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ID1122802300

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/228 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 228. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 Inhalt: Präsidentin Dr. Süssmuth 18015A Verzicht des Abg. Porzner auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag 18017 B Eintritt des Abg. Weinhofer in den Deutschen Bundestag 18017 B Erweiterung der Tagesordnung 18017 B Tagesordnungspunkt 1: Eidesleistung von Bundesministern Präsidentin Dr. Süssmuth 18017 D Frau Dr. Bergmann-Pohl, Bundesministerin für besondere Aufgaben 18018A de Maizière, Bundesminister für besondere Aufgaben 18018A Dr. Krause, Bundesminister für besondere Aufgaben 18018B Dr. Ortleb, Bundesminister für besondere Aufgaben 18018B Dr. Walther, Bundesminister für besondere Aufgaben 18018 C Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Politik der ersten gesamtdeutschen Bundesregierung Dr. Kohl, Bundeskanzler 18018D Brandt SPD 18029 B Dr. Dregger CDU/CSU 18032 C Dr. Knabe GRÜNE 18033 B Dr. Ullmann GRÜNE 18036 A Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes 18037 D Stratmann-Mertens GRÜNE 18040 B Dr. Hirsch FDP 18041 A Dr. Gysi PDS 18043 A Wetzel GRÜNE 18044 B Stratmann-Mertens GRÜNE 18045 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 18046A Dr. Bötsch CDU/CSU 18053 A Dr. Klejdzinski SPD 18054 B Thierse SPD 18055 C Dr. Elmer SPD 18056 C Dr. Lammert CDU/CSU 18056 D Frau Dr. Vollmer GRÜNE 18058A Dr. Wieczoreck (Auerbach) CDU/CSU 18060A Frau Unruh fraktionslos 18061 D Wüppesahl fraktionslos 18063 B Zusatztagesordnungspunkt 1: Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Anzahl der Mitglieder des Präsidiums des Deutschen Bundestages Frau Birthler GRÜNE 18065 C Bohl CDU/CSU 18066 A Jahn (Marburg) SPD 18066 C Wolfgramm (Göttingen) FDP 18067 A Frau Birthler GRÜNE 18067 C Dr. Steinitz PDS 18067 D Wüppesahl fraktionslos 18068A, D II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes sowie zur Änderung des Parteiengesetzes (Drucksache 11/8023) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksache 11/8033) Dr. Schäuble, Bundesminister BMI 18070B Bernrath SPD 18071 B Frau Birthler GRÜNE 18071 D Lüder FDP 18072 D Dr. Knabe GRÜNE 18073 B Jahn (Marburg) SPD 18073 C Häfner GRÜNE 18074 B Dr. Heuer PDS 18076 B Gerster (Mainz) CDU/CSU 18077A, 18079 C Stahl (Kempen) SPD 18077 D Reddemann CDU/CSU 18078 A Westphal SPD 18079 A Wüppesahl fraktionslos 18079D, 18080D Frau Unruh fraktionslos 18080 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. September 1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland (Drucksache 11/8024) 18081 A Nächste Sitzung 18081 C Berichtigung 18081 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 18083 A Anlage 2 Liste der Abgeordneten, in deren Namen der Abgeordnete Conradi eine mündliche Erklärung nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertragsgesetz — (Drucksachen 11/7760, 11/7817, 11/7831, 11/7841, 11/7920, 11/7931, 11/7932) abgegeben hat 18083* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18015 228. Sitzung Berlin, den 4. Oktober 1990 Beginn: 10.00 Uhr
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    Berichtigung 225. Sitzung, Seite 17797 * C, Zeile 17: Statt „.. 2-39 Jahre. " ist „... 12-39 Jahre." zu lesen. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18083* Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 05. 10. 90 * Büchner (Speyer) SPD 05. 10. 90 * Dr. Gautier SPD 05. 10. 90 Gerster (Worms) SPD 05. 10. 90 Grünbeck FDP 05. 10. 90 Hornhues CDU/CSU 05. 10. 90 Kalisch CDU/CSU 05. 10. 90 Kastning SPD 05. 10. 90 Müller (Düsseldorf) SPD 4. 10. 90 Frau Nickels GRÜNE 5. 10. 90 Schäfer (Offenburg) SPD 05. 10. 90 Dr. Schulte (Schwäbisch CDU/CSU 05. 10. 90 Gmünd) Steiner SPD 05. 10. 90 * Wischnewski SPD 05. 10. 90 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Liste der Abgeordneten, in deren Namen der Abgeordnete Conradi eine mündliche Erklärung nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertragsgesetz — (Drucksachen 11/7760, 11/7817, 11/7831, 11/7841, 11/7920, 11/7931, 11/7932) abgegeben hat* ) Antretter, Büchner (Speyer), Dr. von Bülow, Conradi, Duve, Egert, Erler, Fuchs (Verl), Gansel, Dr. Glotz, Frau Dr. Götte, Frau Dr. Hartenstein, Heyenn, Hiller (Lübeck), Dr. Holtz, Jungmann (Wittmoldt), Kirschner, Kühbacher, Frau Kugler, Kuhlwein, Lambinus, Lutz, Müller (Düsseldorf), Müller (Pleisweiler), Frau Odendahl, Opel, Peter (Kassel), Dr. Pick, Rixe, Schanz, Dr. Scheer, Schmidt (Salzgitter), Dr. Schöfberger, Sielaff, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Sonntag-Wolgast, Steiner, Dr. Struck, Frau Terborg, Toetemeyer (alle SPD) *) Siehe 226. Sitzung, Seite 17891 C
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    Rede von Dr. Wolfgang Ullmann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Schwerter zweier Weltkriege, des Kalten Krieges und des Klassenkampfes umzuschmieden zu Pflugscharen der Demokratie, das ist die Aufgabe, vor die der Vollzug der Einigung Deutschlands uns stellt.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Das Denkmal, das uns diese Aufgabe auszudrücken hilft, steht neben dem Palast der Vereinten Nationen in New York. Eine Wandinschrift auf dem Platz der Vereinten Nationen erinnert zusätzlich an das JesajaWort, das der Bildhauer darstellen wollte. Das Denkmal selbst war ein Geschenk der Sowjetunion an die Vereinten Nationen.
    Die jungen Leute der Friedensbewegung in unserem Land, die dieses Zeichen Anfang der achtziger Jahre als Aufnäher an ihren Ärmeln trugen, wurden polizeilich verfolgt und mehr als einmal mißhandelt. So umschreibt dieses Symbol die Dimensionen der Aufgabe, die vor uns steht.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der PDS sowie des Abg. Heinrich [FDP])

