung und Wohlstand in ganz Deutschland gelegt. Wesentlich bleibt, daß wir auch unter den schwierigen Bedingungen des Übergangs, der Umstrukturierung und der Neuorientierung an dem festhalten, was sich durch 40 Jahre bewährt hat: an einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Chancen für Leistung und Engagement eröffnet und die zugleich dort Hilfe und Unterstützung gewährt, wo die eigene Kraft nicht ausreicht.Seien wir uns darüber im klaren: Wie wir mit dieser historischen Herausforderung fertig werden, wird auch jenseits unserer Grenzen aufmerksam verfolgt. Das Ergebnis unserer Anstrengungen wird die wirtschaftliche und die politische Position Deutschlands in der ganzen Welt maßgeblich bestimmen.Deswegen war es von Anfang an unser Bestreben, die inneren und äußeren Aspekte unseres Weges zur Einheit so eng wie möglich miteinander zu verknüpfen. Für uns gilt weiterhin: Deutschland ist unser Vaterland, das vereinte Europa unsere Zukunft.
Uns war stets bewußt, daß der Weg der Deutschen zur staatlichen Einheit bei vielen Menschen in Europa und auch anderswo Fragen ausgelöst hat, bei nicht wenigen sogar Unbehagen, ja Befürchtungen. Wir verstehen, ja wir achten diese Gefühle. Aber wir dür-
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18026 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Bundeskanzler Dr. Kohlfen in diesem Zusammenhang auch an 40 Jahre stabiler rechtsstaatlicher Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland erinnern.
Die kommenden Jahre werden zeigen, daß das vereinte Deutschland für ganz Europa einen Gewinn bedeutet. Wir haben um so mehr Grund zur Zuversicht, als bereits die Zwei-plus-Vier-Gespräche über die äußeren Aspekte der Einheit von bemerkenswertem gegenseitigem Vertrauen geprägt waren. Anfang dieser Woche haben wir das Ergebnis dieser Gespräche, den Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, der KSZE-Außenministerkonferenz in New York vorgestellt. Das erste gesamtdeutsche Parlament — Sie, meine Damen und Herren — ist nunmehr aufgerufen, diesem wahrhaft historischen Vertrag seine Zustimmung zu geben.Im Inneren wie nach außen wollen wir gute Nachbarn sein. Deutsche Sonderwege oder nationalistische Alleingänge wird es auch in Zukunft nicht geben. Wir wollen — getreu der Präambel unserer Verfassung — als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen. Dieser Auftrag verkörpert unser Verständnis von Souveränität. Wir sind bereit, sie im Sinne unserer Verfassung mit anderen zu teilen: Unser Grundgesetz weist uns den Weg, Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschland auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen und uns — unter Beschränkung unserer Hoheitsrechte — in Systeme kollektiver Sicherheit einzuordnen.Wir stehen unwiderruflich zu unserem Bündnis, zur Solidarität und zur Wertegemeinschaft mit den freiheitlichen Demokratien des Westens, ganz besonders mit den Vereinigten Staaten von Amerika.
Wir wollen mit Nachdruck daran mitarbeiten, die zukunftsweisenden Beschlüsse der Atlantischen Allianz umzusetzen: das Gesamtkonzept der Abrüstung und Rüstungskontrolle von 1989 und die Londoner Gipfelerklärung vom Juli dieses Jahres.Wir arbeiten mit an der Neugestaltung von Strategie und Struktur unseres Bündnisses. Wir prüfen — innerhalb der NATO wie auch innerhalb der WEU —, wie wir gemeinsam mit unseren Verbündeten neuen Gefährdungen unserer Sicherheit, insbesondere aus Krisenregionen, solidarisch und noch wirksamer begegnen können.Deutschland und Europa brauchen auch in Zukunft die partnerschaftliche und freundschaftliche Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und Kanada. Wir wollen dies in einer Transatlantischen Erklärung bekräftigen und auf eine noch breitere Grundlage stellen. Die nordamerikanischen Demokratien müssen auf dreifache Weise in Europa verankert sein: durch die Atlantische Allianz, durch eine immer enger werdende Zusammenarbeit mit der EG und durch ihr Mitwirken am KSZE-Prozeß.Meine Damen und Herren, auf der Tagesordnung der kommenden Jahre stehen die Schaffung einer Europäischen Union und die Gestaltung einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Die Vollendungder deutschen Einheit erweist sich als eine große, ich möchte sagen: als d i e Chance, das Werk der europäischen Einigung zu beschleunigen.
Vor wenigen Tagen haben Präsident Mitterrand und ich in München erneut bekräftigt, daß Frankreich und Deutschland auch künftig Motor der europäischen Einigung sein werden und daß wir gemeinsam die europäische Friedensordnung mitgestalten wollen. Auch in diesem Zusammenwirken kommt zum Ausdruck, welch existentielle Bedeutung wir der Partnerschaft zwischen Frankreich und dem vereinten Deutschland beimessen. Sie war schon in den letzten Jahrzehnten von entscheidender Bedeutung. Sie wird in der vor uns liegenden Phase wichtigster Entscheidungen noch bedeutsamer. Deswegen ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich für uns — ich sage es noch einmal — von existentieller Bedeutung.
Auf unsere gemeinsame Initiative werden noch in diesem Jahr, in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der italienischen Präsidentschaft, die Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion und über die Politische Union eröffnet werden. Diese Integrationsschritte sind unerläßlich, damit die Europäische Gemeinschaft ihrer wachsenden politischen und wirtschaftlichen Rolle und Gesamtverantwortung gerecht werden kann.Meine Damen und Herren, die Europäische Union, die wir anstreben, soll ein festes Fundament für das Zusammenwachsen ganz Europas sein und dessen Kern bilden. Mit Frankreich sind wir entschlossen, uns für die Schaffung einer europäischen Konföderation einzusetzen, in der alle Staaten unseres Kontinentes gleichberechtigt zusammenarbeiten. Aber es darf kein Zweifel entstehen: Wir wollen die politische Union in Europa; wir wollen nicht eine gehobene Freihandelszone in Europa, sondern die politische Einigung Europas im Sinne der Römischen Verträge.
Wir im vereinten Deutschland sind uns der Tatsache bewußt, daß der Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die KSZE, einen wichtigen Beitrag geleistet hat, die trennenden Gräben auf unserem Kontinent zu überwinden.Wir wollen den Ausbau der KSZE weiter nach Kräften unterstützen. Dabei geht es uns vor allem um einen weiter verbesserten Schutz der Menschen- und Bürgerrechte. Wir wollen auch den Schritt zu ständigen Institutionen gehen. Im Mittelpunkt unseres Interesses steht jetzt ein Konfliktverhütungszentrum. Die im kommenden Monat anstehende Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der 34 KSZE-Staaten soll in all diesen Fragen die Weichen stellen.Ebenso wollen wir, daß sich in Paris die Mitgliedstaaten von NATO und Warschauer Pakt in einer Gemeinsamen Erklärung die Hand zur Freundschaft und zu einer jetzt möglichen neuen Partnerschaft rei-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18027
Bundeskanzler Dr. Kohlchen. Wir hoffen, daß danach alle übrigen KSZE-Partner mit uns einen solchen Gewaltverzicht feierlich bekräftigen. In alledem, meine Damen und Herren, sehen wir Bausteine für übergreifende Strukturen der Sicherheit und Zusammenarbeit in ganz Europa.Das Ziel meiner ersten Regierungserklärung vor jetzt gerade acht Jahren — „Frieden schaffen mit weniger Waffen" — wird auch Richtschnur der von mir geführten gesamtdeutschen Bundesregierung sein.
In den letzten Jahren konnten großartige Erfolge erzielt werden, die in der Geschichte von Abrüstung und Rüstungskontrolle ohne Beispiel sind. Die Bundesregierung hat sie maßgeblich mitgestaltet:Fast alle nuklearen Mittelstreckenraketen, die in unserem Lande standen, sind bereits verschrottet, meine Damen und Herren.
Wer erinnert sich in diesem Augenblick nicht an die Debatten im Jahre 1983, als beschwörend von Kriegsgefahr die Rede war, um bei den Menschen Angst zu erzeugen? „Frieden schaffen mit weniger Waffen" : Dies ist die Politik, die sich durchgesetzt hat.
Vor wenigen Tagen sind die letzten amerikanischen Chemiewaffen von deutschem Boden abgezogen worden,
allen Behauptungen jener zum Trotz, die den Menschen jahrelang eingeredet haben, die Zusagen der Amerikaner würden nie eingelöst. Ich danke Präsident Bush für den Abzug dieser Waffen, und ich danke zugleich Präsident Ronald Reagan für die Zusage, die er damals gegeben hat.
Meine Damen und Herren, alle diese Erfahrungen ermutigen uns, auf weitere Fortschritte zu drängen.
— Meine Damen und Herren, lassen Sie sie ruhig schreien, lassen Sie sie ruhig protestieren! Nicht ihr Protest, sondern unsere Politik hat zum Abzug dieser Waffen geführt.
Ich wiederhole: Die Erfahrungen der letzen Jahre ermutigen uns, jetzt energisch auf weitere Fortschritte zu drängen. Ich nenne vor allem die Wiener Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa. Ein erstes Abkommen über die konventionelle Abrüstung in Europa wird bald fertiggestellt und beim KSZE-Gipfel im November unterzeichnet werden.Unmittelbar danach werden die Wiener Verhandlungen fortgesetzt. Deutschland — das dürfen wir mit Stolz sagen — hat hierzu Schrittmacherdienste geleistet: Wir haben uns am 30. August 1990 vor dem Wiener Verhandlungsforum verpflichtet, die Streitkräfte des vereinten Deutschland innerhalb von drei bis vier Jahren auf die Zahl von 370 000 Mann zu vermindern.Wir gehen davon aus, daß in Folgeverhandlungen auch die anderen Teilnehmer ihren Beitrag zur Festigung von Sicherheit und Stabilität in Europa — einschließlich Maßnahmen zur Begrenzung der Personalstärken — leisten werden.Die Bundesregierung setzt sich gemeinsam mit ihren Bündnispartnern auch auf den anderen Feldern der Abrüstung und Rüstungskontrolle energisch für Fortschritte ein. Dies gilt insbesondere für ein weltweites Verbot chemischer Waffen sowie für die Reduzierung der Zahl strategischer Nuklearwaffen und nuklearer Systeme kürzerer Reichweite der Sowjetunion und der USA.Ich habe eingangs dankbar gewürdigt, daß die tiefgreifenden Veränderungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa unseren Weg zur deutschen Einheit wesentlich gefördert haben. Wir haben diese Reformprozesse von Anfang an nach besten Kräften gefördert und unterstützt.Eine Schlüsselrolle spielt die umfassende Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in gesamteuropäischer Verantwortung. Bei den Gesprächen im letzten Jahr in Bonn und vor wenigen Monaten im Kaukasus haben Präsident Gorbatschow und ich die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die deutsch-sowjetischen Beziehungen jetzt auf eine qualitativ neue Stufe gehoben werden.Ich bin mir mit Präsident Gorbatschow darin einig, daß die Deutschen und die Völker der Sowjetunion jetzt einen Schlußstrich unter die leidvollen Kapitel der Geschichte ziehen und an ihre guten Traditionen anknüpfen sollten. Wir wollen durch ein solches Werk der Verständigung und Versöhnung auch einen Beitrag zum Zusammenwachsen Europas leisten.Diesem Ziel dient der jetzt fertig verhandelte Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit. Ich freue mich, daß Präsident Gorbatschow nach Deutschland kommen wird, um gemeinsam mit mir diesen wegweisenden Vertrag zu unterzeichnen.
In diesen Zusammenhang gehört auch der vollständige Abzug sowjetischer Truppen vom deutschen Territorium bis Ende 1994.
50 Jahre nachdem sowjetische Soldaten das damalige Reichsgebiet erreicht haben, ziehen die sowjetischen Soldaten jetzt ab. Wir wissen, was das für uns alle bedeutet.
Gerade die sowjetischen Soldaten und ihre Familien sollen wissen: Wir sind bereit, ihre Rückkehr in die Heimat, etwa im Bereich des Wohnungsbaus, zu erleichtern und ihnen zu helfen.Meine Damen und Herren, ein vergleichbares Friedenswerk gesamteuropäischen Ranges haben wir uns auch mit der Republik Polen vorgenommen. Wir wissen alle um die schwere Last der Geschichte dieses18028 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228, Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990Bundeskanzler Dr. KohlJahrhunderts. Aber in der Geschichte beider Völker gibt es viele gute Kapitel, an die wir heute anknüpfen können. Ich denke, die Zeit ist jetzt reif für eine dauerhafte Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk.
Wir wollen die deutsch-polnischen Beziehungen der Zukunft auf festen Fundamenten errichten. Nach den Entschließungen des Deutschen Bundestags und der damaligen Volkskammer vom 21. Juni dieses Jahres kann an unserer Bereitschaft zu einer endgültigen und völkerrechtlich verbindlichen Bestätigung der bestehenden Grenze kein Zweifel bestehen. Dies haben wir auch im Zwei-plus-Vier-Vertrag ausdrücklich zugesagt.Die gemeinsame Erklärung, die Ministerpräsident Mazowiecki und ich im November vergangenen Jahres unterzeichnet haben, bedeutete einen Neuanfang im Zeichen der Verständigung und der Aussöhnung. Darin eingeschlossen sind wichtige Zusagen zur Achtung der Minderheitenrechte, auf die wir besonderen Wert legen. Ich werde mich in dieser Sache sehr persönlich engagieren.Mit freundschaftlichem Rat und mit hilfreicher Tat werden wir auch weiterhin den Reformweg Ungarns begleiten. Diese Bereitschaft gilt ebenso für die CSFR. Die Bundesregierung ist entschlossen, in diesen Ländern auch einen Schwerpunkt ihrer auswärtigen Kulturpolitik zu setzen.
Den Reformstaaten Mittelost- und Südosteuropas insgesamt gilt unser Angebot, sie durch eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Assoziierung möglichst bald und eng an die Europäische Gemeinschaft heranzuführen.Meine Damen und Herren, die Entwicklungen in Europa und unsere Verpflichtungen auf diesem Kontinent lassen uns zu keinem Zeitpunkt vergessen, welche Konflikte, welche Sorgen, welche Probleme die Menschen in anderen Teilen der Welt bedrängen. Unter Hunger, Armut, Not und Überbevölkerung leiden viele Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Überschuldung untergräbt ihre politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität. Wir werden auch künftig Menschen in Not solidarisch helfen.Die Achtung der Menschenrechte sowie eine freiheitlich-soziale Ordnung in Staat und Wirtschaft sind die besten Voraussetzungen für politische Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung. Diese Erkenntnis setzt sich mehr und mehr durch. Wir begrüßen das sehr, und wir wollen insbesondere dort, wo die entsprechenden Reformen eingeleitet werden, die notwendige Hilfe zur Selbsthilfe leisten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle sind uns bewußt: Dem vereinten Deutschland wächst eine größere Verantwortung in der Völkergemeinschaft zu, nicht zuletzt für die Wahrung des Weltfriedens. Wir werden dieser Verantwortung sowohl im Rahmen der Vereinten Nationen, der Europäischen Gemeinschaft und der Atlantischen Allianz als auch inunserem Verhältnis zu einzelnen Ländern gerecht werden. Wir wollen dafür bald klare verfassungsrechtliche Voraussetzungen schaffen.Wir verurteilen aufs schärfste die irakische Aggression gegen Kuwait,
dessen Annexion und die völkerrechtswidrige Verschleppung ausländischer, darunter auch deutscher Bürger. Dies ist eine Herausforderung für die Völkergemeinschaft und für die Vereinten Nationen. Es ist zugleich ein Testfall für die gemeinsame Entschlossenheit. Die Bundesregierung unterstützt eine Lösung der Krise, die den Entschließungen des Sicherheitsrates in vollem Umfang Rechnung trägt. Wir haben unseren Beitrag zur internationalen Solidarität geleistet, und wir sind sicher, daß ein weiterer Beitrag in nächster Zukunft, im neuen Jahr, fällig sein wird.
Die Bundesregierung wird ebenso aktiv an der Lösung der globalen Menschheitsprobleme mitwirken:Die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit müssen auch für kommende Generationen erhalten werden. Dem Schutz der tropischen Regenwälder gilt unsere besondere Aufmerksamkeit.
Ich hoffe sehr, daß das, was wir auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Housten vor einigen Monaten beschlossen haben, noch bis zum nächsten Gipfel Wirklichkeit wird: in neuen Verhandlungen mit der Regierung Brasiliens zu erreichen, daß die dort vorhandenen Bestände an tropischen Regenwäldern für die Zukunft gesichert werden.
Wir wollen den Teufelskreis von Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung durchbrechen helfen.
Wir werden den Kampf gegen Drogen, gegen Seuchen sowie gegen den internationalen Terrorismus verschärfen.Die weltweite Stärkung des Schutzes der Menschenrechte, auch und gerade der Rechte nationaler, ethnischer und religiöser Minderheiten, ist und bleibt eine wichtige Aufgabe unserer Außenpolitik. Vor dem Hintergrund der Geschichte unseres Jahrhunderts wollen wir helfen, Flüchtlingsströmen in aller Welt vorzubeugen und den Menschen in ihrer angestammten Heimat ein Leben in Recht und Würde zu sichern.
Bei allem, was wir jetzt auch im Bereich der Asyl- und der Ausländerpolitik noch zu tun haben, müssen wir wissen: In einem Europa der offenen Grenzen, in einer Welt, die immer enger zusammenwächst, müs-
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Bundeskanzler Dr. Kohlsen wir die Ursachen der Flüchtlingsströme bekämpfen, — dort, wo sie entstehen.
Im ersten Artikel unseres Grundgesetzes bekennt sich „Das Deutsche Volk ... zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" . Dies ist der entscheidende moralische Antrieb für die Politik des vereinten Deutschland.Heute, meine Damen und Herren, können wir der jungen Generation in Deutschland und Europa, der Generation unserer Kinder und Enkel, sagen: Ihr habt alle Chancen auf ein Leben in Frieden und Freiheit. Ihr habt alle Chancen, euer Leben nach eigener Vorstellungen zu gestalten, in Familie und Beruf persönliches Glück zu finden.
Eigene Anstrengungen sind dabei gefordert, das ist wahr. Aber wann je, meine Damen und Herren, konnte eine junge Generation in Deutschland mit mehr Grund zu Hoffnung und Zuversicht nach vorne blicken?
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich glaube, es lohnt sich mehr denn je, an der Gestaltung dieser Zukunft Deutschlands und der Zukunft Europas mitzuwirken. Die gesamtdeutsche Regierung der Bundesrepublik Deutschland wird ihren Beitrag dazu leisten. Bei allem, was uns im einzelnen trennen mag, darf ich uns gemeinsam einladen, an diesem großen Werk mitzuwirken.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.
Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Der eine oder andere, der dieser Tage den Reden aus Berlin zuhörte, mag gefragt haben, ob nicht für eine Weile der großen Worte genug gewechselt seien.
— Das bezog sich jetzt nicht auf die Erklärung des Bundeskanzlers.
Ich meine vielmehr: Es ist wohl in der Tat der neue Alltag, der mit dieser Sitzung des erweiterten Bundestages beginnt. Das will nicht heißen, daß wir den 3. Oktober routinemäßig abhaken könnten. Wie könnten wir!Die große Freude darüber, daß willkürliche Teilung im Zeichen von Selbstbestimmung ihr Ende gefunden hat, mischt sich allerdings mit der sorgenvollen Frage,ob wir mit der konkreten Untermauerung der Einheit gut und rasch genug fertigwerden. Daß die Einheit zum Nulltarif zu erhalten wäre, hat keinen Glauben gefunden. Was der Herr Bundespräsident gestern hierzu beim Staatsakt ausführte, war aus meiner Sicht viel überzeugender als das meiste, was bisher von Regierungsseite zu hören war.
Der Bundeskanzler hat heute von materiellen Opfern gesprochen. Das war an der Zeit. Aber welche Fehleinschätzung wird hiermit korrigiert! Und wer soll was tragen? Das muß noch geklärt werden.
Herr Bundeskanzler, verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit wir uns nicht mißverstehen: Ich setze natürlich darauf, daß wir es schaffen werden. Die wirtschaftliche Aufforstung und die soziale Absicherung liegen nicht außerhalb unseres Leistungsvermögens.
Die Überbrückung geistig-kultureller Hemmschwellen und seelischer Barrieren mag schwieriger sein. Aber mit Takt und mit Respekt vor dem Selbstgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, daß ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört.
Der saarländische Ministerpräsident und sozialdemokratische Kanzlerkandidat, mein Freund Oskar Lafontaine,
wird sich im Verlauf der Debatte im besonderen mit der inneren Ausgestaltung des gemeinsamen deutschen Hauses befassen. Wolfgang Thierse, bis zur letzten Woche Vorsitzender der erneuerten Sozialdemokratie in der DDR, wird in einer weiteren Runde das Wort nehmen. Es kommt — lassen Sie mich das sagen — entscheidend darauf an, daß Solidarität, von der in den Reden dieser Tage viel die Rede war, heruntergeholt wird vom Podest der Festredner.
In der modernen Demokratie muß Solidarität verstanden werden als Verpflichtung der Stärkeren gegenüber den Schwächeren.
Hieran wird man uns messen, gewiß auch an unserer Fähigkeit, über den nationalen Tellerrand hinauszublicken.
Wer, Herr Bundeskanzler, wollte Ihnen nun das Glück mißgönnen, dessen Sie teilhaftig wurden,
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Brandtals eine grundlegend veränderte außenpolitische Lage Chancen bot, die vorher nicht gegeben waren? Die Früchte von Ost-West-Entspannung und europäischer Umwälzung ernten zu können, ist nicht das Schlechteste, was einer Regierung widerfahren kann.
Wie es weitergeht, ist nicht notwendigerweise dieselbe Sache, aber es ist jedenfalls unser aller Sache.Jedenfalls auch die Sozialdemokraten wissen die Arbeit zu würdigen, die in diesen Monaten in Bonn und in Berlin für Deutschland geleistet wurde. Da hätte man sich manchmal gewünscht, solider fachlicher Rat würde stärker einbezogen werden,
und parteipolitisches Kalkül wäre außer Betracht geblieben.
Der objektive Zwang — seien Sie vorsichtig, jetzt — zu breiten Mehrheiten hätte sich auch früher als beim zweiten Staatsvertrag erkennen lassen.
Alle, die als Mitarbeiter der Regierung — oder soll ich sagen: der Regierungen? — ihre Pflicht getan haben und manchmal mehr als diese, können unserer Anerkennung gewiß sein.
Dies gilt — gestatten Sie mir den Zusatz — ganz besonders für die überaus kundige internationale Absicherung der deutschen Einheit in Europa.
Dies ist eine Zeit, meine Damen und Herren, in der öffentliche Verantwortung großgeschrieben werden muß. Allein schafft der Markt es nicht. Konzertierte Aktion ist geboten im Interesse von wirtschaftlicher Entfaltung und gesellschaftlicher Stabilität.Die Gesetze der parlamentarischen Demokratie treten freilich angesichts ungewöhnlicher Aufgaben nicht außer Kraft. Demokratie bleibt nun einmal ein Wagnis, das Zeit und Mühen in Anspruch nimmt und sich letztlich doch immer lohnt. Alle Vermutung spricht dafür, daß wir, wer immer künftig Mehrheit oder Minderheit sein mag, mehr aufeinander angewiesen sein werden, als es viele bislang vermuteten. Ich spreche von „Verantwortung", nicht von „Koalition".
Bei allem notwendigen Streit der Meinungen gilt es, das Notwendige zu tun, wo Gesamtinteressen von Staat und Volk auf dem Spiel stehen.Aus meiner Sicht gilt dies nicht nur für die außenpolitischen Rahmenbedingungen, sondern eben auch für Arbeitsplätze, Infrastruktur und zumal für die ökologische Entseuchung, für kulturelles Erbe, für das Zusammenführen der jungen Generation auf beiden Seiten der bisherigen Trennungslinie.Einen herzlichen Willkommensgruß möchte auch ich den Kolleginnen und Kollegen entbieten, die die frei gewählte Volkskammer in diesen erweiterten Bundestag entsandte. Ich grüße Sie nicht nur als ältestes Mitglied dieses Hauses, was kein besonderes Verdienst ist, sondern als einer, der sich im September 1949 und der Folgezeit in einer vergleichbaren Situation des Entsandtworden-Seins, damals von Berlin nach Bonn, befand.
Die Mitwirkung der Berliner blieb damals — bis vor Monaten übrigens — beschränkt, aber die lebendige Verbindung zwischen Rhein und Spree blieb über die Jahre hinweg wach und wurde ausgebaut. Ohne das schützende Dach der Alliierten hätten wir uns jedoch weder in Berlin behaupten noch die staatliche Einheit erlangen können.
Ich habe an manche kritische bis akut friedensgefährdende Situation denken müssen, als sich vorgestern die Kommandanten der drei Westmächte als Träger der obersten Gewalt verabschiedeten. Machen wir uns nichts vor, verehrte Damen und Herren, der Weg von Deutschland nach Deutschland wäre verbaut gewesen, hätte Berlin nicht standgehalten.
Dann war es ja auch hier in Berlin, wo wir die Politik der kleinen Schritte entwickelten, von der wir nach einigen Mühen auch andere überzeugen konnten.
Es ging nie um Anerkennung der Teilung,
geschweige denn der Mauer, sondern es ging um zunächst noch so kleine Erleichterungen für die Menschen,
weil wir überzeugt waren, daß die Nation in ihrem Bestand gefährdet sein würde, sollten die Familien und die Volksteile auseinanderdriften. Aus den kleinen Schritten wurde die Ost-Politik mit dem Bemühen, Spannungen abzubauen, Zusammenarbeit zu fördern, gemeinsamer Sicherheit den Weg zu ebnen. Alle Schritte, besonders die des gesamteuropäischen Vorhabens von Helsinki 1975 — wie umstritten war das doch, und es ist gut, daß wir jetzt alle dafür sind —,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18031
Brandtall dies zielte darauf ab, die Teilung Berlins und Deutschlands und Europas überwinden zu helfen, ohne bewährte Freundschaften aufs Spiel zu setzen. So hielten wir es in den Regierungen der sozialliberalen Koalition.Das wird ja auch kaum noch in Zweifel gezogen, und dabei hatte und hat — ich weiß das wohl — keiner von uns letzte Wahrheiten gepachtet. Auch Bundeskanzler Kohls Entourage wird bewußt sein, daß es keinen Sinn ergibt, wichtige Kapitel der zurückliegenden Jahren ausblenden zu wollen. In gewisser Hinsicht sind wir, wenn ich es recht sehe, in der Politik für Deutschland alle eher Stafettenläufer denn Einzelkämpfer.
Wer war schon ganz sicher, Herr Bundeskanzler, in der Beurteilung des Wandels in der Sowjetunion und hinsichtlich dessen, was Gorbatschow darstellte und bedeuten würde?
Wo es um vertragliche Regelungen geht, haben eben einige etwas früher begonnen als andere. Das ist das Normale, was sich im Leben vollzieht.
Daß wir ein Volk der guten Nachbarn im Innern und nach außen sein wollen, Herr Bundeskanzler, habe ich natürlich gern gehört. Wortgleich stand es so in meiner Regierungserklärung vom Herbst 1969.
Lassen Sie mich aus meiner Sicht nur noch dreierlei hinzufügen.Erstens. Mit dem Bekenntnis zu Berlin als der bloß symbolischen Hauptstadt kann es nicht sein Bewenden haben.
Zweitens. Die rechtsstaatliche Bereinigung des Regimes der SED und ihrer Blockparteien, zumal des elenden Kapitels Stasi, muß zügig vorankommen, aber bitte, bitte, bitte nicht als fundamentalistische Verfolgungsjagd.
Die Seilschaften der alten Kameraden an der Spitze großer Unternehmen müssen aufgebrochen werden.
Was im übrigen in der Regierungserklärung über die Kraft zur Aussöhnung gesagt wurde, findet meine — ich bin sicher, auch die meiner politischen Freundinnen und Freunde in diesem Haus — Zustimmung.
Drittens. Die Gesamtheit der Staats- und Wahlbürger sollte in die Entscheidung über die verfassungsmäßige Grundlage unserer gemeinsamen staatlichen Existenz einbezogen werden,
d. h., wenn es soweit ist: Volksabstimmung über das bereinigte und ergänzte Grundgesetz.
Auf dem Weg dahin sollten wir nicht die Kraft mißachten, die in den Verfassungsentwurf der sonst so gelobten Träger der friedlichen Umwälzung eingeflossen ist.
Dies konnten nicht nur Tage überschäumender Freude sein. Man hatte die Sorgen vieler Landsleute im Kopf. Zugleich wurde man den Gedanken daran nicht los, daß eine unserem Kontinent benachbarte Region im Zustand akuter Kriegsgefahr lebt und daß das Elend in weiten Teilen der Welt eher noch zunimmt. Das sollten zusätzliche Gründe sein, mit dabei zu helfen, daß aus den Vereinten Nationen ein wirksames Instrument der Friedenssicherung und produktiver weltweiter Zusammenarbeit werden kann.
Damit es keine Mißverständnisse gibt: Ich bin nicht dafür, daß wir die Einheit Deutschlands durch Militärexpeditionen untermalen.
Es gibt andere Wege, auf denen wir uns hilfreich erweisen können, und sei es zunächst nur dadurch, daß wir der Schande der doppeldeutschen Waffenexporte ein Ende bereiten.
Aus der russischen bzw. sowjetischen Entwicklung können sich erhebliche Unsicherheiten ergeben. Das Verhältnis zu den sowjetischen Soldaten — Sie sprachen es soeben an, Herr Bundeskanzler — und unsere Hilfe für ihre Heimreise werden gerade vor diesem Hintergrund zu einem Beispiel künftiger Beziehungen werden können.Es gilt natürlich, die Erkenntnis lebendig zu erhalten, daß wir ohne die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa nicht dorthin gelangt wären, wo wir heute sind. Helsinki hat lange — lange und gute — Schatten geworfen. Zum anderen ist es wichtig, fest im Gedächtnis zu bewahren, was die schrecklichen Verbrechen der erst ein paar Generationen zurückliegenden Zeit mit der Vernichtung von Millionen deutscher und europäischer Juden als einer immer noch kaum faßbaren Steigerung von Perversion wirklich bedeuteten, — nicht nur im Gedächtnis zu behalten, sondern aus dem Wachhalten die Erinnerung immer wieder abzuleiten. Ähnliches darf sich nie wiederholen, und da sind wir uns in diesem Haus Gott sei Dank einig.
Von rassistischen — das ist noch eine Stufe darunter — Rückfällen muß Deutschland mit allen Mitteln — ich sage bewußt: mit allen Mitteln — freigehalten werden. Und: Minderheiten müssen sich bei uns wohl fühlen können.
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18032 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
BrandtHerr Bundeskanzler, wir schätzen Ihre Würdigung — gerade an dieser Stelle, im Wallot-Bau — des deutschen Widerstands gegen die Tyrannei. Sie haben sich dazu parteiübergreifend geäußert und wollen dies gewiß nicht nur auf die Vergangenheit bezogen wissen.Zu Recht haben Sie gesagt, wir müßten uns allen Seiten der eigenen Geschichte stellen. Dem stimme ich um so leichter zu, als es mich noch einmal an eigene Regierungserklärungen erinnert. Es ist in der Tat so: Man kann keine dieser Seiten herausreißen oder einfach wegtun.Wie neu wird nun — wird man von wohlmeinenden Ausländern gefragt — das neue Deutschland sein? Meine Antwort: Nichts wird wieder so werden, wie es einmal war. Nein, dies wird kein Nationalstaat alter Prägung, sondern dies wird eine Republik, die bundesstaatlich aufgebaut ist, und eine Republik, die hieraus und aus der kommunalen Selbstverwaltung Kraft schöpfen kann; eine Republik, die international festgelegte Grenzen hat — wie hat sich unsereins dafür ins Zeug legen müssen —,
eine Republik, die schon in ihrer bisherigen Form europäisch eingebettet war und in ihrer erweiterten Gestalt erheblichen Anteil an den Prozessen der europäischen Einigung haben wird.Ich halte nichts von großmäuligem Gerede über eine deutsche Weltmachtrolle. Aber: An europäischen Initiativen auch nach außen mitzuwirken, das ist möglich. Und es ist notwendig, auch verhindern zu helfen, daß Europa neu auseinanderdriftet. Mauern des Mißtrauens und der Abschottung dürfen weder an die Oder und Neiße noch an den Bug verlegt werden.
Noch einmal: Das Gebot der Solidarität der Stärkeren gegenüber den Schwächeren muß die vor uns liegenden gesamteuropäischen Prozesse prägen. Das hat auch zu gelten für unsere Haltung zum Nord-SüdThema einschließlich der weltweiten Umweltgefahren. Es muß möglich sein, einen Teil der durch Rüstungsabbau frei werdenden Mittel umzulenken.
Aus meiner Sicht und der meiner politischen Freunde gilt erstens: die EG ausbauen, wie es vereinbart ist. Zweitens: Gesamteuropa schaffen helfen. Drittens: die sich abzeichnende europäische Friedensordnung verwirklichen. Viertens: die bettelarmen Völker, die Verdammten dieser Erde, ebensowenig vergessen wie die globalen Umweltgefahren.
Fünftens: aus den Vereinten Nationen mehr machen, als sie bisher waren.Ich wünsche uns, meine Kolleginnen und Kollegen, fruchtbare Auseinandersetzungen. Vor allem aberwünsche ich uns miteinander Erfolg in der Arbeit für die Menschen, die wir hier zu vertreten haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen eine Regierungserklärung abgegeben, die über die historischen Tage der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands hinausgreift und eine Perspektive entwickelt für unsere Arbeit bis ins nächste Jahrhundert hinein.Die Regierungserklärung enthält einmal ein detailliertes Programm für die Entwicklung einer leistungsfähigen Wirtschaftsstruktur und einheitlicher Lebensverhältnisse für ganz Deutschland. Sie umreißt darüber hinaus unsere Aufgaben in Europa und in der Welt, für den Frieden der Welt, für die Lebensgrundlagen der Menschheit und für unsere Verpflichtung denen gegenüber, die Not leiden und auf unsere Hilfe angewiesen sind.Herr Bundeskanzler, Ihre Regierungserklärung ist mutig und zukunftsweisend. Ich kann Ihnen versichern, daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Sie in gewohnter Weise bei der Umsetzung dieser Regierungserklärung in die Wirklichkeit tatkräftig unterstützen wird.
Das gilt natürlich nicht nur für die jetzt zu Ende gehende Legislaturperiode, sondern auch für die nächste, Herr Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist seit gestern wieder eins. Es ist Kernland der Europäischen Gemeinschaft, verläßlicher Verbündeter des Westens und nun auch wichtiger Partner des Ostens.Dazu kommt: Die menschenfeindlichen Ideologien, die ihre blutige Spur durch dieses Jahrhundert gezogen haben — Kommunismus und Sozialismus, Faschismus und Nationalsozialismus — , sind sämtlich gescheitert. Die Deutschen wollen mit Recht von alldem nichts mehr hören. Damit öffnet sich am Ende unseres dunklen Jahrhunderts die Perspektive auf eine lange Periode des Friedens und der gesamteuropäischen Zusammenarbeit zum Nutzen aller. Europa, dieser alte und ewig junge Kontinent, hat mit Deutschland in seiner Mitte sein Gleichgewicht und seine Kraft wiedergefunden.Der Wandel in Deutschland kulminierte in einer friedlichen Revolution, deren erster großer Triumph die Öffnung der Mauer am 9. November vergangenen Jahres war. Keiner von uns wird je die bewegenden Bilder von damals vergessen. Die Öffnung wurde durch Demonstrationen erzwungen, an denen zunächst Tausende, dann Zehntausende, dann Hunderttausende teilnahmen. Keiner der Demonstranten war vermummt, von keinem ging Gewalt aus. Die Demonstranten trugen Kerzen durch die Straßen ihrer Städte und stellten sie den Bewaffneten vor ihre Stiefel. Die Welt hat es gesehen, mit Verblüffung, mit Respekt und schließlich mit Bewunderung.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18033
Dr. DreggerSie, meine Landsleute in der ehemaligen DDR, haben sich durch Ihren Mut und Ihre Besonnenheit weltweit ein Ansehen erworben, das jetzt dem ganzen deutschen Volk zugute kommt. Dafür möchte ich Ihnen im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hier vom Reichstag in Berlin aus meinen herzlichen Dank sagen.
Danken möchte ich auch Ihren gewählten Vertretern in der Volkskammer, von denen manche jetzt unsere Kolleginnen und Kollegen im Bundestag sind. Diese Demokraten der ersten Stunde haben ohne Vorbereitung, ohne praktische Erfahrung als Parlamentarier eines demokratischen Staates und ohne einen auf sie ausgerichteten und eingespielten Verwaltungsapparat eine große politische und administrative Leistung vollbracht. Ihnen und der Regierung von Lothar de Maizière gelten in dieser Stunde unser Dank und unsere Anerkennung für diese große Leistung.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Knabe?
