Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung .
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte
ich Sie darauf hinweisen, dass die Kollegin Christina
Kampmann auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag verzichtet . Für sie ist die Kollegin Elfi Scho
Antwerpes nachgerückt . Im Namen des Hauses begrüße
ich Sie herzlich . Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit .
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/5921 – hier handelt es sich um das Gesetz zur Ver-
besserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung
ausländischer Kinder und Jugendlicher – zur Mitbera-
tung an den Haushaltsausschuss zu überweisen . Sind Sie
damit einverstanden? – Ich vermute, ja; ich höre nichts
Gegenteiliges . Dann haben wir das so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2015
Drucksache 18/6100
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
25 Jahre Deutsche Einheit – Leistungen wür-
digen, Herausforderungen angehen
Drucksache 18/6188
Zum Jahresbericht der Bundesregierung liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache insgesamt 77 Minuten vorgesehen . –
Auch dazu kann ich Einvernehmen feststellen . Dann ver-
fahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke .
I
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirreden hier nur noch selten über die alten Ost-West-Unter-schiede und über all das Holpern und Stolpern auf unse-rem Weg der letzten 25 Jahre . Vielleicht ist das ja auchein Indiz dafür, dass unser Blick nach vorne gerichtet ist .Den jungen Leuten bedeuten diese alten Unterschiedeohnehin nicht mehr viel . Das ist eigentlich ermutigend .Aber uns anderen, den Älteren und den nicht mehr ganzso Jungen, steckt so manches in den Knochen, was sichnicht so einfach abschütteln lässt . Wer im Jubiläumsjahrnur Sekt trinken oder nur Trübsal blasen möchte, hatnicht begriffen, was im Osten in den letzten 25 Jahreneigentlich passiert ist .Meine Damen und Herren, der Prozess der deutschenEinheit ist nicht immer in geraden Bahnen, sondernzum Teil auch sehr widersprüchlich verlaufen . Ich hoffesehr, dass das in meinem Bericht deutlich geworden ist .Das liegt mir sehr am Herzen . Wir dürfen nicht darüberschweigen, dass nicht wenige von denen, die vor 25 Jah-ren hoffnungsvoll und mit großen Träumen in die neue
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512424
(C)
(D)
Gesellschaft gestartet sind, bittere und zum Teil demüti-gende Niederlagen erlebt haben .Es gab nicht nur andauernden Erfolg und immerwäh-rendes Wachstum . Es gab auch Deindustrialisierung undverheerende Massenarbeitslosigkeit . Es gab falsche Ver-sprechungen und verheerende Fehleinschätzungen . Eswurde eben längst nicht so schnell alles besser, wie sichdie meisten Ostdeutschen das erhofft hatten . Und: DieEinheit war eben auch nicht aus der Portokasse zu bezah-len, wie die meisten Westdeutschen es geglaubt hatten .Wir fanden uns gemeinsam recht schnell wieder in denMühen der Ebenen .Bereits 1992 titelte der Spiegel „Opfer für den Osten –Das Teilen beginnt“ . Und schon 1995 entdeckte die glei-che Zeitschrift das „Milliardengrab ‚Aufschwung Ost‘“ .Natürlich lässt sich die deutsche Einheit nicht auf die-se Irrungen und Wirrungen reduzieren, aber sie gehörendazu . Man kann lange darüber streiten, ob sich das alleshätte anders und besser managen lassen . Einige Fehler –davon bin ich persönlich überzeugt – hätten sich schonvermeiden lassen . Aber eine Partei, die nach eigener De-finition immer recht hat, gibt es Gott sei Dank bei unsnicht mehr, und die Unfehlbarkeit ist meines Wissensdem Papst vorbehalten .
Ich nehme sie jedenfalls für mich nicht in Anspruch undkann auch allen anderen nur abraten .Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, uns die Ge-schichte zurechtzubiegen und das zu beschönigen, wasnicht ganz so gut gelaufen ist oder was vielleicht sogartotal schiefgelaufen ist . Das wäre Wasser auf die Mühlender Vereinfacher und Populisten, die sich dann ihrerseitsdie Vergangenheit zurechtbiegen und mit Halbwahrhei-ten und Lügen auf Stimmenfang gehen . Wir dürfen kei-ne nachträgliche Verklärung einer Diktatur hinnehmen,in der es Bautzen und den Schießbefehl gab und in derman Jugendliche dazu gebracht hat, sich gegenseitig zubespitzeln . Und es darf nicht beschönigt werden, wennes darum geht, welch totalen Umbruch die Ostdeutschenerlebt haben und wie viele von ihnen dabei gescheitertsind .Trotz alledem fällt meine Bilanz positiv aus . Der Auf-bau Ost ist insgesamt gelungen . Das Ziel gleichwertigerLebensverhältnisse ist in vielen Bereichen erreicht . Wirverfügen heute über eine moderne mittelständisch ge-prägte Wirtschaft und eine gut ausgebaute Infrastruktur .Massive Umweltschäden wurden beseitigt, die Städtewurden saniert und viele Altbauten liebevoll restauri-ert . In vielen Bereichen ist der Angleichungsprozess gutvorangekommen . Aber – und das ist ein großes Aber –Ostdeutschland hinkt bei der Wirtschaftskraft und beiden Steuereinnahmen weiter deutlich hinterher . Die Ar-beitslosigkeit ist deutlich höher als im Westen, und dieLöhne sind deutlich niedriger . Der Aufholprozess kommtschon seit Jahren nur noch sehr langsam voran . Die ost-deutsche Wirtschaft wächst zwar, aber die westdeutscheWirtschaft wächst eben auch . Man könnte sagen: Wirverfolgen ein Ziel, das sich genauso schnell bewegt wiewir selbst, und deswegen kommen wir ihm derzeit leidernicht näher . Wir brauchen einen langen Atem .Zurückzuführen ist das vor allem auf die Kleinteilig-keit der ostdeutschen Wirtschaft . Diese Kleinteiligkeit istein strukturelles Problem . Uns fehlen im Osten die Groß-unternehmen und Konzerne und ihre Forschungs- undEntwicklungsabteilungen . Angesichts dessen vertretenmanche unterdessen die Auffassung, dass der Osten denWesten niemals einholen kann . Das ist eine sehr gefähr-liche Argumentation . Wer ihr folgt, könnte glatt auf dieIdee kommen, dass man komplett aus der Ostförderungaussteigen könnte .Meine Damen und Herren, ich bin nicht naiv . Ichweiß, dass diese Auffassung längst von manchen vertre-ten wird, bislang allerdings noch eher hinter vorgehalte-ner Hand . Aber ein Ende der Ostförderung würde bedeu-ten, einen Motor abzuwürgen, den man gerade mit vielAufwand zum Laufen gebracht hat . Das wäre grotesk .Dann wäre vieles, ganz vieles umsonst gewesen . Einereine Ostförderung ist nach dem Auslaufen des Solidar-pakts II im Jahr 2019 allerdings auch niemandem mehrzu vermitteln . Was unser Land deshalb für die Zeit nachdem Solidarpakt braucht, ist eine zuverlässige Förderungder strukturschwachen Regionen in Ost und West .
Was der Osten außerdem braucht, ist ein fairer Bund-Län-der-Finanzausgleich, der dafür sorgt, dass besonders inden von Abwanderung betroffenen Regionen die zent-ralen Aufgaben, etwa im Bereich der Daseinsvorsorge,auch in Zukunft erfüllt werden können .Meine Damen und Herren, es gibt noch ein Thema,das mir auf der Seele liegt . Das ist die für 2019 verspro-chene Angleichung der Renten in Ost und West . Ich binden Koalitionsfraktionen dafür dankbar, dass sie diesesVersprechen mit ihrem Antrag noch einmal bekräftigthaben .
Es handelt sich um die letzte Rechtsungleichheit von grö-ßerer Bedeutung . Es geht dabei natürlich um die Vollen-dung der sozialen Einheit . Die Rente, meine Damen undHerren, darf nicht zum Symbol der Ungleichheit werden .
Meine Damen und Herren, wir haben viel erreicht,und den Rest schaffen wir auch noch . Die Deutschen inOst und West, wir alle haben morgen allen Grund, zu fei-ern . Ich wünsche mir – nicht nur für diesen Tag – einDeutschland, das seine Einheit feiert, ohne seine Ge-schichte zu vergessen .Herzlichen Dank .
Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12425
(C)
(D)
Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heutehalte ich meine letzte Rede als Fraktionsvorsitzender imDeutschen Bundestag .
– Warten Sie! Los sind Sie mich noch nicht; denn ichbleibe ja im Bundestag .
Aber ich werde dann deutlich seltener und auch zu ande-ren Anlässen reden .
Ich muss schon deshalb aufhören, weil ich jetzt längereine Abgeordnetengruppe bzw . eine Fraktion leite alsHerbert Wehner oder Wolfgang Mischnick . Da sagte ichmir: Gregor, nicht übertreiben!
Lassen Sie mich etwas zur deutschen Teilung sagen .Die deutsche Teilung war das Ergebnis der NS-Diktaturund des Zweiten Weltkrieges, der 50 Millionen Men-schen das Leben kostete . Die Sowjetunion allein erlebteden Tod von 27 Millionen Menschen . Die Vernichtungder europäischen Jüdinnen und Juden kostete 6 Millio-nen Menschen das Leben . Viele Länder waren zerstört,auch Deutschland . Deutschland selbst verzeichnete6,3 Millionen Tote .Die Strafe der Siegermächte für Deutschland war eineVerringerung des Territoriums und letztlich auch diedeutsche Teilung . West- und Ostdeutsche hatten keinefreie Entscheidung hinsichtlich des Systems . 1952 gabes die Stalin-Note mit dem Angebot geheimer Wahlen inbeiden deutschen Staaten . Ich meine, Adenauer hätte da-rauf eingehen sollen;
aber es gab schon den Kalten Krieg .Das wichtigste Ergebnis der deutschen Einheit 1990bestand darin, dass durch diese Einheit ein Krieg zwi-schen den beiden deutschen Staaten ausgeschlossenwurde . Wäre der dritte Weltkrieg in der Zeit des KaltenKrieges je begonnen worden, dann hätte er – da warensich die USA und die Sowjetunion einig – zwischen denbeiden deutschen Staaten begonnen . Uns alle hätte esnicht mehr gegeben .Die Einheit ist auch dank des Mutes vieler Ostdeut-scher zustande gekommen . Die Vorteile für den Ostensind offenkundig: Es ist ein Gewinn an Freiheit und De-mokratie . Nie wieder wird es eine Mauer in Deutschlandgeben . Wir haben eine funktionierende Wirtschaft, keineMangelwirtschaft . Endlich hatten die Ostdeutschen einefrei konvertierbare Währung, die Deutsche Mark statt derMark der DDR, das heißt eine Währung, die man welt-weit einsetzen konnte .Trotzdem: Die Vor- und Nachteile hängen von dersubjektiven Bewertung jeder und jedes Einzelnen ab . Fürviele gab es eine Bereicherung, auch für mich; aber sehrviele wurden auch arbeitslos . Ein 50-Jähriger, der bis zurRente arbeitslos blieb, hat die Bereicherung kaum emp-funden . Und Männer sind anders gestrickt als Frauen .Männer empfinden ihre Bedeutung nur über ihre beruf-liche Tätigkeit
– hören Sie doch mal zu! – und unterliegen dann nochdem Irrtum, dass sie, wenn sie höher bezahlt werden,eine höhere Bedeutung haben . Frauen bringen neues Le-ben zur Welt und haben deshalb eine andere Perspektiveals wir Männer . Aber auch für Frauen gab es Verluste,und zwar insbesondere bei den Kindereinrichtungen .
Wir Menschen sind außerdem so gestrickt: Wir genießenweniger, was wir haben, und leiden mehr unter dem, waswir nicht haben .Nun lassen Sie mich aber auch Kritisches sagen . Un-ser Vorschlag für die Wirtschaft bestand 1990 darin, ab1 . Juli ein Jahr lang sämtlichen DDR-Unternehmen alsSubvention die Lohnkosten zu erstatten, ein Jahr späternur noch 90 Prozent davon, wieder ein Jahr später nurnoch 80 Prozent – also eine degressive Subvention überzehn Jahre hinweg . Alle Unternehmen hätten die Chancegehabt, die Produkte in besserer Qualität oder auch neueProdukte herzustellen, dafür zu werben . Natürlich wärenauch bei diesem Weg viele Unternehmen in Konkurs ge-gangen, aber nicht so viele, wie es tatsächlich geschehenist . Stattdessen entschied die Treuhandanstalt: manchmalscheinbar – zum Beispiel, wenn Konkurrenz beseitigtwurde –, manchmal tatsächlich eher willkürlich, manch-mal auch sinnvoll .Nach Abschluss der Privatisierung Ende 1994 gab esnur noch 1,5 von einst 4,1 Millionen Arbeitsplätzen inden Treuhandunternehmen . Die Treuhandverluste bei derPrivatisierung betrugen 200 Milliarden Euro . Wie jetztfestgestellt wurde, bleibt die Wirtschaft im Osten wohlfast ewig hinter der westdeutschen zurück . Nur die Poli-tik könnte wirksame Schritte dagegen einleiten .
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512426
(C)
(D)
Was mich aber besonders störte, waren zwei Dinge:der Mangel an Respekt vor ostdeutschen Biografien unddem dortigen Leben und kein genaues Hinsehen .
Vieles musste überwunden werden – das steht fest –,aber einiges hätte sinnvoll in ganz Deutschland einge-führt werden können . Wenn man eine Gleichstellung derFrauen will, auch bei der Erwerbsarbeit, dann muss esgenügend Kindertagesstätten und Nachmittagsbetreuungan Schulen geben . Da Ferien länger dauern als der Ur-laub der Eltern, muss es Schulferienspiele und Kinderer-holungseinrichtungen geben .
Das war nicht schlecht und hätte vom Osten übernom-men werden können .
Das gilt auch für Polikliniken, die wir jetzt Ärztehäusernennen .Im Osten gab es bei der Bildung leider – wirklich lei-der; nicht zu vertreten – eine politische Ausgrenzung,aber keine soziale . Vor allem Kunst, Kultur und öffent-licher Nahverkehr waren für jede und jeden erschwing-lich . Heute kann die Tochter einer Hartz-IV-Empfängerinniemals die 9 . Sinfonie von Beethoven im Original hö-ren, nur verquetscht auf dem Computer . Wir müssen unsdarüber wirklich Gedanken machen .
Lothar Späth hat mir erzählt: Als er die Geschäftsfüh-rung von Jenoptik übernahm, hat er sofort den Betriebs-kindergarten geschlossen, weil er der Meinung war: Dassind völlig unnötige Kosten . Dann wollte er zwei fran-zösische Ehepaare, die hochqualifiziert waren, für seinUnternehmen gewinnen . Die hatten aber beide je zweiKinder und fragten ihn, ob das Unternehmen einen Kin-dergarten habe . Da sagte er: Natürlich nicht . Dann sag-ten sie: Dann kommen wir nicht . – Daraufhin hat er denKindergarten wieder eröffnet . Manchmal lohnt es sich,länger nachzudenken .
– In Jena .Das Wichtigste ist: Wenn wir diesen Weg gegangenwären, wenn wir bestimmte Dinge eingeführt hätten,dann hätte das das Selbstbewusstsein der Ostdeutschengestärkt . Was aber noch wichtiger gewesen wäre: DieWestdeutschen würden mit der Vereinigung verbinden,dass in diesen Punkten ihre Lebensqualität gesteigertwurde . Das wäre doch viel positiver gewesen als die jet-zige Einstellung .
Trotzdem sage ich: Wir sind für die neue Generati-on gut vorangekommen bei der Herstellung der innerenEinheit . Aber es müssen schnellstens zwei Dinge passie-ren: die Angleichung der Löhne und der Arbeitszeit inOst und West und die Angleichung der Renten . Für diegleiche Lebensleistung muss es endlich die gleiche Rentegeben .
Bevor ich wenige weitere Wünsche und Bitten über-mittle, muss ich Ihnen mittels eines jüdischen und des-halb wohl intelligenten Witzes die Dialektik erklären . Eskommt ein Jude nach Hause und ist stark frustriert . SeinBruder fragt ihn, warum er so sauer sei . Er antwortet,dass er wütend sei, weil er den Rabbiner gefragt habe, ober beim Beten rauchen dürfte, was dieser strikt verneinthätte . Sein Bruder erwidert, dass er ein Depp sei, weil erdie Frage falsch gestellt habe . Er hätte fragen müssen, ober beim Rauchen beten dürfe, was der Rabbiner immererlaubt hätte . – Sehen Sie: Das ist die Dialektik .
Jetzt komme ich zu einigen Wünschen und Bitten, dieüber das hinausgehen, was ich eben in Bezug auf Ost/West schon gesagt habe .Erstens . Wir müssen Flüchtlinge anständig behandelnund Fluchtursachen wie Krieg, Rüstungsexporte, Hun-ger, Armut und Rassismus bekämpfen . Aber wir dürfendie Benachteiligten bei uns nicht vernachlässigen . Wirbrauchen eine sanktionsfreie Mindestsicherung und einesoziale Mindestrente gegen Altersarmut .
Zweitens . Wenn man einen Abstand zwischen Sozi-alleistungen und Erwerbseinkommen haben will, dannbraucht man einen höheren flächendeckenden gesetzli-chen Mindestlohn: 10 Euro brutto die Stunde .
Drittens . Wir müssen die Mitte der Gesellschaft ent-lasten . Es sind die mittleren Verdiener, die die Gesell-schaft bezahlen, nicht die Vermögenden, nicht die mithohen Einkommen – weil Sie sich an die nicht heran-trauen oder nicht heranwollen –, und nicht die Armen,denn die können es nicht . Dasselbe Beispiel gilt für dieWirtschaft: Die kleinen Unternehmen können nicht dieSteuern bezahlen, die Konzerne und die Banken drückensich davor . Nur der Mittelstand bezahlt ehrlich die Steu-ern . Wir müssen lernen, die Mitte in der Gesellschaft zuschützen .
Viertens . Wir müssen die Bildungsstrukturen erwei-tern . Ich bitte Sie: Wir haben 16 verschiedene Schul-systeme, weil wir 16 Bundesländer haben . Das passt ins19 . Jahrhundert, aber nicht ins 21 . Jahrhundert .
Wir brauchen endlich flächendeckend Kitas, mehr undgut bezahlte Erzieherinnen und vor allem Erzieher . Wirbrauchen in diesem Bereich Gebührenfreiheit und auchDr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12427
(C)
(D)
ein gebührenfreies, gesundes, vollwertiges Mittagessensowohl in Kindertagesstätten als auch in Schulen .
Fünftens . Wir müssen die prekäre Beschäftigung unddie Altersarmut überwinden, jetzt und in Zukunft .
Sechstens . Wir müssen die schlechte Bezahlung dersogenannten Frauenberufe überwinden . Das heißt, end-lich gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit .
Siebtens . Wir müssen zum Primat der Politik zurück,und wir müssen die Macht der Banken und Konzer-ne deutlich zurückfahren; ich erinnere an Bankenkriseund TTIP . Dass die Deutsche Bank entscheidet, was dieKanzlerin macht, und dass nicht mehr die Kanzlerin ent-scheidet, was die Deutsche Bank macht, muss geändertwerden .
Achtens . Wir müssen die Europäische Union und denEuro deutlich demokratischer, sozialer und ökologischerhinsichtlich ihrer Wirkungen gestalten .Neuntens . Wir haben eine geringe Wahlbeteiligung .Sozial Benachteiligte gehen nur noch zu 30 Prozent wäh-len . Sie überlegen sich, Wahllokale länger öffnen zu las-sen . Das wird nicht helfen . Wir müssen die Demokratieattraktiver machen .
Was halten Sie von einer dritten Stimme bei der Bundes-tagswahl, mit der die Bürgerinnen und Bürger die Rei-henfolge auf der Liste der Parteien verändern können?
Nicht nur die direkt Gewählten, sondern auch die aufListen Gewählten wären doppelt unterstellt: Sie müsstenihrer Partei so nahe sein, dass sie auf die Liste kommen,und sie müssten den Bürgerinnen und Bürgern so nahsein, dass ihr Name von ihnen auch angekreuzt wird .Was halten Sie davon, dass jede Partei, die im Bun-destag vertreten ist, anlässlich der Bundestagswahl eineFrage an die Bevölkerung stellen kann, die mit Ja oderNein zu beantworten ist? Das Bundesverfassungsgerichtmuss in einem kurzen Verfahren prüfen, ob sowohl dieAntwort „Ja“ als auch die Antwort „Nein“ grundgesetz-gemäß ist . Außerdem muss es Begrenzungen hinsichtlichder Bindungen des Bundeshaushalts geben, weil wir Lin-ken sonst mit unserer Frage gleich zwei Bundeshaushalteauf einmal ausgeben würden . Das verstehe ich .Was halten Sie von einer Ergänzung unserer Debat-tenkultur? Bisher haben wir doch nur Reden . Wenn wirnur Reden haben, entscheidet man selbst, auf welche Ar-gumente des Vorredners man eingeht oder nicht eingeht .Stellen Sie sich doch einmal vor, neben den Reden hättenwir eine Streitdebatte, zum Beispiel zehn Minuten langein Streitgespräch zwischen Kauder und Gysi, immerredet jeder je eine Minute: Ich kann seinen Argumentennicht ausweichen, er kann meinen Argumenten nicht aus-weichen . Glauben Sie mir, es würde hier sehr viel span-nender werden, wenn wir solche Dinge im Bundestageinführen würden .
Der Ruf der Politikerinnen und Politiker in unsererGesellschaft ist ziemlich schlecht .
Das hat viele Gründe . Aber die wichtige Arbeit der Mit-glieder des Bundestages in den Ausschüssen kann dieÖffentlichkeit nicht wahrnehmen . Ich verstehe, dass mandort kameragerechtes Verhalten verhindern will . Abervielleicht kann man Ausschusssitzungen teils öffentlich,teils nichtöffentlich durchführen, damit die Bürgerinnenund Bürger wissen, wo Abgeordnete außerdem arbeitenund wie viel sie arbeiten .Auch die Fragestunde zur Politik der Bundesregierungmuss meines Erachtens dringend kulturell belebt werden .Zehntens und letztens . Ich wünsche mir eine anderepolitische Kultur . Ich weiß, dass die Union auch in denseltenen Fällen voller Übereinstimmung zusammen mituns keine Anträge stellt .
Ich glaube, das stärkt falsche Ansichten in der Union undbei uns . Denken Sie darüber nach .
Die repräsentative Demokratie zeichnet sich dadurchaus, dass unterschiedliche Parteien unterschiedliche In-teressen vertreten . Die meisten Linken haben begriffen,dass ein Bundestag ohne Union nicht gut wäre, weil dannbestimmte Interessen nicht mehr vertreten wären . Damitkeine Missverständnisse aufkommen: Kleiner, auch deut-lich kleiner, dürfen Sie schon werden, aber nicht fehlen .
Aber ich befürchte, dass es noch zu viele in der Uniongibt, die sich einen Bundestag ohne Linke gut vorstellenkönnen .
– Sehen Sie . – Damit verletzten Sie aber die repräsenta-tive Demokratie; denn wir vertreten andere Interessen,bei denen es vielleicht wichtig ist, dass auch diese imBundestag vertreten sind .
Denken Sie darüber nach .Dr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512428
(C)
(D)
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit .
Das ist die letzte Seite, Herr Präsident .
Ich wünsche mir ein anderes Verhältnis zu histori-
schen Persönlichkeiten .
Ich kenne die Kritik der Linken an Bismarck . Sie ist
berechtigt; trotzdem sage ich: Er war auch ein herausra-
gender Mann . Ich weiß, dass an der Kremlmauer Clara
Zetkin und Fritz Heckert beerdigt sind, wichtige Persön-
lichkeiten . Wenn Sie Franzosen wären – ich schwöre es
Ihnen –: Selbst der konservativste Präsident wäre an den
Gräbern vorbeigegangen und hätte schon mal eine Blu-
me niedergelegt . Noch nie war ein Bundespräsident dort,
noch nie ein Kanzler oder eine Kanzlerin . Lassen Sie uns
diesbezüglich doch ein bisschen französische politische
Kultur und Toleranz einführen . Das stärkt Sie und uns
und unser Land .
Zum Schluss . Ich habe bisher die Abgeordneten nie
als Kolleginnen bzw . Kollegen begrüßt . Das wird Ihnen
gar nicht aufgefallen sein . Das hängt mit den Diskrimi-
nierungen und Verletzungen zusammen, die ich erlebt
habe, auch im Immunitätsausschuss . Die FDP hat bei
mir immer einen kleinen Stein im Brett, und zwar, weil
sie als Einzige nicht mitgemacht hat . Inzwischen werde
ich aber auch mit Respekt behandelt . Nun muss auch ich
mir einen Ruck geben . Deshalb sage ich Ihnen jetzt: Herr
Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche
Ihnen allen aufrichtig beste Gesundheit, schöne Erleb-
nisse, viel Glück und nur ein wenig vom Gegenteil, um
nicht zu verlernen, Glück zu schätzen . Außerdem wün-
sche ich Ihnen allen größte politische Erfolge – natür-
lich nur insoweit, wie sie mit meinen politischen Sichten
übereinstimmen .