    Denn zwischen die Verantwortungsträger der heutigen Welt und unsere Nachbarn im Westen und im Osten sehen wir uns gestellt, wenn wir die Debatte darüber aufnehmen, wie sich Vereinigung und Demokratisierung im deutschen Vereinigungsprozeß zueinander verhalten.
    Die Bürgerbewegungen Osteuropas, von denen die in der ehemaligen DDR immer nur ein Teil gewesen sind, haben besondere Erfahrungen, aber auch besondere Impulse in diesem Vereinigungsprozeß zu vertreten, zuallererst den entschiedenen Willen, an Freiheit und Demokratie den ihren Völkern gebührenden Anteil zu gewinnen.
    Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges fordern die osteuropäischen Völker ihre Freiheit, und noch heute sind sie weit entfernt davon, sie in dem Umfang erlangt zu haben, daß Demokratie der selbstverständliche Inhalt des politischen Alltags geworden wäre.
    Es war dieser Zusammenhang, in dem auch die Bürgerbewegungen unseres Landes nach dem Ende der deutschen Teilung verlangt haben. Einer der entscheidenden Texte dieser Bewegung aus dem Jahre 1987, der aus einer Protestaktion aus Anlaß des 25. Jahrestages des Mauerbaus hervorgegangen ist, trägt die Überschrift „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung". Der Text selbst, der sich dann hauptsächlich mit Fragen der Reisefreiheit nach Ost und West beschäftigt, stellte seine Forderungen im Interesse des demokratischen Dialogs freier und mündiger Bürger.
    Was nun Leute der Bürgerbewegungen von anderen unterschied, die über die Spaltung Europas und Deutschlands nachdachten, war ein klares Bewußtsein davon, daß die Übertragung der Grundsätze westlicher Demokratie in die Osthälfte Europas ohne deren beträchtliche Ergänzung und Erweiterung nicht gelingen kann.

