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    Plenarprotokoll 11/228 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 228. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 Inhalt: Präsidentin Dr. Süssmuth 18015A Verzicht des Abg. Porzner auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag 18017 B Eintritt des Abg. Weinhofer in den Deutschen Bundestag 18017 B Erweiterung der Tagesordnung 18017 B Tagesordnungspunkt 1: Eidesleistung von Bundesministern Präsidentin Dr. Süssmuth 18017 D Frau Dr. Bergmann-Pohl, Bundesministerin für besondere Aufgaben 18018A de Maizière, Bundesminister für besondere Aufgaben 18018A Dr. Krause, Bundesminister für besondere Aufgaben 18018B Dr. Ortleb, Bundesminister für besondere Aufgaben 18018B Dr. Walther, Bundesminister für besondere Aufgaben 18018 C Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Politik der ersten gesamtdeutschen Bundesregierung Dr. Kohl, Bundeskanzler 18018D Brandt SPD 18029 B Dr. Dregger CDU/CSU 18032 C Dr. Knabe GRÜNE 18033 B Dr. Ullmann GRÜNE 18036 A Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes 18037 D Stratmann-Mertens GRÜNE 18040 B Dr. Hirsch FDP 18041 A Dr. Gysi PDS 18043 A Wetzel GRÜNE 18044 B Stratmann-Mertens GRÜNE 18045 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 18046A Dr. Bötsch CDU/CSU 18053 A Dr. Klejdzinski SPD 18054 B Thierse SPD 18055 C Dr. Elmer SPD 18056 C Dr. Lammert CDU/CSU 18056 D Frau Dr. Vollmer GRÜNE 18058A Dr. Wieczoreck (Auerbach) CDU/CSU 18060A Frau Unruh fraktionslos 18061 D Wüppesahl fraktionslos 18063 B Zusatztagesordnungspunkt 1: Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Anzahl der Mitglieder des Präsidiums des Deutschen Bundestages Frau Birthler GRÜNE 18065 C Bohl CDU/CSU 18066 A Jahn (Marburg) SPD 18066 C Wolfgramm (Göttingen) FDP 18067 A Frau Birthler GRÜNE 18067 C Dr. Steinitz PDS 18067 D Wüppesahl fraktionslos 18068A, D II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes sowie zur Änderung des Parteiengesetzes (Drucksache 11/8023) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksache 11/8033) Dr. Schäuble, Bundesminister BMI 18070B Bernrath SPD 18071 B Frau Birthler GRÜNE 18071 D Lüder FDP 18072 D Dr. Knabe GRÜNE 18073 B Jahn (Marburg) SPD 18073 C Häfner GRÜNE 18074 B Dr. Heuer PDS 18076 B Gerster (Mainz) CDU/CSU 18077A, 18079 C Stahl (Kempen) SPD 18077 D Reddemann CDU/CSU 18078 A Westphal SPD 18079 A Wüppesahl fraktionslos 18079D, 18080D Frau Unruh fraktionslos 18080 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. September 1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland (Drucksache 11/8024) 18081 A Nächste Sitzung 18081 C Berichtigung 18081 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 18083 A Anlage 2 Liste der Abgeordneten, in deren Namen der Abgeordnete Conradi eine mündliche Erklärung nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertragsgesetz — (Drucksachen 11/7760, 11/7817, 11/7831, 11/7841, 11/7920, 11/7931, 11/7932) abgegeben hat 18083* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18015 228. Sitzung Berlin, den 4. Oktober 1990 Beginn: 10.00 Uhr
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    Berichtigung 225. Sitzung, Seite 17797 * C, Zeile 17: Statt „.. 2-39 Jahre. " ist „... 12-39 Jahre." zu lesen. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18083* Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 05. 10. 90 * Büchner (Speyer) SPD 05. 10. 90 * Dr. Gautier SPD 05. 10. 90 Gerster (Worms) SPD 05. 10. 90 Grünbeck FDP 05. 10. 90 Hornhues CDU/CSU 05. 10. 90 Kalisch CDU/CSU 05. 10. 90 Kastning SPD 05. 10. 90 Müller (Düsseldorf) SPD 4. 10. 90 Frau Nickels GRÜNE 5. 10. 90 Schäfer (Offenburg) SPD 05. 10. 90 Dr. Schulte (Schwäbisch CDU/CSU 05. 10. 90 Gmünd) Steiner SPD 05. 10. 90 * Wischnewski SPD 05. 10. 90 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Liste der Abgeordneten, in deren Namen der Abgeordnete Conradi eine mündliche Erklärung nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertragsgesetz — (Drucksachen 11/7760, 11/7817, 11/7831, 11/7841, 11/7920, 11/7931, 11/7932) abgegeben hat* ) Antretter, Büchner (Speyer), Dr. von Bülow, Conradi, Duve, Egert, Erler, Fuchs (Verl), Gansel, Dr. Glotz, Frau Dr. Götte, Frau Dr. Hartenstein, Heyenn, Hiller (Lübeck), Dr. Holtz, Jungmann (Wittmoldt), Kirschner, Kühbacher, Frau Kugler, Kuhlwein, Lambinus, Lutz, Müller (Düsseldorf), Müller (Pleisweiler), Frau Odendahl, Opel, Peter (Kassel), Dr. Pick, Rixe, Schanz, Dr. Scheer, Schmidt (Salzgitter), Dr. Schöfberger, Sielaff, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Sonntag-Wolgast, Steiner, Dr. Struck, Frau Terborg, Toetemeyer (alle SPD) *) Siehe 226. Sitzung, Seite 17891 C
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    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Plenarsitzung des gesamtdeutschen Bundestages beginnt die parlamentarische Arbeit im vereinten Deutschland. Vor uns liegen innen- wie außenpolitisch große Aufgaben, die in der kommenden Zeit unsere ganze Kraft beanspruchen werden.
    Ich darf auch meinerseits und namens der Bundesregierung die neuen Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich begrüßen, die jetzt im Deutschen Bundestag die Bevölkerungen von Brandenburg, von Mecklenburg-Vorpommern, von Sachsen, von Sachsen-Anhalt, von Thüringen und dem Ostteil Berlins repräsentieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei einzelnen Abgeordneten der GRÜNEN)

    In den vergangenen Wochen und Monaten haben sie,
    ebenso wie alle anderen Mitglieder der Volkskammer



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    und wie die Regierung der bisherigen DDR unter Führung von Ministerpräsident Lothar de Maizière, unter schwierigsten Bedingungen ein großes Arbeitspensum bewältigt. Dafür gebührt ihnen allen unser Respekt, unser Dank und unsere Anerkennung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Meine Damen und Herren, in wenigen Wochen geht die Legislaturperiode des 10. Deutschen Bundestages zu Ende.

    (Zurufe: des 11.! — Heiterkeit)

    — Meine Damen und Herren, wenn Sie beim Blick auf die 8 Jahre meiner Regierungszeit nur dies als Fehler entdecken, gönne ich Ihnen das.

    (Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Am 2. Dezember wählen alle Deutschen gemeinsam ihr neues Parlament. Ich will mich daher heute bei dieser Erklärung auf jene Fragen konzentrieren, die gerade vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung unseres Landes vordringlich sind.
    Mit der heutigen Regierungserklärung will ich darüber hinaus die Grundsätze erläutern, von denen sich die Bundesregierung leiten läßt. Die Politik der Bundesregierung wird geprägt sein vom Bewußtsein für die deutsche Geschichte in allen ihren Teilen und der daraus folgenden Verantwortung. Nur wer seine Herkunft kennt und sich zu ihr bekennt, hat einen Kompaß für die Zukunft.
    Wir vergessen nicht, wem wir die Einheit unseres Vaterlandes zu verdanken haben. Viele haben dazu beigetragen, zu allererst die Menschen in der bisherigen DDR. Gerade hier in Berlin möchte ich die Vereinigten Staaten von Amerika nennen, allen voran Präsident George Bush.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie der Abg. Frau Garbe [GRÜNE])

    Ich nenne auch unsere französischen Freunde, und ich nenne unsere Freunde in Großbritannien.
    Wir danken allen unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis für ihre Solidarität.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Dank schulden wir vor allem auch den Bürgerrechts- und Reformbewegungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

    (Beifall im ganzen Hause)

    Vor gut einem Jahr ließ Ungarn die Flüchtlinge ausreisen. Damals wurde der erste Stein aus der Mauer geschlagen. Die Freiheitsbewegungen in Polen und in der Tschechoslowakei haben den Menschen in der DDR Mut gemacht, für ihr Recht auf Selbstbestimmung einzutreten.
    Präsident Michail Gorbatschow hat einen unschätzbaren Beitrag zur Überwindung der Teilung unseres Vaterlandes geleistet.

    (Beifall im ganzen Hause)

    Er hat das Recht der Völker auf den eigenen Weg anerkannt. Ohne das neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik hätten wir den Tag der Deutschen Einheit nicht so bald erlebt.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD sowie bei einzelnen Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS)

    Wann je, meine Damen und Herren, hatte ein Volk die Chance, Jahrzehnte der schmerzlichen Trennung auf so friedliche Weise zu überwinden? Ohne Krieg und Gewalt, ohne Blutvergießen, in vollem Einvernehmen mit unseren Nachbarn und Partnern und mit ihrer Zustimmung haben wir die Einheit Deutschlands in Freiheit wiederherstellen können. Dies ist ein wichtiges Kapital für die Zukunft unseres Volkes.
    Das vereinte Deutschland sieht sich in der Tradition jener freiheitlichen Strömungen unserer Geschichte, die weder Krieg noch Gewaltherrschaft auszulöschen vermochten. Zu dieser Tradition zählt das Hambacher Fest ebenso wie die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.
    Meine Damen und Herren, hier im Reichstag denken wir heute gerade auch an jene, die die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, gegen ihre Feinde von rechts und von links bis zum bitteren Ende in Schutz nahmen.
    Wer könnte jemals das unerschrockene Bekenntnis zur Demokratie vergessen, mit dem Otto Wels, der Vorsitzende der SPD-Reichstagsfraktion, dem nationalsozialistischen Machtanspruch trotzte?