Und da Sie für mich immer eine Herausforderung waren,
was zweifellos zu meiner Entwicklung beigetragen hat,
sage ich Ihnen auch: Danke .
Lieber Kollege Gysi, Ihre letzte Rede als Fraktions-
vorsitzender der Linken hatte ja streckenweise fast den
Charakter einer Regierungserklärung .
Dazu fehlt es jetzt nur noch an den erforderlichen Mehr-
heiten .
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem verein-
ten Deutschland – an die Wiedervereinigung erinnern
wir an diesem Wochenende in besonderer Weise – und
dem Staat, der vor 25 Jahren dem Geltungsbereich des
Grundgesetzes beigetreten ist, besteht darin, dass in die-
sem Parlament nicht nur überhaupt auch Minderheiten
zu Wort kommen, sondern regelmäßig auch mit längeren
Redezeiten als ihnen statistisch überhaupt zusteht .
Nun tun wir so, als wäre das eine ganz normale Debat-
te . Ich rufe den nächsten Redner auf . Das ist der Kollege
Hauptmann für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Ichfreue mich, dass der Bundesbeauftragte für die Stasiun-terlagen heute dieser Debatte beiwohnt . – Lieber Thü-ringer Landsmann Roland Jahn, seien Sie herzlich will-kommen bei dieser Debatte im Deutschen Bundestag .Verehrte Gäste und Freunde auf den Tribünen!
Herr Präsident, eine Regierungserklärung sieht schonanders aus . Wir haben hier einen Gregor Gysi erlebt,der wie ein Hobbypsychologe die Geschichte verklärenwill, wie er die Westanbindung Deutschlands ein Stückweit infrage stellt, das war schon ein starkes Stück, HerrKollege . Deswegen möchten wir Sie gleich einmal daranerinnern – damit Sie das auch nach Ihrer letzten Redeals Fraktionsvorsitzender nicht vergessen –: Es waren dieAdenauers, die Brandts und die Kohls, die die Einheitherbeigeführt haben und nicht die Lafontaines, die Hone-ckers und die Gysis dieser Republik .
Liebe Kollegen, wir feiern morgen, am 3 . Oktober2015, auch zentral hier, direkt vor dem Reichstagsgebäu-de, unser silbernes Einheitsjubiläum, 25 Jahre deutscheEinheit . Dass Ostdeutschland in den letzten 25 Jahrenenorm aufgeholt hat, das bestreitet niemand, nicht einmalHerr Gysi . Was mich an dieser Debatte allerdings immerwieder stört, ist der nostalgische Aspekt, der ein Stückweit mitschwingt, auch in Ihren Worten, wodurch unseregeschichtliche Leistung ein Stück weit kleingeredet undauch verklärt wird .Die immensen Anstrengungen der Menschen in Ost-deutschland, die Solidarität der Bürger in Westdeutsch-land, die Integration eines vereinigten Deutschlands
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12429
(C)
(D)
innerhalb der Europäischen Union quasi über Nacht,der wirtschaftliche Erfolg, den wir heute im Jahr 2015feiern – all das sind Beispiele und Kennzeichen dafür,dass wir hier einen Transformationsprozess erfolgreichgemeistert haben, der einmalig ist auf der ganzen Welt .Darauf können wir stolz sein und sollten es auch .
Deswegen geht es heute bei dieser Debatte nicht nurum den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit –die Staatssekretärin hat ihn vorgestellt –, sondern auchum einen Antrag seitens der Koalitionsfraktionen, der diedeutsche Einheit als das würdigt, was sie ist, nämlich einErfolg und ein Geschenk unserer deutschen Geschichte .80 Prozent der Menschen in den neuen Ländern erlebendas auch persönlich so; sie erleben quasi die Wiederver-einigung als das größte historische Glück, das sie erreichthaben .Mit den Worten „Wir sind das Volk“ haben die Ost-deutschen Freiheit und ein besseres Leben angestrebt .Sie waren auch in den schwierigen Jahren, die es nachder Wiedervereinigung ohne Zweifel gab, in diesemTransformationsprozess bereit, hart anzupacken und da-ran mitzuwirken, die deutsche Einheit zu einem gesamt-deutschen Erfolg zu machen . Diesen können wir heutefeiern .Das hört sich immer sehr abstrakt an; dabei ist esunglaublich konkret, wenn es um die Lebensqualitätder einzelnen Menschen geht, wenn es um den Um-weltschutz in den neuen Ländern geht, wenn es um diebessere Anbindung Deutschlands in Europa durch einemoderne Infrastruktur geht und wenn es darum geht,wie es eine innovative Wirtschaft geschafft hat, sich indiesem Transformationsprozess von der Miss- und Plan-wirtschaft hin zur sozialen Marktwirtschaft zu verändern .Das sind ganz konkrete Leistungen, die wir hier heutewürdigen wollen .Das schönste Geschenk haben sich letztendlich dieMenschen selbst gegeben . Denn dank der Lebens- undArbeitsbedingungen und der medizinischen Versorgungist die Lebenserwartung in Ostdeutschland heute siebenJahre länger, als sie noch 1989 war . Das heißt, die Men-schen profitieren selber davon und können tagtäglichnicht nur bei Besuchen von Bundesgartenschauen undLandesgartenschauen erleben, dass blühende Landschaf-ten heute Realität geworden sind .
Dass wir es geschafft haben, in der Infrastruktur Lü-cken zu schließen und marode Infrastruktur zu besei-tigen – über die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“wurden über 40 Milliarden Euro investiert und Schienen-projekte und Autobahnprojekte aufgelegt –, zeigt dochletztendlich, dass in vielen Bereichen unglaublich vielpassiert ist . Dies kommt heute unserem gesamten Landzugute und nicht nur den Ostdeutschen .Wachstum und Innovation sind ein Bereich, in demin den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt wurden,und das trotz des Strukturwandels, den wir in den letztenJahren durchschritten haben . Dieser Aufholprozess, dendie neuen Bundesländer erlebt haben, zeigt, dass hier eingewaltiger Fortschritt erzielt wurde . Wir haben heute beider Zahl der Arbeitslosen einen historischen Tiefstand:750 000 Menschen in den neuen Ländern sind noch ar-beitslos; jeder Einzelne von ihnen ist zu viel . Aber dasist der niedrigste Stand, den wir seit 25 Jahren haben .Die Arbeitslosigkeit ist 18 Prozent geringer als 1991 . DieArbeitslosigkeit in meinem Südthüringer Wahlkreis liegtmit 5 Prozent knapp 1,5 Prozentpunkte unterhalb desdeutschen Bundesdurchschnittes . Das sind doch Leistun-gen, die wir nach außen tragen können, auf die wir stolzsein können, liebe Freunde .
Diese Erfolge sehen wir nicht nur im Bereich der Le-bensqualität und nicht nur im Bereich des Umweltschut-zes – knapp 5 Prozent des Staatsterritoriums in den neuenLändern haben wir als Biosphärenreservate und Natur-parks unter besonderen Schutz gestellt –, sondern wirsehen sie auch bei über 94 000 Arbeitsplätzen in inno-vativen Bereichen der Forschung und Entwicklung undbei kleinen und mittelständischen Unternehmen, die sichheute teilweise als Hidden Champions zu Weltmarktfüh-rern entwickelt haben . Wer hätte vor 25 Jahren gedacht,dass wir Weltmarktführer in den neuen Ländern haben?
Das ist ein Erfolg, den wir nicht kleinreden sollten . Wirunterstützen ihn vielmehr mit den Instrumenten unsererstaatlichen Förderung . ZIM, INNO-KOM-Ost, aber auchdie Programmfamilie „Unternehmen Region“ zeigen,dass wir als Staat unserer Verantwortung gerecht werden,weiterhin einen erfolgreichen wirtschaftlichen Aufstiegzu gewährleisten .Sehr geehrte Damen und Herren, eines darf man nichtvergessen: Wir sollten heute mit dieser Debatte keinenSchlussstrich unter die Aufarbeitung der SED-Diktaturziehen . Werter Herr Kollege Gysi, man kann 25 Jahre inverschiedenen Bereichen und für verschiedene Aspektedurchaus nutzen. Ich empfinde es schon ein Stück weitals eine Schande, dass Sie und Ihre Kollegen als Nach-folgepartei der SED die Verantwortung für Stacheldraht,Schießbefehl und Schlussverkauf in der Planwirtschaftnicht aufgearbeitet, nicht analysiert und nicht geradege-rückt haben .
Es ist letztendlich ein Stück weit eine Schande der deut-schen Geschichte, dass Sie diese 25 Jahre nicht genutzthaben .
Sehr geehrten Kollegen, das ist nicht abstrakt . Das istsehr konkret . Die Mehrheit Ihrer Regierungskoalition imThüringer Landtag beträgt eine Stimme, und das bei zweiMark Hauptmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512430
(C)
(D)
ehemaligen Inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi. Das istdie Realität im Jahr 2015 .
Hier werden Sie Ihrer Verantwortung nicht gerecht . DieStasimitarbeiter von gestern sind heute noch in maßgeb-licher Verantwortung mit dabei . Das ist ein Stück weiteine Schande .
Herr Kollege Hauptmann, darf die Kollegin
Wawzyniak Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Gerne .
Herr Kollege Hauptmann, Sie haben gerade gesagt,
dass die Vergangenheit nicht aufgearbeitet worden ist .
Nun haben wir mit der Drucksache 18/3145 einen Ge-
setzentwurf zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher
Vorschriften und zur SED-Opferrente vorgelegt, in dem
wir unter anderem vorgeschlagen haben, dass auch die-
jenigen unter das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz
fallen sollten, die Opfer von Zersetzungsmaßnahmen des
MfS waren . Diesen Gesetzentwurf haben Sie mit brei-
ter Mehrheit abgelehnt . Der Kollege Vaatz hat sich dazu
hinreißen lassen, zu sagen, dass dieser Gesetzentwurf nur
eingebracht worden ist, um den Staat zu zerstören . Wie
verträgt sich das in Ihren Augen damit, dass die Vergan-
genheit aufgearbeitet werden soll?
Werte Frau Kollegin, wenn der Thüringer Landtag
feststellt, dass zwei ehemalige Inoffizielle Mitarbeiter
der Stasi parlamentsunwürdig sind,
dann erwarte ich von einer Partei – und auch von einem
Regierungsbündnis –, dass sie ihre Mehrheit nicht von
diesen zwei Stimmen abhängig macht, sondern einen
ganz klaren Schlussstrich unter die Geschichte zieht .
Diesen Schlussstrich haben Sie nicht gezogen .
Von daher sind die von Ihnen angesprochenen Punkte
keineswegs ernst zu nehmen .
Herr Gysi, Sie haben uns ein langes Pamphlet vorge-
tragen und gesagt, wo Sie überall Veränderungen erwar-
ten . Wir wünschen uns als Veränderung, dass Sie damit
anfangen, die Nationalhymne hier in diesem Haus mitzu-
singen . Da fängt es doch bereits an!
– Bleiben Sie doch ganz ruhig . Wer sich aufregt, hat per-
manent unrecht; das müssten Sie doch wissen .
Sehr geehrte Damen und Herren, die Frau Kollegin
hat mich gefragt, was wir ganz konkret machen, um den
Punkt der Erinnerungskultur zu würdigen; das war ja Ihre
Frage . Da hilft ein Blick in den Antrag, den wir heute
verabschieden . Denn wir wollen mit diesem Antrag da-
für sorgen, dass auch weiterhin eine lebendige Kultur der
Erinnerung gepflegt wird, wir wollen Wissensdefizite,
gerade der jüngeren Bevölkerung, bekämpfen, und wir
wollen – das ist der zentrale Punkt – das Gedenken an die
Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft fortführen,
und das mit einem eigenen Denkmal an einem zentra-
len Ort hier in Berlin . Das ist Bestandteil dieses Antrags .
Wir verpflichten uns in dieser Legislaturperiode zu der
Initiative für dieses Denkmal für die Opfer der kommu-
nistischen Gewaltherrschaft . Das ist die große Leistung,
die diese Regierungskoalition heute mit diesem Antrag
erbringt .
Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege .
Herr Präsident, ich komme zum Schluss . – Begonnen
habe ich mit den Worten „Wir sind das Volk“, dem zent-
ralen Ausspruch der Bürgerinnen und Bürger, die diesen
Transformationsprozess herbeigesehnt und auch bewäl-
tigt haben . Heute können wir auch den zweiten Teil die-
ser zentralen Aussage von 1989 bestätigen: Ja, wir sind
auch ein Volk, und wir gehen die Herausforderungen der
Zukunft, egal ob in Ost oder West, gemeinsam als ein
Volk an . Das ist letztendlich die wunderschönste und
größte Errungenschaft, die wir nach 25 Jahren deutscher
Einheit feiern können .
Herzlichen Dank .
Stephan Kühn ist der nächste Redner für die FraktionBündnis 90/Die Grünen .Mark Hauptmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12431
(C)
(D)
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Ich gehöre zu der Generation, die inder DDR ihre Kindheit verlebt hat und im vereinigtenDeutschland aufgewachsen ist . Um zu sehen, was sichin den 25 Jahren nach der Wiedervereinigung entwickelthat, brauche ich nur vor die Haustür zu treten . MeineBerliner Wohnung liegt in der Oderberger Straße . Diesewar 40 Jahre lang eine Sackgasse, denn an der Ecke Ber-nauer Straße verlief die Mauer . Von Westberliner Seitekonnte man von einer Plattform in die Oderberger Straßeschauen . Heute sind die Häuser, die in den 80er-Jahrennoch durch Neubauten ersetzt werden sollten, saniert .Zahlreiche originelle Läden und Restaurants säumen dieStraße . Dort, wo früher der Todesstreifen verlief, pulsiertheute im Mauerpark das Leben .An diesem historischen Ort wird versucht, das Wissendarüber zu erhalten, wie es war . Entlang des Grenzstrei-fens ist eine bemerkenswerte Ausstellung über die Tei-lungsgeschichte entstanden . An diesem Ort lehrt uns dieGeschichte, dass Demokratie und Freiheit nicht selbst-verständlich sind, sondern immer wieder neu erkämpftund bewahrt werden müssen .
Es waren der Mut und die Entschlossenheit vieler Bür-gerinnen und Bürger in der damaligen DDR: Wären sieim Herbst 1989 nicht zu Hunderttausenden auf die Straßegegangen, dann hätten sie die SED-Diktatur nicht zu Fallgebracht, und es gäbe nicht seit 25 Jahren ein in Friedenund Freiheit vereinigtes Deutschland .
Seit dem 3 . Oktober 1990 haben die Menschen in Ostund West einen beispiellosen Prozess des Zusammen-wachsens zweier, in vielerlei Hinsicht sehr unterschied-licher Systeme bewältigt . Dabei gab es nicht wenigeHindernisse zu überwinden: vom Rechts- und Staatsver-ständnis über die Wirtschafts- und Arbeitswelt, das sozia-le, kulturelle und gesellschaftliche Leben bis hin zur All-tagssprache . Auf das Verdienst, diese Herausforderungenbis heute so gut gemeistert zu haben, können wir in Ostund West gemeinsam stolz sein .
Dass inzwischen eine Generation junger Erwachse-ner in unserem Land lebt, die Mauer, Stacheldraht unddie Teilung Deutschlands nur aus Büchern und Filmenkennt, ist ein Glücksfall der Geschichte, was allerdingsnicht dazu führen darf, dass – um Freya Klier aus dergestrigen Ausgabe der Leipziger Volkszeitung zu zitie-ren – die DDR so weit weg ist wie das Römische Reich .Das darf nicht passieren;
daran müssen wir gemeinsam arbeiten .Der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit stelltzutreffend fest, dass der gesellschaftliche Umbruch – bishin zu vielen einschneidenden Veränderungen im persön-lichen Leben – den Ostdeutschen viel abverlangt hat . Ichfinde, ihre Leistungen gilt es heute zu würdigen.
Ihr Wissen und ihre Erfahrungen – man könnte es auchTransformationskompetenz nennen – brauchen wir er-neut; denn der demografische Wandel stellt insbesonderedie ostdeutschen Bundesländer vor besondere Herausfor-derungen .Der Aufholprozess Ostdeutschlands ist in den zu-rückliegenden Jahren vorangeschritten; aber er hat anDynamik verloren. Trotz unverändert breitflächigerStrukturschwäche in Ostdeutschland und einer seit Jah-ren stagnierenden wirtschaftlichen Angleichung gelingtes der Bundesregierung nicht, neue Impulse zu setzen .Um die zentralen Handlungsbedarfe im Jahresberichtzusammenzufassen, braucht die Bundesregierung geradeeine DIN-A4-Seite . Es gibt keine vernünftige Analyseund auch keine Evaluation der bisherigen Maßnahmen,aus denen sich Handlungsempfehlungen zur künftigenWirtschaftsförderung ableiten ließen . Wenn zum Bei-spiel die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ angeb-lich die Grundlage für einen erfolgreichen Aufbau Ostwaren, warum ist dann trotz moderner Infrastruktur dieWirtschaftskraft in den letzten Jahren kaum gestiegen?Solche Fragen müsste man ehrlich beantworten .Der Bericht liefert viele Zahlen, aber keine neuen Ide-en . Ist die bisherige Form – eine Art Statistisches Jahr-buch – für Ostdeutschland überhaupt noch zeitgemäß?
Das bloße Beschreiben des Status quo hilft doch nichtweiter .Wenn wir mit herkömmlichen Rezepten nicht weiter-kommen, müssen wir uns fragen, wie ein selbsttragenderZukunfts- und Entwicklungspfad für die neuen Länderaussehen kann . Es hilft nichts, regelmäßig die Kleintei-ligkeit der ostdeutschen Wirtschaft und das Fehlen vonKonzernzentralen zu beklagen .
Ich finde, die Wirtschaftspolitik muss weg von der In-vestitions- und Infrastrukturförderung hin zu einer Bil-dungs- und Innovationsförderung . Richtig ist dabei derAnsatz, die Förderprogramme der ostdeutschen Länderin ein gesamtdeutsches System für strukturschwache Re-gionen zu überführen . Wir müssen uns aber fragen, obdie derzeitigen Strukturen so beschaffen sind, dass die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512432
(C)
(D)
Eigenverantwortung und die Engagementbereitschaft derMenschen befördert statt behindert werden .Patentrezepte gibt es freilich nicht . Wir werden regi-onal angepasste Konzepte und Lösungen brauchen, zumBeispiel für die Lausitz, die sich durch das Auslaufen derKohleförderung und den demografischen Wandel mittenim Strukturwandel befindet. Die Bundesregierung mussaber endlich erkennen, dass sich die Neugestaltung derDaseinsvorsorge beispielsweise im ländlichen Raum unddas Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht durcheine Aneinanderreihung von Pilotprojekten und Modell-vorhaben erreichen lassen .
Ich sage das bewusst mit Blick auf die bevorstehen-de Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen .Denn dabei muss das eine zentrale Rolle spielen .Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Axel Schäfer für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!1950, angesichts der deutschen Teilung, schrieb BertoltBrecht das prophetische Gedicht Kinderhymne:Anmut sparet nicht noch MüheLeidenschaft nicht noch VerstandDaß ein gutes Deutschland blüheWie ein andres gutes Land .
Dass dieses realisiert werden konnte, hat auch etwas mitunserem gemeinsamen Europa zu tun .1990, nach der erfolgreichen friedlichen Revolution,haben im Europäischen Parlament unter Vorsitz einesspanischen Christdemokraten, einer französischen Libe-ralen und einer dänischen Sozialdemokratin die Abge-ordneten den Weg planiert, dass wir durch die deutscheWiedervereinigung nicht noch einmal der EU beitretenmussten . Ohne den sozialistischen Kommissionspräsi-denten Jacques Delors wäre das auch nie in so kurzer Zeitso problemlos gelungen . Es besteht eine ewig dauerndeDankbarkeit unsererseits gegenüber unseren europäi-schen Nachbarn, dass dies damals so möglich war .
Es geht aber noch etwas weiter zurück . 1866 hat dieSozialdemokratie in ihrem ersten Wahlprogramm ge-schrieben: Wir wollen die deutsche Einheit und betrach-ten diese einfach als Anfang eines solidarischen europä-ischen Staates . – 1866! Stellen wir uns nur eine Minutelang vor, was uns allen erspart geblieben wäre, wenn wirdiese Form von deutscher Einheit in einem gemeinsamenEuropa schon vor 150 Jahren hätten realisieren können .Auch das gehört an einem Tag wie diesem einmal ausge-sprochen .
Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, solltenwir – gerade weil sehr viele jüngere Menschen anwe-send sind – daran denken, was 1990 gelungen ist . 1990ist es gelungen, dass letztendlich alle Parteien mit einerAusnahme zum überwiegenden Teil gesagt haben: Wirvollenden die Einheit . – An dieser Stelle muss auch ge-sagt werden – das hätten die Kolleginnen und Kollegender CDU/CSU etwas verdeutlichen sollen –: Das ist undbleibt das Verdienst von Helmut Kohl als Bundeskanzler .Das sollten wir ihm, gerade weil er nicht mehr unseremHause angehört, noch einmal öffentlich zurufen .
Es gehört auch zur historischen Wahrheit, dass ohnedie Schlauheit von Gregor Gysi vielleicht die Volkskam-mer der Bundesrepublik beigetreten wäre, aber nicht dieDDr .
Auch das sollte man an dieser Stelle sagen: dass jemand,der zwar gegen den Beitritt gestimmt hat, aber dafür war,dass er möglich wurde .Auch wenn wir politische Gegner sind, kann man res-pektvoll sagen: Gregor Gysi, wir danken Ihnen für Ihrehistorische Leistung .
– Dort habe ich zwei Jahre gearbeitet .Zur historischen Wahrheit gehört auch, dass wir beider anderen entscheidenden Frage vor der Geschich-te nicht versagt haben . Ich sehe, dass von damals nochmein Freund Michael Stübgen und Edelgard Bulmahnauf der SPD-Seite anwesend sind . Wir haben letztlich un-ser Versprechen gehalten, dass Berlin nach der deutschenWiedervereinigung Hauptstadt wird . Heute ist das allesselbstverständlich . Aber fragen Sie einmal Bärbel Basaus Nordrhein-Westfalen oder mich, was damals los war!Denjenigen im Westen, die für Berlin waren, hat man ge-sagt: Ende der Karriere! Du wirst nie etwas .
Wir beide sind im Deutschen Bundestag angekommen .
Es geht sogar weiter . Manch einer in diesem Hause,der sich heute für unfehlbar hält, hat sich damals geirrt,Stephan Kühn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12433
(C)
(D)
weil er für Bonn gestimmt hat . Es ist schön, dass wir hierin Berlin gemeinsam angekommen sind .
Ich will etwas Persönliches hinzufügen . Ich war glück-lich, mit meinem damals zehnjährigen Sohn am 2 . und3 . Oktober in Berlin sein und an den Einheitsfeiern teil-nehmen zu können . Heute bin ich noch glücklicher, weildie deutsche Einheit für meine Familie zur Folge hatte,dass ich eine Schwiegertochter aus Mecklenburg-Vor-pommern habe .
Willy Brandts Worte „Jetzt wächst zusammen, was zu-sammengehört“ haben hier für mich eine besondere Be-deutung .Ich will mit Bertolt Brecht auch schließen . Seine Kin-derhymne endet mit den Worten:Und weil wir dies Land verbessernLieben und beschirmen wir‘sUnd das liebste mag‘s uns scheinenSo wie andern Völkern ihrs .Vielen Dank .
Ich erteile das Wort der Kollegin Baerbock für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Ich bin Ihnen, Frau Gleicke, sehr dankbar, dassSie in Ihrer Rede betont haben, dass es keinen Schluss-strich geben wird . Angesichts mancher Redebeiträge indieser Debatte frage ich mich aber, ob das bedeutet, dasswir heute die gleiche Diskussion wie vor 25 Jahren füh-ren müssen . Herr Hauptmann, sorry, aber wenn Sie denStand der deutschen Einheit daran messen, wer die Nati-onalhymne mitsingt, dann könnten wir Brandenburg ausder Bundesrepublik Deutschland komplett ausschließen .Wir, alle Fraktionen und die Menschen aus Brandenburg,haben dort in der letzten Woche 25 Jahre Landtag gefei-ert und dabei Ode an die Freude gesungen oder nur zu-gehört . Die Nationalhymne spielte jedenfalls dabei keineRolle .
Herr Gysi, Sie haben als Beispiel die Krippenplätzegenannt . Das ist nun 25 Jahre her . Ich habe zwei kleineKinder, die in Brandenburg in die Kita gehen . Ich bindankbar, dass es dort eine Versorgung mit Krippen- undKitaplätzen zu 90 Prozent gibt .