    (Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der PDS)

    Solchen Übertragungsversuchen drohte das gleiche Schicksal wie Wilsons 14 Punkten: Formuliert als Programm der Befreiung osteuropäischer Völker, zerbrach es am Widerstand derer, die nicht einsahen, daß demokratische Freiheiten etwas anderes sind als individuelle Rechte, die man zusprechen oder versagen kann. Worum es vielmehr geht, ist, das durchzusetzen, was Wilson die Herrschaft des Rechtes genannt hat: einen politisch-sozialen Zustand, in dem solche Rechte zuallererst durchsetzbar und darum auch zuerkennbar werden. Mit anderen Worten: Demokratie ist nicht nur eine innenpolitische Frage nach einer bestimmten Verfassungsform, sie ist auch eine außenpolitische Forderung, die nach einer Völkerdemokratie als der Voraussetzung dafür,

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN und der SPD)

    daß externe politische Abhängigkeiten nicht Demokratisierung nach innen verhindern.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Sie ist auch eine Forderung nach Wirtschaftsdemokratie, d. h. die Forderung danach, daß wirtschaftliche Macht so aufgeteilt wird, daß an ihr partizipiert werden kann, wie es für jede Unabhängigkeit unerläßlich ist, ohne die individuelle demokratische Rechte nicht wahrgenommen werden können.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Mit Freude und Dankbarkeit habe ich wahrgenommen, was zu dieser Sache in der Regierungserklärung gesagt worden ist, freilich nicht ohne zu bemerken, daß gerade die Konkretisierungen auf dem Gebiet der Wirtschaft weithin gefehlt haben, und mich zu erin-



    Dr. Ullmann
    nern, daß das Visagesetz diesem Programm recht schlecht entspricht.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Erstmalig in der europäischen Nachkriegsgeschichte können die gestellten Forderungen auch in Osteuropa erfüllt werden. Es ist das der praktisch-politische Grund dafür, daß die Bürgerbewegungen eine Verfassungsdiskussion fordern. Die deutsche Verfassung ist ein Teilaspekt, nicht der unwesentlichste der europäischen Einigung. Es bleibt dabei: Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, d. h. föderale Struktur und föderale Gesetzgebung samt Grundrechtskatalog, sind die unrevidierbare Voraussetzung jeder Diskussion über die Deutsche Verfassung.

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN und der SPD)

    Aber in welche Richtung soll sich diese Diskussion bewegen? Wer, meine Damen und Herren, in diesem Gebäude einen neuen Abschnitt deutscher Politik eröffnet, muß sich dazu erklären, wie er sich zu jenen Traditionen zu verhalten gedenkt, deren Symbol das Berliner Reichstagsgebäude ist. Daß in diesem Hohen Hause niemand die Absicht hat, dem verhängnisvollen Zweiten und dem katastrophalen Dritten Reich ein Viertes hinzuzufügen, das kann vorausgesetzt werden. Aber genügen die sattsam bekannten Absichtserklärungen und die oft wiederholten Hinweise auf die europäische Einbindung, um falschen Weichenstellungen zu wehren? Die Absage an das Zweite und Dritte Reich muß jetzt eine endgültige verfassungsrechtliche Gestalt annehmen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das haben wir schon im Grundgesetz!)