Bitte.
Bitte schön, Herr Knabe.
Herr Abgeordneter Dregger, Sie haben die Männer und Frauen, die demonstriert und die Änderungen erzwungen haben, gerade gelobt. Warum hat dann Ihre Fraktion einem Wahlgesetz zugestimmt, mit dem diese Gruppierungen von einer Beteiligung und einem Einzug in das neue Parlament praktisch ausgeschlossen wurden?
Verehrter Herr Kollege, Sie wissen, daß dieses Wahlgesetz ein Kompromiß ist. Ich darf Ihnen sagen, daß ich und auch die Fraktion von vornherein lieber ein anderes Gesetz gesehen hätten. Wir sind gern bereit, daran mitzuwirken, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein Wahlgesetz zu schaffen, das allgemeine Zustimmung finden kann.
Meine Damen und Herren, wir im freien Teil Deutschlands haben zum Erfolg der deutschen Revolution das beigetragen, was nur bei uns geleistet werden konnte. Es geht vor allem um drei politische Tatbestände. Der erste: Die Union aus CDU und CSU hat vierzig Jahre hindurch unbeirrt am Ziel der Einheit und Freiheit Deutschlands festgehalten, gegen den Rat, aber auch gegen den Willen anderer. Das war eine unentbehrliche Voraussetzung für den Erfolg der Einheits- und Freiheitsbewegung in der DDR. Hätten wir nämlich nicht auf der einen deutschen Staatsbürgerschaft bestanden, dann hätten unsere Botschaften in Budapest, Prag und Warschau den Flüchtlingen aus der DDR keine Reisepässe der Bundesrepublik Deutschland ausstellen können.
Deshalb sage ich: Die von uns verteidigte einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit hat zum Zusammenbruch des SED-Regimes nicht weniger beigetragen als die Tatsache, daß diesmal — anders als 1953 — dank Gorbatschow die russischen Panzer in den Kasernen geblieben sind.Auch die Erfassungsstelle in Salzgitter, aus deren Finanzierung sich die sozialdemokratisch regierten Bundesländer leider zurückgezogen hatten, darf nicht unerwähnt bleiben. Gewiß, die Erfassungsstelle hat den Stasi-Terror nicht verhindern können, aber sie hat ihn wahrscheinlich gebremst. Heute gibt sie die Möglichkeit, die Verbrechen des SED-Regimes, die größer und schwerer sind, als alle vermutet haben, in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu ahnden.
Neben dem Festhalten an der Einheit und der Freiheit Deutschlands war es die Soziale Marktwirtschaft, die uns auch für das Ziel der deutschen Einheit politisch handlungsfähig gemacht hat. Ohne sie wäre die relativ kleine Bundesrepublik Deutschland heute nicht das führende Industrieland in Europa, das drittgrößte Industrieland der Welt und, abwechselnd mit den USA, der größte Exporteur der Erde.Hinzu kommt, daß die Ergebnisse der Sozialen Marktwirtschaft die kommunistische Propaganda jeden Tag aufs neue ad absurdum geführt haben. Wir, die CDU/CSU, haben mit Ludwig Erhard an der Spitze dieses erfolgreichste Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der Gegenwart entwickelt und mit Hilfe der FDP gegen den Widerstand der SPD durchgesetzt. Darauf sind wir stolz, und daran halten wir fest, auch jetzt,
wenn es darum geht, die neuen Bundesländer von Mecklenburg-Vorpommern bis Thüringen zu entwikkeln. Sie sind ja durch den Sozialismus jahrzehntelang aufs schwerste geschädigt worden.Überfordert uns die Wiedervereinigung finanziell? Das ist eine Frage, die von der SPD einige Male aufgeworfen wurde. Ich meine: nein. Die Bundesrepublik Deutschland hat glänzende Wirtschafts- und Finanzdaten und geht mit konsolidierten Haushalten bei Bund, Ländern und Gemeinden in die Belastungsphase der ersten Jahre der Einheit. Ich will nur drei Daten nennen: Der Zuwachs des Bruttosozialproduktes liegt seit einigen Jahren real bei 4 % und darüber; das ist eine Rekordposition in Europa. Seit Mitte 1983 hat sich die Zahl der Arbeitsplätze in Westdeutschland um über zwei Millionen vermehrt. Die Kurzarbeit spielt heute gesamtwirtschaftlich keine Rolle mehr. Die Zahl der offenen Stellen wächst. Dank der Steuerreform von 1986 bis 1990 mit einem Entlastungsvolumen von 50 Milliarden DM wird die Steuerquote in diesem Jahr mit 22,5 % den niedrigsten Stand seit 30 Jahren haben.
Trotzdem oder gerade deshalb wachsen die Staatseinnahmen. Das macht die deutsche Wirtschaft investitionsfähig und begründet den Wohlstand der breiten Schichten unseres Volkes. Kein Zweifel, meine Damen und Herren: Wir sind für die Einheit wirt-
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18034 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Dr. Dreggerschaftlich und finanziell heute besser gerüstet als je zuvor.
Die Lage in der ehemaligen DDR ist in der Zeit des Übergangs natürlich schwierig. Der Weg von einer maroden Staatswirtschaft zu einer international wettbewerbsfähigen Sozialen Marktwirtschaft führt unvermeidlich durch ein Tal. Aber der Erfolg in wenigen Jahren steht außer jedem Zweifel. Erste Hoffnungszeichen sind erkennbar: Der Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung einige Daten wiedergegeben. Ich möchte mich auf den Monatsbericht der Bundesbank für September beziehen, also das Neueste, was zu erhalten war. Die Bundesbank schreibt dort:Schon heute hat sich die Versorgungslage der DDR dank der freien Verfügbarkeit des westlichen Warenangebots und des günstigen Umtauschs der Ersparnisse der Bevölkerung bei Einführung der D-Mark wesentlich verbessert. Im Juli blieben die Verbraucherpreise um 5,5 % hinter ihrem Stand — in Mark — vor Einsetzen der Preisfreigabe im vergangenen April und damit auch gegenüber dem Vorjahr zurück. Gleichzeitig— so heißt es im Septemberbericht der Bundesbank —wurden die Löhne und Gehälter bis zum Sommer zum Teil ganz beträchtlich angehoben, und zwar im allgemeinen weit stärker, als es dem Anstieg der Abzüge nach der Einführung des Steuer- und Sozialversicherungssystems der Bundesrepublik in der DDR entsprochen hätte.Fazit der Bundesbank — ich zitiere — :Die Realeinkommen weiter Teile der Bevölkerung wurden daher erheblich gestärkt.
Noch eine erfreuliche Nachricht: 140 000 junge Menschen in der früheren DDR haben eine Lehrstelle gefunden. Damit ist die Zahl derjenigen, die noch einen Ausbildungsplatz suchen, auf ca. 15 000 gesunken. Jetzt, meine Damen und Herren, geht es um die Stärkung der Produktivität und die Gründung neuer Handwerks-, Dienstleistungs- und Industrieunternehmen. Die vom Bundeskanzler genannten Zahlen sind ermutigend.Wir brauchen in der DDR jetzt das, was nach dem Kriege Westdeutschland aus den Trümmern an die Spitze der Weltrangliste geführt hat: die freien, sich selbst verantwortenden Wirtschaftsbürger. Bis sie sich voll entfaltet haben, wird noch eine Weile vergehen. Der Kahlschlag der sozialistischen Genossendiktatur, der staatlichen Kommandowirtschaft wirkt noch nach. Aber die sozialistischen Barrieren fallen jetzt weg. Es wird sich sehr schnell zeigen: Demokratie und Marktwirtschaft bedingen einander. Eine funktionierende rechtsstaatliche Demokratie ist zugleich die wichtigste Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg.Auch unter diesem Aspekt haben wir Anlaß zur Freude, daß gestern 16 Millionen Deutsche nach mehr als einem halben Jahrhundert der Unfreiheit eine Verfassungsgarantie für ihre Grundrechte, für ihre persönliche Freiheit und damit für ihre Menschenwürde erhalten haben.
Ein Drittes möchte ich als entscheidenden politischen Tatbestand sowohl für die Wiederherstellung der Einheit und Freiheit Deutschlands als auch für seine zukünftige Politik hervorheben. Konrad Adenauer hat in den fünfziger Jahren die Weichen für eine Außenpolitik gestellt, die den Weg zur Einheit geöffnet hat. Am Anfang stand die klare Entscheidung für den Westen. Diese Entscheidung war moralisch und politisch richtig. Ohne sie hätten wir heute keine Verbündeten im Westen und keine Optionen im Osten. Der Ring des Mißtrauens hätte sich längst wieder um unser Land geschlossen.Die damalige Entscheidung war moralisch richtig, weil wir dadurch in eine Gemeinschaft von Staaten eintraten, für die Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zur Staatsräson gehören. Sie war politisch richtig, weil wir Einheit und Freiheit für Deutschland und Europa aus eigener Kraft nicht hätten erreichen können. Dazu brauchten wir den Rückhalt und den Beistand der freien Welt.Im Deutschlandvertrag von 1952 haben sich unsere Alliierten die Zielsetzung der von Konrad Adenauer konzipierten Deutschlandpolitik zu eigen gemacht. Die Lösung der offenen deutschen Frage wurde so zu einer Sache des gesamten Westens. Das war Konrad Adenauers große historische Leistung, deren bahnbrechende Bedeutung für die Zukunft nicht nur Deutschlands, sondern Europas uns heute bewußt ist; denn sie wirkt über den Tag der Vereinigung Deutschlands hinaus fort.Was Konrad Adenauer begonnen hat, wurde von Helmut Kohl bei seiner historischen Begegnung mit Michail Gorbatschow am 16. Juli im Kaukasus vollendet. Das vereinte Deutschland ist Mitglied der Europäischen Gemeinschaft und der Nordatlantischen Allianz.
Die Sowjetunion stimmt dem zu. Das Ergebnis ist Stabilität für Deutschland und für das sich wandelnde Europa.Das neue Deutschland tritt damit unter glücklicheren Bedingungen in die Geschichte ein, als es dem Bismarck-Reich nach 1871 vergönnt war. Dieses stand bald allein. Wir dagegen sind Verbündete des Westens und wichtige Partner des Ostens. So muß es bleiben — im Interesse des Friedens und der gesamteuropäischen Zusammenarbeit.Von besonderer Bedeutung ist und bleibt unser Verhältnis zu den USA. Ohne ihre Anwesenheit in Europa hätten wir uns weder in der Berlin-Krise noch in anderen schwierigen Situationen behaupten können. Keiner unserer Verbündeten hat uns im deutschen Einigungsprozeß mehr unterstützt als die Amerikaner, allen voran Präsident Bush. Auch in Zukunft bleiben wir auf ihre Unterstützung angewiesen.Das gilt insbesondere für die Sicherheitspolitik, in der Europa — trotz deutschen Drängens — bisher keine nennenswerten Einigungsfortschritte gemacht hat. Das berührt meines Erachtens auch die euro-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18035
Dr. Dreggerpäische Einigungspolitik insgesamt. Ich jedenfalls kann mir nur schwer eine europäische Währungsunion vorstellen, wenn es nicht auch zu einer europäischen Sicherheitsunion kommt. Beide Felder der Politik berühren die politische Existenz der beteiligten europäischen Staaten. Es ist schwer einsehbar, daß nur das eine Feld zum Gegenstand der Einigungspolitik gemacht wird, das andere aber nicht. Zur politischen Union Europas gehört, daß in den kommenden Jahren beide Gebiete zum Gegenstand der politischen Einigung werden.
Westbindung heißt nicht, Abwendung vom Osten. Rußland ist seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts europäische Großmacht. Es will auch in Zukunft Einfluß auf die europäische Entwicklung haben. Wir stemmen uns dem nicht entgegen. Im Gegenteil, wir fördern es im KSZE-Prozeß mit dem Ziel, bündnisübergreifende Strukturen in Europa zu schaffen. Allerdings ersetzt die KSZE weder die NATO noch die Bundeswehr. Wir haben in dieser Stunde allen Anlaß, unseren Soldaten und unseren Alliierten für ihren Friedensdienst in Deutschland zu danken. Ohne ihn wäre der friedliche Wandel in Europa nicht möglich gewesen.
Aber wir arbeiten an der Entmilitarisierung der OstWest-Beziehungen. Wir wissen: Die Sowjetunion braucht — wie alle — volle Regale und zufriedene Menschen. Das kann sie nicht durch militärische Überrüstung erreichen, sondern nur durch Zusammenarbeit mit dem Westen.Als größtem Handelspartner der Sowjetunion fällt uns dabei eine besondere Verantwortung zu. Wir werden sie mit Engagement und Besonnenheit wahrnehmen. Der am 3. September in Moskau paraphierte Partnerschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und uns, von dem der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung bereits gesprochen hat, schafft dafür eine Grundlage. Wir können uns dabei auf wechselseitig gute Erfahrungen in der technisch-ökonomischen Zusammenarbeit stützen. Letztlich ist diese Aufgabe für uns keine Last, sondern eine große Zukunftschance, die wir möglichst im Zusammenwirken mit den anderen europäischen Staaten jedenfalls im Interesse ganz Europas wahrnehmen werden.Die Redner beim gestrigen Staatsakt und auch die meisten heute haben alle Deutschen aufgefordert, gerade jetzt in Solidarität zusammenzustehen. In diese Solidarität sollten wir vor allem auch die Deutschen einbeziehen, die durch die Grenzregelung mit Polen in besonderer Weise betroffen werden. Ich meine damit diejenigen, die aus ihrer Heimat in Ost- und Westpreußen, in Danzig, in Pommern, in Ostbrandenburg und in Nieder- und Oberschlesien vertrieben worden sind. Ich meine damit ferner diejenigen, die heute dort als deutsche Minderheit leben.Zu dieser Solidarität gehört nach meiner Auffassung, daß in dem künftigen Vertragswerk mit Polen nicht nur der Grenzverlauf beschrieben, sondern auch der Charakter dieser Grenze geregelt wird. Sie muß einen europäischen Charakter erhalten, wie es inWesteuropa erreicht wurde. Das Recht auf die Heimat und die Volksgruppenrechte der Deutschen müssen in diesem Vertragskomplex ihren Niederschlag finden.
Ich bitte die deutschen Heimatvertriebenen und die Deutschen, die jenseits von Oder und Neiße leben, eindringlich, sich dieser konstruktiven Aufgabe zuzuwenden und an ihrer Erfüllung engagiert mitzuarbeiten.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht den ostdeutschen Heimatvertriebenen und den in ihrer Heimat verbliebenen Deutschen auch in Zukunft als Gesprächspartner selbstverständlich zur Verfügung. Ich meine, meine Damen und Herren, Sie können doch nicht diese Gruppen unseres Volkes von der Solidarität ausschließen.
Meine Damen und Herren, die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands schafft nicht nur Freiheit und Wohlstand, sie schafft auch Frieden. Die militärische Konfrontation auf deutschem Boden ist beendet. Der Streitkräfteabbau und der Rückzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ungarn, der Tschechoslowakei, der DDR und demnächst auch aus Polen erhöht unsere Sicherheit.Für den Abzug aus der DDR zahlen wir an die Sowjetunion 13 Milliarden DM. Das ist viel Geld; aber es ist eine gute Investition auch im Hinblick auf die künftige Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion.Schon jetzt erlauben uns diese Veränderungen, die Wehrpflicht von 15 Monaten auf 12 Monate zu verkürzen.In der Golfkrise arbeiten die USA und die Sowjetunion im Rahmen der UNO zum ersten Mal zusammen. Dazu wäre es ohne die Friedens- und Einigungspolitik in Europa, die ganz wesentlich von Bundeskanzler Helmut Kohl und seinem Außenminister Hans-Dietrich Genscher mitgetragen worden ist, nicht gekommen.
Der Dreiklang unserer Nationalhymne ist seit gestern Wirklichkeit: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. Für dieses Ziel sind vor einem Jahr die Deutschen in Leipzig, in Dresden, in Berlin, in der gesamten ehemaligen DDR auf die Straßen gegangen. Sie haben sich in freien Wahlen für ein einiges und freies Deutschland entschieden, in dem sie sich nach zwölf Jahren brauner und 40 Jahren roter Diktatur endlich wieder heimisch fühlen wollen.Das vereinte Deutschland ist kein Provisorium — Herr Ministerpräsident Lafontaine, so haben Sie sich ausgedrückt.
Können Sie sich vorstellen, daß ein französischer Politiker Frankreich als Provisorium bezeichnen würde? Nein, das geteilte Deutschland war ein Provisorium, und ein illegitimes dazu. Das vereinte Deutschland ist unser Vaterland, das wir lieben und an dem wir festhalten.Meine Damen und Herren, wer ein gestörtes Verhältnis zu seinem Vaterland hat, der wird auch Europa nicht bauen können; denn die politische Union Europas wird ein Bund seiner Völker sein, deren Staaten,
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18036 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Dr. Dreggeranders als in den USA, nicht nur administrative Einheiten sind, sondern auch das Gehäuse nationaler Kulturen, die zu Weltkulturen wurden. Die Vielfalt der Kulturen ist der Reichtum Europas. Halten wir an ihm fest!
Deutschland ist heute ein Pfeiler der Stabilität des Friedens und der Zusammenarbeit. Das Vertrauen, das ihm in Ost und West zur Zeit mehr als früher entgegengebracht wird, zu bewahren und zu mehren, sollte unsere allerwichtigste Zukunftsaufgabe sein.In diesem Sinne wünsche ich im Namen der ersten gesamtdeutschen CDU/CSU-Bundestagsfraktion der ersten gesamtdeutschen Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl Glück und Gottes Segen, von dem wir uns in den hinter uns liegenden Jahren getragen fühlten und auf den wir auch in Zukunft hoffen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Schwerter zweier Weltkriege, des Kalten Krieges und des Klassenkampfes umzuschmieden zu Pflugscharen der Demokratie, das ist die Aufgabe, vor die der Vollzug der Einigung Deutschlands uns stellt.
Das Denkmal, das uns diese Aufgabe auszudrücken hilft, steht neben dem Palast der Vereinten Nationen in New York. Eine Wandinschrift auf dem Platz der Vereinten Nationen erinnert zusätzlich an das JesajaWort, das der Bildhauer darstellen wollte. Das Denkmal selbst war ein Geschenk der Sowjetunion an die Vereinten Nationen.Die jungen Leute der Friedensbewegung in unserem Land, die dieses Zeichen Anfang der achtziger Jahre als Aufnäher an ihren Ärmeln trugen, wurden polizeilich verfolgt und mehr als einmal mißhandelt. So umschreibt dieses Symbol die Dimensionen der Aufgabe, die vor uns steht.
Denn zwischen die Verantwortungsträger der heutigen Welt und unsere Nachbarn im Westen und im Osten sehen wir uns gestellt, wenn wir die Debatte darüber aufnehmen, wie sich Vereinigung und Demokratisierung im deutschen Vereinigungsprozeß zueinander verhalten.Die Bürgerbewegungen Osteuropas, von denen die in der ehemaligen DDR immer nur ein Teil gewesen sind, haben besondere Erfahrungen, aber auch besondere Impulse in diesem Vereinigungsprozeß zu vertreten, zuallererst den entschiedenen Willen, an Freiheit und Demokratie den ihren Völkern gebührenden Anteil zu gewinnen.Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges fordern die osteuropäischen Völker ihre Freiheit, und noch heute sind sie weit entfernt davon, sie in dem Umfang erlangt zu haben, daß Demokratie der selbstverständliche Inhalt des politischen Alltags geworden wäre.Es war dieser Zusammenhang, in dem auch die Bürgerbewegungen unseres Landes nach dem Ende der deutschen Teilung verlangt haben. Einer der entscheidenden Texte dieser Bewegung aus dem Jahre 1987, der aus einer Protestaktion aus Anlaß des 25. Jahrestages des Mauerbaus hervorgegangen ist, trägt die Überschrift „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung". Der Text selbst, der sich dann hauptsächlich mit Fragen der Reisefreiheit nach Ost und West beschäftigt, stellte seine Forderungen im Interesse des demokratischen Dialogs freier und mündiger Bürger.Was nun Leute der Bürgerbewegungen von anderen unterschied, die über die Spaltung Europas und Deutschlands nachdachten, war ein klares Bewußtsein davon, daß die Übertragung der Grundsätze westlicher Demokratie in die Osthälfte Europas ohne deren beträchtliche Ergänzung und Erweiterung nicht gelingen kann.
Solchen Übertragungsversuchen drohte das gleiche Schicksal wie Wilsons 14 Punkten: Formuliert als Programm der Befreiung osteuropäischer Völker, zerbrach es am Widerstand derer, die nicht einsahen, daß demokratische Freiheiten etwas anderes sind als individuelle Rechte, die man zusprechen oder versagen kann. Worum es vielmehr geht, ist, das durchzusetzen, was Wilson die Herrschaft des Rechtes genannt hat: einen politisch-sozialen Zustand, in dem solche Rechte zuallererst durchsetzbar und darum auch zuerkennbar werden. Mit anderen Worten: Demokratie ist nicht nur eine innenpolitische Frage nach einer bestimmten Verfassungsform, sie ist auch eine außenpolitische Forderung, die nach einer Völkerdemokratie als der Voraussetzung dafür,
daß externe politische Abhängigkeiten nicht Demokratisierung nach innen verhindern.
Sie ist auch eine Forderung nach Wirtschaftsdemokratie, d. h. die Forderung danach, daß wirtschaftliche Macht so aufgeteilt wird, daß an ihr partizipiert werden kann, wie es für jede Unabhängigkeit unerläßlich ist, ohne die individuelle demokratische Rechte nicht wahrgenommen werden können.
Mit Freude und Dankbarkeit habe ich wahrgenommen, was zu dieser Sache in der Regierungserklärung gesagt worden ist, freilich nicht ohne zu bemerken, daß gerade die Konkretisierungen auf dem Gebiet der Wirtschaft weithin gefehlt haben, und mich zu erin-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18037
Dr. Ullmannnern, daß das Visagesetz diesem Programm recht schlecht entspricht.
Erstmalig in der europäischen Nachkriegsgeschichte können die gestellten Forderungen auch in Osteuropa erfüllt werden. Es ist das der praktisch-politische Grund dafür, daß die Bürgerbewegungen eine Verfassungsdiskussion fordern. Die deutsche Verfassung ist ein Teilaspekt, nicht der unwesentlichste der europäischen Einigung. Es bleibt dabei: Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, d. h. föderale Struktur und föderale Gesetzgebung samt Grundrechtskatalog, sind die unrevidierbare Voraussetzung jeder Diskussion über die Deutsche Verfassung.
Aber in welche Richtung soll sich diese Diskussion bewegen? Wer, meine Damen und Herren, in diesem Gebäude einen neuen Abschnitt deutscher Politik eröffnet, muß sich dazu erklären, wie er sich zu jenen Traditionen zu verhalten gedenkt, deren Symbol das Berliner Reichstagsgebäude ist. Daß in diesem Hohen Hause niemand die Absicht hat, dem verhängnisvollen Zweiten und dem katastrophalen Dritten Reich ein Viertes hinzuzufügen, das kann vorausgesetzt werden. Aber genügen die sattsam bekannten Absichtserklärungen und die oft wiederholten Hinweise auf die europäische Einbindung, um falschen Weichenstellungen zu wehren? Die Absage an das Zweite und Dritte Reich muß jetzt eine endgültige verfassungsrechtliche Gestalt annehmen.
Es ist nicht Mißtrauen gegenüber dem Verantwortungsbewußtsein deutscher Politik, sondern nüchternes Abwägen der tatsächlichen Machtverhältnisse, wenn gefragt wird, ob ein vereinigtes Deutschland als wirtschaftlicher und politischer Machtkomplex nicht eine kritische Größe erreicht, die den Interessen der Nachbarn nicht gleichgültig sein kann.
Die geforderte Absage kann verfassungsrechtlich nur die Gestalt eines Bundes deutscher Länder haben,
d. h. die eines erweiterten Föderalismus, in dem Art. 31 des Grundgesetzes einen anderen Sinn und Inhalt bekäme und sich die Frage stellte, ob das Zentrum der Exekutive dieses Bundes deutscher Länder ferner so gestaltet bleiben kann, wie es Art. 65 Satz 1 des Grundgesetzes voraussetzt.Ein zweiter Sachbereich drängt sich auf. Kern der inhumanen Gesetzgebung des Dritten Reiches war die Außerkraftsetzung des Gleichheitsprinzips, Art. 3 des Grundgesetzes.
Eine nicht nur deklaratorische Absage an diese Tradition kann heute nur die Gestalt einer verfassungsrechtlichen Festlegung haben, die das Gleichheitsprinzip ausweitet, auf die sozialrechtliche Absicherung der Frauenrechte und die volle politische Gleichstellung der Frau abhebt, auf eine exklusiv menschenrechtliche und politische, nicht phyletische Begründung des Staatsbürgerrechtes samt allen Konsequenzen für das Asylrecht sowie die schnellstmögliche Ratifikation der UNO-Anti-Apartheid-Konvention;
denn der Zusammenhang ist offenkundig: Die Folgen der Umweltzerstörung in der Zweidrittelwelt erreichen uns in Gestalt der Flüchtlingsmassen, die vor den Toren der reichen Industriestaaten lagern. Ist es ausgerechnet den Deutschen erlaubt, das diskriminierende Wort Wirtschaftsasylanten dort zu gebrauchen, wo die Zerstörung jeglicher Lebensqualität keinen anderen Ausweg als die Flucht zuläßt?
Alle wissen es: Es gibt nur das eine ökologische Globalsystem, das uns mit jenen Teilen der Welt verbindet, wo die Folgen statt der Profite unserer Wirtschaft ankommen.Die christlichen Kirchen haben darum den konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Gang gesetzt. Stellt sich aber für uns im geeinten Deutschland die Frage nach einer Erweiterung der Demokratie — und ohne diese Erweiterung, Herr Abgeordneter Dregger, wird es für den einen Teil der Deutschen, deren Länder sie soeben als „Entwicklungsländer" bezeichnet haben, nur zu einer Demokratie niedrigerer Stufe kommen — , so kann diese Erweiterung nur in Richtung auf die Gerechtigkeit und den Frieden jenes Prozesses gehen. Sie wären dann jene Pflugscharen der Demokratie, von denen eingangs die Rede war. „Der Acker aber ist die Welt", möchte man mit jenem bekannten Jesus-Logion hinzufügen. Und ist es nicht eine merkwürdige Welt, in der sich denen, die über eine neue Epoche in der Geschichte der Demokratie nachdenken, solche Aussprüche auf die Lippen drängen?Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Lafontaine.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die staatliche Einheit, so hörten wir gestern, ist die Form, die wir gefunden haben.
Jetzt geht es um die Inhalte.18038 Deutscher Bundestag — 1 i. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990Ministerpräsident Lafontaine
Ich wiederhole daher noch einmal, daß Einheit für die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eher ein gesellschaftlicher denn ein staatlicher Begriff ist.
Die Einheit ist mit der staatlichen Einheit nicht vollendet, sie beginnt erst. Einheit ist für uns erst dann gegeben, wenn die Menschen in den neuen Bundesländern dieselben Lebensmöglichkeiten haben wie die Menschen in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland.
Die Einheit ist ein Wagnis der Freiheit und der Solidarität. Die Einheit hat nichts Ausgrenzendes an sich, nichts Abschließendes. Der falsche Begriff der Einheit birgt auch Gefahren. Ich zitiere daher, um die Gedanken auch denen verständlich zu machen, die vielleicht ein parteiisches Urteil nicht hören wollten, einen Freund der Deutschen, Alfred Grosser, der gestern zu diesem Thema folgendes ausgeführt hat:Die Einigkeit als Ausschaltung der Opposition und sogar der Gegensätze, diese Verneinung der pluralistischen Demokratie gibt es nicht nur in totalitären Staaten, sie stellt eine ständige Versuchung dar, Einstimmigkeit zu wollen,
und sogar auferlegen zu wollen im Namen des Patriotismus.— dies war der Sinn von „Ich kenne keine Parteien mehr" von Wilhelm II. —Im Namen der Bewahrung der Gesellschaftsordnung — als gehöre die ständige Debatte um ihre Verbesserung nicht zu den Fundamenten der politischen Freiheit —,im Namen der Sehnsucht nach der konfliktvermeidenden Eintracht — in Deutschland mehr als woanders — gibt es die Tradition des Unpolitischen, des Apolitischen.Wir sollten auch am Beginn des neuen größeren Staates diese Mahnung unseres französischen Freundes beherzigen.
Der Begriff des Vorpolitischen in der Debatte in Europa taucht nicht nur bei dem Begriff der Einheit auf; er taucht auch bei dem Begriff der Nation auf. Ich habe dazu bereits Ausführungen gemacht.
Ich habe damals dieselben „verständnisvollen" Reaktionen auf dieser Seite des Hauses erfahren. Ich wiederhole also noch einmal die Gedanken in der Hoffnung, daß sie zumindest inhaltlich aufgenommen werden, wenn sie auch nicht akzeptiert werden.Es geht uns um folgendes: Wir können den Nationenbegriff nicht an der Abstammung orientieren, sondern wir müssen ihn an der republikanischen Tradition orientieren, die gestern zu Recht beschworen worden ist.
Nur dann haben wir die Grundlage, die vereinigten Staaten von Europa zu schaffen.Das Apolitische begegnet uns nicht nur bei dem Begriff der Nation. Die ständige Frage, was „republikanische Tradition" heißt, ist nicht ein Ausweis Ihrer Vorbereitung auf das, was wir eigentlich gemeinsam beginnen wollen. Diese Frage dürfte hier nicht gestellt werden.
Dem Vorpolitischen begegnen wir nicht nur bei dem Begriff der Nation, sondern auch bei dem Begriff des Vaterlandes. Meine Damen und Herren zu unserer Rechten, Deutschland ist nicht nur Vaterland, Deutschland ist auch Mutterland. Es muß bei der inflatorischen Benutzung dieses Begriffes einmal gesagt werden.
Es war daher kein Zufall, als die Väter und Mütter des Grundgesetzes bemüht wurden, daß der Bundeskanzler nur Konrad Adenauer, Kurt Schumacher und Theodor Heuss erwähnt hat. Ich erwähne daher auch Frieda Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Wessel und Helene Weber. Wir dürfen nicht immer nur davon reden, wir müssen das irgendwann auch einmal lernen.
Ich sagte, die Einheit ist ein Wagnis der Freiheit und der Solidarität. Ich verwies darauf, daß diese Werte universalistisch sind, daß sie nicht in den Grenzen eines Nationalstaates definiert werden können. So wollen es die republikanische Tradition, und die Tradition der Aufklärung. Wenn man die Begriffe von Freiheit und Solidarität nicht auf die Lebenswirklichkeit eines Nationalstaates einengt, dann ist man den Nachbarvölkern und im besonderen den Menschen verpflichtet, denen es auf der Erde am schlechtesten geht. Unsere Hilfe muß in stärkerer Form den Verhungernden dieser Erde gelten, und es wäre ein gutes Zeichen gewesen, wenn der Bundeskanzler an diesem Tag konkret geworden wäre.
Unsere Verpflichtung gegenüber den Hungernden dieser Erde und gegenüber Menschen in den Krisengebieten ist auch eine Verpflichtung, die Waffenexportpolitik der Bundesregierung zu ändern.
Wir sind stolz darauf, daß wir das mit unserer sozialdemokratischen Mehrheit im Bundesrat geschafft haben. Zuerst liefern wir das Gas in den Irak und dann liefern wir die Gasmasken nach Saudi-Arabien, das
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18039
Ministerpräsident Lafontaine
kann im neuen, größeren Deutschland nicht fortgesetzt werden.
Wir sind alle für Abrüstung, und im Ziel gibt es ja keinen Streit. Aber auch hier hätte ich mir etwas mehr Konkretisierung gewünscht. Daher sage ich, was unsere Ziele sind: Abrüstung bedeutet für uns Verzicht auf den Jäger 90 und damit freiwerdende Mittel von 100 Milliarden DM.
Abrüstung bedeutet für uns nicht nur atomwaffenfreie Zone in der DDR, sondern Rückzug der atomaren Systeme aus ganz Deutschland, insbesondere der taktischen Waffen.
Abrüstung bedeutet für uns Einstellung der Großmanöver und der ausufernden militärischen Tiefflüge, weil es ein konkretes Erlebnis für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands wäre, wenn diese militärischen Übungsflüge endlich eingestellt würden. Sie fragen allmählich: Gegen wen üben diese tief fliegenden militärischen Maschinen eigentlich noch?
Wir wollen stärkere Vereinte Nationen. Wir werden unsere Beiträge dazu leisten, aber nicht in erster Linie — wie es Willy Brandt ausgeführt hat — bei militärischen Aktionen.Wir Sozialdemokraten haben uns vor 65 Jahren zu den Vereinigten Staaten von Europa bekannt.
Wir konnten das nach 1918 nicht durchsetzen. Aber jetzt ist es unsere Aufgabe, das durchzusetzen, wofür viele Frauen und Männer in den Gefängnissen und Konzentrationslagern gelitten haben. Sie wollten ein neues Europa, in dem der Nationalismus endlich besiegt ist.
An dieser Stelle stelle ich dann die Frage, was die Zwischenrufe nach dem Provisorium eigentlich sollen. Wenn das Bekenntnis zu den Vereinigten Staaten von Europa immer wiederholt wird, kann das für einen denkenden Menschen nur heißen, daß dieser neue Staat ein Übergangsstaat ist, weil wir ihn in den Vereinigten Staaten von Europa aufheben wollen.
Ich sprach von dem Wagnis der Freiheit und der Solidarität. Ich komme zunächst zu der Idee der Freiheit. Erstens. Die Freiheit hat auch Konsequenzen für unsere demokratische Ordnung. Ich habe gestern der Bundestagspräsidentin zugehört, die in guter Absicht gesagt hat, sie würde heute gerne allen jungen Menschen in Deutschland das Grundgesetz schenken. Ichsage in guter Absicht, und ich nehme das mit Respekt zur Kenntnis.
Aber ich werbe bei Ihnen für die Idee, was es für die jungen Menschen bedeuten würde, wenn sie die Chance hätten, über ihre Verfassung abzustimmen, selbst zu entscheiden, mit welcher Verfassung sie in der Zukunft leben wollen.
Zweitens. Die Freiheit verpflichtet uns zur demokratischen Ordnung. Die demokratische Ordnung verpflichtet uns zum Ausbau des Föderalismus. Ich ermutige die neuen Bundesländer, mitzuhelfen, daß der Föderalismus stark bleibt. Er gehört zur besten Tradition der Bundesrepublik, und er kann die beste Tradition des neuen demokratischen Deutschland werden.
Weil davon bezeichnenderweise noch nicht die Rede war: Für uns ist Demokratie immer auch Ausbau der Wirtschaftsdemokratie.
Wir wollen den Ausbau der Betriebsverfassung. Wir wollen den Ausbau der Mitbestimmung. Wir wollen auch die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen.
Das heißt, daß wir Gewerkschaften nicht nur dann bewundern, wenn sie wie die polnische Solidarnosc den Freiheitskampf in einem Lande anführen, sondern daß wir sie auch dann bewundern und unterstützen, wenn sie aus einer Marktwirtschaft durch ihre Arbeit eine Soziale Marktwirtschaft machen.
In der Verpflichtung für die Freiheit und für die Demokratie wollen wir die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft.
Daher wollen wir Arbeitszeitverkürzung. Arbeitszeitverkürzung ist nicht in erster Linie eine ökonomische Kategorie, sondern Arbeitszeitverkürzung ist eine gesellschaftliche Kategorie. Wer die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft durchsetzen will, der muß durch die Verteilung der Arbeitszeit zwischen Männern und Frauen die Möglichkeit dafür schaffen.
Wir wollen eine andere Familienpolitik. Es gibt zwei Begriffe, mit denen Familie beschrieben wird. Der erste Begriff stellt in erster Linie auf das Zusammenleben der Erwachsenen ab. Wir glauben, daß dieser Begriff veraltet ist.18040 Deutscher Bundestag — I 1. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990Ministerpräsident Lafontaine
Der zweite — nach unserer Meinung richtige und zeitgemäße — Begriff der Familie ist der, der auf das Zusammenleben von Erwachsenen mit Kindern abstellt.
Wenn man diesen Begriff akzeptiert — von der FDP höre ich hier gerade, das sei nichts Neues —, dann muß man die Familienförderung grundsätzlich ändern. Ihr Ehegatten-Splitting, Ihre Kinderfreibeträge sind in der neuen Gesellschaft der neuen Bundesländer ein Hohn.
Haben Sie sich irgendwann einmal die Mühe gemacht, auszurechnen, was es, wenn man 600 DM Nettolohn hat, bedeutet, mit den Gesetzen für EhegattenSplitting und Kinderfreibeträge konfrontiert zu werden?
