Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, ich teile zunächst folgendes mit. Der Abgeordnete Freiherr von Kühlmann-Stumm hat mit Wirkung vom 30. Mai 1972 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger ist der Abgeordnete Dr. h. c. Menne aus Frankfurt am 31. Mai 1972 in den Bundestag eingetreten. Ich begrüße den uns allen durch seine Arbeit bekannten Abgeordneten und wünsche ihm eine erfolgreiche Mitarbeit im Deutschen Bundestag.
Der Abgeordnete Freiherr von und zu Guttenberg hat mit Wirkung vom 6. Juni 1972 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Politische Fähigkeit, moralische Qualifikation und unerbittliche Grundsatztreue, vor allem wenn es um Fragen der menschlichen Freiheit und der demokratischen Existenz ging, haben der parlamentarischen Arbeit des schwer erkrankten Abgeordneten ein über das Tagesgeschehen hinausgehendes Gewicht verliehen. Unsere besten Wünsche für seine Gesundheit begleiten ihn.Als sein Nachfolger ist der Abgeordnete Cantzler heute, am 7. Juni 1972, in den Bundestag eingetreten. Ich begrüße den Kollegen sehr herzlich
und wünsche ihm eine erfolgreiche Mitarbeit im Deutschen Bundestag.Eine unserer Kolleginnen und einer unserer Kollegen haben einen Geburtstag feiern können: am 30. Mai 1972 die Frau Abgeordnete Geisendörfer, der ich zum 65. Geburtstag unsere herzlichsten Glückwünsche ausspreche,
und heute der Abgeordnete Bergmann, der seinen 65. Geburtstag feiert und dem ich ebenfalls die Glückwünsche des Hauses ausspreche.
Schließlich teile ich mit, daß nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung der Bericht über die Tätigkeit des Rückstellungsfonds nach dem Altölgesetz —Drucksache VI/3312 — dem Ausschuß für Wirtschaft — federführend — sowie dem Innenausschuß und dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden soll. Erhebt sich gegen die beabsichtigte Überweisung Widerspruch? — Das scheint nicht der Fall zu sein; dann ist so beschlossen.Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 19. Mai 1972 den nachstehenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 GG nicht gestellt:Gesetz zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen SowjetrepublikenGesetz zu dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen BeziehungenGesetz über die Verplombung im Durchgangsverkehr von zivilen Gütern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin
Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung der Mitglieder des BundestagesGesetz über die Beseitigung von Abfällen
Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser undzur Regelung der Krankenhauspflegesätze — KHG —Zum Gesetz über die Beseitigung von Abfällen und zum Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze hat der Bundesrat ferner eine Entschließung gefaßt bzw. eine Stellungnahme beschlossen, die als Anlagen 2 und 3 diesem Protokoll beigefügt sind.Der Bundesminister des Innern hat am 31. Mai 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Schneider , Vogel, Wagner (Günzburg), Berger, Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Hauser (Bad Godesberg), Lemmrich und der Fraktion der CDU/CSU betr. Personalpolitik der Bundesregierung — Drucksache VI/3422 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3469 verteilt.Der Bundesminister der Justiz hat am 30. Mai 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Schneider , Dr. Jaeger, Geisenhofer, Dr. Jobst, Biehle, Niegel und Genossen betr. Schutz des Verbrauchers vor Allgemeinen Geschäftsbedingungen — Drucksache VI/3437 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3457 verteilt.Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen hat am 23. Mai 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Müller , Springorum, Behrendt, Fellermaier, Dr. Achenbach, Borm und Genossen und der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP betr. Anwendung des Artikels 235 EWG-Vertrag — Drucksache VI/3329 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache V1 3454 verteilt.Der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen hat am 30. Mai 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Schneider , Kiechle, Schedl, Niegel, Geisenhofer und Genossen betr. Regionalisierung und Aktualisierung der amtlichen Preisstatistik — Drucksache VI/3439 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3462 verteilt.Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat am 12. Mai 1972 unter Bezug auf den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 21. Oktober 1971 über den Absatz der Weinernte 1971 berichtet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3442 verteilt.Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
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10966 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Präsident von HasselEG-VorlagenEntschließung des Rates zur Ergänzung der Entschließung des Rates vom 28. Mai 1969 über ein Programm zur Beseitigung der technischen Hemmnisse im Warenverkehr mit gewerblichen Erzeugnissen, die sich aus Unterschieden in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben— Drucksache VI/3436 —überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates über die teilweise Aussetzung des autonomen Zollsatzes des Gemeinsamen Zolltarifs far Makrelen frisch, gekühlt oder gefroren, ganz, ohne Kopf oder zerteilt, für die Verarbeitungsindustrie, der Tarifstelle ex 03.01 B I m) 2— Drucksache VI/3440 —überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates zur Festsetzung des Schwellenpreises für Getreide für das Wirtschaftsjahr 1972/1973— Drucksache VI/3444 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates über bestimmte Maßnahmen, die für die Landwirtschaft infolge der Entwicklung der monetären Lage zu treffen sind— Drucksache VI/3445 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten , Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates über die anzuwendenden Abschöpfungen bei der Einfuhr ausgewachsener Rinder und Fleisch von solchen mit Herkunft aus Jugoslawien— Drucksache VI/3455 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung von Gemeinschaftszollkontingenten für Sherry-Weine der Tarifstelle ex 22.05 des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Spanienüber die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für Malaga-Weine der Tarifstelle ex 22.05 des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Spanienüber die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für Jumilla-, Priorato-, Rioja- und Valdepenas-Weine, der Tarifstelle ex 22.05 des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Spanien- Drucksache VI/3443 —überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatRichtlinie des Rates betreffend die statistischen Erhebungen über den Rinderbestand, die Vorausschätzungen über den Schlachtrinderanfall und Schlachtungsstatistiken von Rindern, die von den Mitgliedstaaten durchzuführen sind— Drucksache VI/3466 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates zur Änderung der Verordnung Nr. 729/70 über .die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik— Drucksache VI/3467 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates zur Festsetzung des Schwellenpreises für geschälten Reis und Bruchreis sowie des in den Schwellenpreis für vollständig geschliffenen Reis einzubeziehenden Schutzbetrags für das Wirtschaftsjahr 1972/73 — Drucksache VI/3458 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates über die Kapazitätskontrolledes Güterkraftverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten — Drucksache VI/3459 —überwiesen an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates zur Festsetzung der monatlichen Zuschläge zu den Preisen für Rohreis und geschälten Reis für das Wirtschaftsjahr 1972/73— Drucksache VI/3460 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates über die allgemeinen Regeln im Falle einer erheblichen Preiserhöhung für Rindfleisch— Drucksache VI/3461 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates zur Festlegung der wesentlichsten Handelsplätze für Getreide, der für sie geltenden abgeleiteten Interventionspreise sowie der einzigen Interventionspreise für Mais und für Hartweizen für das Wirtschaftsjahr 1972/1973— Drucksache VI/3446 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatWir treten in die heutige Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD betr. Verwaltungsrat der Lastenausgleichsbank— Drucksache VI/3472 —Darf ich feststellen, daß diesem Antrag der beiden Fraktionen gefolgt wird? — Es erhebt sich kein Widerspruch; dann ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:Abgabe einer Erklärung der Bundesregierungbetr. Viermächte-Abkommen über BerlinDas Wort dazu hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Deutschen Bundestag ist bekannt, daß die Verträge mit der Sowjetunion und mit der Volksrepublik Polen am vergangenen Sonnabend in Kraft getreten sind. Ebenfalls am 3. Juni ist das Berlin-Abkommen der Vier Mächte mit den dazu auf deutscher Ebene getroffenen Vereinbarungen in Kraft getreten.Die Erklärungen, die die vier Außenminister bei dieser Gelegenheit in Berlin abgegeben haben, zeigen den Willen und die Zuversicht der beteiligten Regierungen, sich weiter um die Entspannung der Lage in Europa zu bemühen. Die Bundesregierung hofft, daß auf diesem Wege weitere reale Fortschritte erzielt werden können. Auf dem Hintergrund der krisenhaften Entwicklungen während der vergangenen 25 Jahre werten wir die Vereinbarungen über Berlin als ein besonders wichtiges positives Zwischenergebnis.Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, wie sehr durch die jüngste Entwicklung bestätigt worden ist, daß sich die Politik der Bundesrepublik Deutschland in Übereinstimmung mit der Politik des Atlantischen Bündnisses im allgemeinen und der drei Mächte im besonderen befindet.Dies hat sich nicht zuletzt bei der Tagung des Ministerrats der NATO in der ersten Hälfte der vorigen Woche hier in Bonn ergeben. Der sachliche Zusammenhang ist auch in den Berichten deutlich geworden, die der Bundesregierung über die Besprechungen des amerikanischen Präsidenten mit der sowjetischen Führung zuteil wurden.Die neueren, wie wir hoffen, positiveren Entwicklungen zwischen Ost und West sind ohne Zweifel
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Bundeskanzler Brandtdurch die deutsche Politik mitbeeinflußt worden. Dies gilt auch umgekehrt.Vielleicht darf ich an dieser Stelle auch darauf hinweisen, daß ich unsere Einordnung in das westliche Bündnis noch einmal mit aller Deutlichkeit unterstrichen habe, als ich vorgestern in Harvard, auf den Tag 25 Jahre nach der Rede Außenminister Marshalls, unseren Dank für die amerikanische Nachkriegshilfe zum Ausdruck bringen durfte. Ich freue mich, daß ich dies gemeinsam mit je einem Vertreter der drei Fraktionen dieses Hauses tun konnte.
Die Bundesrepublik Deutschland erfreut sich in einem Augenblick, den die Außenminister der vier Regierungen als historisch bezeichnet haben, des engsten Einvernehmens mit ihren Verbündeten. Zugleich können wir mit einer Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion rechnen. Dies wird sich zunehmend auch für die anderen Partnerstaaten des Warschauer Pakts feststellen lassen. Mit Polen sollen bekanntlich demnächst Botschafter ausgetauscht werden.Wie die Außenminister der Vier Mächte am Sonnabend möchte auch ich hervorheben, daß der Tag von Berlin nicht möglich geworden wäre ohne die Beteiligung der Bundesregierung und des Senats, aber natürlich auch der Regierung der DDR. Wir haben es, wie es Minister Schumann ausgedrückt hatte, mit einer Entwicklung zu tun, die von der Außenministerkonferenz in Reykjavik 1968 über die ratifizierten Verträge bis zu dieser, wie Maurice Schumann sagte, „Frucht der Entspannung durch unsere gemeinsamen Anstrengungen" möglich geworden ist.Der britische Außenminister hat im Sinne aller Beteiligten erklärt — ich darf zitieren —: „Wenn wir von dem Geist des Kompromisses, des Entgegenkommens und der Versöhnung ausgehen, der die Voraussetzung für dieses Berlin-Abkommen bildet, dann sind die Aussichten für den Frieden gut."In diesem Sinne, meine Damen und Herren, wird die Bundesregierung weiterhin aktiv sein, um die eingegangenen Verpflichtungen zu halten und die Verträge und Abkommen mit Leben zu erfüllen. Ich kann die Erwartung aussprechen, daß gleiches auch für die anderen beteiligten Regierungen gilt, insbesondere die der DDR.Ich möchte dem sowjetischen Außenminister zustimmen, der in Berlin erklärt hat, daß sich die Lage in der Stadt und für die Zukunft von Grund auf verbessert habe, und ich möchte die Hoffnung des amerikanischen Außenministers unterstreichen, der den 3. Juni als einen Tag bezeichnet hat — ich darf zitieren —, „an dem entscheidende Fortschritte zum Ausgleich zwischen den Völkern in ganz Europa gemacht" wurden. Ob dieser Tag in der Geschichte diesen Platz einnehmen werde, hänge von „den entschlossenen Bemühungen der Regierungen in Ost und West ab".Auch daran, an diesen entschlossenen Bemühungen, wird es die Bundesregierung nicht fehlen lassen. Dies gilt insbesondere für die Verpflichtungen gegenüber West-Berlin und den Ausbau seiner Bindungen zum Bund. Dafür gebe ich namens der Bundesregierung folgende Erklärung ab.Die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich haben in Ausübung ihrer Verantwortung für Berlin das Viermächteabkommen in Kraft gesetzt. Zusammen mit dem Viermächteabkommen sind eine Reihe von Vereinbarungen zu dessen Ergänzung und Durchführung in Kraft getreten, die von der Bundesregierung und dem Senat von Berlin mit der Regierung der DDR vereinbart wurden.Durch das Viermächteabkommen ist eine neue Stufe der Entwicklung West-Berlins eingeleitet worden, die sich auf eine politisch stabile Lage und auf größere Bewegungsmöglichkeiten für die Berliner gründet.Die Freiheit der Zugangswege ist von den Vier Mächten garantiert. Die West-Berliner können jetzt Ost-Berlin aufsuchen, sie können in die DDR reisen. Und wir erwarten, daß die getroffenen Regelungen nicht restriktiv gehandhabt werden, sondern daß sie ausbaufähig bleiben.
Das Viermächteabkommen hat die Einbeziehung West-Berlins in die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland und seine Verflechtung mit dem Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem des Bundes auf eine gesicherte Grundlage gestellt. Die Vertretung West-Berlins nach außen durch die Bundesrepublik Deutschland ist nunmehr von allen Seiten anerkannt. Die Bindungen zwischen WestBerlin und der Bundesrepublik Deutschland werden unter Beachtung des Vorbehalts der Rechte und Verantwortlichkeiten der Drei Mächte aufrechterhalten und weiter entwickelt.Nach dem Abkommen der Vier Mächte bleibt es dabei, daß die Sicherheit West-Berlins durch unsere Verbündeten garantiert wird. Die Außenminister der Drei Mächte haben am 3. Juni in Berlin die von ihren Regierungen gegebenen Garantien bekräftigt.Die Bundesregierung wird ihrerseits wie bisher die Verpflichtungen erfüllen, die sie gegenüber der Stadt und den Drei Mächten übernommen hat. Ich beziehe mich dabei auf die Erklärung der Bundesregierung und das Schreiben der drei Hohen Kommissare an den Bundeskanzler, beides vom 26. Mai 1952 in der Fassung vom 23. Oktober 1954, und auf den Briefwechsel zwischen den Botschaftern der Drei Mächte und dem Bundeskanzler vom 3. September 1971.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird im Rahmen ihrer Möglichkeiten die in der Erklärung des Senats vom 29. April 1971 angekündigten Bemühungen unterstützen, Berlin zum Modell einer modernen Großstadt zu entwickeln.Nach der Einigung der Vier Mächte braucht Berlin glücklicherweise nicht mehr ein Spannungszentrum in der Mitte Europas zu sein. Statt dessen wird es in Zukunft ein wichtiger Faktor beim Abbau von Spannungen sein können, wenn Ost und West dazu beitragen, daß es die Aufgaben erhält und erfüllen
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10968 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Bundeskanzler Brandtkann, die seinem Charakter als Weltstadt, seiner geographischen Lage und seinem geschichtlichen Rang entsprechen.Berlin wird in diesem Falle einen nicht geringen Beitrag bei der Lösung internationaler Aufgaben leisten können, wie der europäischen Zusammenarbeit, des menschlichen Zusammenlebens in Ballungszentren, des Umweltschutzes und anderer humanitärer Probleme.Die Bundesregierung betrachtet die Verwirklichung solcher Überlegungen für die Zukunft Berlins als ein wesentliches und unverzichtbares Element ihrer Bemühungen um Entspannung und Zusammenarbeit. Sie appelliert an alle Beteiligten, daran mitzuwirken, daß in Berlin künftig ein entscheidender Beitrag zur europäischen und weltweiten Friedenspolitik geleistet werden kann. Ich bin sicher, die Zustimmung aller Seiten in diesem Hause zu finden, wenn ich nicht nur unser Interesse an einer gesunden Entwicklung Berlins, sondern auch unsere konkreten Verpflichtungen den Berlinern gegenüber nachdrücklich bestätige.
Das Haus hat die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers entgegengenommen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verhandlungen, die zum Berlin-Abkommen führten, begannen zur Zeit der Regierung Kiesinger.
Auch als Opposition haben wir Vorschläge gemacht gegenüber der Bundesregierung wie gegenüber den Westmächten und Einfluß auf die Verhandlungen genommen. Unser Beitrag ist als konstruktiv gewürdigt worden. Unsere Bedenken sind bekannt, und die Zukunft wird erweisen, wer mehr recht hatte. Auch die Praxis, auf die es wesentlich ankommt, wird vieles zeigen.Nun ist die Vereinbarung der vier Großmächte in Kraft getreten. Jedermann in Ost und West wird sich darauf einzustellen haben. Positive Früchte dieses Abkommens werden auf die Dauer nur reifen, wenn die Rechte und Verpflichtungen der Vier Mächte für Berlin und für Deutschland als Ganzes bis zur endgültigen Lösung der deutschen Frage in einem Friedensvertrag den Frieden gewährleisten und das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung aufrechterhalten.
Jetzt kommt es darauf an, das Berlin-Abkommen mit Leben zu erfüllen, um — wie es darin heißt —„die Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik Deutschland aufrechtzuerhalten und zu entwickeln". Die gegenwärtige Situation bestimmt unseren Blick nach vorn. Wir sehen eine besondere Dichte wichtiger internationaler Vorgänge, die sich in unterschiedlichen Fristen entwickelt haben oder herangereift sind.Das Abkommen der Vier Mächte über Berlin wird als das zentrale politische Ereignis angesehen werden müssen, um das sich andere gruppieren, wie die Ratifizierung der Verträge mit der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen, die innerdeutschen Abmachungen, der Besuch Präsident Nixons in Moskau und die Bewertung der internationalen Situation, wie sie im Kommuniqué des NATO-Ministerrats vom 31. Mai 1972 ihren Niederschlag gefunden haben.Die Bemühungen der drei westlichen Alliierten, mit der vierten, der sowjetischen Macht in ein Gespräch über Berlin zu kommen, geht auf eine Anregung des Präsidenten der USA, Nixon, zurück. Diese Bemühungen fanden eine Lage vor, die es allen Beteiligten gestattete, von unversehrten Rechtspositionen aus eine Modus-vivendi-Regelung für die alte deutsche Hauptstadt für die Zeit bis zu einem Friedensvertrag zu erreichen. Daß es diese Rechtspositionen 20 Jahre nach der Blockade Berlins noch gab, war sehr wesentlich der Politik Konrad Adenauers und der von der CDU/CSU geführten Regierung zuzuschreiben.
Das jetzt in Kraft getretene Berlin-Abkommen ist nicht voll befriedigend. Aber es ist, wie ich von dieser Stelle aus betonte, besser als das, was während der Berlin-Drohung 1958 bis 1962 bei Alliierten und Deutschen an Plänen diskutiert wurde. Der festen Beharrlichkeit derer, die streng an unseren Grundsätzen und Rechtspositionen festgehalten haben, ist es zu verdanken, daß jetzt ein Berlin-Abkommen erzielt wurde, das mehr an Substanz des Vier-Märchte-Status bestätigt, als vor zehn Jahren für möglich gehalten wurde.Diese Einigung der Vier Mächte auf einen Modus vivendi, der ihre Rechte und Verantwortlichkeiten für Berlin und Deutschland als Ganzes bestätigt, eröffnet Hoffnungen, daß es in Europa zur Entspannung kommen könnte. Schon die nächsten Monate werden erweisen, ob die Zuversicht berechtigt ist, an eine Zukunft Berlins zu glauben, die sorgenfreier ist als in den vergangenen Jahrzehnten.Das wird nicht von allein geschehen. Viel hängt an uns. Das Abkommen gestattet den Ausbau der Bindungen zwischen den Westsektoren der Stadt und uns. Wir sollten dies durch politisches Engagement in und für Berlin nutzen.
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU hofft, in den kommenden Jahren nicht die einzige Fraktion dieses Hauses zu sein, die in Berlin im Reichstag ihre Arbeit wahrnimmt.
Das freie Berlin darf nicht in den Schatten geraten und darf in nichts hinter dem anderen Teil der Stadt zurückbleiben. Bis Berlin wieder Hauptstadt Deutschlands sein kann, sollte es zu einem deut-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 10969
Dr. Barzelschen Zentrum des modernen Ausbaues der europäischen Integration und des Ausblicks auf eine europäische Friedensordnung entwickelt werden. Erst wenn dies gelingt, hat das Berlin-Abkommen jene Früchte gezeitigt, die wir alle uns für Europa und Deutschland von ihm erhoffen.Darüber hinaus erklären wir, daß wir jede Anstrengung und jeden durchdachten Plan unterstützen werden, der Berlin zu einem sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Zentrum von internationalem Rang zu entwickeln verspricht. Meine Berliner Parteifreunde z. B. haben dazu in diesen Tagen Vorschläge gemacht, die wir der Bundesregierung dringend nahelegen.Die Verträge wären nicht ratifiziert worden, wenn nicht eine Einigung der Vier Mächte über Berlin vorgelegen hätte, eine Einigung, die Frieden und Entspannung in Europa eine Chance gibt. Wir begrüßen das Kommuniqué der Ministerratstagung der NATO vom 31. Mai, in dem diese Verträge zutreffend als Elemente des Modus vivendi bezeichnet und die Erklärung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai — ein Dokument der Bundesrepublik Deutschland — als Bestätigung einer solchen Politik aufgenommen wurde.
Diese Erklärung erlaubt es uns, auch weiterhin auf friedliche Weise unser Ziel, das Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen, zu erstreben und konkret daran zu arbeiten, ohne daß irgendwer dies als einen Verstoß gegen einen Gewaltverzichtsvertrag mit einer Großmacht betrachten kann.Wir haben darauf bestanden, daß Berlin und sein Zugang gesichert, die Lösung der deutschen Frage nicht präjudiziert, das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung nicht beeinträchtigt, die Lage für die Menschen in Deutschland spürbar verbessert und die politische Einigung des freien Europa nicht behindert werden. Entscheidend bleibt der politische Wille des deutschen Volkes, seine gemeinsame Zukunft in einem friedlichen und freien Europa selbst zu bestimmen. Ich füge hinzu: es gibt in Wirklichkeit kein friedlicheres Programm.Diesen Willen hat die gegenwärtige Opposition in den vergangenen Jahren artikuliert, und zwar mit sichtbarem Erfolg. Das Bündnis, die fortschreitende Vereinigung des freien Europa, der Ausgleich mit den östlichen Nachbarn bleiben hierfür Bestandteil unseres politischen Konzepts. In Berlin aber wird sich weiterhin die Wirklichkeit Deutschlands und Europas wie die des Friedens, der Zusammenarbeit und der Entspannung erweisen. Wir bekräftigen erneut unseren festen Willen, die Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland gemäß den Viermächteabkommen und den deutschen Zusatzvereinbarungen aufrechtzuerhalten und fortzuentwickeln. Auch in Zukunft werden wir für die Lebensfähigkeit der Stadt und das Wohlergehen ihrer Menschen Sorge tragen. Das bleibt eine Pflicht menschlicher und nationaler Solidarität.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Borm.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist ein guter Brauch dieses Hauses, daß, wenn über die frühere deutsche und hoffentlich auch künftige deutsche Hauptstadt gesprochen wird, in den Grundzügen eine völlige Einigkeit besteht. Diese Einigkeit ist in der Tat die Voraussetzung für die Lebensfähigkeit dieser Stadt, in der sich — und da stimme ich dem Vorsitzenden der Opposition voll bei — das Schicksal unseres Volkes entscheiden wird. Berlin ist der Probefall für so viele Dinge in Europa. Es ist der Probefall, wie ernst man es gegenseitig mit den Entspannungsbemühungen meint. Es ist aber auch der Probefall, dessen Maßstab wir Deutsche untereinander und insonderheit wir Deutsche in der Bundesrepublik untereinander an die Dinge anlegen müssen. Insoweit folge ich den Ausführungen unseres Kollegen Barzel.Aber ein Einwand sei mir wohl gestattet. Ein wenig ist angesichts der Enthaltung in den Fragen des Verhältnisses der Bundesrepublik zum Osten der Versuch zu erkennen — ich sage: ein wenig —, hinterher einiges von den Früchten, die die jetzige Bundesregierung zu ernten in der Lage ist, mit in die eigenen Scheuern zu bringen.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn dieser heute gezeigten Bereitwilligkeit nicht nur für Berlin, sondern in einer vernünftigen Entwicklung auch nach dem Osten hin jene Taten folgten, die dann vielleicht einmal die bedenklichen Folgen der Stimmenthaltung in den lebenswichtigen Fragen auch im Ausland beseitigen könnten. Ich habe Gelegenheit gehabt, über den Eindruck, den die Enthaltung der Opposition drüben in den Vereinigten Staaten gemacht hat, eigene Beobachtungen anzustellen. Ich muß sagen, ich beneide die Opposition um die Beurteilung, die man dort drüben gefunden hat, derzeit nicht. Aber das sind nicht Dinge, die uns angehen.
-- Warum ich davon rede?! Weil es gesagt werden muß, sehr einfach!
— Das muß sehr wohl gesagt werden. Sie werden noch ganz was anderes zu hören kriegen, Herr Kollege Wohlrabe! Ich befasse mich mit den Dingen, die der Herr Bundeskanzler heute ausgesprochen hat.
— Sie können sich ja zu Wort melden, Herr Kollege Wohlrabe; das wäre sehr viel besser!Ich freue mich, daß der Herr Bundeskanzler wiederum einmal darauf hingewiesen hat — es ist ja für diese Bundesregierung, für das ganze Haus, das muß ich zugeben, eine Selbstverständlichkeit —, daß die Verpflichtungen, die wir, die Bundesregierung, ge-
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Bormgenüber Berlin haben, nach wie vor voll wahrgenommen werden. Ich begrüße es auch besonders, daß der Herr Bundeskanzler eine Mahnung an die DDR gerichtet hat, auch ihrerseits jenen Geist zu praktizieren, der überhaupt erst zu dem Abkommen hat führen können. Ihnen ist allen bekannt, daß derzeit Differenzen zwischen dem Senat, unserer Seite, und der DDR bestehen, die sich infolge einer Unklarheit in dem Abkommen weigert, unsere Erwartungen zu erfüllen, nach welcher Menschen aus Berlin sofort Genehmigung zum Besuch des Ostsektors oder der DDR bekommen können. Diese Dinge waren eigentlich zu erwarten. Wer wollte annehmen, daß nach einem Zustand der Konfrontation, die elf Jahre lang gedauert hat, auf Anhieb eine neue Praktik einsetzen könnte, die beide Teile gleichmäßig befriedigt?! Wer ein neues Auto kauft, weiß, daß einige Zeit vergeht, bevor das Ding zufriedenstellend fährt.
Ich würde sehr dazu raten, hier eine gewisse Pause eintreten zu lassen und die Verhandlungen, welche der Senat mit der Gegenseite führt, in Ruhe abzuwarten, um nicht durch Hektik Belastungen für die Zukunft herbeizuführen.Aber etwas anderes ist es, auf das hingewiesen werden soll. Sicherlich ist es zu begrüßen, daß die gesamte freie Welt und die Bundesregierung das ihrige tun, um die Lebensfähigkeit der Stadt zu garantieren. Aber nicht nur durch die Hilfe von außen her kann und wird diese Stadt leben. Sie wird im wesentlichen so leben wie bisher: durch den eigenen Behauptungswillen und durch die Anstrengungen, die sie selbst, für sich selbst und in dieser Stadt macht.
Herr Kollege Barzel hat darauf hingewiesen, daß die CDU ein Programm vorgelegt hat, wie man sich in Berlin die Zukunft vorstellen könne. Leider ist dies etwas spät geschehen; das Programm der FDP lag bereits auf dem Tisch. In den Punkten, in denen wir voll mit Ihrem Programm übereinstimmen, hat es teilweise genau denselben Wortlaut. Das müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen.Aber wir wollen hier nicht in einen Streit über die Urheberschaft eintreten, sondern wir wollen uns lieber darüber freuen, daß Opposition und Senat an die Arbeit gehen, um die Selbstheilungskräfte und den Selbstbehauptungswillen dieser Stadt wiederum zu wecken. Bisher — ich wiederhole es — hat die Stadt alle Fährnisse im wesentlichen dadurch überstanden, daß sie selbst überleben wollte.
Hilfe von außen ist notwendig, aber ohne eigenen Selbstbehauptungswillen wären alle diese Dinge nicht von Wirkung.Ich freue mich — und ich möchte es betonen —, daß der Herr Bundeskanzler gesagt hat, wir erwarten, daß die getroffenen Regelungen nicht restriktiv gehandhabt werden, sondern ausbaufähig bleiben. Besonders befriedigend ist es, daß die Sowjetunion — soweit Berlin in Frage kommt — nicht nur nicht mehr die gewachsenen Bindungen an den Bund leugnet, sondern daß sie darüber hinaus die Ausbaufähigkeit zugestanden hat. Hieran gemeinsam zu arbeiten, wird entscheidend für die Möglichkeiten sein, die diese Stadt späterhin einmal haben wird.Zu dem Absatz in der Rede des Herrn Bundeskanzlers, in dem er von den Voraussetzungen spricht, unter denen Berlin nach Abbau der Spannungen und durch weiteren Abbau der Spannungen wird leben können, möchte ich folgendes sagen. Diese Möglichkeiten werden nur dann ausgeschöpft werden können, wenn Ost und West gleichermaßen daran interessiert sind, daß in dieser Stadt — aus der geographischen Lage heraus — eine Stätte der Begegnung entstehen kann. Die Stadt wird erst dann ruhig leben können, wenn nicht nur der Westen, wenn nicht nur wir selbst an der Aufrechterhaltung ihrer Existenz interessiert sind, sondern wenn auch der Osten dasselbe Interesse daran hat, daß hier ein Platz geschaffen wird, an dem Gespräche friedlicher Art stattfinden können, statt daß es eine Stadt ist, in der sich die Spannungen der Welt zu Lasten der Berliner manifestieren.Es ist die Bundesregierung gewesen, die diese Verträge über Berlin in das System eingebettet hat, das in seiner Totalität allein geeignet ist, die europäischen Spannungen zwischen Ost und West zu beseitigen. Ohne dieses Werk und ohne den mutigen Schritt der Bundesregierung nach Moskau und Warschau hin wären die Verhandlungen über Berlin Stückwerk geblieben, ja sie wären unmöglich gewesen.
Sinn unserer Arbeit ist der Friede. Wo wäre das besser zu manifestieren als in jenem Teil Deutschlands, der heute noch unter Besatzungsregime lebt, in jenem Teil Deutschlands, über den die Siegermächte in ihrer Gesamtheit bisher noch nicht befunden haben? Wir Berliner haben die Zeit, in der sich die Spannungen der Welt auf unserem Rücken abspielten, im Hinblick auf die Notwendigkeit ertragen, den Frieden in Europa zu erhalten und zu fördern. Durch die Vertragswerke in ihrer Gesamtheit ist jetzt eine Voraussetzung gegeben, am Beispiel Berlins zu beweisen, daß es sehr wohl möglich ist, über Tagesgegensätze hinaus in den wirklich entscheidenden europäischen Fragen zu einem Übereinkommen zu gelangen.Das ist die Aufgabe, die vor uns steht. Ich möchte dringend davor warnen, in die Meinung zu verfallen, daß die Probleme gelöst seien. Es ist weiter nichts geschehen, als daß die Tür aufgestoßen worden ist. Wie wir den Raum, der sich dahinter auftut, ausfüllen, das ist die gemeinsame Aufgabe, vor der wir stehen. Diese Aufgabe kann nur bewältigt werden, wenn in dieser Frage alle Kräfte in der Bundesrepublik zusammenstehen, um auf der Basis der Einbettung in das Bündnis mit dem Westen jene Position auch für Berlin zu erreichen, die für die Erhaltung des Friedens notwendig ist.Meine Damen und Herren! Diese Stadt Berlin hat in der Tat die Prüfungen der verschiedensten Art und Schwere nicht zuletzt deswegen überstanden, weil wir
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 10971
Bormüber alle Fährnisse hinweg gewußt haben, daß wir die Aufgabe hier in der Bundesrepublik nur zum Erfolg bringen können, wenn das Bollwerk der Freiheit in Berlin durch den eigenen Lebenswillen gefestigt bleibt. Das ist der Beitrag, den wir geleistet haben und den wir in Zukunft zu leisten haben werden.Ich bedaure es, daß bereits wiederum in Berlin Ansätze erkennbar werden, das, was uns verbinden sollte, in kleinlichen Tagesstreitereien parteipolitischer Art untergehen zu lassen. Mit diesem Geist werden wir das Problem Berlin weder hier noch in der Stadt selbst meistern können.Wir glauben an die Zukunft der Freiheit; wir glauben an den Wert der Freiheit. Wer wüßte das besser als wir Berliner, vielleicht besonders ich, der ich weiß, was Unfreiheit bedeutet! Ich habe gelernt, daß Unfreiheit nur überwunden werden kann, wenn man selbst frei sein will.Dieser Freiheitswille ist in Berlin lebendig geblieben, und er wird das entscheidende Moment sein, an dem diese Stadt ihre Aufgabe für Deutschland und Europa auch in Zukunft erfüllen wird.
Bevor wir in der Aussprache fortfahren, habe ich die Ehre, Seine Exzellenz den Präsidenten der Ständigen Kommission beider Häuser des Kongresses der Vereinigten Mexikanischen Staaten, Herrn Luis H. Ducoing Gamba, und eine Delegation des mexikanischen Abgeordnetenhauses zu begrüßen.
Es ist uns eine besondere Freude, Parlamentarier aus Mexiko als Gäste in unserem Lande und im Deutschen Bundestag willkommen zu heißen.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Mattick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich heute mit einem Wort des Dankes beginnen, des Dankes für das Zusammenwirken unserer Alliierten, Freunde, Verbündeten mit der Bundesregierung und dem Berliner Senat, um dies zu erreichen, worüber wir heute reden. Ich glaube, nur die Tatsache, daß es hier von Anfang an zu einer gemeinsamen Haltung und zu einem gemeinsamen Willen gekommen ist, hat dazu geführt, daß wir heute davon sprechen können, daß nach 27 Jahren für Berlin eine neue Entwicklung eingeleitet werden konnte.Präsident Nixon hat in seiner Regierungserklärung zum Jahreswechsel festgestellt, wenn irgendwo in Europa der nukleare Krieg in den letzten 25 Jahren hätte ausbrechen können, dann wäre das in Berlin gewesen. Wenn der Präsident jetzt bei seinem Erscheinen in Moskau erklärt: Wir treffen uns, um ein neues Zeitalter in den Beziehungen zwischen unseren großen und mächtigen Nationen zu beginnen, so möchte ich dazu sagen: Welche Wandlung, welch hoher Anspruch! Auch in dem Moskauer Kommuniqué wird deutlich, daß es nach dem zweitenWeltkrieg, nach dem kalten Krieg in Europa, nach den Differenzen an vielen Stellen der Welt dennoch möglich zu werden scheint, daß die beiden Hauptträger der Auseinandersetzungen in vielen Gebieten der Welt sich zu einer gemeinsamen Linie finden, um den Frieden nicht nur in Europa, sondern überall in der Welt sicherer zu machen.Die Kommentare der letzten Monate über das Geschehen um die Ratifikation und um die BerlinVereinbarungen, die einzeln nachzulesen sich lohnt, deuten auf eines hin: Wir haben es hier mit einer Veränderung zu tun, die die meisten von uns vor kurzer Zeit noch nicht zu erhoffen wagten. Das, was für Berlin jetzt erreicht ist, die Vereinbarungen, mit denen wir es zu tun haben, waren nur — das muß hier noch einmal wiederholt werden — bei einer Ratifikation der Verträge mit Moskau und Polen erreichbar. Herr Barzel hat heute ja erfreulicherweise anerkannt, was hier vor vier Wochen noch bestritten wurde, daß nämlich der Zusammenhang zwischen der Ratifikation der Verträge und der Berlin-Vereinbarung unbestreitbar ist.
Dies ist für mich eine sehr notwendige Feststellung, weil wir es hier nämlich mit einem Klärungsprozeß zu tun haben, der vor vier Wochen noch anders aussah.
— Ich habe auch nachgelesen, was Sie in New York gesagt haben, Herr Leisler Kiep. Darüber reden wir noch.Meine Damen und Herren, diese Verträge stehen im Zeichen der Vergangenheit. 27 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, aus dessen Katastrophe uns unsere Kriegsgegner von damals durch Toleranz und Marshallplan ausgelöst haben, gibt es keinen unmittelbaren Anknüpfungspunkt mehr an die Vergangenheit, die immer so gern mit dem Jahre 1937 gekennzeichnet wird. 27 Jahre kann man nicht überspringen. Heute können wir nur von dem ausgehen, was ist. Heute können wir nur von dem ausgehen, was wir — und anscheinend konnte es niemand — nicht verhindern konnten. Die Verträge sind ein Produkt der Vergangenheit und können nur an die Versäumnisse der Vergangenheit anknüpfen. Meine Damen und Herren, Irrtümer der Vergangenheit dürfen uns nicht lähmen, aus dem Heute etwas Besseres zu entwickeln. Ich betrachte die Verträge und die Berlin-Vereinbarung als Ausgangspunkt zur Mobilmachung des Friedens für Europa und weit darüber hinaus, für die Menschen in Europa und vor allen Dingen für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands und Berlins.In einem Jahr wird niemand mehr fragen, mit wieviel Stimmen die Ratifikation der Verträge erfolgt ist. Aber alle werden sich daran erinnern, wer sich an dieser Abstimmung quasi nicht beteiligt hat und nicht bereit war, die Verantwortung für diese Politik mit zu übernehmen. Daran werden sich alle erinnern.
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10972 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
MattickDie Berlin-Vereinbarung ist nach langer Zeit der erste wirkliche politische Schritt im Sinne der gesamten Nation, von der hier so oft und so viel gesprochen worden ist. Es ist im wahrsten Sinne ein patriotischer Schritt, es ist Dienst am Frieden und Dienst an den Menschen der ganzen Nation.
— Wer das glaubt, ist nicht die Frage. Wer es sieht und daran arbeitet, ist das Problem.Meine Damen und Herren, ich möchte in diesem Zusammenhang etwas zu dem sagen, was uns seit Ostern und Pfingsten an Erfahrungen tief beeindruckt. Es sind sicher nicht viele in diesem Hause, die die Gelegenheit wahrnehmen konnten oder wahrgenommen haben, die erste Möglichkeit zu Begegnungen mit dem anderen Teil Deutschlands zu nutzen. Ich gehöre zu denen, die es getan haben. Lassen Sie mich dazu einiges sagen.Über 600 000 Berliner sind über Pfingsten in die DDR gereist und haben dort mit den Menschen des anderen Teiles Deutschlands Kontakt gehabt. Von nun an hat jeder Berliner Gelegenheit, sich 30 Tage pro Jahr in der DDR aufzuhalten. Dieses heißt, übertragen auf die Pfingstbegegnung, wir nehmen an, daß mindestens 500 000 Berliner diese 30 Tage der Begegnung im anderen Teil Deutschlands ausnutzen. Wenn man von einer Begegnung mit nur einem Menschen täglich ausgeht, heißt das, daß die WestBerliner mit 15 Millionen Deutschen, die in der DDR leben, zusammentreffen. Erst wer die Begegnung erlebt hat, kann begreifen, was das für die Menschen drüben bedeutet. Mir ist erst Pfingsten klargeworden, obwohl ich als Berliner wahrscheinlich eine andere Einstellung dazu habe als mancher, der hier im Westen lebt und diese Einstellung gar nicht haben kann, was die Berlin-Vereinbarungen und was die Verträge für die Menschen im anderen Teil unseres Vaterlandes bedeuten, nämlich die einzige wirkliche große Hoffnung darauf, daß eine Änderung auch für sie eintritt, eine Änderung in dem Sinne, daß sie nach 20, nach 25 Jahren Isolierung erstmalig in großem Umfange in der Lage sind, Gespräche mit den Menschen zu führen, die im anderen Teil ihres Vaterlandes leben. Sie können Hoffnung aus einer Entwicklung schöpfen, an die sie kaum noch zu glauben gewagt haben. Ich habe diese Gespräche geführt, und hier im Raum sitzen mehrere, die sie auch geführt haben.Ich habe nicht die Absicht, jetzt eine politische Auseinandersetzung über die Frage, wie es drüben aussieht, zu führen. Das ist eine ganz einfache Formel, die wir hier sehen müssen. Die Öffnung der Grenze zwischen der DDR und Polen und zwischen der DDR und der CSSR ist kein Ersatz für die Begegnung der Deutschen mit ihren Freunden, Verwandten und allen denen, die in Westdeutschland leben. Für die Deutschen in der DDR bedeutet es ein Stück Vergangenheit und ein Stück Zukunft, diese Kontakte wiederherzustellen. Die Vorstellung eines Auseinanderlebens ist während des Pfingsttreffens nicht bestätigt worden, sondern es ist bestätigt worden, daß mit diesem Schritt, der durch die Verträge und die Berlin-Vereinbarungen eingeleitet worden ist, auch für die Deutschen im anderen Teil Deutschlands eine völlig neue Perspektive ihrer Lebensbedingungen entsteht. Der Begriff „Lebensbedingungen" hat für die Menschen drüben nicht nur eine wirtschaftliche Bedeutung, obwohl jeder, der dort Kontakte aufgenommen hat, weiß, daß wirtschaftliche Fragen drüben von großer Bedeutung sind. Für diese Menschen entsteht die große Hoffnung, daß das, was wir jetzt an Politik eingeleitet haben, auch ein Beitrag zu Veränderungen in diesem Sinne im anderen Teil Deutschlands wird.Sie machen sich ja keine Vorstellungen, meine Damen und Herren, was es bedeutet, 27 Jahre in einer solchen Isolierung zu leben, wie sie es mußten, und 27 Jahre darauf zu hoffen, daß auch auf der anderen Seite Deutschlands eine Politik betrieben wird, die ihnen in Wirklichkeit hilft, und nicht nur Reden zu hören, die davon ausgehen, daß in späterer Zeit einmal das Recht der Deutschen zum Zuge kommt und damit Veränderungen eintreten, von denen bisher niemand eine Vorstellung hatte, wie sie wirklich entstehen können und was sie dann noch, wenn es einmal soweit ist, bedeuten. Ich sage Ihnen, die Praxis dieser Tage ist schon eine dankbare Antwort an die Politik, die mit der Einleitung der Verträge und der Berlin-Vereinbarung jetzt ihren ersten Erfolg zeitigt.Für Berlin — das ist hier sehr deutlich gesagt worden — bedeuten diese Verträge und bedeutet die Berlin-Vereinbarung eine qualitative Veränderung von einem noch nicht einschätzbaren hohen Rang. Wer sich die Skala noch einmal vor Augen hält, wie diese Stadt von der Blockade über die Mauer bis zum heutigen Tage gelebt hat, unter welchen Bedingungen die Menschen gelebt und wie sie sich verhalten haben, der sollte hier seine Bewunderung darüber noch einmal ausdrücken — mir als Berliner steht das nicht zu —, daß es möglich war, mit dem Verhalten der Menschen in dieser Stadt durch diese unglaublichen Schwierigkeiten der letzten 25 Jahre dennoch zu jeder Zeit damit rechnen zu können, daß sie zu ihrer Position stehen, daß sie diese Stadt erhalten durch ihre Bereitschaft, unter den Bedingungen zu leben, von denen niemand bis vor einem Jahr oder vor zwei Jahren wußte, daß es bald einmal eine Änderung geben wird.
Die qualitative Veränderung liegt nicht nur in dem schnelleren Weg zwischen West-Berlin und Westdeutschland, sie liegt in der Tatsache, daß heute West-Berlin davon ausgehen kann, daß es — mitverantwortet von der Sowjetunion — eine Stadt ist, die mit den bestehenden Bindungen zur Bundesrepublik gehört, daß diese Bindungen auch im Osten Europas allgemein anerkannt werden und jeder Bürger West-Berlins sich überall in dieser Welt als Bundesbürger mit seinem Bundespaß vertreten sehen kann.Die Stadt selbst wird aus sich heraus neue Lebensimpulse entwickeln können durch die Tatsache, daß die freie Bewegung zwischen Berlin und Westdeutschland viele bisherige Hemmungen beseitigt. Ich sage Ihnen, es wird auch für die junge Genera-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 10973
Matticktion von großer Bedeutung sein, in dieser Stadt zu leben, weil nämlich in dieser Stadt mehr Kontaktmöglichkeiten mit der jungen Generation im anderen Teil Deutschlands gegeben sind.Ich erinnere mich an viele Reden, die hier gehalten worden sind über die Frage, wie man zusammenkommt, über die Überlegungen, wie isoliert die Menschen sind, wie sie denken, wie man mit ihnen sprechen kann. Dies alles ist jetzt eröffnet worden, und ich glaube, es wäre wertvoll, dem mehr Aufmerksamkeit zu widmen und Verständnis dafür aufzubringen, daß für Berlin und für die Berliner und für die Menschen in der DDR mit dieser Berlin-Vereinbarung und durch die Verträge etwas entstanden ist, das in seinem Umfang und in seiner Auswirkung für die weitere Entwicklung überhaupt noch nicht einzuschätzen ist.Ich gehe davon aus, daß wir auch mit Schwierigkeiten rechnen müssen. Wer sich in der DDR umgesehen hat, der weiß, daß es für die Regierung dort drüben nicht so einfach ist, was sie jetzt an neuen Pflichten übernehmen mußte,
und der weiß auch, daß hier noch Klippen vor uns stehen, die noch gar nicht zu übersehen sind. Ich möchte von diesem Platz aus an alle diejenigen appellieren, die wissen, um was es dabei geht, sich so zu verhalten, daß der anderen Seite keine berechtigten Vorwände gegeben werden, neue Möglichkeiten für Schwierigkeiten einzuschalten. Dies wird eine schwierige Probe aufs Exempel sein, ob die nationale Verantwortung aller Deutschen auch auf dem Weg zwischen der Bundesrepublik und WestBerlin gemeinsam getragen wird, damit es uns nicht eines Tages passiert, daß durch Dinge, die der einzelne dann ohne. Rücksicht auf andere tut, neue Schwierigkeiten entstehen. Ich glaube, das sollte von diesem Platz aus noch einmal allen gesagt werden: Es wird darauf ankommen, wenn wir die DDRFührung an ihren Pflichten festhalten wollen, daß auch wir wissen, welche Verpflichtung wir damit übernehmen.Dabei mache ich gar kein Hehl daraus, meine Damen und Herren, daß für die Menschen dort drüben dies ein ganz kleiner, dünner Anfang und daß es ihre Hoffnung ist, daß auch sie bald einmal Gelegenheit haben, durch die Mauer hindurchzusehen und zur anderen Seite Deutschlands zu blicken. Dazu wird es noch eines längeren Weges bedürfen. Wie lang er tatsächlich ist, wird auch davon abhängen, welche Politik wir betreiben, um die Mauer eines Tages nach beiden Seiten öffnen zu können.Ich gehe jedenfalls davon aus, meine Damen und Herren, daß mit diesem Schritt Möglichkeiten eingeleitet werden, die der nationalen Frage, von der wir hier so gerne reden, eine neue Qualität verleihen wird, weil das Zusammenleben der Menschen in beiden Teilen Deutschlands mit diesen Vereinbarungen eine erste Chance, eine erste Möglichkeit bietet.Herr Barzel hat hier in seiner Bemerkung gesagt: Die Zukunft wird erweisen, wer recht hatte.
— Die Zukunft wird erweisen, Herr Barzel, wer imstande und bereit ist, diese begonnene Politik mit dem gesamten Gewicht des deutschen Volkes, mit dem gesamten Gewicht aller politischen Kräfte weiterzuführen und bis ins letzte auszuschöpfen.
Diese Politik wird in dem Ausmaß Erfolg haben, in dem man uns in der Bundesrepublik in den Fragen dieser Politik nicht auseinandermanövrieren kann. Das wird ein wichtiger Punkt sein.Meine Damen und Herren, Berlin darf nicht im Schatten bleiben, ist eben von Herrn Barzel gesagt worden. Berlin hat die erste Möglichkeit, sich aus dem Schatten zu lösen, in dem es seit mindestens 1961, als der Bau der Mauer nicht verhindert werden konnte, gestanden hat. Diese Schatten, meine Damen und Herren, sind erst jetzt in diesen Tagen erstmalig von Berlin gewichen durch die Verträge und durch die Vereinbarungen über Berlin. Die Berliner spüren das am meisten selbst.Wir haben mit diesen Vereinbarungen und mit der Ratifizierung nun dafür gesorgt, daß die Berliner nach 27 Jahren aufatmen können, daß in der DDR endlich eine Hoffnung entsteht. Unser Ziel ist es, eine Politik zu betreiben, die dazu führt, daß sich die Mauer in Berlin nie mehr ganz schließen, sondern Schritt für Schritt weiter öffnen wird.
Unser Ziel ist es ebenso, daß durch unsere Politik auch die Menschen im anderen Teil Deutschlands bald mit einer Freizügigkeit rechnen können, die es ihnen erlaubt zu wissen, wie wir hier leben, und die Veränderungen in Deutschland mit sich bringt, die Voraussetzung für eine zukünftige Nation, von der viele träumen, sein wird. — Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Gradl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir ein paar kurze Bemerkungen zu dem, was in der Aussprache gesagt worden ist. Zunächst begrüße ich es, daß der Kollege Mattick am Schluß darauf hingewiesen hat, daß die Mauer nicht nur ein Problem der Bewegungsfreiheit von West nach Ost ist. Das, was wir in Berlin mit der Berlin-Regelung erreicht haben, kommt zunächst — das dürfen wir nie vergessen — nur denen zugute, die aus West-Berlin nach Ost-Berlin und in die DDR wollen. Die eigentliche Aufgabe steht ja noch vor uns: Die Aufgabe, zu erreichen, daß Freizügigkeit nun endlich auch in einem wachsenden Maße von Ost nach West gewonnen wird. Dies ist das eigentliche Problem der Mauer.
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10974 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Dr. Grad!Von Herrn Kollegen Borm ist in der Diskussion eine Bemerkung gemacht worden, die ich für kleinlich halte und die wir nicht einfach hinnehmen wollen. Herr Kollege Borm, Sie haben unsere jetzige Stellungnahme zur Berlin-Regelung so gedeutet, als seien wir bemüht — wie sagten Sie? -, fremde Früchte in unsere Scheuern zu bringen. Herr Kollege Borm und die anderen, die es angeht: wenn es in den vergangenen Jahren eine gemeinsame Arbeit der verschiedenen politischen Kräfte dieses Hauses gegeben hat, dann war es die Bemühung, eine vernünftige Berlin-Regelung herauszuholen. Hier haben wir — vom Bundeskanzler von diesem Platz aus anerkannt — gezeigt, was man erreichen kann, wenn die politischen Kräfte gemeinsam an eine solche Aufgabe herangehen.
Der Beitrag der Opposition, der CDU/CSU, hat sehr dazu beigetragen, daß in die Berlin-Regelung manches hineingekommen ist und daß aus ihr manches herausgehalten worden ist, was vom deutschen Interesse aus eben erreicht oder vermieden sein mußte.
Ich meine, man kann daraus diesen Schluß ziehen: Wenn die Regierung von Anfang an und insgesamt in Ihrer Ostpolitik den Weg gegangen wäre,
in Gemeinsamkeit mit uns ihren Versuch zu machen,
dann wäre manches an Auseinandersetzungen vermieden worden,
und sicher wäre das Ergebnis in vieler Hinsicht besser gewesen als bei Anwendung des Prinzips „wir brauchen die Opposition nicht".
Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte, bezieht sich auf eine Äußerung des Herrn Bundeskanzlers. Er sprach die Erwartung aus, daß — ich verkürze jetzt — die getroffenen Vereinbarungen nicht restriktiv ausgelegt, sondern vielmehr ausgebaut würden. Dies ist natürlich unser aller Wunsch. Aber wir dürfen in diesem Augenblick nicht übersehen, daß von der anderen Seite schon jetzt in einem bestimmten Punkt ein Verhalten an den Tag gelegt wird, das befürchten läßt, daß die andere Seite genau das Gegenteil vorhat. Das, was sich um die Sofortabgabe von Zugangsscheinen in Berlin am Sonntag und seither getan hat, ist das Gegenteil von offenem, lösendem Verhalten in bezug auf die Berlin-Regelung. Es ist restriktiv, ja sogar prohibitiv. Wir warnen die, die es angeht — das ist der Senat, und das ist die Bundesregierung —, davor, diese Sache herunterzuspielen und zu meinen, das seien Anfangsschwierigkeiten, und damit könne man irgenwann fertig werden. In Wirklichkeit ist es so, daß hier offenbar von der anderen Seite schon im Anfang versucht wird, das Prinzip restriktiverHandhabung in die Berlin-Regelung einzuführen. Deshalb, meine ich, ist sofort höchste Wachsamkeit erforderlich.Die dritte Bemerkung bezieht sich auf die Pflichten und Notwendigkeiten, die sich aus der Berlin-Regelung, wie sie jetzt vorliegt, ergeben. Wir alle sind uns, glaube ich, darüber im klaren, daß die kommende Periode — wir wissen nicht, wie lange sie dauern wird — für Berlin auch auf der Basis der Berlin-Regelung neue Probleme bringen wird. Keiner von uns hatte oder hat ein Interesse daran, daß Berlin Spannungszentrum ist, und keiner konnte wünschen, daß es das bleiben würde. Aber nunmehr ergibt sich auf der Basis der Verträge und der Berlin-Regelung für uns alle die Aufgabe, sehr dafür zu sorgen, daß Berlin neue Anziehungskraft gewinnt, und da reicht, glaube ich, das Modellbild der modernen Großstadt eben nicht aus. Berlin braucht eine Anziehungskraft und eine Ausstrahlungsfähigkeit, die das politische, geistige, kulturelle Interesse nicht nur in unserem eigenen Lande, in der Bundesrepublik, sondern weit darüber hinaus anspricht. Hier, Herr Bundeskanzler, haben wir die dringende Bitte, daß die Regierung die vielfältigen Bemühungen und verschiedenen Planungen, für Berlin Institutionen zu gewinnen, die aus dieser Stadt ein neues, über die Stadt und über die Bundesrepublik hinausreichendes geistig-kulturelles und wissenschaftliches Zentrum machen, nun endlich zusammenfaßt und eine Gesamtvorstellung entwickelt, damit die konkreten Anstrengungen Ansatzpunkte und Basis gewinnen, um nun wirklich das zustande zu bringen, was notwendig ist, z. B. ein Bündel von wissenschaftlichen Institutionen von internationalem Rang.Eine weitere Bemerkung, zu der die Diskussion angeregt hat: In den verschiedenen Reden ist darauf hingewiesen worden, wie wechselvoll die Geschichte Berlins seit 1945 gewesen ist. In der Tat sind die 25 oder 27 Jahre eine Kette von Versuchen, West-Berlin zu ilosieren. Das fing mit der Blockade an, ging zum Ultimatum und setzte sich in einer Serie von gezielten Störaktionen fort. Unsere Hoffnung ist — dies ist doch wohl auch der Sinn des Moskauer Vertrages —, daß nunmehr Androhung wie Anwendung von Gewalt als Mittel der Politik gegenüber Berlin endgültig aus der politischen Praxis aller, die es angeht, verschwinden. Wir selber haben als Deutsche kein Interesse, Zweifel daran zu setzen, obwohl wir nach allen Erfahrungen, die wir gemacht haben, wissen, daß wir wachsam sein müssen.Aber wir müssen auch im Bewußtsein haben, daß sich bereits eine neue Spekulation in bezug auf die Zukunft Berlins bemerkbar macht, die Spekulation der Gegenseite nämlich, daß nun, wenn sozusagen Frieden über Berlin wird, das Engagement für Berlin-West allmählich ermüden könnte.
Dieser Gefahr und dieser Spekulation müssen wir widerstehen. Auch hier sind wir zu permanenter Anstrengung aufgerufen.Dazu gehört — lassen Sie mich das zum Schluß sagen — natürlich auch die intensive Anstrengung
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Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 10975
Dr. Gradlder zentralen Institutionen und Repräsentanten aller politischen Kräfte der Bundesrepublik, Berlin im Rahmen der Viermächteregelung weiterhin als den Platz zu betrachten und zu nutzen, von dem aus gewichtige politische Aussagen und Stellungnahmen zur deutschen und internationalen Politik kommen. Es darf nicht so sein, daß nunmehr Berlin vornehmlich als „Hauptstadt der DDR" und als zentraler Ort des deutschen Kommunismus im politischen Bewußtsein der Welt verankert wird. Wir deutschen Demokraten sind verpflichtet, dafür zu sorgen, daß Berlin Forum der deutschen Demokratie bleibt.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit diesen Tagesordnungspunkt ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung betr. Fragen der inneren Sicherheit
Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Herr Genscher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bombenanschläge in sechs deutschen Städten haben das Augenmerk der Öffentlichkeit verstärkt auf die Probleme der inneren Sicherheit in unserem Lande gelenkt. Diese Ereignisse veranlassen die Bundesregierung, ihr Konzept zur Erhaltung und Verbesserung der inneren Sicherheit dem Hohen Hause als geschlossenes Ganzes zu erläutern und die Fraktionen des Deutschen Bundestages um ihre Unterstützung für Gesetzgebungsvorhaben zu bitten, die von der Bundesregierung als unerläßliche Voraussetzungen für eine nachhaltige Verbesserung der inneren Sicherheit betrachtet werden.Die Konzeption der Bundesregierung für die innere Sicherheit umfaßt vier Bereiche:erstens die Verbesserung der Sicherheitseinrichtungen des Bundes durch personelle, finanzielle, technische und organisatorische Maßnahmen,zweitens die Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Länder auf allen Gebieten der inneren Sicherheit nach den Grundsätzen eines kooperativen Föderalismus, um angesichts der notwendigerweise föderalistischen Struktur des Aufbaus unserer Sicherheitsorgane Reibungsverluste zu vermeiden,drittens die schnelle Verabschiedung schon im Parlament liegender Gesetzentwürfe, die uns in die Lage versetzen sollen, die erreichten personellen und technischen Kapazitäten voll einzusetzen, und die andererseits erkannte Lücken in einigen für die innere Sicherheit wichtigen Rechtsgebieten schließen sollen.Viertens sind diese Maßnahmen eingebettet in eine umfassende gesellschaftspolitische Zielprojektion, die darauf abgestellt ist, das demokratische Engagement des einzelnen Bürgers zu fördern und die gesellschaftlichen Bedingungen zu erkennen undzu verändern, unter denen Kriminalität und politischer Radikalismus entstehen oder sich ausbreiten.Dem ersten Ziel, Ausbau der Sicherheitsbehörden, dienten die im Sofortprogramm zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung vom 29. Oktober 1970 dargestellten Maßnahmen und schließlich das am 22. März dieses Jahres vorgelegte, daran anknüpfende Schwerpunktprogramm Innere Sicherheit.Ein Schwerpunkt der Maßnahmen liegt, der Rechtslage und der Verantwortung des Bundes im Bereich der Verbrechensbekämpfung entsprechend, beim personellen und technischen Ausbau des Bundeskriminalamts zu einer modernen Behörde wirksamer Verbrechensbekämpfung. Die Feststellung in der Regierungserklärung, die Bundesregierung werde die Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung energisch vorantreiben, ging von der Erkenntnis aus, daß der personelle und technische Stand des Bundeskriminalamts im Jahre 1969 nicht den tatsächlichen Erfordernissen der inneren Sicherheit und auch nicht der tatsächlichen Bedeutung dieser Behörde für die Verbrechensbekämpfung entsprochen hat. Diese Maßnahmen erforderten und erfordern Anstrengungen, und zwar erhebliche Anstrengungen des Bundes. Ich darf als Beispiel die Stellenvermehrung im Bundeskriminalamt von 933 Stellen 1969 auf fast 1600 Stellen in diesem Jahr und mehr als 2000 Stellen im nächsten Jahr nennen. Die unmittelbaren Auswirkungen dieser personellen Maßnahmen werden sich erst dann voll zeigen, wenn nach Abschluß der laufenden Ausbildung qualifizierter Nachwuchskräfte die geschaffenen Stellen auch voll besetzt werden können. Parallel zu diesen personellen Verstärkungen läuft die Erhöhung der Aufwendungen für das BKA von 22 Millionen DM jährlich 1969 auf 122 Millionen DM jährlich im kommenden Jahr.Entsprechend ist der Ausbau des Bundesamtes für Verfassungsschutz.Ebenfalls ist der Bundesgrenzschutz im Rahmen unserer Bemühungen um eine Verbesserung der inneren Sicherheit wesentlich verstärkt worden. Die Soll-Stärke, die auf 20 000 Mann festgelegt war, wurde erstmals mit dem Haushalt 1970 überschritten. Der Haushaltsentwurf 1972 sieht eine Erhöhung der Soll-Stärke auf 21 600 vor. Für 1973 ist eine weitere Anhebung auf mehr als 22 100 geplant. Wichtig ist, daß es möglich war, die Ist-Stärke des Bundesgrenzschutzes in der Zeit vom 30. November 1969 bis zum 30. April dieses Jahres um fast 2000 Mann zu erhöhen. Die Aufwendungen für den BGS schließlich stiegen von 300 Millionen DM auf über 500 Millionen DM in diesem Jahr. Sie werden im kommenden Jahr weiter ansteigen.Zum Verantwortungsbereich des Bundes gehört auch die Ausrüstung der Bereitschaftspolizeien der Länder. Im Schwerpunktprogramm Innere Sicherheit sind die dafür vorgesehenen Mittel wesentlich erhöht worden, so daß wir jetzt damit beginnen können, die Bereitschaftspolizeien der Länder nach dem modernsten Stand der Technik auszurüsten.
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10976 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Bundesminister GenscherEine wirksame Verbrechensbekämpfung ist nur möglich in der Fortsetzung der engen, vertrauensvollen, koordinierten Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern, einem Zusammenwirken, das der auf Bund und Länder verteilten Verantwortung für die innere Sicherheit entspricht und ihr gerecht wird. Die bisherigen Anstrengungen der Bundesregierung im Bereich der inneren Sicherheit dürfen uns nicht den Blick dafür verstellen, daß die Hauptlast der Verbrechensbekämpfung unverändert bei den Polizeien der Länder liegt. Daraus ergibt sich, daß die Länder auch die Hauptlast der Aufwendungen für die innere Sicherheit tragen. Die Länder stellen sich dieser ihrer Verantwortung mit demselben Nachdruck wie der Bund.Als wirkungsvollstes Instrument für die Zusammenarbeit von Bund und Länder im Bereich der inneuen Sicherheit hat sich die Innenministerkonferenz erwiesen. In dieser Konferenz vollzieht sich eine für die Öffentlichkeit nur selten wahrnehmbare, dafür aber um so effektivere Koordinierung der gemeinsamen Sicherheitsanstrengungen zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern untereinander.Auch in der Beurteilung der aktuellen, sich aus dem Aufreten der Baader-Meinhof-Bande ergebenden Sicherheitsfragen stimmen Bund und Länder überein. Es liegt in der Logik dieser Übereinstimmung, daß auf Grund eines Beschlusses der Innenministerkonferenz das Bundeskriminalamt in seiner zentralen Funktion bei der Fahndung nach den Bombenattentätern in unbürokratischer Weise Polizeikräfte der Länder unmittelbar in Anspruch nehmen kann. Dabei trifft der Bundesminister des Innern die notwendigen sachlichen und politischen Entscheidungen im Rahmen der Fahndung in Abstimmung mit einem Kontaktausschuß der Innenminister der Länder. Die Form der Zusammenarbeit des Bundeskriminalamts mit den Polizisten der Länder stellt zu gleich sicher, daß auf Landesebene die Einheit der Polizei, die Einheit von Schutzpolizei und Kriminalpolizei nicht angetastet wird. Sie ist auch nach Überzeugung der Bundesregierung eine unverzichtbare Voraussetzung wirksamer Verbrechensbekämpfung.Die Steigerung der Leistungsfähigkeit des Bundeskriminalamts, des Bundesamts für Verfassungsschutz und des Bundesgrenzschutzes sowie die Bemühungen, die Bereitschaftspolizeien der Länder besser auszurüsten, stellen den Beitrag der Bundesregierung für ein gemeinsames Sicherheitskonzept des Bundes und der Länder dar. Die Arbeiten an diesem gemeinsamen Sicherheitskonzept von Bund und Ländern sind im letzten Stadium und werden, wie ich hoffe, noch in diesem Monat zum endgültigen Erfolg führen.Die in der Sicherheitskonzeption vorgesehenen Maßnahmen für das Zusammenwirken von Bund und Ländern sowie für die Polizeiorganisationen, für die Polizeiausrüstung, für den Personalbereich und für das Gebiet der Gesetzgebung sollen dazu führen, daß die Sicherheitseinrichtungen in Bund und Ländern — jede in ihrem Bereich — effektiver arbeiten können.Von erheblichem Gewicht für die innere Sicherheit sind die Gesetzesvorlagen, die gegenwärtig dem Hohen Hause vorliegen. Es sind dies das von der Bundesregierung am 25. August 1971 beschlossene Gesetz für den Bundesgrenzschutz, der am 6. Mai 1970 von der Bundesregierung beschlossene Gesetzentwurf zur Änderung des Verfassungsschutzgesetzes und die dazugehörigen Grundgesetzänderungen.