    Es ist nicht Mißtrauen gegenüber dem Verantwortungsbewußtsein deutscher Politik, sondern nüchternes Abwägen der tatsächlichen Machtverhältnisse, wenn gefragt wird, ob ein vereinigtes Deutschland als wirtschaftlicher und politischer Machtkomplex nicht eine kritische Größe erreicht, die den Interessen der Nachbarn nicht gleichgültig sein kann.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Die geforderte Absage kann verfassungsrechtlich nur die Gestalt eines Bundes deutscher Länder haben,

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Ja, von wegen!)

    d. h. die eines erweiterten Föderalismus, in dem Art. 31 des Grundgesetzes einen anderen Sinn und Inhalt bekäme und sich die Frage stellte, ob das Zentrum der Exekutive dieses Bundes deutscher Länder ferner so gestaltet bleiben kann, wie es Art. 65 Satz 1 des Grundgesetzes voraussetzt.
    Ein zweiter Sachbereich drängt sich auf. Kern der inhumanen Gesetzgebung des Dritten Reiches war die Außerkraftsetzung des Gleichheitsprinzips, Art. 3 des Grundgesetzes.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Wir haben nicht die Verfassung des Dritten Reiches zu korrigieren! Wir haben das Grundgesetz seit vierzig Jahren!)

    Eine nicht nur deklaratorische Absage an diese Tradition kann heute nur die Gestalt einer verfassungsrechtlichen Festlegung haben, die das Gleichheitsprinzip ausweitet, auf die sozialrechtliche Absicherung der Frauenrechte und die volle politische Gleichstellung der Frau abhebt, auf eine exklusiv menschenrechtliche und politische, nicht phyletische Begründung des Staatsbürgerrechtes samt allen Konsequenzen für das Asylrecht sowie die schnellstmögliche Ratifikation der UNO-Anti-Apartheid-Konvention;

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der PDS)

    denn der Zusammenhang ist offenkundig: Die Folgen der Umweltzerstörung in der Zweidrittelwelt erreichen uns in Gestalt der Flüchtlingsmassen, die vor den Toren der reichen Industriestaaten lagern. Ist es ausgerechnet den Deutschen erlaubt, das diskriminierende Wort Wirtschaftsasylanten dort zu gebrauchen, wo die Zerstörung jeglicher Lebensqualität keinen anderen Ausweg als die Flucht zuläßt?

    (Beifall bei den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

    Alle wissen es: Es gibt nur das eine ökologische Globalsystem, das uns mit jenen Teilen der Welt verbindet, wo die Folgen statt der Profite unserer Wirtschaft ankommen.
    Die christlichen Kirchen haben darum den konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Gang gesetzt. Stellt sich aber für uns im geeinten Deutschland die Frage nach einer Erweiterung der Demokratie — und ohne diese Erweiterung, Herr Abgeordneter Dregger, wird es für den einen Teil der Deutschen, deren Länder sie soeben als „Entwicklungsländer" bezeichnet haben, nur zu einer Demokratie niedrigerer Stufe kommen — , so kann diese Erweiterung nur in Richtung auf die Gerechtigkeit und den Frieden jenes Prozesses gehen. Sie wären dann jene Pflugscharen der Demokratie, von denen eingangs die Rede war. „Der Acker aber ist die Welt", möchte man mit jenem bekannten Jesus-Logion hinzufügen. Und ist es nicht eine merkwürdige Welt, in der sich denen, die über eine neue Epoche in der Geschichte der Demokratie nachdenken, solche Aussprüche auf die Lippen drängen?
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der PDS und der FDP)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Lafontaine.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die staatliche Einheit, so hörten wir gestern, ist die Form, die wir gefunden haben.

    (Reddemann [CDU/CSU]: Erarbeitet haben!)

    Jetzt geht es um die Inhalte.
    18038 Deutscher Bundestag — 1 i. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
    Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

    Ich wiederhole daher noch einmal, daß Einheit für die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eher ein gesellschaftlicher denn ein staatlicher Begriff ist.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Für alle?)