Das sage ich als Westdeutsche, die in Hannover gebo-ren ist . Aber uns, auch denjenigen, die in Ostdeutsch-land geboren sind wie mein Kollege Norbert Müller, istziemlich egal, ob wir aus West oder Ost kommen . AuchMänner interessieren sich dafür, ob es ausreichend Kita-plätze gibt, und auch Frauen wollen arbeiten gehen . DieKlischees von Mann und Frau im Zusammenhang mitBerufstätigkeit treffen nach 25 Jahren so vielleicht nichtmehr zu .
Der Grund, warum ich denke, dass es wichtig ist, kei-nen Schlussstrich zu ziehen, ist, dass die Mauer – daranmüssen wir uns immer wieder erinnern – nicht einfachumgefallen ist, sondern dass Menschen, die teilweise aufbrutalste Weise verfolgt wurden, dafür eingetreten sind,nicht mehr in einer Diktatur und in einem Willkürstaat,sondern in Frieden und Freiheit zu leben . Gerade in die-sen Tagen sollte man sich des Kampfes für Freiheit, deneinige vor 25 Jahren geführt haben, immer wieder be-wusst sein. Wir sollten uns an die Botschaftsflüchtlingeund die Fluchthelfer erinnern . Wenn wir uns das in Erin-nerung rufen, dann denken wir auch an das, was Sie zuRecht angesprochen haben, nämlich die herben Brüche,die Unsicherheiten, die existenziellen Ängste und auchdaran, was es bedeutet, wenn man über Jahrzehnte nichtarbeiten kann .Wenn wir uns das vergegenwärtigen, dann sollten wirdie Beschlüsse, die wir in der nächsten Sitzungswochehier fassen wollen, noch einmal überdenken . Es reichtnicht, wenn wir den Menschen, die für Freiheit kämp-fen, die vor Diktatur geflohen sind, sagen: Ihr könnt beiuns arbeiten, aber erst nach 15 Monaten . – Das solltenwir uns gerade bei solchen Feierlichkeiten immer wiedervergegenwärtigen .
Wir sollten uns auch vergegenwärtigen, warum dieIHKen, die Kammern, in Ostdeutschland gerade jetztwieder fordern, dass Flüchtlinge eine Ausbildung begin-nen können,
nämlich weil wir einen Fachkräftemangel haben, wieIhr Bericht ja auch betont. Warum findet sich das in denVorschlägen der Bundesregierung zur Flüchtlingspolitiknicht wieder, obwohl Sie es in Ihrem Bericht selber an-sprechen und es ausgerechnet die IHKen, die Kammern,immer wieder gefordert haben?
Axel Schäfer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512434
(C)
(D)
Wenn man Ihren Bericht liest und sich auch den demo-grafischen Wandel anguckt, dann sollte man in der Dis-kussion über die Flüchtlingskrise doch auch die Chancensehen, gerade für Ostdeutschland . Ich meine nicht, dasswir sagen sollten: „Da steht alles leer; jetzt sollten dortalle einquartiert werden“, sondern ich meine die kleinenpositiven Beispiele, das, was Menschlichkeit ausmacht .So gibt es in Märkisch-Oderland ein Dorf, das aus-stirbt, 850 Einwohner . Die Grundschule sollte geschlos-sen werden, weil es statt der notwendigen 15 Erstklässlerkurz vor der Einschulung nur noch 14 Erstklässler gab .Dort gibt es einen Bürgermeister, der sagt: In der Erst-aufnahme in Eisenhüttenstadt leben derzeit so viele Fa-milien mit Kindern . Könnten nicht welche in unser Dorfkommen? – Die wurden nicht zwangszugewiesen; nein,es wurde proaktiv darauf zugegangen und aufgezeigt,dass doch welche in dieses Dorf kommen könnten . Dashat dazu geführt, dass diese Grundschule, die eigentlichkeine erste Klasse mehr haben sollte und damit über kurzund lang hätte geschlossen werden müssen, durch diesechs syrischen Kinder, die dort mit eingeschult wurden,sozusagen wieder zum Leben erweckt wurde und dasDorf eine neue Zukunft bekommen hat .Das funktioniert nicht überall problemlos; auch dortwird es Herausforderungen mit sich bringen . Aber dassind Maßnahmen und Geschichten, die wir in den Vor-dergrund rücken sollten .Wenn wir den demografischen Wandel beklagen,wenn wir sagen: „Leider wandern die Menschen gera-de aus den ländlichen Regionen ab“ – darauf ist meinKollege Stephan Kühn schon eingegangen –, dann musses doch die Aufgabe eines politischen Berichts sein, hin-zuzuschreiben: Und das sind die Maßnahmen, mit denenwir dagegen angehen .
Ich glaube, aktuell haben wir viele Chancen, die wir indieser Krise nutzen sollten .Ich würde gern noch auf einen anderen Punkt in IhremBericht eingehen, Frau Gleicke . Sie hatten beim letztenBericht betont, dass Sie es nicht sonderlich hilfreich fin-den, wenn wir nur Zahlen und Fakten aneinanderreihen .Das ist jetzt leider wieder genau so passiert . Gerade beimThema „Rückstand bei der Wirtschaftskraft“ – ein Drittelniedriger als in Westdeutschland – fällt mir das besondersauf . Es hilft nicht, wenn wir pauschal sagen – selbst wennSie im Wirtschaftsministerium angesiedelt sind –: Wirsetzen die Wirtschaftsprogramme so fort, wie wir dasauch in Westdeutschland tun . – Wenn in Ostdeutschlandkein einziges DAX-Unternehmen zu Hause ist, wenndort die Wirtschaft vor allen Dingen mittelständisch ge-prägt ist, dann können wir doch nicht eine Mittelstands-politik betreiben, die für den Westen geschrieben ist, wo,in Baden-Württemberg etwa, ein KMU 500 Mitarbeiterhat, während es in Brandenburg 50, wenn nicht gar nur10 hat . Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die genauauf die besonderen Herausforderungen dort abgestellt ist .
Es wäre aus meiner Sicht eine Aufgabe für einen solchenBericht, auch das anzusprechen; denn sonst beschreibenwir immer nur den Sachstand und kommen von diesenUnterschieden nicht weg .Da wäre ein Ansatz zum Beispiel, zu sagen: Wir gu-cken in Ostdeutschland nicht nur auf die Existenzförde-rung –
Frau Kollegin .
– ich komme zum Schluss –, weil das große Problem in
Ostdeutschland die Unternehmensnachfolge ist . Wenn in
einer Region 7 500 Unternehmen keinen Nachfolger fin-
den, dann geht es auch bei im Schnitt nur 10 Beschäftig-
ten um 75 000 Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlie-
ren könnten . Da müssen wir zum Beispiel in die Lausitz
schauen . Wir müssen auf die Nachfolge bei diesen Un-
ternehmen schauen und nicht immer nur auf die großen
Konzerne, Vattenfall zum Beispiel, wo 8 000 Menschen
beschäftigt sind .
Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Peter Ramsauer für
die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir können heute wirklich sagen, dass wir zuunserem Glück seit 25 Jahren wiedervereinigt sind . Wostünde die frühere DDR, und wo stünde die Bundesre-publik Deutschland, wenn dies nicht erfolgt wäre? Ichbin stolz darauf und glücklich darüber, dass ich – mit garnicht mehr so vielen Kolleginnen und Kollegen – diesemParlament genau diese 25 Jahre angehöre .Aus der Distanz von 25 Jahren erscheint uns all diesziemlich selbstverständlich . Auf den Tribünen sitzenheute wieder viele junge Menschen . Ich diskutiere sehrviel mit jungen Besuchern und mit Schülergruppen . Da-bei mache ich immer wieder die Erfahrung, dass 25 JahreWiedervereinigung, dass das wiedervereinigte Deutsch-land, dass die Tatsache, dass die Mauer gefallen ist, dassMauer, Stacheldraht und Todesstreifen der Vergangen-heit angehören, als selbstverständlich betrachtet werden .Wenn man diesen jungen Menschen dann berichtet,wie das damals war, was man selbst miterlebt hat, dannbeschleicht einen dasselbe Gefühl, das unsereins in die-sem Alter hatte, wenn früher ältere Menschen oder dieeigenen Eltern über den Zweiten Weltkrieg berichtet ha-ben . Das ist die gleiche, quasi historische, zeitliche Dis-tanz . Deswegen ist es ungeheuer wichtig, dass wir geradeauch der jungen Generation über all diese Dinge berich-Annalena Baerbock
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12435
(C)
(D)
ten . Es ist auch ungeheuer wichtig, dass heute, Herr Prä-sident, diese Debatte in unserem Parlament geführt wird .
Das sollte eigentlich eine Binsenweisheit sein: Selbstver-ständlich ist in der Geschichte nichts .Daher ist die Frage berechtigt: Wem haben wir denndiese Wiedervereinigung zu verdanken? Sie ist zualler-erst – dazu ein klares Ja – dem Mut und dem Freiheits-willen der Menschen in der DDR zu verdanken . Und –meine Damen und Herren, das gehört auch dazu – wirhaben dies Helmut Kohl zu verdanken, weil er die Zei-chen der Zeit richtig deutete . Weil er in der deutschenWiedervereinigung niemals nur eine deutsch-deutscheFrage sah, sondern eine zutiefst europäische Frage sah,und weil er dies alles in einen europäischen Zusammen-hang einbettete, hatten wir das Vertrauen unserer europä-ischen Freunde und Partner .
Die Menschen in der DDR wollten den maroden Un-terdrückerstaat nicht reformieren . Nein, sie wollten ihnvollkommen überwinden . Sie wollten Freiheit statt Sozi-alismus . Sie wollten soziale Marktwirtschaft anstatt sozi-alistischer Mangelwirtschaft . Sie wollten Menschen- undBürgerrechte anstatt Ideologie und Klassenkampf . Siewollten die Einheit, und zwar schnell . Sie wollten auchdie Wirtschafts- und Währungsunion zum 1 . Juli 1990einführen – mit der Begründung: Wenn die Mark nicht zuuns kommt, dann kommen wir zur Mark . Unser Dank giltdaher auch den Architekten der Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion Theo Waigel und Wolfgang Schäuble .Sie haben zusammen mit Sabine Bergmann-Pohl undLothar de Maizière die Einheit in Freiheit vollendet .Meine Damen und Herren, dass dies alles überhauptso kommen konnte, verdanken wir Deutsche – lassen Siemich dies ausdrücklich unterstreichen – einem europäi-schen Bayern, vielleicht dem glühendsten Verfechter derdeutschen Einheit, Franz Josef Strauß .
– Sie sollten sich für diese komische Reaktion schä-men . – Herr Gysi, ich lobe Sie ausdrücklich: Ihnen istdas nicht herausgerutscht, jawohl, aber den anderen .
Meine Damen und Herren, Sie wissen ganz genau,dass sich Bayerns Klage gegen den Grundlagenvertragals Glücksfall der deutsch-deutschen Geschichte erwie-sen hat; denn das Bundesverfassungsgericht hat klippund klar festgelegt: Das Wiedervereinigungsgebot istfür alle Verfassungsorgane bindend, und das Grundge-setz gilt für alle Deutschen, auch für die Menschen inder DDR . – Das waren die Kernsätze des Urteils . DieVerweigerung der völkerrechtlichen Anerkennung warBayerns Beitrag zum Fall des Unrechtsstaates; denn soblieben wir Deutsche, was wir trotz Teilung immer wa-ren: ein Volk .Trotz all dieser Freude dürfen wir die Opfer der DDRnicht vergessen . Wir halten die Erinnerung wach an dieHelden und Toten des 17 . Juni . Wir denken an die, dieresignierten und in die innere Emigration flüchteten. Wirfühlen mit den Unzähligen, die Opfer von Bespitzelung,Willkürjustiz und Rechtsbeugung waren, und wir neh-men Anteil am Schicksal derer, die Gefangene in Hohen-schönhausen, Bautzen, Schwedt und anderswo waren . Ja,die DDR war ein Unrechtsstaat, nicht nur in der Konse-quenz, sondern auch von Grund auf .Heute steht Deutschland herausragend da . Wir sindstark nach innen und nach außen, und wir tragen die ent-sprechende Verantwortung . Aber wenn wir diese starkeund großherzige Gesellschaft, die wir sind, bleiben wol-len, dann müssen wir auch erkennen, wo unsere Gren-zen sind; denn die Bindekräfte unserer Gesellschaft sindnicht grenzenlos, sondern sie sind endlich . Ich sage des-halb mit ausgesprochen großer Besorgnis: Wenn heutemehr Menschen als Flüchtlinge zu uns kommen als beiuns geboren werden, dann zeigt das: Die Grenze unsererAufnahmefähigkeit ist erreicht .
Wir müssen deswegen Zuwanderung begrenzen . Wennwir eine Gesellschaft des Miteinanders bleiben wollenund keine des Neben- und Gegeneinanders werden wol-len – die Krawalle und Kämpfe in den Aufnahmelagernlassen grüßen –, dann müssen wir entscheiden, wer zuuns kommen kann und wer nicht . Wer sonst, kann manfragen, wenn nicht wir, sollte das in bestmöglicher Weisetun? Dafür muss Europa Fluchtursachen bekämpfen, sei-ne Außengrenzen schützen und mit den Mitgliedstaatenin der Europäischen Union feste Aufnahmekontingenteverabreden .Meine Damen und Herren, es klingt banal, aber den-noch ist es so: Wer nach allen Seiten offen ist, ist nichtganz dicht .
Wir müssen alles dafür tun, dass wir weltoffen bleiben;aber wir dürfen nie grenzenlos werden . Wir brauchen im-mer die Rückbindung an die eigene kulturelle Identität,
an die gemeinsam getragene Verbindlichkeit unsererLeitkultur . Danke, dass dieser Begriff der Leitkultur in-zwischen auch von anderen Parteien dieses Hauses ganzselbstverständlich gebraucht wird .
Ich kann mich an Zeiten vor wenigen Jahren erinnern, alsvon den Unionsparteien und gerade von dir, liebe GerdaHasselfeldt, dieser Begriff gebraucht und man hämischbeschimpft wurde . Gut, dass dieser Begriff der deutschenDr. Peter Ramsauer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512436
(C)
(D)
Leitkultur, der Gültigkeit hat, nun auch zur Selbstver-ständlichkeit in anderen Parteien geworden ist .
Ja, wir müssen uns dazu bekennen – ohne Angst, aberauch ohne Träumereien .Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vergangenen25 Jahre haben gezeigt, was wir Deutsche alles schaf-fen können: eine Wiedervereinigung, die ohne Rezept-buch, ohne irgendein Beispiel in der Geschichte von unsgeschafft wurde . Wir haben gelernt, dass Einigkeit undRecht und Freiheit Errungenschaften sind, die immerwieder aufs Neue errungen werden müssen . Ich ermah-ne und ermuntere uns: Lassen Sie uns diesen Tag zumAnlass nehmen, unsere Anstrengungen für ein gemeinsa-mes, gutes Deutschland fortzusetzen .Vielen Dank .
Das Wort hat nun der Kollege Thomas Jurk für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Das geeinte Deutschland gibt esseit nunmehr 25 Jahren . An Situation und Stimmung desJahres 1990 vermag ich mich irgendwie noch gut zu er-innern: Ich war seit knapp einem Jahr Mitglied der Sozi-aldemokratischen Partei, kandidierte für den SächsischenLandtag und arbeitete immer noch bei der PGH, der Pro-duktionsgenossenschaft des Handwerks, Elektro-Rund-funk-Fernsehen in Weißwasser .Der Umbruch war 1990 mit Händen greifbar . Nochherrschte eine gewisse Unbefangenheit im Umgang mitden gesellschaftlichen Veränderungen . Aber, viele Men-schen hatten große Hoffnungen, die Hoffnung, dass dieostdeutschen Betriebe in der Marktwirtschaft bestehenwürden, die Hoffnung, dass viele Investoren kommenund neue Arbeitsplätze schaffen würden, die Hoffnung,als Selbstständiger den eigenen Lebensunterhalt bestrei-ten zu können, oder die Hoffnung, im goldenen Westensein Glück machen zu können .Einige dieser Hoffnungen haben sich erfüllt, anderehaben sich als Illusion erwiesen . So blieb von den eins-tigen ostdeutschen Unternehmen nicht viel übrig . Bei-spielsweise sind von den 110 000 Arbeitsplätzen im ost-deutschen Braunkohlebergbau vor 25 Jahren heute nurnoch ein paar Tausend erhalten geblieben . Die Auswir-kungen dieses gigantischen Strukturbruchs spürt man inmeiner Region immer noch deutlich . Ich spreche dies andieser Stelle an, da ja gelegentlich die Auffassung ver-treten wird, der Strukturwandel müsse nun endlich be-ginnen . Vielmehr muss er auch weiterhin mit staatlicherBegleitung forciert werden .Trotz großen Engagements konnten viele Selbststän-dige langfristig nicht bestehen . Neben der mangelndenErfahrung und den völlig veränderten Rahmenbedin-gungen fehlte es oft am nötigen Kapitalstock, um Zah-lungsausfälle zu verkraften und die nötigen Investitionenzu stemmen . Nicht zuletzt hat die desaströse Privati-sierungspolitik der Treuhandanstalt dafür gesorgt, dasshäufig nur die unliebsame Ostkonkurrenz aus dem Weggeschafft wurde . Echte Investitionen, aus denen sichkonkurrenzfähige Unternehmen entwickeln konnten,waren eher die Ausnahme; verlängerte Werkbänke ja,Unternehmenszentralen nein .Damals wurde die Grundlage für die jetzige kleinteili-ge Wirtschaftsstruktur im Osten gelegt, was die wesent-liche Ursache für das noch immer niedrigere Produktivi-täts- und Lohnniveau ist . Viele Familien wurden durchdie Abwanderung gerade junger Leute auseinandergeris-sen . Das hat gerade auch die ältere Generation schmerz-lich erfahren müssen . Neben den gesellschaftlichen Ver-änderungen und den vielen Umwälzungen im Leben derOstdeutschen waren die letzten 25 Jahre so auch ein Ab-schied von falschen Vorstellungen .Bei all den Spuren, die dies bei den Ostdeutschen hin-terlassen hat, ist die deutsche Einheit politisch jedochunzweifelhaft geglückt; denn die wesentlichen Ziele derOstdeutschen von 1989 wurden erreicht: Demokratie,Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, ein besserer Lebensstan-dard oder die Verbesserung der einst katastrophalen Um-weltsituation . Wer unsere Städte und Gemeinden heuteanschaut und mit der damaligen Tristesse vergleicht, derweiß auch, was in den letzten 25 Jahren städtebaulichUnglaubliches geschaffen wurde .
Ich denke hier nur an die Stadt Görlitz in meinem Wahl-kreis, die aus diesem Grund inzwischen ein Produktions-standort für internationale Kinoproduktionen gewordenist .Zu den großen Erfolgen der deutschen Einheit gehörtzweifellos die Integration Ostdeutschlands in die sozi-alen Sicherungssysteme der alten Bundesrepublik . Diegesundheitliche Versorgung hat sich deutlich verbessert,und so ist es nicht verwunderlich, dass die Lebenserwar-tung seitdem stark gestiegen ist .Auch wenn es leider noch Unterschiede bei der Ren-tenberechnung gibt, war die Einführung des umlagefi-nanzierten dynamischen Rentensystems im Zuge derdeutschen Einheit ein Meilenstein, konnten so doch dieRentnerinnen und Rentner in den neuen Ländern mitdeutlichen Rentensteigerungen an der Lohnentwicklungder Beschäftigten teilhaben . All dies war und ist noch im-mer mit einem gewaltigen Finanztransfer von West nachOst verbunden – eine großartige Solidarleistung, über dieman immer wieder froh und dankbar sein sollte .
Dennoch hatten die Ostdeutschen in das wiederverein-te Deutschland mehr als nur das Ampelmännchen oderden grünen Pfeil einzubringen . Ich will an dieser StelleDr. Peter Ramsauer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12437
(C)
(D)
aber auch meine Hochachtung und meinen Respekt fürall jene Menschen aus Ost und West zum Ausdruck brin-gen, die in Ostdeutschland eine gewaltige Aufbauleis-tung auf sich genommen und einfach angepackt haben .
Es geht der großen Mehrheit der Ostdeutschen nacheigener Auskunft heute viel besser als vor 25 Jahren .Wenn wir heute Bilanz ziehen, können wir mit gutemRecht sagen: Das meiste ist geglückt, und wir haben vie-les erreicht . Es sicherlich wichtig, an Tagen wie dieseninnezuhalten und auf unsere Geschichte zurückzuschau-en . Jedoch ist die deutsche Einheit für mich weniger einFeiertag, an dem wir gemeinsame Erinnerungen auffri-schen, sondern vielmehr eine Aufgabe, eine Aufgabe, ander wir alle gemeinsam weiterarbeiten müssen .Bei allem Für und Wider: Wir Deutschen können zuRecht stolz auf unsere staatliche Einheit sein .
Katharina Landgraf erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Zahlenspiele zum Stand derdeutschen Einheit sind nicht mein Ding . Die überlasseich gerne den Wirtschaftspolitikern .Es gibt zu unserem heutigen Thema viele kräftigeschwarze Zahlen, die mein Kollege Hauptmann schon indie Debatte eingebracht hat . Die roten Zahlen überlasseich gerne der Opposition; denn ich will Ihnen, liebe Kol-leginnen und Kollegen, nicht die Show stehlen . Die gol-denen Zahlen, die den Gesamterfolg des Unternehmensdeutsche Einheit untermauern, entnehmen Sie bitte demJahresbericht der Bundesregierung .Daneben gibt es auch noch die grünen Zahlen . Dieüberlasse ich nicht der Grünenfraktion; die lasse ich mirnicht streitig machen . Grüne Zahlen sind für mich bei-spielsweise die Milliardensummen für die Bergbausanie-rung seit 1991 .
Mein Wahlkreis Leipzig‑Land profitiert von diesem wohlstärksten Programm für den Osten .
Kommen Sie einmal nach Ostdeutschland und nachMitteldeutschland . Das müssen Sie sehen! Hier ist einevöllig neue Landschaft entstanden . Die Wunden derDDR-Wirtschaft sind hier geschlossen .
Sicherlich schon vergessen ist, dass hier über40 000 Bergleute über Nacht ihren Job verloren haben .Nicht vergessen werden darf, dass der deutsche Sozi-alstaat mit seinen Sozialsystemen und die vielen enga-gierten Gewerkschafter und Betriebsräte den Prozess desWandels mit viel Weitsicht getragen haben . Ganz persön-lich sage ich hier meinem SPD-Kollegen Ulrich Freeseein herzliches Dankeschön . Er ist ein Gewerkschafts-mann der ersten Stunde, der mit all seinen Erfahrungenund seinem Engagement zu uns in den Osten gekommenist .
Das war und ist gelebte Solidarität unter Deutschen, dieaus zwei völlig verschiedenen Welten zueinander gefun-den haben .Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Landwirt-schaftspolitikerin greife ich hier ein besonderes Themader deutschen Einheit auf: die Landwirtschaft . An die-sem Wochenende feiern wir in allen Regionen Deutsch-lands das Erntedankfest . Der Geburtstag der deutschenEinheit passt dazu . Wir alle sagen den unzähligen Men-schen Dank, die sich Tag für Tag um landwirtschaftlicheProdukte und Lebensmittel kümmern – bei jedem Wetterund zu allen Zeiten . Ihnen gebühren dafür Achtung undAnerkennung .
Wer jedoch meint, man könnte die Landwirtschaft inDeutschland wie andere Wirtschaftszweige zurückbauen,der ist auf dem berühmten Holzweg; denn zu den wich-tigsten Lebensthemen gehört die Ernährung der Men-schen . Das ist für uns in der Union ein fundamentalerWert . Die Landwirtschaft darf kein Spielball von Ideo-logen sein .
Für die Landwirtschaft in den jungen Bundesländernwar der Eintritt in das geeinte Deutschland eine unglaub-liche Herausforderung . Es war am Ende eine ganz spezi-elle Reifeprüfung . Kurz und knapp: Der Systemwandelist gelungen . Er hat vor allem in den 90er-Jahren vielKraft gekostet . Die Landwirtschaft im Osten ist heutemodern und leistungsstark . Sie ist und bleibt der ent-scheidende Faktor für lebendige ländliche Räume . Heutekönnen wir sagen: Die gesamte deutsche Landwirtschaftist gelebte Einheit in Vielfalt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Augenblickhier und jetzt empfinde ich persönlich als Gnade. Die gibtes in der grauen und ungeliebten Politik auch .Am Abend des 2 . Oktober 1990 stand ich auf den Stu-fen des Reichstages und blickte in Richtung Westen . Ichsah auf eine riesige, fröhliche Menschenmenge, die zuuns herauf Richtung Osten blickte . Wir Volkskammerab-Thomas Jurk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512438
(C)
(D)
geordnete waren an diesem historischen Abend mit unse-rer Arbeit fertig . Um Mitternacht war mein Arbeitsplatzin Berlin weg, das Mandat der Volkskammer war erlo-schen . Wir haben uns selbst abgeschafft .Auf diesen Augenblick haben wir ein gutes halbesJahr hingearbeitet . So kann eine Diktatur auch enden:ohne einen Schuss, aber mit riesigem Feuerwerk, fried-voll und mit vielen Tränen der Freude .