Ich darf Sie noch einmal bitten, mehr Ruhe zu bewahren. Wer Rücksprachen zu erledigen hat, den bitte ich sich in den Hintergrund des Saales zu begeben. Ich meine damit alle Seiten des Hauses.
Das sind ferner der Entwurf eines Waffengesetzes und die Haftrechtsnovelle. Die Bundesregierung hat die dringende Bitte an das Hohe Haus, über diese Gesetze noch in diesem Monat in zweiter und dritter Lesung zu entscheiden.Von Bedeutung für die innere Sicherheit sind noch die Novelle zur Reform des Strafverfahrensrechts, die sogenannte Beschleunigungsnovelle, sowie die beabsichtigte Pönalisierung der Verherrlichung oder Verharmlosung brutaler Gewalt in den Massenmedien und der von der Bundesregierung am 28. Mai 1971 beschlossene Entwurf eines Bundesmeldegesetzes.Dem Bundesgrenzschutz sind neben seiner Hauptaufgabe, der polizeilichen Sicherung unserer Grenzen, in den vergangenen Jahren weitere Aufgaben zugewachsen. Die Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland und die zu erwartende Entwicklung erfordern die Bereithaltung eines zusätzlichen, jederzeit abrufbereiten Sicherheitspotentials beim Bund zur Unterstützung der Länder auf deren Anforderung. Der Bundesgrenzschutz als Polizei des Bundes, dem schon mit der Grundgesetzänderung des Jahres 1968 Aufgaben der inneren Sicherheit zugewiesen wurden, ist dieses zusätzliche Sicherheitspotential. Das Konzept des Reservepotenials Bundesgrenzschutz hat sich schon jetzt bewährt. Neben dem verbeserten Schutz der Verfassungsorgane in Bonn wurde der Schutz besonders gefährdeter Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland übernommen. Die Gefährdung der Sicherheit des Luftverkehrs führte zur Übernahme von Sicherungsaufgaben auf den meisten Flughäfen der Bundesrepublik Deutschland. Auf Anforderung von sechs Bundesländern nehmen zur Zeit BGS-Beamte Sicherheitsfunktionen auf Flughäfen wahr. Angesichts dieser sich aus den Notwendigkeiten ergebenden Entwicklungen ist eine schnelle Verabschiedung des neuen BGS-Gesetzes unbedingt erforderlich.Wir haben uns in den letzten Jahren in zunehmendem Maße auch mit den Sicherheitsproblemen auseinandersetzen müssen, die durch die Tätigkeit radikaler und zum Teil terroristischer Ausländerorganisationen im Bundesgebiet entstehen. Wenn sich daraus nicht eines Tages unabsehbare Sicherheitsrisiken für die Bundesrepublik Deutschland
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 10977
Bundesminister Genscheroder gefährliche Belastungen unserer auswärtigen Beziehungen ergeben sollen, dann ist es zuallererst notwendig, daß wir über die Vorgänge und Bestrebungen auf diesem Gebiet verläßlich und umfassend informiert sind. Ich habe daher das Bundesamt für Verfassungsschutz schon im Februar 1970 angewiesen, im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten politisch extreme Ausländergruppen gezielt zu beobachten. Darüber hinaus hat die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Verfassungsschutzgesetzes und eine entsprechende Grundgesetzänderung eingebracht. Ich hoffe zuversichtlich, daß sich die Differenzen, die bei den Ausschußberatungen eintraten, überwinden lassen und daß wir auch dieses Gesetz noch vor der parlamentarischen Sommerpause verabschieden können.In diesem Zusammenhang spielt die Frage der Betätigung ausländischer extremer Parteien und Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle. Die Bundesregierung sieht die zunehmende Aktivität in diesem Bereich nicht ohne Besorgnis. Sie erklärt — und sie weiß sich darin einig mit den Ländern —, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht Austragungsort der innenpolitischen Auseinandersetzungen anderer Staaten werden darf.
Lassen Sie mich hierzu noch ein grundsätzliches Wort sagen, das auch einige Aspekte der Ausländerkriminalität einschließt. Die bei uns lebenden ausländischen Arbeitnehmer sind genauso gesetzestreu oder nicht gesetzestreu wie vergleichbare deutsche Bevölkerungsgruppen auch. Es ist eine kleine Anzahl von Ausländern, die die Anwesenheit von über drei Millionen Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland für kriminelle oder politisch-radikale Handlungen auszunutzen versucht.
Die wirksame Bekämpfung dieser Umtriebe verhindert zugleich Pauschalurteile über die ausländischen Arbeitnehmer, aus denen sich leicht die Gefahr einer Fremdenfeindlichkeit ergeben könnte. Das Problem der Ausländerkriminalität wirft in Wahrheit mit aller Schärfe Fragen der sozialen Integration der ausländischen Arbeitnehmer auf. Die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in Auftrag gegebene Untersuchung zu den sozialen Problemen der Ausländerbeschäftigung, deren Ergebnisse in Kürze vorliegen werden, soll wesentliche Aufschlüsse zur sozialen Integration der ausländischen Arbeitnehmer in unserer Gesellschaft geben. Die Bundesregierung erhält damit eine Grundlage für die Lösung dieses vielschichtigen Problembereichs.In einem weiteren Bereich ist eine dringende gesetzliche Regelung erforderlich, ich meine das Waffenrecht. Es soll ebenfalls auf der Grundlage einer Ergänzung des Grundgesetzes eine umfassende Regelung dieses für die Sicherheit in unserem Lande besonders wichtigen Sachbereichs bringen. Bei diesem Entwurf handelt es sich um eine Initiative des Bundesrates. Sie ist hervorgegangen aus einer gemeinsamen Erörterung der waffenrechtlichen Probleme durch die Innenminister der Länder und des Bundes im September 1970. Die Tatsache, daß die Initiative aus dem Bundesrat kommt, zeigt deutlich, daß in der Frage der inneren Sicherheit kleinliches Zuständigkeitsdenken keinen Platz hat. Die Zahlen, die die Notwendigkeit dieser Gesetzesinitiative dokumentieren, sprechen für sich. Während im Jahre 1962, in dem letztmals die Verwendung oder Mitführung von Feuerwaffen bei Straftätern statistisch erfaßt wurde, knapp 2000 solcher Fälle bekannt wurden, hat sich die Zahl nach dem vorläufigen Ergebnis der Kriminalstatistik 1971 vervielfacht.
Die Schaffung eines Bundeswaffengesetzes mit einer materiellen Verschärfung des Waffenrechts erfordert flankierende Maßnahmen. Eine davon war die Entscheidung der Bundesregierung, Ausländer im Falle von Waffendelikten sofort auszuweisen, wenn dies die öffentliche Sicherheit und Ordnung erfordert und kein Interesse an der Strafverfolgung besteht. Diese Maßnahme richtet sich gegen den auf deutschem Boden von Ausländern betriebenen internationalen Waffenhandel. Gleiches gilt übrigens auch für den Rauschgifthandel.Weiter ist es erforderlich, daß angesichts der Freizügigkeit in Europa einheitliche Bestimmungen im Waffenrecht angestrebt werden. Wir brauchen in Wahrheit ein europäisches Waffenrecht! Ich weiß mich in dieser Frage in Übereinstimmung mit einer Reihe meiner Kollegen in anderen europäischen Staaten. Besonders hilfreich war hier die Initiative des Kollegen Sieglerschmidt im Europarat. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, auch dieses für die Verbesserung unserer inneren Sicherheit unverzichtbare Gesetz besonders vordringlich zu beraten und noch in diesem Monat zu verabschieden.Von gleicher Dringlichkeit ist aus der Sicht der Bundesregierung für das Problem der inneren Sicherheit die Verabschiedung der Novelle zum Haftrecht.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Bombenterror und Kriminalität werfen in der Gesellschaft Fragen auf, sind aber zugleich Fragen an die Gesellschaft selbst. Die Bekämpfung der Gewaltkriminalität und des politischen Radikalismus ist ohne Mithilfe der Gesellschaft nicht möglich. Das beginnt schon beim Verhältnis zwischen Bürger und Polizei. Wir müssen den Mitbürgern, die unsere innere und äußere Sicherheit und damit unsere Freiheit garantieren, den Polizeibeamten und den Soldaten, den Platz in der Gesellschaft einräumen, der ihnen und ihrer Aufgabe zukommt.
Polizeibeamte sind keine Bullen und der Dienst inder Bundeswehr ist keine minderwertige Tätigkeit.
Polizei, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr sind nicht notwendige Übel, sondern Garanten unserer Verfassungsordnung.
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10978 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Bundesminister GenscherEs gibt, meine Damen und Herren, in unserer Gesellschaft keinen kritikfreien Raum, auch nicht für die Organe der inneren und äußeren Sicherheit. Aber es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Kritik aus demokratischer Verantwortung und Herabsetzung und Zersetzung mit dem Ziel, die Funktionsunfähigkeit des Staates herbeizuführen.
Wenn wir von innerer Sicherheit sprechen, dann bedeutet das auch, daß wir über Besoldung, Ausbildung und Fortbildung der Polizei sprechen müssen. Wir können aber das Berufsbild der Polizeibeamten nicht allein mit Besoldungs- und Laufbahnverbesserungen, mit Arbeitszeitverkürzungen und Sozialleistungen attraktiver gestalten. Entscheidend ist die Erkenntnis des Bürgers, daß die Sicherheitsorgane eines demokratischen Staates ihn, den Bürger, in seiner ganz persönlichen Freiheit schützen. Das muß er auch in seinem Verhalten gegenüber der Polizei ausdrücken. Die Bekämpfung der Kriminalität kann nicht allein polizeiliche Verbrechensbekämpfung sein! Sie muß viel früher und tiefer ansetzen. Dazu bedarf es einer gründlichen kriminologischen Ursachenforschung. Das Schwerpunktprogramm Innere Sicherheit sieht darum ausdrücklich den Ausbau der kriminologischen Forschung im Bundeskriminalamt vor. Wer wirklich von der Wurzel her Verbrechensbekämpfung betreiben will, muß wissen, daß eine vorausschauende Gesellschaftspolitik hier Wesentliches leisten kann. Wenn ich Gesellschaftspolitik sage, dann meine ich konkret: Sozialpolitik, Bildungspolitik, Wohnungsbaupolitik, Gesundheitspolitik, Sportpflege und Jugendpflege, meine Damen und Herren. Eine Politik, die darauf gerichtet ist, die Lebenschancen jedes einzelnen zu verbessern, ist ein wesentlicher Beitrag zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung.
Das Verhalten der Gesellschaft wird besonders deutlich im Bereich des politischen Radikalismus. Kann es denn nicht sein, daß radikale Agitatoren unter anderem deshalb Wirkung erzielen, weil sie auf zu wenig Widerstand stoßen und daß der Grund dafür nicht etwa darin liegt, daß ihnen viele zustimmen, sondern darin, daß viele die politische Auseinandersetzung mit diesen radikalen Kräften scheuen?!
Deshalb ist die Stärkung des demokratischen Bewußtseins in unserem Lande und die Ermutigung für den einzelnen, sich auch im Alltag demokratisch verantwortlich zu verhalten, ein wichtiger Beitrag zur Eindämmung des Radikalismus.Zu der notwendigen Wachsamkeit gegenüber jeder Form von Radikalismus gehört, daß Feinde unserer Verfassungsordnung vom öffentlichen Dienst ferngehalten werden.
Unser demokratischer Staat kann seine freiheitssichernde und freiheitsfördernde Funktion nur erfüllen, wenn er selbst freibleibt von den Gegnern der Freiheit.
Es wird nach Auffassung der Bundesregierung entscheidend darauf ankommen, daß der Beschluß des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten der Länder in der noch in der Abstimmung zwischen Bund und Ländern befindlichen Form zur Durchführung gelangt.
Wir müssen wachsam bleiben gegenüber jeder Form des Radikalismus, komme er von rechts oder von links. Sich demokratisch verhalten heißt eben auch, sich offen bekennen. Das ist besonders wichtig in einer Periode, in der der politische Radikalismus in einer neuen Form auftritt. Wenn auch die Wahlchancen der radikalen Parteien sinken, so muß uns doch sehr besorgt machen, daß zunehmend fanatisierte Einzelgänger und verbrecherische Gruppierungen mit verfassungsfeindlichen und gewalttätigen Zielsetzungen auftreten.Die Bundesregierung und alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben einmütig die Bombenanschläge der letzten Wochen verurteilt. Ebenso einmütig haben sie der Polizei für ihren Fahndungserfolg bei der Festnahme von drei Mitgliedern aus dem innersten Kern einer Bande von anarchistischen Gewaltverbrechern gedankt. Ich möchte hier vor dem Hohen Hause noch einmal ausdrücklich den Dank der Bundesregierung an die Polizei wiederholen.
Angesichts einer Bilanz von vier Toten und 36 zum Teil schwer Verletzten, angesichts angekündigter weiterer Gewaltakte ist diese einmütige und entschlossene Haltung aller demokratischen Kräfte die entscheidende Voraussetzung, um der Entwicklung der Gewalt wirksam entgegenzutreten. Es gibt hier keine Verschiedenheiten in der Auffassung und Bewertung zwischen den demokratischen Parteien. Sie sollten deshalb auch von niemandem unterstellt werden.
Die Bundesregierung weist jeden derartigen Versuch mit Entschiedenheit zurück. Eine so verursachte Entsolidarisierung der Demokraten wäre in Wahrheit ein Erfolg für unsere gemeinsamen Feinde.
Das zentrale Problem, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, ist die vorbehaltlose und uneingeschränkte Ablehnung der Anwendung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. In dem aktuellen Fall der Baader-MeinhofBande haben wir es mit dem Ergebnis eines Prozesses zunehmender Enttabuisierung der Gewaltanwendung zu tun,
mit einem Prozeß, der nicht nur die Täter selbsterfaßt, sondern vor allem auch jene Umgebung,
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Bundesminister Genscherin der sie sich bewegen, die ihnen hilft und die ihr Verhalten zu rechtfertigen, zumindest aber zu bagatellisieren versucht.
Die Bemühungen, der Anwendung von Gewalt unter bestimmten Voraussetzungen oder von bestimmter Seite den Schein der Rechtfertigung zu geben, haben jenes breite Sympathisantenfeld geschaffen, das die Arbeit der Polizei so sehr erschwert.
Deshalb geben die Namen der Bandenmitglieder allein nicht die ganze Breite und Schwere des Problems wieder.
Die Terroristen legen es nicht zuletzt darauf an, unseren Staat und unsere Demokratie als „Papiertiger" bloßzustellen. Sie wollen beweisen, daß ein demokratischer Rechtsstaat nicht in der Lage ist, mit den Mitteln des Rechtsstaates den Terror einer kleinen Gruppe von Fanatikern zu brechen, ja, sie sähen es am liebsten, wir verließen bei ihrer Bekämpfung den Boden des Rechts, damit sie unter Hinweis darauf ihre Verbrechen noch im nachhinein mit dem Schein einer Rechtfertigung versehen könnten.Es wird ihnen weder das eine noch das andere gelingen. Wir werden auch bei der Bekämpfung des Terrors keinen Millimeter vom Weg des Rechts abweichen; aber wir werden das Recht mit Entschlossenheit anwenden.
Die Bürger in unserem Lande müssen deshalb wissen, daß den Terroristen die geschlossene Abwehrfront der Demokraten gegenübersteht.Bei der Beratung des Sofortprogramms zur Verbrechensbekämpfung konnte ich unter Zustimmung aller Fraktionen des Hauses für die Bundesregierung am 4. November 1970 feststellen:... wir sind in einer Phase, — sagte ich damals —in der manchmal für einen Beobachter der öffentlichen Meinung durch Äußerungen der Eindruck entstehen kann, als ob wir zu einer Verwischung zwischen Gewaltkriminalität und politischer Auseinandersetzung kommen. Es gibt Leute, die die Anwendung von Gewalt — noch dazu mit der für das Rechtsempfinden kaum verständlichen Unterscheidung der Gewalt gegenüber Sachen und Personen — dann als minderschwer betrachten, wenn sie Teil einer politischen Auseinandersetzung ist. Ich möchte dringend davor warnen. Ja, ich glaube, es ist notwendig, auch im Interesse der Erhaltung unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung, daß wir jeder Form von Gewaltanwendung den scharfen Kampf ansagen, auch wenn sie verbrämt wird mit dem Mäntelchen einer ideologischen oder politischen angeblichen Überzeugung.Diese Feststellung aus dem Jahre 1970 gilt für die Bundesregierung heute wie damals.Meine Damen und Herren, der mutmaßliche Täterkreis der Bombenattentäter und auch die Absichten dieser Täter sind uns bekannt. Es handelt sich um eine, vielleicht auch mehrere untereinander lose verbundenen Gruppen von Terroristen, die den „bewaffneten Kampf" gegen einen — wie sie sagen —„aggressiven Staat" aufgenommen haben. Kern dieses Täterkreises ist die Baader-Meinhof-Bande oder Rote-Armee-Fraktion.Ich habe am 28. Januar 1971 das Bundeskriminalamt mit der zentralen Fahndung beauftragt und diesen Fahndungsauftrag am 15. und 19. Mai dieses Jahres auf die Täter der Bombenanschläge erweitert. Mir scheint der Hinweis wichtig, daß die bundesweite Vorrangfahndung der Polizeien der Länder und des Bundeskriminalamtes nach den Terroristen nicht erst seit den Ereignissen von Frankfurt, Augsburg, München, Karlsruhe, Heidelberg oder Hamburg läuft.Auch der Erfolg der Festnahme von Baader. Meins und Raspe war kein Zufallstreffer, sondern das Ergebnis polizeilicher Präzisionsarbeit. Die Fahndung der Länder und des Bundes war vor dieser Festnahme am letzten Donnerstag nicht ohne Erfolg, aber auch — wie Sie wissen — nicht ohne Opfer an Menschenleben verlaufen.Nach unseren Ermittlungen bestand der harte Kern der Bande aus 23 Personen; davon befinden sich 15 in Haft. In vier Fällen haben die Gerichte Haftverschonung ausgesprochen. Vom ursprünglichen Kern der Bande werden noch drei Personen mit Haftbefehl gesucht. Aus der Umgebung der Baader-Meinhof-Bande befinden sich 13 Personen in Haft. In elf Fällen ist Haftverschonung ausgesprochen worden, und weitere elf Personen werden mit Haftbefehl gesucht. Außerdem sind 24 Strafverfahren wegen Begünstigung eingeleitet worden. Gegen die davon Betroffenen liegen keine Haftbefehle vor.Das ist die Bilanz der bisherigen Fahndung, die mit unveränderter Intensität fortgesetzt wird. Ihr gegenüber steht die Bilanz der bisherigen Taten der Bande. Diese sind nicht — wie vor allem vor den Bombenanschlägen nicht selten zu hören war — Ausdruck der Verzweiflung einer Gruppe von Idealisten, die durch hysterische Reaktionen eines Teils der Öffentlichkeit und unangemessenen Einsatz poli-zeitlicher Mittel in eine Notwehrsituation getrieben worden seien; nein, meine Damen und Herren, sie sind die Konsequenz eines planvollen Handelns, eines eiskalten revolutionären Kalküls, das auf die gewaltsame Beseitigung unserer Verfassungsordnung zielt.Diese Bande hat sehr wohl erkannt, daß unsere Ordnung mit politischen Mitteln nicht beseitigt werden kann, weil — wie sie es nennt — eine revolutionäre Situation in der Bundesrepublik nicht gegeben ist. Sie handelt nach einer Strategie, die sie mit einem eigentümlichen Rechtfertigungsdrang, vor allem wohl gegenüber gesellschaftlichen oder politischen Gruppen, denen sie sich einmal verbunden gefühlt hat, immer wieder öffentlich bekanntgibt. Die
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Bundesminister GenscherZielrichtung stammt aus einer Veröffentlichung des Jahres 1968. Es war Dutschke, der damals sagte:Die Durchbrechung der Spielregeln der herrschenden kapitalistischen Ordnung führt nur dann zur manifesten Entlarvung des Systems als ,Diktatur der Gewalt', wenn sie zentrale Nervenpunkte des Systems in mannigfaltiger Form angreifen — so z. B. das Abgeordnetenhaus, Steuerämter, Gerichtsgebäude, Manipulationszentren wie Springer-Hochhaus oder Rundfunkanstalten, Amerikahaus, Botschaften der Marionettenregierungen, Armee-Zentren, Polizeistationen .. .und ähnliches, von gewaltlosen offenen Demonstrationen bis zu konspirativen Aktionsformen.Baader schrieb Anfang dieses Jahres, nachdem Tageszeitungen über ihn berichtet hatten, er wolle sich den Behörden stellen, in einem Brief an eine Presseagentur:Die politisch-militärische Strategie der Stadtguerilla reicht vom Widerstand gegen die Faschisierung der parlamentarischen Demokratie bis zum Aufbau der ersten regulären Einheiten der Roten Armee im Volkskrieg.Der Kampf hat erst begonnen. Es sagt, es komme jetzt an auf. die Bildung politisch-militärischer Kader, die Verbesserung der Bewaffnung und der Ausbildung der Revolutionäre, die Verankerung der Gruppen in der Sympathisantenszene, die bereit ist, den bewaffneten Widerstand zu unterstützen.Auf der gleichen Linie liegen Schriften der sogenannten Rote-Armee-Fraktion, von denen eine unter dem Titel „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa" 1972 vom Verlag Wagenbach in Berlin verbreitet worden ist. Diese Schrift ist übrigens eine der wenigen, die zur Gewalt aufrufen und beschlagnahmt worden sind. Die Schrift schließt mit der Aufforderung:Was sind die nächsten Schritte? Umfassende Propaganda für den bewaffneten Kampf .. . Anleitung für die Herstellung von Waffen für die Kampftaktik . . . Kommandogruppen bilden ... Den Kampf beginnen und die Verbindung zu anderen Kommandos herstellen, ohne die Sicherheit der Gruppen zu gefährden.Die Handlungsanleitung für die Bombenanschläge der letzten Wochen finden sich in zwei weiteren Flugschriften. 1971 wurde ein Flugblatt „Das Konzept Stadtguerilla" angeblich von der Rote-ArmeeFraktion herausgegeben und verbreitet. Darin heißt es:Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seine Unverletzbarkeit zu zerstören.In einer anderen anonymen Flugschrift „Die Lükken der revolutionären Theorie schließen — die Rote Armee aufbauen" heißt es:Durch geeignete Aktionen muß die Guerilla klarstellen, daß sich ihre Angriffe grundsätzlich gegen alle Institutionen des Klassenfeindes, alle Verwaltungsdienststellen und Polizeiposten, gegen Direktionszentren der Konzerne, aber auch gegen alle Funktionsträger dieser Institutionen, gegen leitende Beamte, Richter, Direktoren usw. richten, daß der Krieg in die Wohnviertel der Herrschenden getragen wird.Hier wird nicht Reform und Fortschritt gewollt, sondern Revolution, Terror und Rückfall in die Barbarei.
Meine Damen und Herren, das sage ich namens der Bundesregierung an die Adresse aller, die es angeht, die als Helfer und Sympathisanten der Bande ihre Existenz und ihr Treiben erst ermöglichen.
Herr Bundesminister, darf ich einmal für eine Minute unterbrechen. In der Zwischenzeit ist auf der Diplomatentribüne eine Delegation unter Leitung des Präsidenten des Abgeordnetenhauses der Republik Sierra Leone eingetroffen. Ich darf Sie, Sir Emile Luke, und Ihre Delegation bei uns in Deutschland und im Deutschen Bundestag sehr herzlich begrüßen.
Bitte schön, Herr Bundesminister!
Meine Damen und Herren, weil Revolution das Gegenteil von Reform ist und bewirkt, sind alle diejenigen, die sich als Demokraten ernsthaft um Reformen bemühen, von den politischen Folgen der Anschläge am stärksten betroffen.
Die Bande kann ohne Sympathisanten nicht existieren, was sie auch selber sagt: die Sympathisanten sind das Wasser, in dem diese Guerilla schwimmt. Sie darf kein solches Wasser mehr finden. Die Anarchisten haben sich mit ihren Aktionen außerhalb jeder denkbaren Form von Gesellschaft gestellt. Letztlich ist das der Ausdruck ihres Scheiterns. Sie sind auch in dem Lager, dem sie sich einmal verbunden gefühlt haben, politisch zunehmend isoliert. Der Griff zur Gewalt war zugleich das Eingeständnis jener Isolierung. Weder die Täter noch ihre Helfer und Sympathisanten stehen für irgendwen in unserem Land, außer für sich selbst.Die Frage, die die Öffentlichkeit und wir selbst uns nach den Bombenanschlägen vor allem anderen stellen müssen, lautet: Wie ist so etwas möglich, woher kommt so etwas, wo liegen die Ursachen? Exzesse, wie wir sie mit dem Bombenterror der letzten Wochen erlebt haben, sind nicht das erstemal in der Geschichte vorgekommen. Politisch mobilisierte Gewaltkriminalität und politischer Terror nehmen überall in der Welt zu. Politische Morde in den USA haben in den letzten zehn Jahren die Welt
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Bundesminister Genschererschüttert. John F. Kennedy, Robert Kennedy und Martin Luther King waren die Opfer.Bei der Untersuchung aller dieser Verbrechen hat sich ein schwer zu entwirrendes Knäuel von gewaltorientierten Motivationen gezeigt. Die Völker mit einer demokratischen Tradition sehen sich mit Formen des politischen Kampfes überzogen, wie wir sie aus Gesellschaften kennen, die sich heute in einem vollständigen Umbruch befinden. Die klassischen Ideen von Freiheit und Gleichheit sind in anderen Teilen der Welt auf erstarrte gesellschaftliche Verhältnisse gestoßen. Sie münden in die verschiedensten Lösungsversuche für die Probleme dieser Länder. Die Skala dieser Lösungsversuche reicht von Versuchen mit freiheitlichen Demokratien bis hin zur Gewaltideologie der Tupamaros und Stadtguerillas. In dieser letzteren fast unkenntlichen Verzerrung und Verkehrung in ihr Gegenteil durch eine Theorie und Praxis der Gewaltanwendung kehren diese Ideen jetzt zu uns zurück und sollen gegen uns verwandt werden.In vielen Ländern, auch bei uns, verbindet sich das mit einer zweiten, aus anderen Gründen nicht minder gefährlichen Entwicklung. Eine Denkschule, die ihr Ziel nicht in Aufklärung, sondern in Entlarvung sieht, die nicht Anleitung zur Erkenntnis, sondern Anleitung zum politischen und revolutionären Kampf sein will, stellt unsere parlamentarische Demokratie so radikal in Frage und verurteilt sie so radikal, daß der Kampf gegen diese Demokratie ihren Jüngern selbstverständlich erscheint.Es ist kein Zufall, daß einer der Väter dieser Lehre von der transformierten Demokratie, Professor Brückner, uns später im Baader-Meinhof-Komplex wieder begegnet. Die scheinbar widerspruchslose oder teilnahmslose Hinnahme der Tatsache, daß unser parlamentarisches System im akademischen Bereich als verfault und korrupt, als ein reiner Verschleierungsmechanismus, als bloßer Zustimmungsapparat zu den Beschlüssen eines anonymen Großkapitals dargestellt und gelehrt wurde und wird, mag erklären, warum viele junge Menschen einfach nicht mehr für möglich halten, daß unsere Demokratie aus sich selbst heraus die notwendigen Prozesse der Veränderung einleiten und beenden kann, und daß viele von ihnen deshalb den Versuch überhaupt nicht mehr der Mühe für wert befunden habe.Eng verbunden mit diesen beiden Entwicklungen ist das Entstehen von Gruppen im Bereich der sogenannten neuen Linken außerhalb des demokratischen Parteienspektrums. Sie bezogen ihre Ideologie einerseits aus einer radikalen Gesellschaftskritik, die den Marxismus sowohl aufnahm als auch nach Bedarf umdeutete, z. B. in der Relativierung der Vereledungstheorie zu kulturellen Verelendung.Andererseits wurde das unbestreitbar vorhandene Reformdefizit in der Bundesrepublik zum Anlaß genommen, Veränderungen in Einzelbereichen und zunächst mit den in Berkeley und in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entwickelten studentischen Kampfmethoden des sit-in, go-in und teach-in, dann für die Gesamtgesellschaft und mit immer radikaleren Mitteln erzwingen zu wollen.Was wir als Unruhe oder gar Revolte an den Hochschulen und darüber hinaus als Rebellion der jungen Generation erlebt haben, entstand aus diesem explosiven Gemisch von radikaler Systemkritik, unreflektierter Übertragung gesellschaftlicher Zustände der dritten Welt auf unsere Industriegesellschaft, Übernahme von Methoden in der politischen Auseinandersetzung wie der sogenannten direkten Aktion, und es setzte sich gesteigert fort zu den Ereignissen der auslaufenden sechziger Jahre.In dieser Zeit war aber auch der Punkt erreicht — und das muß zur Vermeidung pauschaler Verdächtigungen gesehen werden —, an dem sich gerade an der Gewaltfrage die Geister schieden, und zwar in Reformbereite, die im Rahmen der demokratischen Spielregeln arbeiten wollten, und in die andere kleinere Gruppe der Radikalen und Revolutionäre. Bei diesen hat das Zusammentreffen der dargestellten politischen Entwicklungen mit bestimmten kulturellen Strömungen — hierhin gehört z. B. das Auftreten einer Drogen-Subkultur — zur Entstehung eines Untergrundes geführt, der vielfach noch in kleine und kleinste Grüppchen gespalten ist und in sich nur durch ein vages, eher unbewußtes Solidaritätsgefühl verbunden ist. Hier ist der Nährboden, auf dem der Entschluß zum Terror und seiner aktiven und passiven Unterstützung gewachsen ist, und hier rekrutiert auch die Rote-Armee-Fraktion ihre Mitglieder.Die Isolieruung und Absplitterung dieser revolutionären Zirkel, die uns heute als Terroristen begegnen, von der inzwischen weitgehend verebbten antiautoritären Bewegung in der Jugend hatte zwei Ursachen. Eine Ursache war die Bereitschaft der Parteien, sich der jungen Generation zu öffnen und ihr die Chance zur systemimmanenten Reform zu bieten. In der letzten Legislaturperiode ist von uns allen die Jugend mehrfach aufgerufen worden, in die Parteien zu kommen. Viele haben das getan, und nicht immer war der Zuwachs bequem, aber das sollte er auch nicht sein. Eine Feststellung, meine Damen und Herren, erscheint mir wichtig: Die Integration der jungen Generation ist ebenso wie die Integration der Kräfte an den Flügeln unseres Parteiensystems eine der wichtigsten Aufgaben der demokratischen Parteien.
Keine demokratische Partei sollte die andere wegen der inneren Schwierigkeiten schelten, die sie sich bei der Erfüllung dieser Aufgabe vielleicht einhandelt.Eine weitere Ursache für die Isolierung war die Erkenntnis jener selbst ernannten — von keinem gerufenen und berufenen — „Anwälte der Arbeiterklasse", daß sie eben in der Arbeiterschaft keine Resonanz finden konnten, vielleicht weil dort die Ablehnung von Gewalt und Terror entschiedener ist als in manchen Bereichen, in denen sich diejenigen bewegten, die uns heute als Anarchisten
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Bundesminister Genscherund Terroristen und deren Freunde gegenüberstehen.
Die gefährliche Besonderheit bei der Entwicklung vieler außerhalb des demokratischen Parteiensystems stehenden Gruppen ist, daß vielfach ein prinzipieller Widerspruch zur Anwendung von Gewalt nicht erhoben wird, daß allenfalls taktisch begründete Einwände vorgebracht werden mit dem Hinweis, die revolutionäre Situation sei noch nicht da. Hier kann es keinen Kompromiß, keine Beschönigung, keine Bagatellisierung und auch keine Relativierung geben.
Mit der Billigung der Gewaltanwendung gegen Sachen fing es an, zur Gewalt gegen Menschen kam es nach der vorangegangenen Periode der Verharmlosung zwangsläufig.Dazu, meine Damen und Herren, ein grundsätzliches Wort: Unsere freiheitliche Grundordnung basiert auf dem Gewaltverbot. Wo der einzelne zur Durchsetzung seiner Wünsche und Ziele Gewalt anwenden darf, ist der gesellschaftliche Zustand einer Steinzeithorde noch nicht überschritten. In der Wirklichkeit unserer Zeit aber heißt das Anarchie. Deshalb ist jede Verletzung des Gewaltverbots durch den einzelnen immer auch ein Anschlag auf die grundlegenden Prinzipien unserer freien Gesellschaft. Wer zuläßt oder daran mitwirkt, daß die Frage der Gewaltanwendung in der Demokratie relativiert wird, wer auch nur ganz bestimmte Einschränkungen und Ausnahmen vom Prinzip zuläßt, der macht sich mitschuldig, wenn die Gewalt dann später ihre Opfer fordert.
Es ist kein Zufall, daß politische Extremisten, gleich welcher Art, in unserer gemeinsamen demokratischen Gesinnung den Hauptfeind sehen. Eine lebendige Demokratie nämlich führt durch ihr politisches Verhalten jegliches Alibi der Radikalen ad absurdum. Mancher, der die Gewaltanwendung oder die Forderung nach Gewalt verharmlost oder entschuldigt, beruft sich auf eine angeblich liberale Gesinnung. Toleranz gegenüber der Gewalt aber ist zutiefst illiberal, weil sie die Schleusen öffnet für den Kampf gegen die Humanität, gegen die Achtung vor dem Nächsten, gegen sein Leben und seine Freiheit.
Hier ist jeder einzelne in unserem Land zur Entscheidung aufgerufen.Wieviel da noch zu tun bleibt, erfuhren wir am Morgen nach der Ergreifung von Baader, Meins und Raspe, als ein Mann, der sich als Ethnologe mit psychoanalytischer Ausbildung bezeichnet,
im Rundfunk die Umstände der Festnahme beklagte und — mehr als das — die Terroristen noch verherrlichte.
Diese „armen, verzweifelten jungen Männer in Unterhosen", von denen er sprach und die er als die „Tapfersten und die Klügsten der neuen Generation" bezeichnete,
hatten Sekunden vor ihrer Festnahme doch mit abgesägten Geschossen von verheerender Wirkung auf Polizeibeamte gezielt.Wenn ich den Vorfall anführe, so nicht, um mit einer Rundfunkanstalt ins Gericht zu gehen — der verantwortliche Intendant hat sich dazu geäußert —,
sondern ich tue es, um zu zeigen, mit welcher Verbohrtheit und Gefährlichkeit wir es im Umfeld des Baader-Meinhof-Komplexes noch immer zu tun haben.Meine Damen und Herren, für die Glaubwürdigkeit des demokratischen Staates sind die Fragen der inneren Sicherheit von entscheidender Bedeutung; denn der Bürger beurteilt seinen Staat auch danach, ob dieser bereit und fähig ist, ihn selbst, sein Leben, seine Gesundheit und sein Eigentum zu schützen. Die Kriminalität und der politische Radikalismus können nicht von den staatlichen Organen allein bekämpft werden. Die Auseinandersetzung muß durch die und in in der Gesellschaft geführt werden.Die Stabilität einer Demokratie kann nicht mit Millioneninvestitionen für die innere Sicherheit erkauft werden. Dazu gehört die Bereitschaft des Bürgers, sich für seinen Staat zu engagieren, sich zu ihm zu bekennen. Die Bundesregierung stellt sich der Verantwortung für die innere Sicherheit, sie stellt sich ihrer Verantwortung für den Schutz unserer freiheitlichen Ordnung. Alle demokratischen Kräfte müssen die Auseinandersetzung mit den Gewalttätern, den Predigern der Gewalt und ihren Anhängern offensiv führen. Es gilt, meine Damen und Herren, die Gewalt absolut und ohne Ausnahme aus der politischen Auseinandersetzung zu verbannen. Hier müssen sich die Geister scheiden!
Das Haus hat die Erklärung der Bundesregierung entgegengenommen. Wir treten in die Aussprache ein.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Vogel. Fün ihn ist eine Redezeit von 45 Minuten beantragt worden.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir können heute im Deutschen Bundestag nicht über die innere Sicherheit unseres Landes reden, ohne auch von unserer Seite ein Wort des Dankes und der Anerkennung an die Adresse der Polizei zu richten.
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VogelOb Schutz- oder Kriminalpolizei oder Bundesgrenzschutz — sie alle gewährleisten durch ihren täglichen, oft schweren Dienst und ihren persönlichen Einsatz in hohem Maße die Sicherheit von uns allen, auch, meine Damen und Herren, wie wir sehr wohl wissen, die jedes einzelnen in diesem Hause sitzenden Abgeordneten.
Gerade in den letzten Wochen haben die Sicherheitskräfte in der Bundesrepublik Deutschland bewiesen, daß sie selbst unter erschwerten Bedingungen und unter belastendem Erfolgsdruck ruhig, besonnen und erfolgreich ihre Aufgaben erfüllen können. Herr Bundesinnenminister, nehmen Sie für die Polizei in unserem Lande unseren Dank und Glückwunsch dafür entgegen, daß es gelungen ist, führende Köpfe der kriminellen Baader-Meinhof-Bande festzunehmen und dadurch nach den terrorristischen Sprengstoffanschlägen der letzten Zeit die Bürger in unserem Lande aufatmen zu lassen!
Wir wissen, daß noch eine ganze Reihe von Mitgliedern dieser Baader-Meinhof-Bande frei herumlaufen und daß es sich dabei um gefährliche Leute handelt. Der Herr Bundesinnenminister hat dazu deutliche Ausführungen gemacht. Meine Damen und Herren, wir wünschen der Polizei vollen Erfolg bei ihrem Bemühen, auch diese Leute einzufangen und dingfest zu machen, und wir bitten alle Bürger in unserem Lande, der Polizei hierbei zu helfen.
Es war ein beschämender Vorgang, meine Damen und Herren — Herr Minister Genscher hat darauf hingewiesen —, der hier angeprangert werden muß, daß ein Psychologieprofessor in der vergangenen Woche überhaupt die Gelegenheit bekommen hat, über einen großen deutschen Sender seine abstrusen Auffassungen über den Einsatz der Polizei gegen die Baader-Meinhof-Bande zu verbreiten.
Am 2. Juni 1972 hatte in der Sendung „Heute morgen" des WDR der Psychologe und Ethnologe Professor Ernest Bornemann — ich glaube, wir sollten den Namen hier nennen! —
es u. a. für schockant und deprimierend befunden, daß man in einem Land, das — jetzt wörtlich! — „ja sowieso schon an dem schlimmsten Polizistenmangel Westeuropas leidet, 150 000 Mann verwendet, um auf allen Autobahnen und in allen Großstädten dieses Fahndungstheater zu veranstalten".
Es greift einem geradezu ans Herz, meine Damen und Herren, wenn man Herrn Bornemann dann weiter klagen hört: „Wenn man schon diesen Panzerwagen sieht, der da in Frankfurt gegen die armen, verzweifelten jungen Männer in Unterhosen anrückt, . . .". Da können einem wirklich Zweifelam gesunden Menschenverstand mancher unserer Mitbürger kommen.
Meine Damen und Herren, mit vollem Recht hat dieses Interview Protest und Empörung ausgelöst. Wir können nur hoffen, daß die Verantwortlichen des WDR aus diesem Vorfall klare Konsequenzen ziehen.
Mit Nachdruck weisen wir es zurück, wenn Herr Bornemann — und ich frage: wie viele solcher Bornemänner mag es geben? —
sich dazu versteigt, denen — und ich zitiere wieder wörtlich —, „die da nach Bestrafung der BaaderMeinhof-Gruppe brüllen," die Verantwortung für die Verkehrstoten auf den Straßen der Bundesrepublik aufzubürden. Meine Damen und Herren, etwas Geschmackloseres an Vergleich kann es wohl kaum geben.
— Jawohl, Herr Kollege Marx!Meine Damen und Herren, wir müssen es hier einmal ohne jegliche Abstriche — ich sage: ohne jegliche Abstriche! — aussprechen: Es gehört zu den völlig legitimen Aufgaben der Polizei in unserem demokratischen Rechtstaat, das Recht durchzusetzen und die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Mancher findet es schick und hält es für einen besonders zu betonenden Ausdruck progressiver Gesinnung, sogenanntes Law-and-order-Denken als demokratisch nicht ganz einwandfrei und nicht ganz legitim herunterzumachen. Aber der demokratische Staat ist wie kein anderer legitimiert, seine Machtmittel — gebunden an das höhere Ziel, Gerechtigkeit zu verwirklichen — für Recht und Ordnung einzusetzen, selbstverständlich in Bindung an die von demokratisch legitimierten Parlamenten erlassenen Gesetze. Jener Polizeipräsident einer deutschen Großstadt hat völlig recht, der erklärt hat, er würde seinen Beruf verfehlen, wenn er es nicht als seine Aufgabe ansähe, für Recht und Ordnung einzustehen.
Es darf uns nicht genügen, mit Einsatz von Public relations ein idyllisches Bild von der Polizei als Freund und Helfer zu vermitteln. Wir Politker haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, uns hinter die Polizei zu stellen und ihr in ihrem oft schweren und manchmal gar nicht populären Einsatz psychologisch den Rücken zu stärken,
und das nicht nur mit Worten, sondern vor allem auch mit Taten.Die Bürger unseres Landes erwarten mit Recht von ihrem demokratischen Staat, daß er sich als
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Vogelein genügend starker Staat erweist, als ein Staat, der alles zu ihrer Sicherheit tut, der sie so gut wie möglich vor Verbrechen und Verbrechern schützt, als ein Staat, der sich wirkungsvoll gegen diejenigen zur Wehr setzt, deren Ziel es ist, unsere freiheitlich-demokratische Ordnung zu zerstören, als ein Staat, der damit die Voraussetzungen dafür schafft, daß im Rahmen unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung — ich sage: im Rahmen unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung, weil viele es abschätzig „systemimmanent" nennen — Vorsorge für morgen getroffen werden kann.Wenn wir alle dafür sorgen, daß der demokratische Staat stark genug ist, dann, meine Damen und Herren, leisten wir den wirkungsvollsten Beitrag dazu, daß nicht eines Tages wieder der Ruf nach einem „starken Mann" anschwillt.
Der inneren Sicherheit in unserem Lande messen wir von der CDU/CSU eine hohe Priorität bei. Hohe Priorität heißt konkret: bessere personelle und technische Ausstattung aller unserer Sicherheitskräfte, und daß heißt natürlich auch Geld. Innere Sicherheit kostet ihren Preis. Auch wenn Sie, was Ihnen niemand streitig machen will, Herr Bundesinnenminister, bemüht sind, insoweit eine positive Erfolgsbilanz zu ziehen: Wir bestreiten nicht das, was in diesem Bereich getan worden ist. Gerade die letzten Wochen haben doch auch die Mängel bei der personellen und technischen Ausstattung unserer Sicherheitskräfte aufgedeckt.
Ich bestätige gern, daß die Länderinnenminister und der Bundesinnenminister gemeinsam Beschlüsse gefaßt haben, die in einer akuten gefährlichen Situation für unsere innere Sicherheit die vorhandenen polizeilichen Möglichkeiten optimal ausgeschöpft haben. Nur müssen wir doch die Frage stellen, ob diese Möglichkeiten für schlechtere Zeiten wirklich ausreichen.
Rund 10 000 unbesetzte Stellen bei der Polizei und ein zusätzlicher übersehbarer Bedarf in der gleichen Größenordnung sowie unübersehbare Mängel, die wir bei der technischen Ausstattung unserer Polizeikräfte noch zu verzeichnen haben, erfordern in erster Linie Geld. Wir reden ja im Augenblick genug von Geld und Haushalt, von der Planung des Einsatzes der voraussichtlich verfügbaren Haushaltsmittel für die nächsten Jahre. Meine Damen und Herren, wenn wir „ja" zur Priorität der inneren Sicherheit sagen, muß das auch seinen Niederschlag finden in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes und der Länder und selbstverständlich auch in den jährlichen Haushaltsplänen.
Hoffen wir, daß wir auch für dieses Jahr einen solchen Haushaltsplan bekommen.
Priorität für die innere Sicherheit, das heißt schließlich auch, die gesetzlichen Voraussetzungen für einen optimalen Einsatz aller Sicherheitskräfte zu schaffen. Der Beratung und Verabschiedung der vorliegenden Gesetzentwürfe, die die innere Sicherheit betreffen, messen wir von der CDU/CSU vorrangige Bedeutung bei.
Die von uns gestellte Hälfte dieses Hauses ist bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten, daß bis zum Beginn der Sommerpause die Haftrechtsnovelle, das bundeseinheitliche Waffengesetz, das Bundesgrenzschutzgesetz und die Novelle zum Verfassungsschutzgesetz nebst der dazugehörigen Verfassungsänderung verabschiedet werden können. Wir knüpfen an diese Bereitschaft — das füge ich hinzu, damit niemand meint, daß wir hier eine Blindbuchung vornehmen — selbstverständlich die Erwartung, daß unsere Auffassungen zu den einzelnen Gesetzen gebührende Berücksichtigung finden.
Die vier genannten Gesetze betrachten wir als ein erstes zusammengehörendes Paket gesetzgeberischer Maßnahmen für die innere Sicherheit, und ich bitte Sie, jedes dieser Worte in diesem Satz genau zu wägen. Auch andere dem Hause vorliegende Entwürfe — ich denke beispielsweise an das Gesetz zur Beschleunigung des Strafverfahrens — sollten nach der parlamentarischen Sommerpause sobald wie möglich beraten und verabschiedet werden. Schließlich werden Überlegungen für weitere gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutz der inneren Sicherheit anzustellen sein.In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen Punkt eingehen, der in der jüngsten Diskussion eine gewisse Rolle gespielt hat. Ich sehe auf der Bundesratsbank den bayerischen Staatsminister des Innern
— selbstverständlich auch den Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, Herrn Senator Ruhnau.
Es erscheint mir fraglich, ob es richtig ist, im Augenblick eine Vermehrung der Kompetenzen des Bundeskriminalamtes ins Auge zu fassen. Dank der konstruktiven und kooperativen Haltung der Länderinnenminister verfügt das Bundeskriminalamt für den Einsatz der Polizeikräfte gegen die BaaderMeinhof-Bande tatsächlich über die erforderlichen Kompetenzen. Diese konstruktive und kooperative Haltung der Länderinnenminister erscheint mir für die Tätigkeit des Bundeskriminalamtes und seine Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern und der Polizei in den Ländern wichtiger als eine gesetzliche Kompetenzausweitung.
Meine Fraktion geht davon aus, daß sich in den Fragen der Verbrechensbekämpfung ein hohes Maß an Gemeinsamkeit in diesem Hause quer durch die Fraktionen herstellen lassen wird,
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Vogelobwohl auch das in manchen konkreten Punkten, Herr Kollege Schäfer, seine Schwierigkeiten gehabt hat und noch haben wird.Ich möchte nur an die schon fast ans Pathologische grenzende Kampagne gegen eine Verschärfung des Haftrechts zur Erleichterung der Bekämpfung der gefährlichen Serienkriminalität erinnern. Ohne die falschen Emotionen, die in diesem Hause von Kollegen dieses Hauses aufgerührt worden sind — denken Sie nur an das ebenso sachlich falsche wie die Motive der Befürworter einer solchen Haftrechtsverschärfung diffamierende Wort „Vorbeugehaft" —, wäre dieses Thema bereits seit Jahren erledigt. Wir hoffen, daß dieses Mal das Stehvermögen derer, die die Notwendigkeit der Haftrechtsverschärfung einsehen, einer Haftrechtsverschärfung — ich glaube, auch das sollten wir sehen —, die sich gegen den harten Kern der Kriminellen richtet, hier im Hause ausreichen wird.
Meine Damen und Herren, die terroristischen Bombenanschläge der letzten Zeit haben inzwischen unübersehbar gemacht, daß der Bereich der politisch motivierten Kriminalität ein ständig größer gewordenes Problem für die innere Sicherheit in unserem Lande geworden ist.
Es ist noch gar nicht lange her, daß Sie, Herr Bundesjustizminister, völlig erstaunt im Zusammenhang mit dem Thema der politisch motivierten Kriminalität die Frage gestellt haben, was denn in diesem Bereich als Bedrohung der inneren Sicherheit anzusehen sei.
Das war am 12. April dieses Jahres, als der Bundeskanzler erstmals zu einem Spitzengespräch über Fragen der inneren Sicherheit eingeladen hatte. Ich hoffe, Herr Kollege Jahn, daß Sie wenigstens heute diese Frage nicht mehr stellen. Sie war schon damals ganz und gar deplaziert.Meine Damen und Herren, sozialdemokratische Kollegen in diesem Hause wie im Lande draußen pflegen immer so zu argumentieren, daß doch der Höhepunkt der politischen Unfriedlichkeit in den Jahren 1967 und 1968 erreicht gewesen sei und daß seit dem „Machtwechsel" des Jahres 1969 alles sehr viel besser und vor allem ruhiger geworden sei. Sie haben sogar scheinbar recht; ich betone: scheinbar. Denn in der Tat war die Zahl der spektakulär nach außen in Erscheinung tretenden unfriedlichen Demonstrationen — die Fernsehkamera vom Dienst war damals auch ständig zur Stelle, um die Kunde ins letzte Wohnzimmer zu tragen — in den Jahren 1967 und 1968 größer als in den folgenden Jahren, wobei Sie aber bitte zur Kenntnis nehmen wollen, damit nicht falsche Vorstellungen zu Fehleinschätzungen führen, daß sowohl die Zahl der Demonstrationen als auch vor allem die Zahl der unfriedlich verlaufenden Demonstrationen wieder im Ansteigen begriffen sind. Während im Jahr 1970 nur etwa jede elfte Demonstration unfriedlich verlief, verlief im Jahre 1971 schon wieder jede achte Demonstration unfriedlich. Das spricht eher für eine nur vorübergehende Beruhigung im Bereich der Demonstrationen.Für die Frage der inneren Sicherheit ist vor allem bedeutsam, daß nach Berichten aus den Bundesländern durch die Liberalisierung des Demonstrationsstrafrechts zu Beginn dieser Legislaturperiode das polizeiliche Einschreiten und die Durchführung der Ermittlungsverfahren erschwert worden sind.Wenn ich gesagt habe, daß diejenigen, die auf die geringere Zahl der Demonstrationen gegenüber den Jahren 1967/68 hinweisen, nur scheinbar mit ihrer Behauptung, es sei seit 1969 alles sehr viel friedlicher geworden, recht haben, dann deshalb, weil die zur Unfriedlichkeit neigenden politischen Radikalen — vor allem unter den Studenten — ihre Aktivitäten von den optisch stärker in Erscheinung tretenden Demonstrationen auf der Straße in den inneruniversitären Bereich verlagert haben.
Die Gewalttätigkeiten im internen Bereich der Universitäten — von der Gewalt gegen Sachen über Psychoterror bis hin zur Gewaltanwendung gegen Personen, von der Störung oder Sprengung einzelner Vorlesungen bis hin zur Lahmlegung ganzer Lehrveranstaltungen — haben erheblich und stetig zugenommen. Es wäre unverantwortlich, davor die Augen zu verschließen. Der verharmlosende Bericht des Bundeswissenschaftsministers gehört in die Kategorie der Aussagen, daß nicht ist, was nicht sein darf.Meine Damen und Herren, so kann man mit diesen sehr ernsten Problemen ganz einfach nicht umgehen. Die Beratungen des Hochschulrahmengesetzes stellen, was das Bemühen um Sicherung der Freiheit des Forschens, des Lehrens und des Lernens angeht, was die Sicherung der Funktionsfähigkeit und -tüchtigkeit unserer Hochschulen angeht, eine einzige Tragödie dar, deren letzter Akt ja wahrscheinlich in dieser Woche eingeläutet werden wird.Wer das ganze Feld der inneren Sicherheit ins Blickfeld nimmt, darf auch nicht an der erschrekkenden Zunahme der Staatsschutzdelikte vorbeisehen. Nach dem, was darüber bekanntgeworden ist, hat die Zahl der Staatsschutzdelikte im Jahre 1971 gegenüber 1970 um etwa 50 % zugenommen — um etwa 50 % innerhalb eines Jahres! Herr Bundesinnenminister, Sie haben in der letzten Sitzung des Innenausschusses zugesagt, die Fraktionen des Parlaments über diesen Komplex näher zu unterrichten und ihnen insbesondere den Bericht der Sicherungsgruppe zugänglich zu machen. Ich möchte daran heute nur erinnern.So sehr uns die Anwendung von Gewalt gegen Personen oder Sachen bis hin zu den jüngsten schrecklichen Bombenanschlägen beunruhigen muß, was unter dem Gesichtspunkt der inneren Sicherheit fast noch beunruhigender sein muß, ist der Humusboden der Sympathisanten und intellektu-
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Vogelellen Helfershelfer, auf dem die Saat der Gewalt aufgehen und gedeihen konnte.
In den letzten Wochen ist häufig das Bild Maos von dem Wasser, in dem die Revolutionäre und Terroristen ziemlich sicher herumschwimmen können, zitiert worden. Hier ist eines der Hauptprobleme für unsere innere Sicherheit herangewachsen. Hier kommen wir nicht mehr daran vorbei, Roß und Reiter zu nennen.
Der Ruhland-Prozeß hat ein bezeichnendes Licht auf den Kreis der Begünstiger der Baader-MeinhofBande geworfen. Es wird allerhöchste Zeit — ich sage das mit Bedacht —, daß die Verfahren gegen den Kreis der Begünstiger nicht mehr dilatorisch behandelt werden, sondern daß sie sogar mit Vorrang durchgeführt werden, damit deutlich wird, daß die Begünstigung der Terroristen ebenso kriminell ist wie deren Tun.
Aber nicht nur um diejenigen geht es, die sich im strafrechtlichen Sinne als Begünstiger und Gehilfen strafbar gemacht haben. Es geht vor allem auch um diejenigen, die durch Wort und Tat den geistigen Hintergrund geschaffen haben und noch schaffen,
von dem aus politische Gewaltkriminalität in unserem Lande glorifiziert und mystifiziert und vielfach sogar gerechtfertigt wird.
Das habe ich gemeint, als ich neulich von den „Bölls und Brückners" gesprochen habe, die das Wasser abgeben, in dem die Fische herumschwimmen. Es gehört schon einiges dazu, daraus die Bezichtigung der Beihilfe im strafrechtlichen Sinne zu den Taten politischer Gewalttäter abzulesen.In den Bereich dessen, was ich hier anspreche, gehört das schon zitierte Interview des Westdeutschen Rundfunks mit Professor Ernest Bornemann, und ich zähle darunter auch jene Ausführungen, die SPD-Trommler Günter Grass am 7. Februar dieses Jahres in einer Panorama-Sendung gemacht hat — ich zitiere wörtlichUnd wenn man von Verhältnismäßigkeit ausgeht — und ich unterschätze die Baader-Meinhof-Gruppe in ihrer Tätigkeit und auch in ihrer Funktion als Popanz ganz gewiß nicht —, aber wenn man von der Verhältnismäßigkeit ausgeht, ist der Fall Schrübbers in seinen Auswirkungen gefährlicher für die parlamentarische Demokratie als der Einzelfall einer linken kriminell gewordenen Gruppe Baader-Meinhof.
Meine Damen und Herren, ein distanzierendes Wort des Bundeskanzlers zu einer solchen Äußerung seines Freundes Günter Grass würde mehr zur Solidarität der Demokraten beigetragen haben
als gelegentliche allgemein gehaltene Fernsehappelle.
Ich kann hier nicht alles aufzählen, was den Humusboden der Sympathiesanten und intellektuellen Helfershelfer politischer Krimineller in unserem Lande ausmacht. Ein besonders auffälliges Beispiel möchte ich erwähnen. Als im Oktober und November vergangenen Jahres das im Berliner Wagenbach-Verlag erschienene „Rotbuch 29" und der „Rote Kalender 1972" der „Rote Armee Fraktion" beschlagnahmt wurden, weil diese Erzeugnisse Aufforderungen zu strafbaren Handlungen enthielten, konnte man in der „Zeit" vom 9. Dezember 1971 unter der Überschrift „Erfolgreiche Springer-Kampagne gegen Westberliner Wagenbach-Verlag" lesen:Der Verdacht, daß die richterliche Attacke gegen das Buch nur Teil einer Kampagne gegen den unbequemen Verlag war, drängte sich nicht nur den Betroffenen im Verlag auf.Diese Geschichte hat noch eine Fortsetzung. Am 17. Februar dieses Jahres verspürten 121 Schriftsteller unter Anführung von Enzensberger, Eich, Hochhuth, Wellershoff und Marcuse
das Bedürfnis, zur Solidarisierung mit dem Wagenbach-Verlag aufzurufen und davor zu warnen, diese Tätigkeit politischer Zensur hinzunehmen. Nach Angriffen gegen die Justiz forderten sie ihre Verleger auf, das „Rotbuch 29" und den „Roten Kalender 1972" gemeinsam neu herauszugeben.
Schließlich ein letztes Beispiel für die Verwirrung der Geister, entnommen, Herr Kollege Matthöfer, der April-Nummer der „Gewerkschaftlichen Monatshefte".
Unter der Überschrift „Mehr Klarheit und konsequentere Politik" schreibt dort Walter Köpping, der Leiter der Abteilung Bildungswesen der IG Bergbau und Energie, unter anderem den mich jedenfalls sehr nachdenklich stimmenden Satz: „Fortschritt hat mit Rechtsverletzung, mit Rechtsüberwindung zu tun."
— Herr Kollege Matthöfer, hören Sie sich den Satz nochmal an: „Fortschritt hat mit Rechtsverletzung"— das ist eine Aufforderung zur Rechtsverletzung — „mit Rechtsüberwindung zu tun."
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Vogel— Hier ist der Weg, Herr Kollege Matthöfer, über das gewählte Parlament die Gesetze so zu machen, wie die Mehrheit dieses Hauses sie machen will. Das ist der Weg, Herr Kollege Matthöfer,
und nicht der Weg, den eine kleine Gruppe für sich in Anspruch nimmt.
Meine Damen und Herren, wer immer zur Verteidigung der Demokratie und zur Solidarität der Demokraten gegen die Feinde der Demokratie aufruft, muß damit beginnen, derartiges geistiges Unkraut zu bekämpfen,
ganz gleich, ob es auf der rechten oder auf der linken Seite des politischen Radikalismus ins Kraut schießt.Die wirksame Verteidigung unserer freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie wird in den kommenden Jahren das Hauptproblem des inneren Friedens und der inneren Sicherheit in unserem Lande werden. Sie wird abhängig sein vom leidenschaftlichen Engagement der auf dem Boden unserer Verfassung stehenden Demokraten gegen die Feinde der Freiheit in den verschiedensten politischen Lagern. Hier kommt es nicht auf verbale Bekenntnisse zur Notwendigkeit der Solidarität der Demokraten an, meine Damen und Herren, sondern ausschließlich darauf, wie solche Bekenntnisse in die Tat umgesetzt werden.
Wenn ich mir hier die Feststellung erlaube — meine Damen und Herren, ich bitte Sie, ganz ruhig zu sein —, daß das der SPD, deren Vorsitzender der Bundeskanzler ist, zunehmend schwerer fällt, dann bestimmt nicht aus dem Bedürfnis heraus, hier Streit zu stiften, sondern aus einer tiefen und ernsten Sorge heraus. Hier hilft es überhaupt nicht weiter, wenn wir unter einer großen Gemeinsamkeitsglocke die tatsächlich vorhandenen, nicht wegzuleugnenden Besorgnisse verkleistern wollten.
Gemeinsamkeit in Sachen Demokratie setzt gemeinsame Zielklarheit und eindeutige Abgrenzung voraus; und die vermissen wir trotz aller Abgrenzungsbeschlüsse der Führungsgremien der SPD. Noch so große Übereinstimmung in manchen politischen Zielvorstellungen dürfen nicht zu Aktionsgemeinsamkeiten zwischen Demokraten und Feinden der Demokratie führen.
Wir werden demnächst eine Dokumentation vorlegen, die deutlich macht, wie sehr es Aktionen mit Volksfrontcharakter gegen uns, d. h. gegen die eine demokratische Hälfte dieses Hauses gegeben hat.
Statt Distanzierung haben wir manches Lob aus prominentem sozialdemokratischen Munde zu diesen Aktionen gehört.
— Das ist nicht reiner Quatsch. Erkundigen Sie sich einmal, was Ihr Ministerpräsident in Ihrem Land dazu gesagt hat, Herr Kollege!Meine Damen und Herren von der SPD und teilweise auch von der FDP:
— Teilweise! — Wenn Sie es ernst meinen mit der Solidarität der Demokraten gegen die Feinde der Demokratie, dann haben Sie bei zwei Fragen, die uns beschäftigen, Gelegenheit, das durch die Tat zu beweisen. Nach langem Drängen — auch von uns — hat sich der Parteivorstand der SPD endlich dazu durchgerungen, dem Sozialdemokratischen Hochschulbund die Berechtigung zur Führung der Bezeichnung „sozialdemokratisch" abzusprechen und insofern eine Vereinbarung aus dem Jahre 1961 zu widerrufen. Wir hoffen, daß dieser Teil des Beschlusses nicht nur eine Feigenblattfunktion für den anderen Teil des Beschlusses hat, wonach gegen die Bezeichnung „Soziale Demokraten '72" in München geklagt werden soll. Von einem Prozeß gegen den SHB habe ich bisher noch nichts gehört. Ich bin sehr gespannt, ob die Sozialdemokratische Partei auch gegen den SHB klagen wird.
Sie wissen, welche Bedeutung dieser Punkt für uns hat. Er hat eine Rolle in dem Gespräch beim Bundeskanzler gespielt, und er hat in den Debatten der letzten Wochen hier in diesem Hause eine Rolle gespielt. Wir haben sehr, sehr aufmerksam die Reaktionen des Bundesvorstands der Jungsozialisten und auch die des fortschrittlichen Bonner Unterbezirks der SPD gegen den SHB-Beschluß des SPD-Parteivorstands registriert.
Wir haben ebenso registriert, daß es in diesem Zusammenhang entsprechende Reaktionen gegen den Beschluß, gegen die Bezeichnung „Soziale Demokraten '32" zu klagen, nicht gegeben hat. Wir sind gespannt, wie sich der Parteivorstand der SPD in dieser Frage durchsetzen wird.Bei der zweiten Frage handelt es sich um den Beschluß der Ministerpräsidenten gegen das Eindrin-
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Vogelgen Radikaler in den öffentlichen Dienst. Seit es diesen Beschluß vom Januar dieses Jahres gibt, erleben wir von der Basis der SPD her eine massive Kampagne gegen diesen Beschluß und seine Realisierung. Ich habe neulich eine Dokumentation vorgelegt, aus der sich das ganze Ausmaß dieser Kampagne bis hin zu Äußerungen führender Sozialdemokraten ergibt. Mir kommt gerade der Text einer Rede des SPD-Landtagsabgeordneten Helmut Hellwig vor dem Landesjugendring Nordrhein-Westfalen am 29. Mai 1972 auf den Tisch. Der letzte Satz dieser Rede lautet:Legen Sie die am 28. Januar 1972 beschlossenen Grundsätze und den gemeinsamen Runderlaß der Ministerpräsidenten vom 18. 2. 1972 sowie alle bereits dazu formulierten Erlasse, Verordnungen, Richtlinien und sonstigen Anweisungen zu den Akten — oder noch besser: Werfen Sie sie in den Papierkorb!
Für die Frage des gemeinsamen Engagements der Demokraten gegen die Feinde der Demokratie hängt sehr viel davon ab, mit welcher Konsequenz und Entschiedenheit der Radikalismusbeschluß der Ministerpräsidenten da, wo die SPD die Verantwortung trägt, verwirklicht wird.Wir sind bereit — ich betone das —, den gemeinsamen Kampf gegen den antidemokratischen politischen Radikalismus mit allen dazu bereiten Demokraten zu führen. Nur dann, wenn diese Auseinandersetzung politisch zielklar und in der konsequenten Bereitschaft, unsere demokratischen Institutionen gegen das Eindringen der Feinde der Demokratie zu schützen, geführt wird, ersparen wir uns Diskussionen darüber, wie mit anderen Mitteln, auch denen des Verbots, dieser Kampf erfolgreicher zu führen ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Schäfer. Seine Fraktion hat eine Redezeit von 30 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion der Bundesregierung und insbesondere Herrn Bundesinnenminister Genscher für die Regierungserklärung danken, die hier abgegeben worden ist. Ich glaube, erstmals haben wir in diesem Hause erlebt, daß der Vertreter der Bundesregierung in dieser Klarheit eine politische Analyse hier vorgetragen hat, um daraus umfassende Schlußfolgerungen zu ziehen. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit — meine Damen und Herren, darüber sind wir uns ja wohl einig — ist eine der Leistungen, die nur der Staat — einschließlich der Gemeinden — erbringen kann.Ich will Ihnen aus meinem früheren Dienstbereich ein kleines, aber schreckliches Beispiel anführen. Ichwar Landespolizeipräsident für einen Regierungsbezirk. In einem ländlichen Bereich wurde morgens um sechs Uhr ein Mädchen von 16 Jahren erstochen aufgefunden. Wir haben beinahe ein Jahr lang die notwendigen Ermittlungen mit einem enorm großen Personal- und Sachaufwand geführt, haben den Täter gefunden und damit wieder die Voraussetzungen für die Bevölkerung in diesem Gebiet geschaffen — denn es waren dort noch mehrere Verbrechen dieser Art begangen worden —, daß man seine Tochter morgens um sechs Uhr ins nächste Dorf schicken kann und daß man nachts ruhig schlafen kann. Niemand kann das dem Staat abnehmen.Der Staat also ist ganz allein derjenige, der diese ganz entscheidende Grundvorausetzung, die man auch nicht ersetzen kann, erbringen kann — und das für den Bürger ganz unmittelbar. Und der Staat ist in der rechtsstaatlich-demokratischen Form, wie wir ihn haben, das für sich selbst verteidigenswerte Gut, das er mit seiner Organisationsform wiederum schützen muß, um die Freiheit des einzelnen und die Rechtsstaatlichkeit dieses Staates zu gewährleisten.Es war heute morgen ganz erfreulich, zu sehen, daß das ganze Haus den Ausführungen des Herrn Bundesministers Zustimmung zollte.