Dies ist völlig unhaltbar, meine Damen und Herren. Daher bleibt es dabei: 200 DM ab dem ersten Kind, gerade aus unserer Verpflichtung gegenüber den Menschen in den neuen Bundesländern, die viel zu niedrige Löhne beziehen, um ihre Kinder großzuziehen.
Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft heißt aber nicht nur Änderung der Familienpolitik, sondern heißt für uns auch — darum haben wir an dieser Stelle hart um eine Lösung gerungen — Fristenlösung bei § 218.
Das Strafgesetzbuch ist nicht das richtige Mittel, um bei Beratung und Hilfe im Schwangerschaftskonflikt vorwärtszukommen.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann-Mertens?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Stratmann, vielleicht können Sie sich kurz fassen. Meine Redezeit ist leider sehr knapp. — Bitte schön.
Das möchte ich, Herr Lafontaine. Ich bedaure, daß ich durch die Intervention des Präsidiums meine Zwischenfrage nicht an der passenden Stelle stellen konnte.
Sie haben vor zwei Minuten gesagt, daß die Herstellung der deutschen Einheit mit einer fundamentalen Stärkung des Föderalismus in Deutschland verbunden werden muß. Ich stimme Ihnen völlig zu.
Ich frage Sie aber: Wie beurteilen Sie, daß im Einigungsvertrag durch Grundgesetzänderung ein energischer Schlag gegen den Föderalismus, insbesondere der neuen Bundesländer in der ehemaligen DDR, dadurch ausgeübt wird, daß die Finanzverfassung geändert und die finanzielle Ausstattung der neuen Bundesländer in der ehemaligen DDR entscheidend verringert wird? Und ich frage Sie, wie Sie als Ministerpräsident des Saarlandes im Bundesrat persönlich dazu gestanden haben.
Einen Augenblick, Herr Ministerpräsident. — Wir haben hier eine Regel, wonach Präsidenten im Amt nicht kritisiert werden sollten.
Sie haben hier gesagt, daß Sie Grund hätten, sich kritisiert zu fühlen. Lieber Herr Kollege Stratmann-Mertens, es gibt zwei Präsidenten hier, die sich darauf geeinigt haben, Ihnen einen Ordnungsruf nicht zu erteilen, um diese Sitzung nicht zu stören.
Jetzt ist erst einmal der Ministerpräsident des Saarlandes an der Reihe, Ihnen zu antworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also, was diesen charmanten Zwischenruf „Jetzt hat er nachdenken können" angeht, so muß ich Ihnen ein Geständnis machen: Manchmal reichen ein oder zwei Minuten nicht aus, um gründlich genug nachdenken zu können.
Es ist manchmal wirklich gut, sich Zeit zu nehmen. Die Entdeckung der Langsamkeit muß wieder auf der Tagesordnung stehen, meine Damen und Herren. Denn wir haben in letzter Zeit so schnell entschieden, daß unglaublich viele Fehler gemacht worden sind.
Natürlich — damit beantworte ich die Frage des Kollegen Stratmann-Mertens — konnten wir die Finanzprobleme der alten Bundesländer jetzt nicht auch noch lösen.
Es gibt einige alte Bundesländer, die total überschuldet sind.
— Meine Damen und Herren, Ihr Lachen ist hier völlig deplaziert. Wir haben an der Saar 1985 die absolute Mehrheit erreicht, weil Ihre Freunde nicht mehr aus und ein wußten, weil die Stahlkrise auf dem Höhepunkt war und weil das Land total überschuldet war.
Ich komme damit zum Begriff der Solidarität, und dies ist ein entscheidender Begriff für die weiteren Diskussionen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18041
Augenblick mal, Herr Ministerpräsident. Der Abgeordnete Dr. Hirsch hat noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte um Entschuldigung, ich habe nur noch ganz wenig Redezeit.
Nein, wir rechnen das nicht auf Ihre Redezeit an; sie bleibt Ihnen ungeschmälert erhalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön.
Herr Ministerpräsident, würden Sie uns sagen, wie Sie es unter föderalistischen Gesichtspunkten gerechtfertigt haben, daß auch das Saarland der Stimmenveränderung im Bundesrat zu Lasten der kleinen Länder zugestimmt hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Kollege Hirsch, erstens gehörte das Saarland zu den Bundesländern, die zunächst einmal erklärt haben, sie hielten es nicht für richtig, das zu tun, bevor die neuen Bundesländer da seien.Zweitens. Wir haben uns lange Zeit bemüht, eine zu starke Verschiebung der Stimmenanteile zugunsten der einwohnerstarken Bundesländer zu verhindern.Drittens kam es dann zu einem Kompromiß, der uns besser erschien als die Majorisierung durch die starken Bundesländer.So erkläre ich Ihnen meine Haltung.
Ich komme zur Solidarität. Niemand werde auf etwas verzichten müssen, es komme nur auf die Verteilung der Zuwächse an — so haben Sie, Herr Bundeskanzler, den Einigungsprozeß beschrieben. Ich glaube, daß der Bundespräsident recht hatte, gestern festzustellen, dies würde die Vertagung des Teilens auf die Zukunft heißen und für viele menschliche Schicksale käme ein solches Teilen zu spät.
Daher bleiben wir dabei: Der deutsche Einigungsprozeß ist nur zustande zu bringen, wenn man ihm nicht die entscheidende Grundlage entzieht. Die entscheidende Grundlage ist nun einmal die Solidarität. Das heißt, es wird in der ehemaligen DDR für einige Jahre einige soziale Schwierigkeiten geben, und wir in den „alten" Bundesländern müssen Opfer bringen. Das ist die Wahrheit.
Nirgendwo, Herr Bundeskanzler, waren Sie in Ihrer Regierungserklärung so unpräzise wie bei der Frage, wie das denn alles zu finanzieren sei.Sie sprachen von den Kosten der Teilung und von den Erträgen der Einheit. Niemand bestreitet die Kosten der Teilung. Niemand bestreitet auch, daß die Einheit auf lange Sicht Erträge abwerfen wird und daß auch Investitionen Erträge abwerfen werden.
Aber das hindert doch nicht daran, jetzt eine solide Finanzpolitik einzufordern. Was wir jetzt erleben, ist ein Milliardenspiel, ein Lotteriespiel, das mit solider Finanzpolitik gar nichts mehr zu tun hat.
Ich habe bereits mehrfach gesagt: Die Kosten nicht der Einheit, sondern der finanzpolitischen Fehlentscheidungen werden in den nächsten Jahren pro Jahr 100 Milliarden DM oder mehr betragen. Es gibt heute niemanden mehr, der dies bestreitet. Die Londoner „Times" schreibt heute zu diesem Thema: Die Finanzierung der deutschen Einheit wird schwierig, weil die Regierung Kohl eine Reihe von Fehlern begangen hat, darunter das Versprechen, die Steuern nicht zu erhöhen, und den günstigen Wechselkurs für die OstMark.Ich zitiere diese Stimme aus England; man mag sie akzeptieren oder nicht akzeptieren. Aber wir brauchen eine solide Finanzpolitik.Das heißt für uns Sozialdemokraten erstens: keine Unternehmensteuersenkung in der Größenordnung von 25 Milliarden DM,
zweitens: deutliche Kürzung der Verteidigungsausgaben.Drittens sagen wir den Wählerinnen und Wählern: Wer von Solidarität redet, wer von Opfern redet, muß bitte schön auch die Wahrheit sagen, nämlich daß es ohne Steuererhöhungen nicht abgehen wird. Bei uns Sozialdemokraten heißt das nicht, die kleinen Leute zu belasten, sondern zunächst einmal diejenigen, die mehr tragen können.
Es ist ja interessant zu beobachten, daß jetzt die Golfkrise bemüht wird, um steuerpolitische Entscheidungen in einigen Monaten, falls Sie an der Regierung bleiben, zu begründen.Meine Damen und Herren, dies ist ein Schlingerkurs, den Ihnen doch niemand abnimmt. Ich wiederhole noch einmal: Die große Mehrheit der Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands ist schlauer als die gegenwärtige Mehrheit hier im Parlament.
Im übrigen geht es nicht nur um Steuern, sondern in ökonomischen und verteilungspolitischen Prozessen immer auch um Zinsen. Wer dem Anstieg der Realzinsen tatenlos zusieht, begeht den zweiten schweren ökonomischen Fehler, für den dann alle zu bezahlen haben. Diejenigen, die Häuser gebaut haben, bezahlen bereits jetzt Ihre unsolide Finanzpolitik. Die Hypothekenzinsen haben Höhen erreicht, die Familien teilweise bereits an den Rand der Existenzkrise treiben.
In den neuen Bundesländern gab es früher Zinssätzevon — das ist vielleicht weniger bekannt — 1,5 %.Wenn die Menschen, die dort ein Haus erworben ha-
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18042 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Ministerpräsident Lafontaine
ben und eine Hypothek abzutragen haben, diese Hypothek jetzt mit 9 % oder noch mehr bedienen müssen, dann ist das eine weitere Härte, an der wir doch nicht lächelnd oder ignorant vorbeigehen dürfen.
Der Wohnungsbau, meine Damen und Herren, ist eine Angelegenheit, die in allen Bundesländern dringend not tut. Wenn Sie sich die Zahlen der Zuwanderung vergegenwärtigen, die wir in den letzten Jahren gehabt haben und die wir haben werden, dann reichen die von Ihnen geschilderten Maßnahmen nicht aus. Wir brauchen eine Forcierung des sozialen Wohnungsbaus, und wir brauchen eine Begrenzung des Mietpreisanstiegs, denn 30 % sind nicht mehr zumutbar.
Zinsen, wenn sie eine gewisse Höhe überschreiten, blockieren logischerweise den Aufbau in den neuen Bundesländern.Wenn es um die neuen Bundesländer geht, mahnen wir noch einmal eine andere Bodenpolitik an, die nicht Investitionsunsicherheit zur Folge hat. Wir mahnen einen zügigen Ausbau der Infrastruktur an. Die Post allein genügt nicht; ich erkenne an, daß hier frühzeitig die Weichen gestellt worden sind. Wir mahnen Beschäftigungsgesellschaften an, weil Beschäftigungsgesellschaften ein moderneres Konzept als eben Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind.
Wir haben in den alten Bundesländern damit gute Erfahrungen gesammelt. Wir plädieren dafür, in den neuen Bundesländern Arbeit zu organisieren, statt Nichtstun zu bezahlen.
Wir mahnen statt ideologischen Verhärtungen eine Industriepolitik an. Wir brauchen eine neue Industriepolitik für die neuen Bundesländer, wenn wir nicht tatenlos zusehen wollen, daß der ehemalige Industriestandort DDR immer mehr den Bach heruntergeht, weil die Produktion dort immer mehr zerfällt. Wir sollten an das anknüpfen, was sich nach dem Kriege bewährt hat: an das industrielle Bundesvermögen. Betriebe wie VW oder Veba sind daraus hervorgegangen, die sich heute im internationalen Wettbewerb behaupten können.
Ich sage hier auch ein Wort zu den Rentnerinnen und Rentnern. Sie haben sich sehr allgemein ausgedrückt, Herr Bundeskanzler. Ich habe bereits in der letzten Bundestagssitzung an Sie die Bitte gerichtet, nach den Verhandlungen zum 2. Staatsvertrag noch einmal über die Dynamisierung der Mindestrenten zu verhandeln. Es ist doch nicht zumutbar, daß wir den Menschen in der DDR, die unter der Nazidiktatur und unter der SED-Diktatur gelitten haben, jetzt eine festgeschriebene Mindestrente bei steigenden Preisen zumuten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn es um ökologische Probleme geht, dann dürfen Sie nicht nur Orte der ehemaligen DDR, der neuen Bundesländer nennen; dann verkennen Sie das Problem. Dieses Problem ist nicht ein Problem des politischen Systems, sondern ein Problem der Industriegesellschaft und damit auch ein Problem der alten Bundesländer.
Es geht allerdings nicht an, daß zur Lösung dieser Probleme Programme von den Parteien, die in der Regierung entsprechende Entscheidungen bereits umsetzen könnten, immer nur vor Wahlen aufgeschrieben werden. Wenn Sie — das sage ich noch einmal an die Adresse der FDP und an die Adresse der CDU — von Klimaschutzsteuer, CO2-Abgabe oder von anderen Vorschlägen reden, die Sie in die Debatte einführen, um dem Problem näher zu kommen, dann sagen wir Ihnen: Sie sitzen doch in der Regierung. Warum tun Sie nichts? Warum tauchen solche Vorschläge immer vor Wahlen auf, um nach der Wahl in der Versenkung zu verschwinden?
Ich greife zum Schluß ein Problem auf, bei dem wir uns alle anstrengen müssen. Es geht um die Frage, wie wir den Prozeß des Zusammenwachsens zweier Gesellschaften mit unterschiedlichen Erfahrungen organisieren können. Es geht immer um Menschen, um einzelne Menschen. Wir müssen versuchen, den Prozeß des Zusammenwachsens so zu gestalten, daß die Menschen in der DDR ihre Würde und ihre Selbstachtung behalten können.Ich verdanke Tucholsky die Frage: Was geschieht, wenn Verurteilte zu Richtern werden? Dieses Bild bestimmt die Geschichte der letzten Jahrzehnte. Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur wurden Verurteilte zu Richtern in der neuen Bundesrepublik und in der DDR. Nach dem Zusammenbruch des SED-Staates wurden Verurteilte wieder zu Richtern.Aber es gibt ein weiteres Problem, das wir kritisch aufarbeiten müssen, daß es nämlich nach dem Zusammenbruch solcher Systeme immer Menschen gab, die Richter in beiden Systemen waren. Wenn wir diesen Prozeß aufarbeiten wollen, dann brauchen wir Wahrhaftigkeit auf der einen Seite. Nur die Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst ist die Grundlage, mit diesem schwierigen Problem fertig zu werden. Der Richter, der immer Richter ist, kann nicht das Leitbild einer zukünftigen Gesellschaft sein.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18043
Ministerpräsident Lafontaine
An die Verurteilten, die jetzt zu Richtern werden können oder geworden sind, richten wir die Bitte nach Gerechtigkeit, aber auch nach Versöhnung. Denn ich bin der festen Überzeugung: Ob die friedliche Revolution auch in einigen Jahren noch friedlich genannt werden kann, das liegt an uns, und das liegt in erster Linie an denjenigen, die Versöhnung ermöglichen und Vergebung gewähren können.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Gysi das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie ahnen, daß ich für die Abgeordneten der PDS spreche. Gestatten Sie mir dazu einige wenige Bemerkungen: Die SED ist eine Partei, die zunächst zweifellos aus antifaschistischen Parteien hervorgegangen war. Der DDR und der SED wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg ein poststalinistisches System übergestülpt; und wir haben es uns überstülpen lassen.
Das war unter anderem allerdings auch deshalb möglich, weil es damals Kräfte gab, die nicht den Kompromiß suchten, sondern das halbe Deutschland ganz wollten.Diese SED trug eindeutig die Hauptverantwortung für undemokratische und den individuellen Freiheiten widersprechende Systeme und Strukturen. Sie trug sie nicht allein, auch andere Parteien waren daran beteiligt.
Aber die Parteien selbst waren undemokratisch organisiert, d. h es gab immer einen großen Widerspruch zwischen Führung und Mitgliedschaft.In der SED waren 2,3 Millionen Mitglieder, darunter nicht wenige ältere, die zwischen 1933 und 1945 gegen die faschistische Diktatur gekämpft und unter ihr gelitten hatten. Sie wurden mit vielen anderen Mitgliedern auch um ihre Ideale betrogen und versuchen nun zum Teil, ihnen in der PDS wieder gerecht zu werden, nachdem sie eine korrupte Führung ausgeschlossen und sich zu neuen Zielen bekannt haben.Wir stehen zu der Geschichte und der Verantwortung.
Das macht den Weg sehr viel schwieriger, aber auch ehrlicher. Damit steht vor uns in besonderem Maße ein Problem, das vor vielen ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern der DDR sicherlich für viele wesentlich schwächer, aber doch ähnlich steht: Es geht um eine gerechte und differenzierte Beurteilung der Geschichte der DDR und ihrer ehemaligen Bürgerinnen und Bürger, also um die Einschätzung von Fehlentwicklungen, von Undemokratischem, von Verbrecherischem, von Uneffizientem, von Unökologischem, aber auch um den Beitrag zur Friedens-, Abrüstungs- und Entspannungspolitik, um den Abbau von sozialen Unterschieden und um bestimmte soziale und rechtliche Leistungen. Es sollte ab jetzt alles unterlassen werden, was das Selbstvertrauen ehemaliger Bürgerinnen und Bürger der DDR weiter untergräbt, was es ihnen schwer oder unmöglich macht, zu ihrer eigenen Biographie zu stehen, daß sie schon nach eigenem Empfinden Bürger zweiter Klasse sind.Wenn sich hier Psychologisches und Soziales als Minderwertiges auch noch koppelt, dann kann das nicht ungefährlich sein.
Dazu können auch Gesten gehören. Ich finde, es gibt hier so manche falschen Gesten. Wenn z. B. fünf ehemalige DDR-Politiker heute zu Ministern ernannt werden und gleichzeitig gesagt wird, daß sie eigentlich keine Aufgabe haben, dann ist das so eine falsche Geste.
— Es ist nur scheinbar großzügig und besagt doch, daß sie eigentlich überflüssig sind.
— Das kann ja unbestritten sein.Wenn ich sehe, wie wir hier ohne Tisch sitzen, dann freue ich mich, daß es gerade Vizepräsident Stücklen war, der mir gesagt hat, daß das beseitigt wird und daß das nicht der Stil sein soll.
Es geht ebenfalls nicht, daß wir durch eine Fernsehsendung erfahren, daß es Radaranlagen in der Bundesrepublik gibt — ich nehme übrigens an: auch in der früheren DDR — , die eine Ausstrahlung haben, so daß die Bediener an Krebs erkranken. Deshalb sei die Entscheidung getroffen worden, sie an die Oder zu verlegen. Das, glaube ich, ist genau der falsche Weg. So kann das nicht laufen.
Ich warne auch davor, die Auseinandersetzung mit der Geschichte der ehemaligen DDR zu nutzen, um die Bundesrepublik Deutschland zu glorifizieren. Das nützt niemandem. Es gibt auch hier sozial Schwache und Arme. Es gibt auch Ausgegrenzte. Es ist in diesem Gesamtdeutschland auch an sozialer, psychologischer, kultureller und politischer Entwicklung viel zu tun.
Ich finde auch, daß man ehrlich und konsequent sein muß und daß man die Verhältnisse danach ausrichten sollte.
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18044 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Dr. GysiIch werde Ihnen ein Beispiel nennen. Es gibt keine Fraktion, die z. B. den Präsidenten der Sowjetunion, Gorbatschow, hinsichtlich seiner Leistungen nicht würdigt. Aber es gehört der Ehrlichkeit halber hinzu, daß es in der Bundesrepublik Länder gibt, wo er mit seiner Biographie nicht einmal Postbote werden könnte. Das gehört eben dazu. Ich finde, da muß einiges geändert werden.
Ich will die Regierungserklärung des Bundeskanzlers nutzen, um zu einer Frage, nämlich zu den Massenvernichtungswaffen, zu sprechen. Ich glaube, daß der Abbau des Ost-West-Konflikts eine wirklich einzigartige Chance in sich birgt, diese Gefahr für die gesamte Zivilisation loszuwerden.
Herr Abgeordneter Dr. Gysi, es wird eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wetzel an Sie erbeten. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Geht das von meiner Zeit ab?
Nein, das nehme ich Ihnen nicht von Ihrer Zeit weg, Herr Dr. Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Gysi, ich bitte um Entschuldigung, daß ich mit einer gewissen Verzögerung auf diesen Punkt zu sprechen komme. Aber es ist noch etwas schwierig, Herr Präsident, die Kommunikation zwischen Präsidium und Plenarsaal herzustellen. Das hängt von den etwas unglücklichen Räumlichkeiten ab.
Erstens ist das richtig, und zweitens pflege ich den Redner nicht mitten im Satz zu unterbrechen. Nun fragen Sie.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Gysi, Sie haben gerade ein Plädoyer für Ehrlichkeit in der Politik gehalten. Wie steht es mit dem unrechtmäßig erworbenen Vermögen der PDS? Sind Sie bereit, das zurückzugeben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir könnten jetzt eine längere Debatte darüber führen.
75 % unseres Eigentums sind schon zurückgegeben worden; das wissen Sie.
— Meine Damen und Herren von der SPD, Sie hättenmir ja imponiert, wenn Sie bei Ihren früheren engenKontakten zur SED dort einmal diese Forderung gestellt hätten.
Wir werden auch weiterhin darüber verhandeln. Es gibt ja auch Kommissionen, die sich damit beschäftigen.Ich möchte auf das Thema Massenvernichtungswaffen zurückkommen und darauf hinweisen, daß der Atomwaffensperrvertrag 1995 ausläuft. Ich mache mir Sorgen, daß, wenn es bis dahin nicht gelungen ist, die Atomwaffen in der ersten Welt abzuschaffen, auch eine Legitimation des Wunsches in der Dritten Welt nach Atomwaffen entstehen könnte. Es scheint mit deshalb wichtig zu sein, diese einmalige Chance des Abbaus des Ost-West-Konflikts zu nutzen, um wirklich mit den Massenvernichtungswaffen Schluß zu machen, damit aus diesem Konflikt keine neue Konstellation bei diesen Waffen im Verhältnis der ersten Welt zur Dritten Welt entsteht. Das wäre für die gesamte Zivilisation lebensgefährlich.Ich will auch etwas zu dem Verhältnis zu den Nachbarvölkern sagen. Ich glaube, man kann Deutschland nicht gefahrlos als Kernland bezeichnen, ohne damit eine ganz bestimmte Rolle anzustreben, nämlich eine sehr globale Großmachtrolle. Wer das Wort „Großmacht" benutzt, kann schon nicht mehr von gleichberechtigten Völkern in Europa sprechen.
Wer ein gutes Verhältnis zu Polen will, kann die deutsche Einheit nicht nutzen, um die Grenzen zu Polen fast zu schließen.
Ich habe mit Interesse die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers zur Frage der verdeckten Arbeitslosigkeit gehört. Ich frage mich nur, weshalb die offene so viel besser sein soll.
Es gibt auch Menschen, die vielleicht nicht ganz so flexibel und dynamisch sind und denen gegenüber eine Gesellschaft auch Verantwortung trägt. Ich kann nicht verstehen, weshalb der Landwirtschaft, der Industrie und auch vielen Menschen nicht die notwendige Übergangszeit gewährt worden ist. Es kann doch wohl nicht wirtschaftlich sinnvoll sein, erst alles auf Null zu fahren oder erheblich zu gefährden, um es dann durch Investitionen wieder aufbauen zu wollen.
— Nein, der Anteil von dieser Seite ist jetzt schon beachtlich. Die Art und Weise, wie die Wirtschafts-, die Währungs- und die sogenannte Sozialunion durchgeführt wurde, hat ihre durchaus eigene Wirkung. Das ist ziemlich unstrittig.
In diesem Zusammenhang kann man auch keinen Länderfinanzausgleich festlegen, in dem jetzt festge-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18045
Dr. Gysischrieben wird, daß die östlichen Länder auf lange Frist benachteiligt werden.Viele fragen, was dieser schnelle Anschluß kostet. Ich frage, wer eigentlich wieviel daran verdient.
Ich möchte darauf hinweisen, daß der Einigungsvertrag eine Besonderheit enthält. Hinsichtlich einiger sozialer Regelungen stand man vor der Frage, was man mit ihnen machen soll, weil sie weitergehender als die entsprechenden Vorschriften in der damaligen Bundesrepublik waren. Man hat sich entschieden, sie teils abzuschaffen, sie anderenteils unverändert zu lassen, und zwar befristet. Dies ist als eine Art Privileg für Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR gedacht. Ich nenne z. B. das Krankengeld bei einer Erkrankung der Kinder und viele andere Dinge. Diese Übergangsregelungen sollen nach und nach auslaufen. Ich kann Ihnen für die Abgeordneten der PDS versprechen, daß wir darum ringen werden, daß solche sozialen Regelungen nicht auslaufen, sondern daß sie in ganz Deutschland Geltung haben, damit dann auch alle Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik etwas davon haben. Es muß nicht schlecht sein, z. B. in den Genuß von mehr Kindergeld, mehr Krankengeld bei Erkrankung der Kinder oder anderer sozialer Vergünstigungen zu kommen, nur weil die entsprechenden Vorschriften aus der DDR stammen.
Ich finde auch, daß es an der Zeit ist, über bestimmte Fragen einer modernen Gesellschaft neu nachzudenken. In eine solche moderne Gesellschaft passen weder § 175 noch § 218 des Strafgesetzbuchs.
In dieser Frage sollte es auch kein Zurück geben.Man sollte den Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen Bundesrepublik und den Bürgern der ehemaligen DDR die Chance geben, gleichberechtigt und in Würde aufeinander zuzugehen. Man sollte nicht von vornherein eine Rollenverteilung vornehmen, die der künftigen Entwicklung nur schaden kann.Ich will auch daran erinnern, daß wir meines Erachtens eine Entsolidarisierung der Lohnabhängigen nicht zulassen dürfen und daß es einfach darum geht, entsprechende Gemeinsamkeiten festzustellen und auch herzustellen sowie gemeinsam, wenn ich es einmal so sagen darf, auch Kämpfe der Zeit zu führen. Das Parlament ist weiß Gott nicht alles in einem Land, aber es ist in gewisser Hinsicht auch Ausdruck der Kultur und der Würde, die in einem Land generell vertreten ist.
— Sie können uns viel vorwerfen, aber nicht, daß wir uns bisher hier nicht kultur- und würdevoll benommen haben. Das können Sie nicht sagen.
Wenn ich erlebe, in welcher Art und Weise Sie nicht zuhören und Zwischenrufe machen, von denen Sie wissen, daß sie sowieso keiner versteht und sie deshalb auch nicht beantwortet werden können, dannfrage ich mich, ob das wirklich das Bild ist, das wir abgeben sollten.
Lassen Sie uns hier lieber ein Bild der ernsthaften und sachlichen Auseinandersetzung entwerfen. Das alles sollte mit ein bißchen mehr Würde, ein bißchen mehr Toleranz und vor allem ein bißchen mehr Kultur verbunden sein.Danke schön.
Ihre Redezeit ist nicht abgelaufen. Sie haben noch die Möglichkeit, eine Frage des Abgeordneten Stratmann-Mertens zu beantworten. — Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Gysi, wenn Sie ganz bewußt ein Plädoyer im ersten gesamtdeutschen Parlament für Kultur und Würde halten, dann frage ich Sie, Bezug nehmend darauf, daß Sie unmittelbar nach Ihrer Wahl zum Vorsitzenden der damaligen SED-PDS in einem ZDF-Interview und zuletzt in einem Streitgespräch mit mir Pfingsten dieses Jahres den Bau der Mauer nachträglich öffentlich legitimiert haben, u. a. mit dem — öffentlichen — Verweis darauf, daß es historische Situationen gebe, wo Maßnahmen wie die Einmauerung einer gesamten Bevölkerung notwendig seien: Wie ist diese öffentliche Legitimation des Mauerbaus durch Sie persönlich mit Kultur und Würde zu verbinden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, Sie haben mich mißverstanden.
— Was ich sage, entscheide immer noch ich selbst. Sie entscheiden schon fast alles andere.
Es ging um eine andere Frage. Ich wiederhole es auch hier. Ich habe gesagt: Erstens kann man diese ganze Geschichte nicht ohne den Gesamtzusammenhang in Europa, den Kalten Krieg und die Teilung in Warschauer Vertrag und NATO sehen.
Zweitens habe ich gesagt: Was ich der Führung am meisten übelnehme, ist, daß sie nicht ab 14. August darauf hingearbeitet hat, diese Mauer zu beseitigen, sondern darauf hingearbeitet hat, sie über Jahrzehnte zu verfestigen. Ich bleibe dabei, daß dies einer der größten politischen Fehler war — von anderen ganz abgesehen, die später noch hinzukamen, insbesondere nach 1985 und den Reformen in der Sowjetunion.
Herr Abgeordneter, nun ist es soweit, daß Ihre Redezeit wirklich abgelaufen ist.
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18046 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Vizepräsident CronenbergDas Wort hat der Abgeordnete Dr, Otto Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Verehrter Herr Kollege Brandt. Ihre Anmerkung ist offenbar schnell gehört worden. Von den großen Worten sind wir in dieser Debatte inzwischen ein wenig abgekommen. Das mag zufriedenstellen.Ich zitiere sinngemäß Bert Brecht: Wenn einem die Wahlergebnisse nicht gefallen, dann suche man sich ein neues Volk. Und ich zitiere sinngemäß Oskar Lafontaine, wie wir ihn eben gehört haben: Die große Mehrheit draußen ist vernünftiger als die Regierungsmehrheit. Sie hat aber uns gewählt, Herr Ministerpräsident. Sie bezeugt bei Umfragen, daß sie uns für vernünftig hält; sie wird es bei Wahlen ganz genauso tun — darauf können Sie sich verlassen.
Meine Damen und Herren, andere vor mir haben es gesagt, und ich stehe nicht an, es für die Fraktion der Freien Demokraten zu wiederholen: Das erste Wort an diesem Tag der deutschen Einheit, auf der ersten Sitzung unseres gesamtdeutschen Parlaments muß ein Wort tiefen und ernsten Dankes und dankbarer Freude sein.
Wir, jedenfalls die meisten von uns, haben über Jahrzehnte auf diesen Tag gehofft. Wir haben das Ziel der Einheit nie aus den Augen verloren. Wir haben gewiß auf vielfältige, auf oft unterschiedliche Weise darauf hingearbeitet, wir haben über den richtigen Weg dorthin gestritten, aber wir hatten immer ein gemeinsames Ziel. Wir sind zuweilen kleinmütig gewesen. Wir müssen uns auch eingestehen: Auch wenn wir stets wußten, daß der Gedanke der deutschen Einheit über 40 Jahre hinweg von niemandem zerstört werden konnte, so haben wir doch oft gezweifelt, selber den Tag zu erleben, an dem die Deutschen wieder in einem Land, in einem Staat leben können. Der Zweifel war verständlich. Niemand braucht sich dessen zu schämen.Daß es anders gekommen ist, daß es besser gekommen ist, das macht doch das Glück der Deutschen in diesen Tagen aus. Daß wir die Einheit im Einvernehmen, mit der Zustimmung, ja mit der tatkräftigen Unterstützung unserer Nachbarn und der befreundeten Völker errungen haben, das erhöht diese Freude, erlaubt sie erst eigentlich, und deshalb danken wir ihnen an diesem Tage.Meine Damen und Herren, der 3. Oktober 1990 ist für uns kein Tag des Triumphes, er ist kein Tag nationaler Überheblichkeit. Wo um alles in der Welt nehmen Sie, Herr Lafontaine, Ihre Motivation dafür her, unter den heutigen Gegebenheiten auf den deutschen Nationalstaat einzuschlagen? Wer wollte den denn? Wer gestern und vorgestern alle Reden in ihrer Tonart gehört hat, dem muß doch aufgegangen sein: Wir sind weit weg von Großmannssucht.
Wer, Herr Gysi, hat das Wort „Großmacht" in den Mund genommen?
Es ist ja richtig, daß es Nationalismus auch in Teilen Europas gibt, weil es eben Kommunisten mit dikatorischer Faust nicht gelungen ist, Nationalismus in Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien und anderen Gegenden niederzuhalten. Aber daß wir, die Deutschen, nach unseren Erfahrungen weit vom Nationalstaat und vom Nationalismus weg sind, das wollen wir uns doch gegenseitig nicht bezweifeln. Was soll das denn?
Nein, meine Damen und Herren, wir sind nicht überheblich, und wir täten auch nicht recht daran, wenn wir heute nicht auch Demut empfänden, und zwar Demut vor Entscheidungen der Geschichte, die wir im Westen Deutschlands gewiß mit unserer Politik beeinflußt haben — das Bild von der Stafette, Herr Brandt, hat mir gut gefallen — , die wir aber doch nicht selber getroffen haben und die wir auch gar nicht selber haben treffen können.Bestätigt und gestärkt sehen wir uns freilich in dem Bewußtsein und in der Erkenntnis, die all unsere Politik in der alten, in der kleineren Bundesrepublik seit ihrem Beginn immer bestimmt hat: daß die Freiheit der Menschen zwar lange unterdrückt und niedergehalten werden kann, aber nicht zerstörbar ist.Meine Damen und Herren, wir danken denen, die für diese Freiheit ihr Leben gelassen haben, die in die Zuchthäuser des Regimes gingen oder Bespitzelungen und Benachteiligungen aller Art auf sich nahmen.Dies ist nicht der Tag der Einheit allein, dies ist der Tag der Einheit in Freiheit und Recht. Wir im Westen Deutschlands haben sie immer nur so verstanden, und die Bürger der DDR haben nichts anderes gewollt. Dieses einst so fern scheinende Ziel ist Wirklichkeit geworden, mehr noch, es konnte nur Wirklichkeit werden, weil der Schrei nach Freiheit, der Ruf nach dem Staat der Bürgerrechte, auch den Teil Europas ergriff, der über Jahrzehnte in erniedrigender Knechtschaft eines Systems gehalten wurde, das den Völkern einst die Erfüllung allen irdischen Glücks versprochen hatte. Machen Sie nicht den Versuch, Herr Gysi, die Verirrungen, Fehler und Fehlleistungen dieses Systems bei Personen abzuladen. Nein, das System, das Sie über viele Jahre mit vertreten haben, trägt die Schuld!
Wir wären nicht wieder zusammen ohne den Wandel in der Sowjetunion, ohne die Freiheitsbewegungen der Menschen in Budapest, in Warschau und in Prag. Wir danken ihnen dafür, und wir danken ihren Regierungen, die auch für die Freiheit in der DDR, wie sie damals bestand, Schleusen geöffnet haben. Wir werden das niemals vergessen.Wir in Deutschland vergessen nicht, was vor einem Jahr in den Städten der DDR geschah, in Leipzig, in Dresden, im östlichen Teil Berlins. Im Ausland und bei
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18047
Dr. Graf Lambsdorffuns selbst hat man oft daran gezweifelt, daß die Deutschen zum Aufstand für die Freiheit fähig seien. Nie sind solche Zweifler deutlicher eines Besseren belehrt worden als durch die Volksbewegungen des vergangenen Jahres.
Diese friedliche Revolution für Freiheit, Recht und Einheit wird immer zu den großen Stunden der deutschen Geschichte gehören. Wir im Westen Deutschlands haben sie nicht vollbracht. Wir sind und bleiben dankbar dafür, daß wir diese Revolution miterleben konnten. Sie hat ein verhaßtes System der Unterdrükkung und Ineffizienz fast über Nacht davongejagt. Sie hat Deutschland, sie hat Europa verändert, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, und sie hat die Tyrannei einer sozialistischen Einheitspartei nicht mit Rache vergolten, sondern bemüht sich um Gerechtigkeit.Für uns, die wir im Westen diesen Sturm in Deutschland, in Mittel- und Osteuropa erlebt haben, erwächst aus der Dankbarkeit Verpflichtung. Die Freude über die Einheit der Deutschen, über die Freiheiten östlich unserer Grenzen wäre allzu beliebig, wenn wir uns nicht gerade heute zu dieser Verantwortung bekennen würden. Ja, wir sind ein Volk. Deutschland ist eins geworden. Das sagt sich inzwischen fast wie eine Selbstverständlichkeit. Es ist auch heute noch nicht selbstverständlich.
Die Verwirklichung dieser Einheit steht noch bevor. Sie wird ihre Zeit brauchen. Ich meine damit gar nicht vor allem die Einebnung der gewaltigen ökonomischen, sozialen und umweltpolitischen Diskrepanzen zwischen beiden Teilen unseres Landes. Der Sozialismus in der DDR hat eine umweltverseuchte Wirtschaftswüste hinterlassen, die unsere schlechtesten Erwartungen noch übertroffen hat. Jeder in diesem Hause weiß das. Ich brauche das nicht in Einzelheiten zu belegen.Eines, Herr Lafontaine, haben wir vorher an dieser Stelle gesagt: daß staatliche, politische und rechtliche Einheit die eine Sache ist und daß die zweite die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, der Einkommensverhältnisse, der Sozialverhältnisse ist. Dieses Ziel haben wir zu erreichen. Darauf brauchen Sie uns nicht aufmerksam zu machen, darüber brauchen Sie uns nicht zu belehren.