    (Beifall im ganzen Hause)

    Seine Rede in der Kroll-Oper — nach dem Brand des Reichstages — am 23. März 1933, die mit einem Gruß an die „Verfolgten und Bedrängten" schloß, wurde zu einem ergreifenden Zeugnis freiheitlicher Gesinnung.
    Mit besonderer Dankbarkeit erinnern wir uns des deutschen Widerstandes gegen Hitler, eines Widerstandes aus allen Gruppen unseres Volkes. Ich nenne hier besonders die mutigen Männer und Frauen des 20. Juli 1944. Im Kampf für ein friedliches, für ein freies und der Menschenwürde verpflichtetes Deutschland gaben viele ihr Leben hin.
    Das Grundgesetz, unsere Verfassung, gilt jetzt „für das gesamte Deutsche Volk". So heißt es nun in der Präambel. Damit stellen sich alle Deutschen bewußt auch in die Tradition der Väter und Mütter unserer Verfassung, die sich damals von dem doppelten Schwur leiten ließen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Diktatur! — Stellvertretend nenne ich hier Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Theodor Heuss — und hier in Berlin vor allem auch den unvergessenen Ernst Reuter.

    (Beifall im ganzen Hause)

    In das Selbstverständnis des vereinten Deutschland geht auch die Erinnerung an den 17. Juni 1953 ein. Wir denken an all jene Deutschen, die in der ehemaligen DDR im Kampf für die Freiheit Gesundheit und Leben aufs Spiel setzten und oft auch verloren. Ihr Vermächtnis erfüllte sich in der friedlichen Revolution, mit der das SED-Regime überwunden wurde.



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Meine Damen und Herren, wenn wir uns zur deutschen Geschichte in allen ihren Teilen bekennen, dann wollen wir auch nicht ihre düsteren Kapitel ausblenden. Niemals darf vergessen, verdrängt oder verharmlost werden, welche Verbrechen in diesem Jahrhundert von deutscher Hand begangen worden sind, welches Leid Menschen und Völkern zugefügt wurde. Indem wir diese geschichtliche Last gemeinsam tragen, erweisen wir uns auch der gemeinsamen Freiheit würdig. Die Erinnerung auch an das dunkelste Kapitel unserer Geschichte wachzuhalten, schulden wir den Opfern. Wir schulden es vor allem den Opfern des Holocaust, des beispiellosen Völkermords an den europäischen Juden.
    Uns leitet auch in dieser Stunde der feste Wille, über die Gräben der Vergangenheit Brücken zu bauen für ein gemeinsames Werk der Verständigung, des Friedens und der Versöhnung im Geiste der Menschenrechte. Das gilt für alle Bereiche — im Innern wie nach außen.
    Kontinuität und Neubeginn — das vereinte Deutschland steht für das eine wie für das andere. Wir können auf den bewährten Grundlagen aufbauen, die in der Bundesrepublik errichtet und entwickelt wurden, und wir halten fest an unserem Engagement für die europäische Einigung, für den Bau der vereinigten Staaten von Europa und in der Atlantischen Allianz.
    Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch, daß wir nach der staatlichen Wiedervereinigung in vieler Hinsicht erst am Anfang stehen. Wirtschaftliche und soziale Fragen sind jetzt dringlich, aber sie sind wahrlich nicht die einzigen, die wir lösen müssen. Ich denke vor allem auch an die schwerwiegenden Folgen, die vier Jahrzehnte kommunistischer Diktatur im geistigen Leben und in den Seelen der Menschen hinterlassen haben.
    Die meisten Menschen — in der DDR und in der Bundesrepublik — hatten sich in all der Zeit, die wir erlebt haben, ein waches Bewußtsein dafür bewahrt, daß wir als Deutsche zusammengehören. Ihre Herzen schlugen für die Freiheit und für die Einheit. Die friedliche Revolution im vergangenen Herbst hat dafür auf bewegende Weise Zeugnis abgelegt.
    Das ändert nichts daran, daß über vier Jahrzehnte hinweg die Deutschen in Ost und West ihr Leben unter ganz unterschiedlichen Bedingungen gestalten mußten, daß sie von völlig verschiedenen, manchmal auch durchaus gegensätzlichen Erfahrungen geprägt wurden. Wir müssen deshalb mit Verständnis und mit gegenseitiger Achtung aufeinander zugehen. Dabei dürfen wir einander nicht überfordern. Gefragt sind Offenheit und Toleranz und die Bereitschaft, einander besser begreifen zu lernen.
    Die Diktatur der SED mit ihrem Stasi- und Propagandaapparat, mit ihrem praktisch alles erstickenden Geflecht aus Unterdrückung und Verführung hat gerade auch in den Herzen der Menschen Wunden geschlagen. Gezielt versuchten die kommunistischen Machthaber, Menschen gegeneinander auszuspielen, Vertrauen zu zerstören und Haß zu säen.
    Wir dürfen jetzt nicht zulassen, daß noch im nachhinein diese Saat der SED aufgeht.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FPD, der SPD und bei den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Das heißt, meine Damen und Herren, wir müssen unbeirrt den Weg des Rechtsstaates gehen. Denn nur im Rechtsstaat verbindet sich die Forderung nach Gerechtigkeit mit dem Willen zum inneren Frieden. Wer schwere Schuld auf sich geladen hat, der wird die Konsequenzen dafür tragen müssen. Er wird zur Rechenschaft gezogen werden. Um jedoch für unser Volk den inneren Frieden zu gewinnen, müssen wir auch die Kraft zur inneren Aussöhnung aufbringen.
    Mir ist durchaus bewußt, wie schwierig das ist, vor allem für viele, die gelitten haben. Wir alle müssen uns dieser Herausforderung stellen. Ich sage ganz bewußt, meine Damen und Herren: wir alle. Denn in einem vereinten Deutschland müssen wir die Lasten gemeinsam tragen, auch jene, die aus der Vergangenheit stammen. Wir würden sonst die Barrieren, die wir niedergerissen haben, in unserem Denken nur neu aufrichten und befestigen. Deutschland zusammenzuführen — in jeder Hinsicht: geistig-kulturell, wirtschaftlich, sozial — , das ist die umfassende Aufgabe der kommenden Jahre.
    Dabei hat jeder Wichtiges und Bedeutendes einzubringen: die Deutschen in der bisherigen Bundesrepublik außer ihrer erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialordnung eben auch noch anderes, vor allem eine bewährte freiheitliche und rechtsstaatliche Verfassung, unser Grundgesetz, das jetzt in ganz Deutschland gilt. Die Menschen in der bisherigen DDR bringen insbesondere das Selbstbewußtsein jener ein, die sich in einer friedlichen Revolution gegen eine Diktatur durchgesetzt haben. Mit ihrem unverstellten Blick für den Wert der Freiheit schärfen sie vielen den Blick dafür, welch kostbares Gut das ist: eine freiheitliche Demokratie in einem vereinten Vaterland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Freiheit und Verantwortung gehören unauflöslich zusammen. Deshalb gilt es, jene Institutionen zu stärken, die den Menschen Halt und Orientierung geben. Liebe und Geborgenheit werden zuallererst in der Familie erfahren. Sie ist und bleibt der wichtigste Ort für die persönliche Entwicklung und für die Vermittlung von Werten und Tugenden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Der Staat muß die Familie bei der Erfüllung dieser Aufgaben unterstützen. Er darf sich niemals anmaßen, die Familie ersetzen zu wollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, zum Beitrag der Länder zwischen Elbe und Oder, zwischen Rügen und der Sächsischen Schweiz gehört nicht zuletzt ein unschätzbares kulturelles Erbe. Es sind alte, traditionsreiche Landschaften mit einzigartigen Zeugnissen unserer Geschichte.



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Die Schlösser in Schwerin oder in Potsdam, die großartigen Figuren des Naumburger Doms, die SemperOper in Dresden, sie alle stehen für das eine Deutschland. Auf der Wartburg übersetzte Luther die Bibel für alle Deutschen, und Weimar ist weltweit auch zum Synonym der deutschen Klassik geworden. Wir freuen uns, daß diese Stätten unserer gemeinsamen Geschichte und Kultur wieder für alle zugänglich sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Aber dieses Erbe — das zugleich ein europäisches Erbe ist — nimmt uns auch gemeinsam in die Pflicht. Insbesondere müssen wir dafür sorgen, daß die Kulturinstitutionen von europäischem Rang auf dem Gebiet der bisherigen DDR ihre Bedeutung für Deutschland und Europa behalten. Ich weiß um die Verantwortung, die die Bundesregierung — unbeschadet der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder — für das Fortbestehen dieser Einrichtungen trägt. Wir werden uns in diesem Sinne auch zu verhalten haben.