Aber, Herr Kollege Vogel, ich habe doch sehr ernste Sorgen, wenn Sie im zweiten Teil Ihrer Ausführungen hier diese Basis verlassen und wenn Sie glauben, so indirekt Miturheberschaft, geistige Nähe herbeiführen zu sollen.
— Herr Rösing, ich freue mich, daß Sie widersprechen. Herr Rösing, es gibt ein Mitglied Ihrer Fraktion, das vor wenigen Tagen einen Brief veröffentlicht hat. Ich glaube, daß die CDU/CSU-Fraktion gut daran tun würde, sich von diesem Versuch, von dieser üblen Methode dieses Mitgliedes der CDU/ CSU-Fraktion ganz offiziell zu distanzieren; denn diese Regierung, dieser Bundeskanzler haben mehr Aktivität auf dem Gebiet der Sicherung der öffentlichen Sicherheit entfaltet als jede frühere Regierung. Daran gibt es gar keinen Zweifel.
Meine Herren, das ist eine ernste Sache. Sie dürfen auch nicht aus Ihren Reihen solche Stimmen zulassen, die letzlich vergiftend wirken. Deshalb muß ich Ihnen das hier sagen.
— Ich glaube, daß die CDU-Fraktion sich zunächst mit diesem Mitglied offiziell befassen sollte und nicht ich.
— Ich stelle es Ihnen gern zur Verfügung; ich habe es hier; Sie können es lesen. Aber ich möchte davon absehen, den Namen zu nennen, weil ich glaube, daß der Betreffende sich doch vielleicht noch einmal
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Dr. Schäfer
überlegt, wenn er zu einer Aussprache mit seiner Fraktionsführung gebeten wird, ob der Weg der richtige ist, oder ob hier nicht Dinge gemacht werden, wie wir sie in den Wahlkämpfen auf unterster Ebene dann selbstverständlich erleben und wozu Herr Vogel hier auch Material geliefert hat. Genau das ist die Sorge, die wir haben. Genau das ist es, was mir nicht gefällt: Beim sachlichen Teil klatschen Sie Beifall, und im zweiten Teil tun Sie dann so, als gäbe es bei uns eine solche Neigung. Nein, meine Damen und Herren, bei uns Sozialdemokraten ist da nichts vorhanden.Herr Bundesinnenminister Genscher hat sehr richtig gesagt — das geht uns alle an —: Jede Partei hat ihre eigenen internen Schwierigkeiten und damit ihre eigentliche Aufgabe der Integration. Wir dürfen uns alle diese Integrationsschwierigkeiten nicht wegwünschen, sondern müssen sie als Triebkraft in die richtige Richtung lenken. Der Herr Bundeskanzler hat die Fraktionsvorsitzenden und die Vertreter der Länder wiederholt zu Besprechungen eingeladen. Ich möchte mir auf mancher Seite etwas mehr Ernsthaftigkeit wünschen, sich in diesen Besprechungen so auszudrücken, daß es möglich ist, für den Bund im ganzen konsequente Folgerungen zu ziehen. Die Betreffenden wissen, was ich damit meine.Das Gebiet der inneren Sicherheit ist nach unserer Verfassung in die Zuständigkeit der Länder und die Zuständigkeit des Bundes aufgeteilt. Wir haben Grund, hier dankbar anzuerkennen, daß sich in den letzten Jahren alle Länder darum bemüht haben, eine Einheitlichkeit der Gesetzgebung und eine Einheitlichkeit der Exekutive herbeizuführen und damit gleichzeitig den Föderalismus lebensfähig zu machen, ihn nicht aber der Gefahr auszusetzen, als Hindernis für die notwendigen Exekutivmaßnahmen bezeichnet zu werden.Wir haben Grund, den Beamten, die sich diesem Dienst im ganzen widmen, zu danken — Herr Minister Genscher hat es getan, Herr Vogel hat es getan —, es aber nicht bei Lippenbekenntnissen zu belassen, sondern in der Tat hier im Hause die notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen, damit die Beamten rechtmäßig und ordnungsgemäß vor sich selber bestehen können, wenn sie sich daraufhin überprüfen, ob sie das Recht rechtsstaatlich korrekt und gewissenhaft verteidigt haben. Darüber dürfen wir, glaube ich, doch gar keinen Zweifel aufkommen lassen: Das Recht kann man nur verteidigen, wenn man sich selbst rechtmäßig verhält. Die Entscheidung darüber, was rechtmäßig ist, ist im Prinzipiellen unsere Aufgabe. Im Einzelfall ist es — ich erinnere nur an die schwierige Frage der Verhältnismäßigkeit der Mittel — für den einzelnen Beamten, der nicht jemanden fragen kann und nicht in Gesetzbüchern und Kommentaren nachlesen kann, wie er sich verhalten soll, enorm schwierig, diese Entscheidung zu treffen. Ich kann Ihnen aus meiner früheren Erfahrung sagen, wieviel ernsthaftes Bemühen es bei den Polizeibeamten in dieser Hinsicht gibt und wieviel ernsthafter Wille bei den Polizeibeamten vorhanden ist, ihr Rechtswissen so zu ergänzen, daß sie in der Tat rechtmäßig handeln können und funktionsfähig sind.Auch hier haben wir festzustellen, daß der Bund und die Länder sich darum bemühen, die Ausbildung der Polizei durch die Ausgestaltung des Instituts in Hiltrup wesentlich zu verbessern. Ich denke, daß die Mittel dafür zur Verfügung stehen sollten.Wenn man vom Haushalt und von Mitteln spricht, so muß ich an das Beispiel, das ich vorhin gegeben habe, erinnern. Es gibt keine und darf hier keine Relation geben. Man darf nicht glauben, die aufgewandten Mittel im Vergleich zu einem gewissen Erfolg setzen zu können. Was hier Erfolg im Einzelfall ist, ist Erfolg weit darüber hinaus und in Geld nicht auszudrücken: das begründete Sicherheitsvertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung und damit in diesen Staat.
Das heißt, daß wir die Bundesregierung anregen, auf dem Gebiete der inneren Sicherheit die notwendigen Maßnahmen nicht danach zu bemessen, ob sie einige Millionen mehr kosten, weil das Geld, das hier ausgegeben wird, wirklich sinnvoll ausgegeben ist und durch gar nichts anderes ersetzt werden kann.Wir freuen uns, feststellen zu können, daß diese Regierung diesem Grundsatz gemäß gehandelt hat und daß sie beim Ausbau des Bundeskriminalamtes die sehr bescheidenen verzögerlichen früheren Ansätze überwunden hat und daß wir nahezu zu einer Verdoppelung der Ansätze gekommen sind, wobei wiederum die Höhe des ausgegebenen Geldbetrages noch kein Maßstab für die Wirksamkeit ist. Beides muß zusammenkommen.Wir haben heute festzustellen, daß der Kern der Baader-Meinhof-Gruppe
— Bande; danke für den Hinweis auf den Lapsus linguae —, daß der Kern der Baader-Meinhof-Bande festsitzt. Wir haben dankbar festzustellen, daß keine Stelle in dieser Bundesrepublik, weder beim Bund noch bei den Ländern, weder in den Regierungsstellen noch in der Exekutive, sich in den Teufelskreis der Gewaltanwendung hineinziehen ließ. Wäre das eingetreten, hätte diese Bande schon einen Teil ihres gesteckten Ziels erreicht, indem sie diesen Staat dazu gebracht hätte, mit Gewalt gegen Gewalt zu handeln. Genau das — Herr Bundesminister Genscher hat das besonders betont — ist erfreulicherweise nicht eingetreten, und wir stellen das hier dankbar fest.Wir werden in den nächsten Tagen im Innenausschuß einige Gesetze behandeln, wozu ich einige Bemerkungen machen muß. Als erstes zum Waffengesetz: Wir stellen fest, daß es ein Antrag des Bundesrats ist, also der Länder, daß die Länder selbst die Einheitlichkeit erbitten und eine Verfassungsänderung vorgesehen haben. Das Waffengesetz ist zweifellos von einiger Bedeutung; es muß aber — und wir bitten die Regierung, darauf zu dringen, und bitten die Kollegen in den europäischen Gremien, ihre Bemühungen zu verstärken — durch
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Dr. Schäfer
europäische Regelungen ergänzt werden, weil es sonst nicht sehr wirkungsvoll ist.
Wir bitten auch das Verteidigungsministerium und das Verkehrsministerium, auf dem Gebiete des Waffenverkehrs die notwendigen Sicherungsmaßnahmen zu treffen, die wir gesetzlich nicht veranlassen können, sondern die auf dem Verwaltungswege veranlaßt werden müssen, um Waffendiebstähle, Munitionsdiebstähle in den Depots für die Zukunft nahezu unmöglich zu machen, soweit das nach menschlichem Ermessen möglich ist. Das ist eine Aufforderung an die Regierung, hier das Notwendige zu tun. Eine Arbeitsgruppe des Innenausschusses hat diese Änderungen des Waffengesetzes vorbereitet. Sie hat dabei eine gute Arbeit geleistet. Ich glaube, daß wir noch vor der Sommerpause darüber zu einer Entscheidung kommen können.Ich hoffe auch, daß wir beim Bundesgrenzschutzgesetz zu einer Entscheidung kommen, wobei ich sagen muß, daß die CDU/CSU, wenn sie heute bereit ist, hier mitzumachen, mithilft, ein Versäumnis von mindestens 14 Jahren wiedergutzumachen.
— Einen Augenblick, Herr Stücklen! 1956 war die entscheidende Frage, wie der Bundesgrenzschutz in Zukunft sein soll; von dem rede ich jetzt, Herr Stücklen. Und von 1956 bis jetzt hat man den Bundesgrenzschutz in dieser merkwürdigen Zwittersituation gelassen. Ich bin froh, daß die Länderinnenminister mit uns zusammen der Auffassung sind, daß eine gesamte Sicherheitskonzeption da sein muß, die es möglich macht, den Bundesgrenzschutz als Spitzenreserve für Spitzenanforderungen ganz legal und ordentlich einzusetzen; das heißt, daß der Bundesgrenzschutz ganz einwandfrei Polizei werden muß. Das ist die Entscheidung, die seit 1956 ansteht. — Herr Wagner ist mit mir der gleichen Meinung, Herr Stücklen.
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Thadden?
Bitte, Herr von Thadden!
Herr Kollege Schäfer, wie können Sie es vor der Öffentlichkeit vertreten, der CDU/CSU jahrelanges Fehlverhalten zum Vorwurf zu machen, wenn an dem Tage, an dem wir hier diskutieren, es jedem möglich ist — ich habe es heute getan —, hier in Buchhandlungen in Bonn Literatur zu kaufen, in der die Baader-MeinhofBande — heute! — erklärt, daß Gewaltanwendung durch organisierte Widerstandsgruppen — ich zitiere wörtlich — gerechtfertigt ist? Das, was hier geschieht — heute! —, was hier an geistigem Sprengstoff heute noch verteilt wird, das geht doch wohl auf das Konto der Laxheit, für die Sie einzustehen haben. Ich hoffe, daß ich darauf — —
Herr Abgeordneter, die Zwischenfrage hat die gebotene Kürze aber jetzt längst überschritten.
Herr von Thadden, ich bedauere, daß Sie meinen Ausführungen offensichtlich nicht gefolgt sind; denn ich hatte dieses Thema abgeschlossen und kam zur Frage der Weiterentwicklung des Bundesgrenzschutzes, und ich hatte zur Frage des Bundesgrenzschutzes gesagt, daß die CDU/CSU es seit 1956 versäumt hat, eine klare Entscheidung und Entwicklung des Bundesgrenzschutzes in Richtung Polizei herbeizuführen, und daß wir das erfreulicherweise jetzt gemeinsam tun wollen. Darauf bezieht sich diese Bemerkung.
— Das ist meine Sache, welche Antwort ich gebe, Herr Lenz. Aber wenn er nicht in der Lage ist, mir geistig zu folgen, oder es nicht tut, dann hat er es auch notwendig, daß ich die Antwort gebe, die ich für richtig halte.
Wir werden diese Entscheidungen in den nächsten Tagen herbeiführen, und ich bin froh, daß wir mit den Länderinnenministern und daß wir mit der Opposition im großen und ganzen einer Meinung sind.Aber ich muß hier auch sagen, wir haben unsere klare Polizeikonzeption, und ich bin noch nicht so ganz sicher, ob der Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, in vollem Umfang mit der Verfassung vereinbar ist, so daß wir, ich muß es hier ankündigen, prüfen müssen, ob wir eventuell interfraktionell eine Verfassungsergänzung hier vorsehen, oder ob wir die Einsatzmöglichkeiten des Bundesgrenzschutzes entsprechend formulieren; denn — ich hoffe, darüber sind wir uns wiederum einig — es muß am Schluß eine Regelung da sein, die einwandfrei verfassungskonform ist. Dies zu prüfen, sind wir, glaube ich, alle bereit.Die Frage des Haftrechtes steht seit 1964 auf der Tagesordnung. 1964 ist diese Novelle vom ganzen Hause beschlossen worden. Daß man in die Prüfung jetzt eintreten kann, nachdem die entsprechenden Vorlagen da sind, ist begrüßenswert.Ich bin dankbar, Herr Kollege Vogel, daß Sie zur Frage des Verfassungsschutzgesetzes hier in Aussicht gestellt haben, daß wir eine Regelung finden, bei der die Auffassungen des Rechtsausschusses, des Innenausschusses, der CDU/CSU und der SPD in der Frage der Ausdehnung der Verfassungsschutzmöglichkeiten berücksichtigt werden. Wir sind in der Zielsetzung einig, also werden wir auch die notwendigen Möglichkeiten finden.Herr Bundesminister Genscher hat einige Bemerkungen zu den Ausländern gemacht. Er hat ganz richtig gesagt, daß die weitaus größte Zahl der Ausländer, die sich in unserem Lande aufhalten, ihr Gastrecht nicht mißbrauchen, sondern loyale und
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Dr. Schäfer
korrekte Mitbewohner sind. Deshalb müssen wir zwei Tendenzen bei unserer künftigen Arbeit berücksichtigen, um vor allem einerseits dieser großen Zahl gerecht zu werden. Hier gibt es eine ganze Anzahl von Vorschriften, die wir neu durchdenken und überprüfen müssen, damit uns das gelingt.Wenn wir das tun, dann ergibt sich daraus andererseits ganz zwangsläufig, daß wir die Maßnahmen gegen diejenigen in Erwägung ziehen müssen, die zum Nachteil ihrer eigenen Landsleute, die zum Nachteil der Bundesrepublik hier kriminell tätig werden wollen oder tätig wurden; die Ausländer-Bestimmungen sind in diesem Bereich möglicherweise zu verschärfen.
Dabei muß man aber beide Tendenzen zur gleichen Zeit prüfen.Nun zu der Frage des politischen Radikalismus im öffentlichen Dienst! Ich habe es hierbei verhältnismäßig einfach. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Eigenschaft als Parteivorsitzender über eine Sitzung des Parteirates, die am 20. März 1972 stattfand, ein Interview gegeben und darin auf die Frage des Verhältnisses zu dem Beschluß der Ministerpräsidenten eine klare Antwort erteilt; sie ist im Bulletin vom 15. April 1972 veröffentlicht. Ich darf das mit Genehmigung des Herrn Präsidenten verlesen:Die Ministerpräsidenten der Länder und ich haben in diesem gemeinsamen Beschluß unterstrichen, daß Gegner der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht im öffentlichen Dienst tätig sein dürfen. Hiermit wurde kein neues Recht gesetzt,Denn das wäre unmöglich; niemand von uns will neues Recht setzen.
- Es gab einmal eine Anregung, Herr Vogel — —
— Ich komme darauf! — Herr Vogel, es gab eine Anregung aus Ihren Reihen, von Herrn Barzel, das Grundgesetz zu ändern. Ich bin froh, daß dieser Vorschlag nicht erneut gemacht worden ist. —
— Ich muß erst das Zitat zu Ende verlesen; gleich!Hiermit wurde kein neues Recht gesetzt, die Regierungschefs haben vielmehr bekräftigt, daß Bund und Länder das geltende Recht — es gibt im Beamtenrecht hierzu seit langem eindeutige Vorschriften — einheitlich und konsequent anwenden werden. Die Erfahrung lehrt, daß die Demokratie sich ihrer Feinde erwehren muß. Daran halten wir uns in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz. Oder lassen Sie es mich so sagen: Wer dem Staat des Grundgesetzes dient, kann nicht gleichzeitig für eine Organisation arbeiten, die das Grundgesetz beseitigen will.Dies war auch einhellig die Auffassung in der Sitzung des Parteirates. Es wurde betont zum Ausdruck gebracht, daß die verantwortlichen Kräfte der Bundesrepublik den demokratischen Staat und seine Verfassung entschlossen verteidigen müssen. Ebenso einig aber waren wir uns auch darin, daß es in unserem Rechtsstaat nicht zu irgendeiner „Hexenjagd" kommen darf. Dagegen sind alle Sicherungen zu treffen. Jeder Einzelfall muß nach den gesetzlichen Kriterien geprüft und entschieden werden.So weit der Bundeskanzler. Er hat damit für die SPD nach der Sitzung des Parteirates eine klare Antwort gegeben.
Bitte, Herr Abgeordneter Vogel!
Herr Kollege Professor Schäfer, Sie haben erneut — das ist ja wiederholt geschehen! — das Angebot einer Grundgesetzänderung für den Fall angesprochen, daß die Auffassung nicht geteilt werde, die geltenden rechtlichen Bestimmungen reichten aus. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen — und es auch in Ihrer Argumentation zu berücksichtigen —, daß damit nichts anderes gemeint war als eine Klarstellung, daß das Parteienprivileg den Maßnahmen gegen einzelne im öffentlichen Dienst auf der Grundlage des geltenden Rechts nicht entgegensteht? — Ich glaube, es ist wichtig, daß wir das hier feststellen, damit es nicht zu Verketzerungen kommt, wie sie teilweise versucht worden sind — ich würde fast sagen: von Schäfer bis Wehner.
Vielen Dank für diese Klarstellung! Ich sagte, ich bin froh, daß dieses Angebot in Ihrer Rede heute nicht wiederkam. Es ist ganz gut, daß Sie das noch einmal klargestellt haben.
Nun, meine Damen und Herren, die Durchführung eines solchen Beschlusses, der ja — ich darf das noch einmal sagen, Herr Vogel — nur darauf hinweist, daß man das bestehende Recht einheitlich anwenden will, verlangt die laufende Kontrolle durch die Parlamente, weil es sich um eine ganz entscheidend schwierige Frage handelt, das im Einzelfall zu überprüfen.
Ich habe als Vorsitzender des Innenausschusses — und ich hoffe, Herr Vogel, damit auch in Ihrem Sinne — kurz vor Pfingsten an den Herrn Bundesinnenminister einen Brief geschrieben, in dem ich sagte, er möge sich darauf vorbereiten, im Innenausschuß darüber zu berichten, in welcher Art und Weise die Bundesregierung diesen Beschluß durchführt. Denn ich glaube, Herr Kollege Vogel, daß wir beide, die wir im Innenausschuß sind, insbesondere auch die Pflicht haben, uns zu vergewissern, daß die Bundesregierung rechtsstaatlich-gewissenhaft ihren Verpflichtungen nachkommt. Ich habe die Sorgen, die Sie erwähnt und in Ihrer Dokumentation zusammengestellt haben, nicht anders aufgefaßt. Wir alle — wir und hoffentlich auch Sie —
Dr. Schäfer
wirken in diesem Sinne darauf ein, daß man dies auch nicht so weit auslegt — und diesen Verdacht habe ich bei einem Ministerpräsidenten —, daß man tatsächlich sagen müßte, so sei es mit den bestehenden Gesetzen nicht zu vereinbaren. Denn das wollten auch Sie nicht.
Herr Kollege Dr. Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Arndt ?
Bitte schön!
Herr Kollege Schäfer, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das von Herrn Kollegen Vogel vorhin gebrachte Beispiel des Landtagsabgeordneten Hellwig insoweit unfair gegenüber der Sozialdemokratischen Partei ist, als die Landtagsfraktion der SPD in Düsseldorf in einem ausdrücklichen Beschluß das Verhalten dieses Abgeordneten — ich zitiere — „als ein Verhalten, das eines Sozialdemokraten unwürdig ist", mißbilligt hat, und daß dieser Zusatz erforderlich ist, um hier ein objektives Bild zu geben?
Vielen Dank für die Ergänzung! Das war mir nicht geläufig.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns heute und in den nächsten Wochen über die notwendigen Gesetze unterhalten, die wir im Augenblick verabschieden können, müssen wir uns auch darüber klar sein, daß damit nicht alles getan ist, sondern daß wir damit eigentlich nur ein bescheidenes Handwerkszeug liefern und daß es entscheidend darauf ankommt — auch das wurde wiederholt betont —, daß die Bevölkerung bereit ist, den Sicherheitsorganen dieses Staates die notwendige Unterstützung zu geben. Und dazu gehört auch eine Veränderung der Einstellung der CDU/CSU, meine Damen und Herren. Dazu darf man nicht die Einstellung haben: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Todesstrafe und Rache, und Strafe ist gleich Rache, sondern dazu muß man die Einstellung haben, daß die gesamte Gesellschaft auch die Gesamtverantwortung hat und das Notwendige tun muß, um demjenigen, der gefehlt hat, wieder die Einfügung in die Gesamtgemeinschaft zu ermöglichen. Das heißt, das kann man nicht mit Gesetz erzwingen, sondern dazu bedarf es einer aufnehmenden, einer helfenden Haltung der gesamten Bevölkerung.
Darauf hinzuwirken ist eine wichtige Sache.
Wenn in der Debatte am 28. April Herr Lenz dazwischenfragte, warum denn dann die Regierung das Gesetz über den Strafvollzug noch nicht vorgelegt habe, so muß ich sagen, das ist nicht eine Sache, die man im Ministerium ausarbeiten und einfach vorlegen kann und die dann funktioniert. Das ist vielmehr ein Entwicklungsprozeß, bei dem die politischen Parteien eine große gesellschaftspolitische Aufgabe haben und bei dem auch eine so große Organisation wie der Deutsche Gewerkschaftsbund eine wesentliche Mitverantwortung hat. Ich habe vor wenigen Tagen mit großer Freude gesehen, daß sich der langjährige frühere DGB-Vorsitzende Ludwig Rosenberg mit der Frage der Sicherheitsorgane und ihrer Verbindung mit der Bevölkerung befaßt und in einem Artikel im SPD-Pressedienst dargelegt hat: „Wenn die Bevölkerung das als nervenkitzelndes Schauspiel sieht, wenn die Polizei sich bemüht, einen Verbrecher zu fassen, wenn die Bevölkerung im Zweifel immer die Partei des anderen, des Rechtsbrechers einnimmt, und wenn es nur durch Sympathiekundgebung ist, ohne aktiv zu werden, dann ist es den staatlichen Organen außerordentlich schwer gemacht, ihre Aufgabe durchzuführen." Auch das ist ein Entwicklungsprozeß, und deshalb ist es schädlich, Herr Vogel, wenn man da so insgeheim glaubt, sich gegenseitig irgend etwas anjubeln zu müssen oder zu dürfen. Sie dürfen Ihre Sorgen haben. Wir haben nicht mindere Sorgen; wir nennen sie ja auch zu gegebener Zeit, aber nicht so, Herr Vogel, daß der Eindruck entstehen kann — oder vielleicht sogar gewollt ist; ich hoffe, daß es bei Ihnen nicht der Fall war —, als ob da ein Zusammenhang bestehe.
Ludwig Rosenberg sagt zusammengefaßt:
Eine Gesellschaft, die ihre Ordnungsorgane mit Schimpfworten aus der Zuhältersprache bezeichnet, die ihr nicht hilft, sondern sie bewußt oder unbewußt in der Aufrechterhaltung der Ordnung behindert, darf sich nicht wundern, daß die Rechtsbrecher die Unterstützung durch diese unfreiwillige Art der Helferschaft mehr in ihre Pläne einkalkulieren, als sie die Tätigkeit der sogenannten „Bullen" fürchten.
Darum sich zu bemühen, reicht wiederum nicht aus, sondern — der Innenminister hat es richtig erwähnt — das ist die Frage der Weiterentwicklung dieser Gesellschaft, der Weiterentwicklung einer Gesellschaft, die eine möglichst große Zahl von Bürgern als die erreichbare gerechte Gesellschaft empfinden kann, um sie dann auch als verteidigenswert durch die Organe des Staates zu verteidigen.
Wenn wir hier gemeinsam die Erklärung der Bundesregierung unterstützen, wenn wir uns gemeinsam bemühen, wenn wir gewiß sein dürfen, daß die Länderregierungen uns im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen, und wenn wir weiterhin alles tun, um gewiß sein zu dürfen, daß der Exekutivapparat personell und technisch funktionsfähig ist, dann ist auch die Sicherheit — nicht nur die Möglichkeit — gegeben, daß wir für den einzelnen die innere Sicherheit gewährleisten, daß wir für diesen Staat die innere Sicherheit gewährleisten. Notwendig ist aber auch ein erforderliches Maß an Selbstvertrauen, um aus diesem heraus die notwendigen Maßnahmen zu treffen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krall. Die Fraktion der FDP hat für ihn eine Redezeit von 20 Minu-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 10993
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausenten angemeldet; aber ich habe das Gefühl, Sie wollen sie unterschreiten. Das Haus wird Ihnen dankbar sein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es erscheint mir erforderlich, in dieser Stunde an ein berühmtes Wort John F. Kennedys zu erinnern, der selbst Opfer eines verbrecherischen Anschlags geworden ist. Was er sagte, war: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, sondern fragt, was ihr für euer Land tun könnt." Er hat damit eine zentrale Frage der demokratischen Gesellschaft angesprochen. Das Ideal der demokratischen Gesellschaft ist die Mitwirkung und Mitentscheidung aller ihrer Mitglieder an allen Fragen der Gesellschaft. Daraus erwächst die eigene ganz persönliche Verantwortung eines jeden einzelnen für den Zustand in seinem eigenen Staat. Bezogen auf die innere Sicherheit bedeutet das oben zitierte Wort Kennedys eben nicht nur, die Frage stellen: Was tut der Staat für die Sicherheit des Bürgers?, sondern es muß auch gefragt werden: Was tut der Bürger selbst für die Sicherheit seines Staates, und hier natürlich in erster Linie für die geistige Sicherheit dieses Staates? Die Antwort auf diese letzte Frage kann nur lauten: Bekenntnis zu diesem Staat, Engagement für diesen Staat, Bekenntnis zu den Institutionen, die diesen Staat tragen, aber auch Bekenntnis zu den Kräften, die die äußere und innere Sicherheit dieses Staates garantieren und damit die Freiheiten und die Rechte des Staatsbürgers gegen alle Gefährdungen von außen und innen schützen. Ich bin dem Herrn Bundesinnenminister sehr dankbar, daß er in seiner heutigen Regierungserklärung diese Frage sehr konkret angesprochen hat und hierbei klar herausgestellt hat, daß Polizei, Bundeswehr und Bundesgrenzschutz vom Vertrauen dieses Staates getragen werden müssen. Es erscheint mir notwendig, daß das hier von dieser Stelle immer wieder gesagt wird.Die Ereignisse der letzten Wochen, meine Damen und Herren, haben deutlich gemacht, wie notwendig es ist, das Vertrauen der Bürger in die Sicherheitsorgane unseres Landes zu stärken. Bei der Auseinandersetzung mit den Gegnern unserer freiheitlichen Grundordnung standen Bundesregierung und Parlament, Regierungsparteien und Opposition, Bund und Länder in gemeinsamer Verantwortung, und aus dieser Verantwortung heraus waren sie zu gemeinsamem und erfolgreichem Handeln befähigt. Das, meine Damen und Herren, war nicht immer so. Es gab eine Zeit — sie liegt noch gar nicht so lange zurück; ich denke hier an die Wochen vor der Wahl in Baden-Württemberg —, da haben Redner Ihrer Partei, meine Damen und Herren von der Opposition, noch versucht, das Geschäft mit der Angst in diesem Lande zu machen,
um den Wählern dieses Landes klarzumachen, dieBundesregierung nehme es mit der Verbrechensbekämpfung und mit der inneren Sicherheit in diesem Lande nicht so ernst. Sie haben das gegen besseres Wissen getan.
Denn Sie wissen und Sie wußten schon seit langem, welche Anstrengungen die Bundesregierung gerade in ihrem Zuständigkeitsbereich geleistet hat, um die innere Sicherheit in diesem Lande zu erhöhen.Hier ist das Sofortprogramm von allen Rednern angesprochen worden. Der Bundesinnenminister hat deutlich gemacht, welche materiellen und personellen Verstärkungen vorgenommen wurden. Das ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, was hier seitens des Bundes für die innere Sicherheit getan wurde.
— Natürlich! Was haben Sie denn in den vergangenen Jahren im Bereich des Bundeskriminalamtes gemacht?
Ich erinnere an das Schwerpunktprogramm. In allen Bereichen, die sich mit der inneren Sicherheit befassen, werden in der Zukunft erhebliche Investitionen geleistet werden. Wenn Sie, Herr Dr. Vogel, das nachgelesen hätten, dann wüßten Sie, welche Mittel die Bundesregierung in den nächsten Jahren im einzelnen vorgesehen hat.Wir erwarten weiterhin in Kürze das Ergebnis der Beratungen der Innenminister der Länder mit dem Bundesinnenminister über ein gemeinsames Sicherheitskonzept. Ein bedeutendes Element dieser Konzeption wird die umgehende Verabschiedung der für die innere Sicherheit so notwendigen viert Gesetze sein, die hier von meinen Herren Vorrednern mehrfach angesprochen wurden. Ich brauche sie nicht im einzelnen noch einmal aufzuführen. Wir, die FDP-Fraktion, betrachten dieses Vorhaben als ein Ganzes. Das heißt, wir erwarten eine Verabschiedung dieser Gesetze Zug um Zug noch vor der Sommerpause. Es ist gestern in einer interfraktionellen Vereinbarung mit den Obleuten der Fraktionen und dem Vorsitzenden des Innenausschusses beschlossen worden, daß wir in den nächsten Wochen zügig diese Vorlagen beraten, so daß eine Verabschiedung dieser Gesetze im Plenum noch vor der Sommerpause möglich wird.Lassen Sie mich abschließend Dank sagen den Männern und Frauen des Bundeskriminalamts, den Polizeikräften der Länder, den Männern des Bundesgrenzschutzes und allen Angehörigen der sie unterstützenden Organisationen für ihren Einsatz in den letzten Wochen.
Ich bin sicher, daß das Hohe Haus auch die besoldungspolitischen Konsequenzen in bezug auf unsere Polizeikräfte zu gegebener Zeit ziehen wird.Ich darf aber auch dem Bundesinnenminister namens meiner Fraktion Dank sagen nicht nur für die bedeutende Erklärung, die er heute abgegeben hat, sondern für sein tatkräftiges Handeln gemeinsam mit den zuständigen Innenministern der Län-
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10994 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Krallder. Der Bundesinnenminister, die Innenminister der Länder und alle ihnen unterstellten Verbände haben damit einen wesentlichen Erfolg in den letzten Tagen möglich gemacht.Mir scheint es auch notwendig zu sein, ein Wort der Anteilnahme zu sagen, das den Angehörigen der Opfer der entsetzlichen Verbrechen und den vielen Verletzten gilt, denen wir die beste Genesung wünschen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Staatsminister Merk aus dem Freistaat Bayern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist heute in den Ausführungen auch des Herrn Bundesinnenministers wiederholt zum Ausdruck gekommen, daß die Länder die primäre Verantwortung für die Sicherheit in unserem Lande haben. Sie verstehen es daher sicherlich auch, wenn bei einer Debatte in diesem Hohen Hause über den Sicherheitszustand in unserem Lande in Anbetracht der zunehmenden Gewalttätigkeit im kriminellen Bereich die Bundesratsbank nicht nur besetzt ist, sondern im Rahmen dieser Debatte auch die Länder ihren Beitrag leisten wollen. Das gilt um so mehr, als in verschiedenen Kommentaren zum BaaderMeinhof-Komplex — insbesondere auch im Anschluß an den erfolgreichen Schlag gegen die Bande in Frankfurt am Main — die Ansicht geäußert wurde, die Polizeihoheit der Länder sei der Grund dafür, daß Baader und seine Komplicen so lange ihr Unwesen treiben konnten, und der erst jetzt geglückten Koordinierung der Fahndungsmaßnahmen sei es zu danken, daß Baader gestellt werden konnte. Die Länder sind es ja inzwischen gewohnt, die Prügelknaben für alles und die Generalschuldigen an allen Verhältnissen zu sein, die die Öffentlichkeit als unbefriedigend gelöst oder als nicht geregelt empfindet.Zunächst warne ich vor der Illusion, als ob mit der Verhaftung von Baader, Meins und Raspe schon alle Probleme gelöst seien.
Sie wurde hier heute nicht vertreten, aber wir sprechen ja hier nicht nur zueinander, sondern auch für die deutsche Öffentlichkeit. Wir müssen uns nach wie vor auf weitere Aktivitäten einrichten. Baader war ja schon einmal in Haft, wie wir uns sehr wohl noch erinnern.
Ein Zweites. Ich bedanke mich beim Herrn Bundesinnenminister dafür, daß er klargestellt hat, der Erfolg in Frankfurt sei das Ergebnis des gemeinsamen Bemühens von Bund und Ländern und der anerkannt wirksamen Zusammenarbeit zwischen dem Bundeskriminalamt und den Polizeien der Länder gewesen. Ich möchte auch betonen, daß die Länder — auch Bayern — noch nie in Frage gestellt haben, daß das Bundeskriminalamt die zentrale Informations- und auch Leitstelle für derartige bundesweite Fahndungsmaßnahmen ist, sein muß und allein sein kann.
Wir haben es auch begrüßt, daß durch die Bundesregierung und den Herrn Bundesinnenminister das Bundeskriminalamt als eine solche Zentrale, besetzt mit Spezialisten, mit den technischen Voraussetzungen, für einen reibungslosen Informationsfluß — und damit auch geeignet als Leitstelle für derartige Maßnahmen — ausgebaut wurde. Wir warnen aber vor der Annahme, daß das Bundeskriminalamt jemals in der Lage sein könnte, mit eigenen Kräften zentrale Fahndungsmaßnahmen mit Aussicht auf Erfolg durchzuführen. Diese Meinung ist auch geraume Zeit vertreten worden — mit entsprechenden Mißerfolgen bei all diesen Einsätzen. Ich glaube, daß wir das Konzept gefunden haben und inzwischen praktizieren, das uns weiterhelfen kann.Es kann aber kein Zweifel bestehen, daß diese Koordinierung schon immer möglich gewesen ist und daß eine Intensivierung der Fahndung gegen BaaderMeinhof schon wesentlich früher wünschenswert gewesen wäre. Das zu veranlassen war jedoch nicht mehr Sache der Länder, sondern Aufgabe derer, denen nach geltendem Recht die Verfolgung übertragen worden war: dem Generalbundesanwalt, dem Bundeskriminalamt, was schon seit Januar bzw. Februar des vorigen Jahres, 1971 also, der Fall ist.Es hat auch nicht an drängenden Vorstellungen von der Länderseite gefehlt. Die Länderinnenminister haben mehrfach nicht nur ihre uneingeschränkte Bereitschaft zur Mitwirkung bekräftigt, sondern auch ihre Meinung kundgetan, daß die Verfolgung der Bande in Anbetracht ihrer Gefährlichkeit mit größerem Nachdruck betrieben werden müsse. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an mein Fernschreiben vom 25. Januar dieses Jahres, dessen Forderungen in der anschließenden Innenministerkonferenz am 27. Januar dieses Jahres alle Länderkollegen zugestimmt haben. Ich habe damals gesagt: „Nach meiner Meinung ist es jetzt höchste Zeit, die Fahndung nach den Mitgliedern der Bande mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu betreiben. Dazu gehört vor allem die Aussetzung einer angemessenen Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung der Gesuchten führen, die gezielte Fahndung über Presse, Rundfunk und Fernsehen und das Anschlagen von Plakaten."Ich weiß, welche Schwierigkeiten der Bundesinnenminister selbst hatte, Verständnis und Bereitschaft für notwendige Maßnahmen legislativer und exekutiver Art zu finden. Noch bis vor kurzem wurde es als Hysterie kritisiert, als verdammenswerter Versuch, unsere Freiheit durch polizeistaatliche Regelungen zu beschränken oder gar zu gefährden, sogar als parteitaktisches Spiel, politisches Kapital aus der Unruhe und der Sorge der Bevölkerung zu schlagen, wenn man mehr Geschlossenheit aller Demokraten und ein entschiedeneres Vorgehen im Kampf gegen fanatisierte Extremisten gefordert hat.
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Dr. MerkNichts wünschen wir uns mehr, als daß diese Fragen außerhalb des Parteienstreits bleiben.
Das setzt jedoch die Bereitschaft voraus, nicht nur verbal, sondern in der Tat, in der Gesetzgebung wie im Vollzug der Gesetze alle Möglichkeiten frühzeitig und rechtzeitig auszuschöpfen, um eine klare Grenze gegenüber allen zu ziehen, die die Gesetze unseres Staates zu achten nicht willens sind oder die gar die freiheitliche demokratische Ordnung unseres Staates bekämpfen. Die Freiheit in unserem Lande ist auf die Dauer nur zu sichern, wenn die Grenzen gegen Gewalttätigkeit und Kriminalität deutlich gezogen und der Polizei, den Staatsanwaltschaften und Gerichten brauchbare, taugliche Handhaben im Kampf gegen das Verbrechen an die Hand gegeben werden, und sie dann auch bereit sind, diese Handhaben auszuschöpfen.Der Kampf gegen die Kriminalität, besonders gegen Gewaltverbrecher, kann auch nicht — haben Sie bitte Verständnis, wenn ich das in diesem Zusammenhang sage — Sache der Polizei allein sein. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die jeden angeht. Wir haben keinen Polizeistaat und wollen auch keinen haben. Erfolge bei der Suche nach Verbrechern können wir aber nur haben, wenn alle Bürger mithelfen und vertrauensvoll mit ihrer Polizei zusammenarbeiten, es aber in jedem Falle ablehnen, den Gewaltverbrechern Hilfs- und Handlangerdienste zu leisten.
Nicht zuletzt deshalb haben wir gefordert, daß auch gegen politische Gewalttäter Belohnungen ausgesetzt und vor allem gezielt öffentlich über Presse, Rundfunk und Fernsehen gefahndet wird, daß die Verhaltensweisen radikaler Banden dadurch der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht und die Aufmerksamkeit vieler geschärft wird, um in der Bekämpfung erfolgreich sein zu können. Denn dadurch wird auch der Bewegungsspielraum dieser Banden eingeengt und die Bereitschaft zu direkter oder indirekter Hilfestellung gedämpft oder unmöglich gemacht.Wir müssen weiter nach deli tieferen Ursachen solcher Verbrechen fragen, die unsere Öffentlichkeit geschockt haben, und das Klima untersuchen, in dem sie gedeihen konnten. In der Vergangenheit hat es zwar nicht an einer klaren Absage aller politischen Kräfte an die Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzungen gefehlt. Ich begrüße es sehr, daß die Bundesregierung diese Absage erneuert hat, die Sprecher der Parteien das getan haben und der Herr Bundesminister des Innern das heute hier bekräftigt hat. Wir sind uns wohl alle darüber einig, daß aber die bloße Absage an Gewalt in Wort und Schrift allein nicht genügt. In der Frage — ich sage das jetzt nicht als Vorwurf gegen irgendeine Seite, sondern als Feststellung der Gegebenheiten —, was konkret zu tun ist, um das Wirken von Extremisten zu erschweren oder Kriminalität erfolgreicher bekämpfen zu können, besteht leider noch keineÜbereinstimmung. Hier gehen die Meinungen auseinander, oder sind die Meinungen bis vor kurzem noch auseinandergegangen. Es sollte in Zukunft nicht mehr möglich sein — um nur einige Beispiele zu erwähnen, meine sehr verehrten Damen und Herren , daß z. B. ein im Vollzug ausgesetzter Haftbefehl gegen eine Person, die im Verdacht steht — weswegen der Haftbefehl auch ergangen ist —, Quartiermacherin der Bande zu sein und die nach Verletzung der ihr auferlegten Meldepflichten an der Grenze erwischt wird, nur nach Intervention — in diesem Fall von mir persönlich — wieder in Kraft gesetzt wurde, was von Anfang zu tun keine Bereitschaft bestanden hat.Es darf weiter nicht möglich sein, daß eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt — das ist heute bereits erwähnt worden — am Tage nach der Festnahme in Frankfurt einem marxistischen Professor Gelegenheit gibt, die Verbrecher zu verharmlosen, ja zu idealisieren — ich erspare mir die Zitate; Sie kennen sie —, und Sicherheitsbehörden zu diskriminieren.
Genauso sollte es unmöglich sein, daß ein angesehener Verband wie etwa der Schriftstellerverband die Anschläge vornehmlich nur deshalb verurteilt, weil sie angeblich — ich zitiere — „den fanatisierenden Ruf nach Recht und Ordnung schüren".
Es muß endlich Schluß damit sein, daß jeder, der die Worte „Recht" und „Ordnung" in den Mund nimmt, als Reaktionär oder gar als Faschist beschimpft wird.
Manche Leute tun ja so, als ob Unrecht und Unordnung Grundlagen eines Staatswesens sein könnten!
Ich habe auch kein Verständnis dafür, daß die klare Entscheidung der Ministerpräsidenten aller Länder — in gemeinsamer Beratung mit dem Herrn Bundeskanzler — gegen Radikale im öffentlichen Dienst von einzelnen schon in Frage gestellt oder auch mißachtet wird.
Die spektakuläre Einstellung eines Dienststrafverfahrens gegen einen Professor, der im Verdacht steht, Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung Unterschlupf gewährt zu haben, kann nur radikalen Kräften Auftrieb geben,
die Sicherheitsorgane verunsichern und die Bereitschaft der Bürger zur aktiven Mitarbeit gefährden.
Ganz allgemein muß man über den aktuellen Komplex Baader-Meinhof-Bande hinaus feststellen: Die Aktivität politischer Extremisten, die auch mit
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10996 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Dr. MerkGewalt unsere freiheitliche rechtsstaatliche Ordnung beseitigen wollen, nimmt zu. Der Versuch — der Herr Bundesinnenminister hat es erst gestern verdeutlicht — insbesondere der Deutschen Kommunistischen Partei und ihrer Trabanten Spartakus und SDAJ, in vielen gesellschaftlichen und politischen Bereichen Einfluß zu gewinnen, wird stärker. Politische Fanatiker verteilen unter dem Vorwand, ein neues Paradies auf Erden schaffen zu wollen, Anleitungen für den Straßenkampf.Ausdrücke aus der Ganovensprache gehen mehr und mehr in die Umgangssprache ein. Selbst in seriösen Blättern liest man Ausdrücke wie „Bullen", „Gorillas" und „Polypen" für unsere Polizeibeamten. Radikale Ausländer tragen ihre Gegensätze bei uns mit Messer und Pistole aus. Der Rauschgiftkonsum steigt. Gewissenlose Geschäftemacher nutzen Neugierde und Leichtsinn vieler Jugendlicher aus.Das, meine Damen und Herren, muß doch beim Bürger den Eindruck erwecken, daß über den Diskussionen über Reformen vergessen wird, das Instrumentarium auf seine Tauglichkeit hin zu prüfen, das der Staat zu seinem Schutz und damit zum Schutz der Freiheit jedes einzelnen und der Gesellschaft dringend braucht, um den Raum zu sichern, in dem allein über Reformen diskutiert werden kann und Entwicklungen vorangebracht werden können.Aber so düster das Bild auch manchen scheinen mag, so sind doch Vergleiche mit fernen Ländern, die immer wieder angestellt werden, falsch und nur geeignet, die Szene zu vernebeln. Wir haben eine der besten und freiheitlichsten Ordnungen, die auf der Welt bestehen, und keine gesellschaftlichen Zustände, die auch nur im entferntesten die Anwendung von Gewalt zum Durchsetzen von politischen Zielen rechtfertigen könnten.
Wer wirkliche Reformen im Interesse der Menschen will, muß jede Gewalt ablehnen. Wir müssen allen Gewalttätern und ihren Helfershelfern einen unerbittlichen Kampf ansagen.
Die ganz überwiegende Mehrheit unserer Bürger lehnt die Anwendung von Gewalt auch in der politischen Auseinandersetzung ab. Die Polizei hat, wie Meinungsumfragen gezeigt haben, Rückhalt bei 80 bis 90 % der Bevölkerung. Insoweit besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung hinsichtlich des Verhaltens und des Einsatzes der Polizei.Wir unterstützen mit Nachdruck die gesetzgeberischen Vorhaben, die der Herr Bundesinnenminister soeben vorgetragen hat. Die Innenminister der Länder fordern seit langem ein besseres Haftrecht, ein den Sicherheitsbedürfnissen entsprechendes Waffenrecht und bessere Rechtsgrundlagen für den Verfassungsschutz. Auch das Bundesgrenzschutzgesetz gehört in diesen Rahmen. Ich sage aber ganz offen: Die Diskussion um Haft- und Waffenrecht scheint mir schon weiter gediehen zu sein, so daß ein vorrangiger Abschluß dieser Beratungen möglich ist, während beim Bundesgrenzschutz einige — auch verfassungsrechtliche — Probleme noch geklärt werden müssen, woran mitzuwirken auch der Freistaat Bayern bereit ist.
Das Gesetz über den Bundesgrenzschutz muß in der Verteilung der Aufgaben für den Bundesgrenzschutz in das allgemeine Sicherheitskonzept passen, mit dem sich die Innenminister demnächst — ich hoffe, abschließend — beschäftigen werden. Es darf kein Nebeneinander, sondern es muß ein Miteinander aller Sicherheitskräfte geben.
Eine klare Zuweisung der Aufgaben dient auch der Sicherheit der Bürger. Der Bundesgrenzschutz ist eine willkommene und notwendige Hilfe zur ergänzenden Unterstützung der Polizeien der Länder. Einen Ausbau der originären Zuständigkeiten etwa zu einer Art Bundespolizei läßt jedoch das Grundgesetz aus wohlerwogenen Gründen nicht zu.Wir sind uns — und damit möchte ich das Ergebnis meiner Ausführungen in einigen Punkten zusammenfassen — wohl alle in folgenden Forderungen einig:1. Eine entschiedene und vorbehaltlose Absage aller politischen Kräfte an politischen Extremismus und an Gewalt in jeder Form.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Professor Schäfer?
Ich will die Zwischenfrage stellen, wenn der Herr Staatsminister seine Aufstellung abgeschlossen hat.
Dr. Merk, Minister des Landes Bayern: Ich bitte zu fragen.
Herr Staatsminister, es wäre förderlich, wenn Sie die Freundlichkeit hätten, bei Ihren Überlegungen hinsichtlich des Bundesgrenzschutzes, der Zusammenarbeit mit Ländern und der Einsatzmöglichkeit hier auch etwas über Ihre Haltung für den Fall zu sagen, das unsere gemeinsame Sicherheitskonzeption —
— die Freundlichkeit, etwas dazu zu sagen! — im Zweifel nicht mit dem derzeitigen Grundgesetz übereinstimmen würde; was nach Ihrer Meinung dann getan werden soll.Dr. Merk, Minister des Landes Bayern: Herr Professor Schäfer, ich habe schon betont, daß ich den Bundesgrenzschutz als eine polizeiliche Eingreifreserve auf Bundesebene bejahe,
es aber ablehnen muß, daß man ihm über denjetzigen Zustand hinaus originäre Kompetenzen zuweisen will, was zwangsläufig zu einer Überlage-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 10997
Dr. Merkrung im polizeilichen Aufgabenbereich führen müßte, damit zu Reibungsflächen und damit auch zu Schwierigkeiten, mit denen uns allesamt nicht gedient wäre. Sie kennen die Problematik. Es handelt sich dabei erstens um den polizeilichen Aufgabenbereich beim Schutz von Bundesorganen einschließlich von Mitgliedern von Bundesorganen und zweitens um die Frage der grenzpolizeilichen Befugnisse, wobei über die Geltung des alten Bundesgrenzschutzgesetzes hinaus hier expressis verbis der Begriff „grenzpolizeiliche Aufgaben" im Gegensatz zu dem bisherigen Begriff „Grenzschutz" verwendet wird, ohne daß damit zweifelsfrei geklärt wäre, wie umfassend die grenzpolizeilichen Funktionen — zumal in Anbetracht der Ausweitung bis auf eine Tiefe von 30 km — verstanden werden müssen. Mir geht es also nicht darum, jetzt diese gesetzliche Regelung zu verhindern, sondern mir geht es darum, klarzustellen, welchen Inhalt die neu verwendeten Begriffe haben sollen, um für die Zukunft ein eindeutiges, zweifelsfreies und rechtlich einwandfreies Funktionieren zu erreichen, was Sie in Ihren Ausführungen eben ja auch deutlich gefordert haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Arndt ?
Dr. Merk, Minister des Landes Bayern: Bitte!
Herr Minister, kann ich Ihre Ausführungen so verstehen, daß auch der Freistaat Bayern in Zukunft bereit ist, den Bundesgrenzschutz als eine Art Manpower-Reserve unter der Einsatzleitung und Verantwortlichkeit der Länder zu akzeptieren und gegebenenfalls die erforderlichen gesetzlichen und grundgesetzlichen Voraussetzungen hierfür mit zu schaffen?
Dr. Merk, Minister des Landes Bayern: Herr Abgeordneter, in Ihrer Frage kommt die Meinung zum Ausdruck, der Freistaat Bayern habe sich dem bisher widersetzt.
— Ich wollte das nur sagen, um keine Zweifel aufkommen zu lassen. Ich hatte zunächst jedenfalls diesen Eindruck. Damit hier jetzt nicht etwa falsche Eindrücke zu beiderseitigen Lasten gezüchtet werden, wollte ich das klären. Ich möchte hier auch noch einmal betonen und bekräftigen — im übrigen habe ich das auch schon im Innenausschuß des Deutschen Bundestages getan —, daß ich den Bundesgrenzschutz als eine notwendige, auf Bundesebene bereitstehende polizeiliche Eingreifreserve bejahe. Ich habe das auch auf der Ebene der Länderinnenminister mit vertreten, und zwar in der Fünferkommission, in der ja mein Kollege Ruhnau den Vorsitz hatte, bei der Ausarbeitung eines Sicherheitskonzepts, das wir zwischen Bund und Ländern abstimmen wollen. Bayern hat sich nicht nur dazu bewegen lassen, diesem Konzept zuzustimmen, sondern es hat von Anfang an zu diesem Konzept ja gesagt.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
Dr. Merk, Minister des Landes Bayern: Bitte!
Herr Staatsminister Merk, dürfen wir von der konstruktiven Bereitschaft des Freistaats Bayern, am Bundesgrenzschutzgesetz mitzuarbeiten, ausgehen, und können wir weiterhin davon ausgehen, daß die Haltung des Freistaates Bayern insoweit sehr wohltuend von der Haltung des nördlichen Nachbarn des Freistaates Bayern, des Landes Hessen, absticht?
Dr. Merk, Minister des Landes Bayern: Herr Abgeordneter, Bayern hat bisher immer den die Länder verpflichtenden Grundsatz bundestreuen Verhaltens hochgehalten
und hat allüberall seinen Beitrag geleistet, um einen wohlverstandenen Föderalismus in der Bundesrepublik zu praktizieren.Herr Präsident, ich möchte meine Schlußfolgerungen nun ergänzen. Den ersten Punkt meiner Aufzählung habe ich bereits angeführt: Wir fordern die Absage an den politischen Extremismus und an Gewalt in jeder Form. Diese Absage darf sich nicht nur in Worten erschöpfen, sondern muß sich auch im konsequenten praktischen Verhalten erweisen. Es darf kein Paktieren mit Extremisten und Gewalttätern geben.2. Der Schutz des öffentlichen Dienstes vor Unterwanderung durch Extreme. Wer die verfassungsmäßige Ordnung stürzen will, hat im öffentlichen Dienst nichts zu suchen.
3. Die Aufforderung zur Gewalt und die Verherrlichung von Gewalt müssen unter Strafe gestellt werden. Das ist insoweit auch eine übereinstimmende Forderung der Länderinnenminister.4. Die politische Aktivität ausländischer Parteien in der Bundesrepublik muß unterbunden werden.5. Ausbildung, Ausrüstung und Organisation der Polizei müssen weiter verbessert werden, und die Polizei muß auch weiter verstärkt werden. Die Länder sind hier bereit, auch die notwendigen finanziellen Anstrengungen zu unternehmen.6. Die Stellung des Polizeibeamten in der Gesellschaft muß seiner Aufgabe und seiner Verantwortung entsprechend ausgebaut werden.
7. Der Kampf gegen das Verbrechen muß als eine gesellschaftliche Aufgabe von allen geführt werden. Das kann nicht nur Sache der Polizei sein. Wer im Kampf gegen Verbrecher hilft und dabei Schaden erleidet oder wer Opfer von Verbrechen wird, muß dafür von der Allgemeinheit entsprechend entschädigt werden.
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10998 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Dr. MerkIch glaube, wenn wir uns in diesen Punkten einigen und wenn wir ungeteilt die Bereitschaft zeigen, die Schlußfolgerungen aus diesen Forderungen zu ziehen, dann werden wir unseren Beitrag zur Verbesserung des Sicherheitszustandes leisten und werden vor allem die Gewähr dafür bieten, daß Gewalttätigkeit, ganz gleich aus welchen Motiven heraus begangen, in unserem Lande unterbunden werden kann und daß sich die Sorge unserer Bevölkerung künftig erübrigen wird.
Das Wort hat Herr Ruhnau, Senator der Freien und Hansestadt Hamburg.Ruhnau, Senator der Freien und Hansestadt Hamburg: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur wenige Bemerkungen machen und hoffe, daß ich mich damit im Zeitplan des Deutschen Bundestages bewege.Ich möchte mit einer Feststellung beginnen: Es ist unbestritten, daß die Länder die Hauptverantwortung und auch die Hauptlast in allen Fragen der inneren Sicherheit haben, und es ist auch unbestritten, daß die Fahndungsmaßnahmen, die seit vielen Monaten von Ländern und Bund betrieben werden, Erfolg gehabt haben. Bei manchen Diskussionen wird der Eindruck erweckt, diese Fahndungsmaßnahmen seien erst vor drei Wochen in Gang gekommen. Dies ist falsch, dem muß man energisch widersprechen, weil dies die tatsächlichen Verhältnisse nicht trifft. Der größte Teil jener, die im Zusammenhang mit terroristischen Gewaltverbrechen bekannt wurden, wurde durch Polizeibeamte festgenommen und sieht einem rechtsstaatlichen Verfahren in unserem Lande entgegen.Zweitens. Die Länderinnenminister arbeiten mit dem Bundesinnenminister unkompliziert, unbürokratisch und schnell zusammen. Ich möchte — ich bin da nicht ganz sicher, ob ich für alle Länderinnenminister sprechen kann, aber immerhin bin ich der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, und die müssen das dann alle gegen sich gelten lassen — diesem Bundesinnenminister für seine Art der Zusammenarbeit, der Unkompliziertheit, der unbürokratischen Zusammenarbeit und vor allen Dingen der Tatkraft unseren herzlichen Dank sagen.
Es wird nämlich in dieser manchmal gescholtenen Länderinnenministerkonferenz mehr besprochen, als auf dem Marktplatz ausgetragen wird, und wir haben auch nicht vor, dies zu ändern; denn wenn man hier Erfolg haben will, kann man nicht alles, was man tut und was man weiß, auf einem öffentlichen Platz erzählen.Die letzten Wochen haben überzeugend den Beweis erbracht, daß der föderativ organisierte Staat in der Lage ist, zu handeln. Vielleicht — hier war die Rede davon — könnte mancher auf die Idee kommen, es sollten Kompetenzen verlagert werden, was die innere Sicherheit betrifft. Auf den ersten Blick mag dies auch bestechend sein. Aber selbst wenn wir eine zentralisierte Polizei hätten, wäre kein Polizeibeamter mehr im Einsatz gewesen, und es wäre wahrscheinlich keine einzige Fahndungsmaßnahme mehr getroffen worden, als dies der Fall war. Die Abstimmung ist da manchmal — zugegeben — nicht sehr einfach. Aber dieser Zwang zur Abstimmung untereinander erbringt auch den Zwang zur Zusammenarbeit, während die überflüssige Zentralisierung nur verantwortungsfreie Räume schafft.Die Sicherheitsorgane, d. h. die Polizeibeamten und die Beamten des Verfassungsschutzes, von denen in dieser Debatte noch nicht die Rede war, sehen sich großen Belastungen gegenüber; denn in dieser offenen Gesellschaft, in der wir leben, ist manches schwieriger, komplizierter als in einer Gesellschaft, die ihre Schotten dicht hält. Und darauf zielen auch jene, die sich vorgenommen haben, den Staat zu beschädigen. Sie zielen auf zwei Dinge: erstens darauf, das Vertrauen der Bürger in die Kraft des Staates zu erschüttern — und niemand, denke ich, sollte dabei mithelfen, daß dieses Vertrauen erschüttert wird —, und zweitens darauf, den Staat zu zwingen, ein Stück dieser offenen Gesellschaft zurückzudrehen, um damit wiederum anderen die Argumente ihrer Auseinandersetzung zu geben.Ich möchte unterstreichen, was der verehrte Staatsminister aus Bayern hier gesagt hat. Wir sollten nicht in einen sinnlosen Wettlauf eintreten. Dann möchte ich an dieser Stelle auch mit einbeziehen, daß wir keinen Wettlauf der Zweckmäßigkeiten veranstalten sollten. Und um nun der Legendenbildung entgegenzuwirken — da ist man auch nie ganz sicher, ob man das schafft —, muß ich einmal sagen, was am 27. Januar in einer Konferenz wirklich besprochen worden ist. Da waren sich nämlich am Ende alle einig, daß es die Aufgabe der politischen Führung nicht ist, die Fachleute zu ersetzen. Wir sollten uns auch darin einig sein, daß wir nicht den Versuch unternehmen, verhinderte Polizeipräsidenten zu spielen.
Da gibt es unter den Fachleuten über die Methoden der Fahndung viele Auffassungen, viele Vorstellungen, und da ist manches auch kontrovers. Wir haben als die politisch Verantwortlichen nur darauf zu dringen, daß das, was Fachleute für richtig halten, was sich im Rahmen des Rechtsstaats bewegt, dann auch mit dem notwendigen politischen Push versehen wird. Wir haben ausdrücklich damals auch zu den hier kontroversen Themen gesagt, die Fachleute sollten prüfen, wann und zu welchem Zweck und zu welchem Zeitpunkt diese speziellen Fahndungsmaßnahmen notwendig seien. Ich halte es für falsch, soweit ich etwas davon verstehe, den Eindruck zu erwecken, nur ganz bestimmte spektakuläre Fahndungsmaßnahmen seien das Geheimnis des Erfolges. Der Erfolg ist in den letzten Monaten nicht erzielt worden mit dem Spektakulären; der Erfolg ist erzielt worden mit der
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Senator RuhnauAnstrengung, der Phantasie, den Ideen, der Einsatzbereitschaft unserer vielen tausend Polizeibeamten. Das ist das Geheimnis des Erfolges.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine solche Debatte wollte ich dazu benutzen, auch ein Wort zu sagen, daß dies leider kein vorübergehender Zustand ist. Wir leben mit ihm sehr lange, ohne daß wir immer sehr viel darüber geredet haben. Fahndung, Kontrolle und Sicherheitsmaßnahmen erfreuen sich nicht allgemeiner Popularität.
Ich wollte Sie, die Sie noch hier sind, darum bitten — es ist ein wichtiges Thema —, überall dort, wo in Versammlungen darüber diskutiert wird, ob dieser martialische Polizeiaufmarsch — wie er manchmal dargestellt wird —, ob dieser Einsatz von vielen tausend Beamten, Kraftfahrzeugen, Waffen eigentlich notwendig sei, um Verständnis dafür zu werben, daß unsere Beamten, die bei Verkehrskontrollen und Fahndungsaktionen auf der Straße stehen, wahrscheinlich auch lieber etwas anderes täten. Aber der Rechtsstaat muß seine ihm von der Verfassung verliehenen Machtmittel konsequent einsetzen, um den Terroristen das Handwerk zu legen. Dazu gehört manches, was für uns alle unbequem ist. Je besser wir das Unbequeme aushalten, desto erfolgreicher werden wir sein.Es gibt noch eine Spekulation jener, mit denen wir es zu tun haben: das ist die Spekulation, wir würden uns an die Gewalt gewöhnen. Wenn wir uns da nichts vormachen, hat der Prozeß auch schon begonnen: Ein Brandflaschenanschlag wird nur noch auf Seite 24 gebracht. Es ist keine Schlagzeile mehr. Da sehen wir, wir beginnen uns an diesen Zustand zu gewöhnen.Aus diesem Grunde sollen, glaube ich, die Gesetze, die sich mit der Gewalt beschäftigen, nicht nur Sachregelungen auf den Weg bringen; vielmehr können sie alle dazu beitragen, daß möglichst schnell Signale gesetzt werden, auch für unsere Polizeibeamten.
Aus der Sicht des Polizeibeamten betrachtet ist es nämlich sehr schwierig zu begreifen, daß er gegen Gewalt einschreiten soll, während die Aufforderung zur Gewalt ohne Strafe bleibt. Der Polizeibeamte versteht auch nicht, daß er gegen Gewalt einschreiten soll, während vier Jahre Diskussion verstreichen, bis wir zu einem einheitlichen Waffenrecht gelangen.
Herr Senator, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg?
Ruhnau, Senator der Freien und Hansestadt Hamburg: Ja; ich wollte meine Gedanken noch zu Ende führen und bin dann dazu bereit. — Der Polizeibeamte versteht auch nicht, daß er Überstunden und Sonderschichten leisten muß, während wir Monate brauchen, um über eine Formulierung nachzudenken, die zu einer zweckmäßigen Abgrenzung zwischen Grenzschutz und Polizei im Grenzgebiet führt. Dies muß sich doch nach einer intensiven Diskussion innerhalb von mehreren Tagen erreichen lassen. Das gleiche gilt für das Verfassungsschutzgesetz; denn der Terrorismus ist keine nationale, sondern eine internationale Qualität geworden.
Herr Abgeordneter Dr. Schulze-Vorberg, bitte sehr!
Herr Senator, ich hatte mich bei Ihrer Feststellung gemeldet, daß Zeitungsberichte über kriminelle Vorgänge - -
Herr Abgeordneter, warum Sie sich gemeldet haben, ist nicht Ihr Thema. Bitte fragen Sie!
Ja. — Meine Frage ist die: Glauben Sie nicht, daß der Deutsche Presserat mit seiner Mahnung an unsere Presseorgane recht hat, in der Berichterstattung über Gewaltverbrechen vorsichtig zu sein und sie möglichst auch nicht zu dramatisieren? Kann man nicht unter Umständen auch durch eine besonders betonte Berichterstattung die Dinge womöglich noch fördern?
Ruhnau, Senator der Freien und Hansestadt Hamburg: Ich bin gegen jede Art von Dramatisierung, besonders gegen die Dramatisierung von Androhungen, die als Tatsachen dargestellt werden; hierin bin ich mit dem Deutschen Presserat völlig einig. Der Deutsche Presserat ist auch, denke ich — wenn ich das beurteilen darf —, richtig beraten, indem er empfiehlt, man solle dies mit Augenmaß machen. Nur wenn ich die Schlagzeilen über die Androhung auf der ersten Seite und die Meldung von dem Brandflaschenanschlag auf Seite 24 miteinander vergleiche, gelange ich für mich zu dem Schluß, dies ist nicht ausgewogen. Wir dürfen in der Berichterstattung auch nicht dazu übergehen, Wichtiges, was in diesem Lande geschieht, unter den Teppich kehren zu wollen.Im Zusammenhang mit der Gewalt wird hier sehr viel davon geredet, daß jene, die Gewalt anwenden, unterstützt werden; dagegen müßten wir alle aufstehen. Das ist richtig. Wir müssen uns auch gegen die gezielten Unterwanderungs- und Aushöhlungsversuche demokratischer Institutionen und Organisationen zu Wehr setzen. Da ist nicht nur vom Staat die Rede, etwas zu viel manchmal vom Staat; da sind auch noch andere dabei, die sich mit Erfolg gewehrt haben. Und dem müssen wir angemessen entgegentreten.Aber dies, meine Damen und Herren, darf uns den Blick nicht dafür nehmen, daß die überwältigende Mehrheit dieses Volkes fest zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht, sie erhalten will und sie, wenn es darauf ankommt, auch zu ver-
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11000 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Senator Ruhnauteidigen bereit ist. Dies ist nämlich das Kapital, aus dem unsere Gesellschaft lebt und aus dem dieser Staat verteidigt wird.