Wir haben damals in Ost und West als Gesellschaftund als Politik die Reifeprüfung bestanden . Und dafürgebe ich noch heute allen Beteiligten die Bestnote . DasVerhalten der Akteure und der gesamte Prozess waren lo-benswert: Anders kann ich die Vereinigung in Frieden,Recht und Freiheit nicht bezeichnen . Es ist damals etwasgeschehen, was es in der Geschichte so noch nie gegebenhat . Ohne Gewalt vereinte sich eine geteilte Nation miteiner eigenen, einer souveränen Entscheidung .Meine Anmerkungen hier sind persönliche Reflexio-nen auf das Gestern und auf unser Heute . Ich möchte ausdem damaligen Geschehen Schlüsse ziehen für unsereheutige Zeit . Die Kreativität der Volkskammer von 1990,mit Problemen des Landes umzugehen, ist ein bleibenderWert . Ich wünschte mir eine solche Arbeitsweise auch fürunsere Tage in der gesamten Politik .Deutschland ist nicht mehr eine Insel der Glückselig-keit . Die Nöte und das Elend in anderen Regionen derWelt sind plötzlich durch unzählige Hilfesuchende inunserem gut bestellten Hause präsent . Für diese neue Si-tuation haben wir genau genommen keine Rezepte . Diehatte die Volkskammer damals auch nicht . Wir sahenzwar das Ziel, aber nicht den Weg dorthin . Also habenwir einfach losgelegt . Da gab es keine Konjunktur fürBedenkenträger . Die eigentliche Arbeit zur Gestaltungder Einheit wurde ein gemeinsamer Lern- und Lebens-prozess .Details erspare ich mir; auch die Diskussion über Ge-lungenes oder über Webfehler der Einheit . Viel wichtigerist die staatliche und private Solidarität zwischen denLändern und den Menschen in West und Ost . Immerhinsollte der Wandel für alle verträglich, erträglich und amEnde auch einträglich sein . Und das war er zumeist, trotzzahlreicher Schicksale von Menschen, die ihren Arbeits-platz verloren haben .Wir haben in den zurückliegenden 25 Jahren im geein-ten Deutschland ein Gemeinwesen geformt, das von denGrundwerten des christlichen Abendlandes geprägt ist .Der Fleiß der arbeitenden Menschen hier in Deutschland,die engagierten Unternehmerinnen und Unternehmer,die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherten undsichern dem Land und seinem Staatswesen eine starke,tragfähige Basis . Die politische staatliche Einheit ist ge-geben .Wie können wir aber die vorhandenen Entwicklungs-defizite zwischen alten und neuen Bundesländern in denkommenden Jahren überwinden? Können wir das über-haupt mit neuen und mit einem Mehr an Gesetzen leis-ten? Ich glaube: kaum .Jetzt zum 25 . Geburtstag der Einheit habe ich einenbesonderen Wunsch: Es sollte künftig jährlich einenBericht zur Lage der deutschen Nation geben, der dieEntwicklung des gesamten Landes und seine Stellungin Europa und der Welt in den Fokus nimmt . Mit einemscharfen Blick auf die innere Situation des gesamten Lan-des – und nicht nur des Ostens – wären wir dann ganz be-stimmt zu einer besseren und gerechteren Bundespolitikin der Lage . Einen Bericht der Bundesregierung zur Lageder Nation hat es schon einmal gegeben – allerdings fürdas geteilte Deutschland .Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss und amVorabend unseres gemeinsamen 25 . Geburtstages nochein Wunsch: Gehen wir auf die Besucherplattform desReichstages . Von diesem „Dach der Republik“ habenwir einen freien Blick in alle Himmelsrichtungen . Wirschauen nicht mehr nur nach Westen oder Osten . DiesenWeitblick brauchen wir für den Umgang mit der neuen,komplizierten Situation unserer Tage .Wir stehen wieder einmal vor einer Reifeprüfung,ähnlich wie 1990 . Das erfolgreiche geeinte Deutschlandist in der jüngsten Geschichte zu einem starken Magne-ten geworden . Jetzt steht die Frage im Raum: Halten wirdank unserer gelebten Werte diesem Druck stand, oderstehen wir vor einer noch nie gekannten Spaltung der Ge-sellschaft? Gibt es eine Spaltung in Offenheit und Ableh-nung, in Angst und Gleichgültigkeit, in Akzeptanz undIgnoranz, in Freunde und in Feinde?Wir müssen antworten – bei all unserer Freude überdiesen Tag der Deutschen Einheit erst recht .Vielen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Poschmann
für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Morgen jährt sich zum 25 . Mal die politischeEinheit Deutschlands . Auch nach einem Vierteljahr-hundert empfinde ich – und wohl wir alle – Freude undDankbarkeit, diesen Tag feiern zu können .Die Wiedervereinigung war mit vielen Hoffnungenund Wünschen verbunden . Heute können wir sagen:25 Jahre später haben sich vielleicht nicht alle, aber dochzahlreiche Hoffnungen erfüllt . Die Lebensverhältnisse inOst und West haben sich angenähert, die Unterschiede inder Arbeitslosenquote und in der Wirtschaftskraft zumin-dest verringert .Mithilfe verschiedenster Förderprogramme von Bund,Ländern und der Europäischen Union hat die Wirtschaftin Ostdeutschland einen starken Aufholprozess gestartet .Diese Entwicklung müssen wir Ende 2019, nach Auslau-fen des Solidarpaktes II, weiterhin kontinuierlich unter-stützen, möglichst sogar beschleunigen .Katharina Landgraf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12439
(C)
(D)
Wir haben in den vergangenen 25 Jahren einiges er-reicht . Wir wissen aber auch, dass wir in vielen Punk-ten noch lange nicht am Ziel sind . Bei allem Fortschrittsehen wir weiter große Herausforderungen . An obers-ter Stelle steht der Bau eines neuen, gesamtstaatlichenFördersystems für mehr Wachstum und Innovation . Wirbenötigen kein Fördersystem, das seine Prioritäten anden Himmelsrichtungen orientiert . Wir benötigen eineFörderarchitektur, von der alle schwächeren Regionen inDeutschland profitieren, ohne gleichzeitig Strukturbrü-che in den neuen Ländern zu riskieren; denn die Trenn-linie verläuft meines Erachtens schon lange nicht mehrhaarscharf zwischen Ost und West .Die Trennlinie, meine Damen und Herren, verläuftzwischen wirtschaftlich starken und schwachen Regio-nen in ganz Deutschland . Die Unterschiede sind teilwei-se enorm: Auf der einen Seite gibt es starke und attrak-tive Wirtschaftsräume, die vor allem junge Menschenanlocken, auf der anderen Seite haben wir altindustrielleRegionen mit oft mäßiger Wirtschaftskraft, niedriger Er-werbsquote, hartnäckig hohen Arbeitslosen- und sinken-den Bevölkerungszahlen . Dies gilt für Ost wie für West .Unsere Aufgabe muss es sein, die vorhandenen För-derprogramme noch flexibler zu gestalten. Wir benötigeneine Förderung, die passgenauer auf die Bedürfnisse derjeweiligen Region ausgerichtet ist, gleich ob Ost oderWest .
Die von der Bundesregierung vorgelegten Eckpunk-te sind dafür eine erste Grundlage . Hierüber müssen wirweiter diskutieren . Unsere Präferenzen der Struktur- undWirtschaftsförderung müssen noch stärker jenen Re-gionen und Bundesländern gelten, die den Anschlussaus eigener Kraft nicht schaffen . Das muss die künftigeRichtschnur bei den Finanzbeziehungen zwischen Bundund Ländern für die Zeit ab 2020 sein .Liebe Kolleginnen und Kollegen, im 25 . Jahr der Ein-heit ist unseren heutigen Schulkindern der Gedanke anein geteiltes Deutschland völlig fremd . Sie kennen esnur aus Geschichtsbüchern und Erzählungen . Lassen Sieuns weiter jene Wirklichkeit schaffen, die in den Köp-fen vieler unserer Kinder bereits existiert und die uns dasGrundgesetz vorgibt: ein vereintes Deutschland mit über-all gleichwertigen Lebensverhältnissen .Herzlichen Dank .
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren im Plenum und auf der Tribüne! Ich möchte mit derFrage beginnen, was uns Deutsche in Ost und West dieganze Zeit, unabhängig von Teilung oder Nichtteilung,zusammengehalten hat . Das ist in hohem Maße unseregemeinsame Kultur . In unserer gemeinsamen Kultur gibtes einen kleinen Teil, und das sind die deutschen Volks-märchen .Ein Volksmärchen ist das Märchen vom Fischer undseiner Frau . Ich weiß nicht, ob es jeder im Saal kennt .Deshalb ganz kurz der Inhalt: Der Fischer fängt einenButt . Der Butt bittet darum, am Leben zu bleiben undgewährt dem Fischer im Gegenzug einen freien Wunsch .Da der Fischer und seine Frau in einem alten Kahn, Pottgenannt, leben, wünschen sie sich ein festes Haus, einekleine Hütte . Sofort gibt es einen Knall, und die kleineHütte ist da . Nach einer gewissen Zeit wird die Frauunzufrieden und schickt den Fischer wieder zum Butt . –Das ergänzt auf schöne Weise das Bild von Herrn Gysivon der Arbeitsteilung von Mann und Frau .
Jedenfalls wird der Butt erneut herbeizitiert, und alsNächstes spendiert er ein größeres Haus . So geht das im-mer weiter . Als Nächstes möchte sie Fürst, dann König,dann Kaiser, dann Papst und zuletzt der liebe Gott wer-den .
Dann gibt es wieder einen Knall, und plötzlich landen derFischer und seine Frau wieder im alten Pott .Ich möchte Sie, insbesondere diejenigen, die in derDDR geboren und aufgewachsen sind, einfach mal einla-den, sich vorzustellen, es gäbe einen Knall und wir lan-deten alle binnen einer Sekunde in der DDr .
Wie sähe es dort aus? Wir wollen jetzt einfach mal überdie Lebenswirklichkeit nachdenken, die es damals dortgab und die einige von uns noch kennen .Es beginnt bei den Schülern . Es war bei uns üblich –ich weiß nicht, ob sich diejenigen, die in der DDR zurSchule gegangen sind, noch erinnern –, dass man viel-leicht monatlich einmal mittwochs in der großen Pauseauf dem Appellplatz antrat .
– Oder montags, je nachdem; da hatten alle ihre eigeneZeitrechnung .
Jedenfalls standen wir dort in Reih und Glied, wie dieSoldaten . Dort wurden die Schüler, die Fortschritte zeig-ten, belobigt und die etwas schlechteren Schüler runter-gemacht, und zwar in einer Weise, die man sich heuteüberhaupt nicht mehr vorstellen kann . Heute haben wirSabine Poschmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512440
(C)
(D)
Datenschutz: Schlechte Leistungen dürfen überhauptnicht mehr mit guten Leistungen verglichen werden .
Damals wurde in einer Rigorosität mit Schülern umge-gangen, die man sich heute überhaupt nicht mehr vor-stellen kann .Nächstes Beispiel . Die Schule beginnt im September .Was passierte Ende September, Anfang Oktober? Daging es auf die Kartoffelfelder .
Das heißt, die Schüler mussten Kartoffeln sammeln .Das halte ich aus pädagogischen Gründen gar nicht fürso verfehlt . Aber dass eine Gesellschaft in diesem Maßeauf Kinderarbeit angewiesen war, ist natürlich eine ganzandere Sache .
Als Nächstes wurden die Kinder erwachsen . Sie grün-deten eine Familie und zogen, wenn sie Glück hatten, ineine Wohnung .
Die Wohnung musste dicht, warm und sicher sein; daswaren die Kriterien .
Sie werden sich erinnern; so war das . Wir hatten damalsalle Kohleheizungen . In Dresden wurden die Kohlefuh-ren Ende der 70er-Jahre noch in Säcken in die Keller ge-tragen . Nach einer gewissen Zeit hatten sie wahrschein-lich keine Säcke mehr .
Da wurden 100 Zentner Kohlen einfach vor das Haus ge-kippt . Dann hieß es: reinschaufeln . Wenn man fertig war,dann kriegten die Nachbarn, das ältere Ehepaar, auchnoch Kohlen . Dann konnte man nicht anders, als für sieauch noch die Kohlen hereinzuschaufeln . Dann war manziemlich fertig .
Dann gab es ein häufiges Problem, nämlich den Zu-stand der Öfen . Im Herbst kam die Feuerwehr und stelltefest: Die Öfen sind nicht in Ordnung, da muss was ge-macht werden . – Man ging also zum Ofensetzer und frag-te, ob er vielleicht bereit wäre, den Ofen zu reparieren .Die Antwort war, dass er bis nächstes Jahr ausgebuchtsei, es sei denn, man hätte blaue Fliesen – das war West-geld . Meine Damen und Herren, das war die Realität .
Wie sah es in Forschung und Entwicklung aus? Wirhatten fantastische Ingenieure . Diese haben beispiels-weise in den Trabant-Werken alle paar Jahre ein neuesModell kreiert . Mangels wirtschaftlicher Möglichkeitenkonnte aber keines dieser Modelle jemals gebaut werden .Die Konsequenz: Es sind Tausende Mannjahre Ingeni-eurarbeit in Ostdeutschland im Papierkorb gelandet . Daswar Arbeitslosigkeit am Arbeitsplatz, meine Damen undHerren . Das war das Problem .
Ein weiterer Punkt, der etlichen von Ihnen auch nochin Erinnerung sein dürfte, waren die Beratungsmuster .Ich weiß nicht, ob jemand etwas mit diesem Begriff an-zufangen weiß .
Wir hatten ja wunderbare technische Errungenschaf-ten, zum Beispiel Warmwasserboiler . Die wärmten nichtnur das Wasser, sondern gleich noch die ganze Wohnungmit .
Der Zähler rotierte wie die Hinterräder unserer Gigantender Landstraße, der Friedensfahrer .
Und was passierte, wenn sie einen neuen Warmwas-serboiler brauchten, weil sie kleine Kinder hatten, dieauch einmal baden mussten? Sie gingen ins CentrumWarenhaus nach Dresden, und dort sahen Sie einen wun-derbaren Boiler, genau wie Sie ihn sich vorgestellt haben,ausgestellt . Wenn Sie sagten: „Einen solchen Boiler willich kaufen“, entgegnete Ihnen der Verkäufer: Dabei han-delt es sich um ein Beratungsmuster .
Das heißt, das Ganze war überhaupt nicht erhältlich, son-dern es war zur Täuschung der westlichen Öffentlichkeitals Potemkin’sches Dorf im Centrum Warenhaus ausge-stellt .
Meine Damen und Herren, dies alles sind die Din-ge, mit denen wir die schönen statistischen Vorteile derDDR – die unsere Linkspartei gerne gegenüber der Bun-desrepublik Deutschland herausstreicht – erkauft haben .
Nachdem wir einen Blick darauf geworfen haben,möchte ich in diesem Zusammenhang noch einen Punkthinzufügen . Nach der Wiedervereinigung gab es in derehemaligen SED in Bezug auf das, was die DDR aus-machte, sehr viel Ehrlichkeit .
Arnold Vaatz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12441
(C)
(D)
Diese Ehrlichkeit, zum Beispiel beim PolitbüromitgliedGünter Mittag, sah damals so aus – ich zitiere, was er imSpiegel zu diesem Thema gesagt hat –:Ohne die Wiedervereinigung wäre die DDR einerökonomischen Katastrophe mit unabsehbaren sozi-alen Folgen entgegengegangen, weil sie auf Dauerallein nicht überlebensfähig war .
Herr Gysi, Sie haben vorhin gesagt, wie nötig Sie bei-spielsweise die CDU brauchen . Nun sage ich Ihnen ein-mal, wie ich mir eine Linke, deren Vorstellungen nichtetwa mit meinen hätten übereinstimmen müssen, vorge-stellt hätte:
Ich hätte mir eine Linke gewünscht, die mit der Ehr-lichkeit, wie ich sie eben zitiert habe, vorangeht und dienicht bei jeder Gelegenheit mit den alten Rezepten, diedie DDR zugrunde gerichtet haben, in immer neuer Ver-packung die Diskussion in der Bundesrepublik Deutsch-land befeuert,
und eine Linke, die sich gefragt hätte: Wie können wirdas wiedergutmachen, was wir in Ostdeutschland ange-richtet haben?
Wie können wir helfen, dass Deutschland zusammenfin-det? Was können wir tun? Was können wir einbringen?Aber genau das machen Sie nicht . Vielmehr überprü-fen Sie alle Ihre Argumente darauf, inwieweit sie geeig-net sind, die Bundesrepublik Deutschland auf denselbenWeg zu führen, auf den Sie die DDR geführt haben . Dasist das Problem .
Wenn Sie das ablegen, meine Damen und Herren, dannheiße ich Sie im Deutschen Bundestag herzlich willkom-men .
Na ja, jedenfalls hat sich auch bei mir zum Schluss derEindruck doch sehr verfestigt, dass aus einem möglichengemeinsamen Projekt von Gysi und Vaatz, aufzuzei-gen, wie eine gesamtdeutsche Partei eigentlich aussehenmüsste, wohl nichts Richtiges werden könnte .
Mit dieser ernüchternden Einsicht schließe ich dieAussprache .Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/6100 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen . Der Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6195soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden . SindSie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich derFall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksa-che 18/6188 mit dem Titel „25 Jahre Deutsche Einheit –Leistungen würdigen, Herausforderungen angehen“ . Wermöchte für diesen Antrag stimmen? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Nun hat Gregor Gysi selbstdie historische Chance verpasst, gegen diesen Antrag zustimmen .
Damit hat er unwillentlich dazu beigetragen, dass dieserAntrag angenommen worden ist .Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 bauf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung18. Bericht der Bundesregierung zur Auswär-tigen Kultur- und BildungspolitikDrucksache 18/5057Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung17. Bericht der Bundesregierung zur Auswär-tigen Kultur- und BildungspolitikDrucksache 18/579Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss Arnold Vaatz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512442
(C)
(D)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien HaushaltsauschussAuch hier soll die Aussprache nach einer interfraktio-nellen Vereinbarung 77 Minuten dauern . Hat jemand da-gegen Einwände? – Das ist nicht der Fall . Also machenwir das so .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Ulla Schmidt für die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-be Gäste! Die Berichte, über die wir heute diskutierenund die Gott sei Dank wieder von einem Außenminis-ter vorgelegt wurden, für den diese dritte Säule der Au-ßenpolitik eine ganz wichtige Bedeutung hat, legen dasHauptaugenmerk auf die Krisen‑ und Konfliktpräventi-on .Ich glaube, gerade angesichts der derzeitigen Situati-on gilt: Eigentlich war Auswärtige Kultur- und Bildungs-politik nie so aktuell wie heute . Wenn wir berücksichti-gen, dass sich laut UNHCR rund 60 Millionen Menschenauf der Flucht befinden – so viele wie seit dem ZweitenWeltkrieg nicht mehr –, zeigt das sehr deutlich, wie ineiner Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, die so-ziale Kraft der Kultur in der Frage der Krisen- und Kon-fliktprävention eine immer größere Bedeutung erhält.Denn viele der Krisen, die wir heute als humanitäre Kri-sen erleben, sind ja, wie es der Bundesaußenminister im-mer sagt, auch Krisen der Humanität, also der Mensch-lichkeit, die in Gefahr ist aufgrund von Terrorismus,ideologischem Radikalismus und auch aufgrund der Si-tuation, dass in immer mehr Staaten jede zivile Ordnungauseinanderbricht und dass gerade in den Krisenregionendem staatlichen Gewaltmonopol überhaupt keine Bedeu-tung mehr zukommt .Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssenwir in diesen Bereich der auswärtigen Politik investieren .Denn all das, worüber wir heute im Hinblick auf Fluchtur-sachen, worüber wir im Hinblick auf Hilfe beim Aufbauzivilgesellschaftlicher Strukturen in den verschiedenenLändern, worüber wir im Hinblick auf die Vermittlungvon Werten diskutieren, ist von großer Bedeutung, undhier muss mit und von unseren Mittlerorganisationensehr viel geleistet werden . Für uns, die Mitglieder desUnterausschusses Auswärtige Kultur- und Bildungspoli-tik, war immer wichtig, dass wir mithilfe unserer Mittler-organisationen dafür sorgen, dass in den Flüchtlingsla-gern und in all den bedrohten Regionen keine verloreneGeneration aufwächst, und dass wir zugleich in Bildung,in Kultur, in die Vermittlung von Werten investieren, dasswir den jungen Menschen die Chance geben, überhauptwieder an Demokratie zu glauben und dafür einzutreten .
Ich möchte heute einmal den Blick auf die deutschenAuslandsschulen richten . Sie sind seit jeher eine tragendeSäule der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik . Siehaben Tag für Tag damit zu tun, mit unterschiedlichenBiografien umzugehen, die Menschen in den Herkunfts-ländern kennenzulernen, Kindern die Chance zu geben,Werte zu entwickeln, an Demokratie zu glauben . Sie sindim Grunde genommen Orte der Begegnung, der Vielfalt,und sie sind oft Orte des Beginns des interkulturellenAustauschs . Weil sie so dafür prädestiniert sind, dieseunterschiedlichen, heterogenen Aufgaben zu meistern,müssen wir in die Auslandsschulen investieren .
Viele von Ihnen haben sich bei Ihren Besuchen in denverschiedenen Ländern immer wieder vor Ort von derhervorragenden Arbeit der Auslandsschulen überzeugenkönnen . Sie haben sich davon überzeugen können, wiedort Schülerinnen und Schüler mit den verschiedenstenpersönlichen, sozialen, religiösen und kulturellen Hinter-gründen miteinander und voneinander lernen, wie dortmithilfe der Lehrerinnen und Lehrer diese Schülerinnenund Schüler zu weltoffenen, toleranten, selbstbewusstenjungen Erwachsenen herangebildet werden und wie dieAuslandsschulen über ihre Arbeit vor Ort mit den ver-schiedenen Kulturen verwachsen .Ich habe heute Morgen mit der Kollegin Münteferingdarüber gesprochen, welche Chancen sich für unsereAuslandsschulen bieten, auch innerhalb Europas, ins-besondere in Osteuropa . Denken wir an die Diskussio-nen, die wir derzeit über eine gerechte Behandlung derFlüchtlinge und eine wirklich europäische Flüchtlings-und Asylpolitik führen . Unsere Schulen können dazubeitragen, dass dort Menschen heranwachsen, die mitihren Familien dafür eintreten und vielleicht in manchenPunkten einen Sinneswandel in der Gesellschaft herbei-führen können .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die Schulen sogut sind, haben wir im Ausschuss und hier im Parlamententschieden, dass sie auch im Bereich der inklusivenBildung Aufgaben wahrnehmen sollen . Wir wollen beider Umsetzung der Behindertenrechtskonvention voran-gehen . Wir wollen, dass von unseren Auslandsschulenvor Ort das Signal ausgeht: Ja, auch für behinderte Men-schen, für behinderte Kinder ist Teilhabe ein Menschen-recht; denn dieses Menschenrecht ist unteilbar .Schließlich wollen wir auch, dass über die Auslands-schulen unsere hervorragenden Erfahrungen im Bereichder dualen Berufsbildung vermittelt werden können .Präsident Dr. Norbert Lammert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12443
(C)
(D)
Ich füge aber hinzu: Wenn wir all das wollen, wennwir die Möglichkeiten der Auslandsschulen nutzen wol-len und wenn wir die Qualität der Ausbildung in diesenSchulen beibehalten wollen, dann müssen wir investie-ren; denn gute Schulen brauchen hervorragende Lehre-rinnen und Lehrer .
Dem entspricht nicht, dass die Auslandsschulen seit Jah-ren an Attraktivität einbüßen . Mittlerweile liegen dieLehrerinnen und Lehrer an Auslandsschulen 23 Prozenthinter der Gehaltsentwicklung von Bundesbeamten imAusland zurück . Wir erleben derzeit, dass Lehrerinnenund Lehrer sagen: Ich würde das gerne machen, aber ichkann doch meine Familie, meine Kinder nicht schlechter-stellen, nur weil ich eine wichtige Aufgabe wahrnehmenmöchte . – Ich bitte Sie alle darum, dass wir gemeinsamdaran arbeiten . Wir müssen die Besoldung der Lehrerin-nen und Lehrer an die Besoldung aller anderen ins Aus-land entsandten Beamten und sonstigen Kräften anpas-sen . Wir müssen die seit 1999 geltende Abkopplung ihrerBesoldung beenden .
Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass wir ausrei-chend Geld zur Verfügung haben, damit die Auslands-schulen die Aufgaben, die sie im Bereich der Inklusionund hinsichtlich der Förderung der beruflichen Bildungwahrnehmen sollen, erfüllen können . Wir müssen aberauch die Chance haben, mit entsprechenden Mitteln dieSchulen zum Beispiel in Erbil im Nordirak oder in Kabulzu unterstützen,
und dort, wo es noch keine Auslandsschulen gibt, kleineSchulen zu unterstützen, damit dort langsam Auslands-schulen aufgebaut werden können . Ich bitte Sie dafür umUnterstützung . Im Ausschuss werden wir darüber nochreden . Ich glaube, wir müssen jetzt investieren .Wir brauchen zusätzliches Geld im Haushalt . Dafürwerbe ich bei Ihnen allen . Sie wissen, in der Kulturpo-litik ist es immer so: Mit wenig Geld kann man viel er-reichen, aber durch Entzug von wenig Geld kann manvieles kaputtmachen . Wir jedoch sollten in die Zukunftinvestieren .Danke schön .
Nun erhält die Kollegin Tank für die Fraktion Die Lin-
ke das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich freue mich, dass die Bundesregierung lautdem vorgelegten 18 . Bericht vom bisherigen Kurs in derAuswärtigen Kultur- und Bildungspolitik abweichenmöchte . Infolge des Paradigmenwechsels ab 2011 hießes – ich zitiere –:Es geht für Deutschland darum, Einfluss in der Weltzu sichern . . .Stattdessen möchte Bundesaußenminister Steinmeiernun zur traditionellen Rolle der Auswärtigen Kultur- undBildungspolitik als dritte Säule der Außenpolitik zurück-kehren . Das ist eine überfällige Kurskorrektur; denn ausSicht der Linken kommt gerade der Auswärtigen Kultur-und Bildungspolitik angesichts der aktuellen Krisen inEuropa eine besondere Bedeutung zu .
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik darf nichtlänger als Einbahnstraße begriffen werden, sondern mussauf gegenseitigem Austausch, Respekt und Toleranz be-ruhen . Sie darf nicht als Instrument der Interessenvertre-tung deutscher Außenpolitik benutzt werden .
Um einen echten Wandel zu vollziehen, benötigen wirfinanzielle Mittel. Von den 400 Millionen Euro, die demAuswärtigen Amt 2015 für humanitäre Hilfe zur Verfü-gung stehen, muss die Auswärtige Kultur- und Bildungs-politik einen ausreichenden Anteil erhalten .Betonen will ich hier den internationalen Jugendaus-tausch . Ohne Planungssicherheit kann er seine nachhalti-ge Wirkung nicht entfalten . Im Unterausschuss bemühenwir uns gerade um die langfristige Gewährleistung derBildungs- und Erinnerungsarbeit in Sobibor und Belzec,zwei ehemaligen deutschen Vernichtungslagern in Polenan der Grenze zur Ukraine . Hierfür braucht es seit lan-gem mehr finanzielle Mittel. Doch das allein reicht nicht.Es müssen auch Projekte entwickelt werden, die die Zi-vilgesellschaft einbinden, die Wege zum Ausbau der Ge-denkstätteninfrastruktur aufzeigen und Mittlerorganisati-onen wie das Deutsche Historische Institut einbeziehen .Den Absichtserklärungen des 18 . Berichtes müssenjetzt konkrete Maßnahmen folgen . Angesichts der aktu-ellen Lage müssen die Projekte für und mit Flüchtlingenin Lagern Priorität haben .
Dabei kann das Goethe-Institut im Bereich der Sprach-vermittlung helfen . Sprache ist Grundlage der Integrati-on .Als einen neuen Schwerpunkt nennt die Regierungs-koalition im 18 . Bericht die Östliche Partnerschaft . Wirals Linke sehen das kritisch .
Es stellt sich die Frage, ob es sich bei der Östlichen Part-nerschaft um eine wirklich gleichberechtigte Partner-Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512444
(C)
(D)
schaft handelt . Aus unserer Sicht bestehen da begründeteZweifel .Kritisch sehen wir in diesem Zusammenhang auch diestrukturelle Neuaufstellung der Deutschen Welle, die im18 . Bericht als Werkzeug, so wörtlich, „zur ReputationDeutschlands in der Welt“ verstanden wird . AuswärtigeKultur- und Bildungspolitik darf aber nicht zum Sprach-rohr der Interessen deutscher Außenpolitik werden .
In der Kultur- und Bildungspolitik brauchen wir einenWandel hin zu einem Dialog auf Augenhöhe und gegen-seitige Anerkennung .
Werte wie Demokratie und Respekt vor der Men-schenwürde, die von Deutschland ins Ausland getragenwerden sollen, müssen umgekehrt auch von uns gelebtwerden . Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu ein per-sönliches Erlebnis, das mich sehr bewegt: Vor wenigenTagen war ich an der kroatisch-ungarischen Grenze inBotovo . Hunderte Flüchtlinge, Babys in Decken gehüllt,alte und kranke Menschen, deren Rollstuhl im Schlammstecken blieb, und die schließlich Stacheldrahtzaun undGrenzsoldaten passieren mussten – ein unvergesslicherAnblick, der bei mir und anderen Trauer und Wut aus-löste .Mir wurde außerdem berichtet, dass die Geflüchtetendanach in Ungarn vom Militär eskortiert und geschubstund getreten wurden, wenn sie nicht schnell genug wa-ren . Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich allen Men-schen danken, die den Geflüchteten in Deutschland undin Europa selbstlos geholfen haben und helfen .
Enttäuscht bin ich hingegen von dem sogenanntenFlüchtlingsgipfel . Die Chance für eine faire und gerech-te Aufnahmepolitik wurde vertan . Die Bundesrepubliksetzt erneut auf Abschreckung und Entrechtung . Sie teiltAsylsuchende in vermeintlich gute und schlechte Flücht-linge ein, in potenzielle Fachkräfte und Unqualifizierteund plant weitere Abschreckungsmaßnahmen .
Wo sind hier die demokratischen, die humanistischenWerte, wo die Menschenwürde, die Willkommenskultur?Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke steht füreine von Toleranz getragene, dialogorientierte Auswärti-ge Kultur- und Bildungspolitik . Wir wollen ihre Bedeu-tung klar nach außen sichtbar machen und gegen jedeEinflussnahme schützen. Dafür benötigen wir aber, wiemeine frühere Kollegin Luc Jochimsen bereits vor Jahrenvorgeschlagen hat, die Einführung einer Bundeskultur-ministerin mit Kabinettsrang .
Ich möchte diesen Vorschlag noch einmal aufgreifen .
Ja, Frau Kollegin, aber vielleicht in einem zusammen-
fassenden Satz .
Es kann doch nicht sein, dass ein Land wie Deutsch-
land kein Kulturministerium besitzt .
Nur ein Ministerium kann die verschiedenen Aufgaben-
felder und die Belange der Kultur sowohl gegenüber an-
deren Ressorts als auch auf europäischer Ebene bündeln
und wirksam vertreten . Lassen Sie uns die Möglichkei-
ten internationaler, friedlicher Kulturförderung durch ein
Kulturministerium stärken .
Ich danke Ihnen .
Für die Bundesregierung hat nun die Staatsministerin
Maria Böhmer das Wort .
D
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Frau Tank, lassen Sie mich zunächsteinmal feststellen: Die Anwesenheit der Kulturstaatsmi-nisterin Professor Monika Grütters ist gegeben .
Deshalb sage ich an Monika Grütters einen ganz herzli-chen Gruß .
Mit der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitikschaffen wir ein stabiles Fundament für unsere internati-onalen Beziehungen, weil wir auf Dialog zwischen Men-schen und zwischen Kulturen setzen . Dazu gehört, dasswir die deutsche Sprache in Europa und weltweit fördern .Wir tragen dazu bei, dass überall kulturelle Identität undVielfalt erhalten bleiben . Damit leisten wir zweifellos ei-nen Beitrag zur weltweiten Krisen‑ und Konfliktpräven-tion . Kulturelle Arbeit bereitet im vorpolitischen Raumden Boden für Verständigung, für Krisenprävention undKrisenbewältigung . Sie werden erst dadurch richtig mög-lich, und das ist heute wichtiger als je zuvor .
Mit der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik istdas Ziel verbunden, ein wirklichkeitsgetreues, ein le-bendiges Bild von Deutschland zu vermitteln . Wir sindein Land, in dem Bildung und berufliche Entwicklung,Wissenschaft und Forschung im Fokus stehen . Wir sindein Land, in dem Kreativität und Kultur eine wesentlicheAzize Tank
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12445
(C)
(D)
Rolle spielen . Wir sind aber nicht nur Goethe und Schil-ler . Wir sind auch – das sage ich ganz bewusst als Frau –eine begeisterte Fußballnation . Es ist wichtig, auch einsolches Bild nach außen zu tragen .
Ich freue mich, dass wir uns hier einig sind; das giltauch für die Bundesregierung . Ich stimme mit demBundesaußenminister überein, dass wir die AuswärtigeKultur- und Bildungspolitik weiter stärken müssen . Be-sonders gefordert sind wir angesichts der dramatischenFlüchtlingssituation . Gestern haben wir uns hier imDeutschen Bundestag auf die Situation in Deutschlandkonzentriert . Wir haben ein wichtiges Gesetzespaket aufden Weg gebracht . Damit stützen wir die Solidarität unddie Hilfsbereitschaft der Menschen in unserem Land .Diese Hilfsbereitschaft und diese Solidarität sind unge-brochen . Dafür sage ich herzlichen Dank .
Aber wir werden diese Flüchtlingskrise nur bewälti-gen, wenn es uns gelingt, die Fluchtursachen wirksamzu bekämpfen: in Syrien, im Irak, in Afghanistan und ingroßen Teilen Afrikas; auch diese Bereiche müssen wirim Blick behalten . Wir müssen dort verstärkt helfen, wohumanitäre Hilfe gebraucht wird und wo es oft um dasnackte Überleben geht .In den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanonist die Lage zunehmend dramatisch . Das darf uns nichtruhen lassen . Anders ist die Situation in den Flücht-lingslagern in der Türkei . Ich war kürzlich in Antakya,an der türkisch-syrischen Grenze . In dem Zeltlager, dasich besucht habe, sind 3 000 Flüchtlinge untergebracht,darunter 600 Kinder . Es ist – zugegeben – ein kleineresFlüchtlingslager . Aber – was ich jetzt sage, gilt für alleFlüchtlingslager in der Türkei – die Versorgung ist gut;es gibt einen Kindergarten, eine Schule, medizinischeVersorgung und einen Supermarkt . Das ist den erhebli-chen Anstrengungen zu verdanken, die in der Türkei un-ternommen werden . Und das gilt es auch anzuerkennen .Aber ich frage auch: Was ist mit den vielen anderenFlüchtlingen, die kein Dach über dem Kopf haben, diekeine Schule für ihre Kinder finden, die keine Arbeithaben, deren Ersparnisse jetzt zur Neige gehen, die ver-zweifelt sind und denen in dieser Verzweiflung kein an-derer Weg offensteht, als sich auf die Flucht zu begeben,die Grenzen zu überschreiten, um nach Europa und nachDeutschland zu kommen? Diese Flüchtlinge braucheneine Perspektive . Sie haben mir immer wieder gesagt, siewollen eines Tages in ihre Heimat zurückkehren . Dannmüssen sie in der Lage sein, ihr Land wieder aufzubauen,und dafür müssen wir jetzt die Weichen stellen . Genauhier muss die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitikansetzen .
Ich will anhand von vier Beispielen erläutern, was dasAuswärtige Amt in die Wege leitet .Erstens . Zusammen mit dem Deutschen Akademi-schen Austauschdienst haben wir im vergangenen Jahrein Stipendienprogramm für syrische Flüchtlinge unterdem Motto „Leadership for Syria“ aufgelegt . Wir förderndamit 100 junge Menschen auf dem Weg zum Bachelor,zum Master oder einem Doktorgrad . Jetzt könnte manfragen: 100 junge Menschen angesichts dieser großenZahl von Flüchtlingen? Aber es werden genau diejenigensein, auf die Schlüsselpositionen zukommen . Es werdendiejenigen sein, auf die sich die Blicke richten, wenn esdarum geht, morgen voranzugehen, Verantwortung fürihr Land wieder zu übernehmen .Zweitens . Dazu passt, was wir mit der Alexan-der-von-Humboldt-Stiftung unternehmen . Wir habenein Scholars-at-Risk-Programm für Wissenschaftler imExil aufgelegt, damit diese später den Brückenschlag inihre Heimat schaffen und der Wiederaufbau dann auchgelingt .Drittens . Das Goethe-Institut leistet wichtige pädago-gische Arbeit in den Flüchtlingslagern . Ja, Frau Schmidt,wir stimmen überein . Auch ich sage: Wir dürfen keineverlorene Generation zulassen . Wir müssen gerade Kin-dern und Jugendlichen eine Hoffnung, eine Perspektivegeben .
Viertens ist mir wichtig: Das Deutsche Archäologi-sche Institut leistet in Flüchtlingslagern in Jordanien, imLibanon, im Irak und in der Türkei wichtige handwerk-liche Qualifizierungsarbeit. Ich weiß, wie gut sie geradevom Kreis des Unterausschusses Auswärtige Kultur- undBildungspolitik begleitet wird . Das stärkt den Einzelnen,das hilft, Kulturgüter zu erhalten und wiederherzustellen .Das ist eine grundlegende, eine unverzichtbare Aufgabe,wenn es um Identität, wenn es um den dringend notwen-digen Zusammenhalt geht .Die beiden Berichte, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, die Ihnen heute vorliegen, belegen eindrucksvolldie große Bandbreite der Auswärtigen Kultur- und Bil-dungspolitik . Ich will auf nur einen Themenschwerpunkteingehen:Das Interesse an Deutschland ist groß, und es hat sichverändert . Bei Kultur und Lebensqualität, Regierungs-führung, Qualität von Produkten haben wir Bestnoten .Darauf können wir stolz sein . Aber ich sage auch, dassuns das nicht übermütig machen soll . Die Wertschätzungmuss uns ein Ansporn sein .Deutsch als Fremdsprache erlebt einen weltweitenAufschwung . 15,4 Millionen Menschen lernen Deutsch,und das sind mehr als vor fünf Jahren . Das Interes-se an den deutschen Auslandsschulen und den knapp1 800 Schulen, die sich an unserer PartnerschulinitiativePASCH beteiligen, ist ungebrochen .Es gibt immer mehr Studierende, die es nach Deutsch-land zieht . Ich bin guten Mutes, dass wir im Jahr 2020 dieZahl von 350 000 ausländischen Studierenden erreichenwerden .Das alles ist wichtig, weil die Schüler, die Studenten,die Deutschlerner unsere Partner von morgen sind . SieStaatsministerin Dr. Maria Böhmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512446
(C)
(D)
legen die Grundlage für eine gute internationale Zusam-menarbeit, und sie alle sprechen im wahrsten Sinne desWortes unsere Sprache .Aber ich sage auch: Es wartet noch ein gutes StückArbeit auf uns, wenn es um die Auslandsschulen geht;ich will das hier mit aller Deutlichkeit unterstreichen .All diejenigen, die dabei waren, als im Januar die Jah-restagung der Schulleiterinnen und Schulleiter stattfand,wissen, wie schwierig es ist, deutsche Lehrerinnen undLehrer für deutsche Auslandsschulen zu gewinnen . Daswird noch schwieriger werden angesichts des großenBedarfs, den wir gegenwärtig in unserem Land haben,angesichts der steigenden Schülerzahlen durch mehrFlüchtlingskinder in den Schulen; das macht es für dieAuslandsschulen nicht leichter . Wir haben darüber imUnterausschuss gesprochen, und ich hatte gestern einensehr intensiven Austausch mit der Präsidentin der Kul-tusministerkonferenz, Frau Kurth . Wir waren uns einig:Wir wollen gemeinsam daran arbeiten, dass es zu Verbes-serungen kommt . Das heißt, wir brauchen eine bessereWertschätzung der Arbeit an Auslandsschulen . Der Aus-landsschuldienst darf nicht zum Karriereknick werden .
Wir brauchen diese Lehrerinnen und Lehrer mit ihrerinterkulturellen Kompetenz . Sie werden anderen eineRichtung geben. Es gilt, die eklatante Schieflage endlichzu beseitigen: Eine Gehaltsdifferenz von 23 Prozent istnatürlich ein Hemmnis für die Entscheidung, an eineAuslandsschule zu gehen . Wir haben im AuswärtigenAmt einen entsprechenden Vorschlag vorbereitet, der Ih-nen bereits zugegangen ist . Er liegt Ihnen vor, und wirwerden darüber sprechen . Meine herzliche Bitte ist: Las-sen Sie uns an einem Strang ziehen . Wir brauchen dafürdie entsprechenden Finanzmittel . Es geht um eine guteZukunft für die Auslandsschulen .
Ich darf mit einem sehr herzlichen Dank an Sie alleenden . Denn Auswärtige Kultur- und Bildungspolitikbraucht starke Partner, und ich empfinde alle im Deut-schen Bundestag – ganz besonders die Mitglieder ausdem Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungs-politik, aber ich binde auch unsere Haushälterinnen undHaushälter mit ein – als solche starken Partner . LassenSie uns weiter an einem Strang ziehen . Die Erwartungenan diesen Politikbereich sind groß . Es liegt an uns, sie zuerfüllen .Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen .Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Welt ist im Umbruch, und wie Ulla Schmidt auchmit Blick auf die hohen Flüchtlingszahlen und die vielenKonfliktherde gesagt hat: Die Welt ist eigentlich längstaus den Fugen geraten . In dieser Welt im Umbruch, diewie nie zuvor von der Globalisierung geprägt ist, erhältdie Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik eine immergrößere Bedeutung .Die Welt von heute ist aber auch geprägt von einerRepolarisierung, von Schwarz-Weiß-Denken und altenund neuen Feindbildern . Alte Gräben werden wieder auf-gerissen wie zwischen Russland, Europa und den USA,zwischen Iran und Saudi-Arabien, zwischen der türki-schen Regierung und den Kurden, zwischen Juden undPalästinensern oder auch innerhalb Europas, wie wir esin diesem Sommer ganz besonders und sehr erschrockenbeobachten mussten .Aber auch die neuen Gräben vergrößern sich von Tagzu Tag . So lässt die Umsetzung des Friedensprozesses inder Ukraine weiter auf sich warten, und die Konflikte,die entgrenzte Gewalt in Syrien, im Jemen, in Afghanis-tan, in Libyen und im Irak verschlimmern sich immermehr . Wir erleben in dieser Welt von heute postkolonialeUmbrüche, das Entstehen neuer Autokratien und die Ent-rechtung der universellen Menschenrechte .Dort, wo politische Kontakte nicht mehr stattfinden,sondern wo Schweigen oder, schlimmer noch, nur nochWaffengewalt herrscht, dort, wo eigentlich politischnichts mehr geht, braucht es Auswärtige Kultur- und Bil-dungspolitik .
Es braucht sie als leisen und vorsichtigen Brückenbau-er . Es braucht sie als ersten Türöffner für den Dialog . Esbraucht sie zur Stärkung einer geschwächten Zivilgesell-schaft .Es muss uns Sorgen bereiten, dass in den letzten Jah-ren in über 80 Staaten sogenannte NGO-Gesetze verab-schiedet wurden, die keinen anderen Inhalt haben, als dieRechte und Räume von NGOs einzuschränken, manch-mal sogar, um ihre Arbeit zu erdrosseln . Wenn Presse-und Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst kaummehr vorhanden sind, dann braucht es die AuswärtigeKultur- und Bildungspolitik, die geschützte Räume fürkritische Gedanken schafft und ziviles Engagement undoppositionellen Mut beheimaten kann .
Auch dort, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo ter-roristische Gewalt nicht nur Menschenleben fordert,sondern auch kulturelles Menschheitserbe systematischzerstört wird, wie die Tempel von Palmyra in Syrien, dieBuddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan, die Bib-liothek von Timbuktu in Mali und die assyrischen Stät-ten in der Ninive-Ebene im Irak oder jetzt im Jemen, woStaatsministerin Dr. Maria Böhmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12447
(C)
(D)
Saudi-Arabien das Land ins Mittelalter bombt und dieWeltkulturerbestätten von Sanaa und Schibam zerstörtwerden, braucht es die Auswärtige Kultur- und Bildungs-politik, die versucht, zu schützen und zu erhalten, wasunsere gemeinsame globale Identität ausmacht .
Sie gibt sich nicht zufrieden mit einem Eintrag in die roteUNESCO-Liste, sondern versucht, Druck – auch politi-schen – auszuüben .Es ist dringend notwendig – wir begrüßen das –, dassdas Deutsche Archäologische Institut stärker unterstütztwird . Dieses Institut plant nun zum Beispiel in Teheraneine Ausstellung zur Geschichte der deutsch-iranischenForschung und zur 50-jährigen Geschichte der Außen-stelle des Instituts in der iranischen Hauptstadt . AuchArchäologie ist Kulturerhalt . Mehr noch: Sie bietet dieChance, über die Arbeit am Gestern ein gemeinsamesMorgen zu eröffnen .
Wir brauchen die Auswärtige Kultur- und Bildungs-politik aber auch als Teil unserer Erinnerungskultur . Dashaben wir gerade in diesem Jahr erleben und beweisenkönnen . 50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israelwerden emotional erfahrbar beispielsweise durch Install-ationen von Sigalit Landau – unterstützt vom Auswärti-gen Amt –, die wir in unserem Haus ausstellen konnten,oder durch ein Konzert mit den „Violinen der Hoffnung“ .Das Gedenken an den Genozid an den Armeniern vor100 Jahren vermag noch heute, Politik zu prägen undKonsequenzen für die Lebenden zu fordern . Genau dasetzt die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik an;denn sie zeigt in der Erinnerungskultur, wie wir mit un-serer Vergangenheit verantwortlich umgehen und ob wirwirklich bereit sind, uns ihr vollständig zu stellen, umso Vertrauen bei den Nachgeborenen des Naziterrors zuschaffen . Unsere Debatte über den deutschen Völker-mord an den Herero zeigt doch exemplarisch, dass esnicht reicht, vergangenes Leid bzw . Schuld anzuerken-nen, wenn damit nicht gleichzeitig eine Verantwortungs-übernahme einhergeht . Da ist noch sehr viel zu tun .
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist diedritte Säule der Außenpolitik . Damit das alle wissen: Sieist kein Sahnehäubchen und auch kein Accessoire, dasman sich nur in guten Zeiten leisten kann . Nein, oft ist siegerade Voraussetzung für eine auswärtige Politik .
Aber auch hier müssen wir uns die Frage nach der Kohä-renz stellen; denn die Maßnahmen der klassischen Au-ßenpolitik dürfen nicht den Zielen der Auswärtigen Kul-tur- und Bildungspolitik zuwiderlaufen . Gerade beimInstrument der Sanktionen ist das künftig viel stärker zubedenken . Es darf doch nicht sein, wie wir es im FallIran erlebt haben, dass die verhängten Sanktionen gegendas Regime auch und gerade die Bildungszusammenar-beit zwischen deutschen und iranischen Universitätenunmöglich machen . Dort, wo mit Sanktionen auch zivile,kulturelle und wissenschaftliche Kooperationen getrof-fen werden, werden die Falschen bestraft, zur Freude desRegimes . Dann läuft etwas falsch .Im Kultur- und Bildungsaustausch sollten wir dieoriginären Akteure in den Mittelpunkt stellen; denn essind die Künstler, die Kreativen, die Pädagogen und dieWissenschaftler, die zumeist selbst am besten wissen, woin den eigenen Bereichen die spannenden Ansätze beste-hen und welche Initiativen und Projekte zukunftsträch-tig sind . Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist alsonicht einseitig als Instrument der Cultural Diplomacy zudefinieren; denn der Eigensinn von Kunst und Kultur, diekreative Kraft, droht sonst unter die Räder zu geraten .Es geht also nicht vorrangig um Sichtbarkeit, um rie-sengroße Ausstellungsformate . Ich erinnere mich an dieDeutschlandjahre der Vergangenheit zur höheren Ehreder deutschen Wirtschaft . Das ist nicht das, was ich mirunter Auswärtiger Kulturpolitik vorstelle .
Es sind die vielen kleineren Formate, Tausende Kulturbe-gegnungen, das nachhaltig angelegte Alltagsgeschäft derGoethe-Institute und die Stipendien des Deutschen Aka-demischen Austauschdienstes beispielsweise für Syrerin-nen und Syrer, für die Frauen des Arabischen Frühlings,die endlich wieder eine Perspektive brauchen . Das allesist Humus für die Demokratie und die Menschenrechte .Das sind auch und gerade die deutschen Schulen im Aus-land; da kann ich mich Ulla Schmidt voll und ganz an-schließen . Denn es geht bei der Vermittlung von Spracheauch um Wertevermittlung . Dafür braucht es die allerbes-ten Lehrerinnen und Lehrer . Diese brauchen anständigeLöhne . Ich hoffe, Frau Böhmer, dass Sie das dem Finanz-minister so richtig beibringen .