Ich habe von dieser Stelle aus gesagt, wie schwer es sein wird, den Menschen in der DDR zu erklären — um es auf den Punkt zu bringen — , daß die Lebensverhältnisse in der Bernauer Straße, Ostseite, und der Bernauer Straße, Westseite, noch für einige Zeit unterschiedlich sein werden und unterschiedlich sein müssen. Das ist nicht einfach zu verstehen. Ich weiß das. Nach vierzig Jahren dieser Zustände Geduld zu fordern ist auch nicht einfach. Aber es ist auch nicht so leicht, den Bundesbürgern zu sagen: Das geht alles innerhalb ganz kurzer Zeit zu euren Lasten. Ich komme noch zu den Kosten, zu Ihrer Lieblingsdiskussion.Ich will an dieser Stelle freimütig eingestehen, meine Damen und Herren, daß mir, obwohl ich mich mit der Wirtschaft der DDR vorher zu befassen versucht habe, das volle Ausmaß sozialistischer Ausbeutung und Zerstörung erst in den letzten Monaten wirklich klargeworden ist. Wir hatten da keine Illusionen.
— Das hängt mit der Währungsunion überhaupt nicht zusammen. Wenn die Währungsunion am 1. Juli nicht gekommen wäre und wir der DDR unsere Währung nicht gegeben hätten — das wissen Sie ganz genau, verehrter Herr Zwischenrufer — , dann hätten sich Hunderttausende weiter in Bewegung gesetzt. Wie hieß es denn in der DDR —
ist denn unser Gedächtnis vollständig vernagelt? — : Entweder die D-Mark kommt zu uns, oder wir kommen zur D-Mark. Das war die Parole.
Es wären die gegangen, die wir für den Aufbau und den Wiederaufbau der DDR am dringendsten benötigen. Wie kann man diese These, Herr Kanzlerkandidat, eigentlich öffentlich vertreten? Vielleicht hören Sie wieder zu.
Meine Damen und Herren, all das kann überhaupt kein Grund zur Resignation sein. Sie haben recht, Herr Brandt: Natürlich schaffen wir das. Wir müssen es schaffen. Es ist Ansporn zu vermehrter Anstrengung.Heute ist eigentlich nicht der Tag, um wirtschaftspolitische Programme zu erörtern. Trotzdem werde ich nach Ihrer Rede, Herr Lafontaine, auf einiges eingehen.
— Da hätte Herr Gysi vielleicht recht: daß wir die Debatten hier nur noch für die Fernsehzuschauer betreiben und nicht mehr unter uns und auch gar nicht mehr auf andere eingehen können. Das könnten wir dann wirklich bleiben lassen.Die Freien Demokraten haben in der bisherigen Bundesrepublik Deutschland unbeirrt und gegen viele Widerstände die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft verteidigt und sie immer wieder ausgebaut. Wir sind überzeugt, daß diese Wirtschafts- und Sozialordnung, konsequent angewandt, auch der bisherigen DDR den Wohlstand und das Wachstum bescheren wird, das im Westen Deutschlands wie selbstverständlich hingenommen wird. Daß das seine Zeit brauchen wird, bestreitet niemand. Daß es Geld kostet, Herr Brandt und andere, bestreitet auch niemand. Wir haben das immer wieder gesagt. Natürlich muß über die Kosten diskutiert werden. Selbstverständlich müssen Leistungen erbracht werden. Aber der Begriff Kosten alleine, verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, beinhaltet überhaupt keine Differenzierung mehr zwischen dem, was die staatlichen
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18048 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Dr. Graf LambsdorffHaushalte einerseits, und dem, was private Investitionen und Kapitalmärkte andererseits zu leisten haben.Aber eines muß ich nun auch sagen. Oscar hat einmal geschrieben: — Entschuldigung, ich meine Oscar Wilde — :
Es gibt Menschen, die immer nur nach dem Preis und nie nach dem Wert fragen. An diesen Oscar, Herr Lafontaine, sollten Sie sich gelegentlich halten.
Ich behaupte nicht, meine Damen und Herren, daß wir die Katastrophenökonomie der DDR in kurzer Zeit heilen können. Der wirtschaftliche Tiefpunkt ist noch gar nicht erreicht. Die Talsohle ist noch längst nicht durchschritten. Niemand sollte den Neubürgern der größeren Bundesrepublik etwas vormachen. Der Wiederaufbau wird Jahre erfordern, Geduld und harte Arbeit dazu.
— Das habe ich alles im Volkskammerwahlkampf landauf, landab in der DDR gesagt. Ich kann Ihnen das Manuskript zuschicken. Täuschen Sie sich nicht. Ich mag alles mögliche sagen, was Ihnen nicht gefällt. Aber ich gehe nicht zu den Leuten und sage ihnen das Gegenteil von dem, was ich glaube und was meine Einsicht ist.Man braucht nur hinzugucken und sieht, daß das nicht über Nacht geht.Der Wiederaufbau, meine Damen und Herren, wird Jahre erfordern. Es bedarf Geduld und harter Arbeit dazu, und zwar eigener Arbeit und nicht etwa nur der Hoffnung, die Obrigkeit werde es schon richten. Wir hier müssen die Voraussetzungen schaffen, daß Arbeitswille sich auch verwirklichen kann. Und wenn Sie fragen, was denn schlimmer sei, verdeckte oder offene Arbeitslosigkeit, muß man sagen: Der Fehler der verdeckten Arbeitslosigkeit ist der, daß erstens sich alle daran gewöhnen und zweitens die Bekämpfung mit gezielten, auch politischen Mitteln, gar nicht möglich ist, weil sie in der Statistik lügenhaft verborgen wird. Das ist bei Ihnen gemacht worden.
Wir kennen alle die Hindernisse, die marktwirtschaftlicher Entfaltung heute noch entgegenstehen. Das fängt — es ist ja erwähnt worden — beim fehlenden Telefon an und hört bei ungelösten Eigentumsfragen, trotz neuer Gesetze, noch lange nicht auf.
Wir könnten ja noch etwas mehr darüber nachdenken, was man auch mit privaten Möglichkeiten in der DDR tun kann. Zum Beispiel ist der Vorschlag des früheren Bauministers, verschenkt doch — gerichtet an die Kommunen — Wohnungen zu Eigentum an die Mieter, ihr könnt sie nicht in Ordnung halten!, völlig vernünftig, unkonventionell und richtig.
Ich empfehle jedem, der einmal wissen will, wie sich private Eigeninitiative in der DDR bei den kleinen Leuten auswirkt, in die Städte zu fahren, nicht nur über das äußere Bild der Bausubstanz zu klagen, sondern einmal an eine Klingel zu treten, zu drücken und in die Wohnung eines DDR-Bürgers zu gehen, um zu sehen, daß der natürlich nichts für die Außenfassade tun kann, daß der Hausflur des Hauses miserabel aussieht, wie sich die Leute aber innen ihre eigene Wohnung und ihre eigene Welt erhalten haben, weil sie sich selber dafür eingesetzt haben. Das ist das Bild unserer Mitbürger in der DDR.
Ich habe gar keinen Zweifel: Wir können und wir werden diese Hindernisse überwinden, mit westlicher Unterstützung, von Staat und Wirtschaft, aber nicht mit westlicher Hilfe allein. Und es rührt sich ja viel mehr in der DDR.
— Das ist vollständig richtig. Ich habe ja häufig genug gesagt, daß auf dem Versicherungssektor einer Ihren Schlachtruf, Herr Bundeskanzler, vor der Volkskammerwahl falsch verstanden hat: Allianz für Deutschland.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, einige Bemerkungen zu dem, was wir hier in der Diskussion gehört haben, sind wohl doch notwendig: Das die Kosten ein Lotteriespiel seien, ist schlicht falsch. Und daß wir selbstverständlich, bevor wir an die Finanzierung auch über die Kapitalmärkte zu gehen haben, die möglich und vertretbar ist — was Sie über Realzinsen gesagt haben, Herr Lafontaine, ist genauso falsch wie das, was Sie in der Debatte vor wenigen Wochen über die Erhöhung der Zinsen nach dem 1. Juli gesagt haben; es stimmt einfach nicht — —
— Das stimmt nicht. Sie können die Zahlen nachlesen: In der Zeit nach dem 1. Juli ist die Durchschnittsrendite festverzinslicher Wertpapiere in der Bundesrepublik Deutschland gesunken und nicht gestiegen. Das Gegenteil hat er in der Debatte behauptet.
— Natürlich hat er. Lest doch nach. Frau MatthäusMaier, Sie packe ich ja nicht in dieselbe Tüte. Sie verstehen mehr davon. Das gebe ich ja gerne zu.
— Mit „Tüte" meine ich hier wirklich nur den Behälter, sonst nichts.Meine Damen und Herren, ohne Steuererhöhungen wird es nicht gehen. Bei Ihnen geht nichts ohne
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18049
Dr. Graf LambsdorffSteuererhöhungen, das kennen wir schon, das ist sozialdemokratische Wirtschaftspolitik immer gewesen.
Sie fragen nach der Klimaschutzsteuer. Wir haben ausdrücklich gesagt: Wir brauchen eine international abgestimmte Klimaschutzsteuer auf energiepolitischem Gebiet — darüber kann man vernünftig reden — , aber keine Verzerrung der Wettbewerbsverhältnisse. Sie wollen 50 Pfennig auf den Liter Benzin. Den ersten Schritt hat Ihnen Saddam Hussein schon abgenommen. Ich weiß nicht, ob Sie den zweiten nun auch immer noch tun wollen.Sie reden davon, daß Sie über Einkommen-, Körperschaft- und Lohnsteuer Ausgleich schaffen würden. Den schaffen Sie selbstverständlich nicht. Sie belasten mit dieser Steuer den von Ihnen vielzitierten und angeblich von Ihnen geschützten „kleinen" Mann, verkünden dazu die Ergänzungsabgabe, um dem Neidkomplex zu frönen, wohl wissend, daß das Aufkommen aus der Ergänzungsabgabe das finanzielle Problem überhaupt nicht lösen kann. Das ist Ihre Steuerpolitik.
Sie sprechen vom tatenlos hingenommenen Anstieg der Realzinsen wegen unsolider Finanzpolitik. Meine Damen und Herren, man muß einen Hühnerhof-Horizont haben, wenn man nur den Kapitalmarkt Bundesrepublik sieht. Der Kapitalmarkt ist heute ein weltweiter Kapitalmarkt. Er leidet unter amerikanischen Finanzierungsdefiziten, Leistungsbilanzdefiziten, die finanziert werden müssen, unter der Ölkrise. Das bestimmt die Zinsentwicklung. Außerdem sind hohe Realzinsen — so der Bundesbankpräsident vor zwei oder drei Wochen — immer eine Begleiterscheiung einer hochlaufenden Konjunktur, verehrter Ministerpräsident. Auch dieses könnten Sie zur Kenntnis nehmen.
Sie sprechen von den Hypothekenzinsen: Jawohl, sie sind in der Bundesrepublik von 8 auf 9,5 % und manchmal auch etwas höher gestiegen. Das stört den einen oder anderen; das ist auch richtig. In der DDR, so sagen Sie, hätten wir überhaupt keine Kenntnis davon genommen, daß es Zinssätze von 1,5 % gab, die jetzt bei 9 % liegen. Ich schicke Ihnen die Druckschrift zu, in der steht, daß die Freie Demokratische Partei eine begrenzte Zinsverbilligung genau für diese Menschen verlangt. Wenn Sie das nicht lesen, sollten Sie nicht sagen, wir hätten keine Kenntnis genommen.
— Nun mal langsam! Man muß erst einmal Vorschläge machen, und wir werden die Mittel dann dafür einsetzen.
— Meine Damen und Herren, wir sind immer noch nicht allein an der Regierung; das werden wir auch so schnell nicht schaffen. Das waren wir bei Ihnen auch nicht.
Herr Lafontaine, Ihr Vorschlag staatlicher Industriepolitik verzögert den notwendigen, wirklich rabiaten — ich benutze das Wort absichtlich — Umbau der früheren DDR, den ganzen Aufbauprozeß und die Angleichung der Lebens- und Sozialverhältnisse um einen unendlichen Zeitraum.
Ich will noch auf einige Einzelheiten eingehen. Herr Lafontaine, so kann und darf man nach meiner Meinung nicht argumentieren: die Waffenexportpolitik der Bundesregierung kritisieren — übrigens stammen die Richtlinien noch aus der alten Koalition — und dann gleich als Beispiel anführen: Gas in den Irak liefern. Ist das Waffenexportpolitik, oder ist das Gesetzesverletzung, die wir verurteilen und die keiner von uns will, für die wir die Gesetze verschärft haben? Das ist doch nicht die Exportpolitik der Bundesregierung!
Sie wissen, wir sind dafür, daß der Jäger 90 nicht fliegt. Sie sagen, daß mit dem Jäger 90 100 Milliarden DM eingespart werden können. Sie benutzen offensichtlich bei Einsparungsbeträgen ein besonders großes Fernglas oder ein Vergrößerungsglas, damit Sie auf 100 Milliarden DM kommen. Kein Mensch tut das sonst. Sie reden von sich ausweitenden militärischen Tiefflügen, und Sie wissen ganz genau, daß sie zurückgeführt, eingeschränkt und begrenzt worden sind. Wir wünschen uns, daß das weitergeht. Verkünden Sie doch nicht das Gegenteil der Wahrheit!
Aber die Frage, die Sie dann gestellt haben, gegen wen die üben, stellt die gesamte Existenzberechtigung der Bundeswehr in Frage. Sie wollen offensichtlich nicht sagen: Für wen üben die, für wen haben wir die Bundeswehr? Brauchen Sie Feindbilder?
Herr Kollege Gysi, wer verdient am schnellen Anschluß? Ich hoffe, daß alle Bürger der DDR sehr bald so gut und so viel verdienen wie die meisten — jedenfalls wie der Durchschnitt — der Bundesbürger. Mir wäre sehr damit gedient, wenn wir das erreichen würden. Aber mit Neidparolen bringen Sie überhaupt nichts zuwege.
Ihr gleichmäßiges Verteilen auf unterstem Niveau haben die Leute 40 Jahre lang gehabt, davon haben siedie Nase voll, um nicht zu sagen: die Schnauze voll.
Meine Damen und Herren, die nach dem 18. März gebildete Regierung de Maizière hat für diese Arbeit erste Grundlagen gelegt, und ich will dieser Regierung auch im Namen meiner Fraktion unseren Dank und unsere Anerkennung für die ungeheure Arbeitsleistung sagen, die sie in den wenigen Monaten vollbracht hat, um den Aufbau eines zuschanden gewirtschafteten Landes in die Wege zu leiten.
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18050 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Dr. Graf LambsdorffSie hat sich verdient gemacht bei der Einübung der Demokratie nach über 40 Jahren Diktatur; sie hat mit Problemen kämpfen müssen, von denen wir uns im Westen vorher überhaupt keine Vorstellungen machen konnten, und sie hat es unter dem höheren Ziel der deutschen Einheit getan.Wir danken auch der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, die ihre Existenz ebenfalls beendet hat. Manchmal habe ich beim Zuhören gedacht, der Bundestag könne etwas gewinnen durch die Unmittelbarkeit, durch die Lebhaftigkeit mancher Debatte in der Volkskammer — nicht aller Debatten, wie ich hinzufügen will.
Aber wir haben nicht feststellen können, daß die Volkskammer in devoter Grundhaltung debattiert habe, wie Herr Gysi in seiner Schlußrede am Montag kritisiert hat. Es waren doch wohl die früheren Volkskammern, gegründet auf Wahlfälschung und SED-Diktatur, die sich mit ihren einstimmigen Fließbandentscheidungen devot verhalten haben, Herr Gysi.
Sie beklagen das Bild, das wir hier abgeben, kaum daß Sie hier sind. Tun Sie etwas zur Verbesserung; denn wir sind sicher alle lernfähig. Aber das Bild, das die früheren Volkskammern unter dem Vorsitz der entsprechenden Herren damals abgegeben haben, wollen wir hier nicht sehen — damit wir Klarheit haben.
Wenn es wirklich dazu gekommen sein sollte, daß Radaranlagen nach Frankfurt/Oder verschleppt worden sein sollten — ich habe davon nichts gehört —, dann werden wir uns dagegen zur Wehr setzen. Es ist auch Ihr Recht, darauf hinzuweisen. Aber sagen Sie wenigstens einmal ein Wort darüber, was im Uranerzbergbau in Aue mit den Menschen über viele Jahrzehnte geschehen ist!
Unser Dank gilt auch allen Bürgern, die in den vergangenen Monaten in Gemeinden, Kreisen, Bezirken, in den neu zu bildenden Ländern Verantwortung auf sich genommen haben. Wir wissen, wir ahnen von den täglichen Schwierigkeiten, den Sorgen, den oft unlösbaren Hemmnissen, die ihrer Arbeit entgegenstanden und immer noch entgegenstehen. Wir hören von den vielen Unzulänglichkeiten. Wir wollen helfen, damit fertig zu werden. Deswegen erwarten wir von der Bundesregierung, von den alten Bundesländern, von den Kommunen, von ihren Verbänden jede nur denkbare personelle Unterstützung, um in dem beigetretenen Teil Deutschlands schnell eine effiziente Verwaltung aufzubauen.Wie wahr, Herr Lafontaine: Die föderalistische Tradition hat sich bewährt und ist wichtig. Aber genau in dieser Situation hat sich der Föderalismus nicht bewährt mit dieser Finanzausgleichsregelung und mitdieser Mehrheits- und Stimmenfestlegung, kurz bevor die DDR beigetreten ist.
Die Einigung Deutschlands ist nicht vollendet, auch wenn wir uns heute über die Einheit freuen. In Wahrheit fängt sie heute erst an. Sie ist auch keine Frage von Wirtschaft und Verwaltung allein oder der Gesetze, die nun in ganz Deutschland gelten, so wichtig und bedeutsam das alles ist. Ich meine, daß diese Wiedervereinigung der Deutschen als Bürger eines Staates unsere allererste Aufgabe sein muß. Wir wollen keine zweitklassigen Bürger, Herr Gysi.Ich will übrigens auch einen Tisch für Sie. Hier wird baulich noch einiges verändert werden. Im 1. Deutschen Bundestag saß die Bundesregierung auch so hoch. Das hat sich dann auch geändert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sind in Umbauten in Bonn so erfahren, daß wir das hier vielleicht auch noch schaffen können.
Aber wir wollen, was Zweitklassigkeit anlangt, auch nicht vergessen, wer denn eigentlich auf deutschem Boden nach 1945 die schlimmste Klassengesellschaft errichtet hat. Waren das Sie in der DDR — —
— Ich sage nicht Sie persönlich, obwohl ich Ihnen dieses sehr leichte und schnelle Absetzen auch nicht überall abnehme, verehrter Herr Gysi.
Die Politik kann dazu beitragen, doch lösen kann die Politik die Aufgabe, daß wir Bürger eines Staates sein wollen, nicht und ganz gewiß nicht allein. Das müssen wir jeder für uns tun. Wir haben auch alle miteinander während der Teilung an der menschlichen Einheit festgehalten.Wer will leugnen, daß sich vieles in 40 Jahren eben doch auseinandergelebt hat, daß unsere Meinungen in ganz unpolitischen Fragen auseinandergehen, daß Selbstverständlichkeiten hier Unbegreiflichkeiten dort sind? Wir sind ein Volk, aber oft mit ganz unterschiedlichen Denkweisen. Wir werden uns in vielem annähern müssen, um die Einheit wirklich zu vollenden. Vier Jahrzehnte DDR und Bundesrepublik haben — wie könnte es auch anders sein? — tiefe Spuren hinterlassen. Jeder von uns hat es in den vergangenen Monaten gemerkt.Es wird vor allem unsere Aufgabe sein, die Aufgabe der Bürger aus dem Westen, auf die anderen zuzugehen. Wir haben die Früchte der Freiheit genossen und sie nicht. Wir sind in der Welt herumgekommen und sie nicht. Wir sind wohlhabend geworden — in der Mehrheit jedenfalls — und sie nicht. Wir haben uns Großzügigkeiten leisten können und sie nicht. Wir haben lesen, sagen, schreiben können, was wir wollten, und sie nicht. Wir sind deshalb keine Vorbilder, und wir haben nicht den geringsten Grund zu noch so
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Dr. Graf Lambsdorffwohlwollender Überheblichkeit; denn wir haben mehr Glück gehabt als die anderen. Wir waren auf der erfolgreichen Seite, aber wahrhaftig nicht nur durch eigenes Verdienst.Deshalb haben wir aus dem Westen jetzt eine besondere Verantwortung; nicht nur, weil wir zahlreicher sind und weil es uns besser geht. Das wird so lange nötig sein, bis wir eben nicht mehr sagen, wir kämen aus dem Westen oder dem Osten, sondern sagen, wir kämen aus Vorpommern oder von der Saar, und niemand dabei etwas anderes meint als seine heimatliche Region.Viel schwerer mag es sein, innere Befriedigung in der alten DDR selbst zu gewinnen, die tiefen Wunden nach 40 Jahren Stasi-Herrschaft — und das ist ja nur ein Stichwort unter anderen — allmählich zu heilen. Das ist kein Thema, das die ehemaligen DDR-Bürger unter sich allein ausmachen können. In einem geeinten Deutschland geht uns das alle an. Die Liberalen wollen keine Hexenjagden. Wir halten nichts von nachträglicher Gesinnungsschnüffelei. Die Älteren von uns erinnern sich an die Nachkriegszeit, an alle Fragwürdigkeiten der Entnazifizierung.Es wird heute nicht anders sein als damals: Es gibt Schäbige und Schuldige, und wenn sie gegen Recht, Gesetz und Menschlichkeit verstoßen haben, dann gehören sie vor Gericht. Aber es gibt — das wird die Mehrzahl sein — Idealisten und Mitläufer und nach 40 Jahren dieses Systems doch viele, die, wenn sie einen bestimmten Beruf ergreifen oder ihre Kinder studieren lassen wollten, ja gar nicht anders konnten, als unter das Joch der Einheitspartei zu gehen — wie ihre Nachbarn auch. Viele sind da ja fast hineingeboren worden, ohne je etwas anderes zu kennen.Sie werden nicht alle auf ihren alten Posten bleiben können. Aber wir meinen, man darf ihnen die Chance der Freiheit nicht verwehren. Die Wiedervereinigung Deutschlands darf nicht als Strafaktion daherkommen, sondern muß auch ein Versuch der Versöhnung sein.
Ohne solche Versöhnungsbereitschaft werden die neuen Länder nicht das Glück erfahren, nach dem die Menschen jetzt verlangen.Hier meine Damen und Herren, benutze ich die Gelegenheit dieses Tages, um uns an einem ganz konkreten Fall zu schildern, was dort läuft:Am 7. September 1990 wurde ich von Vorwürfen gegen den damaligen Bauminister der DDR, unseren Parteifreund Axel Viehweger, Spitzenkandidat der FDP auf der Landesliste Sachsen für die Landtagswahlen, wegen angeblicher Tätigkeit für die Stasi informiert.Er hat mir am gleichen Tage bestätigen lassen, er sei 1986 Energiestadtrat in Dresden geworden und bei seiner Amtseinführung darauf hingewiesen worden, daß der Staatssicherheitsdienst regelmäßig erscheinen werde, um mündliche und schriftliche Berichte über seine Tätigkeit zu erhalten. Das waren Berichte über Energieversorgung, Kohlelagerung etc. Er habe sie gegeben; eine Verpflichtungserklärung habe ernie unterschrieben, Geld oder Auszeichnungen nie erhalten. Das Präsidium meiner Partei hat Herrn Viehweger nach dieser Erklärung aufgefordert, an seiner Kandidatur festzuhalten.Am vergangenen Freitag — Sie erinnern sich an diese Sitzung in der Volkskammer — wurde Herr Viehweger vom zuständigen Ausschuß der Volkskammer mit neuen Vorwürfen konfrontiert: In seiner Akte befänden sich Berichte eines Führungsoffiziers: Viehweger sei verpflichtet, er sei auf die „Gruppe der 20" um Oberbürgermeister Berghofer im Herbst 1989 angesetzt worden. Es habe Treffen zwischen dem Führungsoffizier und Viehweger nicht nur im Büro des Energiestadtrats, sondern auch an dritten Orten, in sogenannten konspirativen Wohnungen, gegeben.Herr Viehweger hat diese Vorwürfe in öffentlicher Sitzung der Volkskammer am 28. September bestritten — das ging über alle Fernsehsender —, gleichzeitig seinen Rücktritt vom Amt des Bauministers erklärt — wörtlich — : „Meine Familie und ich können nicht mehr weiter."Vorgestern, am 2. Oktober, hat ein von der FDP beauftrager Anwalt aus Köln die Stasi-Akte Viehweger in Dresden in Begleitung von Vertretern eines Bürgerkomitees eingesehen. Aus der Akte ergibt sich, daß Herr Viehweger auf ihm gegebene Stichworte Auskunft über Mitarbeiter gegeben hat; nach dem Urteil des Anwalts: niemals negative und niemals politische Auskünfte.Die Akte enthält ein Protokoll über eine Sitzung der „Gruppe der 20" um OB Berghofer im Herbst 1989. Es ist von Viehweger nicht zu den Akten gegeben worden. — Im übrigen war das Protokoll zur Veröffentlichung bestimmt; es soll auch in Dresdener Zeitungen erschienen sein. — In der Akte befinden sich zwei falsche, nicht zur Akte Viehweger gehörige Blätter. Die Akte enthält abgefangene und fotokopierte Privatpost; Briefe von Viehweger an Bekannte in Hamburg. Er ist also auch seinerseits überwacht worden.Aber damit nicht genug: Schließlich hat sich ergeben, daß der Staatssicherheitsdienst seit 1986 Interesse an Viehwegers Tätigkeit genommen habe. In der Akte befinden sich Treff-Berichte über Begegnungen, erst im Dienstzimmer, später in konspirativen Wohnungen, die mit Namen bezeichnet sind. Diese Berichte stammen vom früheren Führungsoffizier.Unser Anwalt hat den Führungsoffizier, der jetzt als Klempner auf der Baustelle des Dresdener Zwingers arbeitet, aufgespürt und ihm vorgehalten, daß seine Berichte falsch seien. Der frühere Führungsoffizier hat das schriftlich bestätigt. Grund für seine falschen Berichte: Es sei von den Führungsoffizieren erwartet worden, daß Begegnungen nicht nur im Dienstzimmer der Betroffenen, sondern auf Dauer auch an dritter Stelle durchgeführt werden. Da ihm dies im Falle Viehweger nicht gelungen sei, habe er die Treffen in konspirativen Wohnungen einfach in die Berichte hineingeschrieben.Nach dieser Klärung, meine Damen und Herren, bekräftigt die Freie Demokratische Partei ihre Auffor-18052 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin; Donnerstag, den 4. Oktober 1990Dr. Graf Lambsdorffderung an unseren Freund Viehweger, an seiner Spitzenkandidatur festzuhalten.
Wie richtig der Satz des Bundespräsidenten war, wonach auch Akten lügen können, wird an diesem Vorgang klar.
Wenn wir es zulassen, daß bloße Behauptungen und unbewiesene Gerüchte zum Ausscheiden von Menschen, Kandidaten aus dem öffentlichen Leben führen, dann entfernen wir uns meilenweit von rechtsstaatlichen Grundsätzen, dann bescheren wir dem Monster Staatssicherheit späte Erfolge.
So etwas ist mit Liberalen — und ich denke, mit allen von uns — nicht zu machen. Ich füge hinzu, meine Damen und Herren: Das fehlte noch, daß diejenigen, die die Akten vorher bereinigen und beseitigen konnten, weil sie den Zugriff hatten, die sich selber die weißen Westen in den Führungspositionen „zimmern" konnten, davonkommen, die kleinen Leute aber gehängt werden!
Meine Damen und Herren, Versöhnung und Vertrauen — unter diesen Worten steht die Vereinigung auch in ihrem internationalen Kontext. Lassen Sie mich ganz schlicht und ganz deutlich sagen: Wir sind unserem Freund Hans-Dietrich Genscher dankbar, und wir sind stolz auf ihn für die Rolle, die er dabei gespielt hat.
Die deutsche Einheit und die Einheit Europas gehören untrennbar zusammen. Wir wollen auch heute noch einmal bekräftigen: Wir kennen die Verpflichtungen, die uns an diesem Tag für Europa und für den Frieden in der Welt neu und zusätzlich erwachsen. Ohne die europäische Einigung, ohne eine erfolgreiche Politik der Gemeinschaft, ohne die Hilfe und Unterstützung unserer Freunde jenseits des Atlantik hätten wir uns heute hier nicht zusammengefunden.Wir wissen: Unsere Anstrengungen können jetzt nicht nur auf Deutschland allein gerichtet sein. Sie gelten ebenso der Einbringung eines größeren Deutschlands in ein Europa, das weit über die Grenzen der EG hinausreicht.Mit der Wiedervereinigung, so ist gesagt worden, geht die Nachkriegszeit für Deutschland zu Ende. Das ist wohl richtig so. Aber es bedeutet auch, daß wir nun das verwirklichen können, was wir mit den Moskauer und den Warschauer Verträgen vor 20 Jahren begonnen haben: ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zu den Ländern, die wir einmal als Ostblockstaaten bezeichnet haben und die nun um Freiheit und ökonomischen Aufbau ringen.Die Dritte Welt dürfen wir darüber — das ist hier zu Recht gesagt worden — nicht vergessen.Riesige Aufgaben kommen auf uns zu. Unsere wirtschaftliche Kraft allein reicht nicht aus zu helfen. Ost- und Westeuropa werden sich zusammentun müssen. Aber den Deutschen wird wohl eine herausragende Rolle zufallen; nicht nur wegen der Wirtschaftskraft, sondern auch wegen deutscher Vergangenheit.Wir sind dazu bereit. Wir sehen nicht allein den ökonomischen Aspekt dieser Herausforderung. Es geht um mehr. Es geht um die historische Chance, mit dem Ende der Nachkriegsperiode in Deutschland zugleich daran mitzuwirken, auf unserem ganzen Kontinent der Freiheit und dem Wohlergehen eine dauerhafte Heimstatt zu verschaffen.
Deutschland ist eins geworden, weil die Deutschen es wollten. Aber Deutschland wäre nicht in Freiheit vereint, wenn unsere Nachbarn es nicht gewollt, wenn sie nicht zugestimmt hätten. Daraus erwächst uns neue Verantwortung nach Ost und West.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieses ganze letzte Jahr hat uns gezeigt, wie oft wir vorher um Kleinigkeiten, um unbedeutende Dinge diskutiert und gestritten haben, vergleicht man sie mit der größten Aufgabe, die deutscher Politik seit 1945 auferlegt war.Ich kritisiere das nicht. Es kann wohl nicht anders sein, und es wird sich auch in einem größeren Parlament nichts daran ändern. Aber unsere Arbeit an der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und am Einigungsvertrag hat auch gezeigt, wozu ein demokratisches Parlament in der Lage ist, wenn es um die Nation und deren Zukunft geht. Wenn wir an diesem Tag überhaupt von Siegen sprechen wollen, dann nur in einem Sinne: Es ist ein Sieg der Freiheit, des Rechtsstaats und der Demokratie in ganz Deutschland, in ganz Europa, ja, in der Welt.Ich bin glücklich, daß wir diesen großen Tag unserer Demokratie hier im Deutschen Reichstag begehen, mitten in der Hauptstadt Berlin. Dieses Haus hat in seiner fast 100jährigen Geschichte viele gute, aber auch viele schreckliche Stunden gesehen: mannhaften Parlamentarismus und nationalistische Hybris, tapferen Widerstand gegen beginnende Diktatur und die Zerschlagung der Demokratie, Brandstiftung, Zerstörung und Wiederaufbau, der seine Krönung heute durch diese erste Sitzung unseres größeren Parlaments erfährt.In diesem Haus und auf dem Platz davor ist politische Freiheit erlebt, zerbrochen und wieder ausgerufen worden. Hier marschierte brauner Terror ein. Hier ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Hier beschwor Ernst Reuter die Freiheit Berlins gegen Blockade und Unterdrückung.Das Schicksal des deutschen Volkes in den vergangenen 100 Jahren ist von dem Schicksal dieses Hauses nicht zu trennen. Es hat niemals einen bewegenderen, einen größeren Tag voller Verantwortung erlebt als den, den wir heute erleben und mitgestalten dürfen.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18053
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bötsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist in dieser Debatte heute mehrfach gesagt worden, daß in den letzten Tagen feierliche Reden gehalten wurden und daß wir jetzt zur Tagesarbeit übergehen. Dies ist sicherlich wahr. Aber ich will nicht verhehlen, daß mich ein besonderes Gefühl erfaßt, wenn ich heute hier am Rednerpult des gesamtdeutschen Bundestages stehen und für die CDU/CSU-Fraktion sprechen darf.Wir haben in den letzten Wochen und Monaten, z. B. im Zusammenhang mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen beiden Teilen Deutschlands oder in bezug auf den Einigungsvertrag, zu Recht von historischen Ereignissen sprechen können. Nach der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 sind jedoch der gestrige und der heutige Tag mit Sicherheit die entscheidenden historischen Daten. Sie markieren das Ende der Nachkriegsepoche für Deutschland, weil sie das Ende der Teilung Deutschlands markieren. Wir Deutsche leben wieder in einem Staat zusammen. Ich meine, darüber sollten wir uns freuen.
Meine Damen und Herren, letzte Woche hat der saarländische Ministerpräsident auf dem SPD-Parteitag diese historische Dimension bestritten. Mich hat dies nicht verwundert, denn Herr Lafontaine lebt seit jeher politisch vom Augenblick und nicht von den politischen Zusammenhängen.
Ich möchte nochmals das Wort vom Provisorium aufgreifen, das Deutschland jetzt angeblich sein soll. Er hat hier heute einen Interpretationsversuch gemacht, indem er sagte, er habe das nur im Verhältnis zum Übergang zum vereinten Europa gemeint. Meine Damen und Herren, wem in Frankreich, wem in den Niederlanden, wem in Italien, wem in Großbritannien oder in einem anderen Land der Europäischen Gemeinschaft würde es einfallen, in diesem Zusammenhang von einem „Provisorium Frankreich" , von einem „Provisorium Italien" oder ähnlichem zu sprechen? Das kann nur Herrn Lafontaine einfallen.
Herr Kollege Brandt, Sie haben in eigener vorsichtiger, ja vornehmer Art auch auf Ihre Politik hingewiesen. Sie haben dabei auch den Grundlagenvertrag erwähnt und gesagt, alle Politik habe die Zementierung der Teilung Deutschlands immer vermieden. Gestatten Sie, daß ich hier doch eine kleine Ergänzung anbringe. Daß der Grundlagenvertrag in der Folge der Politik nicht zu einer Zementierung der Teilung Deutschlands geführt hat, ist darauf zurückzuführen, daß das Bundesverfassungsgericht 1973 in seinem bekannten Urteil auf Antrag der Bayerischen Staatsregierung ganz klare Richtlinien festgelegt und beispielsweise gesagt hat, daß die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR rechtlich nicht anders zu bewerten sei als die Grenze zwischen zwei Bundesländern in der BundesrepublikDeutschland. Das war die entscheidende Notbremse, die damals gezogen worden ist.
All das, was Sie zu Berlin gesagt haben, und daß Sie der Auffassung sind, daß die Freiheit nur deshalb erhalten werden konnte, weil Berlin standgehalten hat und die Westmächte Berlin und Sie unterstützt haben, möchte ich nachhaltig unterstreichen.Ich möchte auch den Freiheitswillen der Berliner selbst erwähnen und nenne nur die Stichworte Blokkade, 17. Juni, August 1961, Besuch von John F. Kennedy im Jahre 1963 mit seinem berühmt gewordenen Ausspruch und auch das Berlin-Abkommen von 1971. Insofern möchte ich neben der Politik und neben denen, die bei den Westmächten dafür Verantwortung getragen haben, der Berliner Bevölkerung im freien Teil Berlins für ihre Tapferkeit ein besonderes Dankeswort aussprechen.
Herr Dr. Gysi — er ist im Augenblick nicht im Saal — hat in so moderater Art und Weise, daß mir dabei — Sie werden das verstehen — die Fabel vom Wolf eingefallen ist, der etwas Kreide gegessen hat, gesagt:
Ja, da war schon vieles bei uns nicht so in Ordnung, aber was haben wir doch zur Friedenssicherung beigetragen! — Da kann ich nur fragen: Waren Mauer und Stacheldraht, waren der Schießbefehl, war der Einmarsch in die Tschechoslowakei auch mit Truppen der DDR ein Beitrag zur Friedenssicherung in Europa, oder war das nicht Zündeln und über das Zündeln teilweise hinaus die Setzung von Gefahren für den Frieden in Europa? So herum wird ein Schuh daraus.Weil er den Postboten angesprochen hat, nur ein kleiner Hinweis: Die Postboten unterstehen natürlich nicht der Länderkompetenz, sondern das ist Bundessache. Ich sage das deshalb, weil er sagte, in einigen Ländern könnte ein Herr Gorbatschow nicht einmal Postbote werden.Zu dem Debattenstil: Stille und Starrheit, mit der die alte Volkskammer vor dem 18. März oder zumindest vor dem 9. Oktober letzten Jahres ihre Sitzungen, wenn sie überhaupt getagt hat, abgewickelt hat, haben noch lange nichts mit Würde des Parlaments zu tun.