Herr Senator, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz? —
Herr Senator Ruhnau, ich würde Ihnen ja gerne beipflichten, aber meinen Sie nicht, daß Professor Steinbuch in seinem Brief an Bundeskanzler Brandt hierzu doch eine Frage gestellt hat, die man nicht mit dem Satz, den Sie eben ausgesprochen haben, abtun kann? Er hat die Frage gestellt: Wer bemannt die Bollwerke unserer parlamentarischen Demokratie? Und da genügt es doch wahrscheinlich auch nach Ihrer Auffassung nicht, wenn die Mehrheit des Volkes so empfindet, die wenigen, die zum Handeln berufen sind, aber nicht genügend handeln.
Ruhnau, Senator der Freien und Hansestadt Hamburg: Ich wiederhole, was ich zu diesem Punkt gesagt habe. Wir müssen uns gegen gezielte Unterwanderungsversuche angemessen zu Wehr setzen, aber wir dürfen den Blick nicht davor verschließen, daß dies nur möglich ist, wenn wir uns der Unterstützung der Mehrheit des Volkes gewiß sind.
Am Ende von Weimar war nämlich die Verteidigung der Demokratie deshalb nicht mehr möglich, weil das Volk nicht mehr hinter der Demokratie stand. Dies ist die erste Sache. Und wir dürfen über das Geschrei über jene nicht vergessen, daß dies der Hauptgegenstand unserer politischen Diskussion ist.
Ich will an diesen Punkt noch etwas hinzufügen und möchte ein persönliches Wort sagen. Diejenigen, mit denen wir es zu tun haben, haben ja auch die Arbeitnehmerschaft und die Arbeiterklasse abgeschrieben. Das können Sie alles nachlesen. Die Arbeiterklasse ist für diese Leute kein politischer Faktor mehr. Das nämlich, womit wir es zu tun haben, ist, wenn es überhaupt mit Politik zu tun hat, das zynische Konzept einer selbsternannten Elite, die selbst darüber befindet, was das Glück der großen Zahl zu sein hat. Aber dies, sehr verehrter Herr Lenz, war nie das Konzept der Arbeiterklasse. Und hier steht ja jemand, der davon etwas versteht, der weiß, wovon er spricht. Ich bin 25 Jahre meines Lebens gewerkschaftlich organisiert. Ich bin fristlos entlassen worden, ich habe gestreikt, habe Streiks geführt. Aber dies weiß ich: Die Arbeiterklasse war für dieses politische Konzept nie, denn die Arbeiterklasse war nie für Abenteurer, sie war nie für Gewalt, sie war nie für Terrorismus.
Die Arbeiterklasse in diesem Land hat immer gewußt, daß Recht nicht aus Gewalt kommen kann.
Aus Gewalt kommt immer neues Unrecht. Und hoffentlich sind sich alle, die hier Beifall klatschen, auch darüber klar, daß wir alle das unsere zu tun haben, wenn es um die Sicherung der Mehrheit geht, die hinter dem demokratischen Staat stehen soll, daß wir das unsere zu tun haben,
die Position der Arbeitnehmer in dieser Gesellschaft, ihre Chancen in dieser Gesellschaft zu sichern, zu fördern und zu unterstützen. Dies ist das beste, was wir für die Verteidigung des demokratischen Staates tun können.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, diese Passage war eine Antwort auf meinen sehr verehrten Freund Lenz. Sie hat — das will ich noch einmal sagen — nichts mit den Innenministern der Länder zu tun. Da bin ich nicht sicher, ob die Sätze über die Arbeiterklasse von jedem unterstützt würden.
Ich komme zum Schluß. Ich wollte in dieser Debatte für die Innenminister der Länder versichern, daß sich Bund und Länder einig sind, daß sie entschlossen sind, alle Mittel, die der Rechtsstaat zur Verfügung hat, einzusetzen, um den Terroristen das Handwerk zu legen. Und ich bin sicher, wir werden auch mit dieser Herausforderung fertig.
Zweitens liegt mir daran, auch noch einmal deutlich zu machen, daß die Bürger unseres Landes, dieses Parlament und die Regierung sich auf die Polizei und die Sicherheitsbehörden verlassen können. Und ich wollte Ihnen dafür danken, daß der Bundestag stets deutlich gemacht hat, daß sich Polizeibeamte und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes auch auf die Bürger und politischen Entscheidungsorgane verlassen können.
Ich danke Ihnen, Herr Senator - ich nehme an, auch im Namen des Hauses — für Ihre Ausführungen.
Ich unterbreche die Sitzung bis 14.00 Uhr. Wir fahren mit der Fragestunde fort.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.Wir kommen zurFragestunde— Drucksache VI/3468 —
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11001
Vizepräsident Dr. JaegerZuerst die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Der Staatssekretär Logemann steht zur Verfügung.Frage 1 des Abgeordneten Röhner:Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß in den Vorbemerkungen zum Agrarhaushalt 1972 insofern eine sehr einseitige Darstellung der strukturpolitischen Zielsetzung erfolgte, als in der Förderung des vollständigen und teilweisen Übergangs von Landwirten in einen außerlandwirtschaftlichen Beruf der wesentliche Ansatzpunkt für strukturpolitische Maßnahmen gesehen wird?Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Röhner, die Vorbemerkungen zu den einzelnen Kapiteln des Bundeshaushaltsplanes enthalten grundsätzlich nur haushaltstechnische Hinweise. Sie sind weder dazu geeignet noch dazu bestimmt, die politischen Ziele der Bundesregierung lückenlos darzulegen.
Im vorliegenden Fall wird lediglich der haushaltstechnische Hinweis gegeben, daß Teilaspekte der Agrarpolitik der Bundesregierung, nämlich die Schaffung gewerblicher Arbeitsplätze in ländlichen Orten, außerhalb des Einzelplans 10 durch den Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen, Bereich Wirtschaft, gefördert werden.
Die hier in Rede stehende Formulierung ist im übrigen fast wörtlich aus dem Bundeshaushaltsplan 1969 übernommen. Hier hat die damalige Bundesregierung auf der Grundlage ihres Agrarprogrammes erstmals darauf hingewiesen, daß auch die außerhalb des Einzelplans 10 zu finanzierenden Maßnahmen in enger Koordinierung mit den dafür zuständigen Stellen in Bund und Ländern durchgeführt werden müssen.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Röhner.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß auf Grund dieser Formulierung auch unter Berücksichtigung dessen, was Sie über die grundsätzliche Bedeutung dieser Vorbemerkungen soeben ausgeführt haben, für eine größere Öffentlichkeit der Eindruck dieser offensichtlich nicht in Ihrem Sinne liegenden Auslegung entstehen kann?
Herr Kollege, ich teile Ihre Auffassung nicht. Ich habe den Haushaltsplan noch einmal nachgelesen. Hier heißt es: „Nach der Agrarpolitik der Bundesregierung ist ein wesentlicher Ansatzpunkt ..." ; also e i n wesentlicher Ansatzpunkt.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Röhner.
Herr Staatssekretär, sind Sie dann mit mir der Ansicht, daß diese Auslegung der Vorbemerkungen, die in meinen Fragen zum Ausdruck kommt, durch die Haushaltsansätze im Einzelplan 10 verstärkt wird, wobei ich an die Verhältnismäßigkeit und an die Verteilung der Mittel für strukturpolitische und für andere Aufgaben denke?
Herr Kollege Röhner, auch dazu wäre sehr viel zu sagen. Aber es handelt sich hier wirklich um eine technische Aussage zu einer technischen Abwicklung des Haushalts, während die finanziellen Ansätze politisch bestimmt sind.
Eine weitere Zusatzfrage steht Ihnen nicht zu. Hat sonst jemand eine Zusatzfrage? — Nein.
Dann kommen wir zur Frage 2 des Abgeordneten Röhner:
Hält die Bundesregierung die Entwicklung zu leistungsfähigen Betrieben auch für einen wesentlichen Ansatzpunkt für die strukturpolitische Zielsetzung, und ist sie bereit, den Text der Vorbemerkungen für den nächsten Agrarhaushalt entsprechend zu ergänzen?
Die Entwicklung zu leistungsfähigen Betrieben ist ein erklärtes agrarpolitisches Ziel der Strukturpolitik dieser Bundesregierung. Sie hat deshalb das einzelbetriebliche Förderungsprogramm geschaffen, das inzwischen auch von der EWG als Vorbild für die gemeinsame europäische Strukturpolitik übernommen worden ist. Die Maßnahmen des einzelbetrieblichen Förderungsprogramms haben selbstverständlich allererste Priorität innerhalb des Agrarhaushalts. Diese Tatsache würde auch durch eine Erwähnung in den Vorbemerkungen des Bundeshaushaltsplans nicht noch mehr erhärtet werden, abgesehen davon, daß die Vorbemerkungen nicht der geeignete Ort für eine solche Aussage sind.
Herr Staatssekretär, sehen Sie dann keine Notwendigkeit, bei der Konzipierung und bei der Neuformulierung der Vorbemerkungen z. B. des Haushalts 1973 hier eine Verdeutlichung und eine klarere Artikulierung der agrarstrukturpolitischen Zielsetzungen der Regierung vorzunehmen?
Herr Kollege Röhner, dafür sehe ich eigentlich keinen besonderen Anlaß. Aber selbstverständlich können wir bei den Beratungen im Hause noch einmal genau prüfen, ob man bezüglich des technischen Teils doch eine andere Betonung wählen sollte.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, und komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ich rufe die Frage 3 des Herrn Abgeordneten Werner auf:Ist die Bundesregierung nach wie vor daran interessiert, die frühere Planung zur Schaffung einer Art Beraterkorps der deutschen Wirtschaft, das unter Mithilfe bewährter älterer Wirt-
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11002 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Vizepräsident Dr. Jaegerschaftsfachleute als Hilfsinstrument im Rahmen der Entwicklungshilfe eingesetzt werden soll, weiterhin zu unterstützen?Herr Staatssekretär Dr. Sohn!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Frage des Herrn Abgeordneten Werner ist wie folgt zu beantworten:
1. Die Bundesregierung ist nach wie vor an Planungen zur Schaffung eines Beraterkorps der deutschen Wirtschaft interessiert, falls sich die finanziellen Auswirkungen eines solchen Programms für den Bund in vertretbaren Grenzen halten.
2. Der Vorschlag, die Errichtung eines Beraterkorps für Managementfragen zu unterstützen, ist von namhaften Persönlichkeiten der Wirtschaft über die Carl-Duisberg-Gesellschaft wie auch in persönlichen Gesprächen an das Ministerium herangetragen worden.
3. Angesichts der in diesen Vorschlägen zum Ausdruck kommenden Privatinitiativen erklärte sich mein Haus grundsätzlich bereit, im Rahmen seiner Möglichkeiten ein Testprogramm zu finanzieren. Als Voraussetzung hierfür muß allerdings ein praktikabler Weg für die Befriedigung des Bedarfs der Entwicklungsländer im Rahmen des Leistungsvermögens deutscher Interessenten gefunden werden. Die Hauptschwierigkeit liegt in der zeitgerechten, fachlich übereinstimmenden und personell befriedigenden Zusammenführung des deutschen Angebots mit der Nachfrage aus den Entwicklungsländern.
4. Eine vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit an die Initiatoren dieses Programms geäußerte Bitte um einen operationalen Vorschlag zur Lösung dieser Schwierigkeiten wird von jenen seit geraumer Zeit geprüft.
5. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist ferner bestrebt, bereits praktizierte Managementberatungsmaßnahmen auf andere Weise — etwa über die Deutsche Entwicklungsgesellschaft — auszubauen und dabei das Beraterkorps einzubeziehen.
Keine Zusatzfragen. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Ich rufe die Frage 22 des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt auf:
Stimmt die Bundesregierung mit mir darin überein, daß die Strafvollstreckung an Deutschen in der Türkei — unbeschadet der Schwere der zugrunde liegenden Straftat — ernste menschliche Probleme aufwirft, die eine Regelung, wie sie von dem Kollegen Dichgans in seiner entsprechenden Frage angeregt wurde, in hohem Maße dringlich erscheinen lassen?
Herr Staatssekretär Erkel!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung ist mit Ihnen, Herr Abgeordneter, der Auffassung, daß die Strafvollstreckung an Deutschen in der Türkei in Einzelfällen ganz ernste menschliche Probleme aufwerfen kann. Eine Regelung der Übernahme der Vollstrekkung türkischer Strafurteile gegen deutsche Staatsangehörige durch deutsche Justizbehörden ist daher auch nach Meinung der Bundesregierung in hohem Maße wünschenswert.
Herr Abgeordneter, das Problem besteht jedoch nicht nur in dem von Ihnen angesprochenen Rahmen. Die Bundesregierung betrachtet die Vollstreckung von Freiheitsstrafen an deutschen Staatsangehörigen im Ausland schlechthin als einen wenig befriedigenden Zustand. Da die deutschen Gefangenen in der Regel die Sprache des Bewachungspersonals und der Mithäftlinge nicht verstehen, bestehen kaum Möglichkeiten zu einer erzieherischen Beeinflussung, wie sie für eine Resozialisierung von Straftätern unbedingt erforderlich ist.
Hinzu kommt infolge der großen räumlichen Entfernung der nahezu völlige Abbruch der unmittelbaren persönlichen Kontakte zu Angehörigen der eigenen Rechtsgemeinschaft, was die spätere Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft seines Heimatlandes in ganz erheblicher Weise erschweren kann. Ferner darf nicht außer acht gelassen werden, daß klimatische, hygienische und andere Umstände dazu beitragen können, die Haftbedingungen für einen Deutschen außerordentlich ungünstig zu beeinflussen.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß diese Fragen am ehesten multilateral gelöst werden können und sollten. Sie hat deshalb das Europäische Übereinkommen über die internationale Anerkennung von Strafurteilen vom 28. Mai 1970 unterzeichnet, und sie hält es für zweckmäßig, eine einheitliche Lösung des Problems im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten des Europarates anzustreben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Siegerschmidt.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, wieviel deutsche Staatsangehörige gegenwärtig in türkischen Gefängnissen Strafen verbüßen, wielange diese Freiheitsstrafen etwa dauern und welche Straftaten — etwa nach Gruppen geordnet — zugrunde liegen? Falls Sie mir das nicht aus dem Stand sagen können, frage ich Sie: Wären Sie so freundlich, mir die Zahlen schriftlich mitzuteilen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann das aus dem Stand nicht sagen, Herr Abgeordneter. Ich bin gern bereit, es Ihnen mitzuteilen.
Eine zweite Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, Sie erwähnten das europäische Übereinkommen. Ich freue mich, zu hören, daß die Bundesregierung es unterzeichnet hat und für das Inkrafttreten dieses Übereinkommens eintritt. Ein Land hat ja inzwischen schon ratifiziert. Ich frage — unabhängig jetzt von der Beantwortung meiner zweiten Frage, wo Sie ja
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Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11003
Sieglerschmidtnoch näher darauf eingehen können —: sehen Sie nicht auch Dänemark, das ja schon ratifiziert hat, als ein Beispiel an, dem man möglichst schnell folgen sollte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich stimme voll Ihrer Auffassung zu, daß wir so bald wie irgend möglich auch die Ratifikation anstreben sollten.
Wir kommen dann zur Frage 23 des Abgeordneten Sieglerschmidt:
Ist die Bundesregierung unter diesen Umständen bereit, alles zu tun, damit die in ihrer Antwort vom 26. April 1972 angekündigte Vorlage des Entwurfs eines Gesetzes über die internationale Rechtshilfe mindestens so rechtzeitig erfolgt, daß das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bereits in der schriftlichen Antwort der Bundesregierung vom 26. April dieses Jahres auf die schriftliche Frage von Herrn Abgeordneten Dichgans ist ausgeführt worden, daß mit der Vorlage des Entwurfs eines Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen im Jahre 1973 gerechnet werden könne. Dieses Gesetz soll das deutsche Auslieferungsgesetz aus dem Jahre 1929 ablösen. Ich kann diese Mitteilung dahin präzisieren, daß nach dem gegenwärtigen Zeitplan eine Abschlußbesprechung mit den beteiligten Bundesministerien und den Landesjustizverwaltungen für den Herbst dieses Jahres vorgesehen ist. Eine Kabinettsvorlage könnte im Frühjahr des nächsten Jahres fertiggestellt werden.
Ich darf dazu folgendes bemerken. Dieser Entwurf wird auf der Grundlage eines Entwurfs erstellt, den eine Kommission aus Vertretern mehrerer Landesjustizverwaltungen, der Wissenschaft und Angehörigen der Bundesregierung erarbeitet hat. Eine Schwierigkeit in diesem Rahmen ist z. B., daß es für das Exequaturverfahren, das in diesem Gesetz vorgesehen werden soll, außer einer ganz undifferenzierten Vorschrift in der Rheinschiffahrtsakte von 1868 kein gesetzgeberisches Vorbild gibt. Die Umwandlung ausländischer Strafen und Maßregeln in entsprechende deutsche Sanktionsformen bereitet nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Ein ähnlich kompliziertes Problem entsteht bei der Frage, wie und in welcher Weise ausländische Strafen reduziert werden können, die den Höchststrafrahmen vergleichbarer deutscher Strafnormen überschreiten. Diese und andere Schwierigkeiten haben eine umfassende Beteiligung vieler Stellen erforderlich gemacht. Eine Auswertung dieser Stellungnahmen bedarf eines gewissen Zeitraumes.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich verkenne nicht die Schwierigkeiten, die Sie soeben dargelegt haben. Ich beziehe mich aber auf das, was Sie selbst gesagt haben hinsichtlich der zum Teil außerordentlich ungünstigen Haftbedingungen für deutsche Staatsangehörige in anderen Ländern, insbesondere in der Türkei, wo es sich zu einem erheblichen Teil um Rauschmitteltäter handelt, die im Grunde genommen mindestens einer zusätzlichen Behandlung bedürften und nicht in einem solchen Gefängnis sitzen sollten. Meine Frage geht daher dahin: Wenn wirklich keine Möglichkeiten einer zeitlichen Beschleunigung zur Vorlage dieses Gesetzes bestehen, um die Bedingungen der Gegenseitigkeit für den Austausch von Strafgefangenen zwischen diesen beiden Ländern herzustellen — oder auch zwischen anderen Ländern —, welche Möglichkeit sehen Sie sonst, um in den auch von Ihnen zu Recht als humanitär äußerst unerfreulich geschilderten Fällen helfen zu können?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, Sie sprechen damit eine Frage an, die hier zu diskutieren außerordentlich schwierig ist. Ich bin gern bereit, im Ausschuß mehr mit Ihnen darüber zu sprechen, wenn sich irgendeine Gelegenheit bietet. Ich meine, wir sollten eine Erörterung hier im Hohen Hause vermeiden.
Keine Zusatzfrage mehr.
Die Fragen 24 und 25 sind zurückgezogen.
Der Fragesteller der Frage 26, Abgeordneter Dr. Lenz , bittet um schriftliche Beantwortung. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 27 des Abgeordneten Dr. Wagner . Herr Staatssekretär, ich darf bitten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich würde wegen des Zusammenhangs die Fragen 27 und 28 gern zusammen beantworten.
Bitte sehr! Dann rufe ich beide Fragen des Abgeordneten Dr. Wagner gemeinsam auf:
Treffen Pressemeldungen zu , nach denen durch Gerichtsbeschluß ohne vorherige Fühlungnahme mit der Kriminalpolizei eine Reihe von Personen, die der Beteiligung an terroristischen Akten verdächtigt sind, auf freien Fuß gesetzt wurden und daß dabei insbesondere eine Person aus der Haft entlassen wurde, die inzwischen untergetaucht ist und nunmehr im Verdacht steht, an der Produktion von Bomben beteiligt zu sein?
Was hat die Bundesregierung unternommen, um die Wiederholung derartiger Fehlleistungen zu verhindern?
Herr Staatssekretär, bitte!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die zitierte Pressemeldung in der FAZ vom 31. Mai 1972 bezieht sich auf Ermittlungen gegen Mitglieder des sogenannten Sozialistischen Patientenkollektivs in Heidelberg. Dieses Ermittlungverfahren wird von dem Oberstaatsanwalt in Karlsruhe, nicht aber von einer Strafverfolgungsbehörde des Bundes geführt. Dementsprechend ist für dieses Verfahren nach dem Gerichtsverfassungsgesetz die Justizhoheit des Landes Baden-Württemberg gegeben. Ich bitte daher um Verständnis dafür, daß ich mich zur ersten Frage des Herrn Abgeordneten
Staatssekretär Dr. Erkel
Dr. Wagner auf eine von der Bundesregierung eingeholte fernschriftliche Stellungnahme der baden-württembergischen Landesjustizverwaltung beziehe, da sich die Bundesregierung zu den Fragen, die die Justizhoheit des Landes unmittelbar berühren, einer eigenen Stellungnahme enthalten sollte.
Das baden-württembergische Justizministerium hat unter dem 5. Juni folgendes mitgeteilt:
In dem Ermittlungsverfahren gegen die Mitglieder des sogenannten „Sozialistischen Patientenkollektivs" hat die Staatsanwaltschaft Karlsruhe am 27. März 1972 bei der Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe gegen zehn Beschuldigte wegen Gründung oder Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB, versuchter Brandstiftung, Herstellung von Sprengstoffen zur Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens, versuchten Sprengstoffverbrechens, Urkundenfälschung und Begünstigung Anklage erhoben. Gegen eine weitere Beschuldigte, die sich noch in Untersuchungshaft befindet, wird das Ermittlungsverfahren getrennt geführt. Termin zur Hauptverhandlung ist noch nicht anberaumt. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe ist jedoch bemüht, eine möglichst baldige Verhandlung zu erreichen.
Von den zehn Angeschuldigten befinden sich noch zwei in Untersuchungshaft. Die Haftbefehle gegen die übrigen Angeschuldigten wurden vom Landgericht Karlsruhe, zum Teil vom Oberlandesgericht Stuttgart unter Meldeauflagen und zum Teil gegen Kaution außer Vollzug gesetzt. Der Haftbefehl gegen den in der Pressemeldung erwähnten Schüler Siegfried Hausner, geboren am 24. Januar 1952, wurde durch Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 4. Februar dieses Jahres unter der Auflage außer Vollzug gesetzt, daß der Beschuldigte bei seinen Eltern Wohnung nimmt und sich wöchentlich einmal persönlich bei der Polizei meldet. Inzwischen mußte der Haftbefehl gegen Hausner jedoch wieder in Vollzug gesetzt werden, weil er der Meldeauflage nicht nachgekommen und untergetaucht ist.
Von einem konkreten Verdacht gegen einen aus der Untersuchungshaft entlassenen Angeschuldigten, an der Produktion von Bomben beteiligt zu sein, ist der Staatsanwaltschaft Karlsruhe nichts bekannt.
Zur zweiten Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Wagner darf ich nochmals darauf aufmerksam machen, daß das Verfahren in die Justizhoheit des Landes Baden-Württemberg fällt. Es ist daher der Bundesregierung verwehrt, durch direkte Maßnahmen Einfluß auf dieses Verfahren zu nehmen. Ich kann in diesem Zusammenhang jedoch nachdrücklich versichern, daß der Generalbundesanwalt als Strafverfolgungsbehörde des Bundes mit dem Oberstaatsanwalt in Karlsruhe wie mit allen in Betracht kommenden Strafverfolgungsbehörden der Länder organisatorische Vereinbarungen getroffen hat, die gewährleisten, daß ein sachgerechter und schneller Austausch aller Ermittlungsergebnisse innerhalb dieser Ermittlungsverfahren erfolgt. Es ist auch sichergestellt, daß der Generalbundesanwalt diese Verfahren sogleich an sich ziehen kann, falls Zusammenhänge mit den von ihm geführten Verfahren innerhalb des Baader-Meinhof-Komplexes vorliegen
und seine Zuständigkeit gegeben ist. — Ich habe die Erörterung heute morgen auch gehört.
Im Hinblick auf die Kritik, die an der vom OLG Stuttgart verfügten Haftverschonung eines in diesem Verfahren Beschuldigten geübt wird, darf ich — lediglich zur allgemeinen Rechtslage — bemerken, daß diese Haftverschonung nach Anhörung der zuständigen Staatsanwaltschaft von einem unabhängigen Gericht eines Landes entsprechend den geltenden Haftbestimmungen der Strafprozeßordnung im Februar beschlossen wurde. Ich habe keinen Anhaltspunkt dafür, daß insoweit ernsthaft von einer „Fehlleistung" gesprochen werden könnte.
Im übrigen kann ich in diesem Zusammenhang in Ergänzung der baden-württembergischen Stellungnahme mitteilen, daß auch dem Generalbundesanwalt bis zum Augenblick keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß Beschuldigte aus dem vom Oberstaatsanwalt in Karlsruhe betriebenen Verfahren sich an der Herstellung von Bomben beteiligt hätten, die bei den in jüngster Zeit begangenen Sprengstoffattentaten verwendet wurden.
Zunächst hat Herr Abgeordneter Dr. Wagner zu seinen zwei Fragen insgesamt vier Zusatzfragen. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Dr. Wagner.
Dr. Wagner (CDU/CSU: Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Auffassung — ohne auf die Frage eines Verschuldens irgendeiner Stelle einzugehen —, daß objektiv doch die Bezeichnung „Fehlleistung" insofern angebracht ist, als hier ein Verdächtiger gegen Meldepflicht auf freien Fuß gesetzt wurde und der Haftbefehl gegen ihn erneut in Kraft gesetzt werden mußte, als er sich der Meldepflicht dadurch entzog, daß er untertauchte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe dazu gesagt, daß ich keine Anhaltspunkte dafür habe, Ihre Bezeichnung „Fehlleistung" zu übernehmen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind die organisatorischen Maßnahmen, die ergriffen wurden, um ein geeignetes Zusammenwirken sowohl der Staatsanwaltschaften als auch der Polizeibehörden und der Gerichte der Bundesländer herbeizuführen, in den letzten Tagen — etwa nach dem von mir angezogenen Vorfall — getroffen worden, oder sind sie bereits vor dem
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11005
Dr. Wagner
Zeitpunkt, auf den ich angespielt habe, ergriffen worden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, wir haben uns hier alle einer ganz neuen Form der Kriminalität gegenübergesehen. Es hat in den Anfangszeiten dieser Überlegungen gewisse Kommunikations- und Anlaufschwierigkeiten gegeben; das liegt lange zurück. Die Abstimmung mit den Staatsanwaltschaften, mit dem Generalbundesanwalt und auch mit dem Bundeskriminalamt ist weit vor Ihrer Anfrage erfolgt.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ott zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da Sie vorhin aus einem amtlichen Dokument vorgelesen haben, darf ich Sie bitten, noch einmal nachzusehen, ob Sie hier von einer „Baader-Meinhof-Gruppe", wie ich gehört zu haben glaube, oder von einer „Baader-Meinhof-Bande" zu sprechen haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weder von dem einen noch von dem anderen. Ich sprach in diesem Zusammenhang vom „Baader-Meinhof-Komplex".
Würden Sie bitte nachsehen, was drinsteht? Sind Sie sicher?
Eine weitere Zusatzfrage steht Ihnen nicht zu, Herr Kollege Ott. — Herr Abgeordneter Erhard.
Herr Staatssekretär, können Sie sich den Unterschied erklären, der - wie gerade dieser Fall deutlich macht — bei der Anwendung der Haftvorschriften festzustellen ist, daß nämlich im Gegensatz zu denen, die in der Vergangenheit Täter geworden sind und über viele Jahre hinweg in Untersuchungshaft gehalten werden, Täter mit einem Linksdrall politischer Art aber sehr großzügig wieder in Freiheit gesetzt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, das Hohe Haus hat das Untersuchungshaftrecht geändert, weil Menschen zu lange in Untersuchungshaft gehalten worden sind. Wir sind heute völlig darüber im Einvernehmen — ich glaube, das ist auch heute morgen schon angeklungen —, daß die Auslegung des Haftrechts durch die Gerichte nicht den Erwartungen und Intentionen des Gesetzgebers entsprach. Deswegen sind wir dabei, in bestimmten Punkten dieses Haftrecht zu ändern.
Danach hatte ich nicht gefragt, Herr Staatssekretär. Würden Sie so freundlich sein — —
Herr Abgeordneter Erhard, Sie haben nur eine Frage. Der Herr Staatssekretär könnte die Antwort sogar verweigern, wenn er sie mißverstanden hat. Selbst wenn er sie absichtlich mißverstanden hat, was ich nicht annehme, ist das sein Recht. — Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Sieglerschmidt.
Herr Staatssekretär, halten Sie es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen für vereinbar, bzw. nach diesen Grundsätzen für angebracht, nachdem wir hier nicht die Fragen einer Änderung des Haftrechts, die sich möglicherweise aus diesen Fragen ergeben müßte, behandeln, sondern die Entscheidungen unabhängiger Richter in Haftsachen, in dieser Weise hier über diese Dinge zu sprechen, ohne daß meines Wissens die genaue Kenntnis dessen vorliegt, was zu der Entscheidung geführt hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es steht mir nicht zu, die Fragen des Herrn Abgeordneten Erhard zu kritisieren.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen.
Ich möchte Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt erstens sagen, daß seine Frage nicht so kurz ist, wie das bei Zusatzfragen sein sollte, und zweitens, daß er ein Mitglied der Regierung oder einen Beamten nicht in die Lage versetzen darf, ein Mitglied dieses Hauses zu kritisieren; selbst wenn nach seiner politischen Auffassung Anlaß zur Kritik vorläge.
Nun zu der Frage 29 des Herrn Abgeordneten Erhard:
Ist es mit dem Charakter und der Aufgabe des Bundesanzeigers vereinbar, wenn in Nr. 88 vom 10. Mai 1972 auf S. 4 ff. eine Rede des Bundesjustizministers vor dem Rechtspolitischen Kongreß der SPD über „Programm und Stand der sozialdemokratischen Rechtspolitik" abgedruckt wird, und teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß damit dieses amtliche Organ für parteipolitische Propaganda mißbraucht wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, voranschicken darf ich, daß die Bundesregierung es für ihr legitimes Recht hält, die Ziele ihrer Politik oder einzelner Vorhaben in den Publikationsorganen zu erläutern. Zu diesen Publikationsorganen gehört auch und gerade der Bundesanzeiger, dessen Zweck sich seit jeher zu keiner Zeit darin erschöpft hat, bloßes Verkündungsorgan zu sein.In der von Ihnen erwähnten Ausgabe Nr. 88 vom 10. Mai dieses Jahres ist auf Seite 4 unter „Sonstiges" der Grundsatzvortrag des Bundesministers der Justiz abgedruckt, den er auf dem Rechtspolitischen Kongreß der SPD in Braunschweig am 7. Mai gehalten hat. Dieses Schlußreferat ist von Herrn Bundesminister Jahn ebenso in seiner Eigenschaft als Bundesminister wie auch als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gehalten worden.Ich möchte Ihnen zugestehen, Herr Abgeordneter, daß es sich durchaus um einen Grenzfall handelt, bei dem es nicht ganz einfach ist zu bestimmen, ob eine Funktion und welche Funktion ein Übergewicht hat.
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Staatssekretär Dr. ErkelIch bitte um Verständnis, wenn ich mich unter den gegebenen Umständen Ihrer Auffassung, daß es sich um einen Mißbrauch eines Publikationsorgans und parteipolitische Propaganda handele, nicht anzuschließen vermag.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Erhard.
Herr Staatssekretär, halten Sie es wirklich für einen Grenzfall, wenn die Rede schon „Programm und Stand der Sozialdemokratischen Rechtspolitik" überschrieben ist, wenn der Minister ausdrücklich in seiner Rede ausführt, daß sich sowohl von jeder konservativen als auch von jeder liberalen, auch der modernsten liberalen Auffassung, die sozialdemokratische Rechtspolitik abhebe, und wenn er seitenlang aus den Programmen aus dem vorigen Jahrhundert bis hin zum Godesberger Programm die Sätze der SPD oder früherer Vorgänger der SPD jeweils zitiert, um zu zeigen, wie kontinuierlich sozialdemokratische Rechtspolitik sei oder sich gewandelt habe, und dann mit dem Godesberger Programm abschließt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es handelt sich aber gleichzeitig auch um eine Äußerung des amtierenden Bundesministers der Justiz, der nun einmal Sozialdemokrat ist.
Ich habe ja eingeräumt, daß man in der Betrachtung verschiedener Meinung sein kann.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Erhard.
Würden Sie es nicht als Propaganda bezeichnen, Herr Staatssekretär, wenn der Herr Minister beispielsweise die Rechtssituation in seiner Rede so darstellt, als gäbe es in Mietstreitigkeiten heute nur noch beim Landgericht den blauen Himmel, und wenn er außerdem ausführt ich will es wörtlich zitieren —, daß der Rechtsschutz des Bürgers in diesem Staat in Zivilsachen nur nach dem Streitwert bemessen wäre, obwohl der Minister weiß oder wissen muß, daß gerade da, wo es sich um Ansprüche des Bürgers gegen die öffentliche Hand handelt, dem Bürger unabhängig vom Streitwert alle drei Instanzen — vom Landgericht angefangen — zur Verfügung stehen?
— Das weiß der Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es ist natürlich schwer, hier verkürzte Zitate zu diskutieren. Da müßten wir die ganze Grundsatzrede des Bundesministers der Justiz zur Erörterung stellen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wittmann.
Herr Staatssekretär, da es nach Ihrer Erklärung doch sicherlich zumindest ein Grenzfall war, könnten Sie erklären, daß in Zukunft sichergestellt wird, daß derartige Grenzfälle nicht mehr geschehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Absicht geht eigentlich dahin.
Herr Abgeordneter Schmude zu einer Zwischenfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht für konsequent, bei grundsätzlichen politischen Erklärungen von Mitgliedern der Bundesregierung stets auch diese Funktion als Regierungsmitglied zu sehen und dann auch in dieser hier kritisierten Form zu veröffentlichen, nachdem selbst die Opposition wiederholt in diesem Bundestag solche Erklärungen inhaltlich zum Gegenstand von Fragestunden und Kritik gemacht hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich bin mit Ihnen der Meinung, daß die Eigenschaft des Herrn Minister Jahn als Regierungsmitglied in diesem Zusammenhang betont werden muß. Ich glaube, ich habe es herausgestellt. Das berührt aber nicht unbedingt die Frage, ob es an dieser Stelle oder an einer anderen veröffentlicht werden muß.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht auch der Ansicht, daß der Grenzfall nur dadurch entstanden ist, daß in der Überschrift das Wörtchen „sozialdemokratisch" auftaucht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist eine Bewertungsfrage.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ott.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen vorher selbst davon, daß es sich hier um einen Grenzfall handelt. Fürchten Sie nicht mit mir, daß hier die Einheit von SPD-Partei und -Staat allmählich auf dem Wege ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Abgeordneter, diese Besorgnis teile ich nicht.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11007
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wagner .
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Mitglieder der Bundesregierung bei vielen Gelegenheiten sehr wohl und sehr genau zwischen ihrer amtlichen Funktion als Mitglied der Bundesregierung und der Funktion, die sie in ihrer Partei haben, unterschieden haben und daß insbesondere der Herr Bundeskanzler mehrfach von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich ausdrücklich als Parteivorsitzender zu äußern? Meinen Sie nicht, daß es unter diesen Umständen angemessen wäre, einer derartigen Unterscheidung dann auch bei der Wahl des Publikationsorgans Rechnung zu tragen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, diese Differenzierung ist hier eben nicht ausdrücklich vorgenommen worden. Sonst wäre das Problem nicht entstanden.
Keine Zusatzfragen mehr. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Ich rufe zuerst die Frage 49 des Abgeordneten Würtz auf:
Sind dem Bundesministerium der Verteidigung Schwierigkeiten bekannt, die sich aus der Tatsache ergeben, daß Freiwillige, die in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen werden sollen, innerhalb von vier Tagen — vor Aushändigung der Urkunde — vom Truppenarzt auf Wehrdiensttauglichkeit untersucht werden müssen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident, Herr Kollege Würtz, ich würde die Fragen 49 und 50 gern gemeinsam beantworten.
Dann rufe ich noch die Frage 50 des Abgeordneten Würtz auf:
Was ist beabsichtigt, um den aus dieser Sachlage entstehenden Unzuträglichkeiten in der möglichen Sorgfalt der Einstellungsuntersuchungen von Bewerbern abzuhelfen und ungerechtfertigte Ablehnungen Freiwilliger zu vermeiden?
Bitte sehr!
Herr Kollege Würtz, ich stimme Ihnen grundsätzlich zu, daß die von Ihnen angesprochene Viertagefrist sehr knapp bemessen ist. Ich bin jedoch nicht der Auffassung, daß hierdurch die Einstellungsuntersuchung der Bewerber nicht mit der nötigen Sorgfalt durchgeführt wird und Freiwillige ungerechtfertigt abgelehnt werden. Es sind vielmehr auf organisatorischem Gebiet alle Voraussetzungen dafür geschaffen worden, daß die Bewerber gründlich untersucht werden.
Im übrigen handelt es sich bei der Einstellungsuntersuchung um die zweite Untersuchung des Bewerbers, denn er muß sich ja bereits der sogenannten Annahmeuntersuchung unterziehen. Zu Ihrer Information, Herr Kollege Würtz: Im Gegensatz zur Annahmeuntersuchung der Freiwilligen hat sich bei der Einstellungsuntersuchung bei der Truppe nur noch etwa 1 % als nicht tauglich erwiesen.
Abschließend weise ich Sie darauf hin, daß trotz des tatsächlichen Dienstantritts und seiner Eingliederung in die Bundeswehr der Bewerber rechtlich erst dann Soldat geworden ist, wenn ihm die Ernennungsurkunde ausgehändigt ist. Ein Bewerber sollte daher zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach seinem Dienstantritt in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Würtz.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß es bei der Praktizierung dieser Viertagefrist Probleme gibt? Welche unüberwindlichen Schwierigkeiten bestehen, diese festgelegte Viertagefrist auf sechs oder acht Tage zu verlängern, damit die erforderliche ärztliche Einstellungsuntersuchung mit aller Sorgfalt durchgeführt wird und unnötige Kosten, Arbeit und Zeitaufwand bei der Entlassung Untauglicher vermieden werden?
Herr Kollege Würtz, es bestehen keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Da Sie, bevor Sie das Mandat eines Abgeordneten dieses Hauses annahmen, den Status eines Berufssoldaten hatten, rede ich ja mit einem Sachverständigen. Ich muß Sie auf folgendes aufmerksam machen. Je länger die Frist ist, desto größer ist auch die Gefahr, daß der Bewerber um das Amt eines Zeitsoldaten einen Unfall erleidet. Er hat keinerlei sozialen und auch keinen rechtlichen Schutz. Den können wir ihm erst gewährleisten, wenn er voll in dieses Amt berufen ist. Unabhängig davon hat auch der Dienstherr ein Interesse daran, die Bewerber rechtzeitig zum Zeitsoldaten zu machen, weil sie sonst keine Befehle auszuführen brauchen. Wir haben alle Vorsorge getroffen, daß die Befürchtungen, die Sie hier äußern, auf ein Mindestmaß geschmälert werden. Wir führen keine Einberufungen mehr direkt vor einem Wochenende durch, wir haben zu den Untersuchungen Sanitätsoffiziere kommandiert, so daß die Untersuchungen zügig vorgenommen werden können, wir nehmen, wenn die Sanitätsoffiziere nicht zur Verfügung stehen, zivile Ärzte unter Vertrag, und wir halten während der Viertagefrist zur fachärztlichen Untersuchung die zuständigen Stellen in den Bundeswehrkrankenhäusern offen.
Ich glaube, es ist alle Vorsorge getroffen, daß Sie beruhigt sein können. Es wird nur ein Mindestmaß an Schwierigkeiten entstehen. Ich glaube, die Schwierigkeiten bei einer Verlängerung der Frist wären größer.
Ich komme damit zur Frage 51 des Abgeordneten Wohlrabe:Ist die Bundesregierung bereit, detailliert und nach Haushaltsjahren getrennt, die Gesamtkosten, die durch den sogenannten „Haarnetz-Erlaß" entstanden sind, bekanntzugeben?Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
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11008 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Herr Präsident, Herr Kollege Wohlrabe! Ich werde an dieses Gedicht von dem Zauberlehrling erinnert: Die Geister, die ich rief, die werd' ich nun nicht los. Sie können auch sagen: Die Haare, die ich wachsen ließ, bescherten mir das Haarnetz, und das Haarnetz verfolgt mich, obgleich die Haare jetzt abgeschnitten sind. Mir scheint, Herr Kollege Wohlrabe, dieses „haarige" Thema wird die Gemüter noch eine Zeitlang beschäftigen.
Lassen Sie mich grundsätzlich vorweg bemerken, daß wir mit den Haarnetzen sozusagen die größten Wogen der Langhaarwelle 1971 aufgefangen haben und damit auch manchen seelischen Schaden bei jungen Soldaten vermeiden konnten. Bemerkenswert ist schließlich auch, daß wir jetzt mit dem überall sichtbar werdenden Verebben der Langhaarwelle wieder „ohne Netz" arbeiten können. Ich rede hier nicht als Artist, sondern als Parlamentarischer Staatssekretär.
Nun zu den nüchternen Fakten, Herr Kollege. Im Jahre 1971 wurden insgesamt 449 673 Stück Haarnetze — als Verbrauchsmaterial — mit einem Kostenaufwand von 178 425,46 DM beschafft, im Jahre 1972 wurden insgesamt 289 504 Haarnetze mit einem Kostenaufwand von 174 049,18 DM beschafft.
— Tatsächlich, das ist mir noch gar nicht aufgefallen.
Ich kann Ihnen das aber erklären. Sie wissen, daß die erste Qualität der Haarnetze nicht zureichend war und daß die zweite Qualität nun eine Preissteigerung zur Folge hatte.
Ich darf mich auf diese Antwort beschränken.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wohlrabe.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Auffassung, daß die hier eben von Ihnen dargelegten Kosten dem deutschen Steuerzahler gegenüber vertretbar sind?
Ja, ich bin der Auffassung, daß wir die Kosten vertreten können; denn nachdem einmal die Entscheidung getroffen war, daß langhaarige Soldaten aus Gründen der Unfallverhütung, aber auch aus Gründen der Hygiene und der Rücksichtnahme auf die Kameraden, also aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn heraus ein Haarnetz zu tragen hatten, war auch dafür zu sorgen, daß diese Haarnetze in erforderlicher Zahl zur Verfügung gestellt werden. — Ich will mich auch hier darauf beschränken.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wohlrabe.
Herr Staatssekretär, wären Sie in der Lage, auch noch einiges zu den Nebenkosten zu sagen? Man hatte gelesen, daß Verlausung eingetreten sei etc. oder sonstiges. Vielleicht sind noch einige Nebenkosten entstanden. Könnte man dazu noch ein paar Zahlen hören?
Herr Kollege Wohlrabe, ich muß mich jetzt sehr zusammennehmen, denn ich kenne die Strenge des im Stuhl befindlichen Präsidenten. Dennoch will ich Ihnen sagen, es gibt auch Nebenkosten, die eingespart wurden. Wenn Sie daran denken, daß unsere jungen Wehrpflichtigen weniger zum Friseur gegangen sind als vorher,
da hat es auch gewisse Einsparungen gegeben. Ich weiß natürlich, daß das nicht zu Lasten des Haushalts ging, sondern daß die Lasten beim Haushalt anliefen für Krankmeldungen. Und jetzt darf ich ganz ernst werden. Was mich besonders nachdenklich gemacht hat, Herr Kollege Wohlrabe, war der erhöhte Krankheitsbefall durch naßgewordene Haare im Dienst, die dann zu erhöhten Erkältungserscheinungen führten. Ich muß also sagen, durch Erfahrung wird man klüger. Aber Sie wissen vielleicht aus Ihrem privaten Leben, daß manche Erfahrungen mit Kosten verbunden sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Haase!
Herr Staatssekretär, haben Sie vielleicht einen groben Überblick, wieviel Haarnetze sich noch in den Depots oder bei der Truppe befinden, und was beabsichtigen die deutschen Streitkräfte mit dem jetzt nicht mehr notwendigen Verbrauchsgut anzufangen?
Herr Kollege Haase, ich habe leider keinen Überblick, aber ich bin gern bereit, das feststellen zu lassen, obgleich ich der Auffassung bin, der Verwaltungsaufwand lohnt nicht das Ergebnis. Sie wissen, was eine Verwaltungsstunde kostet. Wenn Sie darauf beharren, erhalten Sie exakt die Antwort, wieviel Haarnetze noch zur Verfügung stehen.Was wir damit machen werden? Es wird Reservisten geben, die nur so kurzfristig dienen, daß wir uns nicht den Zorn einer Beat-Kapelle zuziehen wollen, wenn wir ihrem Drummer — oder was der da sonst darstellt —, die Haare abschneiden. Der wird also auch bei seiner Reserveübung ein Haarnetz tragen.Darüber hinaus ist ein erfinderischer Kompaniechef auf die Idee gekommen, die Haarnetze zur
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11009
Parlamentarischer Staatssekretär BerkhanTarnung der Stahlhelme zu verwenden, um dort Tarnmaterial einzuflechten.
Ich bin sehr glücklich, Herr Kollege Haase, Ihnen sagen zu können, daß diese Netze einer geordneten Verwendung zugeführt werden. Ich verspreche Ihnen, der Hamburger Abgeordnete Berkhan wird nicht zulassen, daß die Hochseefischerei sich dieser Netze bemächtigt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, um die brennende Sorge des Kollegen Wohlrabe zu beheben, dem Kollegen Wohlrabe einen Posten ausgedienter, aber noch brauchbarer Haarnetze zur Verfügung zu stellen, damit er sie preisgünstig an die ihm anhängenden Studenten in Berlin veräußern kann?
Mir steht es nicht zu, auf diese Frage eine Antwort zu geben.
Die Frage Nr. 52 ist vom Fragesteller zurückgezogen.
Ich komme zur Frage 53 des Abgeordneten Damm:
Ist es verfassungsrechtlich und rechtlich zulässig, daß Beisitzern in Prüfungsausschüssen und Prüfungskammern für Wehrdienstverweigerer von politischen Organisationen zur Pflicht gemacht wird, „den Antragstellern zur Anerkennung zu verhelfen"?
Herr Präsident, Herr Kollege Damm, wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern Ihre Frage im Zusammenhang mit der Frage 55 des Kollegen Dr. Zimmermann beantworten; die Fragen sind fast inhaltsgleich.
Dann rufe ich zusätzlich die Frage 54 des Abgeordneten Damm und die Frage 55 des Abgeordneten Dr. Zimmermann auf:
Wenn ja, will sich die Bundesregierung mit dieser Rechtslage abfinden; wenn nein, was tut die Bundesregierung oder was wird sie tun, um solchen Weisungen an die Beisitzer wirksam zu begegnen?
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der Beschluß einer Parteiuntergliederung, die dieser Partei angehörenden Mitglieder in den Prüfungsausschüssen und -kammern für Wehrdienstverweigerer sollten allen Antragstellern zur Anerkennung als Wehrdienstverweigerer verhelfen, gegen Gesetz und Verfassung verstößt?
Danke schön! Herr Kollege Damm, Herr Kollege Zimmermann, Sie haben Ihre Frage auf die verfassungsrechtliche und rechtliche Zulässigkeit ausgerichtet und stützen sich dabei auf Pressemeldungen, die über den Vorgang berichten.
Um Ihre Fragen zu beantworten, habe ich mir die versandten Originalunterlagen vorlegen lassen. Daraus ergibt sich, daß jemand die Beisitzer der Prüfungsausschüsse darauf hingewiesen hat, daß es demokratische Pflicht sei, den Antragstellern auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer bei der Geltendmachung ihres Grundrechtes zu helfen — ich zitiere jetzt wörtlich —, „wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen". In dieser Aufforderung liegt kein Verstoß gegen die Verfassung oder gegen geltende Gesetze. Die Bundesregierung sieht deshalb auch keine Notwendigkeit, derartige Aufforderungen zu unterbinden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Damm!
Herr Staatssekretär, da Sie sich selber auch über die Presseveröffentlichungen, wie ich Ihrer Antwort entnehme, unterrichtet haben, muß ich davon ausgehen, daß die Veröffentlichung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" nicht korrekt war.
Es ist für mich sehr schwer, jetzt hier eine bündige Antwort zu geben. Ich möchte mich darauf beschränken zu sagen: Sie war unvollständig. Daher habe ich ein Zitat wörtlich gebracht.
Würden Sie die Freundlichkeit besitzen — als zweite Frage, Herr Präsident —, das Originaldokument, von dem Sie gesprochen haben, mir zuzustellen, so daß ich mich auch persönlich vergewissern kann, daß nun Ihre Antwort nicht unvollständig gewesen ist?
Herr Kollege Damm, es steht mir nicht zu, Unterlagen einer Partei — Dokumente sind das ja wohl nicht — einer anderen Partei zur Verfügung zu stellen. Aber ich glaube, daß Sie einen Kollegen im Hause finden werden, der gerne bereit ist, Ihnen dieses Material zur Verfügung zu stellen. Nur ich als Parlamentarischer Staatssekretär kann das nicht. Wenn Sie mich hinterher hier im Gang als Kollege fragen, bin ich gerne bereit, Ihnen das zur Verfügung zu stellen.
Es steht Ihnen keine weitere Zwischenfrage zu; nur Herrn Zimmermann!
— Sie haben Ihre zweite Zusatzfrage doch schon gestellt.
— Herr Staatssekretär, haben Sie auch die zweite Frage des Herrn Abgeordneten Damm schon beantwortet?
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11010 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Vizepräsident Dr. Jaeger— Ja, dann stehen Ihnen noch zwei Fragen zu. Bitte sehr!
Ich möchte nur noch eine Frage stellen, Herr Präsident. — Herr Staatssekretär, ist denn die Meldung in der FAZ insofern richtig gewesen, als sie davon sprach, daß es der SPD-Abgeordnete Sperling sei, der diese Weisungen an die sozialdemokratischen Beisitzer in den Prüfungsausschüssen und -kammern gerichtet habe?
Diese Frage könnten wir am besten durch Zuruf des Abgeordneten Dr. Sperling klären. Aber ich beantworte sie nach den mir vorliegenden Informationen mit Ja.
Sie haben keine weitere Zusatzfrage mehr. Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Zimmermann.
Herr Staatssekretär, liegt Ihnen der Wortlaut des Beschlusses vor und haben Sie vorhin diesen einen Satz aus dem Wortlaut des Beschlusses des Friedenspolitischen Ausschusses beim Bezirksvorstand Hessen-Süd zitiert?
Ich habe das nicht aus einem Beschluß, sondern aus einem Papier zitiert, welches sich „Hinweise" nennt. Ich unterstelle allerdings, daß es sich dabei um ein Arbeitspapier handelt, welches durch eine Gruppe erstellt worden ist. Unter einem Beschluß, Herr Kollege Dr. Zimmermann, stelle ich mir formell etwas anderes vor.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Zimmermann!
Stehen nach Ihrer Auffassung das, was Sie zitiert haben, und die Grundlage dieser Hinweise, dieser Weisungen oder wie Sie es sonst bezeichnen wollen, im Widerspruch zu der Meldung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die mein Kollege Damm vorhin zitiert hat?
Diese Frage ist schon einmal gestellt worden. Ich glaube, man kann daraus nicht einen Widerspruch, sondern nur eine Unvollständigkeit konstruieren, Herr Kollege Dr. Zimmermann.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Sperling!
Herr Staatssekretär, würden Sie meine Bestätigung zur Kenntnis nehmen, daß es sich in der Tat um Hinweise handelt, die die Frankfurter Allgemeine unvollständig zitiert hat, und darüber hinausgehende Meldungen: es handle sich um ein vertrauliches Papier, falsch sind, so daß ich in der Lage bin, den nachfragenden Kollegen die kompletten Hinweise zur Verfügung zu stellen?
Ich wäre dankbar, wenn Sie so verfahren würden.
Noch eine Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall.
— Die Fragestunde ist dazu da, daß sich einzelne Mitglieder des Hauses mit der Regierung in Frage und Antwort unterhalten, nicht aber dafür, daß die Mitglieder des Hauses dies untereinander tun. Dafür müssen Sie andere Gelegenheiten finden!
Ich komme zur Frage 56 des Abgeordneten Niegel:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung für Wehrpflichtige, die im Zuge der Herabsetzung des passiven Wahlalters bei der am 11. Juni stattfindenden bayerischen Kommunalwahl in ein kommunales Ehrenamt gewählt werden können, zur Ausübung des Mandats, wenn diese Wehrpflichtigen ihren Wehrdienst noch abzuleisten haben?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident! Herr Kollege Niegel, die Aufstellung für die Wahl in eine kommunale Vertretungskörperschaft und die Ausübung eines solchen Mandats stellen keinen Zurückstellungsgrund nach dem Wehrpflichtgesetz dar. Die Bundesregierung wird aber bemüht sein, die in Frage kommenden Wehrpflichtigen möglichst heimatnah einzuberufen bzw. sie in die Nähe des Heimatortes zu versetzen. Diesen Bemühungen sind — darin werden Sie sicherlich mit mir übereinstimmen, Herr Kollege Niegel — gewisse Grenzen gesetzt.Soldaten, die ihren Grundwehrdienst ableisten, sind bei der Vorbereitung ihrer Wahl und bei der Ausübung ihres Mandats nach dem Erlaß über die „Politische Betätigung von Soldaten, insbesondere bei Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen" vom Dezember 1970 den Berufssoldaten und den Soldaten auf Zeit gleichgestellt. Das bedeutet, daß sie den gleichen Anspruch auf Dienstbefreiung bei der Vorbereitung der Wahl und auf Urlaub zur Ausübung ihres Mandates haben wie die Zeit- und Berufssoldaten.Die Bundesregierung beabsichtigt, an dieser Regelung festzuhalten. Sollten die Beurlaubungen jedoch ein Ausmaß annehmen, das mit den dienstlichen Belangen nicht mehr in Einklang zu bringen ist, muß eine andere Regelung gefunden werden,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11011
Parlamentarischer Staatssekretär Berkhandie sowohl der Ausbildung und der Einsatzbereitschaft als auch den Erfordernissen der konkreten kommunalpolitischen Betätigung gerecht wird.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Niegel!
Herr Staatssekretär, kann man folglich davon ausgehen, daß, wenn solche jungen Wehrpflichtigen in die Gemeindeparlamente gewählt werden und sie einen entsprechenden Antrag bei der zuständigen Dienststelle der Bundeswehr stellen, diese Versetzungen großzügig vorgenommen werden?
Davon können Sie ausgehen. Außerdem ist dem zuständigen Vorgesetzten bei der Bearbeitung des Antrags kein Ermessensspielraum eingeräumt; seine Entscheidung ist genau eingegrenzt.
Wird noch eine weitere Zusatzfrage gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit und damit zuerst zur Frage 57 des Abgeordneten Varelmann:
Ist der Lebenswert eines Rentners oder einer Rentnerin, die im Berufsleben einen produktiven Beitrag geleistet haben, geringer anzusetzen als der eines Studenten oder einer Studentin?
Herr Staatssekretär Westphal, bitte sehr!
Herr Kollege Varelmann, der Lebenswert aller Menschen — gleichgültig, ob gesund oder krank, ob erwerbsfähig und erwerbstätig oder nicht, ob Rentner oder Student — ist gleich.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Varelmann.
Herr Staatssekretär, seit welchem Zeitpunkt ist Ihr Ministerium für Probleme der Renten zuständig?
Seit keinem Zeitpunkt. Dafür sind wir nicht zuständig. Aber Ihre Frage ist die nach dem Lebenswert von Menschen, und da fühlen wir uns zuständig.
Herr Staatssekretär, sind die Förderungsbeträge, die an Studenten und Studentinnen gegeben werden, nicht Mindestansätze, die zur Befriedigung des Lebensbedarfs unbedingt notwendig sind? Ist Ihrem Hause bekannt — —
Moment! Sie können nur eine Frage stellen!
Ist Ihrem Hause bekannt — —
Sie haben ja schon eine Frage gestellt. Zur Beantwortung Herr Staatssekretär!
Die Förderung für Schüler und Studenten ist eine Ausbildungsförderung und berücksichtigt selbstverständlich auch Kosten, die den Lebensbedarf betreffen.
Nun haben Sie schon zwei Fragen. Jetzt kommt — —
Herr Staatssekretär, ist
Ihre — —
Nein, nein! Sie haben bereits zwei Zusatzfragen gehabt. Jetzt kommt Ihre zweite Hauptfrage, die Frage 58:
Steigert sich der notwendige Aufwand für den Lebensbedarf im höheren Alter über die normalen Ausgaben, wie in der Sozialhilfe anerkannt?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Es kann davon ausgegangen werden, daß der notwendige Aufwand für den Lebensbedarf bei einem großen Teil der Menschen im höheren Alter steigt. Aus diesem Grunde wird in der Sozialhilfe bei Hilfeempfängern über 65 Jahre ein entsprechender Mehrbedarf anerkannt. Diese Leistungen erhalten auch Rentner, deren Renten unter dem Sozialhilfebedarfssatz liegen.
Sie haben wieder zwei Zusatzfragen. Jetzt kommt die erste. Bitte sehr!
Herr Staatssekretär, ist Ihrem Hause bekannt, daß 91 % aller Witwenrenten in der Arbeiterrentenversicherung unter einem Betrage von 450 DM liegen? Und sind, wenn es sich bei der studentischen Förderung nur um Mindestansätze handelt, daraus nicht für die Rentenversicherung gewisse Konsequenzen zu ziehen, um die Lage zu verbessern?
Herr Kollege, die Schwierigkeit ist, daß Sie jetzt nach Rentenproblemen fragen, und dafür ist der Herr Arbeitsminister zuständig. Aber wenn es um die Größenordnung geht, kann ich sagen, es gibt im Rahmen der Ausbildungsförderung keine Leistung von 450 DM.
Die zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Varelmann.
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11012 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Liegen nicht — wenn ich aus Ihrem Hause recht unterrichtet worden bin — die Spitzenbeträge, die an Studentinnen und Studenten gezahlt werden, bei 450 DM?
Der höchste Bedarfssatz ist der von 420 DM. Er kann, wenn die Miete höher ist, als sie im Bedarfssatz berücksichtigt wird, um höchstens 45 DM erhöht werden. Das hängt aber von ganz besonderen Umständen ab.
Die Fragen 59 und 60 des Abgeordneten Dr. Stark werden vom Bundesminister des Innern beantwortet.
Wie hoch darf der Höchstwert an Bleigehalt in einem Liter Trinkmilch sein, um ungefährlich für den menschlichen Genuß, insbesondere für Klein- und Kleinstkinder, zu sein?
Was tut die Bundesregierung, damit diese Höchstwerte — auch regional — nicht überschritten werden?
Herr Kollege Müller, es gibt in der Bundesrepublik keine Höchstgrenze für Blei in der Milch, weil nach geltendem Recht bleihaltige Milch nicht in den Verkehr gebracht werden darf. Die Tatsache, daß es durch Umweltkontamination leider auch in der Milch zu Bleirückständen kommt, hat dazu geführt, daß man sich mit dem Problem der Höchstwerte befassen muß.
Im Rahmen des Umweltprogramms der Bundesregierung ist deshalb das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit u. a. mit der Vorbereitung von Rechtsvorschriften über Höchstwerte an metallischen Rückständen in Lebensmitteln befaßt. Eine umfangreiche Enquete über Rückstände an Schwermetallen oder deren Salzen in Lebensmitteln ist erstellt und wird zur Zeit wissenschaftlich ausgewertet.
Darüber hinaus sind zur Zeit wissenschaftliche Institute mit besonderen Untersuchungen über Bleirückstände in Milch beschäftigt. Eine abschließende Beurteilung der in Betracht zu ziehenden Maßnahmen wird erst nach Auswertung der Enquete und nach Vorliegen der zu erwartenden Untersuchungsergebnisse möglich sein.
Ich möchte aber abschließend nochmals sagen, daß bleihaltige Milch nach geltendem Recht nicht in Verkehr gebracht werden darf.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, wann ist damit zu rechnen, daß die Richtlinien, von denen Sie eben gesprochen haben, erlassen werden?
Das kann noch nicht mit Daten belegt werden, Herr Abgeordneter. Wir sind zur Zeit bei wissenschaftlichen Untersuchungen und deren Auswertung. Erst danach kann entschieden werden, ob und welche gesetzgeberischen Maßnahmen notwendig sind.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller .
Herr Staatssekretär, die zweite Frage von mir erübrigt sich durch die Antwort, die Sie mir auf die erste gegeben haben. Aber ich möchte jetzt noch fragen: Kann die Bundesregierung durch Bleimobilisierungstests, etwa durch den Einsatz der Projektgruppe „Blei", die Auswirkung von Blei diagnostizieren?
Der Bleimobilisierungstest ist zur Feststellung von Bleidepots im Organismus durchaus geeignet. Eine allgemeine Anwendung dieses Tests verbietet sich aber aus gesundheitlichen Gründen. Jedoch sind repräsentative Stichprobenuntersuchungen im Rahmen der gewerbe-toxikologischen Überwachung durchaus möglich.
Einen Augenblick! Also die zweite Frage ist gleich mitbeantwortet worden. Demnach haben Sie noch zwei Zusatzfragen, Herr Abgeordneter Müller .
Herr Staatssekretär, in der Schweiz werden z. B. therapeutische Maßnahmen zur Bleiausschwemmung praktiziert. Hat die Bundesregierung die Absicht, das auch bei uns zu tun?
Herr Kollege, eine vorbeugende Behandlung der gesamten Bevölkerung zur Verhinderung von Bleiresten im Körper ist nicht möglich. Therapeutische Maßnahmen müssen sich nach dem einzelnen Vergiftungsfall richten. Dabei kann aber auch der Bleimobilisierungstest, von dem wir soeben gesprochen haben, als eventuelle therapeutische Maßnahme durchaus in Betracht kommen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt .
Herr Staatssekretär, die Umweltverschmutzung wird es zwangsläufig mit sich bringen, daß die Milch in allen Ländern mehr oder weniger der Gefahr einer gewissen Verbleiung ausgesetzt ist. Meine Frage: Liegt der Bleigehalt der in der Bundesrepublik erzeugten Milch über oder unter den Durchschnittswerten der europäischen Milch?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11013
Ich kann Ihnen die Frage jetzt nicht beantworten, Herr Kollege; aber ich bin gern bereit, Auskünfte hierüber einzuholen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kiechle.
Herr Staatssekretär, welches sind die Gründe für den Bleigehalt in der Milch, und tritt dieser Bleigehalt, sofern er schon nachgewiesen wurde, regional differenziert auf oder ist er in der Bundesrepublik allgemein nachweisbar?
Ich kann zu der Frage eines allgemein nachweisbaren Bleigehalts in der Milch nichts sagen. Die Fragen des Kollegen Müller beziehen sich wohl auf das schlimme Ereignis, bei dem sich in einem Hüttenwerk Filter als nicht in gutem Zustand befindlich erwiesen haben und sich dadurch eine höhere Bleiausschüttung ergab. Ich glaube, daß die Gesundheitsämter — in diesem Fall sind die Länder zuständig — sehr schnell eingreifen werden, um zu verhindern, daß bleihaltige Milch in den Verkehr gebracht wird.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, kann man also sagen, daß dieses Bleivorkommen in der Milch lediglich auf diesen lokalen Teil begrenzt ist und daß andere Fälle im Bundesgebiet nicht bekanntgeworden sind?
Herr Kollege Niegel, ich habe diese Frage in der ersten Antwort auf die Frage des Herrn Kollegen Müller beantwortet. Nach unserem Recht darf keine Milch in den Verkehr kommen, die Blei enthält. Aus der Tatsache, daß durch Umweltverschmutzung Milch auch bleihaltig sein kann, ergibt sich die Notwendigkeit, Höchstgrenzen des Bleigehaltes in der Milch festzulegen.
Keine weiteren Zusatzfragen? — Dann kommen wir zur Frage 63 des Abgeordneten Dr. Schwörer:
Ist der Bundesregierung bekannt, wie hoch die Zahl derjenigen ist, die infolge von Geburts- und Frühstschäden dauernd erwerbsunfähig sind?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Dr. Schwörer, der Bundesregierung stehen gegenwärtig nur die Zahlen der im Rahmen des Mikrozensus im Jahre 1966 durchgeführten Zusatzbefragung über „körperliche und geistige Behinderungen" zur Verfügung. Danach befanden sich unter den Personen mit angeborener körperlicher oder geistiger Behinderung 36 000 Erwerbsunfähige; unter den durch Kinderlähmung Geschädigten waren es ungefähr 7000 Erwerbsunfähige. Sonstige Angaben über erwerbsunfähige Frühstgeschädigte sind der Bundesregierung nicht bekannt.