Doch was sind die neuen großen Herausforderungenund Aufgaben der Auswärtigen Kultur- und Bildungs-politik? Wir erleben im Nahen und im Mittleren Ostendas Entstehen neuer riesengroßer Städte . Es sind die gro-ßen Flüchtlingslager im Libanon, in der Türkei, im Irak,in Jordanien . Wir sollten auch nicht den afrikanischenKontinent mit Millionen von Flüchtlingen vergessen .Beispielhaft dafür steht das Lager Dadaab in Kenia . DieMenschen in diesen neuen Zeltstädten werden voraus-sichtlich nicht nur wenige Jahre, sondern wohl eher Jahr-zehnte, vielleicht sogar immer dort leben müssen . Dassind die neuen Orte, wo Kultur, wo Bildung Nahrungs-mittel für die Menschen bedeuten, wo Bildung und Kunstso wichtig sind wie Wasser und Brot, weil sie helfen kön-nen, sich ein neues Leben einzurichten und Traumata zuüberwinden .Vizepräsidentin Claudia Roth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512448
(C)
(D)
Deshalb ist es eine großartige Initiative des Goethe-In-stituts, in Zusammenarbeit mit FlüchtlingsorganisationenKultur- und Bildungsprojekte zu realisieren, die beson-ders Kindern und Jugendlichen, aber auch Künstlernselbst, die zu Flüchtlingen geworden sind, sinnvolle Be-schäftigung vermitteln, die das Erlebte verarbeiten helfenund die kreative Alternativen entwickeln .
Es geht dabei um den Versuch, zu verhindern, dass durchdas aktuelle Flüchtlingselend tatsächlich eine weitereverlorene Generation entsteht .Auch da, wo Menschen in ihre Heimat zurückkeh-ren können, wie zum Beispiel Erbil, die Hauptstadt deskurdischen Nordirak, bilden die Kulturmittler und diedeutschen Auslandsschulen ein zivilisatorisches Funda-ment für den perspektivischen Wiederaufbau und für dieSelbstermächtigung der Menschen . Aber gerade dieseSchule ist von der Schließung bedroht, weil die finanziel-le Unterstützung fehlt . Da muss etwas passieren .
Also: Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitikgeht dorthin, wo sonst nichts mehr oder noch nichtsmöglich ist . Sie öffnet Türen, wo politische Diplomatienoch nicht angekommen ist oder wo sie am Ende ist . Siebereitet Wege, die Begegnungen hin zu Frieden und Aus-söhnung ermöglichen, und das muss uns viel, das mussuns sehr viel mehr wert sein .Vielen Dank .
Die Kollegin Michelle Müntefering hat für die
SPD-Fraktion das Wort .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haben Sie auch dieKinderzeichnung gesehen, die ein syrisches Kind der Po-lizei geschenkt hat? Auf der einen Seite, unter syrischerFlagge, bewaffnete Terroristen, abgetrennte Gliedma-ßen; unter deutscher Flagge ein Weg, ein Haus, eine Zu-flucht. – Es ist nicht ganz klar, wie alt das Kind war, dasdas gezeichnet hat, ob es Mohammed oder Fatma hieß .Aber wie auch immer, wir wissen: Es zeigt die Realität .Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,sehr geehrte Damen und Herren, das ist die Wirklich-keit von Millionen Menschen . Viele von ihnen suchenSchutz, auch bei uns . Um helfen zu können, brauchen wiralle Kräfte . Meine Vorrednerinnen haben es gesagt: DerAuswärtigen Kultur- und Bildungspolitik kommt hierbeieine besondere Rolle zu . Denn die Kulturdiplomatie alstragende Säule deutscher Außenpolitik hat eine besonde-re, eine eigene Kraft .Unser verstorbener Kollege Philipp Mißfelder, den ichin unseren Reihen vermisse, hat vor gar nicht allzu langerZeit an diesem Pult gesagt: Die AKBP ist das Zaunkönig-tum des Deutschen Bundestages . – Ich weiß nicht, wieviele Hobbyornithologen unter uns ihn damals verstan-den haben, aber das stimmte: Der Zaunkönig ist winzigklein, sein Gefieder recht unscheinbar, aber sein Gesangist laut und über Hunderte Meter weit zu hören, im Som-mer wie im Winter .
Ja, so ist das auch mit unserer Arbeit im Ausschuss .Liebe Kollegen, die AKBP ist nicht weniger als die„sanfte Macht“ der Außenpolitik, das, was wir durch dieBeziehungen von Künstlern, Wissenschaftlern und derZivilgesellschaft an Verständigung und Veränderung be-wirken können . Sie kann helfen, kulturell, religiös oderweltanschaulich bedingte Konflikte zu bewältigen, undauch zu ihrer Prävention beitragen . Deswegen ist klar,dass wir sie brauchen . Fluchtursachen bekämpfen wir ambesten, wenn wir Menschen nicht nur ein Bett, ein Dachund etwas zu essen geben, sondern wenn wir ihnen aucheine Perspektive geben: auf ein sicheres Leben, auf Bil-dung und auf Arbeit – in ihren Heimatländern, aber auchdenjenigen, die bei uns bleiben .Es ist gut, dass Außenminister Frank-WalterSteinmeier diesen Bereich fördert, und zwar weit mehrals seine Vorgänger . Da wir im Unterausschuss als Zaun-könige für die gemeinsame Sache arbeiten, bin ich sehrfroh, dass auch Frau Böhmer und alle anderen Kollegin-nen und Kollegen beim Finanzminister noch einmal kräf-tig vorsingen werden .Die Flüchtlingsfrage zeigt, wie die Trennung von in-nen und außen aus der Zeit gefallen ist . Willy Brandt hatschon in meinem Geburtsjahr 1980 gesagt:Die Globalisierung von Gefahren und Herausforde-rungen – Krieg, Chaos, Selbstzerstörung – erforderteine Art „Weltinnenpolitik“ . . .Daran arbeiten wir heute noch .Wenn sich also wie heute die Trennung von innen undaußen, von „hier bei uns“ und „dort bei den anderen“ sosehr aufhebt, dann muss auch die AKBP den Blick nachinnen richten . Unsere Mittler können dabei helfen . Siehaben Kompetenz und Erfahrung . Sie können bei Sprach-vermittlung und Integration helfen . Sie kennen kulturelleVielfalt und wissen um die Bedeutung unserer Werte .
Aber einiges müssen wir noch verbessern – das mussan dieser Stelle in einer solchen Debatte gesagt werden –:Wir müssen unsere Mittler besser koordinieren und ihreKompetenzen eben auch im Inland stärker nutzen . Ichwill zwei Beispiele nennen, um deutlich zu machen, wiedas gehen kann .Erstes Beispiel . Auch in meinem Wahlkreis Her-ne-Bochum II haben wir Asylsuchende aufgenommenVizepräsidentin Claudia Roth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12449
(C)
(D)
und dazu Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes NRWerrichtet . Wie viele von Ihnen war auch ich vor Ort, habemit Ehrenamtlichen, mit Betroffenen und mit Anwohnerngesprochen . Mir ist aufgefallen: Wir schicken die Kinderin den Kindergarten, die Jugendlichen in Aufnahmeklas-sen in die Schule . Für die jungen Erwachsenen haben wirmeistens Tischtennisplatten . Aber wir wissen doch: Wodie jungen Männer nix zu tun haben, gibt es Kloppe; daswar schon immer so . Darüber müssen wir uns auch nichtwundern .Deswegen: Nutzen wir doch, was da ist: Smartpho-nes, die jeder hat, mit Onlineangeboten, damit alle dieMöglichkeit haben, unsere Sprache und auch etwas überunser Land, über Deutschland, zu lernen . Der Langen-scheidt-Verlag zum Beispiel hat als privates Unterneh-men sein Deutsch-Arabisches Wörterbuch frei zur Verfü-gung gestellt; das ist gut . Auch unsere Mittler steigen ein:Die Deutsche Welle hat eine Internetseite geschaltet, unddas Goethe-Institut will nun auch eine App bereitstellen .All das ist gut und prima . Aber nicht jeder darf jetztfür sich allein loslegen, sondern das muss koordiniertwerden . Das AA, das Auswärtige Amt, dem ich für seineArbeit ganz ausdrücklich danke, ist bereits auf dem Weg,die Akteure zusammenzuholen . Mein Rat: Fragen Sieauch einmal die Menschen, die es betrifft . Diese werdenIhnen sagen, sie müssen nicht nur eine Zahnbürste kau-fen gehen, sondern sie müssen auch auf der Behörde mitdem Amtsdeutsch zurechtkommen .Zweites Beispiel . Der DAAD und das Deutsche Ar-chäologische Institut arbeiten in Kairo zusammen . Dabeiist etwas Außergewöhnliches entstanden . Während dieTerroristen von Daesch, von ISIS, in ganz Arabien jahr-tausendealte Kulturgüter zerstören, haben sie begonnen,junge Menschen auszubilden, und zwar gleichermaßenan einer deutschen und an einer ägyptischen Universität .Sie lernen von Experten, wie man Kultur erhalten kann,aber auch für die Bevölkerung nutzbar machen kann, undzwar gerade nicht dadurch, dass ausländische Fachkräf-te eingeflogen werden, sondern indem junge Menschenvor Ort befähigt werden, ihr eigenes Erbe zu sichern . Daszeigt das Potenzial gemeinsamer Programme .Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir brau-chen, sind gleichermaßen Sprachdolmetscher und Kul-turdolmetscher . Tragen wir unseren Teil dazu bei!Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Sigrid Hupach für die Frak-
tion Die Linke .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Paradigmenwech-sel in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, einDialog auf Augenhöhe als dritte Säule, wurde heuteschon vielfach angesprochen . Ich möchte noch einmalunterstreichen, warum er aus kulturpolitischer Sichtüberfällig war .Vor zwei Tagen erläuterte Klaus-Dieter Lehmann imTagesspiegel, welche Aufgabe die Goethe-Institute, de-ren Präsident er ist, angesichts der aktuellen Flüchtlings-situation übernehmen könnten . Im Zentrum steht dabeinatürlich die Vermittlung der Sprache, aber genausogehört die kulturelle Vermittlung dazu . Gemeinsam mitFlüchtlingsorganisationen hat das Goethe-Institut Kul-tur- und Bildungsprojekte für die Arbeit in den Flücht-lingslagern der Nachbarländer von Syrien und Irak ent-wickelt . Sie wollen das Leben in den Flüchtlingslagernerträglicher gestalten und Beschäftigung bieten, wo esansonsten keine Möglichkeit zum sinnvollen Tun gibt .Sie wollen bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrun-gen helfen und mit Bildung und Kultur einer verlorenenGeneration entgegenwirken . Hier zeigt sich die großeBedeutung, die der Auswärtigen Kultur und Bildungs-politik zukommt . Mit ihr können durch Dialog und überden Weg des kulturellen Austausches Räume für Huma-nität geschaffen und kann für gegenseitiges Verständnisgeworben werben .Ein weiteres Beispiel kultureller Vermittlung ist auchdas vom Deutschen Archäologischen Institut koordinier-te Projekt, bei dem Geflüchtete und Einheimische fürden Kulturerhalt sensibilisiert werden und ihnen wissen-schaftliche und handwerkliche Kenntnisse dafür vermit-telt werden sollen . Programme dieser Art müssen aus denumfangreichen Mitteln, die das Auswärtige Amt aktuellfür humanitäre Hilfe bereitstellt, adäquat finanziert wer-den . Dies ist ein explizites und interfraktionelles Anlie-gen des Unterausschusses für Auswärtige Kultur undBildungspolitik . Eine dialogorientierte Auswärtige Kul-tur und Bildungspolitik kann dazu beitragen, Konfliktezu minimieren und stabilisierend in Krisenregionen zuwirken . Aber wahr ist auch: Kulturpolitik kann nicht wie-derherstellen, was durch Kriegseinsätze verloren ging .Projekte dieser Art dienen nicht nur dazu, Fähigkeitenund Fertigkeiten zu vermitteln . Sie sollen vor allem auchfür die Bedeutung des kulturellen Erbes und die Not-wendigkeit seines Erhalts sensibilisieren . Die Zerstörungvon Nimrud, Hatra und Palmyra durch den sogenannten„Islamischen Staat“ belegt, dass wir uns dringend umStrategien für einen nachhaltigen Schutz des vielfältigenErbes der Weltgemeinschaft kümmern müssen .
Auch vor diesem Hintergrund begrüßen wir Linkedie Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes . Bei alleröffentlichen Aufregung darum geriet eine wesentlicheAbsicht des Gesetzesvorhabens ins Hintertreffen: derVersuch, den illegalen Handel mit geraubten Kunst undKulturgütern zu unterbinden bzw . ihn wenigstens einzu-dämmen und zu erschweren . Die Novelle ist aber auchnötig, weil das Kulturgüterrückführungsgesetz von 2007sich als wirkungslos erwiesen hat . Abgesehen von frei-willigen Rückgaben konnte seit 2008 nicht ein einzigerAntrag auf Rückführung von unberechtigt nach Deutsch-land verbrachtem Kulturgut bewilligt werden . Grund da-für waren die viel zu hohen Anforderungen an die antrag-Michelle Müntefering
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512450
(C)
(D)
stellenden Staaten . Wir müssen uns in einem öffentlichenDiskussionsprozess darüber verständigen, was wir unternational wertvollem Kulturgut verstehen . All das, waswir hier in Deutschland halten wollen? Was verstehenwir unter dem gemeinsamen Erbe der Menschheit? Alldas, was im Zuge des Kolonialismus in die Sammlungender deutschen Völkerkundemuseen gelangte und was alsgeteiltes Erbe einfach hierbleiben sollte?In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Hum-boldt-Forum zu sprechen kommen – nicht als wie-deraufgebautes Preußenschloss, sondern als Ort derDebatte zwischen Kunst, Kultur, Wissenschaft undMedien in wirklich internationaler und interkulturellerPerspektive . Minister Steinmeier hat in seiner Rede beider Konferenz des Goethe-Instituts im Februar 2015 dasSechs-Augen-Prinzip angesprochen . Gemeint ist damitein gegenseitiger Austausch im Sinne des Voneinan-der-lernen-Wollens, indem neben der eigenen Perspek-tive die des anderen einbezogen und zugleich eine drittegemeinsame Perspektive entwickelt wird . Aktuell hatdazu Martin Roth, Direktor des Londoner Victoria andAlbert Museums, den wirklich innovativen Vorschlaggemacht, auch Flüchtlinge aus den nahöstlichen Bür-gerkriegsgebieten in die Planung zum Humboldt-Forumeinzubeziehen. Er empfiehlt außerdem, bereits zum jetzi-gen Zeitpunkt Vertreter jener Länder in die Gremien desHumboldt-Forums zu integrieren, mit denen in Zukunftein kultureller Austausch stattfinden soll. Denn es solltenicht um Projekte gehen, so sagt er, „die hier erfundenund dort ‚unten‘ und ‚da drüben‘ akzeptiert werden, son-dern um wirkliche Co-Entwicklungen“ . Wir unterstützendiesen Ansatz und hoffen, dass ihm Taten folgen, un-terstreicht er doch, dass die Auswärtige Kultur und Bil-dungspolitik nicht länger nur der Repräsentation und derSicherung des deutschen Einflusses in der Welt dienensollte .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Der Kollege Dr . Bernd Fabritius hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! In der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs,der immer größeren europäischen Familie und der immertiefer werdenden Zusammenarbeit der Mitgliedstaatenin der Europäischen Union – untereinander und mit denNachbarschaftsstaaten in Partnerschaft – wähnten wiruns in einer Epoche des Friedens in Europa . War dieserBlick womöglich zu sehr nach innen gekehrt? Haben wirnicht bemerkt, dass um uns herum Konflikte schwelten,und darauf etwa zu spät reagiert? Diese Interpretation fa-vorisieren die Gegner Europas, und ich halte sie entschie-den für falsch . Wir sollten nicht der Versuchung erliegen,mit zu einfachen Antworten all jenes infrage zu stellen,was – aktuellen Schwierigkeiten zum Trotz – eines dergrößten friedenspolitischen Projekte der Geschichte ist .Um dieses wieder in gutes Fahrwasser zu bringen undweiterzuführen, sind konstruktive Lösungen gefragt . DieDiplomatie kennt viele Instrumente, mit denen die aktu-ellen Konflikte in der Welt gelöst werden könnten. Einsolches Instrument ist mit Sicherheit auch die Auswärti-ge Kultur- und Bildungspolitik .Der vorliegende 18 . Bericht der Bundesregierungzur AKBP beschreibt, wie dieses Instrument in denJahren 2013 und 2014 angewendet worden ist . Seitherhat sich die weltpolitische Lage deutlich verändert . DerBericht sollte daher vorausschauend auch als Anleitungzur Lösung aktueller Krisen gelesen werden . Denn: DieAuswärtige Kultur- und Bildungspolitik wirkt präven-tiv und kann verhindern, dass Konflikte überhaupt erstentstehen . Sie wirkt krisenbegleitend zur Linderung derKonfliktauswirkungen und leistet Pionierarbeit im Vor-feld der klassischen Diplomatie .
Zudem ist sie Nachbereiterin sowohl nach Erfolgenals auch dann, wenn Herausforderungen nicht ganz soüberzeugend gelöst werden konnten . Die jüngsten dip-lomatischen Erfolge in den Atomverhandlungen mit demIran könnten ein gutes Beispiel für einen unterstützendenBeitrag der AKBP zu den Bemühungen des Bundesau-ßenministers sein . Im Jahr 2010, als der UN-Sicherheits-rat letztmalig und drastisch die Sanktionen gegen denIran verschärfte, reiste eine Delegation des Unteraus-schusses Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik gera-de in den Iran und signalisierte so der damaligen irani-schen Regierung: Trotz des notwendigen internationalenDrucks bleibt die Tür für Gespräche geöffnet . Die vonIhnen, Frau Kollegin Roth, genannten Einschränkungenbetrafen wenige und konkrete Ausnahmen, etwa techni-sche Studiengänge .Dasselbe Prinzip gilt auch für den Umgang mit Russ-land im Hinblick auf die Ukraine-Krise . Von den Sankti-onen, die wegen der völkerrechtswidrigen Annexion derKrim verhängt wurden, sind die Mittel der AuswärtigenKultur- und Bildungspolitik explizit ausgenommen wor-den. Häufig fiel damals der Satz: Man müsse trotz derDifferenzen weiter mit Russland sprechen . – Das warselbstverständlich zutreffend, und damit war auch dieAuswärtige Kultur- und Bildungspolitik gemeint .Sosehr ich von der AKBP als Krisenbegleiterin undWegbereiterin bei der Lösung von Konflikten überzeugtbin, so muss ich zugleich auch Grenzen erkennen . ZurLösung des Syrien‑Konflikts kann die Auswärtige Kul-tur- und Bildungspolitik derzeit leider wenig beitragen .Von der Sitzung des UNESCO-Welterbekomitees imJuni in Bonn unter der Leitung von StaatsministerinBöhmer ist aber ein deutliches Signal für einen besserenSchutz der Welterbestätten vor der Zerstörungswut dessogenannten „Islamischen Staates“ ausgegangen .
Wir unterstützen Sie, Frau Staatsministerin, in IhremEngagement zum Schutz des Kulturerbes ebenso wie beiIhrem Vorhaben einer strukturellen Reform des Welter-bekomitees .Sigrid Hupach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12451
(C)
(D)
Mindestens genauso wichtig wie der Schutz des Welter-bes ist der Schutz der Menschen vor Krieg und Terror .Hier kann die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu-mindest die Not der Menschen lindern, die durch Fluchtund Vertreibung Opfer derartiger Ereignisse gewordensind . Ein Ansatz: Durch AKBP kann dazu beigetragenwerden, dass in den Zufluchtsregionen dieser Welt, inden Lagern, aus denen es zur Sekundärmigration kommt,die Situation erträglicher wird und Menschen, die bereitsgerettet sind, sich nicht erneut auf Wanderschaft begebenmüssen. Es muss die allererste Pflicht der gesamten Staa-tengemeinschaft sein, die notwendigsten Bedürfnisse derMenschen in den Flüchtlingslagern – etwa in Jordanien,der Türkei und im Libanon – zu decken, ausreichendNahrung, Schlafplätze und ärztliche Versorgung zu si-chern . Gleich danach, meine Damen und Herren, sind esaber auch die kulturellen und pädagogischen Angebote,die für die oftmals traumatisierten Menschen eine deut-liche Hilfe sind .Sie erleichtern den tristen Alltag und helfen, Traumata zuüberwinden . Lebhaft in Erinnerung bleiben später, wennNegatives aus dem Gedächtnis verschwindet, gerade diekulturellen Angebote . Hier können wir mit relativ wenigEinsatz viel bewirken . Sie, Frau Kollegin Roth, habendas zu Recht deutlich angesprochen .
Sicherlich wird es neben der dringlichen Aufbau- undEntwicklungshilfe gerade auch die AKBP sein, die alseine der Ersten wieder nach Syrien zurückkehren wird,wenn dieser grausame Konflikt beendet ist. Noch mehrkann Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik bewirken,wenn sie präventiv ansetzt und dazu beiträgt, dass Kon-flikte erst gar nicht entstehen.Wenn im Zuge der Flüchtlingskrise in den vergan-genen Wochen häufig die Rede davon war, dass dieFluchtursachen bekämpft werden müssen, dann ist damitzumindest begleitend auch die Auswärtige Kultur- undBildungspolitik gemeint . Am Beginn eines friedlichenMiteinanders von Kulturen, von Religionen und vonNationen steht das gegenseitige Verständnis . Ein solchesVerständnis kann nicht verordnet werden . Es entstehtlangsam und muss im gegenseitigen Dialog auf Augen-höhe erarbeitet werden .Hier setzt der Schwerpunkt „Kooperation und Dialog“der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik an . JederEuro, den wir in die Prävention von Konflikten investie-ren, ist gut angelegtes Geld .
Je früher dieses Prinzip in den Bildungsbiografieneiner Gesellschaft ansetzt, desto besser . Deshalb fördertdie Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik den Kinder-und Jugendaustausch gerade auch durch Begegnungenan historischen Gedenkorten . Sie fördert darüber hinausüber verschiedenste Stipendienprogramme unter ande-rem Schüler, Studierende, Wissenschaftler und Künstler .Diese Investition in das kulturelle Verständnis und dieToleranz der kommenden Generationen ist eine Investiti-on in eine friedliche Zukunft .Damit komme ich zum wichtigsten Kapital, das diedeutsche Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu bie-ten hat . Es sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derMittlerorganisationen, Entsandte, Lektoren, Redakteure,Kulturmanager, Lehrer und andere . Sie, meine Damenund Herren, setzen Tag für Tag das um, was die Aus-schüsse, der Bundestag, das Auswärtige Amt und die an-deren beteiligten Ministerien beschließen . Dafür sage ichan dieser Stelle deutlich: Danke schön .
Eine Gruppe möchte ich besonders hervorheben,nämlich unsere Auslandslehrkräfte . Das deutsche Aus-landsschulwesen ist ein Flaggschiff der deutschen Aus-wärtigen Kultur- und Bildungspolitik, was auch in demvorliegenden Bericht klar seinen Niederschlag findet.Die deutschen Auslandslehrkräfte vermitteln unsere Wer-te in Regionen der Welt, in denen oftmals ein Mangel anChancengleichheit und Demokratie herrscht . Sie leistendamit wertvolle Arbeit als Bildungs- und Wertebotschaf-ter der Bundesrepublik Deutschland .Sie vermitteln und fördern als primäre Aufgabe diedeutsche Sprache im Ausland . Die Vermittlung vonDeutsch als Fremdsprache schafft eine nachhaltige Bin-dung an Deutschland bei denen, die dann auch unsereSprache sprechen . Mindestens ebenso wichtig ist nachmeiner Überzeugung die Vermittlung von Deutsch alsMuttersprache dort, wo eine entsprechende Nachfragebesteht . Muttersprachlicher Unterricht ist für im Auslandlebende Deutsche und deren Kinder existenziell wichtig .Die Sprache ist Teil ihrer Persönlichkeit und Identität .Ohne entsprechende Angebote wären gerade diese inallen Gebieten im Ausland, in denen deutsche Gemein-schaften leben, erheblich gefährdet .Ich komme zurück auf die entsandten deutschenLehrer . Seit bald 15 Jahren sind deren Bezüge von derLohnentwicklung abgekoppelt . Der Unterausschuss fürAuswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist sich in wei-ten Teilen darüber einig, dass sich die Probleme bei derPersonalfindung für die deutschen Auslandsschulen er-heblich verschärfen werden, wenn wir nicht bereits imnächsten Haushalt deutlich gegensteuern .