Dort hatten die Abgeordneten nichts zu sagen; sie hatten nur die Hände aufzuheben. Weil sie sonst nichts zu tun hatten, als die Hände aufzuheben, deswegen konnten sie die wenigen Sitzungen, natürlich, in voller Präsenz absolvieren.
Ich sage das deshalb, weil die mangelnde Präsenzimmer kritisiert wird. Nur Abgeordnete, die keine Arbeit haben, die nichts zu tun haben, können dauernd
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18054 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Dr. Bötschim Plenum sitzen. Andere müssen auch ihre sonstigen Aufgaben erledigen.
Herr Kollege Vogel, das war nicht die Aufforderung zum Gehen; ich habe zu Ihnen auch noch ein paar Bemerkungen.Die Aufhebung der Spaltung Deutschlands in zwei Staaten manifestiert sich ab heute in der Zusammensetzung dieses Hohen Hauses. Wir begrüßen nicht nur die 144 neuen Kolleginnen und Kollegen, sondern wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit ihnen, entweder in Harmonie, in politischer Übereinstimmung oder im politisch-demokratisch-parlamentarischen Streit. Beides gehört zusammen.
Ich will Ihnen auch für das danken, was Sie in der Volkskammer in den vergangenen Monaten geleistet haben. Es bleibt uns ja jetzt keine Zeit zum Ausruhen. Auf uns warten große Aufgaben. Die deutsche Bevölkerung in Ost und West richtet große Hoffnungen auf uns, daß wir diese Aufgaben gut und im Interesse der Menschen bewältigen.Es gilt, Ost-Berlin und das Gebiet der fünf neuen Länder wirtschaftlich aufzubauen. Es gilt das Ziel der möglichst einheitlichen Lebensverhältnisse in ganz Deutschland auf einem Niveau, wie es in der Bundesrepublik Deutschland erreicht wurde. Auch über die Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht werden soll, besteht im Grundsatz Übereinstimmung, nämlich mit Hilfe der bewährten Sozialen Marktwirtschaft. Insofern hat mich die Auseinandersetzung auf dem SPD-Parteitag letzte Woche etwas amüsiert, wo der SPD-Vorsitzende Vogel gemeint hat, man müsse am sogenannten demokratischen Sozialismus festhalten.
Ihr Stellvertreter, Herr Dr. Vogel, Herr Thierse, der, wie ich weiß, nach mir spricht, hat sich dazu schon etwas realitätsnäher geäußert. Er fragte sich immerhin, ob der Marxismus als kritische Theorie überleben werde, und erkannte, daß jedenfalls derzeit keine neuen Sozialismus-Modelle gefragt seien. Meine Damen und Herren von der SPD, glauben Sie: Der Marxismus ist politisch tot. Nicht nur neue SozialismusModelle sind nicht gefragt, sondern Sie sollten auch die alten endgültig über Bord werfen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klejdzinski?
Verehrter Herr Kollege! Sie haben sich geäußert, daß Sie sich über einen Beitrag auf dem SPD-Parteitag amüsiert haben. Kann es sein, daß Sie den Beitrag nicht verstanden haben?
Doch, ich habe ihn verstanden. Ich will Ihnen zur Erläuterung noch ein weiteres Zitat liefern. Da heißt es:
Der Sozialismus ist nicht umzugestalten, zu reformieren. Er ist nur abzulösen. Darüber kann man wehklagen, aber der letztliche Fehlschlag des Experiments ist unbestreitbar.
Raten Sie einmal, wer das gesagt hat! — Herr Schabowski, früheres Mitglied des Politbüros der SED. Wenn der das schon sagt, sollten Sie ihm das doch wirklich abnehmen, wenn Sie schon mir nicht glauben, daß der Sozialismus wirklich am Ende ist.
Würden Sie Herrn Dr. Schmude eine Zwischenfrage erlauben?
Nein, meine Zeit ist wirklich zu kurz.
— Nein, das ist auch nicht witzig. Insbesondere finde ich nicht witzig, über eine Verfassungsänderung, über eine Volksabstimmung und mit allem, was Sie auch heute wieder in die Debatte gebracht haben, zu versuchen, manches, was Ihre politischen Vorväter aus guten Gründen 1949 nicht in unsere Verfassung hineingeschrieben haben, durch die Hintertüre erbringen zu wollen. Es bleibt dabei, so wie es im Einigungsvertrag festgelegt wurde: Wir werden Verfassungsänderungen brauchen. Wir werden auch die Fragen zu prüfen haben, die im Einigungsvertrag festgelegt wurden, aber mit den Mehrheiten, wie sie das Grundgesetz vorsieht, mit der Zweidrittelmehrheit der parlamentarischen Gremien. Wir wollen kein neues Deutschland. Wir wollen die Verfassung, das Grundgesetz, weiterentwickeln, und zwar im politischen Streit und im politischen Konsens. Wenn wir eine Zweidrittelmehrheit dort erreichen, dann sind wir bereit. Dann müssen wir uns über die einzelnen Punkte unterhalten. Nicht mehr und nicht weniger ist vorgesehen.
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, den Menschen im vereinten Deutschland jetzt wirklich zu helfen und die anstehenden Probleme rasch und effektiv zu lösen. Die wirtschaftliche Talsohle in den fünf neuen Bundesländern ist sichtbar, doch, glaube ich, auch das Ende des Tunnels. In- und ausländische Experten bestätigen dies. Ich meine, das ist das Wichtige, vor dem wir jetzt stehen.Wir haben eine Reihe von Problemen zu lösen: den Aufbau einer geordneten Landwirtschaft, die Sicherung von sozialen Fragen und gravierende Probleme im Umweltbereich. Da kann ich dem nur zustimmen, was Graf Lambsdorff gesagt hat: Diese Fragen sind nur mit der Sozialen Marktwirtschaft und mit sonst überhaupt nichts zu lösen.Auch der Handlungsbedarf für den Schutz des ungeborenen Lebens — da bin ich völlig anderer Meinung als Herr Gysi — , für eine diesem Schutz gerecht werdende Regelung ist hier zu nennen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ferner ist die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit zu leisten. Ich schließe mich dem an, was hier an Einzelbeispielen und auch generell angeführt wurde.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18055
Dr. BötschAber wir haben die Chance, daß wir dies alles jetzt gemeinsam im Interesse unserer Bevölkerung im vereinten Deutschland lösen, das dem Frieden, der Freiheit und der Demokratie verpflichtet ist. Dazu zählt auch — Graf Lambsdorff hat dies angedeutet; ich will das erweitern — , daß zu einer demokratischen Gesellschaft nicht nur das Engagement für sich selbst gehört, nicht nur das Engagement, die privaten Lebensbereiche zu gestalten. Auch das ehrenamtliche Engagement in Vereinen, in Verbänden, in Parteien und in Organisationen gehört dazu. Mancher muß davon Abstand nehmen, daß jetzt alles hauptamtlich geregelt werden kann. Der Erfolg unserer Gesellschaft war auch darauf zurückzuführen, daß wir viele, viele ungenannte Mitbürgerinnen und Mitbürger hatten, die sich in diesen Vereinen und Organisationen ehrenamtlich engagiert haben.
Ich verweise unsere Landsleute besonders darauf, weil dies für sie, die zu solchen Dingen kommandiert wurden, vielleicht etwas Neues ist. Aber ich glaube, es ist wichtig.Meine Damen und Herren, nicht nur für uns Deutsche, sondern auch für unsere Nachbarn in Ost und West waren diese Tage von großer Bedeutung; denn die Vereinigung Deutschlands beseitigt auch die Spaltung Europas. Sie hat entscheidende positive Auswirkungen für die künftigen zwischenstaatlichen Beziehungen. Da Douglas Hurd vor der UNO-Vollversammlung am 26. September feststellte: „Wir werden am 3. Oktober die Freude des deutschen Volkes teilen, dies ist ein glücklicher Tag, nicht nur für die Deutschen, sondern für uns alle", und da uns gestern viele weitere ähnliche Glückwunschtelegramme aus Ost und West, aus Nord und Süd erreichten, sollten nicht nur Freude, sondern auch Dankbarkeit unsere Gefühle bestimmen, haben wir doch etwas erreicht, was den Deutschen seit dem Westfälischen Frieden versagt blieb, nämlich die deutsche Einheit mit Zustimmung all unserer Nachbarn zu erreichen.Insofern sollen uns diese Worte ebenso wie Einlassungen .von Freunden wie Vaclav Havel, der gestern gesagt hat, er fürchte die deutsche Einheit nicht, weil sie ein demokratisches Deutschland schaffe, Verpflichtung bleiben. Wir wollen unsere ganze Kraft einsetzen, daß von deutschem Boden wirklich eine friedliche Entwicklung ausgehen wird.
Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag hat sich seit 41 Jahren der Freiheit, dem Frieden, den Menschenrechten und der Demokratie verpflichtet gefühlt. Wir wollen in diesem Geiste jetzt auch gemeinsam weiterarbeiten. Darauf kann sich unsere Bevölkerung jedenfalls, was die Union anlangt, verlassen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Thierse.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst und vor allem anderen drängt es mich doch, ein persönliches Wort zu sagen. Es bewegt mich sehr, hier zum erstenmal am Rednerpult des Deutschen Bundestages zu stehen, erinnere ich mich doch genau an die Faszination, an die gewiß unterschiedliche Faszination, mit der ich den Debatten des Bundestages seit über 30 Jahren gelauscht habe, mit der ich Rednern wie — um Namen aus der Frühzeit zu nennen — Carlo Schmid und Thomas Dehler, Jakob Kaiser und Fritz Erler, Ernst Lemmer und Herbert Wehner zugehört habe. Mit der Faszination war Neid verbunden, Neid auf eine erfolgreiche Praxis öffentlicher parlamentarischer Demokratie, die uns im anderen Teil Deutschlands vorenthalten blieb, die politisch lächerlich gemacht und ideologisch als formale, als bloß bürgerliche Demokratie denunziert wurde.Diese Erinnerung und die Erinnerung daran, daß ich — wie alle anderen — vor einem Jahr ein gemeinsames deutsches Parlament für schlechthin unmöglich gehalten habe, ist für mich Anlaß zu staunender Freude.
Daß sich die Sozialdemokraten in der DDR, die sich vor einem Jahr als eine neue Partei gegründet haben, im Herbst 1989 eher zögernd, mit einer gewissen Skepsis, mit Vorsicht der deutschen Frage und dem Problem der staatlichen Vereinigung zugewandt haben, sollte man uns nicht vorwerfen. Diese Haltung wurde ja von den Parteien im Westen ebenso wie von den neuen Gruppierungen und Bürgerbewegungen in der DDR geteilt. Es ging uns damals in der DDR um die Herstellung einer politischen Öffentlichkeit, um die Fähigkeit, überhaupt angstfrei und öffentlich miteinander über politische Fragen zu reden; so das Ziel des Aufrufs vom Neuen Forum. Es ging um „Demokratie jetzt" , um die Erringung, die Einforderung der elementaren Menschen- und Bürgerrechte.Die Verwirklichung dieser Forderung erschien uns nicht identisch mit der Forderung nach deutscher Einheit. Für manche waren das sogar Alternativen. Für alle erschien die Kombination beider Forderungen als unrealistisch, ja als gefährlich. Das eine, die deutsche Einheit, erschien vielen als Preis für das andere, die Freiheit.Daß wir jetzt Einheit u n d Freiheit, Einheit u n d Grundrechte zusammen erhalten und verwirklichen können, ist der wirkliche Anlaß unserer Freude.
Das unterscheidet die deutsche Einigung des Jahres 1990 von der Einigung des Jahres 1871, einer Einigung von oben mit ihren schlimmen Folgen bis 1933 und 1945.Denjenigen, die gestern in Berlin gerufen haben: „Nie wieder Deutschland" und „Deutschland, halt's Maul", möchte ich deshalb sagen: Ich teile die Angst vor nationalstaatlicher Hybris, vor nationaler Selbstvergessenheit und Selbstüberschätzung, vor Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit. Nirgendwo sonst
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18056 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Thierseist der Nationalstaat auf so entsetzliche Weise gescheitert wie in Deutschland. Das darf nicht vergessen werden.
Aber zugleich möchte ich doch sagen: Mit der staatlichen Einheit Deutschlands erhalten wir aus der DDR eine wirkliche Chance, die Chance, nach dem Scheitern des realen Sozialismus, dem Scheitern des SED- und Stasi-Staats neu anzufangen — unter weit besseren Bedingungen als unsere osteuropäischen Nachbarn.Mein Bekenntnis, unser Bekenntnis zu Deutschland ist deshalb kein Bekenntnis zu einer Vergangenheit, die uns jetzt wieder einholt, ein Bekenntnis zum Gegebenen der Bundesrepublik Deutschland, sondern es ist ein Ja zu einer Aufgabe, zu einer auf für uns neue Weise gestaltbaren Zukunft, ein Ja zu einem Deutschland, wie es werden soll.
Es hat mir deshalb gefallen, daß in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober vor den Fenstern meiner Wohnung auf dem Kollwitz-Platz — mitten im Prenzlauer Berg — von ein paar tausend vorwiegend jungen Leuten eine „Republik Utopia" ausgerufen wurde. Dies war zwar als zornig-heitere Alternative zur Veranstaltung vor dem Reichstag gedacht, aber es gefällt mir trotzdem, denn dieses Nirgendwo liegt ja mitten in Deutschland, in Berlin- Prenzlauer Berg.
Das ist übrigens ein Vorgang, der mich, der Sie, der uns an Wichtiges erinnert: Machen wir die deutsche Einigung nicht zum Sieg der einen über die anderen! Es ist kein Sieg etwa Adenauerscher Politik — wie jetzt immer mal behauptet wird —, sondern Ergebnis vielfältiger Faktoren und Prozesse, zu denen im übrigen nicht zuletzt die Entspannungspolitik der Regierungen Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher gehört.
Wir in der ehemaligen DDR verdanken dieser Politik sehr viel: menschliche Erleichterungen, Begegnungen und vor allem Hoffnung. Ich erinnere mich sehr genau an die leidenschaftliche Hoffnung, die der Besuch Willy Brandts 1970 in Erfurt bei uns ausgelöst hat,
Hoffnung, daß die deutsch-deutsche Geschichte und die ost-westeuropäische Geschichte nicht stillstehen und wir nicht mit ihr versteinern müssen.Die Bundesdeutschen sollen sich also nicht einbilden, einen Sieg errungen zu haben. Wir, die ehemaligen DDR-Deutschen, haben eine Niederlage erlitten. Im Scheitern des realsozialistischen Systems gibt es bittere lebensgeschichtliche Brüche genug. Zugleich aber erhalten wir in der Niederlage die Chance neuen Anfangs. Machen wir die deutsche Einigung nicht zu einer Folge neuer Ausgrenzungen: der Alternativen,der Autonomen, der Radikalen oder der Ausländer, der Flüchtlinge oder der mehr oder minder belasteten oder durch Mißerfolge gezeichneten Ostdeutschen!
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Elmer? — Bitte schön.
Lieber Wolfgang Thierse, sollten wir in diesem Zusammenhang nicht auch den Bundeskanzler, der leider nicht mehr zuhört, darauf hinweisen, daß die SED-Herrschaft nicht nur die Menschen bei uns in ihrer freiheitlichen Entwicklung behindert und verbogen hat, sondern daß auch umgekehrt der Haß gegen eine solche Herrschaft die Züge verzerrt und, konkret, der jahrzehntelange Antikommunismus auch westdeutsche Bürger in der Weise geschädigt hat, daß sie für eine unbefangene Wahrnehmung osteuropäischer Wirklichkeit ein wenig blind wurden?
Ich denke: Ja. Ich habe immer gefunden, daß es einen intelligenten Antikommunismus gibt, aber auch einen dummen Antikommunismus
und daß heute noch beides gilt. Wir müssen lernen, sehr differenziert über die Geschichte der DDR und die Menschen in ihr zu reden. Der Blick auf Ost-Berlin — ich sage das nach einem Gespräch mit einem Kollegen — ist nicht nur der Blick auf eine Stadt, die aus Leuten des Stasi und aus Funktionären bestand. Dort lebten sehr viele Menschen, ziemlich anständige Menschen.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lammert?
Ja.
Herr Kollege Thierse, mich würde interessieren, ob Sie den neuentdeckten Antikommunismus der PDS zur intelligenten oder zur dummen Variante des Antikommunismus zählen.
Sie bringen mich in die fatale Situation, mich selbst zitieren zu müssen. Ich halte daran fest, daß die PDS die Partei der fröhlichen Unschuld und der entschlossenen Gedächtnislosigkeit ist.
Die deutsche Einigung — das will ich sagen — muß auch eine Versöhnung zwischen den selbstbewußten, erfolgreichen Wessis und den erfolglosen, gedemütig-
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Thierseten Ossis anstreben. Ich weiß, es ist nicht nur Arroganz, wenn von uns in der ehemaligen DDR verlangt wird, durch eigene Arbeit, eigene Leistung den Aufschwung, den besseren Wohlstand zu organisieren und nicht immer nur als Fordernde, als Bittsteller aufzutreten. Wir brauchen aber Zeit und Unterstützung zum Erlernen von Selbständigkeit und Selbstverantwortung, zur Überwindung der Lähmung durch totale Vormundschaft. Guten Willen, Entschlußkraft zu fordern, den Geist Ludwig Erhards zu beschwören reicht da nicht aus. Es ist die Aufforderung, sich selbst am Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Wie soll etwa ein Arbeiter in einem maroden Großbetrieb initiativ werden und sich selber helfen? Alle können ja nicht Imbißstände aufmachen, nur damit die Bundesregierung hübsche Gründungsstatistiken vorweisen kann.
Die staatliche Einheit ist erreicht, und wir Sozialdemokraten freuen uns aus ganzem Herzen darüber. Die staatliche Einheit beendet eine Teilung, die noch bis vor einem Jahr nur durch Stacheldraht und Mauern aufrechterhalten werden konnte. Die Menschen in der DDR haben diese Mauern zum Einsturz gebracht.
Es waren ihr Mut, ihre Besonnenheit und ihre Phantasie, die das Regime von SED und Blockparteien beendet haben.
Ich möchte daher zuallererst meinen Landsleuten für das danken, was sie gewagt und bewegt haben.
Sie und nicht etwa die Politiker sind die Väter und Mütter der Befreiung unseres Landes. Das sage ich ausdrücklich als Laienspieler in einem Hause voller alterfahrender Profi-Politiker.
Diese Erfahrung bedeutet aber auch: Die Gestaltung des künftigen Deutschland kann nicht allein oder zuerst Sache der Politiker sein, sie muß Sache aller Bürger werden.
Ein demokratisches Deutschland muß von unten, von den Bürgern gestaltet werden. Bisher waren zu sehr und fast allein die Regierungen und ein wenig auch die Parlamente am deutschen Einigungsprozeß beteiligt.
Die beiden deutschen Staaten sind nicht zusammengewachsen, nein, vielmehr geht der eine, der gescheiterte Staat in dem anderen, dem erfolgreichen auf. Dies ist eine Tatsache. Man kann das begrüßen oder bedauern; es ist ein Faktum. Wir haben versucht, diesen Prozeß mitzugestalten; es ist nur zum Teil gelungen.Die staatliche Einheit bildet den Rahmen der zukünftigen politischen Gestaltung, sie ist aber kein Ersatz für Kindergärten, Wohnungen und Arbeitsplätze.
Wenn ein System gescheitert ist, und zwar wie das realsozialistische System mit Notwendigkeit gescheitert ist, könnte das bedeuten, daß auch alle seine Elemente erledigt und zu streichen sind. Geht es also um einen wirklich vollständigen Neuanfang, und muß mit allem gebrochen werden, was sich in gut 40 Jahren an Lebenswirklichkeit herausgebildet hat? Ich glaube, nicht. Es gibt gerade — und mir scheint dies vielleicht das einzige zu sein, was wir aus der DDR hinüberbringen — eine Erfahrung von sozialer Sicherheit, die mit sehr vielen Kleinigkeiten verbunden ist.Ich habe nicht mehr die Zeit, eine Reihe davon aufzuzählen, aber ich denke, daß wir erstens darum kämpfen müssen, den DDR-Bürgern die Erfahrung von Arbeitslosigkeit — auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind — wenigstens in der Weise zu ersparen, daß sie diese Erfahrung nur kurz machen müssen.Zweitens geht es darum, daß eine Erfahrung nicht verlorengeht, die für die DDR typisch war: daß Männer und Frauen die Möglichkeiten hatten zu arbeiten.
Es geht darum, daß die Frauen nicht aus ökonomischen Gründen gezwungen werden, ihr Recht auf Arbeit nicht mehr ausüben zu können. Darum müssen wir kämpfen.Es geht drittens darum, daß die Rentner — die, was oft genug gesagt wurde, die wirklich Geschädigten dieser 60 Jahre der deutschen Geschichte sind — nicht die Opfer auch der Einigung werden.
Zwar wird der Sockelbetrag erhöht, aber der Sozialzuschlag wird abgeschmolzen. Dies ist eine Täuschung, die wir nicht zulassen können. Die wirkliche Rente muß erhöht werden!
Auch der vierte Punkt betrifft etwas, womit wir zum Glück keine Erfahrung haben. Ich meine die Angst davor, daß wir unsere Wohnungen verlieren, weil wir die Mieten nicht mehr zahlen können. Auch darum müssen wir kämpfen: Wir müssen der Bevölkerung in diesem Teil Deutschlands zusichern können, daß sich die Mieten in den nächsten Jahren nur um 10 oder 15 oder 20 %, aber auf keinen Fall stärker erhöhen können.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt.Ich denke, diese vier Stichworte haben gezeigt, daß wir erst am Anfang des deutschen Einigungsprozesses stehen, daß wichtige Probleme auf eine Lösung warten, damit neben die staatliche Einigung die Angleichung der Lebensverhältnisse tritt. Hier gibt es keinen
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ThierseSelbstlauf zum Besseren, wie uns einige Gesundbeter weismachen wollen, die bereits mit der Einführung der D-Mark in der DDR Wohlstand und Fortschritt einziehen sahen. Wir erleben zur Zeit schmerzlich, daß es bis dahin noch ein langer Weg ist. Hier sind viel Arbeit und eine vernünftige soziale Politik anstelle von nationalem Pathos nötig.
Die deutsche Hochzeit ist gefeiert. Jetzt geht es darum, den ehelichen Lebensunterhalt zu verdienen, die Wohnung menschlich einzurichten und die Kinder zu versorgen. Erst im prosaischen Alltag einer Ehe bewährt sich die Liebe der Eheleute wirklich.
Drücken wir dem Paar, also uns, die Daumen!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere aus der jetzt ehemaligen Volkskammer, die ich als ein sehr lebendiges Parlament erlebt habe! Der kalte Krieg ist vorbei. Wir haben jetzt heißen Frieden. Dieser Frieden wird für ganz Osteuropa sehr heiß werden. Helmut Kohl hat die Kontroverse um den Weg zur Einheit gewonnen. Er hat es auf seine Weise gemacht. Wir denken immer noch, es wäre auf andere Weise sehr viel besser gewesen. Doch wie immer: Das ist entschieden.
Mir ist beim Nachdenken über das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition etwas sehr Merkwürdiges aufgefallen, das nicht ohne Situationskomik ist, nämlich der Unterschied zwischen der Leichtigkeit des Bundeskanzlers — er ist nicht da, aber Sie können es sich sinnlich-bildlich vorstellen — und meiner Schwere.
Helmut Kohl hat diese Einheit mit einer gewissen Leichtigkeit zustande gebracht, mit einem geradezu leichtfüßigen Pragmatismus. Wir dagegen erscheinen mit unseren Bedenken von einem eigentümlichen Bleigewicht. Und doch war im Kern etwas Richtiges an dieser unserer Schwere. Wir ahnten nämlich, daß es eben doch nicht nur um ein Provisorium geht, Oskar Lafontaine, nicht nur um eine Restaurationsphase in einem mittelgroßen europäischen Land. Es ging und geht um eine für lange Zeit gültige Form des Zusammenlebens in der Mitte Europas. Deutschland ist jetzt sehr groß und sehr reich und ganz und gar souverän. Nur die alten NS-Akten sind immer noch unter Aufsicht der Amerikaner im Document Center. Was soll uns das eigentlich sagen?Wenn in diesen Tagen angenehm vorsichtig — dafür bin ich dankbar — geredet wird, dann klingt in diesem Sich-klein- und-bescheiden-Geben aber noch etwas anderes mit. Man hört die Angst vor den Ansprüchen und Anforderungen an dieses neue, große deutsche Land. Oder freundlicher gesagt: Man hört die Bitte, es mit den Erwartungen an uns nicht zu übertreiben, z. B. in bezug auf die kommenden Armutsflüchtlinge aus Osteuropa. Es wird aber nicht gehen, erst die Beletage und die Puppenstube einzurichten und dann ein paar erlesene Gäste einzuladen. Ich glaube, es wäre für uns alle besser, wenn die anderen Länder in Europa und in der Welt ihre Anforderungen an uns baldmöglichst sehr genau präzisieren würden. Auf dem KSZE-Gipfel im November, dem wichtigsten Termin in den nächsen Wochen, besteht gerade dazu eine Gelegenheit.Meine Damen und Herren, wir Deutschen neigen dazu, uns für alles mögliche als Meister anzubieten. Exportweltmeister sind wir schon, Fußballweltmeister auch. Aber in der Geschichte der Deutschen sind auch die anderen, die dunklen Meisterschaften verzeichnet. Paul Celan hat über Auschwitz den Satz gesprochen: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Und von diabolischer Meisterschaft war die Erfassung der DDR-Bevölkerung in 160 Kilometern Stasi-Akten. Wir haben auch diese Wahnidee der europäischen Zivilisation auf die Spitze einer Meisterschaft getrieben, die es in diesem Land nie wieder, nie wieder geben darf.
Dieses richtige Moment der Schwere gegenüber einer geschichtsvergessenen Leichtigkeit des Seins wollen wir durchaus behalten. Aber es gibt Momente in der Haltung der Opposition, die wir korrigieren und verändern müssen. Darüber will ich auch reden.Es gibt Gespenster, die zu Staub zerfallen, wenn sie das Licht des Tages erblicken. Die Angst der Opposition und, ich glaube, auch insbesondere der SPD vor der nationalen Frage gehört dazu.Wenn ich die Stimmung dieser Tage richtig deute, so ist der deutsche Nationalismus zusammengebrochen, gerade in der Phase seines höchsten Triumphes, mit der Erreichung seines Ziels, der deutschen Einheit. Die Menschen flanieren durch die zusammengebrochene Mauer wie durch eine Sommerallee. — Das wäre also erledigt. Darauf kann man vertrauen. Die Zivilität und der spielerische Umgang in der Bevölkerung tragen einigermaßen. Sorgen wir dafür, daß es so bleibt! Die demokratischen Bewegungen in Ost und West haben einen Riesenanteil daran gehabt, daß es diese zivile Gesellschaft gibt. Das können wir nämlich, eine Gesellschaft zivil gestalten.Wir haben jetzt die Hände frei, uns der viel größeren Aufgabe zuzuwenden, vor der nun ihrerseits — und da bin ich ganz sicher — die Konservativen sehr große Angst haben, nämlich der Lösung der sozialen Frage, die in der DDR gewaltige Ausmaße annehmen wird, und der Lösung der ökologischen Frage. Auf diese beiden Fragen, weiß ich, sind wir von der Opposition besser vorbereitet.
Alle innenpolitischen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre werden um diese beiden Fragen kreisen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18059
Frau Dr. VollmerMeine Wünsche an die Zukunft und an die neue Republik:Erstens — und da gibt es, glaube ich, Anlaß, wenn ich bedenke, daß ich jetzt die erste Frau in der Debatte bin — : Diese Republik muß weiblicher sein als alle deutschen Republiken vorher.
Sie muß vielleicht auch eine andere Sprache finden, als sie die Reichsgrafentonlage von Graf Lambsdorff hier vorexerziert hat.
Es waren vor allem die Frauen, die die Revolution in der DDR zu einer friedlichen gemacht haben.
Ohne die Heiterkeit von Bärbel Bohley, ohne die Entschlossenheit von Ulrike Poppe und Ingrid Köppe und Vera Wollenberger, ohne die ängstliche Und-trotzdem-Tapferkeit von Christa Wolf und ihr Festhalten an der Trauer des DDR-Alltags hätte diese Revolution nie gelingen, nie vorbereitet und nie durchgeführt werden können. Und das ist immer so.
Gerade in den Anfangszeiten, wenn es besonders schwierig ist, bei der Verflüssigung starrer gesellschaftlicher Strukturen, sind die Frauen unentbehrlich. Ohne ihre Unerschrockenheit in den Zeiten der Illegalität, ohne ihre unbeugsame Bodenhaftung beim Versuch, den aufrechten Gang zu erlernen, könnte keine Revolution gelingen. Daran zu erinnern ist auch wichtig an einem Ort, an dem einmal Rosa Luxemburg gesprochen hat, dieselbe Rosa Luxemburg, deren Ausspruch die Vorphase dieser Herbst-Revolution bestimmt hat.
Auffällig dagegen ist, wie schnell die Frauen aus der ersten Reihe vertrieben werden, wenn es darum geht, aus der Revolution wieder feste Strukturen zu machen. An die Stelle der Kreativität der Frauen treten dann die männlichen Potenzphantasien, die sich im Aufbau von Parteien, Staaten und Machtapparaten ausdrücken.
Der Staat und die Parteien sind überhaupt typische Männergeburten.Wir melden hier schon einmal vorbeugend an, daß mit uns Frauen weiter zu rechnen sein wird. Wir lassen uns nicht noch einmal ins zweite Glied zurückschieben, wie es unseren Müttern am Anfang der autoritärpatriarchalischen Adenauer-Ära und auch in den Männerkasten des DDR-Regimes passiert ist.
Wir lassen uns nicht noch einmal in den Schatten und in die Depression schieben, während die Männer die Sonne der Macht auskosten.
Zweitens. Das neue Deutschland wird ziviler werden, und es muß ökonomisch abrüsten. Erst jetzt verstehen wir den psychologischen Kern des Kalten Krieges. Er hat unsere Unruhe in Stahl und in Waffen gegossen, und er hat unseren Ängsten ein Gesicht gegeben, das Gesicht von Feinden.Gerade angesichts der neuen Rolle Deutschlands muß die Zeit des deutschen Militarismus hinter den Kulissen, also des Waffenexports ohne Waffengang, vorbei sein.
Die Kulissen sind umgefallen. Jetzt müssen sich auch die militärischen Seiten unserer Konzerne offen zeigen, oder sie müssen aufhören, und ich meine, sie müssen aufhören.Drittens. Die neue Republik muß ökologisch sein. Der Bundespräsident hat gestern gesagt, die westlichen Demokratien seien zum Maßstab für alle Demokratiebewegungen in Osteuropa geworden — das ist wahr —; aber die westliche Wirtschaftsweise darf nicht zum Maßstab für die Welt werden.
Wir haben von diesem Teil Europas alle Formen von Diktatur ausprobiert, zuletzt auch die Diktatur über die natürlichen Ressourcen der Menschen. Der Norden ist dafür heute schon welthistorisch verurteilt. Die ökologische Frage ist die zentrale soziale Frage in der Welt geworden, und die einzige Kunst, die der Norden noch lernen kann, ist die Kunst, Macht, auch ökonomische Macht, konsequent abzubauen. Weil wir das besser können als Sie von der Regierung, deswegen treten wir für einen Machtwechsel gerade zum Zwecke des Abbaus von Macht ein.Der Herr Bundeskanzler und mit ihm eine ganze Generation von deutschen Politikern haben ihren Traum in die Wirklichkeit gepflanzt. Mit dem Tag der deutschen Einheit haben sie ihren Zenit erreicht und also überschritten. Wenn ich hier hingucke, so wird mir deutlich, daß wir heute von Politikern umgeben sind, die ihren Zenit bereits überschritten haben.
Von der Gestaltung der Zukunft hat der Bundeskanzler am Ende gesprochen. Diese Gestaltung ist jetzt unsere Aufgabe, und darum wird es auch in dieser Frage einen friedlichen, aber konsequenten Wechsel der Themen und auch der politischen Generationen geben. Dieses Land ist jetzt unser Land, und Sie können dann — bitte schön — aus dem Sessel zugucken, was wir aus dieser Gestaltungsaufgabe machen.
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18060 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wieczoreck .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir als ehemaligem DDR-Bürger auch ein kurzes persönliches Wort. Ich freue mich, hier bei Ihnen in Ihren Reihen sitzen zu dürfen und auch ein wenig an der Demokratie in der neuen Bundesrepublik Deutschland mitarbeiten zu dürfen. Ich bin dafür sehr dankbar, und ich danke auch Herrn Otto Graf Lambsdorff für die öffentliche Rehabilitierung eines von uns sehr geschätzten Kollegen der ehemaligen Volkskammer.
Meine Damen und Herren, nach dem großen Tag der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands stehen wir vor dem schwierigen Prozeß des Zusammenwachsens der Deutschen und dem Weg zum geeinten Europa. Es gilt in der nächsten Zeit, das wirtschaftliche, ökologische, soziale und kulturelle Gefälle zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands zu überwinden und gleiche Lebensverhältnisse zu schaffen. Ich erlaube mir deshalb, einige Aspekte der wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung in den fünf neuen Bundesländern aufzuzeigen.Die Wirtschafts- und Umweltpolitik hat zum Ziel, schrittweise eine Angleichung der Lebensverhältnisse zu erreichen. Die Zustandsanalyse von Wirtschaft und Umwelt in den fünf neuen Bundesländern zeigt, daß zukünftige Wirtschafts- und Umweltpolitik eine gewaltige Herausforderung ist und eine Pionierleistung von allen Bürgern abverlangt. Mit dem Umgestaltungsprozeß erwarten wir eine beginnende Konjunktur, damit wir dann eine ökologisch und wirtschaftlich ausgewogene Soziale Marktwirtschaft rasch in Schwung bringen können. Ökologie wird jetzt im direkten Verhältnis bei der wirtschaftspolitischen Konzeption sowie der Produktplanung berücksichtigt werden müssen und nicht im nachhinein als Reparaturanstalt betrieben werden. Dies möchte ich vorwegstellen, um die Dimension der Aufgaben, vor denen wir stehen, anzudeuten.Die Erkenntnisse zum Stand der Wirtschaftlichkeit der ehemaligen DDR-Unternehmen lassen sich bis dato wie folgt zusammenfassen. Ca. 60 % der Unternehmen können rentabel arbeiten bzw. sind durch Strukturanpassungshilfen in relativ kurzer Frist zu sanieren, ca. 20 % können diesen Stand 1992/93 erreichen, und ca. 20 % der Firmen sind direkt konkursgefährdet. Dennoch gilt — ich beziehe mich hier auf einen Bericht der Deutschen Bundesbank —, daß sich die Talfahrt der Produktion in der DDR in den letzten Monaten beschleunigt hat, während sich die bundesdeutsche Wirtschaft weiter unvermindert entwickelt. Dieser Boom ist vor allem auf die Einführung der D-Mark in der DDR zurückzuführen.Der eigentliche Grund für die Talfahrt liegt allerdings im Zusammenbruch der sozialistischen Kommandowirtschaft. Erinnert sei hier an hohe Kosten der Altlastsanierung. Zum Beispiel sind zur Beseitigung der Chemiealtlasten in diesem Jahrzehnt ca. 15 Milliarden DM veranschlagt.Die Dimension künftiger Umgestaltung werden plastisch anschaubar beim Vergleich der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ausgangssituationen. In der Bundesrepublik haben wir eine über Jahrzehnte gewachsene, dem sozialen Frieden verpflichtete und ökologischen Erfordernissen immer stärker entsprechende Soziale Marktwirtschaft auf hohem technologischen Niveau. Damit war und ist die Soziale Marktwirtschaft in der Lage, Konjunkturschwankungen der Weltwirtschaft wirksam zu begegnen und sich in führenden Positionen in der internationalen Arbeitswelt und im Welthandel zu behaupten.In den fünf neuen Bundesländern dagegen finden wir eine Volkswirtschaft vor, die über Jahrzehnte von einer zentralistischen und auf höchstmögliche Autarkie gerichteten Wirtschaftsstrategie verformt worden ist. Hier ist es nicht gelungen, effektive, den Erfordernissen des Weltmarkts und der Umwelt entsprechende Strukturen zu entwickeln. Infolge einer verfehlten Investitionspolitik ist in vielen Bereichen die einfache Reproduktion mit all den damit verbundenen Konsequenzen für die Entwicklung ganzer Territorien und insbesondere auch für die Belastung von Mensch und Natur nicht mehr gesichert.Kernpunkt wirtschaftlicher Entwicklung, insbesondere im produzierenden Sektor, und Voraussetzung jeglicher betrieblicher Investitionen ist das Vorhalten entsprechender Verkehrs-, Kommunikations- und wirtschaftsnaher Infrastruktur. Unter wirtschaftsnaher Infrastruktur spreche ich vor allem die Ver- und Entsorgung in dem ökologisch erforderlichen Standard an. Ein besonderes Problem in den fünf neuen Bundesländern stellt die Abfallbeseitigung, die Kanalisation, der Bau von Kläranlagen dar.In den fünf neuen Bundesländern stehen nach Schaffung der infrastrukturellen Voraussetzungen großräumige Flächen zur Verfügung, auch in der Nähe von Verdichtungsregionen. Damit gibt es künftig Standortvorteile im internationalen Wettbewerb um Ansiedlungen von Wirtschaftsunternehmen.Kernstück der Umsetzung ist die Vereinbarung der regionalen Wirtschaftsförderung. Das gesamte Gebiet der fünf neuen Bundesländer wird für mindestens fünf Jahre Fördergebiet, wobei es den Ländern überlassen bleibt, Förderschwerpunkte zu setzen. Das ist sinnvoll, da bereits jetzt regionale Entwicklungskonzepte eine beschleunigte Entwicklung der gewerblichen Wirtschaft sowie die Stimulierung der Ansiedlung von mittelständischen Unternehmen vorsehen.Wichtig ist nun, daß neben gewerblichen Investitionen auch Investitionen für Modernisierung und Ausbau der kommunalen Infrastruktur durch Investitionszuschüsse gefördert werden können.Eine Schlüsselstellung in der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung kommt den Kommunen, ihrer Wirtschaftsförderung und insbesondere der Flächenpolitik zu. Für mittelständische Unternehmen und Unternehmensneugründer muß ein fachkundiger Ansprechpartner mit politischem Gewicht und mit Entscheidungskompetenz zur Verfügung stehen. Wirtschaftsförderung ist eine Querschnittsaufgabe und fordert die Sensibilität aller Verwaltungsbereiche. Was dort
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Dr. Wieczoreck
auf unserem Gebiet für Defizite bestehen, wissen Sie alle sehr genau.Sachkompetente und aufgeschlossene lokale Verwaltungsmitarbeiter sind für den Mittelstand eminent wichtig, weil sich so bestehende administrative Hemmnisse abbauen lassen. Das investitionsfreundliche Klima innerhalb einer Stadt und ihrer Verwaltung trägt wesentlich zum Erfolg oder Mißerfolg einer Ansiedlungsmaßnahme und damit der kommunalen Wirtschaftspolitik bei.