    (Beifall des Abg. Graf Huyn [CDU/CSU])

    Das Bewußtsein der Menschen für die Einheit unserer Nation hat sich niemals auf die kulturelle Dimension beschränken lassen. Sie wollten als ein Volk in einem vereinten und freien Deutschland leben. Jetzt, meine Damen und Herren, kommt es darauf an, daß Deutschland auch wirtschaftlich und sozial möglichst rasch wieder eins wird. Das wird uns große Anstrengungen abfordern, und dafür werden wir auch Opfer bringen müssen.
    Aber ich weiß: Wir werden es schaffen, wenn wir jetzt zusammenstehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    In diesem entscheidenden Augenblick unserer Geschichte müssen wir mehr denn je zu Solidarität fähig sein.
    Dann werden wir auch die tiefe geistige, wirtschaftliche und ökologische Krise überwinden, die der Kommunismus und Sozialismus in der bisherigen DDR hinterlassen haben. Es kommt darauf an, daß wir jetzt offen Bilanz ziehen — und daß wir zugleich mit dem Aufbruch beginnen. Jeder weiß: Die Hinterlassenschaft der SED-Diktatur ist verheerend.
    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die wirtschaftliche Lage in der DDR wird bestimmt durch den schwierigen Übergang von der sozialistischen Kommandowirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft. Diese Aufgabe ist ohne Beispiel. Nachdem sich zwei unvereinbare Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen über Jahrezehnte hinweg auseinanderentwickelt haben, geht es jetzt und heute darum, die Zukunft in Freiheit gemeinsam zu gestalten. Ich bin sicher, wir haben alle Chancen, diese Herausforderung gemeinsam erfolgreich zu bestehen.
    So müssen sich Wirtschaft und Unternehmen durchgreifend ändern und neu orientieren; denn viele der bisherigen Industriegüter können sich im internationalen Wettbewerb nicht behaupten. Dienstleistungen — etwa im Handel, Finanzwesen und Tourismus — wurden stark vernachlässigt.
    Vollbeschäftigung gab es im real existierenden Sozialismus nur zum Schein. In Wahrheit bestand in nahezu jedem Betrieb und jeder Verwaltung das, was man als verdeckte Arbeitslosigkeit bezeichnet. Allein der öffentliche Dienst war fast doppelt so stark besetzt wie in der Bundesrepublik. Und niemand wird behaupten, daß der öffentliche Dienst in der Bundesrepublik zu schwach besetzt sei.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Bei Gott nicht! — Zurufe von der SPD)

    — Ich weiß nicht, warum gerade Sie von der SPD hier Einwände machen. Bei der Ausweitung des öffentlichen Dienstes waren Sie immer Weltmeister. Das war immer ein Teil Ihrer Geschichte.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Wer dann noch veraltete Produktionsanlagen und verbreitete Energieverschwendung hinzunimmt, den wundert es nicht, daß die Produktivität nur etwa 40 des Niveaus der bisherigen Bundesrepublik beträgt. Hier wollen wir gemeinsam durch eine zügige Modernisierung der Betriebe und durch nachhaltig verstärkte Umschulung und Weiterbildung der Arbeitnehmer Abhilfe schaffen. Mit massiven Maßnahmen zur Weiterqualifizierung, zu Investitionszulagen und regionalen Wirtschaftshilfen geben wir die notwendige Unterstützung. Mit der jetzt vorgesehenen Wirtschaftsförderung kann ein Investitionsvolumen von rund 50 Milliarden DM sehr bald verwirklicht werden.
    Wie groß die Investitionsbereitschaft ist, zeigt nicht zuletzt die jüngste Umfrage des Ifo-Instituts. Danach will rund die Hälfte der befragten Unternehmen bereits bis Ende kommenden Jahres, also in den nächsten 15 Monaten, in der bisherigen DDR investieren.
    Wirksame Hilfen zur Umstrukturierung erhalten ebenso die Landwirtschaft und die Ernährungswirtschaft. Enteignung und Staatsdirigismus haben oft gigantische, aber häufig unproduktive Betriebe entstehen lassen. Die jetzt notwendige Neuorientierung bietet leistungsfähigen landwirtschaftlichen Betrieben eine faire Chance, sich im Markt zu behaupten, und neben Familienbetrieben gehören dazu auch Genossenschaften.
    Meine Damen und Herren, mit der Einheit Deutschlands ist die Landwirtschaft der bisherigen DDR zugleich voll in den europäischen Agrarmarkt integriert. Dank günstiger Standortbedingungen verfügen die Landwirte in ganz Deutschland über gute Voraussetzungen im europäischen Markt zu bestehen. Aber jeder von uns weiß, daß wir hier noch erhebliche Übergangsprobleme mit Auswirkungen auch auf das Gebiet der bisherigen Bundesrepublik zu bewältigen haben.
    Gemeinsame Anstrengungen brauchen wir ferner im Blick auf Wohnungsbau und Infrastruktur. Jeder kann, wenn er durch die Städte und Gemeinden der bisherigen DDR geht, sich ein Bild davon machen, wie sehr Häuser, ja ganze Stadtteile vom Verfall bedroht sind. Dieser Entwicklung wollen wir Einhalt gebieten. Das neue Wohnungsbaumodernisierungsprogramm für die ehemalige DDR bietet hierfür konkrete Hilfen.
    18022 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin. Donnerstag. den 4. Oktober 1990
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Zu ungewöhnlich günstigen Bedingungen steht jetzt ein Kreditvolumen von rund 10 Milliarden DM zur Verfügung. Nicht zuletzt aus dieser Sicht eröffnet die Bauwirtschaft neue Beschäftigungsperspektiven für viele, die sich jetzt auch beruflich neu orientieren müssen.
    Auch für den westlichen Teil Deutschlands haben wir eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, um die Wohnungsengpässe, vor allem in Ballungsgebieten, beseitigen zu können. Bis 1992 werden eine Million neue Wohnungen gebaut werden können, davon weit über ein Drittel Sozialwohnungen. Zur weiteren sozialen Flankierung haben wir gerade das Wohngeld noch einmal nachhaltig verbessert.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, für das Gebiet der bisherigen DDR haben wir ein umfassendes Infrastrukturprogramm eingeleitet. Dabei geht es vorrangig darum, das Straßen-, Schienen- und Telefonnetz instand zu setzen und vor allem zu modernisieren. Nur mit einer leistungsfähigen Infrastruktur kann eine dauerhafte wirtschaftliche Erholung einhergehen. Wir müssen sehr bald dahin kommen, daß es genauso einfach ist, von Dresden nach Rostock zu telefonieren wie heute etwa von Köln nach München.
    Um dieses Ziel so rasch wie möglich zu erreichen, hat die Bundespost Milliardeninvestitionen beschlossen. Bis 1997 sind für den Ausbau des Fernmeldenetzes rund 55 Milliarden DM vorgesehen, davon allein über 7 Milliarden DM in den nächsten 18 Monaten. Das bedeutet: In der bisherigen DDR werden jetzt jährlich bis zu eine Million neue Telefonanschlüsse hergestellt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Parallel müssen wir für den Ausbau eines modernen Straßen- und Schienennetzes große Anstrengungen unternehmen und besondere Ideen entwickeln. Der Infrastruktur dient zugleich das neue Gemeindeinvestitionsprogramm mit einem Projektvolumen von 10 Milliarden DM. Es unterstützt Kreise, Gemeinden und Städte vor allem dabei, Gewerbeflächen zu erschließen, kommunale Verkehrswege zu verbessern, Stadt- und Dorferneuerung zu ermöglichen sowie Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen zu modernisieren. Ich fordere Städte und Gemeinden auf, für solche Aufgaben auch die bereitstehenden Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verstärkt zu nutzen. Mit ihnen läßt sich Arbeitslosigkeit kurzfristig verringern, und dringende Arbeiten können mit geringem Kostenaufwand für die Städte und Gemeinden schon jetzt in Angriff genommen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Im übrigen unterstreiche ich: Mit dem Einigungsvertrag verfügen die Städte, Kreise und Gemeinden über die Voraussetzungen, unverzüglich Grundstücke und Gebäude für arbeitsplatzschaffende Investitionen bereitzustellen.

    (Zuruf von der SPD: Das ist doch alles graue Theorie!)

    Von dieser Regelung soll und muß jetzt im Interesse der Beschäftigung sofort Gebrauch gemacht werden.
    Noch größerer Handlungsbedarf besteht beim Schutz von Natur und Umwelt. Viele Böden sind vergiftet, Seen und Flüsse oft verseucht oder ökologisch tot. Das Trinkwasser ist häufig hoch belastet. Das SED-Regime hat zu verantworten, daß es in der ehemaligen DDR bis zuletzt höhere Belastungen mit Schwefeldioxid und Kohlendioxid gab als irgendwo sonst in der Welt.
    Die Kernkraftwerke entsprechen in keiner Weise unseren Sicherheitsanforderungen.

    (Zuruf von der SPD: Unsere auch nicht!)

    Daß die DDR-Regierung diese Kraftwerke sogar nach Tschernobyl weiter betrieben hat, war unverantwortlich.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

    Inzwischen haben wir bereits vier der fünf Kernkraftwerke abgeschaltet. Der letzte Kernkraftwerksblock in Greifswald wird in Kürze ebenfalls vom Netz genommen werden.

    (Zuruf von der SPD: Und was ist mit Stade?)

    Dies wird die Stromversorgung nicht in Frage stellen. Mit dem kürzlich abgeschlossenen Stromvertrag wird vielmehr der rasche Aufbau einer leistungsfähigen und umweltfreundlichen Stromerzeugung und -versorgung durch private Energieversorgungsunternehmen sichergestellt.

    (Widerspruch bei den GRÜNEN)

    Allein in den nächsten fünf Jahren werden hierfür mehr als 20 Milliarden DM investiert.
    Meine Damen und Herren, für uns gehören wirtschaftlicher Aufschwung und ökologischer Neubeginn zusammen. Besonders gesundheits- und umweltbelastende Betriebe und Betriebsteile wurden inzwischen geschlossen. Mit Nachdruck arbeiten wir an einem ökologischen Sanierungs- und Entwicklungsprogramm, vor allem für hoch belastete Gebiete wie Bitterfeld und Espenhain, für die Region um Mansfeld, für das Obere Elbtal. Einmal mehr erweist sich, wie sehr die Leistungskraft der Wirtschaft Voraussetzung für Entwicklung und Einsatz modernster Umwelt- und Sicherheitstechnik ist.
    Ohne eine leistungsfähige Wirtschaft ist auch nicht denkbar, was viele inzwischen für selbstverständlich halten: ein tragfähiges Netz sozialer Sicherung. Was hier aufzuholen ist, zeigt zuallererst die Situation der Rentner in der bisherigen DDR. Ihre Renten waren niedrig und wurden überdies nur unzureichend an die Lohnentwicklung der Arbeitnehmer angepaßt. Wir haben sichergestellt, daß die Rentner — wie schon bisher in der Bundesrepublik — an der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung ihren gerechten Anteil haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)




    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Auch in der bisherigen DDR muß gelten, daß die Rente angemessener Lohn für ein ganzes Arbeitsleben ist.