    Die Einheit ist mit der staatlichen Einheit nicht vollendet, sie beginnt erst. Einheit ist für uns erst dann gegeben, wenn die Menschen in den neuen Bundesländern dieselben Lebensmöglichkeiten haben wie die Menschen in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS)

    Die Einheit ist ein Wagnis der Freiheit und der Solidarität. Die Einheit hat nichts Ausgrenzendes an sich, nichts Abschließendes. Der falsche Begriff der Einheit birgt auch Gefahren. Ich zitiere daher, um die Gedanken auch denen verständlich zu machen, die vielleicht ein parteiisches Urteil nicht hören wollten, einen Freund der Deutschen, Alfred Grosser, der gestern zu diesem Thema folgendes ausgeführt hat:
    Die Einigkeit als Ausschaltung der Opposition und sogar der Gegensätze, diese Verneinung der pluralistischen Demokratie gibt es nicht nur in totalitären Staaten, sie stellt eine ständige Versuchung dar, Einstimmigkeit zu wollen,

    (Duve [SPD]: Hört! Hört! — Lachen bei der CDU/CSU)

    und sogar auferlegen zu wollen im Namen des Patriotismus.
    — dies war der Sinn von „Ich kenne keine Parteien mehr" von Wilhelm II. —
    Im Namen der Bewahrung der Gesellschaftsordnung — als gehöre die ständige Debatte um ihre Verbesserung nicht zu den Fundamenten der politischen Freiheit —,
    im Namen der Sehnsucht nach der konfliktvermeidenden Eintracht — in Deutschland mehr als woanders — gibt es die Tradition des Unpolitischen, des Apolitischen.
    Wir sollten auch am Beginn des neuen größeren Staates diese Mahnung unseres französischen Freundes beherzigen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Der Begriff des Vorpolitischen in der Debatte in Europa taucht nicht nur bei dem Begriff der Einheit auf; er taucht auch bei dem Begriff der Nation auf. Ich habe dazu bereits Ausführungen gemacht.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU: Wirklich? — Ganz was Neues! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Ich habe damals dieselben „verständnisvollen" Reaktionen auf dieser Seite des Hauses erfahren. Ich wiederhole also noch einmal die Gedanken in der Hoffnung, daß sie zumindest inhaltlich aufgenommen werden, wenn sie auch nicht akzeptiert werden.
    Es geht uns um folgendes: Wir können den Nationenbegriff nicht an der Abstammung orientieren, sondern wir müssen ihn an der republikanischen Tradition orientieren, die gestern zu Recht beschworen worden ist.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Bohl [CDU/CSU]: Was heißt das?)

    Nur dann haben wir die Grundlage, die vereinigten Staaten von Europa zu schaffen.
    Das Apolitische begegnet uns nicht nur bei dem Begriff der Nation. Die ständige Frage, was „republikanische Tradition" heißt, ist nicht ein Ausweis Ihrer Vorbereitung auf das, was wir eigentlich gemeinsam beginnen wollen. Diese Frage dürfte hier nicht gestellt werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

    Dem Vorpolitischen begegnen wir nicht nur bei dem Begriff der Nation, sondern auch bei dem Begriff des Vaterlandes. Meine Damen und Herren zu unserer Rechten, Deutschland ist nicht nur Vaterland, Deutschland ist auch Mutterland. Es muß bei der inflatorischen Benutzung dieses Begriffes einmal gesagt werden.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Es war daher kein Zufall, als die Väter und Mütter des Grundgesetzes bemüht wurden, daß der Bundeskanzler nur Konrad Adenauer, Kurt Schumacher und Theodor Heuss erwähnt hat. Ich erwähne daher auch Frieda Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Wessel und Helene Weber. Wir dürfen nicht immer nur davon reden, wir müssen das irgendwann auch einmal lernen.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich sagte, die Einheit ist ein Wagnis der Freiheit und der Solidarität. Ich verwies darauf, daß diese Werte universalistisch sind, daß sie nicht in den Grenzen eines Nationalstaates definiert werden können. So wollen es die republikanische Tradition, und die Tradition der Aufklärung. Wenn man die Begriffe von Freiheit und Solidarität nicht auf die Lebenswirklichkeit eines Nationalstaates einengt, dann ist man den Nachbarvölkern und im besonderen den Menschen verpflichtet, denen es auf der Erde am schlechtesten geht. Unsere Hilfe muß in stärkerer Form den Verhungernden dieser Erde gelten, und es wäre ein gutes Zeichen gewesen, wenn der Bundeskanzler an diesem Tag konkret geworden wäre.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der PDS — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Aber die Konkretisierung!)