Ohne funktionierende Verwaltungsstrukturen in den Gemeinden, Städten und Kreisen müssen sowohl kommunale Wirtschaftspolitik als auch die in den Kommunen durchzuführenden Maßnahmen im Umweltbereich scheitern.Die Wirtschaftspolitik der Zukunft wird auf eine Kooperation der Städte und Gemeinden innerhalb der Region abzielen müssen. Kommunale Wirtschaftspolitik sollte anstreben, die Region mit einem abgestimmten Konzept interkommunaler Zusammenarbeit zu einem attraktiven Standort mit leistungsfähiger Infrastruktur und kooperativer wie gleichermaßen effizienter Verwaltungsführung vor Ort zu entwikkeln. Eine attraktive Region, die sich im internationalen Wettbewerb behaupten kann, ist auch die Voraussetzung für die Städte und Gemeinden, innerhalb dieser Region eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung zu nehmen.Meine Damen und Herren, in den nächsten Jahren werden 1,8 bis 2,5 Millionen Arbeitnehmer in neue Berufe umschulen müssen, weil sie bislang Berufe ausüben, die direkt oder indirekt mit der planwirtschaftlichen Produktionsweise zusammenhingen oder der Aufrechterhaltung des sozialistischen Systems dienten. Ein Großteil des Produktionsgefälles zur Bundesrepublik ist damit zu erklären.Für die künftige Grundorientierung der Wiederaufbaupolitik ist es wichtig, von einer ressortbezogenen Planung zu ressortübergreifendem Denken zu kommen — und das vor allem in den neuen Bundesländern.Die Entflechtung großer Produktionseinheiten in Industrie und Landwirtschaft sowie die verstärkte Hinwendung zu spezialisierter Produktion in kleineren und flexibleren mittleren Unternehmen werden ohne Zweifel positive Auswirkungen auf das ökologische Gleichgewicht und den Schutz der Natur haben. Bei der Sicherung der Landschafts- und Naturschutzgebiete, die im Interesse Deutschlands und Mitteleuropas in Nationalparks und Naturparks umgewandelt werden, entspricht das den Empfehlungen der Europäischen Gemeinschaft.Ich möchte hier noch ein ehemaliges DDR-Spezifikum hervorheben, und zwar die Verwertung und Aufbewahrung von industriellem Abfall und Siedlungsabfällen. Mit Hilfe fortschrittlicher Technologien der Entsorgungswirtschaft kann das bisherige SERO-System auf eine qualitativ höhere Stufe gehoben werden, indem es Erfassung und Verwertung von Sekundärrohstoffen im Rahmen eines einheitlichen Konzepts ermöglicht. Damit wird gleichzeitig ein bedeutender Beitrag zum schonenden Umgang mit Naturressourcen geleistet.Meine Damen und Herren, die eingeleiteten Strukturveränderungen in der Wirtschaft bieten den investitionswilligen Unternehmen langfristige und stabile Perspektiven. Es besteht die große Chance, im Osten Deutschlands eine Produktionsstruktur herauszubilden, die höchsten wissenschaftlich-technischen Bedürfnissen entspricht und den Erfordernissen ökologischen Wirtschaftens Rechnung trägt. Soziale Marktwirtschaft wird von Menschen für Menschen gestaltet. Sie bietet Arbeitsplätze, eine sinnerfüllte Existenz und Wohlstand.
Wir kommen aus dem Chaos der Hinterlassenschaften des Sozialismus in der DDR. Wir ehemaligen DDR-Bürger müssen unsere inneren Fesseln, bedingt sowohl durch seelische als auch durch körperliche Schäden, ablegen und bereit sein, für eine bessere Zukunft im geeinten Deutschland zu wirken.Zum Abschluß, Herr Ministerpräsident Lafontaine, muß ich Ihnen als ehemaliger DDR-Bürger leider noch eine Bemerkung hinübergeben. Wir Bürger haben am 18. März mit über 76 % über einen eindeutigen Weg zur Einheit Deutschlands entschieden und diesen Weg erstritten. Ein Provisorium haben wir nicht gewollt.Danke.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Ich bin mir sehr über das im klaren, was hier heute passiert. Ich bin zwei Jahre jünger als Herr Genscher. — Nein, Herr Genscher ist zwei Jahre jünger als ich.
Also kann ich die Gedanken, die Empfindungen eines Herrn Genscher mit seinem wahnsinnigen Einsatz sehr wohl nachvollziehen. Aber gestatten Sie mir bitte auch, daß ich die Empfindungen nachvollziehen kann, die in der bisherigen DDR gelaufen sind, die Empfindungen dieser Vereinigung, die stattgefunden hat und hinsichtlich der die Menschen wirklich noch nicht wissen, wo sie mit uns dran sind.Sie bekamen gesagt, daß in der BRD alles so gut sei. Sie wollten es auch glauben. Dann merken sie, wie oftmals ihre Lebensalltäglichkeiten von so großartigen Worten wie denen eines Herrn Grafen Lambsdorff ignoriert werden.
Auch Herr Bundeskanzler Kohl hat heute wohlgesetzt geredet. Er hat aber vergessen, daß ein Drittel der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland den Sonnenstrahl nicht genießen kann.Herr Gysi hat sich hier, wie ich sagen möchte, nicht sehr bescheiden dargestellt, sondern er hat so getan,
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Frau Unruhals wüßte er alles. Aber mir sagen alle Bürger der ehemaligen DDR, sie wüßten eigentlich doch nichts. Ich glaube, diese Bescheidenheit, in der Demokratie zurechtzukommen, haben letztlich wir Alten im wesentlichen gelernt.
Zum guten Schluß hat der Herr Bundeskanzler vergessen, seine Richtlinienkompetenz einzusetzen, damit es keine alten armen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland gibt, daß die Altersrechtlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland nicht so furchtbar grassiert.Ich nehme Frau Dr. Vollmer im besonderen übel, daß sie meint, wir Alten sollten uns mal schön zur Ruhe setzen, wir hätten ja eigentlich den Zenit überschritten. Das mag für diejenigen gelten, die mit ihren Betonköpfen nach wie vor im Deutschen Bundestag sitzen, oder auch für diejenigen Betonköpfe, die jetzt teilweise hierherkommen. Auch in der ehemaligen DDR hat es enorme Betonköpfe gegeben, und es gibt sie ja auch heute noch.
— Die gibt es überall; das stimmt, junge Kollegin. Aber in besonderem Maße sollten in Volksvertretungen nicht zu viele Betonköpfe sitzen.Man muß ja im Zeitgeist der Geschichte leben, und wir leben nun einmal nicht mehr in der Zeit der Französischen Revolution, sondern 1990.
Ich habe gestern Hunterttausende von Menschen in einer menschlichen Fröhlichkeit auf der Straße „Unter den Linden" spazierengehen gesehen. Ausgerechnet in dem Hotel, wo ich wohnen mußte, passierten, als es dunkel wurde, sehr, sehr üble Geschichten. Es waren Kriminelle vor der Tür, die die hunderttausendfache Freude der Menschen in — wie heißen die noch? — Molotowcocktails umsetzten. Bei dem Wort „Cocktail" denke ich natürlich an etwas ganz anderes.Ich saß dort und wollte essen. Da barsten die Fensterscheiben. Ich wundere mich, daß das 1990 noch möglich ist, da wir doch zum Mond fliegen, da wir alle doch immer schwören, wir wollten eine menschlichere Zukunft. Ich wundere mich, daß es in unserer Gesellschaft noch solche Gruppen geben kann. Ich stufe die als kriminell ein.Politik darf nicht dermaßen ausrasten, daß Menschen Gefahren ausgesetzt werden und — wie gestern — ihr Leben riskieren müssen.
Man meint, man schaut sich einen Krimi an, während das alles Realität vor der Hoteltür ist.Wir sollten uns alle bemühen, daß diese ganz verkorksten Typen in Sozialarbeiterhände kommen, damit sie den Mut finden, in unserer Gesellschaft neuen Tritt zu fassen. Wir können nicht immer nur auf die Länder verweisen, in denen ein Krieg tobt. Ich hatte gestern den Eindruck, daß bei mir vor der Hoteltür derBürgerkrieg stattfindet. Genau das alles wollen wir nicht.
Genau das, Herr Bötsch — Sie sind ja mein Lieblingsfreund — , ist, wie ich sagen möchte, durch ihre Mentalität gegenüber Menschengruppen gezüchtet worden, die dem Leistungsdruck nicht so standhalten konnten, wie Sie sich das alles auf dem Papier vorgestellt haben.Deshalb setzen gerade wir Alten, geprägt über den Seniorenschutzbund Graue Panther, uns dafür ein, daß es eine andere Zukunft gibt. Gerade wir Alten wollen nicht im Sessel sitzen und genüßlich zusehen, wie in der Geschichte immer wieder dieselben Fehler gemacht werden. Gerade wir weisen Alten wollen etwas dagegen tun. Man kann es vielleicht so sagen; denn wir sind nicht weise an vielen unnützen Gedanken oder auf Grund von drei Studiengängen. Ich habe gerade festgestellt, in der PDS wimmelt es nur so von Wissenschaftlern und Doktoren. Dies ist so ähnlich wie auf der NRW-Landesliste der GRÜNEN; da gibt es nur Wissenschaftler.
Wo sitzt eigentlich das Volk, meine Volksvertreter und Volksvertreterinnen? Sehen Sie sich einmal die Landeslisten von uns Grauen Panthern an! Da können Sie wohlausgewogen Volk wiederfinden, auch Berufsbeamte.
Als Volksvertreter und Volksvertreterinnen werden wir mit einer verpflichtenden 50prozentigen Frauenquote dafür sorgen, daß den kleinen Leuten mehr Gerechtigkeit widerfährt, daß bei der Umverteilung des Volksvermögens mehr Gerechtigkeit herrscht und daß mehr Gerechtigkeit auch dadurch eingeführt wird, daß wir unerbittlich z. B. dafür streiten werden, daß die Volkssolidarität in ihren Strukturen erhalten bleibt. Was bei unseren in der Vereinigung befindlichen Menschen gut war oder ist, sollte man bitte auch so lassen bzw. mit besseren Möglichkeiten für die Gesundheit umstrukturieren.Dasselbe gilt für die Polikliniken. Volkssolidarität und Polikliniken haben etwas Wunderbares bewirkt, nämlich daß denen, die es nötig hatten, Hilfe geleistet wurde. Das sind im wesentlichen alte Menschen, die behindert geworden sind, junge Menschen, die in ihrer Gesundheit behindert wurden, und es sind die behinderten Kinder, die es in der DDR wegen der wahnsinnigen Umweltverschmutzung genauso betroffen hat, und Krebskranke.Über Jahrtausende strahlt das Gift der Atomkraftwerke. Geben Sie hier gar nicht so an, als wenn Sie nun alle gewollt hätten, daß die Umwelt nicht so vergiftet wurde. Wenn Sie ehrlich vor sich selbst sind — Sie sagen immer, daß Sie ehrlich sein wollen —, dann wüßten Sie, daß gerade wir aus den Friedensbewegungen, aus den Anti-Kernkraft-Bewegungen ungeniert auf die Straße gegangen sind, auch mit unserem Gewissen als Bürgerliche und nicht, wie Sie immer behauptet haben, als Kommunisten oder sonst etwas.
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Frau UnruhAuch Gorbatschow ist ein Kommunist. Sie können nicht einfach immer diese Verteufelung von Menschen betreiben; sie sind dabei, sich zu ändern. Sie Christlich-Sozialen, wo ist denn die Mindestrente bei uns?
Sie lassen die alten verdienten Bürgerinnen und Bürger doch teilweise am Hungertuch hängen, Sie lassen sie in Alterspsychiatrien einweisen. Sie dulden Pflegeheime, in denen täglich Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Jetzt tun Sie nicht so, als wenn Sie das alle nicht wüßten!Ich sage: Wir Graue kommen in den nächsten Deutschen Bundestag. Wir werden das Regulativ sein, daß auch Sie letztlich in Würde alt werden können. Sie müssen nicht so überheblich tun. Wir Graue Panther haben sogar Menschen à la Graf Lambsdorff geschützt.
Frau Unruh, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin.
Wenn ich dies alles erlebe, dann tut es mir schon ein bißchen im Herz weh. Aber wir Grauen betreiben Politik mit Herz und Verstand.
Als nächster und letzter hat das Wort der Abgeordnete Wüppesahl.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gleich zu Beginn meiner Rede möchte ich Sie, jedenfalls die meisten unter Ihnen, verärgern.Sie wissen, ich bin ein Befürworter der deutschen Einheit. Trotzdem fragen mich viele, auch von Ihnen, warum ich den Raum verlasse, wenn die Nationalhymne ertönt. Der Grund besteht darin, daß unter dem Klang und dem Abspielen dieser Hymne unendlich viel Leid in die Welt getragen wurde.Ich formuliere dies nicht als Entschuldigung, sondern als Ermutigung all derer, die ähnlich schlechte Gefühle bekommen und vielleicht die „Kleinigkeit" wie die Erarbeitung einer neuen Nationalhymne aus Anlaß der deutschen Einheit am Ende des Jahres 1990 für notwendig ansehen, ebenso zu handeln.Die soziale Verelendung der meisten DDR-Bürger, in die sie durch die Einigung geraten sind und weiter geraten, gibt überhaupt keinen Grund zu feiern.
Unter diesen Umständen kann ich mich über die Einheit auch nicht freuen.Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger haben nicht mehr die Möglichkeit, ihren eigenen Staat aufzubauen, wie es ihren demokratischen Vorstellungenund der Beschreibung eines Souveräns entsprochen hätte. Statt dessen wurden sie an die feste Hand des Kanzlers genommen, der die DDR auf verfassungswidrige Weise der Bundesrepublik einverleibte.
Dazu haben all diejenigen Abgeordneten, die z. B. dem verfassungswidrigen Wahlgesetz zustimmten, das nicht die Durchführung, sondern den Ausgang der Wahl am 2. Dezember dieses Jahres regeln sollte, ihren Beitrag geleistet. — Die Lacher unter Ihnen sollten sich erst einmal an die eigene Nase fassen.Der Bundeskanzler sagte, als es um die sozialen Kosten der Einheit ging, keinem würde es in der DDR schlechter, dafür vielen besser gehen.
Die Grammatik dieses Satzes weist ihn als Beschwörung aus. Doch die Beschwörung hat nicht einmal etwas genutzt. Der Bundespräsident gibt der Kohlsehen Beschwörung seinen guten Glauben dazu; so geschehen während des gestrigen Staatsaktes, als er formulierte: „Ich glaube, daß die meisten bundesrepublikanischen Bürger teilen wollen. " In permanenter Selbst- und allgemeiner Täuschung erkennt man nicht mehr die Tatsachen.Doch die Wirklichkeit müßte beide eines Besseren belehren: Die soziale Einheit Deutschlands ist wegen der Kosten der rasanten, von keinem gebremsten, von keinem Parlament regulierten Hatz in die deutsche Einheit auf Jahre hinaus nicht mehr zu verwirklichen. Die soziale Einheit ist gescheitert.Ebenso ist es mit der kulturellen Einheit, wofür man angesichts der bundesdeutschen Plastikkultur nur dankbar sein kann. Ich hoffe, daß die eigenständigen Kulturelemente der DDR erhalten bleiben können, von der wir in der ehemaligen Bundesrepublik noch viel lernen könnten.
Ich möchte eine Korrektur des Kohlsehen Satzes anbringen: Es wird, so plant es die Bundesregierung, einigen wenigen wirklich besser gehen, den meisten aber schlechter, und zwar auf die nächsten Jahre hinaus.
Das beweist auch ein Blick auf die Arbeitslosenstatistik. Der Arbeitsminister, Herr Dr. Blüm, kündigte in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 27. September dieses Jahres für das Gebiet der ehemaligen DDR 1,8 bis 2 Millionen Arbeitslose zum Ende dieses Jahres an; wohlgemerkt: Arbeitslose. Dazu zählen noch nicht die 1,4 Millionen Null-Stunden-Kurzarbeiter. Dazu zählen auch nicht die Menschen, die ihre Arbeit verloren, sich aber auf dem Arbeitsmarkt nicht gemeldet haben.Schon jetzt geht es dem größten Teil der Menschen in der DDR, materiell betrachtet, so schlecht wie seit über 30 Jahren nicht mehr.
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18064 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
WüppesahlEntsprechende Ängste und Zukunftsängste herrschen in der Bevölkerung vor.
— Wissen Sie, wenn von der rechten Seite dieses Hauses, die man wirklich getrost als feist und fett in ihren Sesseln sitzend beschreiben kann, an dieser Stelle Zwischenrufe kommen, ist das einfach nur noch heuchlerisch.
Herr Wüppesahl, jetzt reicht's!
Ich fange gerade erst an!
Ich denke, daß Sie Ihre parlamentarischen Kollegen nicht so diffamieren können. Ich weise auch den Ausdruck als parlamentarisch völlig inadäquat zurück — es trifft auch nicht zu —, daß sich der Bundeskanzler die DDR verfassungswidrig einverleibt hätte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Lüder?
Im Moment nicht.
An der Tatsache, daß der Wahlvertrag, also einer der drei Staatsverträge zwischen der DDR und der BRD, und das dem Wahlvertrag für die Bundesrepublik zugrunde liegende Wahlgesetz verfassungswidrig sind, kann auch diese Belehrung der Präsidentin nichts ändern.
Die Arbeitslosigkeit wird zum Ende dieses Jahres auf dein Gebiet der ehemaligen DDR die 40 %-Marke überschreiten, wenn man nur die Blümschen Zahlen von 1,8 Millionen Arbeitslosen und 1,4 Millionen Kurzarbeitern zugrunde legt.
40 %, meine Damen und Herren — und was kommen hier für tolle Sätze!
Fur die gesamte Bundesrepublik muß man eine Quote von über 20 % ausweisen, wenn Sie endlich aufhören würden, die Statistiken getrennt nach AltBundesrepublik und Alt-DDR anfertigen zu lassen.
Ich erinnere nochmals an die eingangs zitierte Beschwörung des Bundeskanzlers: Es wird keinem schlechter gehen, doch vielen wird es besser gehen.
Zum Kontrast dazu nochmals: Für das zweite Halbjahr 1990 — so vermeldete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 27. September — weist die Krankenversicherung ein Defizit von 3,5 bis 4 Milliarden DM auf. Der Politik — so der Kommentator — bliebe nur die Wahl zwischen vier Übeln.
Das erste ist: Der Bund deckt das Defizit. Das zweite: Das Defizit wird durch einen Finanzausgleich auf westdeutsche Beitragszahler gewälzt. Das dritte: Der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung wird erhöht. Das vierte: Die Ausgaben im Gesundheitsbereich werden gesenkt.
Unter diesen vier Übeln können Sie wählen oder auch verschiedene Spielereien anstellen. Welche Möglichkeit auch immer in Betracht kommt, unterm Strich bedeutet dies: Es wird allen, auch den bisherigen westdeutschen Bürgern, was die Kosten der Gesundheit bzw. die Qualität der Versorgung angeht, schlechter gehen müssen. Dies gilt nicht nur für die Gesundheitsversorgung, sondern praktisch für alle Bereiche: Renten, Sozialversicherung, Arbeitslosenversicherung, Steuern usw. All diese sozialen Errungenschaften werden qua Einheit in den Konkurs gestürzt, genauso wie man die DDR in den Konkurs gestürzt hat und auch noch jetzt Betriebe bewußt herunterwirtschaftet.
Ab Januar nächsten Jahres wird jeder Bürger in der Bundesrepublik Deutschland zur Kasse gebeten. So wie Volltrunkene am Morgen ihren Kater haben, so wird die deutsch-deutsche Trunkenheit der letzten Monate — das abschließende Koma hatten wir gestern als Staatsakt — einen Katzenjammer nach sich ziehen. Die Frage ist bloß: Warum sehen die Menschen draußen das nicht? Ich weiß, daß sehr viele hier im Hause das nicht anders sehen, aber nach außen natürlich eine andere Propaganda betreiben. Die Bundesregierung jedenfalls sieht in dieser Vorgehensweise ihren Auftrag als Regierung. Da nützen auch vollmundige Worte vom Allgemeinwohl und der Verpflichtung dazu überhaupt nichts.
Seit 1982 wird von unten nach oben verteilt. Warum soll das bei der deutschen Einheit eigentlich anders sein? Jetzt wird erstens — nach dieser Prioritätenskala wird vorgegangen -- von Ost nach West verteilt. Ein Beispiel von vielen ist der Länderfinanzausgleich. Zweitens wird von unten nach oben weiter umverteilt.
Die SPD hob für alle dafür erforderlichen Staatsverträge die Hand. Auch das ist wieder einmal ein Indiz dafür, wie wichtig die PDS für diesen Deutschen Bundestag ist.
Es sei töricht — so der Bundesfinanzminister laut FAZ vom 27. September — , jetzt eine klare Auskunft zu fordern, was die deutsche Einheit kostet.
— Könnten Sie die geistigen Hinterbänkler seitens der Fraktionsgeschäftsführung bitten, etwas ruhiger zu sein?
Das bedeutet im Umkehrschluß folgendes: Der Bundesfinanzminister hält es für töricht, eine solide und ehrliche Finanzpolitik zu betreiben. So legt er erst gar
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Wüppesahl
keinen Haushalt vor. Doch Kosten scheinen die Bundesregierung sowieso nicht zu interessieren. Die Zeche der Einheit zahlen ja die Bürger. Und wiederholt stereotyp heißt es im feinsten Propagandastil: Die Einheit wird nicht an den Kosten scheitern. Die SPD spielt den Parlamentspapagei und sagt, die Einheit könne nicht an den Kosten scheitern, versucht aber gleichzeitig, nach außen die soziale Fahne hochzuhalten, obwohl sie bei den maßgeblichen Gesetzeswerken jedesmal ihre Hand gehoben hat.
Die Beschwörung, niemandem werde es schlechter, aber vielen besser gehen, hat nichts genutzt. Auch der Glaube des Bundespräsidenten wird daran nichts ändern. Es geht vielen schlechter. Die Bundesregierung plant, daß es einigen ganz wenigen sehr viel besser gehen soll.
Zum Jahresende herrschte über 40 % Arbeitslosigkeit in den Ländern der ehemaligen DDR. Darüber hinaus gibt es einen nicht enden wollenden Strom von Flüchtlingen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat in der DDR verlassen. Vergegenwärtigen Sie sich, daß die Grenze von 10 000 Bürgerinnen und Bürgern, die monatlich aus der DDR in die Bundesrepublik kommen, inzwischen schon wieder überschritten ist. Diese Menschen suchen Arbeit in der Bundesrepublik. Daraus resultieren Steuererhöhungen und Erhöhungen der Sozialausgaben für die Arbeitnehmer in der gesamten Bundesrepublik — mit allen sozialen und kulturellen Folgen wie Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus, Entsolidarisierung und massenhafte psychische Erkrankungen, die damit verbunden sind.
Herr Wüppesahl, Ihre Redezeit ist beendet.
Letzter Satz! — Doch als Trost gibt es nur Kohlsche Worte von „schlechter" und „besser", garniert mit dem guten Glauben des Bundespräsidenten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und hoffe, daß zumindest einige dieser Argumente zum Nachdenken anregen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 auf Drucksache 11/8044. Es wird vorgeschlagen, diesen Entschließungsantrag an den Auswärtigen Ausschuß zur federführenden Beratung und an den Ausschuß für Wirtschaft zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf :
Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Anzahl der Mitglieder des Präsidiums des Deutschen Bundestages
— Drucksache 11/7067 —
Überweisungsvorschlag: Ältestenrat
Für die Beratung ist eine Runde mit Beiträgen bis zu fünf Minuten vereinbart worden. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Frau Birthler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Text des Antrags bedarf zweifellos der Aktualisierung. Das hat seinen Grund zum einen darin, daß unser Weg in dieses Parlament kürzer war als der Weg der Drucksache durch dasselbe, zum anderen darin, daß dieser Antrag von der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Weg gebracht wurde, nun aber von der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 hier eingebracht wird. Ein weiterer Grund ist, daß zu den im Antrag genannten Gründen weitere gute neue Gründe hinzukommen.Es geht darum, die Zahl der Vizepräsidenten und -präsidentinnen von vier auf fünf zu erhöhen und gleichzeitig zu gewährleisten, daß jede Fraktion im Präsidium vertreten ist.Die Gründe liegen auf der Hand: Die Repräsentation der im Parlament vertretenen politischen Kräfte in interfraktionellen Gremien wie Ausschüssen und dem Ältestenrat ist ein bewährtes demokratisches Prinzip, für das es gute politische und auch pragmatische Gründe gibt. Warum sollte es nicht für die Vizepräsidenten gelten?
Nicht nur die Art und Weise der Auseinandersetzung in Gremien, sondern auch ihre Zusammensetzung ist Ausdruck politischer Kultur. Die Volkskammer hat gute Erfahrungen damit gemacht, daß Vizepräsidenten aus allen Fraktionen gewählt wurden. Dieser Antrag ist auch eine Chance, ein endlich fälliges Zeichen dafür zu setzen, daß nicht alles über Bord geworfen werden muß, was in der DDR mit Erfolg praktiziert wurde.
Wenn die GRÜNEN den Antrag gestellt haben, dann wird er erst recht von der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 bekräftigt. Wir tun damit nichts anderes, als die Worte des Bundespräsidenten in die parlamentarische Praxis umzusetzen: abgeben, teilen, einander Respekt erweisen. Das gilt natürlich zuerst für ein Parlament.Falls Sie unserem Antrag zustimmen, schlägt die Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 als Vizepräsidenten Dr. Ullmann vor.
Sie haben damit die Gelegenheit, den vielen, schönen und richtigen Worten in Richtung Bürgerbewegungen eine kleine Tat folgen zu lassen.Ich appelliere an Sie, diesem Antrag zuzustimmen und zu bedenken, wie die Ablehnung eines Vertreters der DDR-Bürgerbewegungen aufgenommen werden könnte. Ich möchte allerdings davon ausgehen, daß es dieses letzten Arguments nicht mehr bedurfte; denn
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Frau Birthlerschließlich heißt es, daß wir nun erst in der wirklichen Demokratie angekommen seien.Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Abgeordnete Herr Bohl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, die hier vorgetragene Begründung kann nicht überzeugen. Man muß zunächst einmal den Ursprungstext zur Hand nehmen. Die Drucksache 11/7067, die hier aufgerufen ist, begründet die Forderung nach einer höheren Zahl von Stellvertretern des Präsidenten im Präsidium damit, daß es die Eile des deutschen Einigungsprozesses erforderlich mache, einen weiteren Stellvertreter des Präsidenten zu haben. Da aber die deutsche Einigung gestern vollzogen wurde, ist diese Begründung sicherlich nicht mehr tragfähig.
Meine Damen und Herren, dieser Antrag war offensichtlich auf Reserve und für alle Fälle gedacht. Ich will mich dann gerne mit der neuen Begründung ein wenig auseinandersetzen und bitte um Verständnis, wenn ich wegen der fünf Minuten Rededauer keine Zwischenfrage zulassen kann.
Es ist vielleicht zunächst darauf hinzuweisen, daß die Wahl der Vizepräsidenten mit der Mehrheit beschlossen wird. Das heißt also, die Vizepräsidenten müssen das Vertrauen der Mehrheit des Deutschen Bundestages haben. Es handelt sich hierbei nicht um ein Zuordnungsverfahren, wie es bei den Ausschüssen und anderswo gegeben ist. Es muß vielmehr das Vertrauen der Mehrheit in den Präsidenten vorhanden sein; und dies aus gutem Grunde.
Ich will dies nicht weiter ausführen, aber das liegt z. B. an der besonderen Position, die die Präsidenten bei der Leitung der Sitzungen haben. Auch entsprechend den Verfahrensregeln, die wir im Zusammenhang mit den uns selbst gegebenen Verhaltensrichtlinien haben, ist es notwendig, daß ein Vizepräsident das Vertrauen der Mehrheit genießt.
Deshalb kann das Argument, jede Fraktion solle im Präsidium vertreten sein, nicht überzeugen. Ich muß Sie allerdings darauf hinweisen: Wenn Sie schon in den Kategorien denken, daß die Fraktionen nach der Stärke darin vertreten sein sollten, dann kämen Sie erst beim siebten Sitz zum Zuge. Sie müßten dann in der Tat die Zahl der Stellvertreter mindestens auf sechs, wenn nicht auf sieben erhöhen.
Wenn wir die Zahl der Sitze nur auf fünf erhöhen — wie Sie vorschlagen — , dann würde dieser Sitz des Vizepräsidenten der Fraktion der CDU/CSU zufallen. Ob wir von Ihrem freundlichen Angebot Gebrauch machen wollen oder sollen,
das müssen wir in der Tat noch ein wenig überdenken.
Das Argument — das vielleicht auch noch kommen könnte — , wir hätten jetzt mehr Abgeordnete als früher und bräuchten deshalb mehr Vizepräsidenten, muß auch noch einmal abgewogen werden. Bei der heutigen Sitzung klappt es mit der Zahl der vorhandenen Vizepräsidenten eigentlich ganz hervorragend. Auch deshalb ist noch nicht überzeugend der Beweis dafür gebracht, daß wir mehr Vizepräsidenten brauchen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, all das macht mehr als deutlich, daß dieser Antrag noch nicht durchdacht ist. Wir wollen Gelegenheit geben, im Ältestenrat darüber noch einmal zu sprechen, die Sach-
und Rechtslage Ihnen vielleicht noch einmal darzulegen.
Im übrigen wollen wir in der Tat noch ein wenig Bedenkzeit haben, ob wir von Ihrem freundlichen Angebot, einen weiteren Vizepräsidenten aus den Reihen der Fraktion der CDU/CSU stellen zu können, Gebrauch machen sollten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Abgeordnete Bohl hatte vorhin gesagt, daß er wegen seiner kurzen Redezeit keine Zwischenfrage zulassen kann.
Als nächster hat der Abgeordnete Jahn das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß die Koalition den Antrag ablehnt, war zu erwarten. Das macht sie schon dauernd. Nur ist die Argumentation heute etwas merkwürdig. Es ist doch keine Rechenaufgabe, die hier zu lösen ist, sondern es ist eine politische Frage, wie viele Vizepräsidenten wir haben.
Ich wiederhole, was ich zu einem früheren Zeitpunkt schon gesagt habe: Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß es gut wäre, das Präsidium um ein Mitglied einer selbständigen Fraktion zu vergrößern. Das Präsidium ist eines der Leitungs- und Lenkungsorgane des Hauses, in dem die Zusammenarbeit geordnet und geregelt werden kann. Wir halten unverändert an der Auffassung fest, daß es gut wäre, auch die Fraktion DIE GRÜNEN in die Zusammenarbeit einzubeziehen. Das würde manche Diskussion und manche Auseinandersetzung hier im Hause erleichtern und vereinfachen.
— Wissen Sie, wenn Sie mit der Fähigkeit zur Zusammenarbeit solche Schwierigkeiten haben, wie Ihre Zwischenrufe erkennbar werden lassen, müssen Sie sich einmal fragen, was Sie eigentlich unter einem Parlament verstehen.
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Jahn
In der Sache unterstützen wir also den Antrag. Wir sind auch mit der Überweisung einverstanden. Ich muß in diesem Zusammenhang aber folgendes deutlich machen: Wir haben unter den Fraktionen die Verabredung getroffen, daß wir an der Form der Zusammensetzung der Gremien des Bundestages in den letzten Wochen nichts mehr ändern wollen. Deswegen werden wir dem Antrag diesmal nicht in aller Form zustimmen, sondern uns der Stimme enthalten.
Er ist im gegenwärtigen Zeitpunkt ein Antrag, der ein Ziel ansteuert, das genauso überflüssig ist wie die Ernennung fünf neuer Bundesminister, die wir heute morgen erlebt haben.
Als nächster hat der Abgeordnete Herr Wolfgramm das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! — Ich mache eine kleine Pause, aber nicht deswegen, weil mir im Augenblick die Argumente fehlten, sondern deshalb, weil es schon beeindrukkend ist, zum erstenmal hier im Reichstagsplenarsaal am Mikrophon zu stehen. Außerdem gibt es in der Höhenposition einen erheblichen Unterschied gegenüber dem Wasserwerk in Bonn. Das ist ungewohnt. Nun ist ja manches Ungewohnte auch etwas Positives, aber wenn ich hier rechts und links entlang schaue, habe ich doch den Eindruck, daß der Aufbau hier einen sehr festungsartigen Charakter hat.
Ich meine, wir sollten uns bei den Betrachtungen im Ältestenrat sehr ernsthaft überlegen, daß wir diesen Festungscharakter erheblich vermindern
und daß wir wieder eine intensivere Beziehung zu denen gewinnen, zu denen wir sprechen wollen. Vielleicht sollte man das Rednerpult mehr zur Mitte des Saales verlagern, damit es nachher nicht so ist, daß wir uns insgeheim wünschen, im Wasserwerk reden zu können. Die Kollegen, die im erweiterten Bundestag neu zu uns gekommen sind, werden das morgen ja erleben. Ich möchte damit auch nicht einen Vorgriff auf die Entscheidung „Berlin oder Bonn?" getroffen sehen, nämlich einen Vorgriff dadurch, daß es uns bei den Debatten im Wasserwerk besser gefällt.
Nun zur Sache. Wir haben darüber schon zweimal beraten. Die Fraktion der GRÜNEN hat diesen Antrag zu Beginn der Legislaturperiode gestellt und hat auch eine Kandidatin benannt. Diese Kandidatin hat, eben weil es keine Anteilswahl ist, keine Mehrheit im Hause gewinnen können. Ich möchte auf diesen Wahlcharakter noch einmal verweisen.
Ich möchte aber auch noch einmal darauf hinweisen, daß wir unter den Geschäftsführern eine Vereinbarung getroffen haben, im Hinblick auf die sehr
kurze Zeit dieser Legislaturperiode, die noch vor uns liegt, im Hinblick auf die wenigen Sitzungstage keine Veränderungen vornehmen, was durch die Änderung der Fraktionsstärken bedingt sein würde.
Herr Abgeordneter Wolfgramm — —
Wenn ich richtig unterrichtet bin, darf bei Geschäftsordnungsdebatten keine Zwischenfrage gestellt werden. Ich lasse sie aber gern zu, wenn sie gewünscht wird. Frau Kollegin, bitte.