    (Zurufe von den GRÜNEN)

    Im Gesundheitswesen gab es in der ehemaligen DDR ein Zweiklassensystem. Nur für sehr wenige Privilegierte standen Spitzenmedizin und leistungsfähige medizinische Einrichtungen zur Verfügung. Das galt keineswegs für den sogenannten Normalbürger. Wir führen jetzt unsere bewährte Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung ein, selbst wenn das mit hohen Anlaufkosten verbunden ist. Mit dem Einigungsvertrag ist gewährleistet, daß wir auf diesem wichtigen Feld Schritt für Schritt einheitliche Verhältnisse in ganz Deutschland erreichen; denn wirksame soziale Sicherung ist untrennbar verknüpft mit unserer Politik der Sozialen Marktwirtschaft.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Zur Bestandsaufnahme gehört auch die Lage der Staatsfinanzen in der bisherigen DDR. Verfügbare Mittel wurden für staatliche Prestigeobjekte, für überbesetzte Verwaltungen und für das Unterdrückungssystem ausgegeben. Statt in die Zukunft zu investieren, ist die Substanz verwirtschaftet worden. Bereits vor Jahresfrist — das kann man gar nicht häufig genug sagen — sind führende Funktionäre der SED selbst zu dem Ergebnis gekommen, daß der DDR gegenüber dem westlichen Ausland sehr kurzfristig die Zahlungsunfähigkeit drohe.
    Meine Damen und Herren, unter derart bedrückenden und entmutigenden Verhältnissen haben die Menschen in der DDR über 40 Jahre leben und arbeiten müssen. Um so höher wissen wir einzuschätzen, was sie in dieser Zeit dennoch geleistet haben. Wer seit über vier Jahrzehnten gleichsam auf der Sonnenseite deutscher Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland leben durfte, sollte sich dies immer bewußt machten.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Es ist zutiefst deprimierend, daß das SED-Regime die Früchte jahrzehntelanger Anstrengungen der Bürger weitgehend zunichte gemacht hat.
    Viele fühlen sich auch jetzt noch von denen verunsichert, die den Neubeginn mit altem Denken bewußt erschweren und verschleiern. Die alte Kommandowirtschaft ist gescheitert. Aber die Konturen der neuen Wirtschaftsordnung sind oft noch nicht klar erkennbar.
    Damit verbindet sich die verständliche Frage der Menschen nach der eigenen Zukunft — die Frage nach dem Arbeitsplatz, nach Einkommen oder Rente, nach der Wohnung, nach den neuen Anforderungen einer wettbewerbsorientierten Wirtschaft. Wir alle, auch ich selbst, nehmen diese Fragen und auch die Ängste ernst; es sind Fragen des persönlichen Betroffenseins, Fragen, die uns alle angehen.
    Daran knüpfen sich zugleich Hoffnungen und Erwartungen — Erwartungen, die manchmal über das hinausgehen, was staatliche und private Unterstützung und Hilfe kurzfristig leisten können. Wir verstehen diese Erwartungen. Wir werden alles in unserer Kraft Stehende tun, um die Folgen der Teilung so
    schnell wie möglich zu überwinden. Doch meine Damen und Herren, was in vier Jahrzehnten zunichte gemacht wurde, kann nicht in wenigen Wochen und Monaten aufgeholt und ausgeglichen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Finanzielle Anforderungen finden dort ihre Grenze, wo die Stabilität der D-Mark und die finanzielle Solidität des Gesamtstaates berührt werden. Denn dies ist das Fundament, auf dem wir alle heute stehen und auf dem wir die gemeinsame Zukunft aufbauen wollen.
    Meine Damen und Herren, um so wichtiger ist es, in der öffentlichen Diskussion nicht nur nach den Kosten des Neubeginns zu fragen. Denn es ist ja ein leichtes — wir erleben es — , hier horrende Zahlen aufzuaddieren. Wer so redet, der sollte bitte auch an die Kosten der Teilung in den letzten 40 Jahren denken —

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Thierse [SPD])

    Kosten der Teilung nicht nur in der Bundesrepublik, sondern ebenso in der DDR. Er sollte denken an die vielen Milliarden für Berlin- und Zonenrandförderung, für Transitpauschalen, für Häftlingsfreikäufe — und dies Jahr für Jahr. Er sollte vor allem auch denken an die immensen Ausgaben für das Überwachungs- und Unterdrückungssystem von Stasi, von Mauer und von Stacheldraht.
    Wer diese Diskussion führt und diese Summen einmal in Relation zueinander setzt, der kommt bei den Kosten der Teilung sehr rasch zu Größenordnungen in vierstelliger Milliardenhöhe. Will jemand diese gigantischen Kosten der Teilung wirklich weiter in Kauf nehmen, anstatt jetzt in die Einheit unseres Vaterlandes sinnvoll und mit Augenmaß zu investieren?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Investitionen in unsere gemeinsame Zukunft haben auch mit Kosten zu tun — aber eben nicht nur mit Kosten, sondern auch mit Erträgen. Auch das ist ja eine der Erfahrungen von 40 Jahren Bundesrepublik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    So sichert und schafft der wirtschaftliche Wiederaufbau in der ehemaligen DDR Arbeitsplätze in ganz Deutschland; die jüngste Arbeitslosenstatistik zeigt dies ja überdeutlich. Von dieser zusätzlichen wirtschaftlichen Dynamik profitieren zunächst einmal vor allem westliche Lieferanten von Maschinen und Ausrüstungen. Dies trägt aber ebenso dazu bei, die bisherige DDR als Produktionsstandort rasch auszubauen. Dies, meine Damen und Herren, bedeutet zugleich: steigende Unternehmenserträge und wachsende Einkommen, die ihrerseits wieder zu höheren Staatseinnahmen führen. Auch das ist ja in klassischer Weise während der vergangenen Jahre in der Bundesrepublik deutlich geworden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, zu solchen Erträgen gehören auch Entlastungen unserer Umwelt:

    (Vorsitz : Vizepräsident Stücklen)

    18024 Deutscher Bundestag — ï 1. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Weniger Schadstoffe, vor allem in Luft und Wasser: das kommt allen zugute. Das heißt beispielsweise: jede Mark, die wir bereits in Dresden in die Wasserqualität der Elbe investieren, macht eine Sanierung bei Hamburg zwar nicht überflüssig, aber doch wesentlich einfacher und weniger kostspielig.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Wer jetzt polemisch durchs Land zieht und die Kosten der Einheit als ein beinahe unüberwindliches Hindernis darstellt, der sollte ebenso offen über die wegfallenden Kosten der Teilung sprechen und über die Erträge der Einheit — Erträge, die in den kommenden Jahren immer mehr an Gewicht gewinnen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Dazu gehört, meine Damen und Herren, daß das vereinte Deutschland in der Mitte eines nicht mehr geteilten, sondern zusammenwachsenden Europas liegt. Es ist offensichtlich, daß aus dieser Brückenfunktion für uns und unsere Partner handfeste wirtschaftliche Vorteile erwachsen werden.
    Noch etwas gehört in den Zusammenhang von Kosten und Erträgen: Es ist einfach unredlich, den Eindruck zu erwecken, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR könne auf absehbare Zeit nichts oder nur sehr wenig aus eigener Kraft finanziert werden. Richtig ist vielmehr — das ist eine Erfahrung der frühen 50er Jahre in der Bundesrepublik — : Großzügige Hilfen am Beginn einer marktwirtschaftlichen Neuorientierung sind notwendig, zumal die sozialen Lasten der Menschen damit erträglicher werden. Wer wüßte dies besser als die Deutschen in der bisherigen Bundesrepublik, deren Aufbau mit Geldern des Marshall-Plans aus den USA ebenfalls erleichtert wurde!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Gerade unsere Erfahrungen zu Beginn der Sozialen Marktwirtschaft in der Zeit nach 1948 zeigen aber ebenso, daß solche Starthilfe im besten Sinne des Wortes Hilfe zur Selbsthilfe ist. Dies wird in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und in Sachsen nicht anders sein. Auch dort werden Bürger, Kommunen und Länder bald einen wachsenden Teil zur Finanzierung ihrer eigenen Zukunft selbst tragen können.
    Meine Damen und Herren, neben den Kosten sehen wir in gleicher Weise die ermutigenden Perspektiven, die sich dem vereinten Deutschland, aber auch Europa als Ganzem eröffnen. Kosten, Erträge, Perspektiven — dies ist ein unauflöslicher Gesamtzusammenhang. Dazu gehören selbstverständlich ebenso immaterielle Vorteile, die eben nicht in Mark und Pfennig meßbar sind. Hier ist vor allem die persönliche Freiheit zu nennen. Das ist das wichtigste Gut im wiedervereinten Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Die freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und mit ihr die Soziale Marktwirtschaft waren ja auch im westlichen Teil Deutschlands nicht immer unumstritten.

    (Opel [SPD]: Ahlener Programm!)

    Gerade der Neubeginn 1948 war alles andere als einfach: Vorübergehende Preissteigerungen, heftige Auseinandersetzungen bis hin zum Generalstreik begleiteten den Anfang der Sozialen Marktwirtschaft.
    Und die Frage der Kursbestimmung der Sozialen Marktwirtschaft stellte sich für die Bundesregierung erneut, als es 1982, vor acht Jahren, darum ging, aus der Rezession heraus eine neue wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in Gang zu setzen — eine Aufwärtsentwicklung, aus der inzwischen der längste Aufschwung der Nachkriegszeit geworden ist. Er geht jetzt mit ungebrochener Dynamik ins neunte Jahr.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, heute können wir mit Stolz feststellen: Der Standort Deutschland zählt zu den ersten Adressen in der Welt, und die D-Mark gehört zu den gefragtesten und härtesten Währungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Am Arbeitsmarkt eilt die Beschäftigung boomartig von Rekord zu Rekord, zuletzt auf 28,5 Millionen. Meine Damen und Herren, was ist eigentlich übrig geblieben von Ihrem Katastrophengerede in der Vergangenheit?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Binnen Jahresfrist entstanden allein über 700 000 neue, zusätzliche Arbeitsplätze. Ein derart erfreuliches Ergebnis gab es in der Nachkriegszeit nur ein einziges Mal, im Jahre 1955. Das ist heute die Realität in Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Obwohl in den letzten 12 Monaten annähernd eine Million Aus- und Übersiedler in die Bundesrepublik gekommen sind, ist die Arbeitslosigkeit rückläufig. Kurzarbeit und Jugendarbeitslosigkeit, einst große Belastungen, sind nahezu verschwunden.
    Allein dieses Beispiel zeigt: Wir haben allen Grund, den Wiederaufbau zwischen Elbe und Oder mit Zuversicht anzugehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wann, wenn nicht jetzt, waren wir hierauf auf diesen Wiederaufbau zum vereinten Deutschland, zum Aufbauwerk für ganz Deutschland besser vorbereitet?
    Mit dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und dem Einigungsvertrag haben wir die entscheidenden Weichen für den Übergang zur Sozialen Marktwirtschaft gestellt. Wer sagt, dies alles sei zu schnell gegangen, der muß sich fragen lassen, wie er denn sonst den Menschen in der DDR eine neue Zukunft eröffnet hätte, wie er denn sonst den weiteren Zustrom Hunderttausender von Übersiedlern verhindert hätte.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich füge hinzu: Wer sagt, dies alles sei ihm viel zu
    schnell gegangen, der soll unseren Landsleuten in der