Neuere Angaben über die Zahl der mit erkennbaren Fehlbildungen geborenen Kinder sind im Jahre 1973 auf Grund einer 1971 erfolgten Änderung des Bevölkerungsstatistischen Gesetzes vom 4. Juli 1957 zu erwarten. Weitere Zahlen über körperliche, geistige und seelische Behinderungen von Kindern werden im Jahre 1974 auf Grund der 4. Verordnung über Zusatzprogramme zum Mikrozensus von 1971 — damals ist das so vereinbart worden — erhoben werden. Inwieweit der Bericht der Bundesregierung nach § 126 c des Bundessozialhilfegesetzes, der im Oktober fällig ist, weitere Zahlen über geburts- und frühstgeschädigte Kinder, Jugendliche und Erwachsene bringen wird, läßt sich im gegenwärtigen Vorbereitungsstadium noch nicht übersehen.
Eine Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Frage 64 des Abgeordneten Dr. Schwörer:
Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß eine Verbesserung der Hilfen für Behinderte nach dem Bundessozialhilfegesetz ausreicht, oder ist sie bereit, für die Verbesserung der materiellen Lage der Schwerstbehinderten infolge von Geburts- und Frühstschäden gesetzliche Regelungen zu treffen, die laufende Zahlungen ähnlich dem Blindengeld nach Landesrecht ermöglichen?
Die Bundesregierung hat im April einen Dritten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes verabschiedet, der insbesondere auch Verbesserungen der Hilfen für Behinderte vorsieht. Der Schwerpunkt dieser Änderungen liegt gerade in Verbesserungen der Leistungen für pflegebedürftige Schwerstbehinderte und für geburts- und frühstgeschädigte Kinder. Im einzelnen sollen besonders schwer Behinderte, die außergewöhnlicher Pflege bedürfen, ein Pflegegeld in Höhe des Doppelten des normalen Satzes erhalten; die hierfür geltende Einkommensgrenze wurde derjenigen der Blindenhilfe gleichgestellt. Damit geburts- und frühstgeschädigten Kindern früher und besser als bisher geholfen werden kann, wurde sowohl bei der Blindenhilfe wie auch bei der Zahlung von Pflegegeld die Altersgrenze von der Vollendung des dritten auf die des ersten Lebensjahres vorverlegt; außerdem wurden in die erweiterte Eingliederungshilfe für Behinderte auch noch nicht schulpflichtige Kinder einbezogen. Schließlich sind künftig ausdrücklich heilpädagogische Maßnahmen für noch nicht schulpflichtige Kinder als Eingliederungsmaßnahmen vorgesehen.
Mit diesen Änderungen, Herr Kollege, hat die Bundesregierung zugleich einer Entschließung des Deutschen Bundestages Rechnung getragen, die dieser anläßlich der Verabschiedung des Gesetzes über
11014 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode —188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Parlamentarischer Staatssekretär Westphal
die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" gefaßt hat. In ihr waren für den Bereich des Bundessozialhilfegesetzes insbesondere Verbesserungen der Eingliederungshilfe, der Hilfe zur Pflege für Schwerbehinderte und der Einkommensfreigrenzen gefordert worden. Für darüber hinausgehende Verbesserungen entsprechend den Regelungen der Landesblindengeldgesetze sieht die Bundesregierung gegenwärtig keine Möglichkeit.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Dr. Schwörer.
Darf ich Sie so verstehen, Herr Staatssekretär, daß diese Zahlungen, die Sie jetzt vorsehen, nicht laufende Zahlungen sein werden, sondern nur Zahlungen für bestimmte Notfälle, daß es also nicht dazu kommen wird, daß eine Unterstützung eines Kindes, das in einem solchen Zustand geboren wird, in laufenden Monatsbeträgen erfolgen wird?
Doch, Herr Kollege Schwörer, die Sozialhilfe sieht in ihren Formen der Hilfe solche laufenden finanziellen Unterstützungen vor.
Wodurch unterscheiden sich dann diese Zahlungen von dem Blindengeld, daß Sie gerade angeführt haben?
Die Blindengeldregelungen sind spezieller Art. Das Bundessozialhilferecht gilt umfassend für den jeweils auftretenden Einzelfall. Es hat sich im Hinblick auf seine Förderungsmöglichkeiten noch nicht auf den Stand hinaufentwickelt, den das Blindenförderungsrecht schon hat. Daraus würden sich auch insbesondere für die Gemeinden finanzielle Probleme ergeben.
Sie haben bereits Ihre zwei Zusatzfragen. Außerdem sind wir am Ende der Fragestunde.
Die Frage 95 des Abgeordneten Dr. Fuchs, jetzt beim Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir fahren fort in der Aussprache über Punkt 4 der Tagesordnung. Als nächster Redner hat der Abgeordnete Dr. Schneider das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine große deutsche Tageszeitung trägt heute die Schlagzeile: „Die innere Sicherheit war 1971 weder von Rechts- noch von Linksradikalen bedroht". Stimmt diese Schlagzeile? Ich glaube, nein, jedenfalls nicht in der schlagzeilenartigen, apodiktischen Kürze. Der beste Beweis für meinen Zweifel scheint mir die heutige Debatte und die Rede des Herrn Bundesinnenministers selbst zu sein.
Meine Damen und Herren, ich begrüße es außerordentlich — das schicke ich voraus —, daß der Führer der Opposition, Herr Dr. Rainer Barzel, den ganzen Tag der Sicherheitsdebatte beiwohnt, und ich bedauere es, daß der Herr Bundeskanzler offensichtlich daran gehindert ist, während dieser wichtigen Debatte im Saal anwesend zu sein.
— Eine Kabinettsberatung kann nie so wichtig sein, daß bei einer solchen Debatte der Herr Justizminister und der Herr Bundeskanzler nicht anwesend sein könnten, zumal dann, wenn ich mit dem Herrn Bundesjustizminister ohnedies — -
Der Herr Bundesjustizminister ist soeben eingetroffen.
Gut.
— Ihr Lachen bestätigt nur, wie recht ich mit meiner Kritik hatte.
Meine Damen und Herren, niemand kann es bestreiten: Wir durchleben eine Phase der deutschen Politik, in der Anspruch und Leistung, Wort und Tat, Programm und Wirklichkeit immer weiter auseinanderfallen. Die heutige Situation der inneren Sicherheit hat eine langjährige Entwicklung. Dazu hat beigetragen eine systematische Verunsicherung der staatlichen Institutionen durch Diffamierung, exzessive Beanspruchung von Freiheit und Grundrechten und Mißbrauch des Demonstrationsrechts. Jahrelang wurden in Publikationen von bestimmten Publizisten und Professoren Gewalttaten gebilligt, zumindest aber entschuldigt oder zu erklären versucht. Die Zahl der in diesem Zusammenhang anzuführenden Zitate ist kaum zu übersehen.Eine Reihe von Einzelerscheinungen der letzten Jahre wie die Verharmlosung von Terrorakten, die Hochstilisierung von Kriminellen zu politischen Überzeugungstätern und verzweifelten Reformern, die Bildung rührender Legenden um solche Terroristen durch bestimmte Publikationsorgane, Journalisten und Professoren verbunden mit einer Diffamierung von Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz als etwas im Grunde Böses, fortlaufende Diskussionen, ob über für gerechtfertigt erachtete Gewalttaten gegen Sachen auch Gewalt gegen Personen angewendet werden soll, dazu eine Bagatellisierung der Gefährlichkeit des Linksradikalismus durch führende Vertreter der Bundesregierung und die Unfähigkeit von SPD- und FDP-Führung, die partielle Zusammenarbeit der Linksextremisten in ihren Parteien mit den Linksradikalen zu unterbinden, haben in ihrer Gesamtheit dazu beigetragen, daß in der Bundesrepublik Deutschland Minderheiten mit hu-
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Dr. Schneider
manistischen Schlagworten, wie Demokratisierung und Emanzipation, die staatlichen Institutionen durch Diffamierung, durch exzessive Beanspruchung unserer Freiheits- und Grundrechte, durch Mißbrauch des Demonstrationsrechts verunsichern konnten.Damit wurde ein geistiges Klima geschaffen, in dem alle Demokraten gemeinsam zur Bekämpfung von Kriminalität und Radikalismus aufgerufen sind, um im Bürger nicht weiter das Gefühl der Angst und Unsicherheit entstehen zu lassen. Alle einem Rechtsstaat zu Gebote stehenden Mittel müssen eingesetzt werden, damit die Grundwerte — Rechtssicherheit, Gewaltlosigkeit und Toleranz — erhalten bleiben. Dazu ist aber auch notwendig, daß sich vor allem der Bundeskanzler mit der ganzen Autorität seines Amtes deutlicher als bisher von allen distanziert, die den derzeitigen Zustand mit verschuldet haben,
daß Willy Brandt als SPD-Vorsitzender innerhalb seiner eigenen Partei Ordnung schafft und die Konsequenzen zieht, wenn entgegen dem Beschluß der Parteiführung die Jusos weiter partiell mit Linksradikalen gemeinsame Aktionen durchführen.
Herr Abgeordneter Schäfer, „dummes Zeug" ist kein parlamentarischer Zwischenruf.
Ich werde auf diese schwäbische Weisheit, die nicht den Philosophen Hegel zum Vater hat, näher eingehen.Die Auffassung des Bundeskanzlers, jüngst im Fernsehen geäußert, die SPD müsse viele Gruppen in sich beheimaten, sonst wäre eine italienische Entwicklung, nämlich die Aufspaltung zu befürchten, kann weder ein zureichender Grund sein noch als eine Rechtfertigung gewertet werden.
Wenige Tage nach der Behauptung des Herrn Bundesjustizministers, die CDU/CSU versuche mit ihrem Gesetzentwurf über die Verschärfung des Haftrechts für Gewaltverbrecher und Serientäter ein Geschäft mit der Angst zu machen, wandte sich der Herr Bundeskanzler am 4. Februar 1972 über die beiden deutschen Fernsehgesellschaften an die Bevölkerung. Auch das Staatsoberhaupt führte zur gleichen Zeit ein vertrauliches Gespräch mit den Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen. Der Regierungschef sah sich zu seinem Schritt an die Öffentlichkeit veranlaßt, weil er in zahlreichen Briefen die Frage gestellt erhielt: „Tun wir genug, um der Gewalttätigkeit in unserem Land Einhalt zu gebieten?" Er stellte fest — und ich stimme ihm darin zu —: „Die freiheitliche Demokratie, die wir aus den Trümmern von Diktatur und Krieg aufgebaut haben, darf nicht als schlapper Staat mißverstanden werden."
Gleichzeitig warnte er vor blindem Draufschlagen, das keine Politik sei, die dem Grundgesetz entspreche. — Keiner meiner Freunde jedenfalls hat jemals einer Politik des blinden Draufschlagens das Wort geredet.Günter G r ass, der Wahlhelfer und Hofschriftsteller des Herrn Bundeskanzlers, hatte dazu seine eigene Meinung. In einem Fernsehinterview mit Herrn Merseburger sagte Günter Grass am 7. Februar 1972, also drei Tage nach der Rede des Herrn Bundeskanzlers: „Ja, wenn es diese Baader-MeinhofGruppe nicht gäbe mit ihrer anfangs nur verbalen, dann später kriminellen Aktivität, dann könnte man meinen, sie sei von den rechten Gegnern der parlamentarischen Demokratie erfunden worden." In derselben Sendung führte er aus: „Und was ich für sehr wichtig halte und was eigentlich in Richtung Regierung gesprochen wird und auch in Richtung Justizminister: die parlamentarische Demokratie als Gesellschaftsform ist stärker und strapazierfähiger, als wir meinen. Erst wenn wir aus Angst reagieren, erst wenn wir meinen, wir müßten im Stile McCarthy in Kommunistenjagd und in Verdächtigungen zurückfallen, dann zeigen wir Schwäche, und dann ist auch die parlamentarische Demokratie gefährdet." Welch krause Logik steckt in diesen Äußerungen! Der Herr Grass sagt weiter: „Die Baader-Meinhof-Gruppe sollte diesen Weg nicht weitergehen, und wenn sie nicht auf Appelle hört — Heinrich Böll hat es versucht hier auszusprechen —, dann sollten die Leute ihrer Generation diese Aktivität nicht mit Bewunderung und nicht mit Sehnsucht nach falschem Heldentum begreifen, sondern mit kühler Distanz, also ohne entschiedene Gegenwehr und Kritik." Günter Grass polemisierte dann auch noch einmal gegen die „Bild-Zeitung" wegen ihrer Meldung „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter". Inzwischen haben die tragischen Ereignisse der letzten Wochen den Beweis für die Richtigkeit dieser „Bild-Zeitung"-Meldung erbracht.Ein anderer Literat von Rang und Namen in unserem Lande und in Europa, Herr Heinrich Böll , hat im „Spiegel" erklärt — in Form einer Frage —: „Haben die Polizeibeamten, Juristen, Publizisten je bedacht, daß alle Mitglieder der Gruppe um Ulrike Meinhof - alle — praktische Sozialarbeit getan haben und Einblick in die Verhältnisse genommen, die möglicherweise zu dieser Kriegserklärung" — wie er sich auszudrücken beliebte — „geführt haben?" Ich richte an Herrn Böll die Frage: wie sind denn unsere sozialen Verhältnisse beschaffen, wie die wirtschaftlichen, wie steht es um die persönliche Meinungsfreiheit in unserem Lande, in diesem Staate? Rechtfertigen sie Gewalt, Mord und Terror? Hätte Herr Böll nicht besser daran getan, im Falle Solschenizyn und seinen verfolgten Freunden in der Sowjetunion, wie im Falle Bukowsky, zu fragen, was wir verlören, gäbe es diesen Staat mit seinen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten nicht mehr? Hier hätte Herr Böll seine libe-
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Dr. Schneider
rale, seine freiheitliche, seine demokratische, seine rechtsstaatliche, seine fortschrittliche, wenn Sie wollen, seine progressive Gesinnung durch Taten unter Beweis stellen können. Er hat geschwiegen. Qui tacet, consentire videtur. Vermutlich hat er nicht den Mut gefunden, Unrecht Unrecht zu nennen, obwohl er in dem hohen Amte eines PEN-Präsidenten steht.
Wer die Wahrheit über unseren Staat und unsere Gesellschaft derart in Frage stellt, entstellt sie im Bewußtsein der Leser, und er zerstört damit den inneren Frieden.Es handelt sich bei dem Herrn Heinrich Böll um den gleichen Schriftsteller, der mit den Herren Enzensberger und Walser bereits am 11. Dezember 1970 eine Erklärung des Verbandes Deutscher Schriftsteller unterzeichnet hat, in der es heißt:Überall in der Bundesrepublik sind politische Gefangene immer offener werdender Unterdrückung ausgesetzt. Ebenso Jugendliche, die sich auf Grund der gesellschaftlichen Verhältnisse kriminalisiert haben. Unzureichendes juristisches Beweismaterial wie im Falle Teufel kann nicht zu einer Verurteilung reichen. Wenn ihm und anderen dennoch Prozesse gemacht werden, so sind es Prozesse, in denen politische Theorien und Gesinnungen exemplarisch bestraft werden.Welch ungeheuerliche Behauptung, politische Gesinnungen und Theorien würden in unserem Lande exemplarisch bestraft!Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage von Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion dazu am 19. April 1971 dann festgestellt:Die Freiheit der Meinungsäußerung ist in der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang gesetzlich garantiert und gewährleistet. Das Recht eines jeden einzelnen, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, ist vor staatlicher Beeinträchtigung geschützt. Dies gilt selbstverständlich auch für die Freiheit der politischen Meinungsäußerung.Soweit das Zitat. Nicht der Staat oder unsere Gesellschaft bedrohen die Freiheit der Meinungsäußerung, sondern linke Anarchisten, die sich den Gesetzen, Formen und Spielregeln unserer freiheitlichen Demokratie nicht unterwerfen wollen!
Professor Steinbuch, ein Mann, der noch vor kurzer Zeit geglaubt hat, eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung werde mit all diesen Entwicklungen besser fertig als eine von der CDU/CSU geführte Regierung, Professor Steinbuch, eine Persönlichkeit von Rang mit Urteil, und zwar mit einem Urteil, das man nicht in die Nähe von Parteilichkeit bringen kann, antwortete am 24. Mai 1972, also vor wenigen Tagen, dem Bundeskanzler auf dessen Stellungnahme in der „Welt" vom 7. März und führte dort aus:Ich weiß nicht, ob die Folgen der gegenwärtigen Entwicklung noch aufgefangen werden können. Sicher ist der Zeitraum, in dem unsere Versäumnisse noch korrigiert werden können, kürzer, als manchenorts geglaubt wird. Wenn wir überhaupt noch korrigierend eingreifen wollen, dann muß es rasch und mit hoher Kompetenz geschehen.In dem gleichen Brief heißt es:Früher zeigte sich politische Aufgeschlossenheit vor allem am Engagement für humane und demokratische Ziele. Heutzutage versteht man unter Progressivität etwas ganz anderes: weltfremde politische Zielvorstellungen, Verachtung der Erfahrung, obskure Zukunftsvisionen, rücksichtslose Traditionszerstörung und die Hemmungslosigkeit bei der Durchsetzung politischer Ziele. Progressivität wurde so zur Leichtfertigkeit und Verantwortungslosigkeit, ja zur Lust am Untergang.Soweit Professor Steinbuch.Derselbe Mann wirft in seinem Schreiben an den Bundeskanzler die Frage auf, welche Wirkung es wohl hätte, wenn sich der Bundeskanzler für praktizierten Gemeinsinn, für loyale Leistungen — z. B. an unseren Universitäten —, für die Autorität der Erfahrenen, für Anstand im Zusammenleben ausspräche.Herr Bundeskanzler, hier wäre das Wort vom Schreibtischtäter in der Tat richtig am Platz gewesen!
Die Mord- und Sprengstoffliteraten sind fatale Verführer und vielfach mittelbare Gewalttäter.Die Lektüre einer einzigen Tageszeitung von heute belehrt uns darüber, daß sich Teile unserer Universitäten in offenem Aufruhr befinden.
— Sie müssen gut zuhören!
In einer Zeitung heißt es:Zum erstenmal in seiner zweijährigen Amtszeit hat der Präsident der Freien Universität Berlin, Kreibich, die Polizei zu Hilfe gerufen, nachdem rund 500 linke Studenten das Germanische Seminar besetzt hatten. Kreibich wollte damit, wie das Presseamt FU erklärte, weitere Unrechtshandlungen sowie Sach- und Personenschaden verhindern. Der Besetzung war ein Aufruf des maoistischen kommunistischen Studentenverbandes zu einem zweitägigen Streik vorausgegangen, mit dem der KSV das Prüfungsrecht für den sozialistischen Studenten Domdey durchsetzen wollte.Gestern berichtete die „Frankfurter Allgemeine":Gefährlicher als die Sprengstoffanschläge derBaader-Meinhof-Gruppe sind politische Philoso-
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Dr. Schneider
phen, die sich von solchen Gewalttaten distanzieren, ohne sich von der Gewalt zu distanzieren. Vor dem Frankfurter Angela-Davis-Kongreß hat Oskar Negt die Baader-MeinhofGruppe nicht dafür kritisiert, daß sie zur Gewalt griff, sondern daß sie dies in der falschen Situation tat. Mit Jürgen Seifert war er der Meinung, daß man zuvor den Rechtsstaat bis zur Neige ausschöpfen müsse.Was heißt „den Rechtsstaat bis zur Neige ausschöpfen" ? — Das heißt doch, zynisch und höhnisch die Freiheiten dieses Staates zu mißbrauchen; das bedeutet doch nichts anderes, als mit den Mitteln, mit den Freiheiten, mit den Möglichkeiten der Demokratie eben diese Demokratie zu zerstören.Angesichts der zahlreichen Sprengstoffanschläge, die Tote und Verletzte gefordert haben, gab der Herr Bundeskanzler am 26. Mai 1972 über die Rundfunk- und Fernsehanstalten eine zweite Erklärung ab. An dieser Erklärung ist nichts zu beanstanden.
Der Bundeskanzler bleibt aber zu fragen, ob er damit bereits seine volle Schuldigkeit als Regierungschef getan hat. Er hätte sich insbesondere konkreter und eindeutiger an diejenigen wenden müssen, die — so hat er wörtlich erklärt — „bisher geglaubt haben mögen, Extremismus könnte einen politischen Sinn haben".Der Herr Bundesinnenminister hat wiederholt in der Öffentlichkeit klarzumachen versucht, daß er zu einem entschiedenen Kampf gegen das Verbrechertum entschlossen sei. Daß dabei in mehreren Fernsehsendungen der Eindruck erweckt wurde, die Verschärfung des Haftrechts und des Waffenrechts gehe auf Initiativen der Bundesregierung zurück, mag aus der Hektik der Umstände zu erklären sein. Hier aber muß festgestellt werden: Die Bundesregierung hat ihren Beitrag zur inneren Sicherheit zunächst mit dem Straffreiheitsgesetz und der Liberalisierung des Demonstrationsrechts eingeleitet. Die gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen wurden erleichtert. Extreme Gruppen wurden zugunsten der Sicherheit aller bevorzugt. Der Staat ist insgesamt wehrloser, die Polizei als Organ des inneren Friedens hilfloser geworden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es besteht kein Anlaß, die Entwicklung der Kriminalität in der Bundesrepublik über Gebühr zu dramatisieren. Die Situation auf dem Sektor Kriminalität ist nicht so bedrohlich, wie das manche in der Hitze des Wahlkampfes glauben machen wollen.
Diese Äußerung, Herr Bundesjustizminister, liegt in etwa auf der gleichen Linie wir Ihr Vorwurf vom 2. Februar dieses Jahres von dieser Stelle aus, die Opposition versuche mit ihrem Antrag auf Verschärfung des Haftrechts ein Geschäft mit der Angst zu betreiben.
Bei sorgfältiger Beobachtung aller Äußerungen von Mitgliedern des Deutschen Bundestages gewinnt man das Bild sehr kontroverser Auffassungen und uneinheitlicher Grundeinstellungen zu Fragen der inneren Sicherheit, zur Verbrechensbekämpfung und insbesondere über das Ausmaß und die Gefährlichkeit verbrecherischer und anarchistischer Umtriebe in unserem Lande. Bei der letzten großen parlamentarischen Debatte über die innere Sicherheit und die Verbrechensbekämpfung am 4. November 1970 wurde mir — ich stelle fest: vom gleichen Kollegen der SPD der Vorwurf gemacht, ich hätte eine klassische Law-and-order-Rede gehalten.
- Wenn ich Ihr Niveau, Herr Konrad, zum Maßstab meiner Ausführungen machte, müßte ich mich unter das Rednerpult verkriechen.
Da nicht einmal das Niveau Ihrer Zwischenrufe zu unterbieten ist, wie schwer müßte es sein, das Niveau als Redner zu unterbieten!
Damals habe ich gesagt, daß die Bevölkerung begreifen müsse, daß innere Sicherheit ein Bestandteil der sozialen Verfassungswirklichkeit sein müsse. Es wird keinen sozialen Fortschritt geben, habe ich erklärt, der nicht durch ein System der inneren Ordnung geschützt und dadurch erst realisierbar gemacht werden kann. Das Verbrechen ist nämlich nicht nur ein Anschlag gegen den einzelnen in der Gesellschaft, es bedeutet als gemeinschaftswidriges Verhalten eine Gefahr für die Gesellschaft aller und für den Staat als Schutzordnung für die Gemeinschaft. Was ich damals sagte, gilt auch heute noch.
Begriffe wie Autorität, Ordnung, Pflicht und Disziplin sind heutzutage vielen in unserem Lande suspekt. Ihre Sinngehalte und Vorstellungen werden mittels dialektischer Tricks und hemmungsloser ideologischer Verketzerung ins Gegenteil verkehrt. Ordnung wird als repressive Unterdrückungsform mißdeutet und verteufelt, Pflicht als Ausdruck einer antidemokratischen Gesinnung diffamiert, und Disziplin wird mit Galeerenzucht und Sklavenpeitscherei gleichgesetzt.
Vor welchem geschichtlichen und politischen Hintergrund spielt sich das Drama brutaler Gewaltakte, anarchistischer Anschläge und subversiver Unterwühlungsarbeit ab? Dies ist die Frage, die sich heute alle in diesem Hause stellen sollten, und zwar jeder ohne Ausnahme. Unsere Universitäten stecken in einer bedrohlichen Krise, und zwar als Anstalten der Lehre und Forschung wie als Zentren politischer Meinungsbildung. Presse, Film und Fernsehen tragen das Ihre zur totalen Verunsicherung und Relativierung unbestreitbarer Wert- und Gesittungsordnungen bei.
Herr Abgeordneter Schneider, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolfram?
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11018 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Bitte sehr!
Herr Kollege, nachdem Sie zu Beginn Ihrer Rede kritisiert hatten, daß der Herr Bundeskanzler nicht anwesend sei, und festgestellt hatten, daß der Oppositionsführer die ganze Zeit der Debatte folgte, darf ich Sie fragen: hängt es wohl mit der Qualität Ihrer Rede zusammen, daß der Oppositionsführer die ganze Zeit nicht anwesend ist?
Ich kenne die eigentlichen Gründe nicht, weshalb Herr Dr. Barzel im Augenblick nicht hier ist, aber eines weiß ich sicher: hätte er Ihre Zwischenfrage vorausgeahnt, hätte er deswegen ganz sicher den Saal verlassen.
Unsere verfassungsmäßige Ordnung befindet sich heute in einer alarmierenden Gefahr. Wer die innere Sicherheit gefährdet, gefährdet den sozialen Frieden und damit die allgemeine Wohlfahrt und mit ihr das Fundament unserer Demokratie.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe. Es sieht jedermann: Sowohl der Herr Bundeskanzler als auch der Herr Oppositionsführer sind anwesend.
— Meine Damen und Herren, ob eine Rede langweilig ist, ist eine Frage der subjektiven Beurteilung. Dieses Urteil steht mir nicht zu, genausowenig wie es mir zusteht, das Gegenteil zu sagen. Ich nehme aber an, daß der Herr Abgeordnete Dr. Schneider nicht vorliest, sondern sich nur gelegentlich bei Zitaten seiner Unterlagen bedient.
Die Fragen, die heute gestellt sind — auch Sie, Herr Wehner, sollten sie sich vorhalten —,
können nicht lauten: Haben wir genügend Polizeibeamte? Sind unsere Polizeibeamten bestens ausgerüstet? Werden sie ausreichend und angemessen besoldet? Natürlich sind auch diese Fragen zu stellen.In unserem eigenen Interesse haben wir aber vorrangig zu fragen: Sind Regierung und Parlament noch willens und imstande und bis zum letzten entschlossen, diesen Staat, der uns Sicherheit und Freiheit, Arbeitsplatz und soziale Wohlfahrt, Bildung und Fortschritt gewährt, zu verteidigen? Der Bundeskanzler hat in seiner Fernsehrede vom 26. Mai gesagt, die Gesinnungsfreunde der Gewalttäter sollten auch einsehen, daß die Terroristen gefährliche Feinde des Fortschritts sind.
Niemand wird diese Behauptung bestreiten. Es ist hinzuzufügen: nicht nur Feinde des Fortschritts, sondern Feinde der Voraussetzung eines geordneten Staatswesens überhaupt.Bedenklich ist dabei, daß es offensichtlich für viele in unserem Lande unfein geworden ist, für verbrecherische Zusammenschlüsse im Sinne des § 129 des Strafgesetzbuches den Ausdruck „Bande" zu gebrauchen, also einen Terminus technicus aus unserem Strafrecht.Meine Damen und Herren, wir müssen alle zu der Erkenntnis kommen, daß es nicht genügt, mehr Polizisten in Dienst zu stellen, sie besser auszurüsten und besser zu besolden. Sicherlich ist all das notwendig. Es kommt aber darauf an, in unserem Lande die Giftbazillen zu tilgen, die aufsteigen. Es kommt darauf an, eine Atmosphäre zu schaffen, in der das allgemeine Bewußtsein, die allgemeine Wertauffassung des gesamten Volkes jenen verbrecherischen Umtrieben keinen moralischen Rückhalt, keine ideelle Unterstützung mehr gewährleisten.Natürlich finden Debatten über innere Sicherheit nicht nur in diesem Hause und in den Landtagen statt. Sie finden auch in den Rathäusern statt. Die entscheidende Frage, um die es hier geht, hat sich auch die Christlich-Soziale Union auf ihrem letzten Parteitag vorgelegt. Ich möchte hier nur wesentliche Erkenntnisse aus den dort gefaßten Entschließungen nach den Beratungen über die Themen „innerer Frieden" und „innere Sicherheit" anführen: Die Verbrecher, die gewissenlos und heimtückisch mit Sprengstoff morden, mit allen unserem Staate zu Gebote stehenden Mitteln verfolgen und vor Gericht bringen, das ist die Pflicht des Staates und aller Teilnehmer dieser Gesellschaft. Eine entschiedene und vorbehaltlose Absage aller politischen Kräfte an politischen Extremismus und Gewalt in jeder Form tut not. Diese Absage darf sich nicht nur in Worten erschöpfen, sondern muß sich auch im konsequenten praktischen Verhalten erweisen. Es darf kein Paktieren mit extremistischen Gewalttätern geben.Herr Kollege Vogel hat heute morgen eine Äußerung des Herrn Abgeordneten Hellwig zitiert. Der Herr Kollege Arndt hat den Versuch unternommen, sofort darzustellen, was die Sozialdemokratische Partei alles getan hat, um diesen Kollegen zur Ordnung zu rufen. Nicht nur der Herr Hellwig hat sich gegen den Beschluß der Ministerpräsidenten vom 28. Januar ausgesprochen, Extremisten nicht in den öffentlichen Dienst aufzunehmen; da waren
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Dr. Schneider
eine ganze Reihe. Ich darf zitieren: Die Bundesdelegiertenkonferenz der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen fordert Bundesregierung und Länderregierung auf,aus der bloßen Zugehörigkeit zu einer nicht verbotenen Partei oder Organisation keine Vermutungen zuungunsten des Bewerbers für den öffentlichen Dienst abzuleiten, jede Fragebogenermittlung zu unterlassen, keine Treuebekenntnisse zu verlangen, die im Ergebnis zu einer Gesinnungsschnüffelei und Beeinträchtigung der politischen Gesinnungsfreiheit führen.Was ist das? Das ist ein Verhalten, das dem Geiste und dem Buchstaben nach dem zuwiderläuft, was die Ministerpräsidenten einstimmig am 28. Januar beschlossen haben.An dem Beschluß der Ministerpräsidenten wird weiterhin kritisiert, er lasse sich dazu mißbrauchen,Bewerber über das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung hinaus auf die bestehende Wirtschafts- und Sozialordnung festzulegen.Wenn ich das richtig verstehe, ist nur der ein zuverlässiger Staatsdiener, der unsere Wirtschafts- und Sozialordnung im Prinzip ablehnt und zu bekämpfen bereit ist.Der Abgeordnete der SPD, Freiherr Ostman von der Leye — ich weiß nicht, ob er hier ist —, spricht sich gegenüber dem Pressedienst der Demokratischen Aktion für eine Überprüfung des Beschlusses der Ministerpräsidenten aus. Der Beschluß dürfe nicht zu einer Hexenjagd auf sogenannte Linksradikale führen.
Wer solche Erklärungen politisch zu vertreten hat, sollte mit mehr Bedacht auf solche Vorhaltungen reagieren. Der Schutz des öffentlichen Dienstes vor Unterwanderung durch Extreme muß von allen und von allen Seiten ernst genommen werden. Wer die verfassungsmäßige Ordnung stürzen will, hat nach unserer Auffassung im öffentlichen Dienst nichts, aber auch gar nichts zu suchen.
Die politische Aktivität ausländischer Parteien in der Bundesrepublik muß, so meinen wir, unterbunden werden. Ausbildung, Ausrüstung und Organisation der Polizei müssen weiter verbessert werden. Hier unterstützen wir den Herrn Bundesinnenminister seit langem. Die Stellung des Polizeibeamten in der Gesellschaft muß seiner Aufgabe und Verantwortung entsprechen. Hier wäre vor allen Dingen ein Wort an die Adresse der publizistischen Organe, an Presse, Rundfunk und Fernsehen, zu richten.Die personelle und sachliche Austattung der Staatsanwaltschaften und Gerichte, besonders in den Großstädten, muß möglichst rasch und nachhaltig verstärkt werden. Das ist unabdingbare Voraussetzung für eine verstärkte Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaften im Zuge der Reform des Strafverfahrens und für eine wirksame Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität.Der Kampf gegen das Verbrechen muß als eine gesellschaftliche Aufgabe von allen geführt werden. Das kann nicht nur Sache der Polizei sein. Wer im Kampf gegen Verbrecher hilft und dabei Schaden erleidet und wer Opfer von Verbrechen wird, muß von der Allgemeinheit angemessen entschädigt werden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zu einem anderen Problem kommen, das seit langem innenpolitisch kontrovers ist, nämlich zur Frage des Beamtenstatus, zur Forderung von Teilen der SPD, zur Forderung von Teilen des DGB auf Zuerkennung des Streikrechts an die Beamten, auf Abschaffung des Berufsbeamtentums. Wer diese Forderungen erhebt, leistet einen Beitrag zu weniger innerer Sicherheit in unserem Lande, macht den Staat handlungsunfähiger. Wer dies tut, schafft Situationen, die wir im Augenblick bei dem illegalen Bummelstreik der Fluglotsen haben. Dies ist auch eine Frage der inneren Sicherheit, sollte als solche gesehen werden. Damit ist auch die Frage der Staatsautorität, der Handlungsfähigkeit, der Legalität insgesamt mit aufgeworfen.Ich teile wohl die Meinung vieler, vielleicht sogar aller, daß in Fragen der inneren Sicherheit die politische Grundkontroverse zwischen Regierung und Opposition nicht ausgetragen werden sollte. Was wir brauchen — und dazu haben wir von der Opposition in den zuständigen Ausschußgremien des Bundestages jeweils ein gutes Beispiel gegeben —, ist eine allgemeine und entschlossene Koalition zwischen Staat und Gesellschaft gegen jede Form von Gewalt in unserem Staate. Daß wir in der Vergangenheit so gedacht haben, beweisen die Gesetze, die im Augenblick dem Bundestag zur Beratung und, wie ich hoffe, zur baldigen Verabschiedung vorliegen.Ich meine zunächst das dem Bundestag vorliegende Gesetz zur Haftverschärfung. Dieser Entwurf wurde nicht von der Bundesregierung eingebracht, sondern wurde zunächst eingebracht von der Fraktion der CDU/CSU und wurde ergänzt durch einen im wesentlichen gleichlautenden Entwurf des Bundesrates.Es wäre jedoch ein Irrtum, annehmen zu wollen, daß mit diesen Gesetzesmaßnahmen allein schon eine wesentliche Veränderung der derzeitigen Sicherheitslage erreicht ist. Auch die besten Gesetze verfehlen dann ihre Wirkung, wenn nicht der Wille dahintersteht, sie in der Praxis auch konsequent anzuwenden. An diesem Willen hat es bisher vielfach gefehlt; denn bereits mit dem vorhandenen Rechts- und Gesetzesinstrumentarium hätte man der nun erreichten terroristischen und verbrecherischen Eskalation von Anfang an wirksamer begegnen können. Tatsache ist aber, daß die tagaus, tagein propagierten Ideologien, verbunden mit der Infragestellung aller Grundsätze und der ständigen Verharmlosung der eingetretenen Entwicklung, die selbst vor Mitgliedern dieser Bundesregierung nicht haltgemacht hat, die Polizei- und Justizorgane bei ihrer Arbeit in starkem Maße verunsichert haben.Auch bei dem Paket der Gesetzesvorhaben zur Verstärkung der inneren Sicherheit zeigt sich, daß
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die entscheidenden Initiativen, wie schon betont, nicht von der Bundesregierung gekommen sind. Ein widersprüchliches Verhalten ist insbesondere bei der Beurteilung des Haftrechts zutage getreten.Aus kriminalpolitischen und sicherheitsrechtlichen Gründen ist es erforderlich, das zwischen Bund und Ländern aufgesplitterte Waffenrecht zu vereinheitlichen. Wir wissen, daß unser derzeitiges Waffenrecht Züge einer außerordentlich liberalen Handhabung aufweist. So sind beispielsweise alle Bürger in unserem Lande, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, in der Lage, ohne Waffenerwerbsschein eine unbegrenzte Zahl von Gewehren zu erwerben und dazu eine unbegrenzte Menge von Munition, dazu auch Halbautomaten mit schneller Schußfolge und großer Reichweite. Die scharfe Munition unterliegt nicht der geringsten behördlichen Kontrolle.Der nunmehr vorliegende Bundesratsentwurf für ein einheitliches Waffengesetz, das die Länderwaffengesetze ablösen und das Bundeswaffengesetz in das neue Gesetz einbauen soll, wird eine beträchtliche Verschärfung des Waffenrechts bringen. Ich — in diesem Falle muß ich sagen: ich persönlich; das ist meine eigene Meinung — bin dafür, daß die Registrierung der vorhandenen Waffen möglichst lückenlos und zentral durchgeführt wird. Es muß gelingen, die vorhandenen Waffenbestände zu erfassen. Ich bin allerdings nicht davon überzeugt, daß dies in jedem Fall gelingen wird, wenn man bedenkt, daß weit über 20 Millionen Schußwaffen sich derzeit in privater Hand befinden. Worauf es nach unserer Auffassung ankommen wird, ist, im Wege einer strengen Zuverlässigkeitsprüfung, im Wege einer Fachkundeprüfung die unzuverlässigen Waffeninhaber von den zuverlässigen zu scheiden. Es wäre verhängnisvoll, würden wir eine solche Entwicklung nicht gemeinsam fördern.Andererseits muß allerdings auch der Zustand verhindert werden, der etwa so aussähe, daß infolge einer zu strengen Vorschrift für den Erwerb von Waffen — also im häuslichen Besitz — nurmehr die Waffenschmuggler, nurmehr die Unterwelt im Besitz der Waffen wären, während der staatstreue Bürger keine Chance mehr hätte, im Wege einer — zu strengen — Bedürfnisprüfung eine Waffe zu erwerben,
Hier muß ein vernünftiger Kompromiß gefunden werden.Ich gebe nicht die Parole aus, wir müßten ein Volk von Waffenträgern werden.
Ich möchte nur darauf hinweisen, daß die Gefahr nicht von der Waffe an sich ausgeht, sondern vom Waffenmißbrauch und vom Waffenfehlgebrauch. Insbesondere bin ich der Meinung: Wer ein strenges Waffenrecht bejaht, der muß auch dafür eintreten, daß die dunklen Quellen, aus denen Waffen in großer Zahl immer wieder an die Oberfläche gelangen, verstopft werden. So meine ich zum Beispiel, daß die Zahl der Waffendiebstähle aus Beständen der Bundeswehr und der Verteidigungsstreitkräfte auf dem Boden der BundesrepublikDeutschland exorbitant ist und daß es nach meiner Auffassung ein Skandal ist, wenn die Bundeswehr immer noch Waffentransporte für ihre Zwecke durch die Bundesbahn ohne militärische Bewachung durchführen läßt; dabei treten immer wieder beträchtliche Diebstähle auf.
Ich bin auch der Meinung — das habe ich zu wiederholten Malen angeregt —, daß wir unverzüglich eine internationale Konvention über die Herstellung, den Handel sowie den Import und Export und das Führen von Waffen brauchen.Mit der vom Bundesrat und von der CDU/CSU vorgeschlagenen Änderung des § 112 StPO soll eine Verschärfung des Haftrechts erreicht werden, die vor allem verhindert, daß einmal gefaßte Hang- und Serientäter nach ihrer Ergreifung weitere Verbrechen begehen. Die Novellierung der Strafprozeßordnung aus dem Jahre 1964 hat sich offensichtlich nicht als gut erwiesen.Zum Thema „Bundesgrenzschutz" darf ich mich auf das beziehen, was der Herr bayerische Innenminister heute morgen an dieser Stelle ausgeführt hat.
Die Änderung des Verfassungsschutzgesetzes wird noch in diesen Tagen, wie ich hoffe, durch einen Sachkompromiß zwischen Regierung und Opposition, zwischen Koalition und CDU/CSU erreicht werden können.Meine Damen und Herren, noch ein wichtiges Problem! Ein weiteres Gesetz, das dem Bundestag bereits vorliegt und mit dem ein wesentlicher Beitrag zur inneren Sicherheit geleistet werden könnte, ist das Bundesmeldegesetz. Von erheblichem Wert für die polizeiliche Fahndung ist es, wenn wieder die Nebenmeldepflicht der Wohnungsgeber und die Anmeldepflicht im Übernachtungs- und Beherbergungsgewerbe, verbunden mit einer Identitätskontrolle, eingeführt würden. Diese Fragen sind bei den kommenden Beratungen in den Ausschüssen noch zu behandeln.Zu den bisher aufgeworfenen Rechtsproblemen, zu den dem Parlament bereits vorliegenden Gesetzentwürfen müssen noch einige Sachbereiche hinzukommen: einmal die Novellierung des Kriegswaffengesetzes, zweitens die Begründung einer Gesetzeskompetenz des Bundes für Sprengstoffrecht und eine Verschärfung des Sprengstoffgesetzes, weiterhin die Sicherung von Kraftfahrzeugkennzeichen gegen mißbräuchliche Verwendung und schließlich die Befugnis zur Durchsuchung von Kraftfahrzeugen im Rahmen von Fahndungsaktionen.Meine Damen und Herren! Das Thema der inneren Sicherheit berührt neben einer Reihe pragmatischer Fragen grundsätzliche Überlegungen und stößt bis in die letzten Tiefen unseres Verfassungsverständnisses vor. ich darf mit der Feststellung schließen:
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11021
Dr. Schneider
Die Bundesrepublik Deutschland ist nur insoweit ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat, als die jeweiligen Inhaber der staatlichen Gewalt willens und imstande sind, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, wie es das Grundgesetz gebietet. Vor diesem Hintergrund unserer Verfassung gewinnt die Diskussion über die Verbrechensbekämpfung ihr juristisches Gewicht und ihre angemessene moralische Dimension.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
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Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich möchte zwei Bemerkungen zu dieser Debatte machen dürfen. Die erste ist die folgende. Ich muß es bedauern, wenn in dem Maße, in dem es hier geschieht, aus einer sehr notwendigen Debatte um die innere Sicherheit ein Gegenstand des Parteienstreits gemacht wird.
Denn bei der inneren Sicherheit geht es doch nicht um die Sicherheit der CDU-Wähler oder der SPD-Wähler oder der FDP-Wähler, sondern es geht um die Sicherheit für alle rechtschaffenen Bürger in dieser Bundesrepublik.
Ich empfinde es als einen grotesken Widerspruch, wenn ich mir hier das anhöre, was jetzt vorgebracht wurde,
und wenn ich einige Tage vorher mit den Ministerpräsidenten der Länder — unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit — zusammensitze und wenn ich von den Innenministern — unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, und da sind, wenn man Bund und Länder zusammennimmt, alle vier Parteien vertreten, CDU und CSU und SPD und FDP — Berichte bekomme. Diese Minister sind dabei, ein einheitliches Programm auszuarbeiten; das ist heute morgen auch noch einmal dargelegt worden. Aber hier wird ein so großer Teil der Zeit darauf verwendet, nicht über das zu sprechen, was jetzt geschehen soll, sondern an einem Kriseneintopf zu rühren, der nicht der Sache, sondern der Propaganda dient!
Und eines, meine Damen und Herren, zu denen, die heute morgen auch nach den erfreulichen Mitteilungen, die der Bundesinnenminister gemacht hat, gezweifelt haben.
Es wurde gesagt: Ja, das ist natürlich noch nicht zu
Ende. — Natürlich ist es nicht zu Ende, aber die, die
es angeht, reden hier nicht zum Fenster hinaus, sondern handeln, und durch das gemeinsame Handeln des Bundesinnenministers Genscher und des Innensenators Ruhnau ist heute ein weiteres Mitglied der genannten Bande festgenommen worden, nämlich in der Hansestadt Hamburg.
Darauf kommt es an und nicht darauf, daß wir uns hier zu Themen, die nur bedingt etwas damit zu tun haben — darauf komme ich gleich —, auseinanderreden.
Als ich vor Wochen — vor vielen Wochen — die Parteivorsitzenden gebeten hatte, habe ich beim Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion kein gesteigertes Interesse
für die Verabschiedung der Gesetze feststellen können,
um deren Verabschiedung heute die Bundesregierung erneut bittet.
— Beruhigen Sie sich! Und da waren so viele Zeugen dabei,
daß ich wiederhole: ich habe kein gesteigertes Interesse an der raschen Verabschiedung dieser Gesetze feststellen können, und ich rufe dafür die Kollegen aus dem Hohen Hause, die dabei waren, zu Zeugen auf.
Und jetzt sage ich — —
— Nein, jetzt spreche ich, so wie vorher Ihr Redner gesprochen hat! Und jetzt sage ich mit den Ministerpräsidenten gemeinsam: — —
Meine Damen und Herren, ich bitte alle Seiten des Hauses um Ruhe!
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11022 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich sage doch nicht, daß sich Herr Kollege Vogel nicht für die Verabschiedung dieser Gesetze eingesetzt hätte.
Das habe ich doch gehört. Ich sage, die Dringlichkeit ist damals — vor zwei Monaten — nicht bejaht worden,
und deshalb war ich um so zufriedener damit, daß die Ministerpräsidenten und der Bundeskanzler in der Woche nach Pfingsten gemeinsam feststellen konnten, sie wollten sich dafür verwenden und darum bitten, daß diese Gesetze noch vor der Sommerpause verabschiedet werden.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich werde noch mehr zu sagen haben, was Ihnen nicht paßt; aber ich sage nicht nur, was Ihnen nicht paßt, sondern auch, was ich für richtig halte.
Der Dank an die Polizei und die anderen Behörden, die die schwierige Arbeit zu leisten haben, um die es hier geht, bezieht sich auch auf diejenigen, die ihnen dabei helfen, um jeglicher Gewaltanwendung, also auch und gerade auch politisch kaschiertem Terrorismus das Handwerk zu legen. Deshalb — das sage ich noch einmal — sollte dies nicht zum Gegenstand des Parteienstreits gemacht werden und sollte nicht der eine versuchen, den anderen draußen als jemanden hinzustellen, der dies nicht genauso ernst nimmt wie jeder andere auch. Wer diesen Eindruck zu erwecken versucht, der sagt dem Volk nicht die Wahrheit.
Das ist das eine.Das zweite ist dies: Ich halte es für abwegig und dort, wo es bewußt geschieht, für verwerflich, Kriminalität im allgemeinen und politischen Gewaltverbrechen im besonderen mit politisch unbequemen Auffassungen und Aktivitäten zu vermengen.
— In der Rede, die soeben hier gehalten wurde, ist dies weithin geschehen.
Die Welt, in der wir leben und in der wir keine Insel der Seeligen sind, ist voll von Gewalttätigkeiten. Das wissen wir alle, und das gilt für die entwickelten Industriestaaten — aus Gründen, die von dem einen oder anderen Redner angetippt worden sind und sicher nicht vertieft werden konnten — mehr noch als für andere Länder. Ich hätte es begrüßt, wenn man sich in diesem Zusammenhang, anstatt sich mit Schriftstellern auseinanderzusetzen, die sich hier nicht wehren können und denen man auch nicht annähernd geistig gerecht geworden ist,
der Tatsache gestellt hätte, daß sich die Massenmedien seit Jahr und Tag weithin darauf konzentrieren, Themen, die sich auf Gewalt und Unmoral beziehen, dem Volk insgesamt und der jungen Generation völlig wahllos zu offerieren. Das muß doch vielen Sorgen bereitet haben, egal welcher Partei man angehört.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland in dieser Welt, die von soviel Gewalttätigkeit geprägt ist, muß sich mit ihren Mitteln sichern. Keiner darf die Illusion haben, daß man so etwas von heute auf morgen schafft. Das bleibt eine permanente Aufgabe. Aber es ist nicht nur eine repressive Aufgabe;
es ist eben auch eine Aufgabe, meine verehrten Damen und Herren von der Opposition, um junge Menschen, die unbequeme Auffassungen vertreten, zu ringen, sie nicht abzustoßen, sondern im Ringen mit ihnen sie für diesen demokratischen Staat zu gewinnen. Auch das ist eine Aufgabe.
Dabei darf man ihnen nicht nach dem Mund reden; denn das wäre auch den jungen Leuten gegenüber nicht richtig.
Dabei muß man dort Trennungsstriche ziehen, wo sie gezogen werden müssen.
Aber man muß wissen: in dieser Diskussion, ohne die eine freiheitliche Demokratie keine Zukunft vor sich hat, wird sich vieles zu bewähren haben, und anderes wird erneuert werden müssen. Ich beklage mich also nicht nur über manche Übertreibungen und Abwegigkeiten, sondern ich bedanke mich auch für die Herausforderung. Denn wenn man sich ihr nicht stellen müßte, würde die Demokratie und würden ihre Träger in der Gefahr sein, zu erstarren und nicht den Notwendigkeiten gerecht werden zu können, denen sie gegenübergestellt sind.Wenn nun, wie es immer wieder geschieht, bestimmte, ganz gewiß sehr bedenkliche Erscheinungen an einzelnen Hochschulen herausgestellt werden — ich habe in der Haushaltsdebatte am 26. April selbst ein deutliches Wort dazu gesagt —, dann soll man doch aber bitte auch registieren — und mancher, der mit offenen Augen und Ohren durch Land geht, kann es registrieren, wenn er
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11023
Bundeskanzler Brandtwill —, daß die Zahl der Jungen zunimmt, die aus der Staatsverdrossenheit oder gar Staatsverneinung auf dem Weg zu diesem Staat hin sind. Das ist doch eine wichtige Aufgabe, und darum muß man sich doch kümmern. Das darf man nicht unnötig erschweren.Wenn meine Partei angesprochen worden ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU und CSU, dann sage ich: Jeder kehre vor seiner Tür! Die SPD ist und bleibt die Partei des Godesberger Programms.
Mit ihren Problemen wird sie ohne die Assistenz anderer allemal fertig.Aber lassen Sie mich wegen der in die Debatte eingeführten Phänomene, die nun wirklich mit der inneren Sicherheit nur noch sehr bedingt etwas zu tun haben, noch einmal sagen: Mein Rat wäre, mehr Zeit auf die Ausschußberatung über die Gesetze zu konzentrieren, und mein Rat wäre, zur Sache selbst zurückzukehren und auf den Versuch zu verzichten, eine bitterernste Angelegenheit so zu behandeln, daß der Eindruck entstehen muß, man wolle ein parteipolitisches Süppchen kochen, statt sich den Interessen des Staates zuzuwenden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Wer der Eröffnung der Debatte heute morgen durch die beachtliche Rede des Herrn Bundesministers des Innern beigewohnt hat, wer festgestellt hat, daß an den entscheidenden Stellen mehr Beifall von der Opposition als von der Koalition kam,
wer sich daran erinnert, wer eigentlich gedrängt hat, die Beschlüsse über den Sozialdemokratischen Hochschulbund zu fällen
— gehören Sie zu denen, denen diese nicht passen? Ich komme darauf zu sprechen, meine Damen und Herren —, wer das heute morgen erlebt hat und dann sieht, daß der Bundeskanzler in einer wohl reichlich extemporierten Intervention hier versucht, vom Parteienstreit zu sprechen, der hat diesen Tag nicht ganz miterlebt.
Und, Herr Bundeskanzler, wenn wir unsere Sorge über die Zukunft dieses freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates aussprechen und dies in der sachlichen Weise tun, wie dies die Kollegen Vogel und Schneider hier getan haben,
und Sie dann von „Kriseneintopf" sprechen, dann, Herr Bundeskanzler — —
— Ich bin nicht unbefriedigt darüber, daß Sie an dieser Stelle, wo wir über den linken und den rechten Radikalismus sprechen, diese Unruhe zeigen.
Ich möchte aber zunächst, Herr Bundeskanzler, die Tatsachen aufzeigen in der Hoffnung, daß der falsche Eindruck, den Sie erweckt haben, doch noch irgendwann einmal berichtigt wird. Ungefähr zehn Tage vor der Wahl in Baden-Württemberg fand bei Ihnen eine Konferenz statt. Wir hatten diese Konferenz bereits Weihnachten vorgeschlagen mit Hinblick auf die Zunahme der Kriminalität und des politischen Radikalismus einschließlich der Gewalt, weil wir — anders als Sie mit Ihrer Regierung — der Meinung waren und sind, daß hier die Grenze fließend ist
und nicht sauber getrennt werden kann, wie Sie, Herr Bundeskanzler, das eben noch einmal versucht haben.
Sie haben dann nichts getan. Dann hat der Herr Bundespräsident sich eingeschaltet und die Fraktionsvorsitzenden zu sich gebeten. Ergebnis dieses Gesprächs, von dem wir hinsichtlich der Einlassungen der Kollegen der anderen Fraktionen unbefriedigt waren, war, daß der Herr Bundespräsident Ihnen nahebringen wollte, diese Sache mit uns zu besprechen. Das passierte dann zehn Tage vor der Wahl in Baden-Württemberg.Bei diesem Gespräch, Herr Bundeskanzler, erklärte Ihr Justizminister — wenn Sie das Gespräch in die Debatte einführen, müssen Sie damit rechnen, daß das hier hochkommt —, ob denn wirklich nach Meinung der Union politischer Radikalismus eine Gefahr oder ob das nur unbequem sei. Diese Frage ist uns doch gestellt worden. Ich habe dann, als wir von den Gesetzen sprachen, Herr Bundeskanzler, in der Tat gesagt: Über die Gesetze brauchen wir bei Ihnen nicht zu sprechen, da müssen Sie nur Ihrer Koalition grünes Licht für die Verabschiedung der Vorlagen geben, die hier liegen.
Das Haftrecht liegt seit dem September 1971 hier. Wir konnten es im Februar erst lesen, weil die Koalition es nicht wollte. Und in der Debatte, Herr Kollege Jahn, hatten Sie die Geschmacklosigkeit, im Zusammenhang mit diesem Antrag von einem Geschäft der Opposition mit der Angst zu sprechen. Das sind die Realitäten.
Herr Bundeskanzler, wir haben heute morgen erklärt, daß wir die vier Gesetze zügig und möglichst vor der Sommerpause zu verabschieden gedenken. Wir sind bereit, in der Terminplanung des Hauses alles zu tun, damit die beteiligten Ausschüsse die nötige Zeit dafür bekommen können. Wenn Sie aber, Herr Bundeskanzler, glauben, „Parteienstreit" behaupten und zurückweisen zu sollen, indem Sie sich
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11024 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Dr. Barzelstützen auf die Beschlüsse der Ministerpräsidenten, mit denen Sie doch in dieser Frage einig seien, dann würde ich Sie doch sehr herzlich einladen, in beiden Eigenschaften — in der des Bundeskanzlers und in der des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands — hier vielleicht einmal mitzuteilen, wie sich denn die Ministerpräsidenten z. B. in Hessen und in Nordrhein-Westfalen zur Durchführung dieses Beschlusses stellen.
Ist es vielleicht falsch, wenn wir in der „Stuttgarter Zeitung" vom 17. April 1972 lesen, daß der hessische Ministerpräsident Osswald, der das Abkommen mit unterzeichnet hat, den Delegierten auf seinem Parteitag in Hessen-Süd erklärt hat, in Hessen werde dieser Beschluß ohnehin nicht angewandt?
Oder Herr Bundeskanzler, geht es Sie vielleicht nichts an, wenn die Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratischen Juristen — wir zitieren nach der „Frankfurter Rundschau" vom 8. Mai 1972 — erklären, dieser Beschluß der Ministerpräsidenten sei zu kritisieren, denn er lasse sich mißbrauchen, Bewerber über das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung hinaus auf die bestehende Wirtschafts- und Sozialordnung festzulegen?
Herr Bundeskanzler, ich habe dazu eine ganze Dokumentation hier. Ich erspare es mir, sie vorzulesen. Wir sind gern bereit, sie Ihnen zu übergeben oder zuzustellen. Nur in einem Punkt möchte ich Sie doch sehr herzlich einladen, uns vielleicht noch ein Wort zu sagen. Sie haben diese Debatte mit Recht auf die Probleme junger Menschen ausgeweitet. Ich meine, es wäre gut, wenn hier der Bundeskanzler ganz klar gesagt hätte: Kritik ja, bessere Vorstellungen ja, aber die Grenze ist die Gewalt und die Intoleranz. Das sollte hier deutlich gesagt werden.
— Wenn das eine Unterstellung sein soll, wollen wir den Punkt etwas sorgfältiger behandeln, Herr Kollege.Der Beschluß der Bundesdelegiertenkonferenz der Jungsozialisten von Oberhausen, Februar 1972! Da heißt es, Antikommunismus sei verdeckter Antisozialismus, und das folgende zitiere ich wörtlich. Sie sagten, sie brauchten nicht vor Ihrer Tür zu kehren. Na, dann warten wir darauf, mit welchem eisernen Besen Sie hier zu kehren die Absicht haben, Herr Bundeskanzler. Das Zitat aus dem Beschluß heißt:Erster Ausdruck dieser Kommunistenjagd ist der Beschluß der Ministerpräsidentenkonferenz über Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst unddie Maßnahmen gegen sogenannte Sympathisanten der Baader-Meinhof-Gruppe.
In deutlicher verfassungswidriger Weise wird im Beschluß der Ministerpräsidenten davon ausgegangen...usw. usw., und dann zitiert man — ich kann es gern weiter vorlesen, Sie kennen es wahrscheinlich selber — auch noch Herbert Wehner, der lobend in diesem Zusammenhang wegkommt. Das wird er sicher mit sich selber abmachen, meine Damen und Herren.Ich zitiere ferner aus dem Offenen Brief des Professors Steinbuch, in dem er doch sagt, daß für diese Leute „jedes Zugeständnis ein Schritt ihres Weges zur Machtergreifung" ist. — „Ich fürchte vor allem", so Professor Steinbuch, „daß die SPD ideologisch leichtgläubig würde. Die ersten hundert Jahre führte sie einen erfolgreichen Kampf gegen politischen Radikalismus. Hat die SPD jetzt nicht mehr die Kraft zu einer ernsthaften Auseinandersetzung?" Diese Frage von Professor Steinbuch und dieser Beschluß der Jusos — also: die Frage von Professor Steinbuch ist doppelt berechtigt.Sie, Herr Bundeskanzler, sagten, diese Frage solle heraus aus dem Parteienstreit. Dies wäre sicher gut, weil die Solidarität der Demokraten nur möglich ist, wenn alle sich zur wehrhaften Demokratie bekennen und die Demokratie nicht mit einem schlappen Staat verwechseln. Ich möchte deshalb versuchen, dies, wie ich hoffe, als eine gemeinsame Auffassung dieses Hauses zu formulieren, indem ich das in die Erinnerung rufe, was einer der Verfassungsväter, der Herr Kollege Carlo Schmid, im Parlamentarischen Rat im September 1949 dazu gesagt hat:Ich für meinen Teil — so sagte er —bin der Meinung, daß es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selber die Voraussetzungen für ihre Beteiligung schafft. Ja, ich möchte weitergehen, ich möchte sagen: Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muß man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.Ende des Zitats.
— Ich freue mich, Herr Kollege Schäfer, daß Sie dem zustimmen. Dann kommen Sie hierher und geben Sie — —
— Natürlich, habe ich doch in die Debatte eingeführt, weil ich hoffe, daß Sie in dieser Frage hier
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11025
Dr. Barzelnicht das machen, was der Bundeskanzler versucht hat, sondern daß dies ein Stück von gemeinsamer Abwehrarbeit gegen die Feinde von links und von rechts außen ist und bleibt. Denn nur dann wird dies hier gut weitergehen.
Diese Debatte wird nun ein bißchen weitergehen. Ich bin sicher, daß mein Kollege Lenz und andere dazu noch das Notwendige werden sagen müssen.
Ich kann Ihnen, Herr Bundeskanzler, den Vorwurf nicht ersparen, daß Sie über zu lange Zeit diesem Problem gegenüber lasch und leichtfertig waren und daß Ihre Bemühungen, die Abgrenzung nach links außen durchzuführen, nicht ausreichend sind.
Das Wort hat Bundesminister Professor Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nehme an, daß Herr Kollege Barzel durch seine Rede unterstreichen wollte,
wie recht der Bundeskanzler hatte, als er sagte, daß einige hier versuchen, bei der Erörterung dieser ernsten Frage ein parteipolitisches Süppchen zu kochen. -
Aber zunächst darf ich vielleicht, Herr Kollege Barzel, Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Als Sie in den Weihnachtsferien vorschlugen, dieses Thema mit den Ministerpräsidenten zu besprechen, stand dies bereits auf der Tagesordnung der Ministerpräsidentenkonferenz.
Dort hat man, weil die Innenminister noch bei der Ausarbeitung des Programms waren, die Sache dann aufgeschoben, bis die Innenminister ihre Arbeit beendet hätten. Dann kam es zu unserer Konferenz, von der ich mich deutlich erinnere, daß Sie weder über den Stand der Arbeiten der Innenminister
— Sie haben auch gesagt, das gehe Sie nichts an —
noch, Herr Kollege Barzel, über den Stand der Arbeiten in den Ausschüssen des Bundestages informiert waren.
— Doch! Wir haben Sie z. B. gebeten, doch mit Ihren Kollegen über das Verfassungsschutzgesetz zu reden. Herr Kollege Genscher hat es getan. Sie werden sich sicher erinnern, wenn Sie sich anstrengen, daß wir gesagt haben: Da gibt es noch Schwierigkeiten, können wir diese Gesetze — beim Bundesgrenzschutzgesetz gab es andere Schwierigkeiten — über die Bühne bringen? Da haben Sie gesagt, dies wollten Sie jetzt nicht erörtern. Sie haben schon damals das gemacht, Herr Kollege Barzel, was Sie heute machen — das ist doch der eigentliche Streit, darüber wollen wir einmal in Ruhe reden -, daß Sie versuchen, die Fragen der Kriminalität, auch die der politisch motivierten oder kaschierten Kriminalität, in einen Topf zu tun mit der ganzen Frage des politischen Radikalismus oder auch nur der politischen Kritik.
— Aber nein, wir differenzieren uns gar nicht zu Tode! Aber, Herr Wohlrabe, wir sind vielleicht etwas differenzierter als Sie; das ist ja auch kein Kunststück.
Gucken Sie einmal, es gibt einen Widerspruch bei Ihnen, Herr Kollege Barzel. Sie haben am Anfang gesagt, wir versuchen, etwas zu unterscheiden, was sich nicht unterscheiden lasse, sondern fließend sei.
— Sie haben aber nachher selbst — indem Sie den Bundeskanzler aufforderten, etwas zu tun, was er gerade getan hatte — gezeigt, daß es eine klare Grenze gibt. Sie haben gesagt, man muß klar unterscheiden zwischen Kritik und Gewalt. Genau das ist es, was wir tun.
Wir wehren uns dagegen, daß versucht wird, noch so heftige Kritik in einen Topf mit Kriminalität zu werfen. Ich bin der Meinung, sie sollten bei der Bekämpfung der Gruppen, die zur Gewalt greifen, nicht auf diesem Weg weitergehen, weil wir alle hier in diesem Hause, das gemeinsame Interesse, die gemeinsame Aufgabe haben müssen, diese Gruppen völlig zu entsolidarisieren, sie von all dem zu isolieren, was es sonst an radikalen Meinungen in diesem Lande auch geben mag. Das ist doch eine der wichtigsten Aufgaben.
Ich darf noch etwas zu den Beschlüssen der Ministerpräsidenten sagen. Erstens ist das kein Abkommen, zweitens ist es nicht ein Beschluß, der „angewandt" werden kann, wie Sie gesagt haben. Da steht doch nur drin, was in unseren Gesetzen steht.
— Es steht in dem Beschluß nichts drin, was nicht seit langem in unseren Beamtengesetzen und in unserer Verfassung steht.
Wir haben diesen Beschluß gefaßt, um noch einmal klarzumachen, daß diese Gesetze angewendet werden sollen.
11026 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode —188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Bundesminister Dr. Ehmke
— Nun seien Sie doch einmal ruhig! Die Gesetze werden ja angewandt!
Diese Beschlüsse sind auch gefaßt worden, damit man z. B. nicht zu der Meinung kam, wie es Herr Kollege Barzel gesagt hatte, die bestehenden Gesetze reichten gar nicht aus, wir bräuchten vielleicht sogar eine Grundgesetzänderung. Demgegenüber galt es, festzustellen: Das geltende Recht reicht aus. Es gab einen weiteren Grund, den Sie hier mit Recht nennen und den auch ich unterstütze: Das geltende Recht muß angewandt werden. Es gab aber drittens auch den Grund, das zu sagen, was Kollege Genscher heute gesagt hat: Wir werden auch in dieser Auseinandersetzung das Recht respektieren, nicht jenseits des Rechts gehen. So ist festgestellt worden: Die bloße Mitgliedschaft reicht für eine Ablehnung nicht aus.