Herr Abgeordneter, ist Ihnen bekannt, daß die Vizepräsidenten der Volkskammer auch gewählt worden sind? Allerdings gab es die Übereinkunft, daß die Vorschläge der Fraktionen — es gab je zwei von den jeweils anderen Fraktionen — respektiert wurden.
Ja, das ist mir bekannt. Aber im Augenblick verfahren wir nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages.
Und danach ist die Zahl der Vizepräsidenten festgelegt. Sie ist übrigens seit der 2. Legislaturperiode so festgelegt. Auch damals hat es eine Fülle von zusätzlichen Fraktionen gegeben. Aber das werden wir im Ältestenrat noch einmal beraten, Frau Kollegin.
Nur weise ich noch einmal darauf hin, daß wir vereinbart haben, die veränderte Stärke der Fraktionen nicht dazu zu nutzen, um für die restliche Zeit Veränderungen in der Zahl der Ausschußmitglieder oder bei den Ausschußvorsitzenden vorzunehmen. Es erscheint uns sinnvoll, so zu verfahren. Die Beratungen im Ältestenrat werden alle Argumente wägen.
Als nächster hat das Wort Herr Steinitz.
Frau Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Ich wollte an und für sich nur eine Zwischenfrage stellen. Da das nicht möglich war, spreche ich von hier aus einige wenige Sätze.In der heutigen Debatte hat schon eine große Rolle gespielt, inwieweit es bestimmte Erfahrungen der ehemaligen DDR gibt, die es wert sind, in das neue Deutschland, in die neue Bundesrepublik hinübergetragen zu werden. Wäre es da nicht bedenkenswert, die Erfahrung, die in der Volkskammer gesammelt wurde, hier einzubringen
— der Volkskammer der ehemaligen DDR, von der144 Abgeordnete für den Bundestag gewählt wurden — : daß unabhängig von der Fraktionsstärke jede
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18068 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Dr. SteinitzFraktion die Möglichkeit hat, einen Vizepräsidenten zu wählen. Das hat sich unter der Bedingung, daß bekanntlich nicht alle Fraktionen die Zustimmung der Mehrheit der Volkskammer hatten, als Arbeitsprinzip der Volkskammer durchaus bewährt.Zum anderen möchte ich noch zu bedenken geben, ob es nicht sinnvoll wäre, daß nicht nur 144 Abgeordnete neu zum Bundestag kommen, sondern daß auch ein Vertreter der ehemaligen DDR als Vizepräsident die Möglichkeit hat, hier im Hause wirksam zu werden. Deshalb unterstütze ich den vorliegenden Antrag.
Als letzter hat Herr Abgeordneter Wüppesahl das Wort.
—Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das ist nach dem Karlsruher Urteil im Ältestenrat so beschlossen.
Mich haben die Ausführungen von Herrn Bohl und Herrn Wolfgramm dazu gereizt, ebenfalls das Wort zu ergreifen. Sie sprachen davon, daß es um eine Persönlichkeitswahl ginge. Die kandidierenden Personen müßten das Vertrauen des Hauses erringen. Wie absurd das ist, wissen gerade Sie nur zu gut. Denn die Fraktionen sind im wesentlichen zu Zustimmungsmaschinen verkommen. Wenn Sie in den Führungsgremien sagen, daß dieses oder jenes Abstimmungsverhalten zu einem Sachgegenstand oder zu einer Wahl praktiziert werden solle, dann wird das in der Regel nur mit wenigen Abweichlern — wenn überhaupt Abweichler auftreten — von den Fraktionen so exekutiert.
Wenn die Geschäftsführer beschlossen haben: Wir hätten uns geeinigt — das hört sich toll an —, die Gremien für die letzten Wochen nicht mehr zu verändern, dann ist das vor dem Hintergrund, daß heute fünf neue Bundesminister vereidigt wurden, einfach lächerlich, wirklich lächerlich.
Es geht hier tatsächlich um ein demokratisches Prinzip im Parlament: das Minderheitenrecht. Und die Minderheit ist in diesem Fall nicht ein Einzelabgeordneter Wüppesahl, mit dem man hier alles Mögliche machen kann
— dazu werden Sie gleich noch mehr hören — , sondern die Minderheit ist erstens eine ganze Bundestagsfraktion, die GRÜNEN, und zweitens ein bisher undefiniertes Häuflein. Die PDS hat ja noch nicht einmal den Gruppenstatus zuerkannt bekommen. Darüber hätten Sie sich in der Geschäftsführerrunde mehr Gedanken machen sollen.
Das heißt, diese beiden Gruppen, sowohl die Fraktion DIE GRÜNEN als auch die PDS, gehören natürlich selbstverständlich, wenn man Demokratie im Parlament und damit diesen Parlamentarismus noch ernst nimmt, ins Präsidium des Deutschen Bundestages. Deswegen werde ich selbstverständlich diesem Antrag der GRÜNEN meine Zustimmung ebenfalls geben.
Herr Wüppesahl, informiert müßte man schon sein: Die Frage des PDS-Status klären wir morgen im Ältestenrat. Sie können nicht Entscheidungen vorwegnehmen.
— Ich möchte Ihnen ohnehin gleich wieder das Wort geben, weil Sie uns noch den Antrag beschieden haben, diesen Tagesordnungspunkt abzusetzen. Bitte, ich gebe Ihnen das Wort.
— Halt! Ich habe im Eifer des Gefechts vergessen, daß wir noch die Überweisung dieses Antrags vornehmen müssen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag die Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7067 an den Ältestenrat zu überweisen. Sie sind damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Bevor ich die Zusatzpunkte 2 und 3 der Tagesordnung aufrufe, erteile ich dem Abgeordneten Wüppesahl das Wort.
Ich unterhalte doch gerade das ganze Plenum.
Sehr verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mit dem Datum von vorgestern Anträge für die Aufsetzung und die Absetzung von Punkten der Tagesordnung beim Präsidium eingereicht.Erstens möchte ich, daß die erste Lesung des Wahlgesetzes heute nicht stattfindet.Zweitens möchte ich, daß die erste Lesung des Wahlgesetzes morgen stattfindet, damit wir heute anstelle der ersten Lesung des Wahlgesetzesdrittens — das ist ein Antrag zur Aufsetzung eines Punktes auf die Tagesordnung — eine Aussprache über den „Vorfall verfassungswidriger Wahlvertrag" über zwei Stunden durchführen können, weil es aus meiner Sicht unerträglich ist, daß Sie in diesem Durchmarschtempo, nachdem das Verfassungsgericht gerade letzten Samstag in Karlsruhe gesagt hatte, daß die überwältigende Mehrheit
— da lachen schon wieder einige von denen, die dazugehören — des Deutschen Bundestages ein verfas-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18069
Wüppesahlsungswidriges Gesetz erlassen habe, ein neues Wahlgesetz beschließen wollen.Daraus würde folgen, daß wir die zweite und dritte Lesung so durchführen können, daß wir sehr wohl noch die Termine halten können. Mir geht es nicht damm, über Verfahrensfragen den Willen der politischen Mehrheit beugen zu wollen. Wir könnten sehr wohl am kommenden Donnerstag in einer Sondersitzung noch die zweite und dritte Lesung des Wahlgesetzes durchführen, so daß in der Zeitspanne von morgen bis zum Donnerstag die noch erheblichen Probleme im Detail sach- und fachgerecht behandelt werden könnten.Meine Damen und Herren, das Verfassungsgericht hat festgestellt, daß wesentliche Teile des Wahlvertrages und des Wahlgesetzes verfassungswidrig sind. Eine Selbstverständnis-Debatte des Bundestages, vor allen Dingen der Kolleginnen und Kollegen, die dafür ihre Hand gehoben haben, halte ich für unbedingt erforderlich. Deshalb die Bitte, daß wir das heute durchführen können.Einmal mehr — erinnern Sie sich bitte auch an das Volkszählungsgesetz 1983 — muß sich die überwältigende Mehrheit des Bundestages vom höchsten deutschen Gericht attestieren lassen, daß sie ohne Not — ohne Not! — verfassungswidrig gehandelt hat.Ohne Not auch deshalb, weil schon im Vorfelde der Verabschiedung dieses Vertrages und eben nicht bloß von dem Einzelabgeordneten Wüppesahl immer wieder Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der beanstandeten bundesweiten Fünfprozent-Sperrklausel und der Möglichkeit der Listenverbindung erhoben wurden.Was hierbei ein besonderes Schlaglicht auf die aus meiner Sicht verkommene parlamentarische Kultur in Bonn wirft, ist folgendes:
Die Motivation bei den vier Parteien bestand darin, zu versuchen, unliebsame politische Konkurrenz bzw. gewollte innerparlamentarische Bündnispartner via Wahlrecht und nicht, wie es in einer funktionierenden Demokratie üblich wäre, in politischem Meinungskampf aus dem Rennen zu schlagen bzw. später gegebenenfalls mit diesen Kräften im Parlament zusammenzuarbeiten. Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, daß zu diesem Sachverhalt keine Selbstreflexion erforderlich ist, bevor wir uns an die Arbeit machen, das nächste Wahlgesetz, die zehnte Änderung des Bundeswahlgesetzes, zu verabschieden.Dabei machten auch alle Abgeordneten in den drei Fraktionen mit, obwohl sie zum großen Teil wider ihre eigene Überzeugung abstimmten, wie ich aus zahllosen Gesprächen weiß. Aber die Partei hatte gerufen, und die Parteisoldatinnen und die Parteisoldaten, hier: die frei gewählten und eigentlich nur ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten des ganzen deutschen Volkes, Art. 38 des Grundgesetzes, parierten wieder einmal.Der direkte Durchgriff der Parteien auf das nach ihrem Selbstverständnis und Auftreten längst angeeignete Parlament funktionierte wieder einmal.
Ich weiß, daß ich nicht alleine stehe, sondern auch in Ihren Reihen, CDU/CSU, FDP und SPD, die dieses Gesetz zu verantworten haben, gibt es eine Reihe von Personen, die darüber sehr gerne mal einen Austausch führen würden, und zwar hier im Plenum des Deutschen Bundestages.
Fünf Tage vor der deutschen Einheit muß das höchste deutsche Gericht den Rettungsanker werfen. Was für eine Belastung für den gestrigen Staatsakt, ohne daß bisher ein Wort darüber gefallen ist! Wie wird jetzt wieder in der heutigen — das haben wir erlebt — angesetzten Regierungserklärung an den tatsächlichen sozialen, kulturellen, finanziellen und demokratischen Problemen vorbeigeredet werden? Diese und noch viele Fragen mehr zwingen sich auf, über diese Fragen muß hier und jetzt in diesem Hause gesprochen werden.Ich wünsche mir, daß der Deutsche Bundestag die jetzt bestehende unverdiente Chance nutzt und das nächste Wahlgesetz nicht bloß an Hand der vom Verfassungsgericht, entsprechend seiner Funktion, beschriebenen Mindeststandards, sondern so, wie sie fachpolitisch gerechtfertigt und notwendig sind, formuliert. Das hätte dann allerdings mit den egoistischen Machtinteressen der CDU/CSU, FDP und SPD nicht mehr viel gemein.Es ist das Problem, daß wir jetzt über so einen Antrag auf Aufsetzung auf die Tagesordnung entscheiden müssen, praktisch kurz bevor die eigentliche erste Lesung stattfinden soll, weil ein solcher Antrag natürlich eigentlich zu Beginn des Sitzungstages beschlossen werden muß. So stehen wir alle ein bißchen unter diesem Zeitdruck. Ich möchte Sie dennoch bitten, sich selbst darüber Rechenschaft abzulegen, ob Sie tatsächlich so unvorbereitet das nächste Wahlgesetz vorbereiten wollen.Ich bitte um Zustimmung zu meinem Antrag.
Herr Wüppesahl, ich lasse den Ausdruck „verkommene Kultur des Parlaments" hier nicht stehen und weise ihn als unparlamentarisch zurück.
Wir kommen zur Abstimmung über die Geschäftsordnungsanträge des Abgeordneten Wüppesahl. Wer stimmt für diese Anträge? —
— Wir sind in der Abstimmung, Herr Hüser.
Ich bin mitten in der Abstimmung und habe gefragt: Wer stimmt für diese Anträge?
Präsidentin Dr. Süssmuth
Ich wiederhole meine Aufforderung: Wer stimmt für diese Anträge? — Einer. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Geschäftsordnungsanträge sind mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe die Zusatztagesordnungspunkte 2 und 3 auf:
ZP2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes sowie zur Änderung des Parteiengesetzes
— Drucksache 11/8023 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß gem. § 96 GO
ZP3 Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
— Drucksache 11/8033 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß gem. § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. Als erstem erteile ich dem Bundesminister Herrn Dr. Schäuble das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Sätzen der Entscheidung, aus der wir hier die notwendigen Konsequenzen zu ziehen haben, darauf hingewiesen, daß Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung erklärt haben, sie seien bei Ergehen einer die Verfassungswidrigkeit der streitbefangenen Vorschriften feststellenden Entscheidung des Senats willens und in der Lage, rechtzeitig im Blick auf den vom Bundespräsidenten als Wahltag bestimmten 2. Dezember 1990 die erforderlichen Änderungen des Bundeswahlgesetzes vorzunehmen.Davon geht der Senat aus. Er sieht deshalb im gegenwärtigen Zeitpunkt davon ab, durch Erlaß einer Anordnung nach § 35 BVerfGG selbst die rechtliche Grundlage für die Durchführung der Wahlen bereitzustellen.Deswegen bin ich dem Bundestag und allen Fraktionen dankbar, daß wir in der Lage sind, kurzfristig die Konsequenzen aus dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 29. September 1990 zu ziehen. Herr Kollege Wüppesahl, der so sehr auf die Einhaltung des Urteils des Verfassungsgerichts drängt, hat übersehen, daß uns das Verfassungsgericht selbst zu der zügigen Beratung und Verabschiedung eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes verpflichtet hat,
weil andernfalls das Verfassungsgericht selbst im Wege der einstweiligen Anordnung die notwendigen Entscheidungen getroffen hätte.Im übrigen denke ich, daß der Satz des Kollegen Willy Brandt in der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers, die Gesamtheit der Staats- und Wahlbürger sei in die Entscheidungen einzubeziehen, vor allen Dingen in dem Sinne zu gelten hat, daß wir so rasch wie möglich in freien, geheimen, allgemeinen Wahlen ein gesamtdeutsches Parlament wählen. Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten es am 14. Oktober 1990 geschafft. Aber wir müssen auf alle Fälle beim 2. Dezember 1990 verbleiben.
Ich möchte gerne auf die Aussprache Bezug nehmen, die wir im Ausschuß Deutsche Einheit am 4. Juli 1990 geführt haben. Das war zu einem Zeitpunkt, als wir noch nicht sicher waren, ob wir die Grundlagen für eine gesamtdeutsche Wahl des Deutschen Bundestages durch einen Vertrag zwischen den Regierungen der damaligen DDR und der damaligen Bundesrepublik Deutschland schaffen sollten, um die Wahl schon einheitlich vorzubereiten. Ich habe damals auf entsprechende Fragen des Kollegen Vogel vor dem Ausschuß Deutsche Einheit ausgeführt, daß ich mich auch bei einem einheitlichen Wahlgesetz nachhaltig dafür einsetzen werde, daß wir bei der ersten Wahl als Voraussetzung für den Zugang zu einem gesamtdeutschen Parlament das Erringen von drei Direktmandaten, wie wir es bisher haben, oder 5 % der Stimmen in mindestens einem der beiden zusammenwachsenden oder sich vereinigenden Teile Deutschlands festlegen.Herr Kollege Vogel, Sie haben damals ausgeführt, für Sie sei unerläßlich, daß in diesem Wahlgesetz die Fünfprozentklausel nur für das gesamte Wahlgebiet vorgesehen werden. Dies nur damit wir für die Historie wissen, wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist.
— Ja, natürlich, Herr Kollege Jahn, es gab auch einen formulierten Antrag. Der war auch falsch. Aber das ändert nichts an meiner Aussage. Ich will auch gar nicht so sehr auf die Historie rekurrieren. Mir geht es vielmehr darum, darauf hinzuweisen, daß wir, weil wir den notwendigen Konsens über ein Wahlrecht so, wie es das Bundesverfassungsgericht jetzt für diese erste gesamtdeutsche Wahl für notwendig hält, nicht zustande gebracht haben — im übrigen so wenig in der Volkskammer wie im Bundestag — , gemeinsam — jedenfalls die große Mehrheit in beiden Parlamenten — der Überzeugung waren, daß bei einer auf das Gesamtgebiet bezogenen Fünfprozentklausel die Zulassung von Listenverbindungen zwischen Parteien, die mit Ausnahme Berlins nicht in einem Bundesland gegeneinander konkurrieren, ein zureichendes Instrument sei, um der besonderen Situation der ersten gesamtdeutschen Wahl eines Bundestages Rechnung zu tragen.Das Bundesverfassungsgericht ist dem Bundestag, dem Bundesrat und der Volkskammer in dieser verfassungsrechtlichen Auffassung nicht gefolgt. Wir haben in dem ganz selbstverständlichen Respekt vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts daraus die Konsequenzen zu ziehen. Der von den Fraktionen der
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Bundesminister Dr. SchäubleCDU/CSU und FDP vorgelegte Gesetzentwurf zieht genau diese Konsequenzen.Er sieht vor, daß wir die bewährte Fünfprozentklausel bei der ersten gesamtdeuschen Wahl angesichts der besonderen Umstände mindestens auf einen der beiden bisherigen Teile beziehen — die seit gestern keine Teile mehr sind — , so daß es für die Teilnahme an der Mandatsverteilung nach den erhaltenen Zweitstimmen für politische Parteien und Gruppierungen ausreichend ist, wenn sie entweder drei Direktmandate oder 5 % der Stimmen entweder in den bisherigen elf Bundesländern oder in den neuen fünfeinhalb Ländern erringen. Das ist also die Regionalisierung der Fünfprozentklausel.Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf entsprechend dem Votum des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls vor, daß wir in den seit gestern zur Bundesrepublik Deutschland gehörenden fünfeinhalb neuen Ländern, also in den fünf Ländern plus dem Teil Berlins, für die erste gesamtdeutsche Wahl Listenvereinigungen nach dem bisherigen Recht der DDR zulassen.Er regelt darüber hinaus die notwendigen Konsequenzen für die Mitteilung dieser Listenvereinigungen und der Beteiligung an den Bundestagswahlen gegenüber dem Bundeswahlleiter. Daher tragen wir mit diesem Gesetzentwurf dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts voll Rechnung.Wir müssen das mit großem zeitlichem Druck tun. Denn die vorgesehenen Fristen sind so, daß wir versuchen sollten, die Beratungen im Bundestag in dieser Woche zum Abschluß zu bringen. Der Bundesrat hat sich bereit erklärt, sich in einer Sondersitzung am kommenden Montag mit der Sache zu befassen, so daß wir in der Lage sein könnten, am Montag Klarheit über das für die Wahl am 2. Dezember geltende Verfahren zu haben.Ich denke, von all den großen Aufgaben, die wir in den letzten Monaten mit großer Geschwindigkeit erfüllen mußten, ist das Ziehen der Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine verhältnismäßig einfache. Es handelt sich um ein ungewöhnlich klares Urteil des Bundesverfassungsgerichts.Ich bitte die Fraktionen des Hauses, dem Gesetzentwurf zuzustimmen und die Beratungen so zügig abzuwickeln, daß auch der Bundesrat dem Gesetz am Montag seine Zustimmung erteilen kann.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Herr Bernrath.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Wahlrecht ist Qualrecht, wie wir in diesen Tagen erfahren. Es gilt nun, unterschiedliche Meinungen nach den Vorlagen, die wir haben — den Gesetzentwürfen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion die GRÜNEN —, festzustellen, sie zu gewichten und, wenn möglich, so schnell wie möglich zusammenzuführen.
Das ist in einem langen, mühsamen Prozeß während der Sommermonate für das Wahlrecht zum 12. Deutschen Bundestag bereits geschehen. Nach einer Unzahl von Beratungen hatten sich CDU/CSU, SPD und FDP auf ein Ergebnis geeinigt, das dann in der Wahlrechtsvereinbarung seinen Niederschlag gefunden hat.
Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Ergebnis, wie bekannt, nicht für richtig gehalten und die Entscheidung des Gesetzgebers „kassiert" . Es ist hier nicht der Ort, sich mit dieser Entscheidung kritisch auseinanderzusetzen. Nur soviel heute: Es ist schon mutig, das Volk — immerhin den Souverän unserer Staatsordnung — zu zwingen, nach getrennten Wahlgebieten, nämlich in der bisherigen DDR und der bisherigen Bundesrepublik, für den 12. Deutschen Bundestag zu wählen — und das, nachdem das Volk in der DDR die Vereinigung Deutschlands gerade durchgesetzt hatte.
Zumindest nach dieser Entscheidung wird es künftig Abgeordnete unterschiedlicher Legitimierung, unterschiedlichen Rechts geben. Es steht immerhin im Grundgesetz geschrieben, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und daß diese „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen" ausgeübt wird, also nicht etwa von der Bevölkerung der früheren DDR oder der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland. Der wichtige — wenn nicht der wichtigste — Grundsatz im Wahlrecht, nämlich der der Gleichheit der Wähler und damit der Gleichgewichtigkeit der Stimmen, wird hier meines Erachtens gründlich außer acht gelassen. Art. 20 des Grundgesetzes, dem diese Überlegungen zugrunde liegen, steht zusammen mit Art. 1 und seinen Grundsätzen nach unserer Verfassung ganz obenan. Beide Artikel sind unabänderlich. Sie sind also nicht mit noch so großen Mehrheiten im Parlament und ebensowenig, meine ich, durch Entscheidungen in Karlsruhe zu verändern.
Herr Abgeordneter Bernrath, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Birthler?
Bitte schön.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie die Stimme eines DDR-Wählers anders bewerten als die Stimme eines Bundesbürgers?
Nein. Ich bewerte ein Abgeordnetenmandat, das beispielsweise 100 000 Stimmen erfordert, anders als ein Abgeordnetenmandat, das nur 20 000 Stimmen erfordert. Das ist keine Gleichheit der Wähler, keine Gleichgewichtigkeit der Stimmen mehr.Was ist nun zu tun? Wir müssen schnell ein Wahlrecht für die Wahl zum 12. Deutschen Bundestag schaffen. Entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts haben wir noch stärker als schon vorher die Chancengleichheit für die verschiedenen politischen Gruppierungen herauszuarbeiten.Ich sage ausdrücklich: Im Ergebnis wird dabei nur eine Privilegierung der PDS/SED herauskommen können, weil diese Partei nur über getrennte Bezugsgebiete ihre im Wahlgebiet ohnehin sächlich und per-
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Bernrathsonell dominierende Rolle im Gebiet der früheren DDR wird voll ausspielen können.Hingegen stößt rechtliches Entgegenkommen für die Bürgerrechtsbewegungen aus tatsächlichen Gründen sehr schnell an Grenzen. Das heißt, sie werden auch bei einem niedrigeren Quorum nicht ins Parlament kommen, es sei denn, über Listenvereinigungen, der dann alle Minderheiten angehören müßten, denn die PDS fällt ganz offensichtlich als Listenpartner für die Bürgerrechtsbewegungen aus.Was bleibt, ist dies: Die vorgesehenen Listenvereinigungen sichern vielleicht besser als bisher erstrebte Organisationsidentität. Das aber hat wenig, vielleicht gar nichts mit Wahlchancen zu tun.Nach unserer Verfassung müssen die Wahlen demnächst stattfinden, und zwar frühestens Ende November dieses Jahres und spätestens bis Mitte Januar 1991. Wir wollen dazu beitragen, daß der vom Bundespräsidenten nach dem Bundeswahlgesetz festgestellte Wahltermin vom 2. Dezember 1990 gehalten werden kann.Meine Damen! Meine Herren! Wir werden uns dabei auch in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit von unseren bisherigen Festlegungen leiten lassen, nämlich Einheitlichkeit des Wahlgebiets und des Wahlrechts und die Fünfprozentklausel bundesweit. So haben wir sie im Juli 1990 fixiert. Wir halten daran im Rahmen der Möglichkeiten, wie sie sich uns jetzt darstellen, fest.Was die Rücksicht auf Minderheiten angeht, so brauchen wir dafür, meine ich, keine besonderen Belehrungen.Wir halten also fest: Wir sind für die Fünfprozentklausel bundesweit. Da das nicht anders geht, akzeptieren wir sie für dieses eine Mal auch für die beiden sogenannten Bezugsgebiete als gleiche Quoren für die jeweiligen Wahlergebnisse in diesen Bezugsgebieten. Wegen der Trennung in zwei Bezugsgebiete kann eine Minderung der Fünfprozentklausel bzw. können unterschiedliche Klauseln oder Quoren in den zwei Bezugsgebieten des Wahlgebiets nicht in Frage kommen. Ich meine, das steckt in der Logik dieser Einteilung.Wir sind im übrigen für Listenvereinigungen im Bezugsgebiet der bisherigen DDR, und zwar aus den genannten Gründen.Von der zunächst vorgesehenen Möglichkeit der Listenverbindung nehmen wir ohne Trauer Abschied. Sie war nicht unsere Erfindung, sie war Ihre Erfindung, Herr Schäuble. Sie sind damit ebenso auf die Nase gefallen wie wir mit einem anderen Detail im bisherigen Wahlrecht.Im übrigen bleiben zunächst einige Fragen, die wir heute abend im Innenausschuß noch klären können. Ich will zwei oder drei Fragen hier kurz andeuten.Wir werden einmal fragen, wie bei den Listenvereinigungen in Berlin Stimmenanteile unter 5 % bei der Verrechnung behandelt werden. Welchem Bezugsgebiet werden sie zugerechnet? Werden die für das Einreichen von Listenvereinigungen erforderlichen Unterschriften nach den bekannten Merkmalen aufgestellt, oder genügen Legitimationen wie beispielsweise die Mitgliedschaft in der bisherigen Volkskammer oder in den künftigen Landtagen der ehemaligen DDR — aus Verfahrensgründen Abkürzung für die betroffenen Parteien oder Bürgergruppierungen —?Wie geschieht die Zurechnung von Stimmen, die für eine Partei in beiden Bezugsgebieten abgegeben worden sind, wenn diese Partei in einem Bezugsgebiet unter 5 % bleiben wird? Auch dazu hätten wir gern noch eine Auskunft. Vor allen Dingen: Kann der Zeitbedarf für die organisatorische Vorbereitung der Wahl noch ausgedehnt werden, etwa zu Lasten des Prüfzeitraums, den sich der Bundeswahlleiter ausbedungen hat? Unseres Erachtens müßte der Bundeswahlleiter für seine Prüfarbeiten auch mit 6 bis 7 Tagen auskommen. Hier wären ausdrücklich auch die kleineren Gruppierungen noch einmal aufzufordern, zu prüfen, ob sie für die organisatorische Vorbereitung mit dem Zeitplan, den wir für die Wahl beachten müssen, auskommen. Andere Fragen wären noch anzuschließen, damit wir sie in Ruhe erörtern können.Wir stimmen heute und hier der Überweisung der vorliegenden Entwürfe zur Änderung des Bundeswahlgesetzes an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages zu. Wir sind auch mit dem Verfahren, also Verabschiedung in zweiter und dritter Lesung morgen, vorbehaltlich des Ergebnisses der Beratungen im Innenausschuß und anschließend noch einmal in unserer Fraktion, einverstanden.Danke schön.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Herr Lüder.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich meine, es ist nicht frei von Symbolik, wenn wir uns heute in der ersten Sachdebatte nach der Regierungserklärung in diesem Raum mit gesetzgeberischen Konsequenzen eines Verfassungsgerichtsurteils auseinandersetzen. Daß das deutsche Parlament so lange nicht in diesem Hause tagen konnte, hatte ja auch etwas damit zu tun, daß in der ersten deutschen Demokratie ein Verfassungsgericht mit der Kompetenz und der Autorität fehlte, die sich die Karlsruher Richter in den vier Jahrzehnten Bundesrepublik wie selbstverständlich erworben haben. Die Gewaltenteilung, die auch dem Gesetzgeber verfassungsgerichtliche Kontrolle auferlegt, hat sich bewährt. Wenn unsere Bundesrepublik Deutschland in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz für alle Deutschen so attraktiv wurde, daß der Beitritt der neuen Bundesländer gestern erfolgen konnte, so liegt das auch daran, daß sich ein Staat entwickelt hat, der vorbildliche Kontrolle sowohl der Regierung einschließlich Verwaltung als auch des Gesetzgebers sichert.Meine Damen und Herren, es gibt nichts herumzudeuteln, und es ist gesagt worden: Wir haben uns bei der ursprünglich vorgesehenen gesamtdeutschen Fünfprozentklausel und der Konstruktion der Listenverbindungen, wer auch immer sie angeregt hatte, verfassungsrechtlich übernommen. Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf zieht der Gesetzgeber in weniger als einer Woche die Konsequenzen aus
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Lüderdem Karlsruher Urteil vom vergangenen Sonnabend. Die Mitwirkungschancen jener politischen Kräfte — das war ja die Zentralaussage des Urteils —, die sich erst nach der demokratischen Revolution in der damaligen DDR bilden konnten, werden verbessert. Aber ich füge auch hinzu: Daß davon auch und wohl vor allem jene profitieren werden, die die Nachfolge derer angetreten haben, die 40 Jahre Terrordiktatur zu verantworten haben, müssen wir hinnehmen. Der Vorteil der verbesserten Chancen für die neuen soll, so lehrt uns das Karlsruher Urteil, nicht dadurch gemindert werden, daß auch deren Gegner daraus Nutzen ziehen.Wir Freien Demokraten begrüßen insbesondere, daß durch die schnelle gesetzgeberische Initiative gewährleistet ist, daß der 2. Dezember als Wahltag beibehalten werden kann. Das hat das Bundesverfassungsgericht gewollt; Bundesminister Schäuble hat das vorhin hier ausdrücklich zitiert. Aber ich halte für noch wichtiger, daß wir hier nicht nur dem Wunsch, der Anregung und der selbstverständlichen Unterstellung über unsere Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts folgen, sondern daß wir das Provisorium des erweiterten Bundestages, der sich heute hier getroffen hat, nicht noch dadurch verlängern, daß der Gesetzgeber umständlich lange über ein Wahlrecht beraten würde. Die Deutschen in allen Bundesländern sollen schnell ihre demokratische Entscheidung darüber fällen können, welche politischen Kräfte in Regierung und Opposition die Zukunft unseres Landes in den nächsten vier Jahren gestalten werden.
Herr Lüder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Knabe?
Ja.
Verzeihen Sie, Herr Kollege Lüder, aber der Vorsitzende des Senats des Bundesverfassungsgerichtes hat heute mittag im Radio gesagt, er warne dringend vor dem 2. Dezember als Wahltermin. In der einstimmigen Erklärung der Bundesrichter sei gesagt worden, daß die Bürgerbewegungen und andere Gruppierungen der DDR Zeit haben müßten, sich auf das neue Wahlgesetz einzurichten. Wie wollen Sie das damit vereinbaren?
Herr Knabe, ich habe das nicht gehört, weil ich dem Debattenverlauf gefolgt bin, soweit ich nicht draußen war.
Ich darf nur auf folgendes hinweisen: Auf der letzten Seite des schriftlichen Urteils ist ausdrücklich gesagt worden, daß das Bundesverfassungsgericht geprüft habe, ob es selber eine Entscheidung treffen dürfe, was nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz möglich gewesen wäre. Dann hätten die uns vorgeschrieben, wie der deutsche Wähler zu wählen hat. Das Verfassungsgericht hat gesagt, daß es davon ausgehe, daß der Gesetzgeber in der Lage sei, rechtzeitig im Blick auf den vom Bundespräsidenten als Wahltag bestimmten 2. Dezember 1990 die erforderlichen Änderungen des Bundeswahlgesetzes vorzunehmen.
Der 2. Dezember ist mit der Unterschrift aller Richter versehen.
Wenn ein Mitglied des Senats des Bundesverfassungsgerichtes etwas anderes gesagt haben sollte, kann sich dies nur auf ein Mißverständnis beziehen, denn der letzte Satz der Entscheidung heißt: Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen. Es gibt kein abweichendes Votum hierzu. Das Bundesverfassungsgericht hat darauf vertraut, daß wir dieses Gesetz schaffen, und zwar zum 2. Dezember. Diesem Wunsch des Bundesverfassungsgerichtes folgen wir wie selbstverständlich.
Ich habe nur versucht, deutlich zu machen, daß es auch eine politische Notwendigkeit ist, dem zu folgen, weil das gesamte deutsche Volk die Wahlen schnell herbeiführen sollte, damit wir schnell die Verfassungsorgane bilden können, jedenfalls das Verfassungsorgan Bundestag.
Herr Abgeordneter Lüder, eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Jahn.
Gern.
Herr Kollege Lüder, sind Sie bereit, dem Haus den Hinweis zu geben, daß der buchstäblich letzte Satz der Entscheidung des Verfassungsgerichtes ausdrücklich sagt: Das Gericht geht von der Erwartung aus, daß der Gesetzgeber dies bewältigen kann, weshalb es im gegenwärtigen Zeitpunkt davon absehe, durch Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß § 35 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes selber die rechtlichen Grundlagen für die Durchführung der Wahlen bereitzustellen? Mit anderen Worten: Das Verfahren, das wir jetzt einleiten, entspricht den Erwartungen des Gerichtes.
Herr Kollege Jahn, ich habe vorhin versucht, genau dies deutlich zu machen, daß es nämlich nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz zwei Möglichkeiten gibt. Entweder beschließen wir in eigener Souveränität im Rahmen der Meßlatte, die das Verfassungsgericht gelegt hat, oder das Bundesverfassungsgericht sagt, was wir zu tun haben. Es hat uns die Freiheit gegeben, weil es um unsere Verantwortung wußte. Dieser Verantwortung wollen wir gerecht werden.Lassen Sie mich als Berliner noch einen Satz hinzufügen, weil es in dieser Stadt manche Mißverständnisse gegeben hat: Wir haben in dem Urteil das neue juristische Wort des Bezugsgebietes, was etwas anderes als das Wahlgebiet ist. Ich freue mich, daß es trotz dieses Wortes möglich ist, daß Berlin als ungeteiltes Land, das wir seit heute sind, einheitliche Landeslisten wählen kann und daß die Irritationen, die gekommen waren, wir müßten hier nach Wahlkreis bis 256 — das ist diese Seite des Reichtages — und dort ab 257 — das ist ab Präsidentenpalais — unterschiedlich wählen, unbegründet waren: Berlin wird einheitlich wählen und wird einheitlich als ein Bundesland an den Wahlen teilnehmen. Das ist als Konsequenz aus dem gestrigen Tag wichtig.Wir werden die Fünfprozentklausel in dem Gebiet, das neu zum Bund gekommen ist, von dem Gebiet,
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Lüderdas beim Bund war, trennen. Aber einheitlich vom Wahlkreis 256 bis nach Weimar und nach Rostock ist das eine Gebiet, vom Wahlkreis 251 bis nach Straubing und nach Flensburg ist das andere Gebiet. Damit können wir gut leben. Damit werden wir auch einen Wahlkampf machen können — alle miteinander, alle aufeinander bezogen und natürlich auch gegeneinander —, der sich auf das gesamte deutsche Gebiet bezieht.Als letztes: Wir werden heute abend im Innenausschuß prüfen — da nehme ich etwas auf, was soeben Herr Kollege Bernrath gesagt hat — , wieweit für die jetzt zugelassene Listenvereinbarung vielleicht doch noch etwas mehr Zeit zur Konstituierung gegeben werden kann. Aber — ich füge das hinzu — wir werden dabei auch sicherstellen müssen, daß die Briefwahl möglich bleibt; denn wir wollen gerade in diesem Jahr, in dem ein großer Teil der Deutschen zum erstenmal die Möglichkeit hat, den Wahltag an einem Sonntag außerhalb seiner Wohnung zu verbringen, die Briefwahl jedem Deutschen ermöglichen und nicht durch zu kurze Fristen erschweren.Wir sind zuversichtlich, daß wir so ein Gesetz schaffen, dem wir morgen möglichst breit zustimmen können.Danke schön.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Häfner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Tagen viel darüber gesprochen und auch gestritten: Was für ein Deutschland soll das werden? Die Frage nach der Gestaltung des Wahlrechts hängt damit unmittelbar zusammen. An ihr muß sich nämlich beweisen, wie ernst all die schönen Reden und die guten Vorsätze der letzten Tage hinsichtlich des rechtsstaatlichen und demokratischen Charakters dieses seit gestern vereinigten Deutschlands gemeint sind.Nach dem Grundgesetz geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Das heißt auch, daß der jetzt entstehende größere Staat von unten, von den Menschen selbst gestaltet werden muß. In dieser demokratischen Gestaltung, die sich neben den Wahlen vor allem in der Diskussion und der vom Grundgesetz nach wie vor geforderten Abstimmung über die deutsche Verfassung — Herr Kollege Ullmann hat darauf hingewiesen — , also der Diskussion und Abstimmung über die Grundlagen des künftigen politischen und sozialen Lebens, verwirklichen muß, sehe ich ein Heilmittel und ein Gegengewicht gegen den einseitigen Prozeß der Vereinigung von oben, der Vereinigung aus den Apparaten und der Exekutive.Der Bundespräsident sprach gestern vom „Plebiszit eines jeden Tages". Ich sage Ihnen ehrlich: Ich wäre schon froh, wenn es wenigstens das Plebiszit eines jeden Jahres gäbe.