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    bisherigen DDR auch sagen, daß er die D-Mark noch eine Weile gern für sich allein behalten hätte

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

    und daß Solidarität nur langfristig und auf Raten zu haben sei.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

    Die Wahrheit ist — dies muß angesprochen werden — , daß wir, wenn wir die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli nicht eingeführt hätten, bis zum heutigen Tag ungefähr eine Million Übersiedler aus der DDR in der Bundesrepublik gehabt hätten

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    und daß diese Entwicklung zu katastrophalen Verwerfungen in der Gesellschaft der Bundesrepublik wie in jener DDR geführt hätte.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Nach über 40 Jahren, meine Damen und Herren, ist uns die geschichtliche Chance zur deutschen Einheit eröffnet worden — eine Chance, von der naturgemäß niemand wußte, wieviel Zeit uns zu ihrer Verwirklichung eingeräumt sein würde. In dieser historischen Situation haben wir gehandelt.
    Zur Wirklichkeit des Jahres 1990 gehört auch, daß der wirtschaftliche Neubeginn für viele Menschen einen tiefen Einschnitt bedeutet. Für viele — das zeigt auch die derzeitige Lage auf dem Arbeitsmarkt der bisherigen DDR — ist dies eine persönlich schwierige Phase. In zahlreichen Betrieben muß kurzgearbeitet werden. In vielen Familien wächst die Sorge um Arbeitsplatz und um Bewältigung des Alltags. Doch alle, die jetzt von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit betroffen sind, haben Anspruch auf Hilfe und Solidarität der Gemeinschaft. Unser bewährtes System der sozialen Sicherung bietet dafür Gewähr. Solidarität bedeutet für uns genauso, daß jungen Menschen, die die Schule verlassen, eine Zukunft eröffnet wird. Konkret heißt das, daß wir wie vor einigen Jahren in der Bundesrepublik alles tun müssen, daß sie so schnell wie möglich eine Lehrstelle erhalten können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deshalb haben Wirtschaft und Handwerk für das Gebiet der ehemaligen DDR eine neue Lehrstelleninitiative in Gang gebracht, die ich nachdrücklich unterstütze. Auch die Bundesregierung leistet hier mit rund 300 Millionen DM ihren Beitrag.
    Im übrigen, meine Damen und Herren, ist bereits jetzt zu erkennen: Nach gerade drei Monaten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist viel in Bewegung gekommen. So ist die Gründungswelle voll angelaufen. In diesem Jahr wurden schon knapp 170 000 Betriebe neu eröffnet, davon allein 40 % nach Einführung von D-Mark und Sozialer Marktwirtschaft. Banken, Handels- und Dienstleistungsunternehmen bauen flächendeckende Zweigstellennetze auf und schaffen Tausende von Arbeitsplätzen. Die
    Privatisierung, Sanierung und, wenn nötig, Stillegung der bisherigen Kombinate und Betriebe unter dem Dach der Treuhandanstalt kommen inzwischen gut voran. Auch die dringend notwendige Reorganisation der Treuhand-Außenstellen macht erkennbare Fortschritte.
    Ich möchte in diesem Zusammenhang denen, die sich unter vollem Einsatz ihrer Person für den Wiederaufbau der bisherigen DDR in Wirtschaft und Verwaltung engagieren, ein herzliches Wort des Dankes sagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich nenne bewußt stellvertretend für viele die Herren Rohwedder und Odewald an der Spitze der Treuhandanstalt.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Die Preise liegen entgegen manchen Befürchtungen deutlich niedriger als noch vor einem Jahr, und dies bei qualitativ erheblich verbessertem Warenangebot. Damit hat die Kaufkraft von Arbeitnehmern und Rentnern — auch nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank — binnen Jahresfrist spürbar zugenommen. Dies ist nicht zuletzt Ergebnis der reibungslosen Einführung der D-Mark in der bisherigen DDR. Hier hat die Deutsche Bundesbank hervorragende Arbeit geleistet. Ich danke Präsident Pöhl und allen seinen Mitarbeitern für diese Hilfe.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Meine Damen und Herren! Mit dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und mit dem Einigungsvertrag ist der Grundstein für Aufschwung und Wohlstand in ganz Deutschland gelegt. Wesentlich bleibt, daß wir auch unter den schwierigen Bedingungen des Übergangs, der Umstrukturierung und der Neuorientierung an dem festhalten, was sich durch 40 Jahre bewährt hat: an einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Chancen für Leistung und Engagement eröffnet und die zugleich dort Hilfe und Unterstützung gewährt, wo die eigene Kraft nicht ausreicht.
    Seien wir uns darüber im klaren: Wie wir mit dieser historischen Herausforderung fertig werden, wird auch jenseits unserer Grenzen aufmerksam verfolgt. Das Ergebnis unserer Anstrengungen wird die wirtschaftliche und die politische Position Deutschlands in der ganzen Welt maßgeblich bestimmen.
    Deswegen war es von Anfang an unser Bestreben, die inneren und äußeren Aspekte unseres Weges zur Einheit so eng wie möglich miteinander zu verknüpfen. Für uns gilt weiterhin: Deutschland ist unser Vaterland, das vereinte Europa unsere Zukunft.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Uns war stets bewußt, daß der Weg der Deutschen zur staatlichen Einheit bei vielen Menschen in Europa und auch anderswo Fragen ausgelöst hat, bei nicht wenigen sogar Unbehagen, ja Befürchtungen. Wir verstehen, ja wir achten diese Gefühle. Aber wir dür-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    fen in diesem Zusammenhang auch an 40 Jahre stabiler rechtsstaatlicher Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland erinnern.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die kommenden Jahre werden zeigen, daß das vereinte Deutschland für ganz Europa einen Gewinn bedeutet. Wir haben um so mehr Grund zur Zuversicht, als bereits die Zwei-plus-Vier-Gespräche über die äußeren Aspekte der Einheit von bemerkenswertem gegenseitigem Vertrauen geprägt waren. Anfang dieser Woche haben wir das Ergebnis dieser Gespräche, den Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, der KSZE-Außenministerkonferenz in New York vorgestellt. Das erste gesamtdeutsche Parlament — Sie, meine Damen und Herren — ist nunmehr aufgerufen, diesem wahrhaft historischen Vertrag seine Zustimmung zu geben.
    Im Inneren wie nach außen wollen wir gute Nachbarn sein. Deutsche Sonderwege oder nationalistische Alleingänge wird es auch in Zukunft nicht geben. Wir wollen — getreu der Präambel unserer Verfassung — als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen. Dieser Auftrag verkörpert unser Verständnis von Souveränität. Wir sind bereit, sie im Sinne unserer Verfassung mit anderen zu teilen: Unser Grundgesetz weist uns den Weg, Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschland auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen und uns — unter Beschränkung unserer Hoheitsrechte — in Systeme kollektiver Sicherheit einzuordnen.
    Wir stehen unwiderruflich zu unserem Bündnis, zur Solidarität und zur Wertegemeinschaft mit den freiheitlichen Demokratien des Westens, ganz besonders mit den Vereinigten Staaten von Amerika.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Wir wollen mit Nachdruck daran mitarbeiten, die zukunftsweisenden Beschlüsse der Atlantischen Allianz umzusetzen: das Gesamtkonzept der Abrüstung und Rüstungskontrolle von 1989 und die Londoner Gipfelerklärung vom Juli dieses Jahres.
    Wir arbeiten mit an der Neugestaltung von Strategie und Struktur unseres Bündnisses. Wir prüfen — innerhalb der NATO wie auch innerhalb der WEU —, wie wir gemeinsam mit unseren Verbündeten neuen Gefährdungen unserer Sicherheit, insbesondere aus Krisenregionen, solidarisch und noch wirksamer begegnen können.
    Deutschland und Europa brauchen auch in Zukunft die partnerschaftliche und freundschaftliche Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und Kanada. Wir wollen dies in einer Transatlantischen Erklärung bekräftigen und auf eine noch breitere Grundlage stellen. Die nordamerikanischen Demokratien müssen auf dreifache Weise in Europa verankert sein: durch die Atlantische Allianz, durch eine immer enger werdende Zusammenarbeit mit der EG und durch ihr Mitwirken am KSZE-Prozeß.
    Meine Damen und Herren, auf der Tagesordnung der kommenden Jahre stehen die Schaffung einer Europäischen Union und die Gestaltung einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Die Vollendung
    der deutschen Einheit erweist sich als eine große, ich möchte sagen: als d i e Chance, das Werk der europäischen Einigung zu beschleunigen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