Nehmen Sie aber auch den Beschluß, den gerade die Kollegen von der ÖTV in Berlin gefaßt haben. Sie wissen, wie die zur Frage des Terrors und der Gewalt stehen. Auch die haben dort Haare in der Suppe entdeckt und haben gesagt: Wir müssen aufpassen, daß, so, wie der Beschluß formuliert ist, gewahrt bleibt, daß nicht allein die Mitgliedschaft in einer Gruppe, die man auch schnell ändern kann --
— die ÖTV hat gesagt — sie hat ja eine besondere Verantwortung für den öffentlichen Dienst —: Wir müssen aufpassen, daß nicht eine formale Mitgliedschaft als ausreichend angesehen wird, um jemanden abzulehnen; wir müssen zweitens aufpassen, daß der Rechtsschutz nicht umgangen wird.
Das sagt eine Gruppe gestandener Gewerkschaftler. Da können wir uns doch nicht wundern, wenn diese Frage auch Jugendliche bewegt, die zum Teil sehr viel kritischer sind. Wir müssen das mit ihnen diskutieren. Wir können doch nicht jede Kritik und jede Angst, diese Beschlüsse könnten vielleicht dazu führen, daß das Gesetz zu hart oder übertrieben angewandt wird, einfach abtun und alle diese Leute in eine Nähe zu dem bringen, was wir an Bombenterror erleben.
Ich bin der Meinung, wir sollten Ernst machen mit der Aussage, daß Kritik in diesem Lande frei ist, auch dann, wenn sie etwa durch Demonstrationen dargestellt wird. Es hat mir nicht sehr gefallen, Herr Kollege Vogel, was Sie heute morgen über die ersten Maitage gesagt haben, aber darauf will ich nicht noch einmal eingehen. Gewalt dagegen
— ganz egal, ob sie sich gegen Personen oder Sachen richtet — ist ausgeschlossen. Diese Debatte haben wir hier schon einmal geführt, als ich noch Justizminister einer anderen Koalition war.
Herr Kollege Barzel, ich muß Ihnen sagen, wir wären in diesen Fragen vielleicht weiter, wenn wir das Gespräch über sie fortgeführt hätten. Der erste Terminvorschlag, verbunden mit einer Tagesordnung wurde von uns in dem Spitzengespräch am 3. Mai gemacht. Da war unter „Innere Sicherheit" aufgeführt, was der Innenminister in einem weiteren Spitzengespräch mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden zu besprechen wünschte. Dort war auch die Bitte an Sie aufgeführt, uns mitzuteilen, welche Punkte Sie noch erörtern wollen. Bis heute haben wir auf diese Einladung vom 3. Mai keine Antwort. Ich habe auf meine Rückfrage vom 19. Mai in Ihrem Büro für Gesprächstermine weder zu dieser Sache noch zu Haushalts- und Währungssachen eine Antwort bekommen. Heute haben wir den 7. Juni. Da Ihre Antwort über einen Monat aussteht, sollten Sie hier nicht den Eindruck zu erwecken versuchen, daß wir es sind, die der Diskussion dieser Fragen ausweichen.
Das Wort hat der Abgeordnete Stücklen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Ehmke und Herr Bundeskanzler, es ist etwas außergewöhnlich, daß Sie aus internen Sitzungen, die Sie als „Spitzengespräche" bezeichnen, diesem Parlament Bruchstücke unvollständig und teilweise unwahr mitteilen.
Das Zweite. Herr Ehmke, Sie bemühen sich um Spitzengespräche, die außerhalb dieses Parlaments, außerhalb der Ordnung dieses Parlaments und an den Ausschüssen vorbei stattfinden. Die Frage der inneren Sicherheit ist nicht die Frage eines exklusiven Kreises, sondern eine Frage, die in erster Linie dieses Parlament angeht.
Wenn Sie zehn Tage vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg ein solches Gespräch anregten, war ganz eindeutig zu erkennen, daß Sie im Hinblick auf den Wahltag in Baden-Württemberg eine gewisse Optik in bezug auf das Problem der inneren Sicherheit brauchten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sieglerschmidt?
Ich möchte mich genauso demokratisch und aufgeschlossen verhalten wie Minister Ehmke eben!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht nicht darum, daß ein parteipolitisches Süppchen gekocht wird, sondern es geht darum, daß hier einmal vor der deutschen Öffentlichkeit und vor dem Deutschen Bundestag dargelegt wird, daß es sogenannte intellektuelle Kreise in Deutschland gibt, die diesen Linksterror in Deutschland nach der Methode „Briefträger beißt den Hund" verharmlosen. Es muß in diesem Bundestag einmal klargestellt werden, daß wir nur dann mit den Bombenlegern und mit dem Terror zurechtkommen, wenn alle demokratischen Kräfte in diesem Lande nach der Parole „Keine
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StücklenChance den Feinden der Demokratie!" zusammenhalten.
Das Wort hat der Abgeordnete Pensky. Seine Fraktion hat für ihn 30 Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es hat heute morgen mit dem Stichwort Gemeinsamkeit angefangen, als der Kollege Vogel hier sprach, aber hinter dem Wort Gemeinsamkeit kam auch gleich die Keule, indem er nämlich genau das tat, was hier vom Kanzler und vom Minister Ehmke kritisiert worden ist, was aber auch in unserem Lande symptomatisch ist. Wenn man nämlich hört, was Oppositionsvertreter tagaus tagein draußen im Lande in Veranstaltungen erzählen, die sie allzu gern zu Gruselstunden umfunktionieren, könnte man der Meinung sein, erst mit dem Antritt dieser Bundesregierung habe die Kriminalität ihre Geburtsstunde überhaupt gehabt.
Meine Damen und Herren, es ist auch heute wiederum geschehen: man schmeißt kleine Kriminelle, große Kriminelle, sogenannte Linke, Jusos, linksextremistische Gewalttäter in einen Topf und braut daraus seinen Krisenbrei. Herr Kollege Vogel, Sie haben heute morgen gerade hierzu ein beredtes Beispiel gegeben, indem Sie beispielsweise Walter Köpping aus der Zeitschrift „Gewerkschaftliche Monatshefte" zitierten. Sie zitierten hier einen Satz, völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Wenn Sie das Heft in der Hand gehabt hätten, hätten Sie den Artikel ganz lesen müssen, und dann hätten Sie auch das Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit dieses Gewerkschaftlers lesen müssen!
— Sie dürfen doch hier keine aus dem Zusammenhang gerissenen Sätze verlesen, sondern Sie müssen dann auch das Bekenntnis dieses Gewerkschaftlers zur Gewaltlosigkeit lesen! Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, diese Lektüre nachzulesen. So wird das gemacht, und dann wird den Leuten draußen noch einsuggeriert, diese Regierung stehe allem verbrecherischen Treiben tatenlos und gleichgültig gegenüber. Draußen ist auch meistens niemand dabei, der einer solchen Demagogie mit Fakten entgegentreten könnte. So kann jeder frei, wie es ihm beliebt, sein politisches Geschäft mit der Angst betreiben.
Was sich aber auf dem rechten Feld abspielt, ist wohl einerlei; denn ich habe noch nicht gehört — das muß ich hier auch ganz deutlich sagen —, daß in diesem Hause beispielsweise gegen Morddrohungen und Gewaltdrohungen, die während der Zeit der Beratung der Ostverträge viele unserer Kolleginnen und Kollegen hier erreicht haben, die Opposition in dieser Vehemenz ihre Stimme erhoben hätte.
Das muß ich sagen. Warum tanzen Sie immer nur auf dem linken Bein?
Ich möchte nur eines sagen: durch ein solches Verhalten schafft man eine Polarisierung, die ungut ist und die den Weg zur Eskalation ebnet. Ich bin der Meinung, daß ich gerade an dieser Stelle das einschieben sollte, worauf Sie wohl von jedem Redner hier Wert legen, nämlich daß ich hier für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion eindeutig sage: wer glaubt, seine politischen Ziele mittels Gewalt an Personen oder Sachen durchsetzen zu sollen, der stellt sich außerhalb unserer Gesellschaft. Einem Verhalten dieser Art muß unser Staat mit aller Härte begegnen, ganz gleich, ob ein solcher Angriff von der extremen Linken oder von der extremen Rechten kommt. Wir Sozialdemokraten brauchen uns in dieser Hinsicht jedoch keine Belehrungen von der CDU/CSU erteilen zu lassen.
Meine Damen und Herren, es spricht auch niemand von der Opposition davon, wie die Kriminalitätsentwicklung in den letzten Jahren ausgesehen hat, z. B. davon, daß die Zahl der bekanntgewordenen Straftaten unter der Regierungsverantwortung von CDU/CSU-Regierungen den absoluten Höhepunkt erreicht hatte. Ich nenne Ihnen hier Zahlen. Die Zuwachsquote betrug im Jahre 1966 7,8 %, im Jahre 1967 8,2 %. Dann fiel sie wieder auf 4,4 % und 2,8 % ab. Auch über die Zahl der Raubüberfälle auf Geldinstitute ist hier in diesem Hause oft laut getönt worden. Diese Zahl ist natürlich bedenklich. Aber auch da haben wir die absolute Spitze während der Zeit einer CDU/CSU-Regierung gehabt, nämlich im Jahre 1967 bei 430 Raubüberfällen auf Geldinstitute. In den folgenden Jahren verringerte sich die Zahl auf 322, 212 und 233.
— Herr Kollege Dr. Schneider, wenn Sie diese amtliche Statistik nicht in den Händen haben, will ich sie Ihnen gern besorgen.
Meine Damen und Herren, man erwähnt auch nicht die Tatsache, daß die Höchstzahlen gewalttätiger Demonstrationen außerhalb der Zeit dieser Regierung liegen. Herr Kollege Vogel, daran ändern auch Ihre beschönigenden Worte von heute vormittag nichts.
Herr Abgeordneter, einen Augenblick bitte! Meine Damen und Herren, ich bitte, weniger laut zu sein. Von draußen kommen dauernd Anrufe von Fernsehzuschauern; sie sagen, man höre vor Lärm im Saal fast nicht, was der Redner spricht.
Lieber Herr Kollege, wenn ich es noch konkreter sage, fühlen Sie sich natürlich auf
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11028 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Penskydie Hühneraugen getreten. Sie möchten das dann nicht hören. Das, was ich hier sage, ist konkret.Ich muß auch noch hinzufügen, daß beispielsweise völlig unerwähnt bleibt, daß der Beginn der Benutzung von Sprengstoffkörpern durch kriminelle Extremisten unter der Regierungsverantwortung früherer Innenminister liegt. Es begann damals zwar mit kleineren Kalibern, als sie bei den kürzlich stattgefundenen Attentaten verwendet wurden, aber der kriminelle Unrechtsgehalt war damals doch der gleiche.Meine Damen und Herren, heute verlangt die Opposition — ich las es hier noch sehr deutlich geschrieben — die Ausrottung solcher Elemente mit Stumpf und Stiel.
— Ich habe das gelesen; es kommt aus dem Munde von Oppositionspolitikern. Ich kann Ihnen dazu sagen, Herr Kollege Dr. Lenz: Das geschieht sogar, nämlich indem diese Verbrecher gefangen und der gerechten Strafe zugeführt werden, wie dies beispielsweise bei der Baader-Meinhof-Gruppe sehr deutlich unter Beweis gestellt worden ist.
— Eine Bande, Herr Kollege. Ich bin sogar bereit, hier auf Ihren Vorschlag einzugehen. Ich habe sie bisher auch nicht anders bezeichnet. Wenn Sie solche Vorwürfe in Richtung auf die Koalition und auf die Regierung erheben, wenn Sie so tun, als täten sie nichts, muß man doch fragen: Hat es denn früher nicht die Möglichkeit gegeben, Gleiches zu erreichen?Meine Damen und Herren, ich will hier aber keinen weiteren Sündenkatalog aufmachen. Warum sage ich das alles, meine Damen und Herren von der Opposition? Keinesfalls deshalb, um etwa gegeneinander aufzurechnen oder Sie allein für eine solche Kriminalitätsentwicklung verantwortlich zu machen. Sehen Sie, so fair bin ich sogar. Wenn ich das sage, geht es mir ausschließlich darum, Sie in Ihrer Vorstellungswelt, in die Sie sich hineingesteigert haben und die Sie aus durchsichtigen Gründen auf möglichst viele Menschen übertragen möchten, wieder einmal zur Ernüchterung zu bringen.Das makabre Spiel der Opposition, diese Regierung mit ähnlichen Vorwürfen zu attackieren, begann doch schon im Zusammenhang mit der Großen Anfrage zur inneren Sicherheit auf Drucksache VI/620. Diese Anfrage wurde gestellt, als die Regierung Brandt/Scheel knapp ein halbes Jahr im Amte war. Der damals auf die Bundesregierung gerichtete Schuß ging jedoch nach hinten loß; denn mit seinen bohrenden und vorwurfsvollen Fragen hatte sich der damalige Hauptakteur, nämlich der Kollege Benda, konsequent an dem Katalog seiner eigenen Versäumnisse ausgerichtet. Das konnte für ihn ja auch nicht gutgehen, aber bei der CDU/CSU wird man wohl nicht klüger. Jetzt, muß ich feststellen, spielen sich sogar einige Kollegen aus der Opposition als kriminalpolizeiliche Oberfahnder auf.Wie mir mitgeteilt wurde — ich habe es teilweise auch durch Pressemeldungen bestätigt gefunden —, haben die Kollegen Vogel und Strauß — nicht Vogel Strauß, sondern Vogel und Strauß — kritisiert, außerhalb des Parlaments natürlich die öffentliche Fahndung mit Plakaten in Sachen Baader-MeinhofBande habe viel zu spät eingesetzt, und dadurch sei der Fahndungserfolg lange Zeit in Frage gestellt gewesen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Pensky, nur damit nicht der Eindruck entsteht, daß solche Fragen von uns außerhalb des Parlaments behandelt werden: Vielleicht sind Sie dabeigewesen und können sich erinnern, daß ich eben diese Frage im Innenausschuß angesprochen habe.
Nein, ich habe das nur aus dem Union-Pressedienst. So ähnlich heißt das wohl.
— Nun, Herr Kollege Vogel, die Tatsache, daß von einem 60 Personen umfassenden engeren Kreis um diese Bande bis zum 1. Juni 1972 beispielsweise bereits 42 Personen festgenommen worden waren, wobei mit Ausnahme von drei Personen schon lange vor Beginn der Öffentlichkeitsfahndung die Festnahme erfolgte, ist Ihnen in dieser Sondersitzung des Innenausschusses offenbar entgangen.
Meine Damen und Herren, der Kollege Dr. Miltner beispielsweise, den ich jetzt auch zu den kriminalpolizeilichen Oberfahndern rechnen muß, forderte kürzlich — es wurde heute irgendwo wiederholt —, daß alle Namen der Sympathisanten auf den Tisch gelegt werden sollten. Herr Kollege Miltner, Sie sind ja sonst ein sehr liebenswerter Kollege. Natürlich gab das Schlagzeilen in ganz bestimmten Zeitungen; aber über den kriminalpolizeilichen Wert wie über die Rechtsstaatlichkeit eines solchen Verlangens vor einer rechtmäßigen Inhaftierung oder Verurteilung haben Sie sich wohl keine Gedanken gemacht.Hier kann ich nur dem beipflichten, was Herr Senator Ruhnau heute morgen sagte, daß es nämlich bestimmte Probleme gibt, die man eben nicht auf den Marktplatz tragen kann. Ich kann deshalb zu Ihnen, meine Kollegen, die Sie sich insoweit betätigt haben, sagen: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Überlassen Sie das den Kriminalisten, denn sie wissen es besser, sie haben dieses Handwerk gelernt.Der polizeiliche Erfolg in Sachen Baader-MeinhofBande — das darf ich in diesem Zusammenhang sagen — ist beeindruckend und lobenswert. Es war sicherlich für uns alle eine Erleichterung, als wir hier soeben aus dem Munde des Bundeskanzlers
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Penskyhören konnten, daß am heutigen Tage auch Gudrun Enßlin gegen 14.30 Uhr in Hamburg gefaßt worden ist. Damit wurde ein zweiter schwerer Schlag gegen die Baader-Meinhof-Bande geführt, nachdem bereits am 1. Juni 1972 Baader, Meins und Raspe festgenommen werden konnten.Ich darf in diesem Zusammenhang einen herzlichen Dank und auch Glückwünsche an den Herrn Bundesminister des Innern und an den Herrn Senator der Freien und Hansestadt Hamburg, der sich hier heute unter uns befindet, sagen, aber auch an die beteiligten Polizeibeamten.
— So makabre Einwände können natürlich nur von Ihnen kommen.
Es war nur möglich durch das mutige und besonnene Verhalten der Beamten der hessischen Polizei am 1. Juni 1972 und der Hamburger Polizei vom heutigen Tage, die mit den Beamten des Bundeskriminalamtes eng und harmonisch zusammenwirkten.Das rasche und gemeinsame Handeln des Bundesministers des Innern mit den Länderinnenministern und -senatoren in den Fällen politisch motivierter Gewalttaten und Sprengstoffattentate in den letzten Wochen ist schließlich auch vom Innenausschuß des Deutschen Bundestages einstimmig zum Ausdruck gebracht worden. Wenn es so ist, dann verwundert es um so mehr, wenn Sie dennoch im Lande umherziehen und genau andersherum weiter polemisieren.
— Natürlich polemisieren Sie weiter, Herr Kollege Vogel. Ich komme gleich noch auf einige Dinge; ich bin schon dabei. Aus dem Deutschland-Union-Dienst habe ich mir notiert, daß Sie, Herr Kollege Vogel, schwere Vorwürfe erheben — und Herr Kollege Strauß soll es auf dem CSU-Parteitag in München getan haben — wegen angeblicher Versäumnisse im Rahmen der Verbrechensbekämpfung auf dem Gebiete des Melderechts, durch die die polizeiliche Arbeit erschwert werde.
— Ich habe das heute aus Ihrem Munde nicht gehört, ich hörte nur vom Kollegen Schneider, daß er das Melderecht ansprach.
— Ich habe es über eine Zeitung übermittelt bekommen, Herr Kollege.
— Ich wäre Ihnen dankbar, damit ich da vielleicht noch einmal in Ihrem Sündenkatalog blättern kann.
— Aber Sie haben doch diese Vorwürfe erhoben, und Sie haben wieder — nach der Methode „Haltet den Dieb!" — so getan, als habe diese Bundesregierung auf diesem Gebiete etwas versäumt.
Wie sieht die Entwicklung im Bereich des Meldewesens wirklich aus? Das ist ein Sachbeitrag; hören 'Sie ihn sich bitte an. Bis zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes galt für das gesamte jetzige Bundesgebiet die Reichsmeldeordnung vom 6. Januar 1938.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sie wurde nach 1949 durch die einzelnen Meldegesetze der Länder abgelöst, in denen durchweg eine gewisse Liberalisierung der Meldepflicht eingeführt wurde. Lassen Sie mich den Satz noch sagen, Herr Kollege Vogel. Das brachte natürlich in der Tat eine Erschwerung der polizeilichen Arbeit mit sich.
Herr Kollege Pensky, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was Sie hier vorgetragen haben, im Zusammenhang mit den Fragen des Melderechts von mir an keiner Stelle — weder schriftlich noch mündlich — gesagt worden ist, sondern daß ich im Gegenteil sehr vorsichtig die Frage aufgeworfen habe, ob es nicht sinnvoll sei, zu überlegen, ob im Zusammenhang mit dem Thema Verbrechensbekämpfung nicht auch im Bereich des Melderechts etwas getan werden kann?
Herr Kollege Vogel, ich darf dazu eines sagen. Ich habe es von einem Journalisten durchgegeben bekommen, der es in Ihrem Pressedienst, mit Ihrem Namen verbunden, dort niedergeschrieben fand.
Dieser Artikel stand im Anschluß an einen Gastkommentar, den ich vorher dieser Zeitung gegeben hatte.
Wir können uns über diese Sachfrage sicher nicht einigen. Aber wenn Sie in dieser Situation wiederum jetzt erst die Frage aufwerfen, was auf dein Gebiet des Melderechts möglicherweise versäumt worden ist, dann muß ich in der Tat fragen: Wieso fällt es der Opposition erst jetzt auf, daß dieser Zustand zwingend einer bundeseinheitlichen Neuregelung bedarf, nachdem Sie während Ihrer zwanzigjährigen Herrschaft in diesem Lande
ausreichend Zeit und Gelegenheit gehabt hätten, dies alles vorzunehmen? — Sie sagen: Alte Platte. Wenn Sie in dieser Hinsicht polemisieren, dann muß man Ihnen das doch vorhalten. Wollen Sie,
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11030 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Penskymeine Damen und Herren von der Opposition, denn etwa sagen, die Artikel 72 und 75 des Grundgesetzes, die dem Bund das Recht zu einer bundeseinheitlichen gesetzlichen Regelung dieser Frage geben, hätten nicht von Anfang an in unserem Grundgesetz gestanden? Wenn Sie das wissen — und davon gehe ich aus —, dann muß ich in der Tat fragen: Woher nehmen Sie das Recht zu dieser von Ihnen geübten, völlig ungerechtfertigten Polemik gegen diese Bundesregierung?
Ich meine, auch dies dürfte der Opposition nicht entgangen sein: Diese Bundesregierung hat die Notwendigkeit eines bundeseinheitlichen Meldewesens nicht nur erkannt, sie hat bereits am 4. Oktober 1971 diesem Hohen Hause auf Drucksache VI/2654 den Entwurf eines Gesetzes über das Meldewesen — des Bundesmeldegesetzes — vorgelegt.Meine Damen und Herren, auch das ist vielleicht Ihnen oder auch der Öffentlichkeit bekannt: Sie hat den Entwurf des Gesetzes völlig zu Recht so angelegt, daß es nicht als ein ausschließlich polizeiliches Instrument verstanden werden kann, sondern vorrangig die Funktion als Informations-Pool für eine Vielzahl von notwendigen Verwaltungsaufgaben erfüllt. Hierbei soll vor allem ein Modernisierungs-und Rationalisierungseffekt durch die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung erzielt werden.Der Gesetzentwurf, der in diesem Hohen Hause am 5. November 1971 verhandelt wurde, hat die Zustimmung aller Fraktionen gefunden. In keinem einzigen Punkt wurde auch nur der Ansatz einer Kritik laut, im Gegenteil: Herr Kollege Dr. Schneider merkte als Sprecher der Opposition unter anderem folgendes an:Die Bemühungen, ein solches Gesetz vorzulegen, laufen schon länger. Daß es erst heute geschieht, hängt mit der Schwierigkeit der Materie zusammen.Das sagten Sie, Herr Kollege Dr. Schneider. Und da frage ich Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ob etwa das, was Herr Kollege Dr. Schneider sagte, nur als eine Entschuldigung für zwanzigjähriges ergebnisloses Wursteln früherer Bundesregierungen an einem solchen Gesetz gelten sollte.Auch dieser Satz des Kollegen Dr. Schneider sollte in Erinnerung gerufen werden; er sagte nämlich in dem Zusammenhang:Ich bin aber der Meinung, daß der Entwurf eines Datenschutzgesetzes zunächst vorgelegt werden muß, daß wir ihn gründlich beraten lassen, daß wir in der Lage sein müssen, im Wege eines Anhörungsverfahrens etwa bestehende Zweifel auszuräumen, und daß jede Möglichkeit genutzt werden muß, um die schutzwürdigen Interessen der einzelnen Bürger so, wie sie im Grundgesetz verankert sind, auch tatsächlich zu berücksichtigen.
— Natürlich, Herr Kollege Schneider! Ich bestätige Ihnen gern, daß Ihr Anliegen in bezug auf einen ausreichenden Datenschutz berechtigt ist. In dieser Frage haben sich alle Fraktionen auf ein und derselben Ebene gefunden, auch der Herr Bundesinnenminister. Es war nur eine Frage des Procedere, ob man das Bundesmeldegesetz schon beraten kann oder ob man es so lange auf Eis legen muß, nachdem Sie gesagt haben, zuerst müsse die Vorlage eines Datenschutzgesetzes erfolgen.Herr Kollege Benda, der damals noch diesem Hause angehörte, sagte dazu: „Das ist ein ungeheuer schwieriges Problem." Ich glaube, darin kann man ihm beipflichten. Ich könnte mir nicht denken, daß Ihr früherer Fraktionskollege, der heute höchste Bundesrichter, insoweit eine falsche Feststellung getroffen hätte. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich bin sicher, daß diese Bundesregierung — um mit dem Kollegen Benda zu sprechen — auch in absehbarer Zeit in der Lage sein wird, dem ungeheuer schwierigen Problem gerecht zu werden und einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen.Was bleibt also nach dieser jederzeit nachprüfbaren Tatsachenbeschreibung als Schlußfolgerung übrig, meine Damen und Herren? Entweder haben einige Kollegen der Opposition über weite Strecken hier gefehlt, als es um die Behandlung solch wichtiger Fragen ging — dann hätten sie, meine ich, doch schweigen sollen —, oder aber Sie betreiben draußen im Lande eine bewußte Irreführung der Bevölkerung, um diese Regierung madig zu machen, koste es eben, was es wolle.
Meine Damen und Herren, der Präsident zeigt mir gerade an, daß ich nur noch fünf Minuten sprechen darf. Gern hätte ich noch etwas von dem gesagt, was die Regierung geleistet hat. Denn sie war von Anbeginn ihrer Tätigkeit mit Nachdruck um eine Verbesserung der inneren Sicherheit bemüht. Das ist heute von dem Herrn Bundesminister des Innern deutlich gemacht worden, und ich brauche es nicht zu wiederholen. Gerade die Zahlen, die in bezug auf die personelle und materielle Ausstattung des Bundeskriminalamtes genannt worden sind, sprechen wohl eine eigene Sprache. Und dieses Sofortprogramm ist noch durch ein Schwerpunktprogramm aufgestockt worden; auch das ist im einzelnen von dem Herrn Bundesminister des Innern vorgetragen worden.Meine Damen und Herren, worauf es etwa beim Bundeskriminalamt ankommt — und nur für das haben wir ja als Bund die unmittelbare Zuständigkeit —, ist, daß wir beispielsweise die Zentrale des Bundeskriminalamtes, wo heute noch — und das muß ich sagen — wegen Ihrer Versäumnisse mit Opas Karteikästen gesucht und gearbeitet wird, wo Millionen von kriminalpolizeilich wichtigen Daten liegen, die einfach für die Polizeien draußen verlorengehen, weil Sie es versäumt haben, sich rechtzeitig einer neuen Technik anzuschließen, zu einer wirksameren Institution machen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11031
PenskyIch darf darauf verzichten, noch auf all das einzugehen, was hier zu dem gesagt worden ist, was die Regierung im Rahmen des Sofortprogramms getan hat. Ich verweise nur auf das, was der Minister ausführte.Allerdings möchte ich einen Punkt hervorheben, meine Damen und Herren. Das Ziel unserer Kriminalpolitik ist schwergewichtig die Prävention. Das heißt, wir bauen auf dem Grundsatz auf, daß Verbrechensverhütung die beste Verbrechensbekämpfung darstellt. In diesem Sinne sind auch die Entwürfe zu verstehen, die die Regierung vorgelegt hat und die wir beraten; die gesetzlichen Regelungen zur Beschleunigung der Strafverfahren, das Bundeswaffengesetz, das Bundesgrenzschutzgesetz und das Gesetz über den Verfassungsschutz.Wegen der fortgeschrittenen Zeit möchte ich es mir auch hier ersparen, auf Einzelheiten einzugehen. Ich darf deshalb all das überschlagen, was ich dazu noch gern gesagt hätte.Meine Damen und Herren, Voraussetzung für den Bundesgrenzschutz ist — das möchte ich noch sagen, und darüber werden wir uns sicherlich einig —, daß wir ihn insgesamt nach Ausbildung und Ausstattung zu einem polizeilichen Instrument machen, das dann eben nach ausschließlich polizeilichen Grundsätzen ein verstärktes Sicherheitspotential für uns alle darstellen kann.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen und lassen Sie mich abschließend nur noch eines sagen. Die Kriminalitätsentwicklung haben wir bisher nicht auf die leichte Schulter genommen, und wir werden das auch künftig nicht tun. Andererseits müssen wir, meine ich, auch wissen, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht etwa ein Eldorado für Rechtsbrecher darstellt. Die Verbrechensentwicklung, wie sie bei uns zutage tritt, ist weitgehend identisch mit dem, was alle anderen Staaten in West und Ost zu verzeichnen haben. Patentrezepte dagegen gibt es nicht. Wir wissen aber, daß eines sicherlich kein Rezept wäre: Hysterie. Zu ihr besteht auch kein Anlaß. Wer ständig und immer wieder draußen davon redet, in unserem Lande könnten Verbrechen ohne große Gefahr der Erfassung begangen werden, der ermuntert nur charakterschwache Menschen zur Begehung von Straftaten und erreicht damit genau das Gegenteil von dem, wozu wir alle aufgerufen sind: zur Verhütung von Verbrechen beizutragen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lenz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte noch einmal auf einen Satz zurückkommen, den der Herr Bundesminister des Innern heute morgen gesprochen hat, und mich auf diesen einzigen Punkt konzentrieren; denn ich habe in der Tat mit manchen meiner Vorredner den Eindruck, daß die Debatte etwas auseinanderläuft. Der Satz des Herrn Bundesinnenministers war der folgende:Das zentrale Problem, mit dem sich alle Demokraten auseinanderzusetzen haben, ist die vorbehaltlose Ablehnung der Anwendung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung.
Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist der Punkt, um den es geht. Der Bundesinnenminister fuhr sinngemäß dann fort: Es hat eine zunehmende Enttabuisierung der Gewaltanwendung stattgefunden, die nicht nur die Täter erfaßt, sondern vor allem auch eine breitangelegte Umgebung, die unter anderem ihr Verhalten zu bagatellisieren versucht.Ich möchte mich der Frage zuwenden, ob nicht Teile der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien sich an diesem Versuch beteiligt haben.
Natürlich haben Regierung und Koalitionsparteien die scheußlichen Gewaltakte der letzten Zeit verurteilt, und ich bin auch vollkommen davon überzeugt, daß sie das aus voller innerer Überzeugung getan haben. Aber das genügt nicht. Es ist nicht nur erforderlich, einen klaren Trennungsstrich gegenüber solchen zu ziehen, die Sprengstoffattentate zum Mittel politischer Auseinandersetzung gemacht haben, sondern dieser klare Trennungsstrich muß auch gegenüber allen gezogen werden, die Gewalt gebrauchen, sie predigen oder auch nur als Mittel der politischen Auseinandersetzung dulden.Der Herr Bundeskanzler hat jedoch in dieser Beziehung, wie ich glaube, kein gutes Beispiel gegeben. Am 19. Dezember 1970 hat er eine Amnestie für die sogenannten Demonstrationsdelikte mit den Worten angekündigt — ich zitiere wörtlich —:Einige tausend junge Menschen sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten.Und dann ging es weiter:Manche Zusammenstöße wären vermeidbar gewesen, wenn die diesbezüglichen Bestimmungen unseres Strafgesetzbuches nicht fast 100 Jahre alt wären und aus der Zeit des Obrigkeitsstaates stammten.Also nicht etwa die Täter, meine Damen und Herren, sondern die Gesetze waren schuld.Auf diesem Hintergrund, Herr Bundeskanzler, ist wohl jener Leitartikel in der „Rhein-Neckar-Zeitung" zu verstehen, der unter dem Titel „SPD und Attentate" folgenden Satz enthielt:Jedenfalls genügt es nicht, daß Genosse Bundeskanzler verblüffte und empörte Worte nach dem Attentat ausspricht, aber sonst die Schläge der Strukturrevolutionäre als Jugendstreiche hätschelt und mit Komplimenten an die Jugend herunterspielt.Auch heute hat dieses eindeutige Bekenntnis, Herr Bundesinnenminister, daß die Integration von extremen Kräften dort aufzuhören hat, wo die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung eingeführt wird — da beginnt dann die Unterwande-
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11032 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Dr. Lenz
rung, und die Integration hört auf —, leider in dieser Deutlichkeit gefehlt.Es genügt auch nicht, Herr Bundeskanzler, daß dann ein Parteiordnungsverfahren gegen den Genossen Chefredakteur der Zeitung angekündigt wird, um auf diese Weise die Frage vom Tisch zu bringen.
Der zweite Punkt, Herr Bundeskanzler, in dem Sie persönlich anzusprechen sind, sind die Äußerungen Ihres Staatssekretärs Conrad Ahlers vom Februar 1970. Er hat damals Verständnis für die gewaltsamen Methoden der Anti-Springer-Demonstranten des Jahres 1968 geäußert. Sie haben, glaube ich, die Sache damit erledigt, daß Sie gesagt haben, ihm sei der Gaul durchgegangen. Herr Bundeskanzler, auch dieses genügte wohl nicht ganz als Distanzierung für die öffentliche Äußerung eines Mitglieds Ihrer Regierung, das Gewalttaten gerechtfertigt hatte.
— Ja, das ist ein anderes Kapitel, Herr Kollege Marx; das wollen wir ein anderes Mal behandeln.Das Verhalten der Parteispitze der SPD ist im Lande nicht unbemerkt geblieben. In Frankfurt wurde der Polizeipräsident Littmann aus dem Amt gedrängt, weil er im Gegensatz zu Ihnen, Herr Bundeskanzler, kein Verständnis gegenüber Gesetzesverletzungen bei Demonstrationen bewiesen hatte. Sein Nachfolger ist da schon vorsichtiger. Bei einer kürzlich vom AStA der Universität Frankfurt und dem Kommunistischen Studentenbund veranstalteten Vietnam-Demonstration kam es zu schweren Ausschreitungen. Die Büros der israelischen Luftfahrtgesellschaft El Al, der spanischen Gesellschaft Iberia, des US-Handelszentrums und spanische Banken wurden beschädigt. Der Schaden ging in die Hunderttausende. Frankfurts Polizeipräsident Knut Müller, der Nachfolger Littmanns, erklärte, nach der Rechtslage sei unzweifelhaft eine Auflösung der gewaltsamen Demonstration geboten gewesen. Aber geschehen ist nichts. Der Herr Polizeipräsident meinte, die Polizeikräfte hätten nicht ausgereicht. Andere meinen: Ausgereicht hätten sie schon, aber gedurft hätten sie nicht.
Oder anders ausgedrückt, Herr Präsident: Wollen haben sie schon können, aber können haben sie nicht dürfen.
Herr Bundeskanzler, Ihr Parteifreund Rendtorf in Heidelberg hat sich geweigert, unseren Kollegen Dichgans dorthin einzuladen und ihm die Möglichkeit zu geben, seine hochschulpolitischen Vorstellungen vor Heidelberger Studenten darzulegen,
und zwar mit der Begründung, die Forderung von Dichgans anzunehmen hieße die Heidelberger Studentenschaft bewußt provozieren.
Statt dessen hat er Herrn Peter Bruckner die Gelegenheit gegeben, dort öffentlich aufzutreten,
meine Damen und Herren, denselben Peter Brückner, von dem der Bundesminister des Innern heute morgen gesagt hat, er gehöre zu den geistigen Urhebern jener Gewaltenentschuldigungskampagne in diesem Lande.Meine Damen und Herren, ob Herr Brückner noch weiter Vorträge an deutschen Universitäten halten will, ist unbekannt. Bekannt dagegen wurde, daß er sich mit unbekanntem Ziel aus Hannover entfernt hat, obwohl er gehalten ist, sich bis zur Klärung der gegen ihn im Zusammenhang mit der BaaderMeinhof-Bande erhobenen Vorwürfe regelmäßig bei der Polizei zu melden.
Meine Damen und Herren, dies ist ein Punkt, bei dem ich noch einen Augenblick bleiben muß. Denn der Dienstherr dieses Peter Brückner ist der niedersächsische sozialdemokratische Kultusminister von Oertzen. Dieser Herr von Oertzen hat soeben ein Disziplinarverfahren gegen den Herrn Jürgen Seifert eingestellt. Dieses Disziplinarverfahren hatte folgenden Anlaß; das muß ich glaube ich, vorlesen. Es heißt in der Rede, die Herr Seifert am 25. Januar in Hannover anläßlich eines „Peter-Brückner-Tribunals" — so, glaube ich, nannte sich das — gehalten hat, folgendermaßen:Die politischen Motive einer Ulrike Meinhof sind der Praxis derjenigen hundertmal mehr vorzuziehen, die durch die Art der gegenwärtigen Verfolgung dazu beigetragen haben, daß in diesem Lande erneut Gestapo-Methoden für legitim gehalten werden können.
Nicht die Rote-Armee-Fraktion hat an den Fundamenten des Staatswesens gerüttelt, sondern eine Praxis der Strafverfolgung, die im Kampf gegen die Gruppe Baader-Meinhof die rechtsstaatliche Ordnung Stück für Stück ausgehöhlt hat.Meine Damen und Herren, das ist die Schilderung, die der Herr Seifert von dem Vorgehen des Bundesministers des Innern, das wir heute morgen hier belobigt haben, gegeben hat. — Nach einigen Passagen geht es dann wie folgt weiter:Wo ist die liberale Presse, die sagt: Das läuft alles ab wie ein Schauprozeß? Der Düsseldorfer Prozeß enthält wenigstens im Ansatz die Verfahrensweisen, die die von Stalin inszenierten Schauprozesse kennzeichnen. In diesem Prozeß geht es denjenigen, die für dieses Verfahren in
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11033
Dr. Lenz
erster Linie verantwortlich sind, nicht um den Angeklagten Ruhland, sondern um die Diffamierung und Kriminalisierung Dritter und der politischen Linken insgesamt.Meine Damen und Herren, dies ist ein Urteil über einen Kriminalprozeß im Jahre 1972 in der Bundesrepublik Deutschland
durch einen Beamten des Landes Niedersachsen, der den Eid auf die Verfassung dieses Staates geschworen hat.
— Das ist der niedersächsische Kultusminister, der der SPD angehört.
— Das ist der Landesvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei in Niedersachsen. Das erklärt vielleicht auch, daß die Sache politisch einige Schwierigkeiten hat. Denn der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, der Herr Kubel, hält die Äußerungen von Professor Seifert für absolut unerträglich.
Er müßte also einen Minister, der einen solchen Mann laufen läßt, ebenfalls absolut unerträglich finden. Aber weil der Herr von Oertzen der Landesvorsitzende ist und der Herr Kubel nur der Herr Ministerpräsident, muß sich eben der Herr Kubel mit seinen verbalen Protesten begnügen.
— Ja, das möchte ich sagen, ein innerparteiliches Süppchen, Herr Kollege von Thadden.Meine Damen und Herren, es wäre vielleicht auch nicht verkehrt, dem Hause hier zur Kenntnis zu geben, was der Herr Bundesminister des Innern zu der Einstellung des Verfahrens in Hannover geäußert hat. Ich entnehme der „Welt" vom 2. Juni 1972 folgendes wörtliche Zitat des Herrn Bundesministers:Wenn die Meldung über die Einstellung des Verfahrens mit dieser Begründung richtig ist, dann möchte ich dazu sagen, daß ich dafür kein Verständnis habe. ...
Ich weise zurück, daß irgend jemand, der in diesem Staat Verantwortung für die innere Sicherheit trägt, mit Gestapo-Methoden vorgehen wolle. Diese Äußerung ist eine beispiellose Diffamierung des demokratischen Rechtsstaates, der für seine Sicherheit Verantwortlichen und der in der Polizei Tätigen. Zugleich bedeutet sie eine Rechtfertigung der Motive der Baader-Meinhof-Bande für ein verbrecherisches Tun, bei dem Menschenleben aufs Spiel gesetzt wurden.Ich glaube, diesen Worten des Bundesinnenministers ist von Worten her wenig hinzuzufügen, nur von Taten müßte da wohl noch einiges folgen.
Es erübrigt sich eigentlich, nachdem wir den Herrn Ministerpräsidenten zitiert haben, noch die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen, Göttingen, zu zitieren, die die Reaktion der niedersächsischen Landesregierung auf die Rede von Herrn Seifert als unangemessen bezeichnet hat.Herr von Oertzen — ich bin mit dem Kapitel noch nicht zu Ende — hat auch ein klares politisches Urteil über die vom Bundesinnenminister verfügte Einreisesperre für den belgischen Trotzkisten Ernest Mandel. Auf einem teach-in in Hannover hatte dieser es als eine „unglaubliche Schweinerei" und ein „grobes Unrecht" bezeichnet und weiter geäußert, er würde es sehr begrüßen, wenn Mandel an einer niedersächsischen Hochschule lehren könnte.Nun ist Herr Mandel nicht nur ein Mann, der die verfassungsmäßigen und durch demokratische Wahl legitimierte Organe der Bundesrepublik Deutschland gewaltsam beseitigen und durch eine neue, nicht demokratische Ordnung ersetzen will — wer sich darüber informieren will, dem kann ich nur die Lektüre des lesenswerten Flugblattes des Berliner Wissenschaftssenators Stein empfehlen, der die einschlägigen Lehrmeinungen von Herrn Mandel zusammengestellt hat; eine Lektüre, die sich wirklich lohnt —, sondern Herr Mandel hat es auch in verschiedenen öffentlichen Äußerungen abgelehnt, sich von der Tötung Unbeteiligter durch sogenannte Stadtguerillas zu distanzieren.
All diese Umstände genügen offenbar nicht, um den niedersächsischen Kultusminister und Landesvorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands über die Eignung dieses Herrn als Lehrer für die akademische deutsche Jugend hinreichend aufzuklären.
— Herr Kollege Matthöfer, das Thema Brückner ist nicht von mir in die Debatte eingeführt worden. Der Herr Bundesinnenminister hat das getan. Ich wollte das nur noch ein bißchen klarerstellen.
— Nun, das ist nicht so wichtig, Herr Kollege. Ich pflege das zu sagen, was ich für richtig halte, egal ob das Fernsehen dabei ist oder nicht.
Wir haben 66 Stunden hinter verschlossenen Türen über die Ostverträge verhandelt. Sie werden mir jetzt die paar Minuten gönnen, über dieses die Öffentlichkeit interessierende Thema zu sprechen.Herr von Oertzen steht mit seinem Urteil über das Einreiseverbot gegenüber Herrn Mandel nicht allein. Auch die von dem hessischen Justizminister — jetzt werde ich hessischer Landtagsabgeordneter —
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11034 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Dr. Lenz
geleitete Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen mißbilligte das von der Bundesregierung gegen Mandel verhängte Einreiseverbot.
In dieser Arbeitsgemeinschaft wirkt dann auch der vom niedersächsischen Justizminister Schäfer zum Oberlandesgerichtspräsidenten von Braunschweig ernannte frühere Frankfurter Landgerichtspräsident Wassermann an führender Stelle mit.
Der wohl schwerwiegendste Aspekt von Gewaltanwendungen zur Durchsetzung politischer Ziele sind die Zustände an unseren Hochschulen. Zwar kann man fast täglich von gewaltsamen Aktionen dort lesen, z. B. am 4. Juni 1972: Die Rote Hilfe, die den Sprengstoffanschlag auf das Hauptquartier des 5. amerikanischen Korps gebilligt hat, bei dem ein Amerikaner getötet wurde, hatte bei der Frankfurter Universitätsverwaltung Räume für eine Veranstaltung beantragt, aber nicht erhalten. Nachdem sie versagt worden waren, tagte die Rote Hilfe mit 800 Personen ungestört in der Universität, nachdem eine Tür aufgebrochen worden war.5. Juni 1972 — das ist der nächste Tag —: Etwa 100 Studenten verschafften sich mit Gewalt Eintritt in das Gebäudde des Germanischen Seminars der Freien Universität Berlin. Das Haus war von Präsident Kreibich für zwei Tage geschlossen worden. Herr Kreibich hat im Gegensatz zu seinem Frankfurter Amtskollegen dieses Mal die Polizei gerufen.Wenn Sie diese Verhältnisse jedoch in der Darstellung des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft lesen, liest sich das deutsche Hochschulleben wie eine wahre Idylle. Dort können Sie erfahren, daß mehr als 99 % aller Vorlesungen ungestört bleiben. Ob die Zahlen überhaupt stimmen, ist umstritten. Sicherlich sind sie jedoch nicht kennzeichnend für die Situation. Nach dem Urteil des bayerischen Kultusministers — —
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie zum Schluß zu kommen.
Dr. Lenz [Bergstraße] : Jawohl. — Nach dem Urteil des bayerischen Kultusministers hat es seit dem Angriff auf jüdische Gelehrte in den Jahren nach 1931 einen derart systematischen Anschlag auf die Lehr- und Forschungsfreiheit verfassungstreuer Hochschullehrer durch verfassungsfeindliche Kräfte wie in den Jahren seit 1968 nicht gegeben. Maier hat auch völlig recht, wenn er meint, es komme nicht darauf an, wieviel Prozent Lehrveranstaltungen gestört worden seien. Entscheidend ist, daß diese Störungen bisher weitgehend sanktionslos geblieben sind und weiter bleiben.
Es tut mir sehr leid, daß ich diese Liste nicht noch weiter fortsetzen kann. Es wäre noch einiges vom SHB zu berichten gewesen und z. B. von einer Aufforderung, die Gesetze, die die Anmeldung von Demonstrationen vorschreiben, lächerlich zu machen; darüber sollte man hier im Klartext sprechen.
Vorhin ist Kritik daran geübt worden, daß Herr Kollege Vogel den Herrn Köpping zitiert hat. Ich kann nur sagen: diese Kritik ist unberechtigt. In einem demokratischen Rechtsstaat ist es die Aufgabe der Regierung, dafür zu sorgen, daß die Gesetze angewendet werden ohne Punkt und ohne Komma und ohne Wenn und ohne Aber.
Ich möchte noch einen Punkt mit zwei Sätzen ansprechen: die von Ihnen, Herr Bundeskanzler, verkündete Amnestie des Jahres 1970. Es nutzt überhaupt nichts, hier Gewalttaten zu verurteilen, wenn die Täter hinterher amnestiert werden.
Dies, Herr Bundeskanzler, war kein Wort, das war eine Tat. Rund 6000 Personen, die wegen strafbarer Handlungen von den Gerichten, von den Staatsanwaltschaften verfolgt wurden, sind infolge dieses Gesetzes auf freien Fuß und außer Verfolgung gesetzt worden.
Sie haben, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung gesagt, die strikte Beachtung der Formen parlamentarischer Demokratie sei selbstverständlich. Dann ist es völlig unverständlich, warum ausgerechnet diejenigen amnestiert worden sind, die diese Form in eklatanter Weise mißachtet haben.
Der Bundesminister des Innern hat heute morgen gesagt, unsere freiheitliche Grundordnung bestehe aus--
Kommen Sie bitte zum Schluß!
Jawohl. Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident. — Unsere freiheitliche Grundordnung beruht auf dem Gewaltverbot. Ich habe den Eindruck, meine Damen und Herren: um diese Politik durchzuführen, ist der Herr Bundesminister des Innern in der falschen Koalition.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und meine Herren! Das ist schon ganz in Ordnung mit der Koalition, Herr Kollege Lenz; denn der Herr Bundesinnenminister ist der erste Innenminister dieses Landes gewesen, der nicht irgendwelche Versprechungen gemacht hat, irgendwelche Pläne vorgelegt hat, sondern der auf eine sehr stolze Bilanz einer ganz kurzen Regierungszeit verweisen kann,
was die Bekämpfung des Verbrechens in diesem Lande angeht.Ihre Vorwürfe im vorletzten Absatz Ihrer Rede, Herr Lenz, richten sich doch ganz offensichtlich gegen
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Kleinertdie Regierungen von Bayern, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und einigen anderen Ländern, die ausschließlich für die Ruhe und Ordnung an ihren Hochschulen zuständig sind,
während diese Bundesregierung beim allerbesten Willen nicht das geringste ändern kann.
Es ist sicherlich als rhetorische Schulung ganz gut, was wir heute den ganzen Tag hier gemacht haben. Es war ja auch einiges ganz begeisternd zu hören. Aber wenn man das einmal nachliest und wenn dann der Tonfall der scharmanten Kollegen von der Opposition und ihre Art der Betonung oder der sprachlichen Leistungen beim Nachlesen dieser Geschichte wegfällt, dann werden wir uns verzweifelt fragen, warum wir heute vom Morgen bis zum Abend diese Sätze ausgetauscht haben, die dann auf Papier ganz trocken aussehen werden und deren Inhalt fast Null ist, wenn man bedenkt, daß hier zunächst einmal eine Erklärung des Bundesinnenministers abgegeben worden ist, der das ganze Haus — und besonders nachdrücklich die Opposition — Beifall gezollt hat. Man hätte es an sich schon mit der Feststellung der allgemeinen Einigkeit über das, was hier zu geschehen hat und bereits geschehen ist, bewenden lassen können.
Denn alles, was danach noch von Ihnen gekommen ist,
war der verzweifelte Versuch, mit schlechtem Gewissen über das, was Sie in der Vergangenheit alles unterlassen haben — im Bewußtsein der Tatsache, daß Sie den Bundesinnenminister als einzig Zuständigen weder angreifen können noch angreifen wollen —, jetzt doch noch etwas herauszufinden, was Sie dieser Regierung anhängen können. Dieser Versuch ist gründlich mißlungen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?
Herr Kollege Kleinert, darf ich das, was Sie soeben ausgeführt haben, als ein Plädoyer für die Auffassung Ihres Parteivorsitzenden nehmen, daß man auch ohne Parlament regieren könne?
Wissen Sie, wer Walter Scheel so gut kennt wie wir alle,
der weiß ganz genau, was er damit gemeint hat und erkennt auf den ersten Blick, daß der überaus demokratische Walter Scheel
— gerade das Urbild eines diskussionsfreudigen Liberalen — natürlich jeden Tag beweinen würde, an dem er diese Kunst nicht üben könnte, und der deshalb von einer Ausnahmesituation gesprochen hat, die Sie nicht dazu berechtigt, diesen Satz — hier jetzt aus dem Zusammenhang gerissen — in einen völlig anderen Zusammenhang hineinzustellen.
von dem Sie natürlich wissen, wo er in Wirklichkeit hingehört. Also, das war ja nichts!
— Wissen Sie, ich kann Ihnen das zeigen. Ich weiß nicht, ob Herr Schneider uns einmal zeigen möchte, wie seine Arbeitsunterlage für die Vorlesung, die er hier zum besten gegeben hat, ausgesehen hat.
Ich möchte einmal sagen: er hieß nicht von Oertzen, sondern er hieß Held, bayerischer Minister der Justiz. Dem „Münchener Merkur" vom 27. Mai ist zu entnehmen, daß nicht nur die Gaststube, sondern auch das Nebenzimmer des Gasthauses „Mally" in Au kaum ausreichten, um die Besucher zu fassen, die gekommen waren, um Dr. Held zu dem Thema „Die wachsende Kriminalität — ein Problem unserer Gesellschaft" zu hören. Dieses Problem hängt nach Ansicht von Dr. Held eng mit der gegenwärtigen Reformfreudigkeit zusammen. So berichtet der „Münchener Merkur". Das ist natürlich eine phantastische Auffassung von der Geschichte!
Ich trage Ihnen das hier nicht nur der Kuriosität halber vor und der idyllischen Umstände wegen, die hier so nett von Ihrem bayerischen Hausblatt geschildert sind,
— das rechnen wir ja gar nicht voll —,sondern ich sage Ihnen das deshalb, weil ich Sie jetzt mit allem Ernst darauf hinweisen muß, daß sich Herr Held hier nicht nur geirrt hat, sondern daß er — sicherlich ohne das zu wissen — den Finger genau auf die Wunde gelegt hat:
Zu lange verschleppte Reformen, zu lange angestautes Unbehagen in unserer Jugend haben zu den Zuständen geführt, die mit Höhepunkt in den Jahren 1967 und 1968, nicht irgendwann nach 1969, zu den Ereignissen geführt haben, die Sie hier so lautstark beklagen und so in Zusammenhänge hineinbringen, als ob die Bundesregierung damit etwas zu tun hätte. Wenn Sie in den 50er Jahren in den Länderparlamenten durch Ihre Freunde an StelleKleinertvon katholischen Zwergschulen jeweils fünf zusätzliche Universitäten gebaut und damit die Überschaubarkeit des Univeristätsbetriebs aufrechterhalten hätten,
dann wäre es zu den Entwicklungen, die wir jetzt haben, mit Sicherheit nicht gekommen.
Ich habe mich sehr gefreut, heute vom bayerischen Innenminister hier zu hören — und ich habe deshalb auch ganz dezidiert Einzelbeifall gespendet —, daß das Bundeskriminalamt bei allen bundesweiten Aktionen im Bereich der Strafverfolgung selbstverständlich führend sein soll und muß. Das ist aber keine so ganz alte Erkenntnis, sondern es ist in Protokollen des Bundesrates nachzulesen, daß sich seinerzeit Bayern auch nur der Einrichtung eines Bundeskriminalamtes nachdrücklich widersetzt
und seine Zustimmung verweigert hat.Das alles stand doch am Anfang, und nun sollen wir in den zweieinhalb Jahren alles in Ordnung gebracht haben! Jedenfalls sind wir in der glücklichen Lage, hier nicht mit Behauptungen operieren zu müssen, sondern wir können vorzeigen, was geschehen ist; der Innenminister Hans-Dietrich Genscher hat es dargelegt. Das Personal des Bundeskriminalamtes ist verdoppelt worden.
Die zur Verfügung gestellten Mittel sind in einem Maße erhöht worden, wie das nie zuvor der Fall war.Das alles wäre als nur materielle Leistung nichts, wenn nicht zu spüren wäre, daß auch der Geist der Arbeit, die dort geleistet wird, erheblich verbessert worden ist, daß in diesen Jahren sehr gute und wirkungsvolle Methoden der Zusammenarbeit entwickelt worden sind und daß sich nun von den Mitgliedern des Kerns der Baader-Meinhof-Gruppe/ Bande — bitte, zur Auswahl, der Baader-MeinhofBande also — seit heute nur noch zwei Personen auf freiem Fuß befinden.Das sind Dinge, die man vorzeigen kann, in einem Bereich, der die Kriminalisten vor völlig neue Aufgaben gestellt hat, der sie — wie allseits anerkannt worden ist — vor Probleme gestellt hat, die wegen der Motivation der Taten und wegen der beklagenswert breiten Sympathisantenschaft in gewissen Kreisen der Bevölkerung, die das entweder für chic halten oder nicht wissen, was sie tun, völlig neu waren. Trotz dieser Unterstützung so schnell zu einem solchen Erfolg zu kommen, war immerhin etwas, was sich mit Verdächtigungen nicht wegdiskutieren läßt.Wenn wir hier so einig sind, dann doch bitte nicht nach der Methode „But Brutus was an honourable man". Wir können tatsächlich nur dann nachhaltigeErfolge in der Verbrechensbekämpfung und auf den anderen Gebieten der inneren Sicherheit erzielen, wenn wir wirklich entschlossen sind, keine parteipolitischen Geschäfte mit all diesen Fragen zu machen, sondern in höchster Sachlichkeit und Objektivität nach einer Verbesserung der Methoden und der Gesetze zu suchen.Wenn der Oppositionsführer, Herr Barzel, vorhin hierhergegangen ist und den Kanzler gebeten hat, er möge doch ausdrücklich erklären, daß er Gewalt ablehnt, dann ist das meiner Ansicht nach, Herr Barzel, nicht die Art, hier zur Gemeinsamkeit zu kommen, und es ist schon gar nicht die Art des feinen Mannes; denn Sie verlangen ja auch von niemandem, der Ihnen gegenübertritt, daß er zu Beginn der Unterhaltung erst einmal erklärt, er habe sich am Morgen schon ordentlich gewaschen! Das ist genauso selbstverständlich!
Deshalb, so meine ich, sollten wir wirklich davon ausgehen, daß wir da alle dieselben Ansichten vertreten und zu denselben vernünftigen Zielen gelangen wollen, und wir sollten diese Verdächtigungen unterlassen. Wenn der Bundesinnenminister, und zwar aus sehr gutem Grunde, auf die besondere Aufgabe der Parteien hingewiesen hat, Randgruppen der Gesellschaft, die — alleingelassen — sich bestimmt weiter radikalisieren, in einem sehr schweren, sehr schmerzlichen Prozeß, der viel Arbeitskraft und Nerven für alle Beteiligten kostet, zu integrieren, dann hat er nicht etwa nur von der SPD, nicht von dem Schreckgespenst Jusos und dergleichen gesprochen, sondern er hat gewiß auch bedacht, daß es auf der rechten Seite unseres politischen Spektrums ebensolche Gruppen gibt, die nach dem Auflösungsprozeß in der NPD deutlich dabei sind, sich — je kleiner und je vielfältiger sie werden — ebenfalls zu radikalisieren.Wenn wir im baden-württembergischen Wahlkampf oder anderwärts gelegentlich Ihre Partei verdächtigt haben, sie wolle von der NPD profitieren, bedaure ich das, auch soweit ich das getan haben sollte. Das kommt in der Hitze des Gefechts mal vor. Man muß dann auch bereuen können; ich bereue insoweit. Sie müssen natürlich genauso integrieren wie die anderen auch. Das gilt so herum und auch so herum. Sie können nicht hergehen und immer auf andere zeigen, statt erst einmal ganz gründlich bei sich selbst zu kehren. Wir verübeln Ihnen die NPD-Stimmen also nicht, sondern wir bedanken uns für Ihre Integrationsleistung. Das ist doch auch etwas!
Das gleiche gilt natürlich für Gruppe/Bande. Das ist ein „dolles" Problem, das Sie da ausgegraben haben. Alle Juristen wissen, daß es das Delikt gibt und daß dabei rechtstechnisch der Ausdruck Bande gebraucht wird. Entsprechend wird das auch, solange es sich um Rechtsuntersuchungen oder um irgendwelche Ermittlungshandlungen handelt, von den Juristen nur so gebraucht. Wenn nun irgend jemand
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11037
Kleinerthergeht und eine Gruppe eine „Gruppe" nennt, ändert das doch nichts!
Dann gehen Sie aber gleich her und schreien: Moment mal, der hat die alle furchtbar lieb, deshalb nennt er sie „Gruppe".
- Ein „Sympathisant", genauso ist es. Natürlichwissen Sie, daß es so nicht ist; aber Sie halten sich an solche kleinen Spiele, um bei denen, die es vielleicht nicht so deutlich sehen und verstehen können, wieder dieses Mißtrauen zu erzeugen. Ich sage Ihnen: uns ist es ganz gleich, ob es Gruppe heißt oder Bande; die Hauptsache ist, alle Angehörigen sind eingesperrt!
Dafür werden wir uns weiterhin einsetzen, so wie das bisher geschehen ist. Da können Sie so lange kratzen, wie Sie wollen, das ist nicht nur Politur, was wir hier an Sicherheitspolitik vorzuzeigen haben, sondern das ist eine ganz harte stabile Sache, da ist auch mit Kratzen nichts zu machen.
Das Wort hat Bundesjustizminister Jahn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte wird als eine Debatte geführt, in der Fragen der inneren Sicherheit erörtert werden sollen. Leider — das ist ein erstes Fazit, das nun einmal gezogen werden muß — haben wir über die Vorstellungen der Opposition, wie Sie mit diesem Problem fertigwerden wollen, heute sehr wenig, um nicht zu sagen gar nichts, außer Feststellungen von Dingen, die Ihnen nicht gefallen, gehört. Nun gut, da könnte man von der anderen Seite auch eine ganze Menge sagen, was einem nicht gefällt.
Das erspart Ihnen nur nicht, selber hier deutlich zu sagen, wie Sie denn mit dieser Frage fertigwerden wollen.
Ich habe zwei Bemerkungen, die in dieser Debatte gefallen sind, zunächst einmal richtigzustellen. Herr Kollege Barzel, Sie haben hier der Wahrheit zuwider — muß ich leider sagen — behauptet, ich hätte die Tatsache, daß die Opposition einen Antrag zum Haftrecht eingebracht habe, als ein Geschäft mit der Angst bezeichnet.
Dies ist nicht wahr; gesagt habe ich: Die Art und Weise der Begründung ist so zu bezeichnen, wie ich das soeben hier noch einmal wiederholt habe. Dieses und nicht mehr. Sie sollten in einer in der Tat nicht einfachen, sondern schwierigen Frage nicht durch eine Verschiebung dessen, was hier gesagt ist — ich drücke das jetzt sehr höflich aus —, einen völlig falschen Eindruck zu erwecken versuchen.
Das zweite, was ich hier klarstellen muß, sind die Bemerkungen des Kollegen Dr. Lenz über die Fragen der Demonstrationsstraftaten und der damit verbundenen Amnestie. Herr Kollege Lenz, Sie wissen genau, daß wir uns damals mit zwei Problemen auseinanderzusetzen hatten. Das Problem 1 war, daß das damals geltende Demonstrationsstrafrecht in seiner uferlosen und auf wilhelminischen Vorstellungen beruhenden Form überhaupt nicht geeignet war, den tatsächlichen Schwierigkeiten gerecht zu werden, insbesondere der Polizei nicht die Möglichkeit gab, auf einer eindeutigen unumstrittenen und klaren Rechtsgrundlage zu operieren.
Auf Grund dieses Tatbestandes hatten wir Tausende und aber Tausende von Strafverfahren in dem Zeitpunkt anhängig, als hier das Dritte Gesetz zur Reform des Strafrechts, des Demonstrationsstrafrechtes, verabschiedet worden ist. Wie in allen anderen Fällen haben wir mit der Verabschiedung dieses Dritten Strafrechtsreformgesetzes eine Amnestie für alle die Straftaten verbunden, die nach der Meinung dieses Hauses, zumindest seiner Mehrheit, in Zukunft nicht mehr strafbar sein sollten. Wir haben damit, weil eine reinliche Trennung nicht möglich war, auch eine Amnestie für den großen und weiten Bereich leichter — nicht schwerer — Straftaten im Zusammenhang mit den Demonstrationen verbunden. Wir haben das damals damit begründet, daß es notwendig sei, zu differenzieren und zu entsolidarisieren. Wir haben es damals damit begründet, daß es notwendig sei, für die Zeit bis zum 31. Dezember 1969 — denn nur die vorherliegende Zeit kam dafür in Frage — einen Beitrag zur inneren Befriedung zu leisten.
Ich stelle fest, daß diese Ziele, die wir uns damals selber gesetzt haben, voll und ganz erreicht worden sind. Sie können nicht bestreiten, daß die Zahl der gewalttätigen Demonstrationen seither entschieden zurückgegangen ist, daß all die Belastungen, die wir in der damaligen Zeit gehabt haben, inzwischen fort sind und daß auch jener Prozeß der Entsolidarisierung gelungen ist, den wir damit einleiten oder zumindest unterstützen wollten.
Dies war das Ziel, und dieses Ziel ist erreicht worden. Das sollten Sie nachträglich nicht zu verfälschen versuchen.
Zwischenfrage!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich möchte in dieser Debatte nicht so lange sprechen und deshalb keine Zwischenfragen zulassen.
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11038 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Bundesminister Jahn- Gut, dann will ich es Ihnen gegenüber, zumal ich es in einem anderen Zusammenhang zu bringen genötigt war, korrigieren, Herr Kollege Lenz. Allerdings muß ich Ihnen sagen: Wenn Ihnen das Wort „verfälscht" nicht paßt, Ihre Bewertung halte ich dennoch für falsch.
Ich meine, in dieser Frage sollte über die Möglichkeiten der Bekämpfung der Kriminalität als eines Aspektes der inneren Sicherheit mit mehr Ehrlichkeit und mit mehr Sorgfalt gesprochen werden.Mit „mehr Ehrlichkeit" meine ich, daß hier nicht permanent in mehreren Reden der Versuch gemacht werden sollte, die Dinge so hinzustellen, als ob etwa mit gewissen Korrekturen am Haftrecht, so notwendig sie sind, das Problem der Kriminalität und ihrer wirksamen Bekämpfung in diesem Lande gelöst werden könnte. Mit „mehr Ehrlichkeit" meine ich, daß man sich mit den vielfältigen aktuellen und notwendigen Themen auseinandersetzt, die in diesem Zusammenhang genannt und in Angriff genommen werden. Und zur Ehrlichkeit gehörte es auch, daß die Opposition, wenn sie schon meint, in dieser Weise darüber reden zu müssen, dann wenigstens das zur Kenntnis nimmt, was von dieser Stelle von den Vertretern der Bundesregierung seit Jahr und Tag immer wieder und mehrfach gesagt worden ist, daß nämlich neben all den Bereichen, für die der Kollege Genscher verantwortlich ist und zu denen er das Notwendige gesagt hat, von uns seit langem an einem umfassenden und weitgefächerten Programm zur besseren Bekämpfung der Kriminalität im Bereich des Strafrechtes gearbeitet wird und Ergebnisse dieser Arbeit nach gründlicher Vorbereitung ja auch vorliegen.Ich nenne hier zwei große und umfassende Gesetzeswerke. Das eine ist der Entwurf der Bundesregierung zur Vereinfachung und Beschleunigung des Strafverfahrensrechts, der dem Hause vorliegt und der in der ersten Lesung behandelt werden kann. Wer Kriminalität wirklich bekämpfen will, muß wissen und anerkennen, daß einer der entscheidenden Beiträge von einem schnelleren, wirksameren und griffigeren Strafverfahren her kommen muß. Meine Damen und Herren, jedermann in diesem Lande, der sich ein wenig mit diesen Themen auseinandergesetzt hat, weiß, daß hier ein Mißstand und ein Überbleibsel aus früheren Vorstellungen von Strafverfahren vorliegen, die seit langem unbefriedigend sind und die seit langem einer Veränderung bedürfen. Geschehen ist durch viele Jahre hindurch nichts. Man hat sich damit begnügt, zu sagen, dieses sei nicht in Ordnung.