Solange das Volk nicht unmittelbar, wie es das Grundgesetz verlangt, auch in Abstimmungen entscheidenkann, bleiben die Wahlen die einzige Möglichkeit,wie das Volk als der nach dem Grundgesetz einzige Träger der Staatsgewalt seinen politischen Willen rechtsverbindlich äußern kann.Vergessen wir nicht: Ohne das Wahlrecht, ohne faire und demokratische Wahlen säßen wir überhaupt nicht hier, gäbe es keinen Bundestag, keinen Bundesrat und keine Bundesregierung. Das Wahlrecht ist eine der wichtigsten und eine der sensibelsten Fragen der Demokratie. Deshalb kann es am Tage der Konstituierung des gesamtdeutschen Parlaments auch kaum ein besseres Thema geben als die Frage des Wahlrechts und damit auch der Ernsthaftigkeit von Bekundungen zu Demokratie und Verfassung. Erst recht ist das so, nachdem Sie, die Parteien der CDU/ CSU, SPD und FDP, in ganz großer antidemokratischer Koalition die Verfassung zu brechen versucht haben.
Ich muß Ihnen nach all den hehren und wohlgesetzten Reden, die ich in den letzten Tagen gehört habe, sagen: Man kann die Verfassung nicht gleichzeitig feiern und mit Füßen treten. Man kann dieses Grundgesetz nicht als die nunmehr verbindliche Verfassung aller Deutschen auf die DDR übertragen, aber sich dort, wo seine Bestimmungen der rücksichtslosen Sicherung von Privilegien und Parteiinteressen im Wege stehen, selbst nicht daran halten. So geht es nicht!
Ich bin froh, daß es so nicht geht. Ich bin froh, daß es neben den Parlamenten noch Gerichte gibt, die solche Anschläge auf Grundsätze und Grundrechte unserer Verfassung stoppen.
Deshalb will ich nach all den vielen Danksagungen in der heutigen Regierungserklärung und in den Reden der letzten drei Tage noch eines sagen, was Sie bei der Aufzählung von Gorbatschow bis hin zu den Nachtschichten einlegenden Bonner Ministerialbeamten immer wieder vergessen haben: Im Namen der Demokratie und der Menschen im vereinten Deutschland: Dem Bundesverfassungsgericht gebührt Dank und Beifall.
Eigentlich müßten Sie da doch alle an der Stelle klatschen können, denke ich, auch wenn Sie in Karlsruhe unterlegen sind.
Die Leistung unserer Karlsruher Richter liegt ja gerade darin, daß sie in einer einstimmigen Entscheidung unter großem Druck und wider alle Voraussagen den Mut hatten, sämtliche etablierten Parteien und das Bonner Parlament vor einem schon beschlossenen Verfassungsbruch zu bewahren und zu verhindern, daß das neue Deutschland mit einem Verfassungsbruch beginnt. Ich finde, das ist in der Tat lobenswert und äußerst verdienstvoll.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1990 18075
HäfnerDieser Bruch der Verfassung wird noch schlimmer dadurch, daß er wieder einmal auf Kosten der Menschen und der Parteien und der Bürgerbewegungen in der DDR gegangen wäre. Das von Ihnen beschlossene verfassungswidrige Gesetz hätte nämlich den Wählerstimmen aus der Bundesrepublik weit mehr Gewicht und Erfolgswert eingeräumt als solchen aus der DDR.
Es sollte dafür sorgen, daß die Machtfülle und die Pfründe der Parteien, die sich in Bonn so fest eingerichtet haben und die die Macht seit Jahrzehnten untereinander aufteilen,
durch nichts, vor allem durch keine Konkurrenz gefährdet werden. Herr Bötsch, Sie wissen genau, daß ich recht habe. Sie brauchen nur das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu lesen. Da steht alles — zum Teil sogar noch deutlicher — drin!
— Ich kann es Ihnen erklären. Dafür müßten Sie aber einen Moment zuhören. Im Augenblick habe ich das Wort,
später sind Sie wieder dran; so geht das hier im Parlament.Der Trick war ebenso einfach wie unverschämt: Durch die Fiktion eines einheitlichen Wahlgebiets und einer einheitlichen Klausel wurde erreicht, daß nur noch Bonner Parteien und aus der DDR nur noch solche Parteien, die unter den großen Mantel der Bonner Parteien gekrochen sind, überhaupt eine Chance hatten, in das Parlament einziehen zu können. Alle eigenständigen DDR-Parteien — insbesondere die Bürgerbewegungen, die wichtigsten Kräfte der Herbstrevolution — sollten aus dem Parlament herausgehalten werden.
So wurde, wie das Bundesverfassungsgericht ausführt, Herr Bötsch, für Parteien der ehemaligen Bundesrepublik eine effektive Klausel von etwa 6 % und für Parteien und Listen aus der ehemaligen DDR eine effektive Sperrklausel von 23,75 To errichtet. Daß das mit dem obersten Prinzip des Wahlrechts, nämlich dem Prinzip der Chancengleichheit, des gleichen Zähl- und Erfolgswertes jeder Stimme nicht vereinbar ist, erkennt auch ein Nicht-Jurist, nur die SPD wollte es und will es noch immer nicht erkennen und auch einige andere nicht.Sie, Herr Bötsch, Herr Vogel, Herr Schäuble und all die anderen, haben es von Anfang an gewußt; spätestens jedenfalls seit wir es Ihnen in der Ausschußsitzung immer und immer wieder vorgerechnet haben. Wir haben das Gesetz von Anfang an für verfassungswidrig gehalten. Wir haben Ihnen das Woche für Woche, Sitzung für Sitzung eindringlich erläutert. Und wir haben selbst schon in der ersten Sitzung einen verfassungskonformen Entwurf vorgelegt. Sie wollten sich damit nicht einmal befassen.Wir haben deshalb damals im Ausschuß und im Bundestag unsere Verfassungsklage vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt. Sie sahen auchda noch keinen Grund zur Überprüfung des Gesetzes. Nun hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, und es hat uns in allen Punkten recht gegeben. Eine „schallende Ohrfeige" nannte Lothar de Maizière den Richterspruch; mein Kollege Christian Ströbele nannte sie eine „Tracht Prügel".Das Karlsruher Urteil ist aber noch mehr als eine Ohrfeige: Es ist vor allem ein wichtiger Sieg für die Demokratie und ein wichtiger Sieg für die GRÜNEN als die einzige deutsche Demokratie- und Bürgerrechtspartei,
die Sie von der Union noch nie gewesen sind, die die FDP vorübergehend, etwa 1972 mit ihren Freiburger Thesen, einmal hätte werden können, wovon sie heute aber weiter entfernt ist denn je, die wir schon lange sind und die wir in der Verbindung mit den Bürgerbewegungen aus der DDR noch mehr als bisher sein werden.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle noch einige Sätze zu dem für uns nach den Reden über unsere gemeinsame und getrennte Vergangenheit besonders aktuellen Thema Schuld und Verantwortung. Die etablierten Parteien, die allesamt an dieser Wahlrechtsmanipulation beteiligt waren und die ihr alle zugestimmt hatten, waschen ihre Hände jetzt in Unschuld. Sie erinnern mich an kleine Kinder, die eine Scheibe eingeworfen haben und nun alle mit dem Finger auf den anderen zeigen und sagen: Ich war es nicht, der war es; ich habe mit dieser Sache nichts zu tun. — Als jemand, der viel mit Kindern zu tun hat, muß ich übrigens gerade die Kinder vor diesem Vergleich schützen, denn kleine Kinder sind jedenfalls meistens weit besser als ihr sprichwörtlicher Ruf,
und sie sind mit Sicherheit besser als die Wahlrechtsmanipulierer in Bonn.Ich möchte mich nebenbei bei Herrn Lüder für seine sehr abgewogene Rede bedanken, aber nach der Rede von Herrn Bernrath — das muß man sehr offen sagen — war diesmal die SPD ich sage das, obwohl die SPD unser theoretischer Wunschpartner ist — die treibende Kraft.Hans-Jochen Vogel, der noch immer das beste juristische Staatsexamen in Bayern nach dem Krieg geschrieben hat und deshalb ganz genau weiß, daß bei Wahlrechts- und Demokratiefragen die strikte Anwendung des Gleichheitsprinzips der oberste Grundsatz ist, hat schon im Ausschuß angesichts der verschiedenen Wahlrechtsentwürfe immer wieder die Frage erhoben: Cui bono? Also: Wem nützt das?Schon die Frage ist im Prinzip rechtswidrig, schon die Frage trägt den Keim des Verfassungsbruches in sich. Beim Wahlrecht geht es gerade nicht darum, zu fragen: Wem nützt es? Vielmehr sollte gefragt werden: Wie wird es allen in gleicher Weise gerecht?Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, lieber Herr Vogel, Sie sollten die Frage „Cui bono?" lieber sich selbst dann stellen, wenn Sie selbst Grenzen des Verfassungsrechtes nicht mehr gelten lassen, wenn Sie Demokratie und Verfassung zum Spielball von Machtstreben und ängstlichen parteiegoistischen Interessen machen. Wem soll, vor allem aber: wem wird das nützen!
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18076 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1990
HäfnerDie SPD hat schon einmal die Demokratie nach dem Motto „keine Demokratie für die Feinde der Demokratie" empfindlich geschädigt. So etwa beim berüchtigten Radikalenerlaß, der in vielen Ländern noch immer nicht aufgehoben wurde.Dabei gilt das genaue Gegenteil: Demokratie ist nur dann Demokratie, wenn sie auch den angeblichen Feinden der Demokratie den gleichen Raum anbietet. Ich spreche dabei nicht von Straftaten, die geahndet werden können und geahndet werden müssen.
Argumente und Überzeugungen müssen wir aber gelten lassen, auch wenn sie uns nicht passen. Das gilt auch für Sie, die Sie jetzt so laut dazwischenrufen.Wer den Mut dazu nicht hat, wer Positionen, die ihm persönlich nicht zusagen, ausgrenzen will, der setzt die Demokratie selbst aufs Spiel. Dabei wäre noch zu beweisen, ob es sich wirklich um Feinde der Demokratie oder nur um Feinde der eigenen Interessen und Absichten gehandelt hat. Die gefährlichsten Feinde der Demokratie sind jedenfalls diejenigen, die mit dem Finger auf angebliche Feinde der Demokratie weisen und die Demokratie selbst abbauen wollen.
Herr Häfner, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Dann lassen Sie mich noch zum Abschluß sagen: Die Fraktion DIE GRÜNEN hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich von dem Entwurf der Koalitionsfraktionen dadurch unterscheidet, daß wir bei dieser ersten gesamtdeutschen Wahl ganz auf eine Sperrklausel verzichten wollen. Das ist nach unserer Überzeugung die konsequente und demokratischeste Lösung.
Mit diesem Antrag gehen wir in die Beratungen. Vielleicht finden wir ja auch einen Kompromiß, eine von allen getragene Lösung.
Wir möchten noch ein zweites: Es gibt inzwischen Hinweise darauf, daß der Termin und die Fristen so, wie sie vorgesehen sind, für die Bürgerbewegungen in der DDR massive Schwierigkeiten schaffen. Es werden neue Vertreterversammlungen nötig, Vertreter, Kandidaten und Listen müssen aufgestellt werden, und dies kostet bei den dort gewählten Strukturen und Satzungsbestimmungen einige Zeit.
Herr Häfner, die Redezeit ist trotzdem abgelaufen. Ich möchte Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Wenn sich diese Sorge bewahrheiten sollte, müssen wir erneut über den Termin sprechen.
Es geht vor allem eines nicht: Wir können dieses so Wichtige nicht im Hauruck durch das Parlament durchbringen. Das für die künftige Demokratie im vereinten Deutschland so wichtige Wahlrecht bedarf gerade nach dem Karlsruher Urteilsspruch einer gründlichen Beratung.
Als nächster hat der Abgeordnete Herr Dr. Heuer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fünfprozentklausel, die Sperrklausel, ist keine Detailfrage. Sie war vielmehr ein Hauptgegenstand der Diskussion sowohl in der Volkskammer der DDR wie im Ausschuß Deutsche Einheit.Das Problem der Chancengleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 des Bonner Grundgesetzes ist eine außerordentlich wichtige Frage, die sehr große Bedeutung hat, wie jetzt noch einmal im Urteil des Bundesverfassungsgerichts hervorgehoben wurde.Es gibt ein Argument für die Fünfprozentklausel. Das ist die Frage des Scheiterns der Weimarer Republik. Die wenigen Minuten, die mir hier gestattet worden sind, erlauben es mir nicht, darauf näher einzugehen. Eine Diskussion würde aber zeigen, daß die Weimarer Republik nicht daran zugrunde gegangen ist, daß sie nicht über eine Sperrklausel verfügte. Dafür gab es ganz andere Ursachen.Es gibt ein nach meiner Ansicht wichtiges Argument gegen die Sperrklausel. Die Volkskammer der DDR, über die in den letzten Tagen so viel Positives gesagt worden ist, ist am 18. März ohne eine Sperrklausel gewählt worden, und sie hat sich bewährt, wie in diesem Hause mehrfach mitgeteilt wurde.
Durch das Wahlgesetz, das in der DDR von der Volkskammer am 22. August beschlossen worden ist, wurde eine weitere Verschärfung dieser Fünfprozentklausel vorgenommen, indem sie für das gesamte Wahlgebiet gelten mußte. Damit war eine Chancengleichheit für die Parteien der DDR eindeutig nicht mehr gegeben. Gregor Gysi hat am 8. August gesagt, der eigentliche Sinn sei: Wie kriegt man die DSU rein, und wie kann man die PDS draußen lassen?
Herr Bötsch hat heute noch einmal gesagt: Jetzt ist die PDS drin. — Ich will Ihnen eines sagen: Welche Parteien in diesem Bundestag sein werden, möchten doch vielleicht die Wähler entscheiden, nicht der Wahlgesetzgeber.
Wir hatten in der Volkskammer-Diskussion eindeutige Erklärungen, z. B. von dem Abgeordneten Schemmel von der SPD, der sagte: Wir haben unsere Forderungen gestellt; das Ganze war in unserem Sinne; alle Forderungen waren erfüllt; wir wollten eine Sperrklausel, bezogen auf das ganze Wahlgebiet, erreichen. — Die CDU hat dem zugestimmt. Sie hat einen Kompromiß geschlossen — ich möchte ihn nicht als historischen Kompromiß bezeichnen — , und dieser Kompromiß ist beiden Partnern auf die Füße gefallen.Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt entschieden — und ich meine, dem müssen wir alle zustimmen —, daß es eine regionale Sperrklausel gibt. Vielleicht sollten die Parteien, die die Regelung, die jetzt abgelehnt worden ist, so energisch angestrebt hatten, einmal dazu Stellung nehmen, warum sie ihre Parteiinteressen über die Verfassung gestellt haben.
Wir bedauern allerdings, daß nicht die Möglichkeitgegeben werden soll, die Sperrklausel gänzlich auf-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18077
Dr. Heuerzuheben. Wir würden auch die Frage stellen, ob man nicht doch den Wahltermin hinausschieben sollte, damit sich die Parteien auf die neue Situation einstellen können.Die Parteien der DDR haben es zunehmend gelernt, miteinander auszukommen, Streit und Toleranz zu verbinden. Bei uns haben wir die Debatten ernster genommen, gerade weil die meisten von uns erstmals in einem Parlament waren. Ich hoffe, daß dieses Klima auch in diesem Bundestag bestehen wird und daß man der PDS die Möglichkeit gibt, ihre Erneuerungsfähigkeit und -bereitschaft vor den Wählern zu beweisen.
Ich möchte mich abschließend auf eine Formulierung des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker beziehen: Es wäre ebenso unsinnig wie unmenschlich, würden wir uns einbilden, daß wir zwischen Ost und West als mißlungene und gelungene Existenzen aufeinandertreffen oder gar als böse und gute.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Gerster.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es überfällt einen schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn ausgerechnet ein Vertreter der PDS hier anderen Parteien vorwirft, sie würden Parteiinteressen vor das Interesse des Volkes stellen.
Wer 40 Jahre lang — und bei Ihnen besteht ja noch die Personenidentität; Sie waren ja alle in der SED gewesen — freie Wahlen verhindert hat, wer 40 Jahre lang Menschen, die anderer politischer Meinung waren, ins Gefängnis geworfen oder ausgebürgert hat, der sollte, so meine ich, bis zum Jahr 2000 in sich gehen, erst einmal sich selber erneuern und dann über Demokratie reden.
Der Herr Gysi stellt sich heute morgen hier hin und sagt: Es gab eine verbrecherische Führung, aber die haben wir abgewählt, und jetzt ist alles gut. — Herr Gysi, wenn die Mafia einen alten gegen einen neuen Boss austauscht, wird sie noch nicht zu einem Verein zur Wahrung des Rechts.
Sie sind kein Verein zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Es würde Ihnen gut anstehen, da noch einiges zu begradigen, auch hier im Bundestag, und sich bei den Menschen zu entschuldigen, die Sie verfolgt, unterdrückt und gemordet haben. Also ganz ruhig bleiben!
Herr Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Heuer?
Nein, die haben in der DDR viel zu lange alleine geredet, die sollen jetzt erst einmal einem Demokraten zuhören.
Wenn wir gerade bei dieser Sache sind, muß ich auch Ihnen, Herr Häfner von den GRÜNEN, einen mitgeben. Ich bin wirklich sehr froh darüber, daß Sie das Verfassungsgericht so loben, das wir übrigens auch loben, wenn wir vor diesem Verfassungsgericht einmal unterliegen. Nur gab es in der früheren Bundesrepublik Deutschland keine Partei, keine Fraktion, die das Bundesverfassungsgericht bei anderen Entscheidungen so rüpelhaft angenommen hat wie die GRÜNEN.
Bleiben Sie auf diesem Weg. Nehmen wir das Verfassungsgericht gemeinsam als ein wichtiges Kontrollorgan auch von Entscheidungen des Deutschen Bundestages.
Herr Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?
Bitte schön.
Herr Kollege Gerster, da Sie das Wort Mafia in bezug auf die Parteien in den Bundestag eingeführt haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie die Blockparteien und den Teil der CDU, der hier im Bundestag sitzt und heute vereidigt wurde, auch zur Mafia zählen.
Herr Stahl, damit wir uns recht verstehen: Wenn Sie das Protokoll nachlesen, werden selbst Sie erkennen können, daß ich genau diesen Vergleich nicht gebracht habe, sondern ein Bild benutzt habe. Damit Sie mich auch im zweiten Punkt recht verstehen: Für mich ist keine Frage, daß das, was im Namen der SED in den letzten 40 Jahren geschehen ist, ein verbrecherisches Ausmaß angenommen hat, das dem von anderen Kriminellen und Verbrechern gleichsteht. Insofern bin ich der Meinung, daß wir eine große Aufgabe haben, nicht im Sinne von Rache und nicht im Sinne einer totalen Verfolgung. Diejenigen in der SED, bei der Stasi, die Blut an den Händen haben, müssen vor Gericht gestellt werden, müssen ein rechtsstaatliches Verfahren bekommen, wie wir das auch mit anderen Verbrechern machen.
— Jawohl, Herr Lehrer. Trotzdem werde ich es hier so sagen, wie ich es meine. Wir werden uns hoffentlich in dieser Frage verständigen.
Herr Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reddemann?
Bitte schön. Aber das ist dann die letzte, denn die Zeit läuft weg, und alle wollen noch ihr Flugzeug erreichen.
Herr Kollege Gerster, würden Sie mir zustimmen, wenn ich dem vorher fragenden Kollegen aus der SPD die Frage stellen würde, wie vernünftig es wohl ist, heute über die sogenannten Blockparteien zu sprechen, wenn die damalige SPD bereits im Juni 1945 gegenüber der KPD den Vorschlag gemacht hat, eine Sozialistische Einheitspartei zu gründen.
Herr Kollege Reddemann, ich bin der Meinung, wenn wir das Verhalten der SPD in der DDR beurteilen, sollten wir sehr wohl sehen, daß es viele aufrechte Männer und Frauen gab, die sich — wie andere im Dritten Reich — mannhaft verhalten haben und zum Teil mit dem Leben dafür bezahlen mußten. Aber es ist auch die Wahrheit, daß der Zusammenschluß von SPD und KPD ganz offensichtlich von der SPD betrieben wurde.
Es gab eine Mehrheit, die diesen Zusammenschluß wollte. Damit stelle ich allerdings nicht jeden Sozialdemokraten mit der späteren SED oder der KPD gleich. Nur rate ich den Kollegen der SPD: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen nach den früheren sogenannten Blockparteien werfen.
Viel Zurückhaltung und Gerechtigkeit in Einzelfällen hilft uns hier weiter.
Gilt es, daß Sie keine Zwischenfrage mehr zulassen?
Ja. Ich muß jetzt weitermachen.Meine Damen, meine Herren, wer vor Gericht oder aufs offene Meer geht, begibt sich in Gottes Hand. Dieses Sprichwort gilt natürlich auch für die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Worum ging es? Es ging bei der Entscheidung des Bundestages und vor allem des Innenausschusses und des Ausschusses Deutsche Einheit um die altbekannte Abwägung zweier Interessen, die im Verfassungsrecht nebeneinander Gültigkeit haben und haben müssen: Chancengleichheit einerseits und stabile politische Verhältnisse mit Hilfe einer Sperrklausel andererseits. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß der Bundesinnenminister und die Innenpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der CDU/DA-Fraktion gemeinsam eine Regelung wollten, die derRegelung entspricht, die wir morgen beschließen wollen,
nämlich eine Klausel getrennt nach den beiden Wahlgebieten. Wir sind hier von unserem Koalitionspartner und von der SPD ziemlich massiv gedrängt worden, keine zwei Wahlgebiete zu schaffen. Das hat in OstBerlin damals sogar zum Austritt der FDP aus der Regierung geführt, und die SPD in Ost-Berlin hat mit dem Austritt gedroht. Wir wollten, um eine wirklich funktionsfähige Regierung in Ost-Berlin zu erleben, hier nachgeben, zugegebenermaßen unwillig, aber wir haben nachgegeben.
Nur, meine Damen und Herren, es muß doch möglich sein, wenn das Bundesverfassungsgericht zwischen diesen beiden Prinzipien eine etwas andere Gewichtung vornimmt und uns sogar aufträgt, dies, um den Wahltermin 2. Dezember zu halten, rasch eine Regelung zu treffen, ganz eng im Rahmen des Spielraums, den das Verfassungsgericht gibt, eine Korrektur vorzunehmen. Wir stehen zu dieser Korrektur, und zwar einer raschen Korrektur. Heute ist ein sehr wichtiger Tag, und wir sind nach wie vor voller Freude, daß 144 Kolleginnen und Kollegen der Volkskammer zu uns in den Bundestag gekommen sind. Aber das ändert doch nichts an der Tatsache daß dieser Bundestag auf Grund der jetzigen Legitimation — gewählt vor über drei Jahren, die Kollegen aus der Volkskammer von, wenn Sie so wollen, Delegierten, nämlich der Volkskammer, hierher gewählt — nur ein Provisorium ist und daß es doch ein legitimes Interesse der Menschen in der DDR ist, die die friedliche Revolution mit großem Mut durchgesetzt haben, das, was sie wollten, nämlich Einheit in Freiheit, nicht nur in einer staatlichen Einheit zu erleben, sondern auch in der Repräsentanz ihrer Interessen durch direkt gewählte Abgeordnete.Deswegen sind wir der Meinung, daß der Wahltermin 2. Dezember in jedem Fall gehalten werden sollte. Wir sind der Meinung, daß wir ihn an Hand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch gut halten können, übrigens mit einer Interessenabwägung, die uns lange bekannt war, bei der wir etwas anders gewichtet haben,
bei der wir jetzt gemäß der Entscheidung des Verfassungsgerichts gewichten. Meine Damen, meine Herren, ich bin der Meinung, daß auf Grund dieses Gesetzes die Abgeordneten des 12. Deutschen Bundestages, des ersten gesamtdeutschen Parlamentes nach vielen, vielen Jahren, ordnungsgemäß gewählt werden können und damit eine Legitimation bekommen, die die Arbeit für die nächsten vier Jahre ermöglicht.Die CDU/CSU-Fraktion wird deswegen die Beratungen konstruktiv führen. Herr Kollege Bernrath, natürlich werden im Innenausschuß noch einzelne Fragen geklärt werden, auch mit dem Koalitionspartner FDP. Sie sind herzlich eingeladen, dann morgen im Deutschen Bundestag in Bonn Ihre Stimme einem Wahlgesetz zu geben, das die ersten gesamtdeut-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18079
Gerster
schen Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht.Ich bedanke mich für Ihre Lebendigkeit, und ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Gerster, mir liegt das Protokoll noch nicht vor. Aber ich möchte uns alle miteinander mahnen und bei diesem Anlaß sagen, daß wir auch Ausdrücke, wenn sie wie „Mafia" im Grenzbereich liegen, hier im Parlament vermeiden sollten. Ihr Gebrauch trägt nicht zur Bewältigung der Vergangenheit bei.
Um das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Herr Westphal gebeten.
Frau Präsidentin! Richtig ist, daß die Kommunisten diese Einheitspartei erst wollten, nachdem sie gegen Ende des Jahres 1945 die Wahlen in Ungarn und in Österreich verloren hatten. Vorher hatten sie die Weisung aus Moskau — als der Herr Ulbricht kam — : Erst muß die KPD gegründet werden. Wir damals jungen Sozialdemokraten dachten uns, daß die, die aus den KZs nach Hause kamen, nun die Einheit der Arbeiterklasse schaffen könnten und daß dies vielleicht seinen Ausdruck in einer Partei finden könnte.
Als die KPD dann sozusagen umdrehte, waren wir uns längst darüber im klaren, daß das mit den Kommunisten nicht geht. Ich will das auf eine einfache Formel bringen. Heute hat der Begriff Sozialismus bei einigen Ihrer Redner schon eine mißkreditbringende Rolle gespielt. Ende 1945 war klar, daß unter einem verfälschenden Begriff „sozialistisch" die Einheitspartei gebildet wurde und deren Art, Sozialismus zu praktizieren war so, daß ihr zwei Elemente fehlten, die für Sozialismus konstitutiv sind, nämlich Freiheit und Demokratie.
Wenn Sie dies begriffen haben, dann kennen Sie den Kampf der Sozialdemokraten gegen diese Einheitspartei, den wir in Berlin damals in den westlichen Sektoren gewinnen konnten, mit einer freien Urabstimmung, die die Sozialdemokratie erhielt. Die Menschen in der damaligen Zone konnten das nicht.
Ich bin am 30. Januar dieses Jahres von jungen Leuten aus Ost und West eingeladen worden, um in Oranienburg in dem Konzentrationslager zu sprechen, in dem auch mein Vater gesessen hat. Ich habe denen, die dort anwesend waren, sagen müssen: Dies war ein KZ der Nazis, aber schon 1946 saßen dort wieder Sozialdemokraten. Auch diejenigen, die in Blockparteien so mutig wie Jakob Kaiser oder Lemmer dort weggegangen sind, sollten bitte bedenken, daß dort auch bis zu dem Tage weitergemacht worden ist, bis endlich diese SED-Herrschaft zusammenbrach. Bedenken Sie dies wenn Sie anfangen, Kritik in der Form, wie es hier geschehen ist, zu üben. Es gilt, dies aufzuarbeiten. Tun Sie mir bitte den Gefallen: Lassen
Sie uns gegenseitig mit diesen Vorwürfen aufhören. Sie bringen uns kein Stück weiter.
Zur Gegenantwort, Herr Gerster.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte, gerade weil ich den Kollegen Westphal durch langjährige Arbeit in der deutsch-israelischen Gesellschaft in der Parlamentariergruppe kennen- und schätzen gelernt habe, klarstellen, was ich gesagt habe. Das dient vielleicht dazu, auch seinem Appell gemäß diese Frage aufzuarbeiten.
Ich habe meinen Respekt gegenüber den Sozialdemokraten wegen ihres Verhaltens in der unseligen Zeit der Nationalsozialisten und auch wegen des Verhaltens vieler Sozialdemokraten nach 1945 gerade in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone herausgehoben. Ich stehe auch nicht an — ich habe das von dort vorn gesagt, Herr Kollege Westphal — , den Sozialdemokraten in toto etwas vorzuwerfen. Im Gegenteil, ich habe gesagt, wir müssen differenzieren.
Nur habe ich die herzliche Bitte: Wenn Sie den Zusammenschluß, der zwischen KPD und SPD nicht 1945, sondern, wenn ich es recht weiß, 1946 erfolgt ist, bewerten und sagen, daß sich hier Leute hinsichtlich gewisser Dinge getäuscht haben, so können Sie nicht verschweigen, daß diese Leute dann in der SED dennoch weiter mitgearbeitet haben. Wenn Sie diese Leute per se rechtfertigen, besteht, wie ich finde, von seiten der Sozialdemokratie kein Recht, Menschen einen Vorwurf zu machen, die um sich z. B. dem Zugriff der SED zu entziehen, in die CDU oder in die liberale Partei gegangen sind.
Meine Bitte ist, zu differenzieren. Ich bin gern bereit, jegliche Vorwürfe zurückzustellen, aber Sie müssen verstehen, daß ich unsere Freunde von der CDU in den neuen fünf Bundesländern — einschließlich Berlin — in Schutz nehmen muß, wenn sie, wie leider in der Vergangenheit geschehen, ständig von den Sozialdemokraten in einen Topf mit der SED geworfen werden. Ich bitte, auch hier wirklich zu differenzieren.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wüppesahl.
Ich denke, die Reaktion auf der rechten Seite des Hauses entspricht auch der Betroffenheit, die Teile meiner Argumente bei Ihnen zu Recht auslösen.Ich glaube ferner, daß Herr Gerster gerade ein lebendiges Beispiel dafür war, wofür ich vorhin gerügt worden bin. Den Begriff kann ich nicht noch einmal in die Mund nehmen, ohne in Kauf zu nehmen, wieder gerügt zu werden. Gleiches gilt für den Begriff „Fraktionszwang" , auch wenn es ihn faktisch gibt.Es gab innerhalb der SPD-Fraktion und auch innerhalb der Regierungsfraktion Stimmen, die die jetzt
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18080 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Wüppesahlvom Verfassungsgericht festgestellten Verfassungswidrigkeiten des Wahlgesetzes schon vor seiner Verabschiedung darlegten und ihren Parteien ins Gewissen zu reden versuchten. Doch diese Stimmen haben in einem Parlament kein Gewicht, und mir ist es viel wichtiger, als jetzt über das neue Wahlgesetz Ausführungen zu machen, eine strukturelle Diskussion im Vorfeld eines neuen Wahlgesetzes zu führen. Dieses kurze Intermezzo eben hat uns nämlich überdeutlich gemacht, daß die Selbstreflexion dieses Parlamentes, wie ich sie für heute beantragt habe, viel wichtiger wäre, als heute die erste Lesung abzuschließen. Mir ist also wichtig, daß strukturelle Element deutlich zu machen: wie ein solches Gesetz überhaupt zustande kommen kann. Solche Stimmen in der Sozialdemokratie haben in einem Parlament eben kein Gewicht, d. h. die Ausübung der Gewissensfreiheit durch den Abgeordneten — Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes — wird in vielfältiger und subtiler Art und Weise eingeschränkt und die Fraktionen, deren Existenz mit keinem Wort im Grundgesetz außer in dem Zusatz des Art. 53 a erwähnt ist, werden über den in Art. 38 Abs. 1 genannten Abgeordneten gestellt.Diese politischen Strukturen, wie sie von CDU/ CSU, SPD und FDP verkörpert werden, bedürfen ihrer eigenen Logik entsprechend des Schutzes vor neuen, mit ihnen konkurrierenden Parteien. Diesen Schutz zu gewährleisten — und nichts anderes — war Funktion des zwischen CDU/CSU, FDP und SPD ausgehandelten zweiten Staatsvertrages mit der DDR, wobei jeder sagen konnte, wen er im ersten gesamtdeutschen Bundestag sehen wollte und wen nicht.Diesmal hat das Verfassungsgericht interveniert, • aber auch nur auf Grund der Klage dreier Parteien gegen das Wahlgesetz. Das Urteil des Verfassungsgerichts hat folgendes deutlich gemacht. Erstens. Das Parlament als gesetzgebende Gewalt muß gegenüber dem informellen Gesetzgebungsverfahren, wie es sich mittlerweile eingeschlichen hat, gestärkt werden. Das geschieht nur dann, wenn die Rechte des einzelnenen Abgeordneten gestärkt werden.Zweitens — letzter Satz — : Ich gehe — leider — nicht davon aus, daß sich innerhalb des Parlaments in dieser Sache in Zukunft entscheidende Veränderungen einstellen werden. Die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik ist daher um Elemente direkter demokratischer Einflußnahme zu stärken. Notwendige Veränderungen in diesem Parlament werden, glaube ich, erst dann eintreten, wenn gesellschaftliche Umbrüche größeren Ausmaßes in der Bundesrepublik stattfinden werden.
Als letzte hat das Wort die Abgeordnete Frau Unruh.
Frau Präsidentin! Werte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Ich bitte den Innenausschuß — ich hoffe, es sind noch einige Mitglieder hier — zu überlegen, was z. B. der Überpartei Die Grauen, initiiert vom Seniorenschutzbund Graue Panther, wiederfährt. Wir haben in der Bundesrepublik alle Voraussetzungen erfüllt. Alle Listen und die 16 000 Unterschriften stehen. Jetzt müssen wir in kürzester Zeit die organisatorische Aufgabe bewältigen, das auch in der ehemaligen DDR zu tun.
Ich bitte den Innenausschuß zu überprüfen, was denn jetzt gültig sein soll. In der ehemaligen DDR gibt es jetzt falsche Die Grauen, die uns einfach nachgeahmt haben, z. B. in Mecklenburg-Vorpommern. Die Grauen Panther/Seniorenschutzbund hätten unter diesen Bedingungen in der DDR antreten können. Können sie das jetzt auch noch? Können auch die falschen Grauen antreten?
Nehmen Sie bitte ernst, was ich als Vorsitzende einer Partei nun einmal zu sagen habe. Chancengleichheit bedeutet letztlich auch — das ist meine tiefe Überzeugung —, den Parteien Hilfe durch eindeutige Aussagen des Innenausschusses zu geben, damit die Wähler und Wählerinnen wissen, woran sie sind.
Ich glaube, daß der Innenausschuß jetzt eine optimale Lösung finden wird. Vielleicht habe ich die Ehre, vor dem Innenausschuß drei Minuten sprechen zu dürfen, um die Not der neuen Wählerschichten dort kundzutun.
Im übrigen stehe ich voll zu dem, was Herr Westphal vorhin gesagt hat. Ich verurteile das, was an Diskriminierendem uns nach wie vor über Herrn Gerster (CDU) in die Ohren klingt. Ich glaube, das ist kein guter neuer Anfang. Mein Appell: Schaffen Sie jetzt die Grundvoraussetzungen dafür, daß es eine erste gesamtdeutsche Wahl wird, auf die wir alle stolz sein können.
Ich schließe die Aussprache. Es wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 11/8023 und 11/8033 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. — Herr Wüppesahl, Sie haben einen anderen Vorschlag? Bitte.
Ich wollte meine Vorstellungen über das weitere Prozedere im einzelnen gar nicht darlegen, sondern sie durch mein Abstimmungsverhalten anzeigen.
Es ist gut, daß Sie das dargestellt haben.
Lassen Sie mich doch bitte zu Ende sprechen. — Ich bin der Auffassung, daß wir diese Vorlagen heute nicht an die Ausschüsse überweisen sollten, solange für morgen die zweite und dritte Lesung angesetzt ist.Wenn die zweite und dritte Lesung im Laufe der nächsten Woche stattfindet, ist die Überweisung natürlich sinnvoll. Aber die Behandlung dieses Gegenstandes in einem solchen Hauruckverfahren — heute um 19 Uhr Beratung im Innenausschuß, was einzuhalten sowieso nicht mehr möglich ist —
vorzunehmen halte ich für unverantwortlich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18081
Ich stelle fest: Die Überweisungen sind so beschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. September 1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland
— Drucksache 11/8024 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/8024 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie nun noch wissen lassen, daß die Busse zum Flughafen Tegel unmittelbar nach Schluß des Plenums vor dem Südportal abfahren.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Sitzung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 5. Oktober 1990, 9 Uhr, nach Bonn ein.
Die Sitzung ist geschlossen.