    Vor wenigen Tagen haben Präsident Mitterrand und ich in München erneut bekräftigt, daß Frankreich und Deutschland auch künftig Motor der europäischen Einigung sein werden und daß wir gemeinsam die europäische Friedensordnung mitgestalten wollen. Auch in diesem Zusammenwirken kommt zum Ausdruck, welch existentielle Bedeutung wir der Partnerschaft zwischen Frankreich und dem vereinten Deutschland beimessen. Sie war schon in den letzten Jahrzehnten von entscheidender Bedeutung. Sie wird in der vor uns liegenden Phase wichtigster Entscheidungen noch bedeutsamer. Deswegen ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich für uns — ich sage es noch einmal — von existentieller Bedeutung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Auf unsere gemeinsame Initiative werden noch in diesem Jahr, in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der italienischen Präsidentschaft, die Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion und über die Politische Union eröffnet werden. Diese Integrationsschritte sind unerläßlich, damit die Europäische Gemeinschaft ihrer wachsenden politischen und wirtschaftlichen Rolle und Gesamtverantwortung gerecht werden kann.
    Meine Damen und Herren, die Europäische Union, die wir anstreben, soll ein festes Fundament für das Zusammenwachsen ganz Europas sein und dessen Kern bilden. Mit Frankreich sind wir entschlossen, uns für die Schaffung einer europäischen Konföderation einzusetzen, in der alle Staaten unseres Kontinentes gleichberechtigt zusammenarbeiten. Aber es darf kein Zweifel entstehen: Wir wollen die politische Union in Europa; wir wollen nicht eine gehobene Freihandelszone in Europa, sondern die politische Einigung Europas im Sinne der Römischen Verträge.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

    Wir im vereinten Deutschland sind uns der Tatsache bewußt, daß der Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die KSZE, einen wichtigen Beitrag geleistet hat, die trennenden Gräben auf unserem Kontinent zu überwinden.
    Wir wollen den Ausbau der KSZE weiter nach Kräften unterstützen. Dabei geht es uns vor allem um einen weiter verbesserten Schutz der Menschen- und Bürgerrechte. Wir wollen auch den Schritt zu ständigen Institutionen gehen. Im Mittelpunkt unseres Interesses steht jetzt ein Konfliktverhütungszentrum. Die im kommenden Monat anstehende Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der 34 KSZE-Staaten soll in all diesen Fragen die Weichen stellen.
    Ebenso wollen wir, daß sich in Paris die Mitgliedstaaten von NATO und Warschauer Pakt in einer Gemeinsamen Erklärung die Hand zur Freundschaft und zu einer jetzt möglichen neuen Partnerschaft rei-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    chen. Wir hoffen, daß danach alle übrigen KSZE-Partner mit uns einen solchen Gewaltverzicht feierlich bekräftigen. In alledem, meine Damen und Herren, sehen wir Bausteine für übergreifende Strukturen der Sicherheit und Zusammenarbeit in ganz Europa.
    Das Ziel meiner ersten Regierungserklärung vor jetzt gerade acht Jahren — „Frieden schaffen mit weniger Waffen" — wird auch Richtschnur der von mir geführten gesamtdeutschen Bundesregierung sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    In den letzten Jahren konnten großartige Erfolge erzielt werden, die in der Geschichte von Abrüstung und Rüstungskontrolle ohne Beispiel sind. Die Bundesregierung hat sie maßgeblich mitgestaltet:
    Fast alle nuklearen Mittelstreckenraketen, die in unserem Lande standen, sind bereits verschrottet, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wer erinnert sich in diesem Augenblick nicht an die Debatten im Jahre 1983, als beschwörend von Kriegsgefahr die Rede war, um bei den Menschen Angst zu erzeugen? „Frieden schaffen mit weniger Waffen" : Dies ist die Politik, die sich durchgesetzt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von den GRÜNEN)

    Vor wenigen Tagen sind die letzten amerikanischen Chemiewaffen von deutschem Boden abgezogen worden,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    allen Behauptungen jener zum Trotz, die den Menschen jahrelang eingeredet haben, die Zusagen der Amerikaner würden nie eingelöst. Ich danke Präsident Bush für den Abzug dieser Waffen, und ich danke zugleich Präsident Ronald Reagan für die Zusage, die er damals gegeben hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, alle diese Erfahrungen ermutigen uns, auf weitere Fortschritte zu drängen.

    (Zurufe von den GRÜNEN)

    — Meine Damen und Herren, lassen Sie sie ruhig schreien, lassen Sie sie ruhig protestieren! Nicht ihr Protest, sondern unsere Politik hat zum Abzug dieser Waffen geführt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich wiederhole: Die Erfahrungen der letzen Jahre ermutigen uns, jetzt energisch auf weitere Fortschritte zu drängen. Ich nenne vor allem die Wiener Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa. Ein erstes Abkommen über die konventionelle Abrüstung in Europa wird bald fertiggestellt und beim KSZE-Gipfel im November unterzeichnet werden.
    Unmittelbar danach werden die Wiener Verhandlungen fortgesetzt. Deutschland — das dürfen wir mit Stolz sagen — hat hierzu Schrittmacherdienste geleistet: Wir haben uns am 30. August 1990 vor dem Wiener Verhandlungsforum verpflichtet, die Streitkräfte des vereinten Deutschland innerhalb von drei bis vier Jahren auf die Zahl von 370 000 Mann zu vermindern.
    Wir gehen davon aus, daß in Folgeverhandlungen auch die anderen Teilnehmer ihren Beitrag zur Festigung von Sicherheit und Stabilität in Europa — einschließlich Maßnahmen zur Begrenzung der Personalstärken — leisten werden.
    Die Bundesregierung setzt sich gemeinsam mit ihren Bündnispartnern auch auf den anderen Feldern der Abrüstung und Rüstungskontrolle energisch für Fortschritte ein. Dies gilt insbesondere für ein weltweites Verbot chemischer Waffen sowie für die Reduzierung der Zahl strategischer Nuklearwaffen und nuklearer Systeme kürzerer Reichweite der Sowjetunion und der USA.
    Ich habe eingangs dankbar gewürdigt, daß die tiefgreifenden Veränderungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa unseren Weg zur deutschen Einheit wesentlich gefördert haben. Wir haben diese Reformprozesse von Anfang an nach besten Kräften gefördert und unterstützt.
    Eine Schlüsselrolle spielt die umfassende Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in gesamteuropäischer Verantwortung. Bei den Gesprächen im letzten Jahr in Bonn und vor wenigen Monaten im Kaukasus haben Präsident Gorbatschow und ich die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die deutsch-sowjetischen Beziehungen jetzt auf eine qualitativ neue Stufe gehoben werden.
    Ich bin mir mit Präsident Gorbatschow darin einig, daß die Deutschen und die Völker der Sowjetunion jetzt einen Schlußstrich unter die leidvollen Kapitel der Geschichte ziehen und an ihre guten Traditionen anknüpfen sollten. Wir wollen durch ein solches Werk der Verständigung und Versöhnung auch einen Beitrag zum Zusammenwachsen Europas leisten.
    Diesem Ziel dient der jetzt fertig verhandelte Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit. Ich freue mich, daß Präsident Gorbatschow nach Deutschland kommen wird, um gemeinsam mit mir diesen wegweisenden Vertrag zu unterzeichnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    In diesen Zusammenhang gehört auch der vollständige Abzug sowjetischer Truppen vom deutschen Territorium bis Ende 1994.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    50 Jahre nachdem sowjetische Soldaten das damalige Reichsgebiet erreicht haben, ziehen die sowjetischen Soldaten jetzt ab. Wir wissen, was das für uns alle bedeutet.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Gerade die sowjetischen Soldaten und ihre Familien sollen wissen: Wir sind bereit, ihre Rückkehr in die Heimat, etwa im Bereich des Wohnungsbaus, zu erleichtern und ihnen zu helfen.
    Meine Damen und Herren, ein vergleichbares Friedenswerk gesamteuropäischen Ranges haben wir uns auch mit der Republik Polen vorgenommen. Wir wissen alle um die schwere Last der Geschichte dieses
    18028 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228, Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Jahrhunderts. Aber in der Geschichte beider Völker gibt es viele gute Kapitel, an die wir heute anknüpfen können. Ich denke, die Zeit ist jetzt reif für eine dauerhafte Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk.

    (Beifall im ganzen Hause)

    Wir wollen die deutsch-polnischen Beziehungen der Zukunft auf festen Fundamenten errichten. Nach den Entschließungen des Deutschen Bundestags und der damaligen Volkskammer vom 21. Juni dieses Jahres kann an unserer Bereitschaft zu einer endgültigen und völkerrechtlich verbindlichen Bestätigung der bestehenden Grenze kein Zweifel bestehen. Dies haben wir auch im Zwei-plus-Vier-Vertrag ausdrücklich zugesagt.
    Die gemeinsame Erklärung, die Ministerpräsident Mazowiecki und ich im November vergangenen Jahres unterzeichnet haben, bedeutete einen Neuanfang im Zeichen der Verständigung und der Aussöhnung. Darin eingeschlossen sind wichtige Zusagen zur Achtung der Minderheitenrechte, auf die wir besonderen Wert legen. Ich werde mich in dieser Sache sehr persönlich engagieren.
    Mit freundschaftlichem Rat und mit hilfreicher Tat werden wir auch weiterhin den Reformweg Ungarns begleiten. Diese Bereitschaft gilt ebenso für die CSFR. Die Bundesregierung ist entschlossen, in diesen Ländern auch einen Schwerpunkt ihrer auswärtigen Kulturpolitik zu setzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Becker [Nienberge] [SPD])

    Den Reformstaaten Mittelost- und Südosteuropas insgesamt gilt unser Angebot, sie durch eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Assoziierung möglichst bald und eng an die Europäische Gemeinschaft heranzuführen.
    Meine Damen und Herren, die Entwicklungen in Europa und unsere Verpflichtungen auf diesem Kontinent lassen uns zu keinem Zeitpunkt vergessen, welche Konflikte, welche Sorgen, welche Probleme die Menschen in anderen Teilen der Welt bedrängen. Unter Hunger, Armut, Not und Überbevölkerung leiden viele Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Überschuldung untergräbt ihre politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität. Wir werden auch künftig Menschen in Not solidarisch helfen.
    Die Achtung der Menschenrechte sowie eine freiheitlich-soziale Ordnung in Staat und Wirtschaft sind die besten Voraussetzungen für politische Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung. Diese Erkenntnis setzt sich mehr und mehr durch. Wir begrüßen das sehr, und wir wollen insbesondere dort, wo die entsprechenden Reformen eingeleitet werden, die notwendige Hilfe zur Selbsthilfe leisten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle sind uns bewußt: Dem vereinten Deutschland wächst eine größere Verantwortung in der Völkergemeinschaft zu, nicht zuletzt für die Wahrung des Weltfriedens. Wir werden dieser Verantwortung sowohl im Rahmen der Vereinten Nationen, der Europäischen Gemeinschaft und der Atlantischen Allianz als auch in
    unserem Verhältnis zu einzelnen Ländern gerecht werden. Wir wollen dafür bald klare verfassungsrechtliche Voraussetzungen schaffen.
    Wir verurteilen aufs schärfste die irakische Aggression gegen Kuwait,

    (Beifall im ganzen Hause)

    dessen Annexion und die völkerrechtswidrige Verschleppung ausländischer, darunter auch deutscher Bürger. Dies ist eine Herausforderung für die Völkergemeinschaft und für die Vereinten Nationen. Es ist zugleich ein Testfall für die gemeinsame Entschlossenheit. Die Bundesregierung unterstützt eine Lösung der Krise, die den Entschließungen des Sicherheitsrates in vollem Umfang Rechnung trägt. Wir haben unseren Beitrag zur internationalen Solidarität geleistet, und wir sind sicher, daß ein weiterer Beitrag in nächster Zukunft, im neuen Jahr, fällig sein wird.