Ich komme zum Ende . – Mir ist natürlich klar, dasswir schon wegen der aktuellen Flüchtlingskrise vor gro-ßen Herausforderungen stehen . Trotzdem und geradewegen der vorher dargelegten Bedeutung und Wirkungs-weise der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik wäreein nachlassendes Engagement auf diesem Gebiet fatal .Ich werbe daher eindringlich um die Unterstützung desgesamten Bundestages für diesen Bereich .Dr. Bernd Fabritius
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512452
(C)
(D)
Danke .
Die Kollegin Doris Barnett hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist schön, zu sehen, dass der Unterausschuss Auswär-tige Kultur- und Bildungspolitik sich hier in weiten Tei-len einig ist und wie eine Front steht . Das müssen wir alsHaushälter auch zur Kenntnis nehmen .
Aber auch bei uns – das wissen Sie – gibt es Grenzen .Ich sage einmal ganz unumwunden: Diese Grenzen kannpraktisch nur der Bundesfinanzminister beseitigen. Wirhaben zwar alle ein Einsehen bezüglich der Forderungen,die Sie stellen . Aber aus den Mitteln, die wir jetzt für diehumanitäre Hilfe zusätzlich bekommen, die Gelder fürdie Schulen herauszuziehen, davor kann ich nur warnen .In der Tat ist die Auswärtige Kultur- und Bildungspo-litik als unverzichtbarer Teil der Außenpolitik und damitauch der friedenstiftenden Politik zu begreifen . Deswe-gen haben wir zu Beginn dieser Legislatur bei den Mit-teln kräftig zugelegt, und zwar wir Abgeordnete zusam-men mit dem Außenministerium .Begonnen hat dies alles mit dem Review-Prozess imDezember 2013 . Daraus haben sich dann für die AKBPSchwerpunkte herauskristallisiert . Ich nenne zum Bei-spiel – darauf wurde immer hingewiesen – die Zusam-menarbeit mit der Zivilgesellschaft . Das gilt insbesonde-re für die Länder der Östlichen Partnerschaft . 82 Projektekonnten gefördert werden . Wir konnten diesen Länderndamit helfen, einen Neuanfang zu beginnen, insbesonde-re was den Kampf gegen die Korruption betrifft .Das ist ein weiter Weg, den die Staaten gehen müssen .Aber ich denke, dass die Mittel, die wir in den – so willich es einmal nennen – Ukraine-Topf hineingeben, gutangelegtes Geld sind . Ich kann aus eigener Erfahrung einBeispiel nennen . In meiner Heimatstadt gibt es einen of-fenen Kanal . Ich habe die Verantwortlichen angeschubstund gesagt: Helft doch mal mit! – Die haben ein Projektin der Ukraine auf den Weg gebracht . Jetzt entsteht in derUkraine ein Bürgerfernsehen, also ein Fernsehprogrammgemacht von Bürgern für Bürger . Auch in Kaliningradgibt es Menschen, die dieses Projekt kopieren möchten .Das ist die Arbeit, die wir uns wünschen . Dafür stellenwir auch die nötigen Mittel bereit .
Wir haben gute Kulturmittler wie das Goethe-Institut,die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, den DAAD oderdas Deutsche Archäologische Institut . Es wurde schondarauf hingewiesen: Es ist wichtig, dass DAAD und dasDeutsche Archäologische Institut vor Ort den Menschenhelfen, zu begreifen, was alles in ihrer Heimat zerstörtwird: Das ist ihre eigene Identität . An dieser Stelle müs-sen wir helfen . Wir sind dabei, die notwendigen Mittelbereitzustellen .Für mich ist ganz wichtig, dass wir dem Goethe-Insti-tut zu altem Glanz, so will ich es sagen, verholfen haben .In der letzten Legislaturperiode wurden dem Goethe-Ins-titut einfach mal so 15 Millionen Euro genommen . DieseKürzung haben wir zurückgenommen . Das Goethe-Insti-tut kann nun mit dem alten Ansatz wieder vernünftig ar-beiten . Ich glaube, ich spreche auch im Namen des Kol-legen Karl – ich sehe ihn im Augenblick nicht –, wennich sage: Vor Ort in Windhuk konnten wir sehen, wie tolldas dortige Goethe-Zentrum angenommen wird . Wir ha-ben mitgeholfen, dass es jetzt zu einem Institut ausgebautwerden kann . Darauf sind wir als Haushälter natürlichein Stück weit stolz .Ein anderes Beispiel . Wenn wir auf Auslandsreisensind, schauen wir uns immer die Schulen an . Im letztenJahr haben wir die deutschen Schulen in Washington undin Accra, in Ghana, besucht . Natürlich gibt es schon alleinhinsichtlich der baulichen Substanz riesige Unterschiede .Aber was immer wieder auffällt, ist, wie engagiert unsereLehrer sind und welcher Glanz in den Augen der Kinderzu sehen ist, wenn man mit ihnen Deutsch spricht . Dasist eine Bestätigung dafür, dass wir hier hervorragendeArbeit leisten .In Accra haben wir nicht nur etwas für die Bildung,sondern auch etwas für die Wirtschaftsförderung getan .Wir haben nämlich gesehen, wie schlecht dort die Strom-versorgung ist . Als wir wieder zu Hause waren, habenwir gesagt: Es wäre doch eine gute Idee, der deutschenSchule in Accra Solarpaneele zu geben, damit der Stromvor Ort erzeugt werden kann . Dann können auch dieKlassenzimmer gekühlt werden, sodass die armen Kin-der nicht bei 40 Grad lernen müssen .Das passiert jetzt gerade . Hier zeigen wir nicht nur, dasswir ein wirtschaftsstarkes Land sind, sondern auch, wieerneuerbare Energie erzeugt werden kann, und lernen siean . Sonne haben sie reichlich . Dieses Modellprojekt anunserer Schule kann Schule machen . So kann man vielesmiteinander verbinden .
Ich bin froh, dass wir sowohl eine vernünftige Außen-und Kulturpolitik als auch ein Stück weit Wirtschaftspo-litik machen können . Ich möchte darum bitten – bei derAuswärtigen Kultur- und Bildungspolitik haben wir aucheine Regierungsvertreterin an unserer Seite –, dass wirunseren Finanzminister davon überzeugen, wie wichtigunsere Auslandsschulen und unsere Lehrer dort sind .Deswegen müssen wir für zusätzliches Geld trommeln .Hier setze ich auf uns alle, damit es uns gelingt .Dr. Bernd Fabritius
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12453
(C)
(D)
Vielen Dank .
Der Kollege Dr . Christoph Bergner hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wer die Broschüre-Ausgabe des 18 . Berichts zur Aus-wärtigen Kultur- und Bildungspolitik durchblättert,findet sehr viele schöne, ansprechende und sympathie-weckende Fotos . Diese angenehmen Bilder dürfen unsallerdings nicht – das zeigt die bisherige Debatte – dar-über hinwegtäuschen, dass sich die Auswärtige Kultur-und Bildungspolitik im Moment in einer Welt bewährenmuss, die aus den Fugen geraten ist . Unsere Aufgabe alsParlamentarier besteht ganz wesentlich darin, die Arbeitder Mittlerorganisationen, die Arbeit unserer Auslands-vertretungen mit Kulturpartnern und anderen in denKontext der bestehenden Konflikte zu rücken und die Lö-sungsansätze, die dabei gefunden werden, zu unterstüt-zen . Das ist eine Aufgabe, die aus meiner Sicht sehr vielanspruchsvoller ist, als es auf den ersten Blick scheint .Gelegentlich ist die politische Analyse leichter als dieAnalyse der kulturellen und geistigen Hintergründe vonKonfliktsituationen.Ich will deshalb an zwei aktuellen Stichworten ver-suchen, zu demonstrieren, was ich damit meine . DieStichworte sind: Ukraine-Krise und Flüchtlingsfrage –Stichworte, die von Kolleginnen und Kollegen schon an-gesprochen wurden .Wenn ich „Ukraine-Krise“ sage, meine ich sehr vielmehr . Der 18 . Bericht betont zu Recht, Frau Tank, denSchwerpunkt der Östlichen Partnerschaft in der Auswär-tigen Kultur- und Bildungspolitik; denn es geht um denWunsch der osteuropäischen und südkaukasischen Län-der, besser: Gesellschaften, sich an europäischen Leitbil-dern zu orientieren – ein Wunsch, der in einen Kontrast,einen Gegensatz zu den politischen Leitbildern Russlandsgeraten ist . Es ist an dieser Stelle wichtig, sich klarzuma-chen, dass hinter den politischen Leitbildern Russlandsauch geistig-kulturelle Vorstellungen stehen . Ich erinnerean die Schriften von Alexander Dugin, der die eurasischeIdee pflegt und dies mit einem derartigen Sendungsbe-wusstsein vertritt, dass die Wirkung bis zu Marine LePen nach Frankreich reicht . Diese Dimensionen müssenwir im Blick haben, wenn wir Östliche Partnerschaft mitden Mitteln der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitikfördern und unterstützen wollen . Insofern ist es richtig,dass die Kulturzusammenarbeit aus den Sanktionsmaß-nahmen der EU ausdrücklich ausgenommen ist . Mit dergemeinsamen Pflege von Strawinsky oder Puschkin bishin zu deutschen Autoren und deutscher Literatur schaf-fen wir gewissermaßen ein Gegengewicht zu trennendenIdeologien und trennenden Ansätzen und sorgen dafür,dass dieses Gegengewicht Raum erhält .
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512454
(C)
(D)
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Martin Rabanus
das Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Ich finde, wir hatten bisher eine richtig gute Debatte;denn sie belegt, dass es im ganzen Hause sehr viel Über-einstimmung hinsichtlich der Bedeutung der Auswärti-gen Kultur- und Bildungspolitik gibt, und sie hat nocheinmal klargestellt: Auswärtige Kultur- und Bildungspo-litik ist kein Sahnehäubchen – wie Frau Kollegin Rothdas gesagt hat –, sondern sie ist eine tragende Säule derdeutschen Außenpolitik .
Das möchte auch ich als Bildungspolitiker und als Mit-glied des Ausschusses für Bildung und Forschung unter-streichen .Es ist auch deutlich geworden, welche wichtigenFunktionen die Mittlerorganisationen wahrnehmen, dasssie zum Teil unter schwierigsten Bedingungen Menschenzusammenbringen, auch zusammenhalten, getreu demMotto „Wer miteinander spricht, wird gegeneinanderweniger gewalttätig“ . Deswegen gebührt denjenigen, diediese Arbeit leisten, unser aller Dank; Herr Dr . Fabritiushat auch schon dafür gedankt .
Es gibt natürlich auch noch einiges zu besorgen . Fürden Bereich der deutschen Auslandsschulen ist das be-reits angedeutet worden . Daher muss ich nicht das wie-derholen, was Frau Kollegin Schmidt gesagt hat und wasSie, Frau Staatsministerin Böhmer, bestätigt haben . Ichahne, dass der Kollege Feist nachher noch etwas dazubeiträgt,
nämlich was die Stärkung der beruflichen Bildung an dendeutschen Auslandsschulen angeht .
Wir sind da ja auch ganz einer Meinung . Wir diskutierendas in Bildungszusammenhängen immer wieder. Das fin-de ich auch richtig und wichtig .Ich will ein weiteres Stichwort nennen, über das wirnoch nicht gesprochen haben: Das ist die Außenwissen-schaftspolitik .
Wir als Bundesrepublik Deutschland, liebe Kollegin DeRidder, haben einiges dazu beizutragen, wenn ich an dieFachhochschulen und die anwendungsorientierten Hoch-schuleinrichtungen denke .Zurück zu dem, was wir aktuell leisten . Der Studie-rendenaustausch und der Wissenschaftleraustausch sindangesprochen worden . Im Bereich des Bundesbildungs-ministeriums stellen wir dafür – über den dicken Daumengepeilt – 140 Millionen Euro bereit . Liebe Frau KolleginRoth, ich würde mich Ihrer Forderung, dass wir mit demHerrn Finanzminister auch noch einmal über den Bil-dungshaushalt sprechen, gerne anschließen wollen .
Auch da hätten wir noch ein paar Dinge zu besorgen, umbereits begonnene, aber auch sinnvolle weitere Projekteanschieben zu können – das aber nur als Fußnote –, dasbetrifft insbesondere den DAAD .Wir lassen uns die Auswärtige Kultur- und Bildungs-politik relativ viel kosten, um das Bild Deutschlands inder Welt positiv zu prägen . Die Welt hat ja auch ein tollesBild von Deutschland . Das merken wir an unserer aktu-ellen Beliebtheit bei den Flüchtlingen . Ich will es einmalso herum sagen: Wir dürfen durchaus stolz darauf sein,dass alle der Auffassung sind: In Deutschland kann manein gutes Leben führen . – Das ist nicht zu beklagen . Viel-mehr ist die Frage, wie wir produktiv damit umgehen .Und es ist bereits angedeutet worden: Unsere Mittleror-ganisationen sind nicht nur im Ausland gut, sie sind auchim Inland gut .Die Vorschläge des Goethe-Institutes sind angespro-chen worden . Auch der DAAD hat Vorschläge entwi-ckelt, wie man diese Kompetenz im Inland einsetzenkann. Ich finde tatsächlich – Frau Müntefering hat esangesprochen –, dass wir die Frage der Onlineplattfor-men, der MOOCs, die sehr schnell eine große Reichweitehaben können, sehr ernst nehmen müssen . Es gibt vieleHochschulen, die entsprechende Angebote machen . Wirhaben Partner, die sie in die Fläche bringen können . DasDr. Christoph Bergner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12455
(C)
(D)
wird nicht zum Nulltarif zu machen sein . Umso wichtigerist, dass wir hier etwas tun .
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein konkretesBeispiel nennen, wie es aussehen kann, wenn sich Start-ups dieses Themas annehmen . Die Kiron University inBerlin – der eine oder andere wird das in den Medienverfolgt haben – ist ein Start-up, das eine Hochschu-le speziell für Flüchtlinge gegründet hat . In den erstenzwei Jahren tritt sie ausschließlich mit Onlineangebo-ten an Flüchtlinge heran . Im dritten Jahr möchte sie mitPartneruniversitäten arbeiten . Das soll zu einem Bache-lorabschluss führen . Das ist eine ganz großartige Sache .Ich finde, dass wir solche Initiativen unterstützen sol-len, können und müssen . Ich werde das später an HerrnRachel vom BMBF weitergeben, weil ich glaube, dassso mit relativ wenigen Mitteln sehr viel geholfen werdenkann, sodass viele Menschen hier möglichst optimaleBildungsangebote bekommen und Ressourcen nicht ver-schwendet, sondern für unser Land erschlossen werden .
Dann können wir mit Recht sagen: Wir schaffen das .Danke schön .
Der Kollege Dr . Thomas Feist hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich habe mir bei den vorherigen Reden einmaldie Zeit genommen, auf die Tribünen zu schauen .
– Doch, ich kann gleichzeitig hören und schauen . WennSie das nicht können, müssen Sie es einmal trainieren .
Der Kollege Gysi kann das auch . Schauen Sie es sicheinmal ab von ihm! – Ich habe die Konzentration in denGesichtern der jungen Menschen gesehen – ich würde eszumindest freundlicherweise als Konzentration interpre-tieren –, wenn von Auswärtiger Kultur- und Bildungs-politik gesprochen wurde . Auswärtige Kultur- und Bil-dungspolitik, was für ein sperriger Ausdruck! Ich weißnicht, wie es Ihnen geht: Bei mir im Wahlkreis muss ichjedes Mal erklären, was das ist . Da Plenarsitzungen so-zusagen das Schaufenster des Parlaments sind, würde ichdas auch an dieser Stelle gerne einmal versuchen: DieAuswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist gewisserma-ßen der sichtbare Teil der Außenpolitik . Während Diplo-maten meistens hinter verschlossenen Türen agieren undspäter mit irgendeinem Ergebnis herauskommen, werdendie Ergebnisse in der Auswärtigen Kultur- und Bildungs-politik sichtbar gemacht .Da wir am Vortag des 25 . Jahrestages der deutschenEinheit sind, möchte ich das gern einmal aus einer per-sönlichen Sichtweise heraus illustrieren . Ich habe meinhalbes Leben in einem Land verbracht, das es nicht mehrgibt . Es hieß Deutsche Demokratische Republik oder,wie Erich Honecker immer nuschelnd gesagt hat, „Deut-sche Kratische Plick“ .
In diesem Land hatten wir zwar Westfernsehen – ich binin Leipzig groß geworden, nicht im Tal der Ahnungs-losen – und konnten uns informieren; natürlich wurdenwir über den schwarzen Kanal von Karl-Eduard von Schnitzler, bei uns liebevoll „Sudel-Ede“ genannt, auchimmer informiert, wie schrecklich „da drüben“ alles ist .Aber wirklich interessant war, was sich mit Kultur ver-bunden hat; denn Kultur spricht jeden Menschen an . Siespricht die Sinne an, die Vernunft und die Emotionen .Genau dafür bieten wir Orte an, beispielsweise mit denweltweit vorhandenen Goethe-Instituten, aber auch mitanderen Einrichtungen . Dadurch erreichen wir nicht nurden Verstand, sondern auch die Herzen der Menschen .Deswegen ist Auswärtige Kultur- und Bildungspolitikeine gute Art der Politik .
Es gab und gibt zum Glück noch heute in Leipzig dasPolnische Informations- und Kulturzentrum . Nun kannman sich über Polen auch über Bücher informieren; dasmachen viele sicher auch . Sie lesen und schauen im In-ternet – das hatten wir damals noch nicht –, was da solos ist . In diesem Informations- und Kulturzentrum gabes genau das, was mich als jungen Menschen damals in-teressiert hat, zum Beispiel Musik von Czeslaw Niemen,elektronische Musik oder die sogenannten Lizenzplattenvon den Sex Pistols .
– Ja, kennst du die noch, Michaela? Super Musik! – Da-rüber hinaus gab es – das organisieren auch unsere Go-ethe-Institute – Veranstaltungen . Die Veranstaltungen,die das Polnische Informations- und Kulturzentrumdurchgeführt hat – das waren meistens irgendwelche wil-den Free-Jazz-Konzerte, was vielleicht nicht jedermannsMusik ist –, boten die Möglichkeit, mit Menschen ausanderen Ländern zusammenzukommen, mit Künstlern,mit Kreativen, mit Verrückten . Das war eine tolle Sache .Deswegen ist das, was wir hier machen, wirklich gut .
Martin Rabanus
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512456
(C)
(D)
– Claudia, ich habe die Toten Hosen nicht erwähnt . TonSteine Scherben sind auch gut gewesen .Außerdem gab es zu DDR-Zeiten gar nicht weit vonhier, Unter den Linden, ein französisches Kulturzentrum,gar nicht weit weg von der Berliner Mauer . Ich hatte da-mals als zweite Fremdsprache – Russisch war ja für alleals erste Fremdsprache verpflichtend – nicht Englisch,sondern Französisch gewählt .
Nun, mit wem konnte man in der DDR Französisch spre-chen? Mit niemandem! Deswegen war es unheimlichwichtig, dass es hier in Berlin ein französisches Kultur-zentrum gab, wo es Bücher gab, wo man sich auch ein-mal eine Schallplatte kaufen konnte . Das war sozusagenunser Blick in die Welt, und zwar ein Blick, der nicht vonirgendwelchen Klischees geprägt war; der war echt .Es ist daher wichtig, dass wir mit den Goethe-Insti-tuten weltweit Möglichkeiten für einen solchen Blick indie Welt schaffen . Ich gebe dem Kollegen Bergner recht:Wir müssen schauen, wie man das in Zukunft noch einbisschen ausgeglichener gestalten kann .
Aber etwas Gewachsenes abzusägen, ist sehr schwierig;das muss man schon sagen . – Für Menschen die Mög-lichkeit zu schaffen, sich auszutauschen, das ist eine tolleSache, und das ist Außenpolitik . So verstehe ich die Aus-wärtige Kultur- und Bildungspolitik . Sie ist Außenpolitiknah am Menschen .
Es ist außenpolitisch wichtig, wenn Menschen mit klang-vollen Namen von A nach B reisen, sich tief in die Augenschauen und sich die Hände schütteln . Das ist alles gut;ich habe nichts dagegen . „Nah am Menschen“ heißt aber,dass wir jungen Menschen die Möglichkeit geben, indiese Begegnungen einzusteigen; denn die jungen Men-schen von heute sind diejenigen, die morgen oder über-morgen Verantwortung übernehmen müssen . – Gemeintseid auch ihr auf der Tribüne .Wir haben einen Antrag vorgelegt, in dem es darumgeht, im Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungs-politik den Jugendaustausch zu verstärken. Ich finde, dasist eine gute und sinnvolle Sache . Leider gibt es verschie-dene Stellungnahmen von Kulturorganisationen, die dasgar nicht gut finden. Sie sagen: Wieso? Jetzt wollt ihr unsvorschreiben, was wir machen sollen, in welche Rich-tung wir gehen sollen? – Dazu kann ich nur sagen: LiebeKulturorganisationen, fragt, bevor ihr das nächste Maleine solche Kritik äußert, vorher die Menschen, die die-sen Antrag geschrieben haben, die sich damit beschäftigthaben . Natürlich haben wir das Feld der freien Jugendar-beit und des Jugendaustausches, wo eigene Ideen einflie-ßen können . Dafür ist aber ein anderes Ministerium zu-ständig . Bei uns geht es darum, mehr jungen Menschenim Bereich der auswärtigen Politik die Möglichkeit zugeben, an diesem Austausch teilzunehmen, und zwar be-zogen auf die Schwerpunkte, die wir gesetzt haben . DieÖstliche Partnerschaft ist angesprochen worden; aber esgibt auch andere . Die jungen Menschen sollen verstärktdie Möglichkeit erhalten, durch Partizipation, durch ei-genes Erfahren zu lernen, wie wichtig das ist . Warum istdas wichtig? Jetzt komme ich noch einmal ganz kurz aufdie Bücher zurück: Aus Büchern kann man viel über einLand lernen – mittlerweile kann man sich auch im In-ternet informieren ; aber die Begegnung von Menschenkann durch Bücher nicht ersetzt werden . Genau dieseBegegnung von Menschen ermöglichen wir durch denJugendaustausch im Rahmen der Auswärtigen Kultur-und Bildungspolitik . Deswegen ist es richtig, dass wir alsParlament diesen Titel aufstocken wollen . Ich bitte alleherzlich dabei um Unterstützung .
– Es ist immer schwer, Beifall zu spenden, wenn derRedner keine Pause macht . Ich verstehe das; aber so istdas nun einmal, wenn es einen mitreißt . Frau KolleginSchmidt, Sie wissen ja selber, wie das ist .Ich möchte auf die deutschen Auslandsschulen zu-rückkommen, um deutlich zu sagen, wie wichtig sie sind .Die deutschen Auslandsschulen sind mitnichten Schulen,die exklusiv die Beschulung von Deutschen im Auslandübernehmen, sondern sie sind offen für junge Menschenaus diesen Ländern . Deswegen ist es wichtig, dass wirdiese deutschen Schulen in Zukunft besser ausstatten .
Wichtig ist auch, dass die Lehrer – über sie ist schonmehrfach gesprochen worden – so vergütet werden, dasssie es attraktiv finden, im Ausland zu unterrichten. DieLehrer bleiben ja nicht immer dort . Sie kommen zurück .Angesichts der Entwicklungen in Europa und in unseremLand sind das genau die Lehrkräfte, die wir brauchen .Sie haben einen breiten interkulturellen, interreligiösenHintergrund und können deswegen eine bessere Beschu-lung von Kindern und Jugendlichen hier vor Ort ermög-lichen . Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Be-reich tätig sind .Frau Präsidentin, mit Verlaub, an dieser Stelle möchte
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich finde Ihr
Engagement sehr gut . Es gab schon andere Staatsminis-
terinnen, die sich nicht so engagiert eingesetzt haben . Mit
Ihnen wissen wir eine verlässliche Partnerin an unserer
Seite . Bitte richten Sie das auch dem Außenminister aus .
Wir kämpfen für die Auswärtige Kultur- und Bildungs-
politik . Wenn Sie das im Ministerium auch machen, kann
gar nichts schiefgehen .
Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/5057 und 18/579 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .Dr. Thomas Feist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12457
(C)
(D)
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dannsind die Überweisungen so beschlossen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten RolandClaus, Dr . Gregor Gysi, Matthias W . Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEUngerechtigkeiten bei Mütterrente in Ost-deutschland und beim ÜbergangszuschlagbehebenDrucksache 18/4972Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Energieb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Roland Claus, Dr . Gregor Gysi, Matthias W .Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on DIE LINKESpezifische Altersarmut Ost durch Korrekturder Rentenüberleitung behebenDrucksachen 18/1644, 18/5290Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-mentlich abstimmen .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der KollegeDr . Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Ich freue mich, dass Sie bei diesemTagesordnungspunkt präsidieren . Meine Damen undHerren! Wir hatten heute früh eine sehr umfangreicheund intensive Debatte zur deutschen Einheit . Bei allenRednerinnen und Rednern ist deutlich geworden, dassdie Menschen – trotz mancher Defizite – auf das stolzsein können, was wir in den 25 Jahren erreicht haben,und zwar die Menschen in Ost und West .
