Rede von
Thomas
Wüppesahl
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Im Moment nicht.
An der Tatsache, daß der Wahlvertrag, also einer der drei Staatsverträge zwischen der DDR und der BRD, und das dem Wahlvertrag für die Bundesrepublik zugrunde liegende Wahlgesetz verfassungswidrig sind, kann auch diese Belehrung der Präsidentin nichts ändern.
Die Arbeitslosigkeit wird zum Ende dieses Jahres auf dein Gebiet der ehemaligen DDR die 40 %-Marke überschreiten, wenn man nur die Blümschen Zahlen von 1,8 Millionen Arbeitslosen und 1,4 Millionen Kurzarbeitern zugrunde legt.
40 %, meine Damen und Herren — und was kommen hier für tolle Sätze!
Fur die gesamte Bundesrepublik muß man eine Quote von über 20 % ausweisen, wenn Sie endlich aufhören würden, die Statistiken getrennt nach AltBundesrepublik und Alt-DDR anfertigen zu lassen.
Ich erinnere nochmals an die eingangs zitierte Beschwörung des Bundeskanzlers: Es wird keinem schlechter gehen, doch vielen wird es besser gehen.
Zum Kontrast dazu nochmals: Für das zweite Halbjahr 1990 — so vermeldete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 27. September — weist die Krankenversicherung ein Defizit von 3,5 bis 4 Milliarden DM auf. Der Politik — so der Kommentator — bliebe nur die Wahl zwischen vier Übeln.
Das erste ist: Der Bund deckt das Defizit. Das zweite: Das Defizit wird durch einen Finanzausgleich auf westdeutsche Beitragszahler gewälzt. Das dritte: Der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung wird erhöht. Das vierte: Die Ausgaben im Gesundheitsbereich werden gesenkt.
Unter diesen vier Übeln können Sie wählen oder auch verschiedene Spielereien anstellen. Welche Möglichkeit auch immer in Betracht kommt, unterm Strich bedeutet dies: Es wird allen, auch den bisherigen westdeutschen Bürgern, was die Kosten der Gesundheit bzw. die Qualität der Versorgung angeht, schlechter gehen müssen. Dies gilt nicht nur für die Gesundheitsversorgung, sondern praktisch für alle Bereiche: Renten, Sozialversicherung, Arbeitslosenversicherung, Steuern usw. All diese sozialen Errungenschaften werden qua Einheit in den Konkurs gestürzt, genauso wie man die DDR in den Konkurs gestürzt hat und auch noch jetzt Betriebe bewußt herunterwirtschaftet.
Ab Januar nächsten Jahres wird jeder Bürger in der Bundesrepublik Deutschland zur Kasse gebeten. So wie Volltrunkene am Morgen ihren Kater haben, so wird die deutsch-deutsche Trunkenheit der letzten Monate — das abschließende Koma hatten wir gestern als Staatsakt — einen Katzenjammer nach sich ziehen. Die Frage ist bloß: Warum sehen die Menschen draußen das nicht? Ich weiß, daß sehr viele hier im Hause das nicht anders sehen, aber nach außen natürlich eine andere Propaganda betreiben. Die Bundesregierung jedenfalls sieht in dieser Vorgehensweise ihren Auftrag als Regierung. Da nützen auch vollmundige Worte vom Allgemeinwohl und der Verpflichtung dazu überhaupt nichts.
Seit 1982 wird von unten nach oben verteilt. Warum soll das bei der deutschen Einheit eigentlich anders sein? Jetzt wird erstens — nach dieser Prioritätenskala wird vorgegangen -- von Ost nach West verteilt. Ein Beispiel von vielen ist der Länderfinanzausgleich. Zweitens wird von unten nach oben weiter umverteilt.
Die SPD hob für alle dafür erforderlichen Staatsverträge die Hand. Auch das ist wieder einmal ein Indiz dafür, wie wichtig die PDS für diesen Deutschen Bundestag ist.
Es sei töricht — so der Bundesfinanzminister laut FAZ vom 27. September — , jetzt eine klare Auskunft zu fordern, was die deutsche Einheit kostet.
— Könnten Sie die geistigen Hinterbänkler seitens der Fraktionsgeschäftsführung bitten, etwas ruhiger zu sein?
Das bedeutet im Umkehrschluß folgendes: Der Bundesfinanzminister hält es für töricht, eine solide und ehrliche Finanzpolitik zu betreiben. So legt er erst gar
Deutscher Bundestag — I 1. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18065
Wüppesahl
keinen Haushalt vor. Doch Kosten scheinen die Bundesregierung sowieso nicht zu interessieren. Die Zeche der Einheit zahlen ja die Bürger. Und wiederholt stereotyp heißt es im feinsten Propagandastil: Die Einheit wird nicht an den Kosten scheitern. Die SPD spielt den Parlamentspapagei und sagt, die Einheit könne nicht an den Kosten scheitern, versucht aber gleichzeitig, nach außen die soziale Fahne hochzuhalten, obwohl sie bei den maßgeblichen Gesetzeswerken jedesmal ihre Hand gehoben hat.
Die Beschwörung, niemandem werde es schlechter, aber vielen besser gehen, hat nichts genutzt. Auch der Glaube des Bundespräsidenten wird daran nichts ändern. Es geht vielen schlechter. Die Bundesregierung plant, daß es einigen ganz wenigen sehr viel besser gehen soll.
Zum Jahresende herrschte über 40 % Arbeitslosigkeit in den Ländern der ehemaligen DDR. Darüber hinaus gibt es einen nicht enden wollenden Strom von Flüchtlingen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat in der DDR verlassen. Vergegenwärtigen Sie sich, daß die Grenze von 10 000 Bürgerinnen und Bürgern, die monatlich aus der DDR in die Bundesrepublik kommen, inzwischen schon wieder überschritten ist. Diese Menschen suchen Arbeit in der Bundesrepublik. Daraus resultieren Steuererhöhungen und Erhöhungen der Sozialausgaben für die Arbeitnehmer in der gesamten Bundesrepublik — mit allen sozialen und kulturellen Folgen wie Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus, Entsolidarisierung und massenhafte psychische Erkrankungen, die damit verbunden sind.