Dieses Bundeskabinett hat in Zusammenarbeit mit den Ländern den Entwurf eines solchen Gesetzes vorbereitet und hier vorgelegt. Herr Kollege Vogel, wenn Sie schon immer nach der Urheberschaft fragen: Dieser Entwurf hätte ohne Not zehn Jahre vor-her präsentiert werden können; er hätte uns ohne Not schon zehn Jahre früher die Lösung dieses Problems bringen können. Es ist nicht geschehen; diese Regierung hat dazu einen Entwurf vorgelegt.Das gleiche gilt für das andere Thema, das in diesem Zusammenhang genannt werden muß. Sie wissen — Sie sagen es möglichst wenig öffentlich, weil das in manche Ihrer Reden nicht hineinpaßt —, daß ein wesentlicher Beitrag zur langfristigen Bekämpfung der Kriminalität mit einer grundlegenden Reform und inhaltlichen Veränderung des Strafvollzuges erstrebt werden kann und erstrebt werden muß. Wir haben in dieser Frage bisher keinen sachlichen Streit gehabt. Sie haben da, wo wir miteinander darüber gesprochen haben, zu diesem Reformvorhaben der Bundesregierung positiv Stellung bezogen. Ich hoffe, dabei bleibt es. Sagen Sie dann aber — und das ist erneut meine Bitte — auch in einer solchen Debatte ehrlich, daß erstens dieser Schritt notwendig ist, und geben Sie zweitens zu, daß es diese Regierung ist, die zum erstenmal, seitdem diese Forderung seit 100 Jahren in diesem Lande aufgestellt worden ist, einen kabinettsreifen Entwurf erarbeitet hat und in der Lage sein wird, diesen Entwurf noch in den nächsten Wochen diesem Hause vorzulegen.
Machen Sie es sich doch in dieser Frage nicht so einfach.
Hier gibt es eine große Palette von Gesetzgebungsvorhaben, die allesamt, wenn das Haus sie akzeptiert, sie in ihren inhaltlichen Linien so billigt, wie die Bundesregierung sie vorgelegt hat, einen wesentlichen Beitrag zur besseren inneren Sicherheit leisten werden. So kann man in der Sache darüber reden, so sollte man in der Sache darüber reden, und das nenne ich eine ehrliche Auseinandersetzung mit diesem Thema und nicht den permanenten Versuch der Ablenkung.
Das Wort hat der Abgeordnete von Thadden.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Senator Ruhnau hatte heute mittag von uns verlangt, daß wir Signale setzen. Der Kollege Kleinert hat sich vor kurzem besorgt gefragt, warum wir hier so lange reden. Er ist bereits müde geworden. Der Justizminister verlangt von uns mitten im Zusammenbruch dieser Regierung,
daß wir von der Opposition her Persilscheine ausstellen. Wir haben heute abend noch eine ganze Menge Fragen zu stellen. Ich fürchte, Sie werden noch länger zuhören müssen.Erste Frage: Draußen im Lande geht der gefährliche Satz um, sechs Männer und Frauen stünden
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11039
von Thaddengegen 60 Millionen Bürger. Ist das wahr? Mit den sechs Männern und Frauen sind die Angehörigen der Baader-Meinhof-Bande gemeint, mit den 60 Millionen wünschen sich jetzt auch einige zu identifizieren, die die Dunstglocke geschaffen haben, unter der sich Gewaltbereitschaft und Terror gebildet haben.
Von diesen Kräften muß hier heute noch einmal die Rede sein. Nicht in der Zeit der CDU/CSU, sondern zur Zeit dieser Regierung kann landauf landab in den Buchhandlungen so manches angeboten werden, was auch heute noch, nachdem sich selbst „Konkret" abgesetzt hat, nachdem selbst der „Spiegel" wohl nicht mehr sehr gerne hört, was hier draufsteht, das erste Manifest der Baader-Meinhof-Gruppe, das hier abgedruckt ist, sei „nicht ganz so wahnwitzig, wild und schießlustig, wie die Gruppe bisher dargestellt worden ist".
Dieses Buch mit „Spiegel"-Zitat konnte von mir heute in einer Bonner Buchhandlung erworben werden.
Aber auch noch ein anderes Buch wurde für wenige Mark gekauft, für so wenig Geld, daß es jeder andere aufbringen kann. Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zunächst einmal aus diesem Buch, und ich bitte nun gerade die, die die Stuttgarter Vorgänge in den letzten Tagen verfolgt haben, zuzuhören. Da wird geraten:Der Stadt-Guerillero kann im Nervenkrieg auf die folgenden Mittel zurückgreifen: Über Telefon und Post an Polizei und Regierung falsche Hinweise über die Stadt-Guerilla geben einschließlich der Bomben- und Terrordrohungen an öffentliche Büros und Lokale, Entführungs-und Morddrohungen usw. Indem die Behörden diesen falschen Informationen Glauben schenken, werden sie abgenutzt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Satz aus dem Rowohlt-Verlag,
der zwar vorn versucht, sich davon abzusetzen, aber wer so detaillierte Anweisungen gibt — ich könnte Ihnen bis Mitternacht daraus vorlesen —, darf sich nicht wundern, wenn Psychopathen und politische Fanatiker dieses Studium so gründlich betreiben, daß zum Schluß Tote auf der Straße liegen.
Und noch ein Wort an gewisse Publizisten, die in den letzten Jahren so schreibfreudig gewesen sind: Jene Publizisten haben immer und immer wieder herausgestellt, wie verbittert mancher über ausgebliebene Reformen sein könne. Ich hätte von diesen Publizisten auch gern einmal eine Schilderung des Leides von Menschen gehört, die bei Bombenattentaten ihre liebsten Angehörigen verloren haben, statt des Bildes im „Spiegel", wo ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes — Herr Minister Genscher, es wird Sie interessieren - im Bild vorgestellt wird mit der Bezeichnung „Spitzel" — sicherlich keine Auszeichnung. Hier werden Menschen in Gefahr gebracht, „dranzukommen", die das, so möchten wir doch wohl sagen, nicht verdient haben; denn der Verfassungsschutz ist ja auf die Mitarbeit der Bevölkerung angewiesen.
So noch vor wenigen Tagen geschehen. Wir, die Mitte dieses Hauses, sprechen die Dinge heute aus, weil wir nicht zu denen gehören, die vor irgendeiner Veröffentlichung irgendeines verantwortungslosen Journalisten — wir wissen, daß die Masse meiner Berufskollegen im Journalistenstand dazu nicht gehört kuschen.Und nun zum Abschluß! Was sagen Sie eigentlich dazu, wenn mit einem Auflagenstand von 12 000, Ausgabejahr 1972, ein Buch hier verkauft wird, und zwar nicht nur in Bonn — ich habe mich davon überzeugt —, sondern in vielen deutschen Großstädten von Flensburg bis Saarbrücken, in dem Sie folgendes nachlesen können:Ob es richtig ist, — so steht dort —den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist. Obes möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider Gottes haben sich Menschen gefunden, die seit einigen Jahren, längst vor dem Erscheinungsdatum dieses Buches, dabei sind, praktisch zu ermitteln, was sie anderen an Mord und Tod zumuten können. Herr Bundesminister Jahn, ich übergebe Ihnen jetzt dieses Buch mit dem Ersuchen, Sie möchten einmal prüfen, welches Ermittlungsverfahren Sie im Zeichen der Signalsetzung gegen die in Gang setzen wollen, die so etwas herausbringen.
Das Wort hat der Herr Bundesinnenminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer den Abgeordneten von Thadden gehört hat und die Abgrenzung der Zuständigkeiten in diesem Staat nicht kennt, muß zu dem falschen Eindruck kommen, die Bundesregierung könne Schriften dieser Art einziehen oder beschlagnahmen.
Herr Abgeordneter, Sie wissen so gut wie wir,
daß das eine Aufgabe der Staatsanwaltschaften ist, die ein objektives Verfahren bei den Gerichten einleiten können. Ihre Partei stellt wie andere Parteien Justizminister, die Weisung geben können, daß ein solches Einziehungsverfahren in die Wege geleitet wird. Tun wir doch nicht so, als ob es ein Ver-
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11040 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Bundesminister Genschersäumnis der Bundesregierung sei, wenn solche skandalösen Schriften im Umlauf sind.
Vizepräsident Dr. Schmid: Zwischenfrage!
Herr Minister, seit wieviel Jahren liegt eigentlich diese Bombenwerferliteratur bereits in den Schaufenstern, ohne daß die Organe des Staates gehandelt haben?
Herr Abgeordneter, ich habe mich hier mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Bundesregierung, der ich angehöre, in diesem Punkt eine Verantwortung trifft. Dazu kann ich Ihnen sagen, daß sich die Konferenz der Innenminister mit diesem Problem oft genug befaßt und daß sie immer wieder dazu ermutigt hat, gegen die Verbreitung derartig skandalöser Aufforderungen zur Gewalttat die gesetzlichen Mittel einzuleiten. Aber halten Sie das nicht für eine Verantwortung irgendeiner Bundesregierung, gleichviel, wie sie zusammengesetzt ist!
Zu einer Zwischenfrage Herr Abg. Dr. Lenz.
Herr Bundesinnenminister, gehe ich ganz fehl in der Annahme, daß im Jahre 1970 das Delikt der Aufforderung zu strafbaren Handlungen von einem Vergehen zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft worden ist? — Das ist meine erste Frage. Und die zweite: Ist das unter der Verantwortung dieser Bundesregierung geschehen?
Herr Abgeordneter, diese Frage hat mit der Möglichkeit der objektiven Einziehung, um die es hier ging, überhaupt nichts zu tun.
Ich will bloß den Eindruck zurückweisen, daß hier ein Versäumnis der Bundesregierung vorliege.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, weil ich gerade das Wort habe, noch ein Weiteres sagen! Hier ist im Zusammenhang mit den Gewalttaten der letzten Wochen immer wieder auf die Amnestie für die Demonstrationsdelikte hingewiesen worden, obwohl jedermann weiß, daß das eine und das andere zwei verschiedene Dinge sind. Ich habe heute morgen versucht, differenzierend eine Entwicklung darzustellen, die dahin ging, daß sich die einen im demokratischen Bereich haben integrieren lassen, während die anderen mehr und mehr in die Kriminalität gekommen sind. Zu dieser Entwicklung hat nicht zuletzt beigetragen, daß die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft erhöht worden ist; das sollte man nicht vergessen.
Und ein Letztes! Herr Abgeordneter Dr. Lenz, Sie pflegen ja in der Regel sehr ernsthafte Beiträge zu liefern. Heute haben Sie ein wenig schelmisch Betrachtungen über die Mitwirkung in dieser oder jener Bundesregierung angestellt. Dazu will ich Ihnen nur eines erklären: Ich habe heute morgen nicht eine private Rede gehalten, sondern ich habe eine Regierungserklärung für die Regierung Brandt abgegeben. Sie haben ihr zugestimmt, damit der Auffassung der gesamten Bundesregierung. Da ist nichts zu differenzieren.
Was die Aufwendungen und die Anstrengungen für die innere Sicherheit angeht, haben wir am Vormittag dargelegt, was für das Bundeskriminalamt, für das Bundesverfassungsschutzamt, für den Bundesgrenzschutz geschehen ist. Meine Damen und Herren, nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Der beste Wille eines Innenministers würde nicht ausreichen, das alles durchzusetzen und zu verwirklichen, wenn er für diese Vorstellungen nicht eine Basis in der gesamten Regierung hätte und wenn er sich nicht in jeder Phase seiner Bemühungen auch voll auf die Autorität des Bundeskanzlers stützen könnte. Ich habe das jedenfalls in der abgelaufenen Zeit gekonnt.
Das Wort hat Herr Abgeordnete Erhard .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es kann niemanden wundern, daß bei einem so ernsten Problem wie dem der inneren Sicherheit in unserem Staate auch Emotionen erkennbar werden; das sollten wir uns gegenseitig nicht verargen. Dessen ungeachtet ist dieses Problem so wichtig, daß wir gegebenenfalls auch der Versuchung widerstehen wollen, uns irgend etwas in das parteipolitische Süppchen hineinzurühren. Aber wir sollten vor uns ehrlich genug sein, gewisse Fehler, die wir vielleicht in der Vergangenheit — der eine mehr, der andere weniger — gemacht haben, zu erkennen; denn ohne die Erkenntnis von Fehlern, die möglicherweise begangen worden sind, ist ja der Weg zu besseren Ufern kaum möglich.
Sehen Sie, Herr Minister Jahn, Sie meinten, wir sollten konkrete Vorschläge machen, wie wir zu besseren Ufern kommen könnten. Sie wissen genau, daß solche Vorschläge nicht nur im Bereich des Haftrechtes gemacht worden sind, daß sie auf dem Tisch liegen und wir die Absicht haben, sie noch vor der Sommerpause zu verabschieden. Wir hätten sie längst verabschieden können, wenn sie die Bundesregierung nicht über viele Monate blockiert hätte!
Wir sind bereit, die anderen Gesetze — einschließlich Verfassungsänderungen — mit der Koalition zu beschließen; ohne uns geht das ja gar nicht.
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Erhard
Wir haben im Rechtsausschuß vor langer Zeit die entsprechenden Beschlüsse gefaßt. Wer aber nicht will, ist Ihre Mehrheit, weil Ihnen einiges von dem, was im Rechtsausschuß beschlossen worden ist, nicht ganz gefällt.
Mir kommt es so vor, Herr Minister Jahn, als dürfte ich einen Vergleich gebrauchen: Indem Sie uns die besseren Lösungen abverlangen, versetzen Sie sich — ungefähr! — in den Zustand eines Mannes, der einem Freund oder seiner Frau Gift gegeben hat und dann dem Arzt vorwirft, daß dieser halb oder ganz Vergiftete von dem Arzt nicht gesund gemacht werden kann.
Die entscheidenden Fehler sind, so meine ich wenigstens, von der Regierungserklärung an im Bereich der inneren Sicherheit gemacht worden.
Dieses Dritte Strafrechtsänderungsgesetz, verehrter Herr Minister, hat doch mit mehr Demokratie und mit mehr Sicherheit nichts zu tun und mit mehr Freiheit schon gar nichts. Da sind Leute nicht mehr zu bestrafen, die in einer Weise tätig geworden sind, daß sie nach wie vor unbedingt — vorausgesetzt natürlich, sie sind überführt — bestraft werden müßten.Das ist aber nur der eine Teil gewesen. Der zweite Teil war die Amnestie. Herr Minister, mir liegt die Information vor, die der Innenminister dem Vorsitzenden des Innenausschusses am 28. März dieses Jahres über die Ergebnisse der Umfragen und Feststellungen in den Ländern zu den Erfahrungen mit dem neuen Demonstrationsstrafrecht gegeben hat. Da heißt es — ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten zitierenEinige Länder haben allerdings erneut darauf hingewiesen, daß durch die Liberalisierung des Demonstrationsstrafrechtes das polizeiliche Einschreiten und das Ermittlungsverfahren erschwert worden seien, weil die nunmehr straffrei bleibenden passiven Teilnehmer im Regelfall die gewalttätigen Personen, die nur noch nach § 125 StGB erfaßt werden, abschirmen und damit der Feststellung bzw. Identifizierung entziehen.Das heißt, die praktischen Erfahrungen mit zunehmender Gewalttätigkeit bei Demonstrationen auch im letzten Jahr sind von den konkret damit befaßten Instanzen der Länder genauso beurteilt worden, wie wir es schon bei der Gesetzgebung behauptet hatten.
Wenn Sie, Herr Minister, meinten, dieses neue Demonstrationsstrafrecht hätte bessere Rechtsgrundlagen bringen sollen, kann ich nur sagen, die praktischen Erfahrungen stehen dem diametral entgegen.Sie meinten zweitens, die Entsolidarisierung sei erreicht worden. Herr Minister, das wissen wir nicht, denn durch die Amnestie wurden ja im wesentlichen nicht die wirklichen Bagatellen erfaßt, sondern ausgesprochen kriminelle Taten, wie z. B. gefährliche Körperverletzung und Gefährdung der Sicherheit des Straßenverkehrs. Die dadurch freigestellten Täter haben dann den Marsch durch die Institutionen begonnen. Sie wissen doch, Herr Justizminister, welche Schwierigkeiten die Ministerien der Länder haben, wenn sie einen Bewerber für den öffentlichen Dienst zurückweisen sollen. Wären die Täter bestraft worden, wäre das Ganze klar und einfach. Jetzt sind sie nicht bestraft, und es gibt keine Möglichkeiten mehr, sie vom öffentlichen Dienst fernzuhalten. Dann haben wir die Herrschaften im öffentlichen Dienst, und ich kann Ihnen sehr schnell sagen, wozu das führen kann.Alle Erfahrungen, die wir in Hessen haben — nun gut, wir werden sie, so scheint mir und so fürchte ich, unterschiedlich beurteilen —, sprechen doch ganz gegen Ihre Beurteilung der Situation. Wie, glauben Sie, könnte es sonst möglich sein, daß ein Regierungsdirektor aus dem hessischen Dienst, und zwar jemand, der sich mit Verfassungsschutz zu beschäftigen hat, erklären kann, und zwar erst im vorigen Monat, die Hauptorganisatoren der Rechtsradikalen seien überwiegend in der NPD und in der CDU/CSU zu finden?
Und ein solcher Diener des Staates hat auch noch die Verfassung zu schützen!
Nun meint die Kritik im Hinblick auf diese Täter — Sie wissen, um welche es sich handelt —, mit den Mitteln der Angst könne man keine Demokraten erziehen. Das ist auch uns klar. Aber daß man mit Mitteln der Angst, der Abschreckung und der Abwehr gegebenenfalls ganz erheblich dazu beitragen kann, die Feinde der Demokratie mindestens aus deren engstem Apparat fernzuhalten, darüber sind wenigstens wir hier uns doch hoffentlich einig.Der Kollege Kleinert war so freundlich, der Opposition hier den Vorwurf zu machen, wir hätten in den 50er Jahren in den Ländern eben mehr Universitäten bauen sollen. Nun, Herr Kleinert, ich nehme Ihnen nicht übel, daß Sie sich das jetzt so schnell aus dem Ärmel abgerungen haben; aber ich bitte Sie, das zu überprüfen, damit Ihre Geschichtsvorstellung etwas korrigiert wird. In den Ländern der 50er Jahre sind viele Studienplätze geschaffen worden, und die 50er Jahre waren von den 40er Jahren, in denen alles zerschlagen und zerbombt worden war, gar nicht weit entfernt. Ich bin im Hessischen Landtag gewesen. Im Hessischen Landtag haben in den 50er Jahren nur Sozialdemokraten die Mehrheit gehabt, meistens sogar die absolute Mehrheit. Daß in Hessen weniger Studienplätze gebaut worden sind als in einer ganzen Reihe anderer Länder, wo nicht Sozialdemokraten regiert haben, ist auch bekannt. Aber ich würde niemals der Landesregierung Hessen nachträglich den Vorwurf machen, mit dem, was uns damals an Mitteln und Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hat, zu wenig Hochschulen gebaut zu haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte!
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11042 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Herr Kollege Erhard, wären Sie bereit, den Herrn Kollegen Kleinert darauf hinzuweisen, daß die Länder, in denen Hochschulen neu gebaut worden sind, christlich-demokratisch oder christlich-sozial regierte Länder gewesen sind und daß dort im wesentlichen die Hochschulen überhaupt neu geschaffen worden sind?
Ich bin gern bereit, den Kollegen Kleinert darauf hinzuweisen. Gleichzeitig möchte ich ihn aber von mir aus auch noch darauf hinweisen, daß unter den Flächenstaaten der höchste Bestand an Fehlplätzen von Universitäten in Hessen besteht und daß die meisten Universitäten anderer Länder deswegen hessische Studenten aufnehmen müssen.
Nun zu dem weiteren Vorwurf, der alten Geschichtsklitterung, wir hätten aus konfessionellen Gründen Zwergschulen gebaut. Ich möchte diese Mottenkiste, die der Herr Kollege Kleinert aufgemacht hat, doch wieder zumachen; denn das ist falsch. Machen Sie doch nicht selbst Ihre eigenen Regierungen in den Ländern so schlecht, als hätten sie alle an der Zeit vorbeigelebt. Mit diesen Vorstellungen aus der Vergangenheit ist doch für die Zukunft gar nichts zu gewinnen.Wir sollten uns fragen, was denn nun wirklich bei uns die tieferen Ursachen für die zu beklagenden Tatsachen sind. Ich neige dazu, festzustellen, daß wir eine Verunsicherung der Öffentlichkeit in vielen Bereichen haben, eine Verunsicherung im Verhältnis zum Staat und zur Öffentlichkeit, und daß von dieser Verunsicherung der Öffentlichkeit, vor allen Dingen unser öffentlicher Dienst sehr stark erfaßt ist.
Diese Verunsicherung des öffentlichen Dienstes, begleitet von dem längst in Gang befindlichen Marsch durch die Institutionen, führt dazu, daß unsere vorhandene Rechtsordnung nicht eingehalten, nicht praktiziert wird, daß man dort, wo Rechtsverletzungen vorkommen, nicht ahndet.Herr Minister Jahn, ich hatte in einer Fragestunde des vorigen Jahres danach gefragt — als typisches Beispiel —, ob ein Erlaß des hessischen Justizministeriums vorliege, bei gewissen Straftaten im Bereich der Pornographie bei ausländischen Tätern oder Mittätern nicht weiter zu ermitteln, vor allem keine Strafersuchen an die ausländischen Stellen zu richten. Das wurde mit einem Unwissen beantwortet und mir wurde in derselben Fragestunde zweimal zugesichert, mir darauf nach Rückfragen Antwort zu geben. Ich habe die Zitierung des Erlasses in einem Einstellungsbeschluß dem Parlamentarischen Staatssekretär gegeben, aber ich habe keine Antwort bekommen. Wenn schon vom hessischen Justizministerium die Nichteinhaltung der vorhandenen bundesweit geltenden Gesetze geübt wird, sogar die nachgeordneten Staatsanwaltschaften angewiesen werden, nicht weiter zu ermitteln und keine Ersuchen loszulassen, dann darf man sich nicht wundern, wenn im nächsten Fall der zuständige Staatsanwalt eben von vornherein das Verfahren einstellt.Genauso wie es in diesem Fall mit der beklagenswerten Schweigsamkeit des Ministeriums hier gewesen ist, verhält es sich in zahlreichen anderen Fällen: überall diese Verunsicherung, die über das Demonstrationsstrafrecht typisch bis in die Polizei hineinwirkt.
Ich habe ein weiteres Beispiel, das hier in den vergangenen Wochen schon Gegenstand der Verhandlungen war, dafür anzuführen. Der Herr Bundesinnenminister gibt eine Anweisung, jemanden nicht einreisen zu lassen oder sofort wieder auszuweisen. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Rechtsradikalen, da handelt es sich um einen Linken, nämlich um einen Kommunisten spanischer Nationalität. Dieses Ersuchen des Bundesinnenministers ist tagelang vom hessischen Innenminister nicht weitergegeben worden, schließlich kurz vor der Veranstaltung an den Polizeipräsidenten in Frankfurt weitergegeben worden, und man hat sich dort dann abgestimmt, eben nichts zu tun. Dann können die Kommunisten in der Bundesrepublik fröhliche Demonstrationen veranstalten und große Reden halten, und wir stehen dabei und meinen, es gehe uns nichts an!Wenn so etwas von der höchsten Stelle — und das ist der Innenminister eines Landes — geschieht, wenn soviel Unbotmäßigkeit zwischen den Landesministern und dem Bundesminister, die dazu auch noch der gleichen Partei angehören, besteht — da scheint man sich das unter dem Gesichtspunkt der Liberalität erlauben zu dürfen —, dann halte ich das für ein Alarmzeichen. Denn hier geht die bundesstaatliche Ordnung in hohem Grade einen gefährlichen Gang, will ich vorsichtig sagen.
— Nun, daß der Herr Bielefeld der FDP angehört, das werden Sie doch selber wissen.
Es kommt hinzu — wenn wir in den Staatsschutz gehen —, daß der Herr Bundeskanzler es für nötig befunden hat, an irgendwelchen Stellen — er weiß sicher selbst, an welchen — die DKP als legale Partei zu bezeichnen, und der Bundesinnenminister meint, er müsse die Ergebnisse, die der Verfassungsschutz ermittelt hat, möglichst in geheimen oder dichten Schubladen verschließen.
— Gut, dann stecken Sie sie nicht in verschlossene Schubladen, sondern in solche, wo nur Sie hineingucken dürfen. — Ich bin der Auffassung, daß hier die Verwaltungsinstanzen zu handeln hätten. Hier wären Nachfolgeorganisationen längst als festgestellt zu verbieten. Wer aber nicht verbieten und eingreifen will, weil der Herr Bundeskanzler wohl gesagt hat, die DKP sei eine legale Partei, der darf
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11043
Erhard
sich nicht wundern, wenn er für diese Saat nachher auch erntet.
Ich meine also, hier geht es nicht um parteipolitische Süppchen,
sondern hier geht es einfach um ein wesentliches Element von Ursache und Wirkung. Diese Ursachen zu erkennen ist — ich wiederhole das — die erste Möglichkeit, überhaupt ein Stückchen Boden unter die Füße zu bekommen, damit wir wirklich in unserem Staate Rechtssicherheit haben. Wer aber die Gesetze als Staat selbst nicht handhabt, der kann und darf sich meines Erachtens nicht wundern, wenn niemand mehr die Gesetze anwendet und beachtet, und das ist das Problem unserer Tage.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kleinert?
Ich bin gleich fertig. — Das ist das Problem, vor dem wir in Wirklichkeit stehen. Wird denn wirklich in unserem Staate Freiheit, wird wirklich in unserem Staate Toleranz als echter Wert angesehen, den es zu schützen gilt, oder wird das nur unter dem Vorzeichen oder der Überschrift gesehen: „soweit es die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht anders erfordern"? Wenn wir diese Sprachverwirrung auf den Grund durchsuchen, werden wir genau feststellen, wo die Abgrenzungen bei uns notwendig sind und wo eine Regierung klare Erklärungen abgeben muß. Mit dem Verharmlosen, wie es auch heute wieder geschehen ist, ist überhaupt nichts gewonnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dorn.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
— Herr Kollege Stücklen, ich rede zu der Sache, die mein Vorredner angesprochen hat. Sonst hätte ich mich gar nicht zu Wort gemeldet.
— Stücklen ist ein freier Mann, nehme ich an.
— Ich weiß nicht, warum Sie gleich so empfindlich sind, bevor man überhaupt zur Sache gekommen ist.Das Problem, vor dem wir stehen, ist doch folgendes. Der Kollege Vogel, vor dessen Rechtskenntnissen ich großen Respekt habe, scheint mit seinen geographischen Kenntnissen allerdings ein bißchen durcheinandergeraten zu sein bei der Frage, die er vorhin hier angeschnitten hat. Denn die Behauptung — oder: die Unterstellung, muß man schon fast sagen —, daß in den Ländern, wo die CDU die Landesregierung stellte, Universitäten in großem Ausmaß gebaut wurden im Vergleich zu den Ländern, wo die CDU nicht regierte, ist wohl doch eine Behauptung, die durch die einfachen Zahlenentwicklungen der letzten Jahre sehr schnell ad absurdum geführt werden kann. Aber darauf will ich gar nicht eingehen.
— Natürlich, wenn Sie es wollen, kann ich auch das. Sehen Sie sich doch nur die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen an. Im Land Nordrhein-Westfalen regierten bis zum Jahre 1956 die Christlichen Demokraten und stellten den Ministerpräsidenten.
— Herr Kollege Stücklen, auf Bochum komme ich gerade zu sprechen. Das ist nämlich eines der praktischen Beispiele dafür, wie die Christlich-Demokratische Union jahrelang systematisch verhindert hat, daß fertig geplante Hochschulen auch realisiert werden konnten.
— Entschuldigen Sie, Herr Mikat war zu der Zeit noch gar nicht dran. Der kam erst später.
Es ging vielmehr darum, daß Herr Dufhues — wirwaren ja mit in der Koalition, Herr Kollege Barzel— versucht hat, die CDU-Fraktion dafür zu gewinnen, die Entscheidung im Parlament herbeizuführen. Der Herr Kollege Dufhues konnte sich jedoch, weil er aus dem Wahlkreis Bochum stammte, ein großer Teil seiner Fraktion aber für den Standort Dortmund war, nicht so kurzfristig durchsetzen. Wir haben uns in der damaligen Zeit in sechs Koalitionsgesprächen, die innerhalb von mehr als zwei Jahren stattfanden, nicht verständigen können, weil sich die CDU-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen nicht einigen konnte, ob Bochum oder Dortmund zum Zuge kommen sollte. Das war das Problem.Inzwischen ist das dann weitergegangen. Nach 1958 kamen bei Ihnen ja etwas beweglichere Politiker zum Zuge wie z. B. Herr Kollege Mikat, der die Dinge weiter vorantrieb. Auch nach seinem Ausscheiden sind die Dinge weitergelaufen. Wir haben Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Bochum — ich will das jetzt gar nicht alles im einzelnen aufgreifen — realisieren können.Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem machen, was mein Vorredner gesagt hat, als er den Kollegen Kleinert attackierte. Die Feststellung des Kollegen Kleinert, wenn Sie in den 50er Jahren nicht so viele konfessionelle Zwergschulen gebaut hätten, wäre man mit den Universitätsbauten auch schneller vorangekommen, ist doch überhaupt nicht zu bestreiten. Denn es war ja die Christlich-Demokratische Union, die im Lande Nordrhein-Westfalen ein Schulgesetz verabschiedet hatte, nach dem die
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11044 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
DornUnterschriften von 40 Erziehungsberechtigten ausreichten, um eine Gemeinde zum Bau einer Schule zu verpflichten.Ich selbst bin einige Zeit Bürgermeister einer kleinen Stadt von 25 000 Einwohnern gewesen. Auf Grund einer Unterschriftenaktion, die dort von der katholischen Kirche und ihren Geistlichen eingeleitet wurde, haben wir in dieser Stadt, obwohl die Mehrheit des Parlaments eindeutig gegen den Bau von Zwergschulen war, wegen der von der CDU geschaffenen gesetzlichen Grundlage mehrere Zwergschulen bauen müssen.
— Mehrere Zwergschulen, Herr Kollege Ott! Das gehört zur Sache.
- Herr Kollege Schneider, was Sie zur Sache gesagthaben, war doch gleich null. Darüber sind wir uns in diesem Hause doch wohl einig.
Ich äußere mich zu dem, was mein Vorredner gesagt hat, weil nämlich auf diese Weise in den 50er Jahren Milliarden-Beträge in diesem Lande fehlinvestiert worden sind auf Grund der kulturpolitischen Vorstellungen der Opposition.
Wenn wir diese Beträge dafür hätten verwenden können, frühzeitig genug auf das einzugehen, was auf den Hochschulen an Misere sichtbar geworden ist, hätten wir vieles von dem verhindert, was wir heute in der politischen Auseinandersetzung ausfechten müssen.
— Aber entschuldigen Sie mal! Wir haben doch Sie dazu zwingen müssen, im Lande NordrheinWestfalen die Verfassung zu ändern, damit es überhaupt möglich wurde, diesen Weg zu gehen. Wir haben doch im Lande Rheinland-Pfalz mit Ihnen gemeinsam die Verfassung ändern müssen, um die Lehrerbildung vorantreiben und nicht mehr die nach Konfessionen getrennte Lehrerbildung betreiben zu müssen. Das haben wir doch jahrelang in diesem Lande erlebt. Da haben Sie alles blockiert, was zu einer fortschrittlichen Kulturpolitik gehört hat.
— Ach, wissen Sie, das ist viel zu billig. Zu diesem Auftritt im Hofgarten habe ich mich hier in diesem Hause bekannt. Zu jedem Wort, das ich dort gesagt habe, stehe ich an dieser Stelle uneingeschränkt, — damit Sie das endlich einmal zur Kenntnis nehmen!Nun die Frage, die mein Vorredner auch angesprochen hat, indem er wiederum mit wahrheitswidrigen Behauptungen im Parlament erklärte, derInnenminister hätte eine Reihe von Vorstellungen und Erklärungen, die der Verfassungsschutz gegenüber der DKP erarbeitet habe, nunmehr in seinen Schubladen liegen und gebe sie der Öffentlichkeit nicht bekannt. Ich kann dazu nur sagen: auch das hat nicht den Vorzug, mit der Wahrheit in Übereinstimmung zu stehen, sondern das, was hier gesagt wird in dieser Frage, geht eindeutig an den Wirklichkeiten und an den Tatsachen vorbei.
— Herr Kollege Rawe, kein Innenminister der vergangenen 20 Jahre — wenn ich das recht sehe, sind sie alle von Ihrer Fraktionsgemeinschaft gestellt worden — hat den Innenausschuß so unverzüglich, so umfassend und so permanent informiert, wie Herr Genscher es getan hat, seit er sein Amt angetreten hat.
Das Wort zu einer kurzen Erwiderung hat der Abgeordnete Mikat.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dorn, ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß wir hier die Neuauflage einer Wahlkampfrede von Ihnen aus dem Jahre 1958 gehört haben.
Ich möchte kurz zur Frage der Hochschulgründungen etwas sagen. Jetzt ist sicherlich nicht die richtige Stunde für längere Ausführungen zu diesem Thema, aber vielleicht ergibt sich dazu noch einmal Gelegenheit. Man sollte die historischen Fakten nicht auf den Kopf stellen. Unter den Regierungen Franz Meyers sind in Nordrhein-Westfalen die Universitäten Bochum, Dortmund, Düsseldorf, Bielefeld und das Klinikum Essen gegründet worden.
Und ich darf in aller Bescheidenheit, aber auch mit allem Selbstbewußtsein in diesem Hause feststellen: hier sitzt keiner, der mehr für Hochschulgründungen getan hat, als ich.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Eilers?
Herr Kollege Mikat, ist Ihnen bewußt, daß im damaligen Wahlkampf 1966 ein Teil der Universitäten von Herrn Meyers versprochen wurde, daß es aber z. B. in Bielefeld nicht möglich war,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972 11045
Frau Eilersdas Grundstück von der Stadt zu kaufen, weil keinerlei Voraussetzungen geschaffen waren, das zu realisieren, was versprochen worden war, und daß die Stadt finanziell in Vorleistung treten mußte?
Gnädige Frau, ich muß Ihnen erheblich widersprechen. Ich werde Ihnen die Fakten gern mal zugänglich machen, vor allem was die Frage des Grundstückserwerbs betrifft, die im besten Einvernehmen zwischen dem Oberbürgermeister von Bielefeld und mir vonstatten ging.
Zweitens. Herr Kollege Dorn, Sie haben gesagt, die CDU/CSU-regierten Länder seien nicht führend gewesen auf dem Gebiet des Hochschulneubaus. Sie können mit mir darüber reden, ob wir genug getan haben. Aber nur derjenige, der so viel getan hat wie wir, kann sich dann auch hinstellen und sagen, wir hätten nicht genug getan.
Ich erinnere Sie an die Gründungen in Bayern, ich erinnere Sie an die Gründungen in Baden-Württemberg. Ich sage damit nicht, daß die anderen Länder wie Hessen, Niedersachsen oder Berlin nicht auch große Anstrengungen gemacht haben. Aber es gehört zur Fairneß, Herr Dorn, daß man anerkennt, wo etwas geleistet worden ist. Lassen Sie uns dann gemeinsam darüber unterhalten, was wir noch mehr tun müssen. Aber hier einfach die Fakten auf den Kopf stellen, das werden wir nicht hinnehmen.
Ich habe damals, als ich Ende 1966 das Amt des Kultusministers abgab, gesagt: wir brauchen in den nächsten Jahren die Gründung 15 weiterer neuer Hochschulen im Bundesgebiet. Es war ein Kollege der SPD, der mir im Landtag Nordrhein-Westfalen wegen meiner Gründungsvorschläge 1967 Planungseuphorie vorgeworfen hat.
Ich habe dem Kollegen das nicht übelgenommen. Ich habe ihm damals gesagt: wir werden abwarten, ob wir genug Universitäten und Bildungsstätten haben, aber ich habe gleichzeitig auch gesagt: wir müssen eine so vernünftige Wirtschaftspolitik treiben, daß wir die materiellen Voraussetzungen für die notwendigen Reformen haben.
Deklamationen allein haben uns im Bildungswesen noch nie weitergeholfen. Es kommt nicht nur auf den Willen, sondern auch auf die Möglichkeit an; und dann wollen wir in einen edlen Wettbewerb treten. Wenn Sie die besseren Lösungen haben, stimme ich Ihnen zu. Ich habe sie bisher noch nicht gesehen.
In meiner Amtszeit habe ich jede Anregung der Opposition aufgegriffen, wo ich sie für gut hielt, abgelehnt, wo ich sie für schlecht hielt. Aber wir wollen jetzt hier nicht die Fakten auf den Kopf stellen. Wir wollen jetzt nicht Vergangenheitsbewältigung à la Dorn 1958 treiben, sondern wollen die Aufgaben meistern, die vor uns liegen. Das Hohe Haus ist dazu aufgerufen.
Das Wort hat der Abgeordnete Stark .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine lieben Kollegen! Keine Bange, ich werde ihre Geduld nicht über Gebühr strapazieren. Aber ich kann Ihnen das, was ich hier sagen will, nicht ersparen.Hier wird der Versuch gemacht, so zu tun, als ob wir in den letzten 21/2 Jahren in den Fragen der Verbrechensbekämpfung, der Sicherheit unseres Rechtsstaates immer völlig einig gewesen wären und mit gleicher Vehemenz die notwendigen Gesetze hätten schaffen wollen. Davon kann nicht die Rede sein, meine Damen und Herren!
Was das Haftrecht anbetrifft, so muß einmal ganz deutlich und dokumentarisch klargelegt werden, daß wir von der CDU/CSU im September vergangenen Jahres einen Haftrechtsentwurf eingebracht haben, der nicht beraten werden konnte, weil sich die Regierungsparteien dagegen gestemmt haben.
Es muß zweitens klargemacht werden, daß die Regierung bis heute keinen eigenen Haftrechtsnovellenentwurf vorgelegt hat, sondern daß lediglich der Bundesrat einen Entwurf vorgelegt hat. Wenn man die zwei Debatten darüber nachliest, meine Damen und Herren, dann sieht man doch folgendes — das muß hier ausgesprochen werden —: Mit immer neuen Vorwänden hat dieser Justizminister gesagt, das geht alles zu schnell, da muß das und das noch geprüft werden. Am Anfang hat er sogar davon gesprochen, wir von der CDU/CSU machten ein Geschäft mit der Angst. Jetzt, nachdem die Entwicklung ganz anders gelaufen ist, als sie hier von der SPD und FDP offenbar eingeschätzt wurde, wird plötzlich auf den Zug aufgesprungen und so getan, als ob man schon immer zu diesen Problemen dieselbe Meinung gehabt hätte; das stimmt einfach nicht. Soviel zum Haftrecht. — Herr Kollege Arndt, das ist nachweisbar.Ein zweites Gesetz, meine Damen und Herren, über das wir hier ständig reden: die Grundgesetzänderung zur Verbesserung des Verfassungsschutzes, zur Beobachtung militanter Gruppen — ausländischer und inländischer. Hier liegt seit mindestens vier Monaten verabschiedungsreif eine Vorlage, die mit Mehrheit im Rechtsausschuß verabschiedet wurde. Das könnte längst geschehen sein, Herr Bundesminister des Innern, Herr Genscher. Warum ist es nicht geschehen?! Weil wieder neue verzögernde Einwände von der Koalition gegen diese Grundgesetzänderung gemacht wurden, nachdem sie bereits im Ausschuß verabschiedet ist.
Das sind doch lauter Tatsachen; daran führt doch kein Weg vorbei.Aber ich bin mir, meine Damen und Herren, der Tatsache völlig bewußt: allein mit diesen Geset-
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11046 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
Dr. Stark
zen schaffen wir hier nicht mehr „innere Sicherheit". Allein mit diesen Gesetzen kommen wir weder den Verbrechern noch dem Radikalismus bei. Was sich bei uns in diesen Fragen ändern muß, ist das geistige Klima, ist die Einstellung zu diesen Problemen.
Hier hat man sich in einer falschen Liberalisierungswelle zweieinhalb Jahre lang mit Schwerpunkten auf Pornographie-Freigabe, auf das 4. Strafrechtsänderungsgesetz und solche Dinge gestürzt.
Das sind völlig nebensächliche Dinge im Vergleich zur inneren Sicherheit und zur effektiven Verbrechensbekämpfung. Der Bundesjustizminister hat in seiner Rechts- und Justizpolitik völlig falsche Prioritäten gesetzt.
Statt mit dem Demonstrationsstrafrecht hätte er mit der Beschleunigung des Strafverfahrensrechts beginnen müssen. Er hätte dann die Haftrechtsnovelle in Angriff nehmen müssen, und dann hätte man vernünftigerweise an die anderen Reformen herangehen können. Wir beschäftigen uns schon zweieinhalb Jahre mit der Freigabe der Pornographie und anderen läppischen Dingen.
— Warum, Herr Kleinert? Weil dieser Minister das offenbar als den Schwerpunkt seiner Rechtspolitik angesehen hat!
Wir haben diese Entwürfe doch nicht vorgelegt,diese — wie ich schon sagen muß — zum Teil läppischen Entwürfe. Das kam doch von Ihrer Seite!Da hilft alles Verniedlichen nichts, so, wie es auch heute geschehen ist. Solange ein Bundeskanzler zu diesen Problemen so spricht wie heute und nicht so, wie sein Innenminister — das war ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht —, reden wir an den Problemen vorbei.
Beim Bundeskanzler lautet der erste Satz immer: „Wir sind gegen Gewalt, wir sind gegen Radikalismus!", dann aber verweist er gleich auf die kritische Jugend. Dadurch werden die Dinge vermischt, die gar nichts miteinander zu tun haben. Wer uns unterstellt, wir seien gegen die kritische Jugend, der baut einen Türken, der uns gegenüber nicht zu bauen ist. Wir sind für die Jugend, für die kritische Jugend, für die sehr kritische Jugend, aber wir sind gegen die geistigen Bombenleger, die hier ihre vergiftenden Bomben legen, wie gegen Gewalttäter.
Wir sind gegen die Brückners, Mandels und Seiferts,bei denen man darüber streiten muß, ob sie beiuns einreisen, promovieren, ihren gewaltsamenrevolutionären Kampf führen und ihre Thesen bei uns verkünden dürfen. Wenn wir hier nicht einig werden und uns klar gegen diese Leute wenden — ganz gleich, ob SPD, CDU oder FDP —, werden wir zwar einige Gesetze machen, aber die Situation nicht ändern.Manche Leute kommen mir so vor, als ob sie sagten: Da ist Unkraut, das wollen wir herausziehen! Warum das so ist und woher das Unkraut kommt und was das für ein Humus ist, das interessiert diese Leute nicht! Das einzelne Unkrautpflänzchen wollen sie herausziehen. — Nein, wir müssen uns hier alle miteinander mit dem geistigen Hintergrund dieser kriminellen und radikalen Erscheinungen in unserem Staat beschäftigen. Es läßt sich doch nicht leugnen: Hier müssen nicht wir so sehr umdenken — manche von uns vielleicht auch; ich gebe es zu —, sondern hier müssen Sie von SPD und FDP umdenken. Ihre Rechtspolitik hat meines Erachtens ein zu modernistisches, falsches Menschenbild auch beim Verbrecher zugrunde gelegt. Sie haben geglaubt, wenn man hier liberalisierte, ließen die Verbrecher schon vom Verbrechen ab. Das tun Sie eben nicht! So müssen wir z. B. bei der Resozialisierung ganz klar zwischen den Straftätern unterscheiden, die resozialisierungsfähig sind, und solchen, die nicht resozialisierungsfähig sind. Wir dürfen nicht einfach so tun, als müsse man da nur alle Gesetze ändern. Da steckt ein bißchen Marxismus dahinter, wenn man meint, man müsse nur die Verhältnisse ändern, und dann würden sich die Menschen ändern. Das sollte einmal ganz klar gesagt werden.
Wenn Sie mich reizen, muß ich zum Schluß nochmals verdeutlichen, was ich hier meine. Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, ich muß einen Mann zitieren, der 50 Jahre für Sie gefochten hat, nämlich den Herausgeber der Rhein-Neckar-Zeitung, Herrn Hermann Knorr, der in diesen Tagen einen Kommentar unter der Überschrift „SPD und Attentate" geschrieben hat. Daß in diesem Kommentar alles stimmt und richtig gesehen wurde, will ich bezweifeln. Es ist Ihre Sache, das einmal zu untersuchen. Sinngemäß — entschuldigen Sie, wenn ich nicht jedes Wort genau zitiere;
ich stelle es Ihnen zur Verfügung, Sie können es nachlesen und mich dann verbessern — hat Hermann Knorr, 50 Jahre SPD-Mitglied gesagt: „Es genügt nicht, wenn der Genosse Bundeskanzler verblüffte und empörte Worte nach dem Attentat ausspricht, aber sonst die Schläge der Strukturrevolutionäre als Jugendstreiche hätschelt und mit „Komplimenten an die Jugend herunterspielt".
Hier werden die Dinge durcheinander gemischt, und das alles hört sich dann gut an. Hier muß aber eine klare Differenzierung zwischen Gewalttätern und geistigen Bombenlegern auf der einen Seite und der kritischen Jugend auf der anderen Seite vorgenommen werden. Die kritische Jugend hat mit den ersten zwei Gruppen nichts zu tun. Mit dieser
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Dr. Stark
Vermischung sollten wir langsam aufhören. Wenn dann ein Kultusminister Oertzen
— ich bitte vielmals um Entschuldigung —, wenn ein Herr von Oertzen in diesen Tagen erklärt, daß das Einreiseverbot für den belgischen Trotzkisten Mandel eine unglaubliche Schweinerei und ein großes Unrecht sei, dasselbe Verbot, das vom Innenminister dieser Regierung ausgesprochen wird, kann man doch nur von einer Verwirrung der Geister in diesem Staat in diesen Dingen reden. Wir wollen hier keine „parteipolitischen Süppchen" kochen, aber bevor wir hier miteinander das tun können, was notwendig ist, müssen wir eine faire und objektive Bestandsaufnahme machen, und dazu soll die heutige Debatte ja wohl dienen.
Meine Damen und Herren, ein Wort nur zur Geschäftslage. Wir haben noch fünf Wortmeldungen vorliegen. Danach kommt noch der Punkt 5 der Tagesordnung. Ich sage das nur deswegen, weil wir uns vermutlich auf eine Zeit nach 20 Uhr einrichten müssen.
Das Wort hat der Abgeordnete Metzger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spätestens nach der Rede des Bundeskanzlers heute nachmittag hätten wir erwarten können, daß die Diskussion in sachlicheren Bahnen verläuft, als das am Vormittag geschehen ist.
Diese letzten Reden der Opposition bestanden in einem Aneinanderreihen von Zitaten und in einem Aneinanderreihen von Halb- und Unwahrheiten. Dabei hätten gerade die Mitglieder des Rechtsausschusses diesen Nachmittag dazu benutzen können, im Ausschuß all diese Fragen in Ruhe und Sachlichkeit zu diskutieren und zu beraten, die heute hier in der Öffentlichkeit mit viel Polemik behandelt worden sind.
Von den Rednern der Opposition, vor allem von dem Kollegen Vogel, wurde heute morgen immer wieder die Forderung erhoben, daß wir uns zu einer Solidarität der Demokraten zusammenfinden und nicht zu Aktionseinheiten zwischen Demokraten und Feinden der Demokratie hergeben sollten. Ich glaube, daß die sozialliberale Koalition, diese Bundesregierung und dieser Bundeskanzler in der Vergangenheit immer wieder eine Zusammenarbeit auch in diesen Fragen angeboten haben. Das letzte Angebot hat der Kanzler heute nachmittag in der Debatte gemacht. Aber wir müssen uns darüber im klaren sein, daß eine solche Zusammenarbeit erfordert, daß endlich mit Unterstellungen, Verdächtigungen und Verleumdungen Schluß gemacht wird. Eine solche Zusammenarbeit erfordert auch, daß endlich mit dem Versuch Schluß gemacht wird — wie das jetzt wieder der Kollege Stark getan hat —, eine Verbindung herzustellen zwischen derBundesregierung und der sozialliberalen Koalition auf der einen Seite und dem Bombenterror, der Gewalt und dem politischen Extremismus auf der anderen Seite.
Ich kann nur mit Sorge feststellen - das geht nicht nur mir so, sondern vielen, vor allen Dingen jüngeren Menschen in der Bundesrepublik, die diesen demokratischen Rechtsstaat ohne Vorbehalt und mit allem Nachdruck bejahen —, daß immer wieder der Versuch unternommen wird, diese Probleme der inneren Sicherheit und der Verbrechensbekämpfung, über die wir heute diskutiert haben, zu parteipolitischen Geschäften auszunutzen. Mit einer solchen Schwarz-Weiß-Malerei, wie wir sie heute wieder erlebt haben, mit dem Außerachtlassen jeglicher wissenschaftlichen und empirischen Erkenntnisse und mit dem Aufheizen von Emotionen, können wir die Lösung dieser Probleme mit Sicherheit nicht erreichen.Ich möchte noch einen Schritt weitergehen, und mir ist es sehr ernst mit dieser Aussage. Wir begeben uns in die Gefahr, unseren noch keineswegs gefestigten Rechtsstaat wieder zu demontieren.In dieser Diskussion — das wurde nicht nur von dem Führer der Opposition, sondern auch von einer ganzen Reihe anderer Redner angesprochen — spielte immer wieder die Novelle zur Strafprozeßordnung im Zusammenhang mit der Präzisierung und Verschärfung der Bestimmungen des Haftrechts eine Rolle.Zunächst eine Bemerkung zu dem zeitlichen Zusammenhang der Behandlung dieser Novelle. Herr Barzel hat hier erklärt, daß diese Novelle bereits seit Anfang 1971 auf dem Tisch dieses Hauses liegt.
Das ist richtig, aber es ist unvollständig. Es ist deshalb unvollständig, weil sich der Rechtsausschuß bereits seit Ende 1970 mit dieser Frage befaßt und in der Sitzung am 9. Dezember 1970 — Herr Stark, Sie wissen das ganz genau, auch wenn Sie das heute wieder ganz anders dargestellt haben — beschlossen hat,
daß zunächst über das Bundesjustizministerium Unterlagen der Länderjustizminister eingeholt werden sollen.
— Nicht auf Ihren Antrag hin!
— Nicht auf Ihre Empfehlung hin. Herr Kollege Stark, das ist wiederum eine Unwahrheit, die Sie hier verbreiten wollen. Ich habe zufällig das Protokoll über diese Sitzung bei mir und werde Ihnen nun mit Genehmigung der Frau Präsidentin aus die-
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Metzgersem Protokoll einige Sätze vorlesen, weil Sie wiederum eine falsche Behauptung aufstellen. In diesem Protokoll heißt es:Abg. Metzger stellt als Hauptproblem des Gesamtbereiches der Verbrechensbekämpfung für den mitberatenden Rechtsausschuß die Frage des Haftrechts heraus.Ich war der erste, der dieses Problem im Rechtsausschuß angesprochen und herausgestellt hat.
Vizepräsident F1 au Funcke: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stark?
Ja.
Bitte schön!
Herr Kollege Metzger, wenn Sie mir hier Unwahrheit vorwerfen: Kennen Sie die Entschließung der CDU/CSU-Fraktion im Zusammenhang mit der Beratung über die Verbrechensbekämpfung, in der dies als Punkt 6 oder 7 genannt wird? Diese Entschließung war die Grundlage dafür, daß dies überhaupt im Rechtsausschuß beraten wurde. Ich weise es entschieden zurück, wenn Sie hier sagen, daß ich die Unwahrheit spreche. Sie sind falsch informiert!
Herr Kollege Stark, durch Wiederholungen werden Ihre Behauptungen nicht richtiger.
Ich zitiere weiter:
Er, der Berichterstatter, schlägt vor, dem federführenden Innenausschuß zu empfehlen, das Bundesministerium des Innern und das Bundesministerium der Justiz zu bitten, von den entsprechenden Verwaltungen der Länder Tatsachenmaterial der Polizeidienststellen, der Staatsanwaltschaften und Gerichte zu diesen Fragen anzufordern und dem Ausschuß vorzulegen.
Herr Kollege Stark, daraufhin haben Sie als Mitberichterstatter — so ist das hier protokolliert — folgendes geantwortet:
Im übrigen tritt der Berichterstatter II — das sind Sie —
dem Vorschlag des Abg. Metzger bei und regt eine Anhörung zu den Fragen des Haftrechtes an.
Daraufhin hat der Rechtsausschuß einen Beschluß gefaßt, zunächst dieses Material anzufordern, es zu sichten und die Beratungen dann fortzusetzen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard?
Nein, ich möchte hier jetzt gern weiterkommen, weil es bereits 18.30 Uhr ist und wir im Anschluß an diesen Punkt noch weitere Tagesordnungspunkte zu erledigen haben. Wir können uns ja morgen oder in der nächsten Woche im Rechtsausschuß mit diesem Thema noch einmal eingehender befassen.
— Herr Kollege Stark, wir werden im Rechtsausschuß diese Frage klären, und dann werden Sie mir bestätigen, daß Ihre Ausführungen und Zwischenrufe, die Sie hier gemacht haben, falsch sind.
— Wenn Sie nun ständig an diesem Zeitprogramm herumkritisieren, so will ich Ihnen noch etwas anderes sagen. Wir könnten ja bereits seit zwei oder drei Monaten all diese Fragen im Rechtsausschuß beraten und auch verabschiedet haben,
wenn wir nicht über 60 Stunden, wenn wir nichtüber zwei Monate die Ostverträge diskutiert hätten,
um dann bei Ihrer Fraktion in der Abstimmung hier im Plenum zu keiner Entscheidung zu kommen.
Damit sind doch zwei, drei Monate vertan worden, und zwar von Ihrer Seite vertan worden, ohne daß Sie den Mut aufbrachten, eine Entscheidung zu treffen.
Wir hätten in diesen zwei oder drei Monaten in vielen Sachfragen, auch in Sachfragen der inneren Sicherheit und der Verbrechensbekämpfung einen großen Schritt weiterkommen können. So ist doch der Sachverhalt.
Ich will aber auch noch auf ein sachliches Problem im Zusammenhang mit der Haftrechtsfrage eingehen.
— Herr Kollege Rawe, hören Sie doch bitte einmal in der Sache zu. Sie können da eine Menge lernen.
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MetzgerDabei geht es um zwei grundlegende Fragen. Erstens: Wie können wir das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des einzelnen auf persönliche Freiheit auf der einen und dem Schutz der Allgemeinheit vor strafbaren Handlungen und einem Ansteigen der Kriminalität auf der anderen Seite lösen? Und es geht zweitens um die entscheidende Frage, wie ein freiheitlicher Staat und eine freie Gesellschaft mit den Problemen fertig werden können, sich vor Verbrechen zu schützen und gleichzeitig zu garantieren, daß der Beschuldigte, dessen Schuld noch nicht nachgewiesen ist, gegen Willkür gesichert und vor Unrecht geschützt wird?Wenn von uns Sozialdemokraten und von vielen anderen in diesem Lande, übrigens auch von einigen Kollegen Ihrer Fraktion, die Forderung erhoben wird, diese grundlegende Frage mit aller Sachlichkeit, Gründlichkeit und Ernsthaftigkeit und ohne Emotionen zu prüfen und die Argumente gewissenhaft abzuwägen, so geschieht das doch nicht, wie immer wieder behauptet wird, um die Beratungen zu verzögern, um Recht und Ordnung zu untergraben oder um diesen demokratischen Staat in Frage zu stellen — eine geradezu absurde Behauptung —, sondern auf Grund der bitteren Erfahrungen, die viele Menschen in unserem Volke, auch hier in diesem Hause, in den Jahren von 1933 bis 1945 gemacht haben und die viele Menschen heute noch tagtäglich in totalitären Staaten machen müssen. Das gilt in gleicher Weise für faschistische Systeme, für Militärdiktaturen, das gilt auch für kommunistische Staaten und überall dort, wo Freiheit und Menschenwürde mit Füßen getreten werden.Warum hat denn dieses Parlament, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, im Jahre 1964 unter einer CDU/CSU-Regierung mit großer Mehrheit beschlossen, die Haftgründe einzuengen und zu straffen. Doch nicht, um einem Ansteigen der Kriminalität Vorschub zu leisten oder Recht und Ordnung in diesem Staate auszuhöhlen.
Herr Kollege Haase, hier spielten die von mir bereits genannten Erfahrungen und auch das Bewußtsein eine Rolle, diesen Gegensatz zwischen dem Recht des einzelnen auf Freiheit und den Interessen der Allgemeinheit auf Schutz vor Verbrechen in einer vernünftigen Weise und unter Berücksichtigung der Prinzipien unseres Rechtsstaates zu lösen.Anfang 1969 hat in diesem Hause eine erste Debatte über die Auswirkungen und über die Erfahrungen der Strafprozeßnovelle aus dem Jahre 1964 stattgefunden. Damals erklärte der CDU-Abgeordnete und frühere Generalbundesanwalt Güde unter Zustimmung seiner Fraktion:Auch wir wollen die Grundlagen der Reform von 1963/64 nicht anzweifeln, sondern bei ihnen bleiben, es dreht sich nur darum, ob bei der Reform eine Lücke entstanden ist und ob die Lücke rechtsstaatsgerecht gefüllt werden kann, nichts anderes, eine ganz nüchterne Angelegenheit.Genau darum, meine sehr geehrten Damen undHerren von der Opposition, geht es, etwaige Lücken,etwaige Unzulänglichkeiten, die sich auf Grund der Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigten,
zu füllen bzw. zu beseitigen.
Ich will jetzt hier nicht auf Einzelheiten der Haftrechtsnovelle eingehen. Wir haben in den nächsten Wochen ausreichend Gelegenheit, diese Fragen im Rechtsausschuß zu behandeln.Aber ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen. Allen Sachverständigen und all denjenigen, die sich mit dem Problem der Verbrechensbekämpfung und der inneren Sicherheit ernsthaft befassen, ist klar, daß die Entwicklung und das Ansteigen der Kriminalität keine Einzelerscheinung in der Bundesrepublik ist. Diese Entwicklung ist eine gemeinsame Sorge aller Industrienationen im Westen und im Osten. Wir stehen hier vor einem internationalen Problem, für dessen Lösung es keine Patentrezepte gibt, und wer etwas anderes behauptet, sagt bewußt die Unwahrheit.Ich möchte deshalb auch noch einmal mit allem Nachdruck vor der Illusion warnen, daß eine Ausweitung des Haftrechts ein Allheilmittel zur Verbrechensbekämpfung sei. Dazu ist ein Bündel von Maßnahmen erforderlich. Der Bundesinnenminister hat dazu bereits Stellung genommen, ebenso der Bundesjustizminister. Mit Sicherheit gehört dazu eine umfassende Novellierung unserer Strafprozeßordnung; ein entsprechender Gesetzentwurf, der u. a. einer Beschleunigung unserer Strafverfahren dient, ist vom Kabinett verabschiedet und liegt dem Parlament zur Beratung vor. Die Mitglieder des Rechtsausschusses und des Sonderausschusses für Strafrechtsreform wissen genau, was wir in den vergangenen zwei Jahren an ergänzenden und reformierenden Gesetzesbestimmungen gerade auch im materiellen Strafrecht beraten und zu einem großen Teil verabschiedet haben.Zu den Maßnahmen im Bereich der Verbrechensbekämpfung — und auch darauf möchte ich mit allem Nachdruck hinweisen — gehört nicht zuletzt eine umfassende Reform unseres Strafvollzugs. Mit dieser Reform soll nicht nur der Auftrag unseres Grundgesetzes erfüllt werden, für alle Bürger, auch für den straffällig gewordenen, eine soziale und eine humane Lebensordnung zu schaffen. Die Verbrechensbekämpfung muß Stückwerk bleiben, wenn wir uns mit den Tätern nur bis zu ihrer Festnahme und Aburteilung befassen und sie dann, wenn sie in Strafhaft sind und wenn sie wieder entlassen sind, ihrem Schicksal überlassen.Noch ein Wort, und damit möchte ich schließen, zu der immer wieder in die Diskussion gebrachten Forderung nach Recht und Ordnung — als ob wir in einem Staat ohne Recht und Ordnung leben würden. Wir alle in diesem Parlament, und, ich glaube, das hat die Diskussion heute gezeigt, bejahen ohne Ausnahme unseren freiheitlichen Rechtsstaat, auch dann, wenn er Mängel und Fehler aufweist. Wir wissen, ich sage das auch mit allem Nachdruck, daß Recht und Ordnung, aber auch Menschlichkeit und Gerechtigkeit Bedingungen von Freiheit und Demokratie sind.
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MetzgerDer Bundespräsident hat kürzlich gesagt: Der Staat sind wir alle und jeder einzelne von uns. In der Tat, von dieser Einstellung müssen wir uns leiten lassen. Der demokratische Staat ist für uns die organisierte Rechtsgemeinschaft des Volkes mit dem Auftrag, für Sicherheit, Freiheit und Gerechtigkeit zu sorgen. Dazu ist auch der Einsatz von Machtmitteln erforderlich, dazu müssen hoheitliche Befugnisse ausgeübt werden. Dazu — und Herr Senator Ruhnau hat heute morgen darauf hingewiesen — ist aber auch die Bereitschaft seiner Bürger erforderlich, diesen Staat ohne Vorbehalte und, wenn erforderlich, auch mit der notwendigen Zivilcourage, zu verteidigen.Diese Bereitschaft der Bürger können wir nur dann verlangen und erreichen, wenn wir auch in anderen Bereichen den Auftrag unseres Grundgesetzes zur Schaffung eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates ernst nehmen: Mehr Chancengleichheit, mehr Mitbestimmung, mehr soziale Gerechtigkeit! Wir Sozialdemokraten werden gemeinsam mit unserem Koalitionspartner beides tun: die Sicherheit und Ordnung in diesem Staat garantieren und die zur Schaffung eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates notwendigen Reformen durchführen.
Das Wort hat der Abgeordnete Miltner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Debatte um die innere Sicherheit, also um den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, ist auch das Verhalten der Bundesregierung bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit — zugleich der Opposition — einmal einer näheren Betrachtung wert.Gerade gestern hat der Bundesinnenminister den Verfassungsschutzbericht des Jahres 1971 der Öffentlichkeit vorgelegt. Bei dieser Gelegenheit erinnern wir uns heute daran, daß es noch gar nicht so lange her ist, daß der Verfassungsschutzbericht der beiden Jahre 1969 und 1970 veröffentlicht wurde, nämlich um die Jahreswende 1972. Auch der jetzt veröffentlichte Bericht wird erst acht Wochen nach einer Teilveröffentlichung in der Presse offiziell vorgelegt.Hinzu kommt, daß die Landesämter für Verfassungsschutz diesen Bericht ebenfalls erst jetzt zugesandt bekommen haben. Ich glaube, eine solch verspätete Zusendung ist einer gemeinsamen ordentlichen Zusammenarbeit abträglich. Das alles sind mehr als Schönheitsfehler. Wer verspätet informiert, informiert eben nicht mehr richtig. Künftig sollte eine rechtzeitige Information der Öffentlichkeit und dieses Hauses auf diesem Gebiet angezeigt sein.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz auf einige wenige Punkte des Berichts eingehen! Erfreulich ist die Feststellung, daß die stärkste rechtsradikale Organisation, die NPD, einem anhaltenden starken Zerfall unterliegt, obwohl sie ihre verfassungsfeindliche Zielsetzung beibehalten hat. Ähnliches gilt für andere rechtsradikale Organisationen. Doch ist erstaunlich, daß die Zahl der Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten kleinerer örtlicher Aktions- und Widerstandsgruppen gegenüber dem Vorjahr auch auf dem rechtsradikalen Gebiet zugenommen hat.Auf dem Gebiet des Linksradikalismus hat die stärkste Organisation, die DKP, ihre Mitgliederzahl von 1969 mit 23 000 jetzt auf 34 000 Mitglieder im vergangenen Jahr erhöhen können. Zwar spricht in diesem Zusammenhang der Bericht von einer Stagnation der Mitgliederzahl; ob aber diese Feststellung in bezug auf die DKP richtig ist, möchte ich hier noch etwas bezweifeln.Die Studentenorganisation der DKP, der Spartakus, konnte in der Zwischenzeit seine Mitgliederzahl verdoppeln, und zwar seit dem letzten Jahr. Er ist nunmehr an 17 Universitäten mit großem Einfluß vertreten.Die neue Linke hat trotz ihrer Zersplitterung ebenfalls eine starke Zunahme erfahren. 1970 waren es 3000 Mitglieder in 120 Vereinigungen, und 1971 waren es 6000 Mitglieder in 260 Gruppen .In diesem Bereich ist auch eine erhebliche Zunahme schwerer Gewalttaten festzustellen.Die unerträglichen Störungen und Ausschreitungen im Hochschulbereich sind, wie wir alle wissen, ein alarmierendes Zeichen für einen Zustand, der mit sämtlichen rechtlichen Möglichkeiten beseitigt werden sollte. Trotz des vielfach amorphen Zustandes solcher Vereinigungen sollten die zuständigen Stellen jetzt doch überlegen, ob diese Vereinigungen nicht verboten werden können. Die Bevölkerung erwartet, daß alles getan wird, um an unseren Universitäten Forschung und Lehre sicherzustellen, und daß jede Störung und Gewaltanwendung unterbunden wird.Auf dem Gebiet der Spionagetätigkeit interessiert die Feststellung, daß die Spionageaufträge zwar konstant geblieben sind, daß jedoch die Zahl der Personen, die von kommunistischen Nachrichtendiensten zur Spionagetätigkeit gegen die Bundesrepublik aufgefordert worden waren, um 22 % zugenommen hat. Ich glaube, diese Tatsache zwingt uns dazu, die Anstrengungen in diesem Bereich verstärkt fortzusetzen.Auf dem Gebiet des Ausländerradikalismus stellen wir heute allein 220 Vereinigungen mit 65 000 Mitgliedern fest; 1970 waren es 100 Vereinigungen mit 50 000 bis 53 000 Mitgliedern. Den Aktivitäten radikaler ausländischer Parteien auf unserem Boden sollte man nicht untätig zusehen. Die CDU/CSU-Fraktion hat daher Anfang dieses Jahres eine Feststellung getroffen und eine Forderung erhoben. Sie geht davon aus, daß die verfassungsmäßigen Rechte ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik garantiert sind. Aber kein freiheitlich-demokratischer Staat kann es zulassen, daß sein Hoheitsgebiet als Austragungsort ideologischer und gewaltsamer Auseinandersetzungen radikaler ausländischer Organisationen mißbraucht wird.