    (Zurufe von den GRÜNEN)

    Die Bundesregierung wird ebenso aktiv an der Lösung der globalen Menschheitsprobleme mitwirken:
    Die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit müssen auch für kommende Generationen erhalten werden. Dem Schutz der tropischen Regenwälder gilt unsere besondere Aufmerksamkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Heuchler!)

    Ich hoffe sehr, daß das, was wir auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Housten vor einigen Monaten beschlossen haben, noch bis zum nächsten Gipfel Wirklichkeit wird: in neuen Verhandlungen mit der Regierung Brasiliens zu erreichen, daß die dort vorhandenen Bestände an tropischen Regenwäldern für die Zukunft gesichert werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Wir wollen den Teufelskreis von Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung durchbrechen helfen.

    (Zurufe von den GRÜNEN)

    Wir werden den Kampf gegen Drogen, gegen Seuchen sowie gegen den internationalen Terrorismus verschärfen.
    Die weltweite Stärkung des Schutzes der Menschenrechte, auch und gerade der Rechte nationaler, ethnischer und religiöser Minderheiten, ist und bleibt eine wichtige Aufgabe unserer Außenpolitik. Vor dem Hintergrund der Geschichte unseres Jahrhunderts wollen wir helfen, Flüchtlingsströmen in aller Welt vorzubeugen und den Menschen in ihrer angestammten Heimat ein Leben in Recht und Würde zu sichern.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Bei allem, was wir jetzt auch im Bereich der Asyl- und der Ausländerpolitik noch zu tun haben, müssen wir wissen: In einem Europa der offenen Grenzen, in einer Welt, die immer enger zusammenwächst, müs-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    sen wir die Ursachen der Flüchtlingsströme bekämpfen, — dort, wo sie entstehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Im ersten Artikel unseres Grundgesetzes bekennt sich „Das Deutsche Volk ... zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" . Dies ist der entscheidende moralische Antrieb für die Politik des vereinten Deutschland.
    Heute, meine Damen und Herren, können wir der jungen Generation in Deutschland und Europa, der Generation unserer Kinder und Enkel, sagen: Ihr habt alle Chancen auf ein Leben in Frieden und Freiheit. Ihr habt alle Chancen, euer Leben nach eigener Vorstellungen zu gestalten, in Familie und Beruf persönliches Glück zu finden.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Eigene Anstrengungen sind dabei gefordert, das ist wahr. Aber wann je, meine Damen und Herren, konnte eine junge Generation in Deutschland mit mehr Grund zu Hoffnung und Zuversicht nach vorne blicken?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich glaube, es lohnt sich mehr denn je, an der Gestaltung dieser Zukunft Deutschlands und der Zukunft Europas mitzuwirken. Die gesamtdeutsche Regierung der Bundesrepublik Deutschland wird ihren Beitrag dazu leisten. Bei allem, was uns im einzelnen trennen mag, darf ich uns gemeinsam einladen, an diesem großen Werk mitzuwirken.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Willy Brandt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Der eine oder andere, der dieser Tage den Reden aus Berlin zuhörte, mag gefragt haben, ob nicht für eine Weile der großen Worte genug gewechselt seien.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

    — Das bezog sich jetzt nicht auf die Erklärung des Bundeskanzlers.

    (Heiterkeit bei der SPD — Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

    Ich meine vielmehr: Es ist wohl in der Tat der neue Alltag, der mit dieser Sitzung des erweiterten Bundestages beginnt. Das will nicht heißen, daß wir den 3. Oktober routinemäßig abhaken könnten. Wie könnten wir!
    Die große Freude darüber, daß willkürliche Teilung im Zeichen von Selbstbestimmung ihr Ende gefunden hat, mischt sich allerdings mit der sorgenvollen Frage,
    ob wir mit der konkreten Untermauerung der Einheit gut und rasch genug fertigwerden. Daß die Einheit zum Nulltarif zu erhalten wäre, hat keinen Glauben gefunden. Was der Herr Bundespräsident gestern hierzu beim Staatsakt ausführte, war aus meiner Sicht viel überzeugender als das meiste, was bisher von Regierungsseite zu hören war.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Der Bundeskanzler hat heute von materiellen Opfern gesprochen. Das war an der Zeit. Aber welche Fehleinschätzung wird hiermit korrigiert! Und wer soll was tragen? Das muß noch geklärt werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Bundeskanzler, verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit wir uns nicht mißverstehen: Ich setze natürlich darauf, daß wir es schaffen werden. Die wirtschaftliche Aufforstung und die soziale Absicherung liegen nicht außerhalb unseres Leistungsvermögens.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS)

    Die Überbrückung geistig-kultureller Hemmschwellen und seelischer Barrieren mag schwieriger sein. Aber mit Takt und mit Respekt vor dem Selbstgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, daß ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Der saarländische Ministerpräsident und sozialdemokratische Kanzlerkandidat, mein Freund Oskar Lafontaine,

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD — OhRufe bei der CDU/CSU)

    wird sich im Verlauf der Debatte im besonderen mit der inneren Ausgestaltung des gemeinsamen deutschen Hauses befassen. Wolfgang Thierse, bis zur letzten Woche Vorsitzender der erneuerten Sozialdemokratie in der DDR, wird in einer weiteren Runde das Wort nehmen. Es kommt — lassen Sie mich das sagen — entscheidend darauf an, daß Solidarität, von der in den Reden dieser Tage viel die Rede war, heruntergeholt wird vom Podest der Festredner.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS)

    In der modernen Demokratie muß Solidarität verstanden werden als Verpflichtung der Stärkeren gegenüber den Schwächeren.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS)

    Hieran wird man uns messen, gewiß auch an unserer Fähigkeit, über den nationalen Tellerrand hinauszublicken.

    (Zuruf von der FDP: Oskar sagen!)

    Wer, Herr Bundeskanzler, wollte Ihnen nun das Glück mißgönnen, dessen Sie teilhaftig wurden,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Oskar!)




    Brandt
    als eine grundlegend veränderte außenpolitische Lage Chancen bot, die vorher nicht gegeben waren? Die Früchte von Ost-West-Entspannung und europäischer Umwälzung ernten zu können, ist nicht das Schlechteste, was einer Regierung widerfahren kann.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

    Wie es weitergeht, ist nicht notwendigerweise dieselbe Sache, aber es ist jedenfalls unser aller Sache.
    Jedenfalls auch die Sozialdemokraten wissen die Arbeit zu würdigen, die in diesen Monaten in Bonn und in Berlin für Deutschland geleistet wurde. Da hätte man sich manchmal gewünscht, solider fachlicher Rat würde stärker einbezogen werden,

    (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist wahr!)

    und parteipolitisches Kalkül wäre außer Betracht geblieben.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS — Lachen und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Der objektive Zwang — seien Sie vorsichtig, jetzt — zu breiten Mehrheiten hätte sich auch früher als beim zweiten Staatsvertrag erkennen lassen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS)

    Alle, die als Mitarbeiter der Regierung — oder soll ich sagen: der Regierungen? — ihre Pflicht getan haben und manchmal mehr als diese, können unserer Anerkennung gewiß sein.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Dies gilt — gestatten Sie mir den Zusatz — ganz besonders für die überaus kundige internationale Absicherung der deutschen Einheit in Europa.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Dies ist eine Zeit, meine Damen und Herren, in der öffentliche Verantwortung großgeschrieben werden muß. Allein schafft der Markt es nicht. Konzertierte Aktion ist geboten im Interesse von wirtschaftlicher Entfaltung und gesellschaftlicher Stabilität.
    Die Gesetze der parlamentarischen Demokratie treten freilich angesichts ungewöhnlicher Aufgaben nicht außer Kraft. Demokratie bleibt nun einmal ein Wagnis, das Zeit und Mühen in Anspruch nimmt und sich letztlich doch immer lohnt. Alle Vermutung spricht dafür, daß wir, wer immer künftig Mehrheit oder Minderheit sein mag, mehr aufeinander angewiesen sein werden, als es viele bislang vermuteten. Ich spreche von „Verantwortung", nicht von „Koalition".