    Unsere Verpflichtung gegenüber den Hungernden dieser Erde und gegenüber Menschen in den Krisengebieten ist auch eine Verpflichtung, die Waffenexportpolitik der Bundesregierung zu ändern.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir sind stolz darauf, daß wir das mit unserer sozialdemokratischen Mehrheit im Bundesrat geschafft haben. Zuerst liefern wir das Gas in den Irak und dann liefern wir die Gasmasken nach Saudi-Arabien, das



    Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

    kann im neuen, größeren Deutschland nicht fortgesetzt werden.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der PDS)

    Wir sind alle für Abrüstung, und im Ziel gibt es ja keinen Streit. Aber auch hier hätte ich mir etwas mehr Konkretisierung gewünscht. Daher sage ich, was unsere Ziele sind: Abrüstung bedeutet für uns Verzicht auf den Jäger 90 und damit freiwerdende Mittel von 100 Milliarden DM.

    (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Abrüstung bedeutet für uns nicht nur atomwaffenfreie Zone in der DDR, sondern Rückzug der atomaren Systeme aus ganz Deutschland, insbesondere der taktischen Waffen.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der PDS)

    Abrüstung bedeutet für uns Einstellung der Großmanöver und der ausufernden militärischen Tiefflüge, weil es ein konkretes Erlebnis für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands wäre, wenn diese militärischen Übungsflüge endlich eingestellt würden. Sie fragen allmählich: Gegen wen üben diese tief fliegenden militärischen Maschinen eigentlich noch?

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der PDS)

    Wir wollen stärkere Vereinte Nationen. Wir werden unsere Beiträge dazu leisten, aber nicht in erster Linie — wie es Willy Brandt ausgeführt hat — bei militärischen Aktionen.
    Wir Sozialdemokraten haben uns vor 65 Jahren zu den Vereinigten Staaten von Europa bekannt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Aber hinterher nicht mehr!)

    Wir konnten das nach 1918 nicht durchsetzen. Aber jetzt ist es unsere Aufgabe, das durchzusetzen, wofür viele Frauen und Männer in den Gefängnissen und Konzentrationslagern gelitten haben. Sie wollten ein neues Europa, in dem der Nationalismus endlich besiegt ist.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS)

    An dieser Stelle stelle ich dann die Frage, was die Zwischenrufe nach dem Provisorium eigentlich sollen. Wenn das Bekenntnis zu den Vereinigten Staaten von Europa immer wiederholt wird, kann das für einen denkenden Menschen nur heißen, daß dieser neue Staat ein Übergangsstaat ist, weil wir ihn in den Vereinigten Staaten von Europa aufheben wollen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS — Zurufe von der CDU/CSU)

    Ich sprach von dem Wagnis der Freiheit und der Solidarität. Ich komme zunächst zu der Idee der Freiheit. Erstens. Die Freiheit hat auch Konsequenzen für unsere demokratische Ordnung. Ich habe gestern der Bundestagspräsidentin zugehört, die in guter Absicht gesagt hat, sie würde heute gerne allen jungen Menschen in Deutschland das Grundgesetz schenken. Ich
    sage in guter Absicht, und ich nehme das mit Respekt zur Kenntnis.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Es war gut, nicht gute Absicht!)