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Dr. MiltnerAus diesen Gründen hat die CDU/CSU-Fraktion den Bundesinnenminister aufgefordert, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgebauten Parteiorganisationen der Kommunistischen Partei Italiens und der Italienischen Faschistischen Partei zu verbieten. Ich stelle fest, daß der Bundesminister bis zum heutigen Tage zu solchen möglichen Verbotsmaßnahmen keine Stellungnahme abgegeben hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im September 1971 hat die Bundesregierung eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion in bezug auf Rechts- und Linksradikalismus beantwortet. Wenn man es genau nimmt, gab sie aber auf eine wesentliche Frage unsererseits gar keine Antwort. Wir hatten damals folgendes gefragt:Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß auf Grund ihrer eigenen tatsächlichen Feststellungen die DKP als eine Partei anzusehen ist, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, und damit nach Art. 21 Abs. 2 GG verfassungswidrig ist?Auch schon früher, bei den Haushaltsberatungen 1971, hatte ich die Bundesregierung gefragt, ob sie die DKP für eine Nachfolgeorganisation, für eine Ersatzorganisation oder für eine neue Partei halte.
Bis auf den heutigen Tag sind diese Fragen von der Bundesregierung nicht beantwortet worden.
Spästens als die Bundesregierung durch den damaligen Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Innenausschuß feststellen ließ, daß die DKP die Arbeit der verbotenen KPD fortsetze, war eigentlich eine Antwort überfällig. Aber wiederum verspätet ist dann der Innenausschuß trotz Anmahnung mit schwachen Andeutungen im Hinblick auf diese Frage in einer Geheimsitzung abgespeist worden.
Ich muß daher den Bundesinnenminister zum wiederholten Male auffordern, klar zu sagen, welche rechtliche Qualifikation die Bundesregierung heute der DKP gibt. Herr Bundesminister, Sie sind uns immer noch diese Antwort schuldig. Die Öffentlichkeit hat Anspruch darauf, zu wissen, welche Rechtslage in diesem Zusammenhang gegeben ist.
Ich betrachte die Gründe des Bundesinnenministers und der Bundesregierung, diese Antwort zu verweigern, als fadenscheinig. Aus Staatssicherheitsgründen, so sagt der Innenminister, dürfe man nicht klar aussprechen, was wirklich ist.
Lassen Sie mich einmal Ihre Gesichtspunkte hierzu etwas kritisch beleuchten. Sie erwähnen eine Rede des damaligen Bundesinnenministers Benda aus dem Jahre 1969. Ich habe sie nachgelesen und dabei festgestellt, daß er gar nicht auf unsere konkrete Situation, nämlich auf die Frage, ob Nachfolgeorganisation oder Ersatzorganisation oder neue Partei, Bezug nimmt. Es ging damals vielmehr um das Verbot der NPD, das ja bekanntlich nur dadurch hätte erreicht werden können, daß man einen Antrag nach Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes gestellt hätte. Und im übrigen darf ich dazu sagen: Benda hat damals erklärt, nur Einzelheiten rechtlicher und politischer Art wolle er im Bundestag nicht aussprechen; natürlich aber wolle er eine klare Antwort darauf geben, wie er die Rechtslage abstrakt beurteilt.Die Bundesregierung vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß das einschneidende Mittel des Parteiverbots nur als äußerstes und letztes Mittel zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eingesetzt werden dürfe. Aber das Grundgesetz setzt ja gerade eine streitbare Demokratie voraus, die auf dem Gebiet des politischen Extremismus den Anfängen eben wehren soll. Die Bundesregierung setzt sich mit ihrer Auffassung damit in Gegensatz zu Sinn und Geist des Grundgesetzes in dieser Frage.
Zur Untermauerung dieser meiner Auffassung möchte ich auf die Rechtsauffassung des Bundesjustizministers Jahn und des Bundesverteidigungsministers Schmidt zurückgreifen.
Bundesminister Jahn führte in einer Antwort auf einen Brief aus: „Kein Staat duldet Parteien, deren erklärtes Ziel es ist, die Grundordnung ihres eigenen Staates anzugreifen oder zu zerstören."
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Baier? — Bitte!
Herr Kollege Dr. Miltner, halten Sie es nicht für ein Zeichen von Interessenlosigkeit dieser Bundesregierung an den Sicherheitsfragen, wenn kein Bundesminister in diesem Saale anwesend ist oder überhaupt zuhört?
Herr Kollege, darf ich Ihre Auffassung dahin gehend auslegen, — -
— Meine Damen und Herren, soeben ist der Herr Bundesinnenminister auf die Regierungsbank zurückgekehrt. Ich darf vielleicht mit Ihrer gütigen Erlaubnis in meinen Ausführungen fortfahren.
Ich darf das Zitat des Herrn Bundesjustizministers Jahn fortsetzen. Er sagte 1969: „Die Bundesregie-
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Dr. Miltnerrung würde jedoch ihre Verantwortung dem Staat gegenüber mißachten, wenn sie die Verfassungsmäßigkeit einer Partei, von deren Staatsfeindlichkeit sie überzeugt ist, nicht vom Bundesverfassungsgericht überprüfen ließe."
Eine ähnliche Erklärung hat damals auch der Bundesverteidigungsminister Schmidt abgegeben. Als damaliger Fraktionsvorsitzender ließ er im Auftrag der Fraktion noch folgende Antwort erteilen: „Ihre Ansicht, die Möglichkeit eines Verbotsantrages solle nur als Ultima ratio in Anspruch genommen werden — das heißt doch wohl erst dann, wenn bereits akute unmittelbare Gefahren für den demokratischen Staat gegeben sind —, scheint ein Widerspruch in sich zu sein; denn in einer solchen Situation kann es für eine Anwendung des Art. 21 bereits zu spät sein."Der Herr Bundesverteidigungsminister hat allerdings später wieder eine Kehrtwendung gemacht, als er am 25. Februar 1972 im Deutschen Fernsehen folgendes erklärte:Ich sehe überhaupt keine Schwulitäten einer Bundesregierung oder einer Landesregierung in der Bundesrepublik gegenüber der DKP. Ich bin glücklich, daß da endlich eine kommunistische Partei auftritt, die bei jeder Wahl einen lächerlich kleinen Bruchteil der Stimmen öffentlich aufweist, die sie bekommt. Ich war in den frühen 50er Jahren aus politischen Gründen der Meinung, daß es sehr unzweckmäßig sei, die DKP zu verbieten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt?
Ich bin mit dem Zitat noch nicht zu Ende.
Wir kriegten alle die Untergrund- und diese getarnten Organisationen. Heute ist das ganz nützlich, daß die DKP da ist. Natürlich kann, um die Frage genau zu beantworten, die Bundesregierung, wenn sie das für geboten hält, jederzeit den entsprechenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe stellen. Aber ich kann für absehbare Zeit voraussagen, daß diese Bundesregierung das für sie unzweckmäßig finden wird.
— Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Kollege Miltner, halten Sie eine Partei für besonders gefährlich —gefährlich für die Bundesrepublik, jetzt im politischen Sinne —, die in Ihrem Heimatland BadenWürttemberg gerade ein Wahlergebnis von 0,5 010 erzielt hat?
Ich kann Ihnen darauf nur antworten: Im Wahlergebnis natürlich nicht. Aber diese Partei ist eine von draußen gesteuerte Partei, die in diesem Zusammenhang nicht vergleichbar ist mit einer anderen hier in unserem Land, etwa mit der NPD.
Weiterhin darf ich Ihnen sagen, daß sich die Aktivität dieser Partei auch nicht etwa allein auf die Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen erstreckt, sondern daß diese Partei ihre Aktivität jetzt vornehmlich auch in Betriebe verlegt hat.
Wenn die Auffassung der Bundesregierung wirklich so ist, wie das am 25. Februar der Herr Verteidigungsminister im Fernsehen erklärt hat, dann muß ich dieser Bundesregierung allerdings entgegenhalten: Dieser Staat ist weder ein Polizeistaat, noch ist er ein Zweckstaat, sondern er ist ein sozialer Rechtsstaat, und die Frage, ob eine Bundesregierung ein Parteiverbot beantragen will oder wie im Falle der DKP eventuell selbst durchführen muß, ist eben keine Zweckmäßigkeitsfrage, sondern ist eine staatspolitische und verfassungspolitische Frage ersten Ranges.Das weitere Argument, das der Herr Innenminister und die Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage vorgebracht haben, lautet, in Verbotsfragen dürfe man nicht mit dem Säbel rasseln, lange öffentliche Diskussionen über Parteiverbote machten die Waffe stumpf, die betroffene Partei könne sich auf die Lage einstellen und ein Verbot unterlaufen. Das alles klingt etwas plausibel, aber ist in der Sache eben nicht richtig. Wenn die Frage des Verbots einer Partei erörtert wird, dann ist das auch ein Stück präventiven Verfassungsschutzes, selbst wenn wir das hier im Bundestag oder im Innenausschuß machen. Soll etwa eine Warnung in diesem Zusammenhang nicht gut sein? Nicht nur das Bundesverfassungsgericht oder der Bundespräsident, wir alle sind Hüter unserer Verfassung. Das galt auch 1967, als der damalige Justizminister die DKP zu ihrer Gründung beriet. Die beiden bisherigen Verbotsurteile — SRP und KPD — in Karlsruhe haben klare Kriterien für ein Parteiverbot herausgearbeitet. Jede Partei, NPD oder auch DKP, kann und muß sich daran und am Parteiengesetz orientieren. Wenn wir hier etwa so tun, als wenn wir darüber nicht sprechen könnten und wollten, werden meines Erachtens die Verfassungsfeinde davon bestimmt nicht vorsichtiger, sondern sie werden ihr Haupt immer noch frecher erheben.Herr Bundesinnenminister, Sie meinten dann, eine radikale Partei könne das Verbot unterlaufen. Ich glaube, das wird eine radikale Partei fast immer versuchen, wenn sie nur irgendwie raffiniert ist. Sie wird sich dann nicht an die freiheitlich-demokratische Grundordnung halten, wenn sie damit rechnen kann, daß aus bestimmten politischen Gesichtspunkten ein Verbot überhaupt nicht zu erwarten ist, etwa wenn man der Auffassung ist, ein Verbot passe aus Zweckmäßigkeitsgründen überhaupt nicht in die politische Landschaft. So ähnlich muß man den Verteidigungsminister Schmidt verstehen. Hier, glaube ich, gilt auch der Satz: Wer hierzu schweigt, der stimmt eben auch zu.
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Dr. MiltnerAls dritter Gesichtspunkt wurde genannt, es sei unzumutbar, das Damoklesschwert eines Verbots über einer Partei schweben zu lassen. Wenn dieser Gesichtspunkt richtig wäre, müßte man sich fragen: Verdienen eigentlich unsere Verfassungsfeinde eine solche Rücksichtnahme? Im übrigen haben wir uns auch gerade beim Radikalistenbeschluß nicht daran gehalten. In diesem demokratischen und freiheitlichen Staat muß eben derjenige, der gegen diese Ordnung Politik macht, von vornherein damit rechnen, daß seine verfassungsfeindliche Politik unterbunden wird. Es ist eben einfach unrealistisch, die Meinung zu vertreten, man müsse diese Verfassungsfeinde zunächst einmal in Sicherheit wiegen, um dann plötzlich das Schwert aus der Scheide zu holen und zuzuschlagen.
— Das sagt der Innenminister, Herr Kollege. — Der Erfolg wäre dann eben um so größer.Wenn die Bundesregierung im Innenausschuß erklären läßt, die DKP setze die Arbeit der verbotenen KPD fort, so muß sie sich fragen lassen, ob sie dem KPD-Urteil von 1956 eine fortdauernde Wirkung sichern will oder nicht. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um die Frage des Verbotsantrages nach Art. 21 des Grundgesetzes, sondern um die Frage Nachfolgeorganisation oder Ersatzorganisation. Wenn diese Fragen von der Bundesregierung aus irgendwelchen Gründen bisher nicht beantwortet worden sind, dann, glaube ich, setzt sie sich der Gefahr aus, daß man von ihr sagt, ihr passe heute ein Verbot nicht in die politische Landschaft. Will sie das erklären, so muß ich fragen.Jede Bundesregierung kann und muß sich an dem Auftrag des Grundgesetzes messen lassen. Dieser Auftrag heißt, den Rechtsstaat uneingeschränkt zu verwirklichen. Zur Gemeinsamkeit auch in diesen Fragen des politischen Extremismus gehört es, daß wir korrekte Antworten auf unsere Fragen bekommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schneider .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat die Tatsache, daß ich einen Artikel des Schriftstellers Heinrich Böll aus dem „Spiegel" zitiert habe, zum Anlaß genommen, diese Art, mit einem Schriftsteller umzugehen, scharf zu kritisieren und mein Verhalten zurückzuweisen. Ich habe diesen Artikel im Zusammenhang mit meinen Ausführungen zur inneren Sicherheit zitiert, und ich hatte dafür gute Gründe; denn dieser „Spiegel"-Artikel hat in der letzten Sondersitzung des Innenausschusses eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Weil das eine nicht öffentliche Sitzung war, will ich jetzt im Gegensatz zur Übung manchen Mitgliedes dieser Bundesregierung davon absehen, wörtlich zu zitieren.
Die Mitglieder des Innenausschusses, vor allen Dingen die Kollegen der SPD wissen aber, daß sich der höchste Kriminalist des Bundes speziell zu diesem Artikel eingelassen hat, und zwar sehr kritisch — wie ich glaube, mit hervorragenden Gründen. Der „Spiegel"-Artikel des Herrn Heinrich Böll war kein Beitrag zur Erhöhung der inneren Sicherheit in unserem Lande. Ich muß also die Kritik des Herrn Bundeskanzlers zu diesem Punkte entschieden zurückweisen. Die Kritik war ungerechtfertigt, und sie war auch in einem Ton vorgetragen, der sicherlich nicht dem eines Gewählten, sondern mehr dem eines Erwählten entsprochen hat.
Noch ein Wort zum Herrn Justizminister. Er hat gesagt, wir hätten keine Vorschläge gemacht. Weil ich keine Zeit habe, nenne ich nur Stichworte. Ich habe konkrete Vorschläge gemacht zum Waffenrecht, zu den flankierenden Maßnahmen, zum Melderecht, zum Kriegswaffengesetz, zum Sprengstoffgesetz, zum Schutz von Kfz-Kennzeichen gegen Mißbrauch und zur Durchsuchungsbefugnis für Kraftfahrzeuge im Rahmen von Fahndungsaktionen. Auch insoweit muß ich die Behauptung des Herrn Justizministers entschieden zurückweisen, und ich bitte, in Zukunft besser zuzuhören.
Das Wort wird nicht mehr gewünscht. Dann schließe ich die Aussprache zu der Regierungserklärung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Fortsetzung der zweiten und dritten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1972
— Drucksachen VI/2650, zu VI/2650, Nachtrag zu VI/2650, VI/3350 bis VI/3376 —
Zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Seidel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Namen der Koalitionsfraktionen SPD/FDP stelle ich den Antrag — nach § 82 der Geschäftsordnung des Bundestages —, den dem Plenum vorliegenden Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1972 an den Haushaltsausschuß zurückzuverweisen. § 82 der Geschäftsordnung hat den Wortlaut:Solange nicht die letzte Einzelabstimmung erledigt ist, kann die ganze oder teilweise Zurückverweisung an einen Ausschuß erfolgen. ... Ebenso können bereits erledigte Teile überwiesen werden.Daher beantrage ich ausdrücklich, die gesamte Vorlage — auch mit ihren bereits in zweiter Beratung erledigten Teilen — zurückzuverweisen.Am 19. Oktober 1971 ist der Entwurf des Bundeshaushalts 1972 im Bundestag eingebracht wor-
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Seidelden. Der Haushaltsausschuß hatte seine Beratungen am 13. April 1972 abgeschlossen. Die zweite Beratung im Plenum des Bundestages begann am 26. April und wurde am 28. April unterbrochen. Von der Einbringung des Regierungsentwurfs im Oktober 1971 sind bis heute acht Monate vergangen.Seitdem die wirtschaftspolitische Funktion des Etats verfassungsrechtlich verankert worden ist, kann es notwendig werden, daß der Haushalt sowohl nach dem Kabinettsbeschluß über den Regierungsentwurf bis zur Verabschiedung des Haushaltsplanes durch das Parlament als auch beim Vollzug angepaßt wird an konjunkturelle und stabilitätspolitische Erfordernisse. So haben die Koalitionsfraktionen am 26. April einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die Nettokreditaufnahme von 7,3 Milliarden DM auf 6 Milliarden DM zu reduzieren, und zwar durch über die bisherige globale Minderausgabe von 1,2 Milliarden hinausgehenden Einsparungen und anderen Haushaltsverbesserungen. Ferner soll durch Verhandlungen mit den Ländern und Gemeinden entsprechend der gemeinsamen Empfehlung des Konjunkturrates für die öffentliche Hand und des Finanzplanungsrates vom 9. März 1972 auf ein gleichgerichtetes Verhalten der Gebietskörperschaften hingewirkt und erforderlichenfalls eine Rechtsverordnung zur Begrenzung der öffentlichen Kreditaufnahme nach § 19 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes vorgelegt werden.Bevor wir den Bundeshaushalt 1972 hier im Hohen Hause weiter beraten und verabschieden, sollten wir vernünftigerweise im Fachausschuß die Anregungen der Koalitionsparteien überprüfen und sachgerecht beschließen.Zur Sache liegen außerdem von der Opposition einige Anträge vor, die vom Haushaltsausschuß ebenfalls in seine neuen Beratungen aufgenommen werden müßten. In und seit der zweiten Lesung zum Haushalt 1972 sind eine Reihe von Fragen in die Debatte eingebracht worden, die der Klärung im Fachausschuß bedürfen.Meine Damen und Herren, wir handeln im Staatsinteresse, wenn die neuen sachbezogenen Fragen zum Bundeshaushalt vorerst im Haushaltsausschuß abgeklärt werden, um danach mit dem neuen Bericht des Haushaltsausschusses den Etat 1972 verabschieden zu können. Ich bitte, dem Antrag zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, es ist zur Geschäftsordnung der Antrag gestellt worden, den Haushaltsplan an den Haushaltsausschuß rückzuverweisen. Hierzu zur Geschäftsordnung Herr Abgeordneter Wagner .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben den Antrag der Koalitionsfraktionen auf Zurückverweisung des Haushalts 1972 an den Haushaltsausschuß gehört. Es ist das erstemal, daß eine KoalitionsFraktion einen derartigen Antrag stellt.
Und es ist nach meiner Meinung auch einmalig, was sich hinter diesem Vorgang verbirgt.
Meine Damen und Herren, vor rund einem halben Jahr hat die Bundesregierung den Haushaltsplan für das Jahr 1972 eingebracht.
Der Bundesfinanzminister hat damals versucht, diesem Haushalt Glanz zu verleihen durch Formulierungen wie diese: der Haushalt sei ein Beitrag zur Wiedergewinnung unserer Stabilität,
und er bezeichnete die Vorlage als einen Haushalt der Vernunft.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU hat damals schwerwiegende Bedenken an der Richtigkeit dieser Prognose klar und deutlich angemeldet. Der Bundesfinanzminister versuchte, diese Bedenken zu zerstreuen und erklärte, der Haushalt sei solide und maßvoll konstruiert. Er sprach weiter von einem Haushalt, der genau auf die kommende Situation maßgeschneidert sei.
Noch im März dieses Jahres wurden unsere Einwendungen als Panikmache, als Verunsicherung des Staatsbürgers und als Diskriminierung der Regierung diffamiert. Und nun, zwei Monate später, Ende Mai, erklärt der Bundesfinanzminister in einer Kabinettsvorlage, dieser gleiche Haushalt sei stabilitätspolitisch nicht mehr zu vertreten.
Kürzungsvorschläge machen seither in der Öffentlichkeit die Runde. Das Presse- und Informationsamt fordert zu gemeinsamem Handeln auf. Ich meine: jedermann in unserem Lande konnte erwarten, daß die Bundesregierung alles tut, um diesen Prozeß der Unsicherheit und des Wirrwarrs zu beenden.
Jedermann konnte erwarten, daß sie eine klare Stellungnahme darüber abgibt, was zu diesem Sinneswandel und zu dieser andersgearteten Beurteilung des Haushalts geführt hat. Jedermann konnte erwarten, daß die Bundesregierung die wirkliche finanzielle Lage vor diesem Haus darstellt und solide Vorschläge zur Wiedergewinnung der Stabilität unterbreitet. Aber nichts von dem ist geschehen. In zwei Sitzungen des Ältestenrates ist unsere Aufforderung an die Bundesregierung, sich zu äußern, ohne Echo geblieben. Und auch heute schweigt die Bundesregierung.
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Wagner
Statt dessen beantragt der Sprecher der Koalitionsfraktionen die Rücküberweisung des Haushalts an den Haushaltsausschuß, also zu Verhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Und dies, meine Damen und Herren, ohne das er überzeugende Gründe für diese Maßnahme angibt, ohne daß er die Zielsetzung für die Verhandlungen im Haushaltsausschuß beschreibt.
Dies weiter, ohne daß dem Plenum des Bundestages die Möglichkeit gegeben wird, sich selbst zur Lage zu äußern und dem Haushaltsausschuß für seine Beratungen entsprechende Empfehlungen mit auf den Weg zu geben. Dies bedeutet nach unserer Auffassung Mißachtung der parlamentarischen Arbeit dieses Hauses.
Wer so handelt, will entweder die eigene Ratlosigkeit verbergen, oder er will der Sachentscheidung ausweichen, in dem Wissen, daß er zwar noch zur Bewältigung von Geschäftsordnungsdebatten in der Lage ist,
die ja in unserem Hause ein besonderes Abstimmungsverhältnis haben, aber nicht mehr in der Lage ist zu regieren.
Wenn die Bundesregierung den Vorwurf der Ratlosigkeit entkräften will, muß sie zu einer umfassenden und ungeschminkten Bestandsaufnahme über die Lage der Finanzen bereit sein, muß sie solide Vorschläge zur Lösung der finanziellen Probleme unterbreiten und klare Aussagen über die Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung und damit über die künftigen Gesetzgebungsvorhaben machen. Darauf hat das Plenum des Deutschen Bundestages Anspruch.
Ich fasse zusammen: Die Koalition liefert eine unzureichende Begründung für den Antrag auf Zurücküberweisung des Haushalts an den Haushaltsausschuß. Die Regierung schweigt dazu gänzlich. Sie verweigert die Auskunft darüber, welche Vorschläge sie machen will. Sie verweigert die Auskunft, wie es um die mittelfristige Finanzplanung bestellt ist. Sie weigert sich zur gemeinsamen Bestandsaufnahme.
Ich fordere an dieser Stelle namens der CDU/ CSU die Bundesregierung noch einmal auf, heute und hier zu diesem Fragenkomplex Stellung zu nehmen. Wird diese Sachaussage weiter verweigert, müssen wir — ich wiederhole es — darin eine Mißachtung des Parlaments erblicken.
Unter diesen Umständen sieht die Fraktion der CDU/CSU keine Möglichkeit, dem Antrag auf Zurückverweisung des Haushalts 1972 an den Haushaltsausschuß zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirst.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Wagner, weder ist Ihr Vorwurf zutreffend, daß unser Antrag eine Mißachtung des Parlaments darstellt, noch ist Ihr Vorwurf zutreffend, daß der Antrag auf Rücküberweisung des Haushalts mit allen dazugehörenden Vorlagen sachlich nicht zu begründen sei oder nicht begründet sei. Ich glaube, die Begründung für die Rücküberweisung ergibt sich einfach aus der Tatsache — wenn man das berücksichtigt, erledigt sich auch Ihr Einwand, dies sei erstmals; es geschieht immerhin alles erstmals, bevor es sich wiederholt —,
daß die Beratung des Haushalts — ich will jetzt nicht vertiefen, warum —, wenn wir genau rechnen, sechs Wochen unterbrochen worden ist.
Wir werden darüber, wenn nötig, in der dritten Lesung reden, und dann werden wir feststellen, wo die Verantwortung dafür liegt. Dabei werden Sie nicht gut aussehen!
— Ich habe ein Mikrophon, Sie nicht; das ist mein Vorteil.Da wir das gemeinsame Interesse haben, einen zeitgemäßen Haushalt zu verabschieden, ergibt sich aus dieser Unterbrechung zwangsläufig die Notwendigkeit der Rücküberweisung, ganz abgesehen davon, Herr Kollege Wagner, daß sich die Zeiten, insbesondere die konjunkturellen Zeiten, sehr schnell ändern. Sie können bei Gott nicht Aussagen, die im Oktober, im Dezember oder auch noch im Februar unter diesen Aspekten gemacht worden sind, im Juni zitieren, um damit zu beweisen, daß das, was im Oktober gesagt worden ist, falsch gewesen ist. Ich will nicht den Rahmen der Geschäftsordnungsdebatte sprengen. Auch das werden wir Ihnen zur gegebenen Zeit nachzuweisen vermögen.
— Es ist z. B. auch Ihnen, Herr Müller-Hermann, bekannt, daß seit der Unterbrechung im April ein neuer Steuerschätzungstermin war, was z. B. auch zu berücksichtigen wäre.
— Kein Trick, sondern die Wahrheit! Daß am 15. Mai ein neuer Steuerschätzungstermin war, ist kein Trick, sondern die Wahrheit. Wo da der Trick sein soll, müssen Sie mir erst noch nachweisen. Es ist in der Tat so, daß es im Haushalt sehr viele Positionen gibt, deren Berechnungsgrundlagen — das wissen die Haushaltsausschußmitglieder selbst — sich sehr schnell zu ändern vermögen. Jeder Haushalt ist, genau genommen — das gehört zum haushaltswirtschaftlichen Einmaleins, - eine Momentaufnahme,
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Kirstund er könnte, genau genommen, jeden Tag neu geschrieben werden.Ich meine, es gibt neben den Vorschlägen, die aus allen Fraktionen des Hauses hier zur zweiten und dritten Lesung eingebracht worden sind, eine Reihe von Umständen, die es sachlich rechtfertigen, diese Rücküberweisung vorzunehmen, wobei wir auch Wert darauf legen, Herr Wagner, hier nicht den Haushalt 1972 und die Fragen für den Zeitraum 1973 bis 1976 miteinander zu verquicken. Darüber werden wir zur gegebenen Zeit im Herbst sprechen. Wenn ich von „Sprechen" rede und Sie beklagen, daß wir hier nicht erst eine große Debatte führen, so sage ich Ihnen: Sie können sich darauf verlassen, daß alles das, was Sie von der Regierung wünschen, im Haushaltsausschuß gesagt werden wird. Ich meine nur, Sie, Herr Wagner, als Geschäftsordnungsspezialist, müßten wissen, daß bei der Lage, mit der wir am 27. oder 28. April 1972 abgebrochen haben, das, was Sie wollen, gar nicht möglich wäre. Wenn wir nämlich jetzt nicht rücküberweisen, fahren wir fort, in allen Einzelheiten über den Etat des Außenministers, des Innenministers, des Justizministers usw. zu beraten,
was nicht sachdienlich wäre, wenn wir uns an und für sich einig sind, daß diese Unterbrechung insgesamt eine Rücküberweisung gebietet. In Anlehnung an das, was hier heute geschehen ist, meinen wir, das genug geredet ist. Wir wollen nicht noch mehr Reden zum Fenster hinaus, sondern praktische Arbeit im Haushaltsausschuß.
Das Wort hat der Abgeordnete Höcherl.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann dem Kollegen Kirst nur beipflichten: es ist erstmals, daß wir einen solchen so beispiellosen Vorgang hier erleben müssen. Da ist auch historisch einmalig; alles unter der Parole: mehr Demokratie!
Dieser Haushalt 1972, reichlich verspätet, ist erst vor zwei Monaten im Haushaltsausschuß abschließend beraten worden, er ist praktisch noch taufrisch. Er soll jetzt mitten in der zweiten Lesung wieder an diesen Ausschuß zurückverwiesen werden. Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben.
Unter den gegebenen Voraussetzungen, auf die ich hier gleich noch etwas näher eingehen werde, können wir diesem Antrag die Zustimmung nicht geben, da er in dieser Form — das ist ein sehr ernster Vorwurf — dem Geist und dem Buchstaben unserer Verfassung und der Haushaltsordnung widerspricht.
Herr Kollege Kirst, der Haushalt ist auch zeitgemäß, nämlich ein echter Inflationshaushalt:
Sicher ist er auch der schlechteste, der je in diesem Hause vorgelegt wurde.
Sicher verstößt er kraß gegen die stabilitätspolitischen Erfordernisse und die Grundsätze einer soliden Finanzpolitik. Sicher ist er in dieser Form auch nicht akzeptabel, und wir werden ihn auch zurückweisen. Über diese seit Monaten bekannte Tatsache hat nun Herr Schiller in einer Rührung des Gewissens seinen Kabinettskollegen endlich am 18. Mai 1972 die Augen geöffnet und durch eine gezielte Indiskretion die Öffentlichkeit informiert. Trotzdem hat diese Regierung nicht die Kraft und den Willen, sich zu einer Entscheidung aufzuraffen, sie hat sich hier zu einer Verschwörung des Schweigens verbunden.
Mit Hilfe der sie tragenden Fraktion — sie hat ja nur noch eine Geschäftsordnungsmehrheit und keine Sachmehrheit in diesem Hause — sucht sie nun Zuflucht zu Manipulationen. Dazu wird die Geschäftsordnung dieses Hohen Hauses mißbraucht.
Die einfache und nackte Rückverweisung an den Haushaltsausschuß ist nicht der richtige Weg. Die Regierung wäre verpflichtet gewesen, entweder diesen Haushalt zurückzunehmen und einen besseren und adäquaten Haushaltsentwurf vorzulegen
oder — und dazu hatte sie die Möglichkeit; das ist damals ausdrücklich neu in die Haushaltsordnung eingeführt worden — einen Ergänzungshaushalt einzubringen. Es ist so, daß gerade die SPD-Fraktion dieses Instrument damals veranlaßt und sehr gefördert hat. In beiden Fällen aber hätten sich dann der Bundesrat und der Bundestag als die dafür zuständigen Verfassungsorgane mit der notwendigen grundlegenden Umgestaltung befassen können. Die Regierung traut sich aber nicht in den Bundesrat, weil sie dort auch keine Mehrheit hat. Jetzt wird das Mitwirkungsrecht des Bundesrates im ersten Durchgang unterschlagen. Dem Bundestag als Ganzes wird keine Gelegenheit gegeben, den Haushaltsausschuß mit den notwendigen Direktiven für die Entscheidung zu versehen. Nach welchen Kriterien soll eigentlich der Ausschuß seine Entscheidung fällen? Nicht einmal die Fraktionen, die diese Regierung tragen, d. h. nurmehr stützen können, denn von Tragen kann gar nicht mehr die Rede sein,
haben die Gelegenheit wahrgenommen, Vorschläge vorzulegen.Meine Damen und Herren, zu welchem Zweck und mit welchem Ziel soll im Haushaltsausschuß neu beraten werden? Soll die Vorlage Gegenstand der Beratungen sein, die der Bundeswirtschafts- und
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Höcherl-finanzminister der Öffentlichkeit vorgelegt hat, bevor seine Kollegen im Kabinett die Möglichkeit hatten, sich nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung damit zu befassen? Er brauchte aber den öffentlichen Rückenwind, weil die eigene Kraft nicht ausreicht und der Führungswille für eine solche Entscheidung, die natürlich peinlich ist, nicht zur Verfügung gestellt wird.
Wenn man Motivforschung treibt, ergibt sich in Wahrheit, daß hier der Versuch unternommen wird, mit Hilfe von Geschäftsordnungstricks eine Aussprache über die katastrophale Lage der Staatsfinanzen abzuwürgen.
Die Regierungsparteien spekulieren auf den Ausschluß der Öffentlichkeit, den ihnen nur die vertraulichen Ausschußberatungen eröffnen, auf den baldigen Beginn der Parlamentsferien und die im August beginnenden Olympischen Spiele, mit deren Hilfe die Finanzkrise, die Inflationspolitik und die Entscheidungsschwäche dieser Regierung vergessen gemacht werden sollen.
— Herr Wehner, ich kann Ihnen nur zustimmen: Sie bewegen sich mit dieser Methode nicht nur etwas, sondern ganz außerhalb der Legalität.
Der Grund ist einfach: Die Regierung ist innerlich zerstritten. Wir haben ja in der Zwischenzeit Stimmen gehört, wie es mit den Kürzungsvorschlägen des Finanzministers steht. Auch die Verhältnisse haben sich nicht so rasch geändert. Seit zweieinhalb Jahren haben wir eine Inflation mit einer V0 von 5 bis 6 %. Das ist nichts Neues. Das ist eine Begleiterscheinung, ein wesentlicher Bestandteil dieser Regierungsarbeit. Infolgedessen sind wir nicht in der Lage, einem solchen Trick eine Unterstützung zu geben. Gehen Sie den ordnungsgemäßen verfassungsrechtlichen Weg.
— Ich habe sie im Kopf, Herr Wehner. Das ist wichtig.
Herr Wehner, Sie sollten das nachlesen. Es gibt einen einwandfreien Weg: Ergänzungshaushalt.
— Es tut mir leid, offenbar doch. Wir sind nicht in der Lage, angesichts eines solchen Tricks bei einer schweigenden Regierung mit Ihnen diesen Weg zu gehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Haehser.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und meine Herren! Ich will nicht auf alles eingehen, was der Kollege Höcherl gesagt hat.
Er hat ja selber nicht alles ernst gemeint; dafür hat er bei seinem Vortrag zuviel gelacht.
Aber zwei Dinge nehme ich ernst. Erstens : Die Koalition bewegt sich nicht außerhalb der Legalität,
denn wer will bestreiten, daß die Geschäftsordnung, die von diesem ganzen Deutschen Bundestag erlassen worden ist, ein Stück ist, mit dem wir unsere Arbeiten einrichten.
Zweitens meine Damen und meine Herren, nehme ich etwas anderes sehr ernst, was der Kollege Höcherl vorgebracht hat, nämlich den Vorwurf, gerichtet an die Regierungsparteien, sie manipuliere mit einer Geschäftsordnungsmehrheit.
Meine Damen und meine Herren, man kann morgens nicht über die Berliner reden und sich abends darüber beschweren, daß sie in diesem Hause Stimmrecht haben.
Lassen Sie mich noch einmal rein sachlich darstellen, was uns bewegt. Sie wissen es oder Sie müßten es wissen, daß die Bundesregierung in ihrem Entwurf eine globale Minderausgabe von 1,2 Milliarden DM von sich aus vorgesehen hatte.
— Mit Schreien hat man noch nie etwas hinzugelernt, Herr Kollege Baier. — Sie wissen es oder Sie müßten es wissen, daß die Koalitionsparteien einen Entschließungsantrag eingebracht hatten, der eine Verringerung der Nettokreditaufnahme um 1,3 Milliarden DM vorsah. Dies sind zusammen, wenn Sie zählen können, 2,5 Milliarden DM, und dieses Geld nimmt man doch nicht als Einsparung irgendwo vom Mond, sondern aus den Einzelplänen.
Und nun will ich Ihnen etwas sagen. Die Kolleginnen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß wissen es, wie stolz wir manchmal darauf sind, Kürzungsmöglichkeiten von 10 oder 50 Millionen DM gefunden zu haben. Hier geht es um 2,5 Milliarden DM; sie verändern den Etat, und diese Etatveränderungen müssen im Fachausschuß beraten werden.
Dort geschieht doch nichts Geheimes. Meine Damenund meine Herren, der Haushaltsausschuß legt doch
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Haehsernach dem Ende seiner Beratungen kein Geheimpapier auf den Tisch, sondern ein Papier, das hier im Deutschen Bundestag beraten wird. Deswegen stehen wir zu diesem Geschäftsordnungsantrag. Er ist nicht nur legal, sondern auch absolut sachgerecht.
Das Wort hat der Abgeordnete Leicht.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt keine Begründung dafür, heute den Haushalt, von dem vier Etats behandelt, drei davon verabschiedet, einer nicht verabschiedet und noch rund 20 Etats in zweiter Lesung zu lesen sind, an den Haushaltsausschuß zurückzuüberweisen, da Prüfungsmaterial für den Haushaltsausschuß nicht vorliegt.
Es gibt keine Begründung, Herr Kollege Kirst und Herr Kollege Haehser — auf die verfassungsrechtliche Seite wird Herr Kollege Jenninger noch einmal eingehen —,
für die Rücküberweisung. Die Begründung, die man anführen könnte, wäre — und jetzt bringe ich Ihr „erstmals" —, daß es erstmals in dieser Bundesrepublik der Fall ist, daß eine Regierung keine Mehrheit mehr hat, und daß es auch erstmals so war, daß der Kanzleretat abgelehnt worden ist.
Ich selbst sehe in dem Antrag auf Rücküberweisung zunächst das Eingeständnis der Bundesregierung — und das kann die Koalition nicht tun — in die eigene Unfähigkeit. Wir sehen unsere Feststellung bestätigt
— hören Sie nur gut zu! —, daß das der schlechteste Haushalt ist, der je den Haushaltsausschuß passiert hat, daß er in dieser Form nicht verabschiedungsreif ist, wie sich jetzt herausstellt.
Er bedarf — und auch darin stimme ich den gewandelten Erkenntnissen der Regierungsfraktion zu — einer grundlegenden Umgestaltung. Aber, meine Damen und Herren, eine Rücküberweisung an den Ausschuß könnte nur dann sinnvoll sein, wenn folgende fünf Punkte von der Regierung — und nicht von der Koalition erfüllt — würden:Erstens. Die Bundesregierung muß konkrete Kürzungsvorschläge, aufgeteilt auf die einzelnen Ausgabeansätze, vorlegen. Wo sind sie? Sonst fehlt uns im Ausschuß die Beratungsgrundlage, für die die Regierung nach der Verfassung und nach dem Stabilitätsgesetz zuständig ist.
Sonst wird auch die klare Kompetenzaufteilung zwischen Exekutive und Legislative auf den Kopf gestellt und die Verantwortlichkeit verwischt. DerHaushaltsausschuß kann keine Funktionen des Finanzministeriums übernehmen,
und die Regierung will sich weiter die Lorbeeren, wie ich meine, der Reformversprechen an den Hut steecken. Deshalb schweigt sie nämlich, stellt sich aber bei der schmutzigen Arbeit, ihre Versprechen an der finanzpolitischen Wirklichkeit zu messen, ins Abseits.
Zweitens. Auch die „Schattenhaushalte" müssen in die neuen Beratungen des Haushaltsausschusses einbezogen und in den Haushalt eingebaut werden, damit nicht der neue Haushalt mit dem Makel der Unwahrhaftigkeit und Unehrlichkeit weiter behaftet bleibt.Drittens. Die zweite und dritte Lesung muß noch vor der Sommerpause stattfinden. Der Staat kann es sich nicht leisten, weiterhin praktisch durch eine Regierung mit Notverordnungen regiert zu werden.
Viertens. Die Regierung muß die ernsthafte Bereitschaft erkennen lassen, sich einer Lösung der Finanzprobleme der mehrjährigen Finanzplanung zu stellen. Als erster Schritt muß deshalb sofort eine ungeschminkte Bestandsaufnahme der Finanzsituation — Teile hat der Finanzminister in seinem Schnellbrief an das Kabinett geliefert; veröffentlicht in der Presse, davon haben wir erfahren — unter Berücksichtigung aller rechtlichen Verpflichtungen und beschlossenen Programme erfolgen.Fünftens. Der Haushaltsentwurf 1973 und der neue mehrjährige Finanzplan bis 1976, einschließlich der dazu notwendigen Sanierungsprogramme, müssen vom Kabinett so rechtzeitig verabschiedet werden, daß diese Unterlagen in der ersten Sitzungswoche im September im Bundestag behandelt werden können, wie es das Gesetz vorschreibt.Solange die Regierung die Erfüllung dieser fünf Punkte nicht zusichert — sie kann es hier jetzt tun —, müssen wir feststellen, daß der wahre Grund des Geschäftsantrages ist, daß die Regierung nicht mehr den Mut und die Kraft hat, sich in offener Diskussion den Sachproblemen hier in diesem Haus zu stellen.
Der Herr Bundeskanzler schweigt. Draußen spricht er von demagogischem Gerede, z. B. in München auf Wahlversammlungen. Hier wäre der Platz, sich mit uns über diese Frage auseinanderzusetzen.
Der Bundesfinanzminister flüchtet hilfesuchend in die Öffentlichkeit. Er hat ein Papier erstellt. Wir wären dankbar gewesen, wenn es in dieses Haus eingeführt worden wäre.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
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LeichtEs steht nirgendwo geschrieben — — Warten Sie doch ab, Herr Wehner, Sie kommen nämlich jetzt noch gleich dran.
Es steht nirgendwo geschrieben, daß die Opposition dabei helfen soll,
eine Regierung aus einer Zwickmühle herauszuholen, in die sie sich selber hineinmanövriert hat. Das ist ein Wort von Helmut Schmidt vom 30. November 1965.
Sie müssen den politischen Konkurs, Herr Bundeskanzler — dieses Wort ist von mir —, den Sie erlitten haben, und seine politischen Begleiterscheinungen selbst verantworten. Das ist ein Wort von Herbert Wehner vom 23. November 1966.
An diese Worte — Herr Wehner, Sie hören sie nicht gern, ich weiß es —, an diese Worte von Ihnen und von Herrn Schmidt werden wir uns halten.
An ihnen werden wir unsere Entscheidungen zu orientieren haben. Wenn hier und heute die Bundesregierung — der Bundeskanzler und sein zuständiger Minister — schweigt, wenn mit Geschäftsordnungsdebatten im Trüben gefischt wird
und die uns allen auf den Nägeln brennenden Sachprobleme den Augen der Öffentlichkeit entzogen werden, dann ist doch die Vertrauensbasis für eine sachliche Zusammenarbeit schon zerstört, bevor sie überhaupt geschaffen worden ist.
Meine Damen und Herren, wir haben noch vier Wortmeldungen. Ich möchte Sie gern damit einverstanden wissen, daß wir dann möglichst zum Schluß kommen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gallus.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß wir in aller Sachlichkeit hier miteinander feststellen können, daß der Antrag, den Haushalt in den Ausschuß zurückzuüberweisen, nach der Geschäftsordnung möglich und von der Sache her durchaus gerechtfertigt ist,
und zwar deshalb: Herr Kollege Leicht, ich vermisse die Logik in Ihren Ausführungen.
Sie sprechen davon, daß dieser Haushalt umgestaltet werden müsse. Und wo könnte er besser umgestaltet werden als in sachgerechter Beratung im Haushaltsausschuß und nicht in Polemik hier?
Und seien Sie beruhigt, meine Damen und Herren
von der Opposition: es kommt alles zu seiner Zeit.
— Ja, ich stelle hier große Einmütigkeit fest.
Schließlich habe ich schon bei der Beratung des Kanzlerhaushalts in bezug auf unseren Entschließungsantrag davon gesprochen, daß wir die Kredite beschränken müssen, und zwar nicht nur beim Bund, sondern auch bei den Ländern und den Gemeinden.
Und, meine sehr verehrten Anwesenden
— Damen und Herren, ja —, wir verstoßen mit diesem Antrag — lassen Sie sich das auch gesagt sein — nicht gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes, wie Herr Kollege Höcherl hier gesagt hat. Es entbehrt ja nicht einer gewissen Pikanterie, daß das ein Kollege sagt, der früher einmal das Wort gebraucht hat, er könne hier nicht dauernd mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen.
2,5 Milliarden sind doch schließlich kein Pappenstiel! Darum geht es.
Wir von der FDP unterstützen die Rückverweisung an den Haushaltsausschuß ganz entschieden, weil nur dort eine fach- und sachgerechte Beratung gewährleistet ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Althammer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich nach dieser Einlage
zu dem Ernst zurückkehren, der der Sache angemessen ist.
Meine Damen und Herren, es handelt sich in der Tat um einen sehr schwerwiegenden Vorwurf, der hier — und das möchte ich verdeutlichen — nicht
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Dr. Althammerden Abgeordneten dieses Hauses, sondern der Regierung gemacht worden ist.
Die Tatsache, daß dieser Antrag auf Rückverweisung gestellt wird, geht nämlich nicht etwa darauf zurück, daß sich aus diesem Hohen Hause die Notwendigkeit dazu ergeben hätte, sondern basiert auf einem Brief des Wirtschafts- und Finanzministers;
im Kabinett ist die Veranlassung dafür gegeben worden.
Wenn die Regierung hierzu die Veranlassung gibt, gibt es einen in der Verfassung und in der Bundeshaushaltsordnung vorgeschriebenen Weg: entweder einen Ergänzungshaushalt vorzulegen oder nach Verabschiedung noch einen zusätzlichen Haushalt einzubringen.
Und dann werden die in der Verfassung vorgesehenen Organe damit befaßt.
Ich finde es besonders bedauerlich, daß trotz dieser Dinge, die hier vorgetragen werden, die Regierung es nicht für notwendig hält, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen.
Man kann aus diesem Schweigen der Regierung nur die Schlußfolgerung ziehen, daß sie dieser Deduktion offenbar nicht widersprechen kann.
Wir wenden uns auch deshalb gegen die Rückverweisung, weil wir bei diesem Bundeshaushalt 1972 eine Verschleppungsabsicht schon seit der Einbringung, die bereits verspätet war, feststellen müssen.
Die weitere Verschleppung nach einer verspäteten Einbringung im Vorjahr entgegen § 30 der Bundeshaushaltsordnung ist erfolgt, als man mit Rücksicht auf die Landtagswahlen in Baden-Württemberg die zweite und dritte Lesung verschoben hat.
Wer noch nicht glaubte, daß dahinter eine ganz klare Taktik steht, konnte es in einem der Regierung sehr nahestehenden Blatt, im „stern" vom 4. Juni 1972, nachlesen.
Dort heißt es nämlich, daß Herr Minister Ehmke mitseinem Chefberater Jochimsen im Kanzleramt einenNotstandsplan ausgearbeitet hat, dessen zweiter Punkt lautet — ich zitiere —: „Die Haushaltsberatung darf nicht mehr vor der Sommerpause fortgesetzt werden."
Weiter unten heißt es dann: „Um die von der Opposition geforderte weitere Lesung des Haushalts zu verhindern, soll die Etatvorlage nach geringfügigen Änderungen in den Haushaltsausschuß zurückverwiesen werden."Wir haben neben diesem Rückverweisungsantrag einen zweiten einmaligen Vorgang, nämlich die Tatsache, daß einer der wichtigsten Einzelhaushalte, verfassungsmäßig sogar der wichtigste Einzeletat, der des Bundeskanzlers, abgelehnt worden ist.
Was wir nach dieser Ablehnung des Kanzleretats in der Öffentlichkeit erleben mußten, macht uns wieder zutiefst besorgt und ist ein neuer Grund dafür, daß wir die größten Bedenken gegen eine Rückverweisung haben. Ich finde es als Abgeordneter einfach skandalös,
wenn Regierungsvertreter in der Öffentlichkeit erklären, es sei gar nicht so schlimm, wenn ein Haushalt abgelehnt ist, die Regierung könne auch ohne Haushalt weiterregieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind bisher immer davon ausgegangen, daß es in einer Demokratie eines der vornehmsten Rechte des Parlaments ist — der Kollege Möller hat beim Haushalt sogar einmal vom „Schicksalsbuch der Nation" gesprochen —, daß das Etatrecht auch eine politische Entscheidung beinhaltet.
Man kann darüber nicht zur Tagesordnung übergehen!Es erfüllt uns auch mit Besorgnis, wenn Art. 111 und Art. 112 GG etwa als Legitimation dafür herangezogen werden sollen, daß man über die Sommerpause hinweg und möglicherweise auch im zweiten Halbjahr 1972 ohne Etat regiert. Herr Bundeskanzler, nach der Ablehnung Ihres Einzelhaushalts gäbe es nur eine einzige saubere demokratische Lösung, um die Dinge zu erledigen: daß Sie nämlich, wie es in jeder Demokratie selbstverständlich ist, die Konsequenzen ziehen und zurücktreten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Bülow.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie beschäftigen sich heute abend mit Vorliebe mit den Mehrheitsverhältnissen in diesem Hause, und Sie hacken dar-
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Dr. von Bülowauf herum. Aber es muß Ihnen doch vorgehalten werden, daß die entscheidende Kraftprobe, gegen diese Regierung, die Sie versucht haben, gescheitert ist. Hieraus läßt sich doch alles das folgern, was Sie hier versuchen.
Sie haben praktisch keine Vorschläge zur Sache gemacht; Sie haben das Verfahren kritisiert.
— Sie haben das Verfahren kritisiert, und zum Verfahren ist folgendes zu sagen. Der Haushalt 1972 liegt diesem Parlament zwischen erster und zweiter Lesung zur Entscheidung vor. Das Parlament ist Herr des Haushaltsgebungsverfahrens, solange der Haushalt 1972 nicht verabschiedet worden ist. Bei diesem Verfahrensstand muß sich das Parlament, wenn entscheidende Gesichtspunkte eintreten, die eine andere Beurteilung rechtfertigen oder notwendig machen, erneut damit beschäftigen. Der entscheidende Ort, wo das in einer sachlichen und nicht für die Schaufenster auszulegenden Art geschehen kann, der Haushaltsausschuß. Wieso die Rückverweisung, die nach § 82 der Geschäftsordnung ausdrücklich vorgesehen ist, gegen das Grundgesetz oder gegen das Recht verstößt, ist mir auch nach den Ausführungen von Herrn Althammer und insbesondere denen von Herrn Höcherl völlig unerfindlich. Die Geschäftsordnung des Bundestages ist eindeutig.Zur Sache ist zu sagen, daß dieser Haushalt bereits vor Monaten vorgelegt worden ist und daß damals nach Ihrer eigenen konjunkturellen Analyse, meine Damen und Herren von der Opposition, der Untergang der deutschen Wirtschaft unmittelbar bevorstand. Damals ging das Wort von der Rezession um, die nicht beherrscht werden könne, und die Sachverständigen diskutierten darüber, ob der Haushalt — der Eventualhaushalt und der allgemeine Haushalt — überhaupt ausreiche, um die Kurve aus der Talsohle heraus zu bekommen.Nun haben sich die Dinge entscheidend gewandelt. Die Konjunktur hat sich geändert. In dieser Situation muß zur Sache debattiert werden, und das geht nicht in der Art und Weise, wie wir heute schon den ganzen Tag miteinander umgehen, in einer demagogischen Art und Weise.
Deshalb stellen wir den Antrag, den Haushalt und die gesamte Vorlage an die Stelle zurückzuverweisen, die sachkundig darüber entscheiden kann und die auch die Vorschläge der Regierung entgegennehmen kann, und das ist der Haushaltsausschuß, der dann diesem Plenum seinen sachkundigen Bericht vorlegen wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Jenninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege von Bülow hat soeben beanstandet, daß die Opposition noch keine Vorschläge gemacht habe. Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Regierungsparteien, wir warten ja darauf, daß Sie Vorschläge machen, damit wir dann über die Sache beraten können.
Im Augenblick haben wir den Zustand, daß sich ein frei gewählter Abgeordneter dieses Staates nur dann informieren kann, wenn durch Indiskretionen aus der Regierung etwas bekannt wird.
Damit Sie es klar wissen: wir haben nichts dagegen, daß man über diese Dinge, weil sich die konjunkturelle Situation verändert hat, noch einmal im Haushaltsausschuß verhandelt. Aber im Augenblick ist doch die Situation die,
daß durch eine Indiskretion aus der Regierung folgendes bekanntgeworden ist: erstens, daß wir 2,5 Milliarden DM kürzen müssen, zweitens — da sind ja noch viel schönere Dinge bekanntgeworden —, daß die Regierung jetzt schon für den Haushalt 1972 580 Millionen DM überplanmäßige Ausgaben vorgesehen hat, drittens, daß nicht gedeckte Risiken von über 4 Milliarden DM vorliegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist einfach die verfassungsrechtliche Pflicht der Bundesregierung, daß sie hierzu einen Ergänzungshaushalt vorlegt.
Dazu, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Sozialdemokratie, will ich Ihnen sagen, daß es Ihre Fraktion war, die den durchaus klugen Gedanken hatte — es war der Kollege Schoettle, wie ich nachgelesen habe —, dieses Institut des Ergänzungshaushaltes in das Haushaltsgesetz und in die Verfassung in Art. 110 einzufügen. Lesen Sie einmal Art. 110 Abs. 3 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 32 der Bundeshaushaltsordnung nach! Hier heißt es ausdrücklich, daß bei wesentlichen Veränderungen des Haushalts — und da gebe ich Ihnen, Herr Kollege Haehser, völlig recht, es handelt sich hier um eine Veränderung des Haushalts — die Regierung verpflichtet ist, diesem Hohen Hause über den Bundesrat Ergänzungsvorlagen zuzuleiten.
Dazu haben wir gerade diese Ausnahme von Art. 76 unseres Grundgesetzes, daß Haushaltsergänzungsvorlagen über Art. 110 Abs. 3 gemacht werden
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Dr. Jenningermüssen. Im Gegensatz zum normalen Gesetzgebungsverfahren hat die Regierung bei den Haushaltsvorlagen das Einbringungs-Monopol und damit auch die Pflicht zu Vorlagen. Das Parlament muß, wie Sie alle wissen, diese Vorlagen auf jeden Fall behandeln. Wir wehren uns deswegen grundsätzlich auch nicht dagegen, wenn die Regierung pflichtgemäß eine Vorlage einbringt, uns dann auch im Haushaltsausschuß mit diesen Fragen zu befassen.Diese Ergänzungsvorlage ist auch aus einem zweiten Grund notwendig. Die Regierung verstößt mit der jetzigen Haushaltssituation so ziemlich gegen alle wichtigen Grundsätze des Haushaltsrechts. Dadurch, daß jetzt schon überplanmäßige Ausgaben von 580 Millionen DM angekündigt werden, wird der Grundsatz der Veranschlagungspflicht verletzt. Weiter: der Haushalt ist nicht mehr ausgeglichen, der Grundsatz der Haushaltswahrheit und -klarheit ist verletzt! Das sind verfassungsrechtliche Grundsätze, die Sie — Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, wir brauchen mehr Demokratie und mehr Recht in diesem Staate! — einhalten müssen.
Ich sage — das habe ich nicht mit meinen Freunden aus der Fraktion abgestimmt — für mich als Mitglied des Haushaltsausschusses folgendes: Der Herr Bundekanzler hat zu einer Gemeinsamkeit in Haushaltsfragen aufgefordert. Ich bin sehr dafür, daß man sich darüber Gedanken macht. Aber zur Gemeinsamkeit gehören für mich Ehrlichkeit, Wahrheit und Klarheit. Erst dann kann man über die Dinge sprechen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie machen genau das Gegenteil. Deswegen machen wir dieses Spiel nicht mit!
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.
Wir kommen zur Abstimmung.
— Die Debatte ist geschlossen.
— Der Herr Abgeordnete Barzel bittet ums Wort. Es ist hier oben nicht bekannt gewesen, daß die Wortmeldung vorlag. Das Wort hat Herr Abgeordneter Barzel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierung schweigt, obwohl es um ihren Haushalt geht. Die Koalition möchte gern — —
— Schreien Sie doch ein bißchen, meine Damen und Herren, schreien Sie doch! Es paßt alles zum Stil, in dem Sie versuchen, dieses Parlament hier auszuschalten.
Sie wollen, Herr Bundeskanzler, den Haushalt, Ihren Haushalt, Ihren abgelehnten Haushalt an den Haushaltsausschuß zurückverweisen. Im Hinblick auf die Lage der öffentlichen Finanzen haben wir Ihnen auf allen Wegen gesagt, daß man darüber mit uns reden kann, wenn das hier begründet wird. Diese Begründung ist ausgefallen. Sie weigern sich, uns zu sagen, was Sie im Haushaltsausschuß wollen, zu welchem Zweck er angerufen werden soll. Dieses Haus soll nur einen geschäftsleitenden Beschluß fassen ohne die Direktiven, die dieses Haus beschließen können muß.Wir haben den Kollegen Schiller erlebt, der in die Öffentlichkeit geflüchtet ist mit einer Vorlage. Wir wollen — bei aller Hitzigkeit dieses Tages — doch eines festhalten. Das ist das erste Mal, daß Kollege Schiller schweigt. Wie schwer muß ihm das fallen, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Schiller, kommen Sie her, bringen Sie Ihre Vorlage ein, lassen wir sie debattieren!
Warum wollen wir das erst im Haushaltsausschuß machen?Herr Bundeskanzler, warum sind Sie eigentlich so schweigsam? Durch das Bundespresseamt haben Sie uns heute auffordern lassen, die Opposition möge ihren Beitrag zur Lösung der Probleme leisten. Herr Bundeskanzler, welchen Beitrag hätten Sie denn gern von der Opposition geleistet bekommen? Kommen Sie hierher und sagen Sie das! Einen Blankoscheck können wir doch nicht ausstellen!
Dann wird mit dem Trick gearbeitet: Dieser Haushalt gehe die Regierung nichts mehr an; er sei Sache des Hauses.War es vielleicht eine „Presseente", daß unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers die Politik, die die Koalitionsfraktionen jetzt machen sollen, beschlossen worden ist? Das war doch wohl so, Herr Kollege Ehmke? Sie waren ja sicherlich dabei. Und nun kein Wort von Ihnen, Herr Bundeskanzler! Das können wir nicht unterstützen. Das, was wir nun machen müssen, ist eine Ablehnung wegen Mißachtung des Parlaments.Das ist doch das Ernste: Zweite Lesung: Ablehnung des Haushalts des Kanzlers. Der Bundeskanzler kommt dann und sagt: Nun bitte ich die Koalition, das alsbald in dritter Lesung in Ordnung zu bringen. Wann ist dieses „alsbald", Herr Bundeskanzler? Heute soll es offenbar nicht sein. Vielleicht
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Dr. Barzelim September? Und weshalb bringen Sie hier andere Themen in die Debatte?
Das Ganze ist doch eine Politik, die ökonomisch sagt: Nach uns die Sintflut!
Diese Form des Eingeständnisses Ihres Scheiterns,
das Scheitern durch Siechtum, verantworten allein Sie, Herr Bundeskanzler!
Das Wort hat der Abegrdnete Wehner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 5. Juni 1972 hat der Vorstand der Fraktion der CDU/CSU verlautbart, daß sich diese Fraktion „der Rücküberweisung des Bundesetats 1972" — so heißt es dort — „an den Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages nicht widersetzen" werde.
— Nein! — Dann steht dort —
— ich bitte Sie, ich habe ja das Papier vor mir; Sie haben es nicht ganz auswendig gelernt —, „unter der Voraussetzung, daß ...". Dann folgen alle die Voraussetzungen, die wir heute gehört haben. Die brauche ich Ihnen nicht vorzulesen; denn wir haben eine geschäftsordnungsmäßig festgesetzte Redezeit, an die ich mich zu halten trachte.
Der Vorsitzende der CSU, der Herr Kollege Franz Josef Strauß, hat gestern in einem Interview eine der Voraussetzungen genannt, unter denen die Opposition darauf verzichten werde, „durch demagogische Agitation die Regierung an der Durchführung dieser unbequemen Maßnahmen zu hindern". Wir hatten sowieso nicht angenommen, daß Sie der demagogischen Agitation fähig seien. Sie bieten das hier als Verzicht an, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
Die Voraussetzungen werden im Haushaltsausschuß erfüllt. Das ist die sauberste Art,
die Haushaltsdebatte, die abgebrochen worden ist, fortzuführen. Was Sie wollen, ist ein Wulst. Sie möchten sozusagen entweder Einzelplan für Einzelplan jeweils zu einer Generaldebatte benutzen oder eine in keiner Weise mit der Geschäftsordnung und mit der Tagesordnung zu vereinbarende
Methode der Generaldebatte finden. Wir wollen die saubere Methode:
Rückverweisung — jawohl! —, Rückverweisung, und dann wird dort das Notwendige geschehen — um in der Sprache Ihres Herrn Franz Josef Strauß zu reden —: die Hosen runter! — Nicht wahr, Herr Stücklen? Sie sind ja sein Statthalter!
— Das ist Ihre Sprache, nicht meine.
Ich beglückwünsche die Regierung, daß sie sich bis jetzt weder hat reizen noch locken lassen, hier zu sprechen. Denn Sie wissen ganz genau: wenn einer aus der Regierung nur den Mund aufmacht, ist die Debatte eröffnet, und das wollen Sie. Sie wollen den Kropf leeren. Wir wollen Rücküberweisung. Schönen Dank!
Meine Damen und Herren, wird noch das Wort gewünscht? — Herr Abgeordneter Mischnick!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu dem vorhergehenden Vorgang lag meine Wortmeldung bereits vor.Die Oppositionsparteien haben hier mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß nach ihrer Meinung eine gründliche Beratung des Haushalts notwendig ist. Wie bei anderer Gelegenheit haben sie natürlich nicht die Konsequenz daraus gezogen, sondern tun das Gegenteil von dem, was sie selbst verkündet haben, und überweisen nicht in den Haushaltsausschuß.
Es ist nachgerade zur Methode der Oppositionsparteien geworden, daß sie hier sagen: Es ist richtig, im Haushaltsausschuß zu beraten, aber weil es die Koalition beantragt, deshalb werden wir dagegen stimmen. Das ist nicht mehr konstruktive Opposition, sondern das ist Obstruktion.
Die Oppositionsparteien haben angekündigt, daß morgen eine Aktuelle Stunde stattfinden soll, um über die Sache zu reden. Wenn das geschieht — es liegt in Ihrer Hand —, werden Sie erleben, daß zu den Sachfragen sowohl von den Koalitionsparteien wie von der Regierung in dieser Aktuellen Stunde Stellung genommen wird. Wir werden es eben so tun, wie wir es für richtig halten. Denn Sie können uns nicht aufzwingen, wie wir uns im Plenum verhalten.
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11064 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Juni 1972
MischnickHerr Kollege Barzel, Sie betonen immer wieder, daß der Haushalt des Bundeskanzlers nicht die Mehrheit gefunden hat. Das ist richtig! Es ist genauso richtig, wie Sie keine Mehrheit für Ihren Mißtrauensantrag gefunden haben.
Meine Damen und Herren, wird noch das Wort gewünscht?
Das ist nicht der Fall.
Ich stelle fest: das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Geschäftsordnungsdebatte.
Wir kommen zur Abstimmung über den Rückverweisungsantrag. Wer dem Antrag, den Bundeshaushalt 1972 an den Haushaltsausschuß zurückzuverweisen, zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit; der Antrag ist angenommen.
— Meine Damen und Herren, ich stelle fest, daß hier keine Aussprache zur Sache, sondern eine Geschäftsordnungsdebatte stattgefunden hat.
Die heutige Tagesordnung ist damit erschöpft. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Donnerstag, den 8. Juni, 14 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.