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Bei allem notwendigen Streit der Meinungen gilt es, das Notwendige zu tun, wo Gesamtinteressen von Staat und Volk auf dem Spiel stehen.
    Aus meiner Sicht gilt dies nicht nur für die außenpolitischen Rahmenbedingungen, sondern eben auch für Arbeitsplätze, Infrastruktur und zumal für die ökologische Entseuchung, für kulturelles Erbe, für das Zusammenführen der jungen Generation auf beiden Seiten der bisherigen Trennungslinie.
    Einen herzlichen Willkommensgruß möchte auch ich den Kolleginnen und Kollegen entbieten, die die frei gewählte Volkskammer in diesen erweiterten Bundestag entsandte. Ich grüße Sie nicht nur als ältestes Mitglied dieses Hauses, was kein besonderes Verdienst ist, sondern als einer, der sich im September 1949 und der Folgezeit in einer vergleichbaren Situation des Entsandtworden-Seins, damals von Berlin nach Bonn, befand.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Die Mitwirkung der Berliner blieb damals — bis vor Monaten übrigens — beschränkt, aber die lebendige Verbindung zwischen Rhein und Spree blieb über die Jahre hinweg wach und wurde ausgebaut. Ohne das schützende Dach der Alliierten hätten wir uns jedoch weder in Berlin behaupten noch die staatliche Einheit erlangen können.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der PDS und der Abg. Frau Garbe [GRÜNE])

    Ich habe an manche kritische bis akut friedensgefährdende Situation denken müssen, als sich vorgestern die Kommandanten der drei Westmächte als Träger der obersten Gewalt verabschiedeten. Machen wir uns nichts vor, verehrte Damen und Herren, der Weg von Deutschland nach Deutschland wäre verbaut gewesen, hätte Berlin nicht standgehalten.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Dann war es ja auch hier in Berlin, wo wir die Politik der kleinen Schritte entwickelten, von der wir nach einigen Mühen auch andere überzeugen konnten.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Es ging nie um Anerkennung der Teilung,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na!)

    geschweige denn der Mauer, sondern es ging um zunächst noch so kleine Erleichterungen für die Menschen,

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    weil wir überzeugt waren, daß die Nation in ihrem Bestand gefährdet sein würde, sollten die Familien und die Volksteile auseinanderdriften. Aus den kleinen Schritten wurde die Ost-Politik mit dem Bemühen, Spannungen abzubauen, Zusammenarbeit zu fördern, gemeinsamer Sicherheit den Weg zu ebnen. Alle Schritte, besonders die des gesamteuropäischen Vorhabens von Helsinki 1975 — wie umstritten war das doch, und es ist gut, daß wir jetzt alle dafür sind —,

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der GRÜNEN)




    Brandt
    all dies zielte darauf ab, die Teilung Berlins und Deutschlands und Europas überwinden zu helfen, ohne bewährte Freundschaften aufs Spiel zu setzen. So hielten wir es in den Regierungen der sozialliberalen Koalition.
    Das wird ja auch kaum noch in Zweifel gezogen, und dabei hatte und hat — ich weiß das wohl — keiner von uns letzte Wahrheiten gepachtet. Auch Bundeskanzler Kohls Entourage wird bewußt sein, daß es keinen Sinn ergibt, wichtige Kapitel der zurückliegenden Jahren ausblenden zu wollen. In gewisser Hinsicht sind wir, wenn ich es recht sehe, in der Politik für Deutschland alle eher Stafettenläufer denn Einzelkämpfer.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wer war schon ganz sicher, Herr Bundeskanzler, in der Beurteilung des Wandels in der Sowjetunion und hinsichtlich dessen, was Gorbatschow darstellte und bedeuten würde?

    (Heiterkeit und Zustimmung bei der SPD)

    Wo es um vertragliche Regelungen geht, haben eben einige etwas früher begonnen als andere. Das ist das Normale, was sich im Leben vollzieht.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Daß wir ein Volk der guten Nachbarn im Innern und nach außen sein wollen, Herr Bundeskanzler, habe ich natürlich gern gehört. Wortgleich stand es so in meiner Regierungserklärung vom Herbst 1969.

    (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Lassen Sie mich aus meiner Sicht nur noch dreierlei hinzufügen.
    Erstens. Mit dem Bekenntnis zu Berlin als der bloß symbolischen Hauptstadt kann es nicht sein Bewenden haben.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Zweitens. Die rechtsstaatliche Bereinigung des Regimes der SED und ihrer Blockparteien, zumal des elenden Kapitels Stasi, muß zügig vorankommen, aber bitte, bitte, bitte nicht als fundamentalistische Verfolgungsjagd.

    (Beifall bei der SPD, der FDP und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Die Seilschaften der alten Kameraden an der Spitze großer Unternehmen müssen aufgebrochen werden.

    (Beifall im ganzen Haus)

    Was im übrigen in der Regierungserklärung über die Kraft zur Aussöhnung gesagt wurde, findet meine — ich bin sicher, auch die meiner politischen Freundinnen und Freunde in diesem Haus — Zustimmung.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Drittens. Die Gesamtheit der Staats- und Wahlbürger sollte in die Entscheidung über die verfassungsmäßige Grundlage unserer gemeinsamen staatlichen Existenz einbezogen werden,

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der GRÜNEN und der PDS)

    d. h., wenn es soweit ist: Volksabstimmung über das bereinigte und ergänzte Grundgesetz.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Auf dem Weg dahin sollten wir nicht die Kraft mißachten, die in den Verfassungsentwurf der sonst so gelobten Träger der friedlichen Umwälzung eingeflossen ist.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Dies konnten nicht nur Tage überschäumender Freude sein. Man hatte die Sorgen vieler Landsleute im Kopf. Zugleich wurde man den Gedanken daran nicht los, daß eine unserem Kontinent benachbarte Region im Zustand akuter Kriegsgefahr lebt und daß das Elend in weiten Teilen der Welt eher noch zunimmt. Das sollten zusätzliche Gründe sein, mit dabei zu helfen, daß aus den Vereinten Nationen ein wirksames Instrument der Friedenssicherung und produktiver weltweiter Zusammenarbeit werden kann.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS)

    Damit es keine Mißverständnisse gibt: Ich bin nicht dafür, daß wir die Einheit Deutschlands durch Militärexpeditionen untermalen.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der PDS)

    Es gibt andere Wege, auf denen wir uns hilfreich erweisen können, und sei es zunächst nur dadurch, daß wir der Schande der doppeldeutschen Waffenexporte ein Ende bereiten.

    (Beifall im ganzen Haus)

    Aus der russischen bzw. sowjetischen Entwicklung können sich erhebliche Unsicherheiten ergeben. Das Verhältnis zu den sowjetischen Soldaten — Sie sprachen es soeben an, Herr Bundeskanzler — und unsere Hilfe für ihre Heimreise werden gerade vor diesem Hintergrund zu einem Beispiel künftiger Beziehungen werden können.
    Es gilt natürlich, die Erkenntnis lebendig zu erhalten, daß wir ohne die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa nicht dorthin gelangt wären, wo wir heute sind. Helsinki hat lange — lange und gute — Schatten geworfen. Zum anderen ist es wichtig, fest im Gedächtnis zu bewahren, was die schrecklichen Verbrechen der erst ein paar Generationen zurückliegenden Zeit mit der Vernichtung von Millionen deutscher und europäischer Juden als einer immer noch kaum faßbaren Steigerung von Perversion wirklich bedeuteten, — nicht nur im Gedächtnis zu behalten, sondern aus dem Wachhalten die Erinnerung immer wieder abzuleiten. Ähnliches darf sich nie wiederholen, und da sind wir uns in diesem Haus Gott sei Dank einig.

    (Beifall im ganzen Haus)

    Von rassistischen — das ist noch eine Stufe darunter — Rückfällen muß Deutschland mit allen Mitteln — ich sage bewußt: mit allen Mitteln — freigehalten werden. Und: Minderheiten müssen sich bei uns wohl fühlen können.

    (Beifall im ganzen Haus)




    Brandt
    Herr Bundeskanzler, wir schätzen Ihre Würdigung — gerade an dieser Stelle, im Wallot-Bau — des deutschen Widerstands gegen die Tyrannei. Sie haben sich dazu parteiübergreifend geäußert und wollen dies gewiß nicht nur auf die Vergangenheit bezogen wissen.
    Zu Recht haben Sie gesagt, wir müßten uns allen Seiten der eigenen Geschichte stellen. Dem stimme ich um so leichter zu, als es mich noch einmal an eigene Regierungserklärungen erinnert. Es ist in der Tat so: Man kann keine dieser Seiten herausreißen oder einfach wegtun.
    Wie neu wird nun — wird man von wohlmeinenden Ausländern gefragt — das neue Deutschland sein? Meine Antwort: Nichts wird wieder so werden, wie es einmal war. Nein, dies wird kein Nationalstaat alter Prägung, sondern dies wird eine Republik, die bundesstaatlich aufgebaut ist, und eine Republik, die hieraus und aus der kommunalen Selbstverwaltung Kraft schöpfen kann; eine Republik, die international festgelegte Grenzen hat — wie hat sich unsereins dafür ins Zeug legen müssen —,

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Wetzel [GRÜNE])

    eine Republik, die schon in ihrer bisherigen Form europäisch eingebettet war und in ihrer erweiterten Gestalt erheblichen Anteil an den Prozessen der europäischen Einigung haben wird.
    Ich halte nichts von großmäuligem Gerede über eine deutsche Weltmachtrolle. Aber: An europäischen Initiativen auch nach außen mitzuwirken, das ist möglich. Und es ist notwendig, auch verhindern zu helfen, daß Europa neu auseinanderdriftet. Mauern des Mißtrauens und der Abschottung dürfen weder an die Oder und Neiße noch an den Bug verlegt werden.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Noch einmal: Das Gebot der Solidarität der Stärkeren gegenüber den Schwächeren muß die vor uns liegenden gesamteuropäischen Prozesse prägen. Das hat auch zu gelten für unsere Haltung zum Nord-SüdThema einschließlich der weltweiten Umweltgefahren. Es muß möglich sein, einen Teil der durch Rüstungsabbau frei werdenden Mittel umzulenken.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Aus meiner Sicht und der meiner politischen Freunde gilt erstens: die EG ausbauen, wie es vereinbart ist. Zweitens: Gesamteuropa schaffen helfen. Drittens: die sich abzeichnende europäische Friedensordnung verwirklichen. Viertens: die bettelarmen Völker, die Verdammten dieser Erde, ebensowenig vergessen wie die globalen Umweltgefahren.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Fünftens: aus den Vereinten Nationen mehr machen, als sie bisher waren.
    Ich wünsche uns, meine Kolleginnen und Kollegen, fruchtbare Auseinandersetzungen. Vor allem aber
    wünsche ich uns miteinander Erfolg in der Arbeit für die Menschen, die wir hier zu vertreten haben.

    (Beifall im ganzen Hause)