    Aber ich werbe bei Ihnen für die Idee, was es für die jungen Menschen bedeuten würde, wenn sie die Chance hätten, über ihre Verfassung abzustimmen, selbst zu entscheiden, mit welcher Verfassung sie in der Zukunft leben wollen.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der PDS — Zurufe von der CDU/CSU)

    Zweitens. Die Freiheit verpflichtet uns zur demokratischen Ordnung. Die demokratische Ordnung verpflichtet uns zum Ausbau des Föderalismus. Ich ermutige die neuen Bundesländer, mitzuhelfen, daß der Föderalismus stark bleibt. Er gehört zur besten Tradition der Bundesrepublik, und er kann die beste Tradition des neuen demokratischen Deutschland werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS)

    Weil davon bezeichnenderweise noch nicht die Rede war: Für uns ist Demokratie immer auch Ausbau der Wirtschaftsdemokratie.

    (Beifall bei der SPD und bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

    Wir wollen den Ausbau der Betriebsverfassung. Wir wollen den Ausbau der Mitbestimmung. Wir wollen auch die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen.

    (Beifall bei der SPD und der PDS)

    Das heißt, daß wir Gewerkschaften nicht nur dann bewundern, wenn sie wie die polnische Solidarnosc den Freiheitskampf in einem Lande anführen, sondern daß wir sie auch dann bewundern und unterstützen, wenn sie aus einer Marktwirtschaft durch ihre Arbeit eine Soziale Marktwirtschaft machen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS — Zurufe von der CDU/CSU)

    In der Verpflichtung für die Freiheit und für die Demokratie wollen wir die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS)

    Daher wollen wir Arbeitszeitverkürzung. Arbeitszeitverkürzung ist nicht in erster Linie eine ökonomische Kategorie, sondern Arbeitszeitverkürzung ist eine gesellschaftliche Kategorie. Wer die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft durchsetzen will, der muß durch die Verteilung der Arbeitszeit zwischen Männern und Frauen die Möglichkeit dafür schaffen.

    (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir wollen eine andere Familienpolitik. Es gibt zwei Begriffe, mit denen Familie beschrieben wird. Der erste Begriff stellt in erster Linie auf das Zusammenleben der Erwachsenen ab. Wir glauben, daß dieser Begriff veraltet ist.
    18040 Deutscher Bundestag — I 1. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
    Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

    Der zweite — nach unserer Meinung richtige und zeitgemäße — Begriff der Familie ist der, der auf das Zusammenleben von Erwachsenen mit Kindern abstellt.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das ist nichts Neues!)

    Wenn man diesen Begriff akzeptiert — von der FDP höre ich hier gerade, das sei nichts Neues —, dann muß man die Familienförderung grundsätzlich ändern. Ihr Ehegatten-Splitting, Ihre Kinderfreibeträge sind in der neuen Gesellschaft der neuen Bundesländer ein Hohn.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der PDS)

    Haben Sie sich irgendwann einmal die Mühe gemacht, auszurechnen, was es, wenn man 600 DM Nettolohn hat, bedeutet, mit den Gesetzen für EhegattenSplitting und Kinderfreibeträge konfrontiert zu werden?

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Es ist logisch, daß Sie dagegen sind!)

    Dies ist völlig unhaltbar, meine Damen und Herren. Daher bleibt es dabei: 200 DM ab dem ersten Kind, gerade aus unserer Verpflichtung gegenüber den Menschen in den neuen Bundesländern, die viel zu niedrige Löhne beziehen, um ihre Kinder großzuziehen.

    (Beifall bei der SPD und der PDS)

    Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft heißt aber nicht nur Änderung der Familienpolitik, sondern heißt für uns auch — darum haben wir an dieser Stelle hart um eine Lösung gerungen — Fristenlösung bei § 218.

    (Beifall bei der SPD und der PDS)

    Das Strafgesetzbuch ist nicht das richtige Mittel, um bei Beratung und Hilfe im Schwangerschaftskonflikt vorwärtszukommen.