Aber eines bleibt: Bei der Rente haben wir weiterhinganz große Defizite. Wir als Linke haben heute, ein Vier-teljahrhundert nach Herstellung der deutschen Einheit,diese Debatte beantragt, um am Tag vor diesem Jubilä-um ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen für mehr sozialeGerechtigkeit . Deswegen lassen wir im Übrigen auchnamentlich abstimmen . Ich hoffe, dass insbesondere dieostdeutschen Abgeordneten, die häufig in Wahlkämpfensagen, dass sie sich dafür einsetzen werden, diese Gele-genheit nutzen und heute so abstimmen, wie sie es ihrenWählerinnen und Wählern versprochen haben .
Die Mehrheit des Hauses muss heute einfach nur denAnträgen der Linken zustimmen und die Bundesregie-rung beauftragen, die Ungerechtigkeiten bei der Ren-tenüberleitung und bei der Mütterrente zu beenden . Hierspricht ein Haushälter zu Ihnen . Daher möge niemandmit dem Argument kommen, das sei nicht zu bezah-len . Ich könnte Ihnen jetzt ganz viele Beispiele nennen,die zeigen, für welche Bereiche wir in letzter Zeit sehrschnell sehr große Summen beschlossen haben . Wennwir das beschließen würden, hätten Tausend Ältere inunserem Land morgen noch einen Grund mehr, zu feiern .
Es bleibt: Die fehlende Angleichung der Renten istzum Symbol der Rechtsungleichheit Ost/West geworden .Die Beseitigung der Rentenungerechtigkeit wäre einwichtiger Beitrag zur deutschen Einheit .
Ich will daran erinnern, dass Frau Merkel auf dem Seni-orentag im Juni 2009 gesagt hat:Ich stehe dazu, dass wir eine solche Angleichungvon Ost und West brauchen . Ich würde . . . sagen,dass das Thema in den ersten beiden Jahren dernächsten Legislaturperiode erledigt sein wird .Das wäre 2011 gewesen . Wir schreiben inzwischen dasJahr 2015 . Jetzt sagen Sie, es solle eventuell bis 2019geschehen . Das wäre wieder die nächste Legislaturpe-riode . Das glaubt Ihnen niemand . Den Ankündigungender Kanzlerin müssen endlich Taten folgen . Heute ist dieGelegenheit dazu .
Die Überleitung der Alterssicherungssysteme derDDR in bundesdeutsches Recht Anfang der 90er-Jahrewar zweifelsfrei eine sehr komplexe Herausforderung .Ich will auch deutlich sagen, dass vieles dabei gelungenist . Vieles ist, Gott sei Dank, auch erkämpft worden . Aberes ist nicht alles gut . Viele Menschen aus der DDR habennach der Herstellung der staatlichen Einheit Rentenge-rechtigkeit leider nicht mehr erlebt . Die Beendigung allerDiskriminierung und Regelungen, die die Lebensleistungaus DDR-Zeiten nicht anerkennen, wäre für viele Älterefinanziell wichtig; dies wäre soziale Gerechtigkeit. Ichwill Ihnen drei Beispiele nennen .Erstens: die Mütterrente . Es gibt unterschiedlicheRentenentgeltpunkte Ost und West und damit Kindererster und zweiter Klasse . Das gilt nicht nur für Kinder,die in der DDR geboren sind, sondern auch für Kinder,die nach der Wende auf dem Territorium der ehemali-gen DDR geboren sind . Es ist so, dass ein Kind, das imJahre 1991 in Stuttgart geboren wurde, für die Mutter29,21 Euro wert ist, ein Kind, das in Schwerin geborenwurde, allerdings nur 27,05 Euro . Ja, geht‘s noch? Dasist doch völlig inakzeptabel .
Wie kann man akzeptieren, dass Kinder unterschiedlichviel wert sind, meine Damen und Herren von der Gro-Vizepräsidentin Petra Pau
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512458
(C)
(D)
ßen Koalition? Das ist neues Unrecht, das Sie geschaffenhaben .Ein zweiter Punkt: die Überführungslücken für vieleBeschäftigungsgruppen . Ich will die in der Braunkoh-leveredelung Beschäftigten – wahrhaftig nicht „staats-nah“ – nennen . Es leben noch 400 Betroffene, derenRentenansprüche nicht anerkannt werden . Das ist wedersozial noch gerecht . Das ist einfach kleinkariert . Es gehtin der Braunkohleveredelung um 400 Menschen . Dasmuss doch zu machen sein!
Es gibt übrigens weitere Berufsgruppen, für die dasselbegilt .Ich will ein drittes Problem nennen: die aus der DDRGeflüchteten, Abgeschobenen und Ausgereisten. Einerder Betroffenen, Gundhardt Lässig, sitzt heute Mittag aufder Tribüne . Wir haben damals, vor der Wende, so man-chen Abend zusammen verbracht, auch viele Tage imschönen Prerow, wo wir manchmal zusammen am Strandgestanden haben . Er hat, als er damals gegangen ist, wieviele andere auch den „Wegweiser“ des Bundesministe-riums des Innern für Flüchtlinge und Übersiedler aus derDDR bekommen, in dem es heißt:Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR oderBerlin werden in der gesetzlichen Renten-versicherung grundsätzlich so behandelt, als ob sieihr gesamtes Arbeitsleben in der BundesrepublikDeutschland zurückgelegt hätten .Für sie galt das sogenannte Fremdrentengesetz . Durcheine kleine Gesetzesänderung im Jahre 1993 – kaumbeachtet – wurde diese Regelung abgeschafft . Für dieDDR-Arbeitszeiten werden sie seitdem rentenrechtlichwieder behandelt wie ehemalige DDR-Bürger . Für ihn,für Gundhardt, sind das 500 Euro Monatsrente weniger .Jeden Monat! Das ist völlig inakzeptabel . Betroffen sind200 000 Einzelpersonen . Ändern Sie das! Ändern Sie daswenigstens für diese Personengruppe!
Es ist im Übrigen egal, was das Bundesverfassungsge-richt dazu ausführt . Es urteilt darüber, ob eine Regelunggegen das Grundgesetz verstößt . Hier geht es aber umeine soziale Frage . Diese Regelung ist nicht sozial ge-recht,
zumal für diejenigen, die in die Schweiz gegangen sind,etwas anderes gilt . Für diejenigen, die in der Schweiz le-ben, gilt die alte Regelung weiterhin . Das ist doch völliginakzeptabel . Nehmen Sie sich ein Beispiel daran!
Meine Damen und Herren, 25 Jahre deutsche Einheit,das ist eine gute Gelegenheit, Bestrafungen von ehemali-gen DDR-Bürgern und von Bundesbürgern, die auf demGebiet der ehemaligen DDR gelebt haben, zu beenden .Sie haben eine ganz einfache Möglichkeit: Stimmen Siemit der blauen, nein, roten, Stimmkarte ab! Dann tun Sieam Vortag der Feierlichkeiten zu 25 Jahren deutscherEinheit ein sehr gutes Werk .Herzlichen Dank .
Die Kollegin Jana Schimke hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben heute Morgen eine sehr interessante, sehr aufschluss-reiche Debatte geführt, weil wir morgen unseren Natio-nalfeiertag begehen und 25 Jahre deutsche Einheit feiern .Diese Debatte hat vor allem eines deutlich gemacht: Siehat nicht das gezeigt, was Kollege Bartsch gerade dar-gestellt hat – wo Unterschiede bestehen –, sondern siehat gezeigt, wo wir einig geworden sind, wie weit wirletztendlich vorangekommen sind .
Das Projekt „Deutsche Einheit“ zielt darauf ab, Einheitzu schaffen . Wenn man zwei unterschiedliche Staatenzusammenführt, dann ist es schlichtweg nicht möglich,dafür zu sorgen, dass sich wirklich jeder Einzelne bis insletzte Detail mit all seinen Interessen wiederfindet.
Es geht darum, eine gesamte Gesellschaft zusammenzu-führen . Wir erleben das bei unserer Arbeit täglich, wennwir mit Bürgerinitiativen oder mit größeren Gruppen vonMenschen sprechen: Es ist nie möglich, für alle immerdas Bestmögliche zu erreichen . Letztendlich kommt es ineiner Demokratie aber darauf an, dass sich die Mehrheitwiederfindet und dieses System akzeptiert. Ich glaube, dasind wir nach 25 Jahren sehr weit gekommen .
Ich habe es schon einmal gesagt: Die Wiederverei-nigung war ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt – dasmuss man so deutlich sagen –, auf den ganz Deutschland,auf den wir alle sehr stolz sein können . Wir können ins-besondere auf die politische und die soziale Einheit stolzsein, die von den Kollegen der Linken immer wieder inZweifel gezogen und abgelehnt wird .
Dr. Dietmar Bartsch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12459
(C)
(D)
Gerade im Bereich der sozialen Einheit sind wir sehrweit vorangekommen; das gilt es auch anzuerkennen .
Meine Damen und Herren, eine der wichtigsten sozi-alpolitischen Entscheidungen der deutschen Einheit wardas Renten-Überleitungsgesetz . Es steht für eine großar-tige Leistung aller Versicherten .
Letztendlich kam es ja darauf an, zwei unterschiedlichaufgebaute und finanzierte Sozialsysteme miteinander inEinklang zu bringen, und das vor dem Hintergrund einerheruntergewirtschafteten DDr . Wer glaubt denn ernst-haft, dass solch ein Prozess ohne Nachteile für den einenoder anderen vonstattengeht? Es war und ist schlicht-weg nicht möglich, alle Härte- und Einzelfälle sowiedie damals entstandenen Ansprüche des einen Systemsabzubilden . Ganz ehrlich: Bei der Frage, wie wir unserRentenrecht ausgestalten, kam es eben nicht darauf an,ob jemand „staatsnah“ war . Das sehen wir gerade auchbei der Vielzahl an Gruppen, die heute mitunter noch ihrRecht einklagen . Es ging um die gesamte Gesellschaftund nicht darum, was jemand geleistet oder auch nichtgeleistet hat .Dennoch ist es nachvollziehbar, dass sich Betroffenedurch entsprechende Regelungen benachteiligt fühlen;das gebe ich durchaus zu . So nehmen wir zum Beispieldas Anliegen der DDR-Flüchtlinge sehr ernst .
Wir alle wissen, dass diese Menschen sehr viel gewagtund auch aufgegeben haben . Aber das Fremdrentenge-setz galt als Ausnahmetatbestand und war ausweislichder Gesetzesbegründung von Beginn an nur als Über-gangslösung vorgesehen . Auch das gehört zur Wahrheit,und auch das muss gesagt werden . Sie werden dadurchnicht zu Bürgern der DDR gemacht, wie es oftmals vonder Linken behauptet wird .
Was geschieht, ist lediglich, dass man bei der Renten-berechnung an Sachverhalte aus DDR-Zeiten anknüpft .Aber sie werden nicht zu Bürgern der DDR gemacht,meine Damen und Herren .
Auch bei den in der DDR Geschiedenen ist die Lageeindeutig . Man muss wissen, dass das Recht in der DDRim Scheidungsfall keinen Versorgungsausgleich kannte .Deshalb wurde er auch mit dem Renten-Überleitungsge-setz nicht nachträglich eingeführt .
Kollegin Schimke, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Matthias W . Birkwald?
Gerne . – Herr Birkwald .
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischen-frage zulassen . – Sie haben gesagt, die soziale Einheit seisehr weit gediehen und wir Linken würden das nicht an-erkennen . Dazu möchte ich zunächst einmal sagen, dasswir gerade, was die Rentnerinnen und Rentner angeht,sehr wohl anerkennen, was mit der Überleitung geleistetworden ist, dass es für viele Rentnerinnen und Rentnerdeutliche Verbesserungen gegeben hat . Das erkennen wirausdrücklich an . Aber wir kritisieren die Lücken und dieUngerechtigkeiten, die es in diesem Prozess in der Ver-gangenheit gegeben hat und die es heute noch gibt, unddas machen wir ebenso deutlich .Eben haben Sie von denen gesprochen, die aus derDDR – in der Regel aus guten Gründen – geflohen sindund heute, wie Kollege Bartsch vorhin ausgeführt hat,zum Teil 500 Euro Rente im Monat weniger bekommen .Nur für alle Menschen, die bis 1936 geboren wurden, gabes einen entsprechenden Schutz . Wer nach 1936 geborenwurde und aus der DDR in die Bundesrepublik geflo-hen ist, dem wurde zugesichert: Du bekommst dieselbeRente, als wenn du hier immer als Ingenieur, Kranken-schwester oder Lehrerin gearbeitet hättest . – Das ist abernicht der Fall . Diese Betroffenen sagen selbst: Wir wer-den nachträglich wieder zu DDR-Bürgerinnen und -Bür-gern gemacht, zu Bürgern des Staates, aus dem wir ge-flohen sind. – Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
Ich habe noch eine andere Frage . Wir haben am12 . Juni 2015 einen Beschluss des Bundesrates auf denTisch bekommen, in dem der Bundesrat die Bundesre-gierung auffordert, mit den Vorbereitungen zur Verein-heitlichung der Rentenwerte nicht erst 2016, sondernumgehend zu beginnen . In der Stellungnahme der Bun-desregierung dazu heißt es: Nö, das haben wir gar nichtnötig . – Die Zeitung Die Welt wiederum schrieb am21 . September, dass es einen gemeinsamen Antrag
der Koalition gibt – Sie haben gerade auf die Debatte vonheute Morgen Bezug genommen –, worin steht, dass dieBundesregierung sofort mit der Teilangleichung begin-nen soll .
Ich habe es in der Drucksache nachgelesen: Der Satzsteht nicht mehr drin . Bitte erklären Sie uns, warum Siedie Ostrentnerinnen und Ostrentner im Regen stehen las-sen und sie auf 2019 vertrösten . Alle Erfahrung sagt uns:Das wird wieder nichts .Jana Schimke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512460
(C)
(D)
Kollege Birkwald .
Die Kanzlerin hat es vor zehn Jahren versprochen .
Herzlichen Dank .
Sie hatten die Chance, zu wählen, ob Sie eine Frage
stellen oder eine Bemerkung machen . Aber Sie sollten
das dann auch deutlich machen .
Herr Birkwald, vielen Dank für Ihre Anmerkungen,die ich selbstverständlich zur Kenntnis genommen habe .Was wir in Bezug auf die Angleichung der Renten imJahr 2016 tun, ist, uns an den Koalitionsvertrag zu halten .
So ist es auch in unserem Antrag, den wir heute Morgenberaten haben, festgehalten . Wir werden uns im kom-menden Jahr mit diesem Thema auseinandersetzen .
Meine Damen und Herren, ich war in meinen Ausfüh-rungen bei den in der DDR Geschiedenen stehen geblie-ben . Zur Erinnerung: Der Versorgungsausgleich wurdein der alten Bundesrepublik 1977 eingeführt . Die Ge-setzgeber haben sich damals darauf verständigt, dass derVersorgungsausgleich nur für Ehen gilt, die ab diesemZeitpunkt geschieden wurden . Somit können auch diein Westdeutschland vor diesem Stichtag geschiedenenEhepartner nicht von der Regelung des Versorgungsaus-gleichs profitieren.Auch die Mütterrente ist heute wieder Gegenstandunserer parlamentarischen Debatte . Ja, es stimmt, dasseine Rentnerin im Osten 27 Euro und im Westen 29 EuroMütterrente pro Kind erhält, und ja, wir wissen, dass diesein Unterschied ist, der uns perspektivisch nicht zufrie-denstellen kann . Aber wir haben bei der Einführung derMütterrente nichts anderes gemacht – das adressiere ichgerade auch an die Linke, die uns immer wieder mit die-sen Fragen konfrontiert –, als uns schlichtweg an gelten-des Recht zu halten .
Wir haben geltendes Recht eingehalten und angewandt .Natürlich würden wir uns auch wünschen, dass Ostund West 25 Jahre nach der Wiedervereinigung keineUnterschiede mehr aufweisen . Aber wirtschaftlicherAufschwung und Wachstum – damit hängt die Renten-politik nun einmal zusammen – können nicht politischverordnet werden; ich habe Verständnis dafür, dass mandas gerade den Linken immer wieder erklären muss . Wirhaben uns doch etwas dabei gedacht, als wir nach derWiedervereinigung den Hochwertungsfaktor in der Ren-te eingeführt haben . Auch er ist an die jährliche Lohnent-wicklung und damit an die wirtschaftlichen Gegebenhei-ten unseres Landes angepasst . Der Rentenwert ist nichtsanderes als Ausdruck dessen, wo wir momentan stehen,und ich bin davon überzeugt – das ist heute schon in vie-len Reden der Kollegen deutlich geworden –: Wir stehennicht schlecht da . Im Gegenteil: Wir stehen gut da .
Wir haben seit der Wiedervereinigung bei der Anglei-chung der Renten große Fortschritte erzielt . Seit der Wie-dervereinigung stiegen die Renten in den neuen Bundes-ländern um deutlich mehr als 100 Prozent . In den altenBundesländern hingegen betrug der Anstieg nur 25 Pro-zent . Der Rentenwert Ost beträgt heute mehr als 92 Pro-zent, und er steigt jährlich. Wir können uns trefflich dar-über streiten, ob das Glas halb voll oder halb leer ist . Ichglaube, es ist ersichtlich, dass wir ein großes Stück vor-angekommen sind, und absehbar, dass wir jährlich weitervorankommen . Das sage ich auch den Bürgerinnen undBürgern in meinem Wahlkreis immer wieder, und das istsehr einleuchtend .
Ich kann auch keine spezifische Altersarmut Ost er-kennen, von der Sie immer wieder sprechen, Kollegender Linken . Nur 2,1 Prozent der Menschen in den neu-en Bundesländern beziehen Grundsicherung im Alter . Inden alten Bundesländern sind es 3,2 Prozent . Auch imOsten gehen die Menschen heute früher in Rente, trotzAbschlägen . Das ist sehr interessant; denn das belegt,dass sich kontinuierliche Erwerbsbiografien lohnen. Daszeigt sich gerade bei den Frauen: Die durchschnittlicheRente von Frauen im Osten ist um 44 Prozent höher alsdie von Frauen in den alten Bundesländern . Wir redenjedes Jahr im Zusammenhang mit dem Equal Pay Dayauch über den sogenannten Gender Pay Gap, den Ein-kommensunterschied bei Frauen und Männern, der unteranderem erwerbs- oder berufsbedingt ist . Für den GenderPension Gap gilt: Auch er ist bei den Rentnerinnen undRentnern im Osten deutlich geringer als bei den Rentner-innen und Rentnern in den alten Bundesländern .Diese Fakten zeigen, dass die Linke mit ihren Anträ-gen stets versucht, den Osten gegen den Westen auszu-spielen,
und das auch noch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung .Noch einmal: Niemand behauptet, dass das Rentenrechtim Zuge der Wiedervereinigung alle individuellen An-sprüche berücksichtigte . Den Müttern und Vätern derdeutschen Einheit, denke ich, ist es aber hervorragend
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12461
(C)
(D)
gelungen, ein einheitliches Rentenrecht zu schaffen unddie soziale Einheit in Deutschland herzustellen .
Ich bin der Meinung, dass neben der erneuerten Infra-struktur und den restaurierten Städten, die wir täglich inunseren Wahlkreisen sehen, die Einheit Deutschlandsgerade am Rentenrecht ablesbar ist . Diese Einheit zieltevon Beginn an darauf ab, Lebensleistung anzuerkennen .Dass wir nach 25 Jahren nach wie vor den Hochwer-tungsfaktor verwenden, ist nichts anderes als die Aner-kennung von Lebensleistung .
Natürlich haben wir uns mit unserem Koalitionspart-ner – die Kollegen haben mich schon darauf angespro-chen – auf einen Fahrplan zur vollständigen Angleichungdes Rentenwerts verständigt; das ist richtig . Wir werden2016 den Angleichungsprozess gemeinsam prüfen undschauen, ob eine Angleichung mit Wirkung ab 2017 not-wendig ist .Ich danke Ihnen .
Der Kollege Markus Kurth hat für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Frau Schimke, das Geeier vonseiten der Union, das mannach 25 Jahren deutsche Einheit noch immer und immerwieder hört, wenn es um einen einheitlichen Rentenwertin Ost und West geht, ist wirklich nur noch schwer zuertragen .
„Das wird geprüft“ oder „Dann werden wir mal sehen“,das alles sind wachsweiche Formulierungen . In der Zei-tung kann ich derweil lesen, dass der Ministerpräsidentvon Mecklenburg-Vorpommern, Herr Sellering, aufEckhardt Rehberg, der ebenfalls aus Mecklenburg-Vor-pommern stammt, losgeht und dass sich die beiden strei-ten . Bei dieser Gelegenheit ist eines klar festzustellen –das wird gerne vergessen –: Die einzige Fraktion hier imDeutschen Bundestag, die eine sofortige Angleichungder Rentenwerte Ost und West will und konsequent beineuen Ansprüchen auf die Höherwertung verzichten will,die einzige Fraktion, die eine Angleichung und damit denVollzug der deutschen Einheit im Rentenrecht will, istBündnis 90/Die Grünen und niemand sonst, noch nichteinmal die Linke . Das darf man nicht vergessen .
Wir sind in den letzten 25 Jahren viel differenziertergeworden . Es gibt auch zwischen Nord und Süd, zwi-schen Schleswig-Holstein und Bayern große Lohnunter-schiede . Regionale Ausgleichsmechanismen könnte manbeispielsweise auch innerhalb Brandenburgs begründen .Zu diesem Schluss könnte man kommen, wenn man sichdie Unterschiede bei Lohn und Tarifbindung zwischenPotsdam und Templin oder anderen Städten in der Ucker-mark vor Augen führt . Wir sehen, dass wir im Bereichder Tariflöhne – erst kürzlich war dies im Tarifarchivder Hans-Böckler-Stiftung zu lesen – bei der Ost-West-Angleichung gut vorangekommen sind . Der Lohn- undder Rentenunterschied zwischen Ost und West besteht,weil im Osten Deutschlands die Tarifbindung so geringist . Das ist der Kern des Problems . Das Rentenrecht kannan dieser Stelle nicht alle Probleme lösen .
Herr Bartsch, wenn sich der Antrag Ihrer Fraktionnur auf die beiden Gruppen beschränkte, die Sie bei-spielhaft als Härtefälle angeführt haben, würden wir ihmzustimmen; denn die aus der DDR Geflüchteten hattenbestimmte Zusagen, quasi Rechtsgarantien bekommen,die ihnen nachträglich aberkannt wurden . Das ist der ent-scheidende Punkt, Frau Schimke . Es geht nicht darum,jede individuelle Ungerechtigkeit mit dem Rentenrechtzu nivellieren; das geht selbstverständlich nicht . Aberin diesen Fällen ist Personen etwas zuerkannt worden .Diese haben sich auf eine bestimmte Lebensplanung ver-lassen
und haben bereits Jahre vor dem Mauerfall beispielswei-se in Köln und Dortmund gearbeitet . Es ist absolut nach-vollziehbar, dass an dieser Stelle etwas geschehen muss .Herr Bartsch, wenn Sie sich beispielsweise auf diesenPunkt konzentriert hätten, würden wir dem Antrag IhrerFraktion zustimmen .
Das gilt auch für die in der DDR geschiedenen Frauen .Wir weisen schon seit vielen Jahren auf die besondereHärte in diesen Fällen hin . Wir sind der Meinung, dassdort Regelungsbedarf besteht . Die in der DDR Geschie-denen kämpfen seit Jahren um ihr Recht . Wir schätzenihre Zahl auf Hundertausende . Viele von ihnen leben lei-der in bitterer Armut .Dann gibt es noch zwei Berufsgruppen, die nach mei-ner Auffassung Besonderheiten aufweisen, darunter diein der Braunkohle Beschäftigten . Dabei handelt es sich,wie Sie zu Recht gesagt haben, um eine sehr geringe An-zahl .Aber Sie beschränken sich nicht auf die Gruppen,bei denen dies nachvollziehbar und begründbar ist, son-dern, Herr Bartsch, Sie nehmen auch noch andere Grup-pen dazu, die bestimmte Sonderansprüche in der DDRhatten, die aber keine Entsprechung im westdeutschenRentenrecht, im SGB VI, haben . Ich nenne auch einmalBeispiele, die zeigen, wo man das nicht nachvollziehenkann . Das ist etwa bei den Spitzensportlerinnen und Spit-zensportlern der Fall, die Sonderrentenansprüche gehabthaben . Man würde wiederum Privilegierungen einfüh-ren, und das ist in der Tat nicht sachgerecht . DeswegenJana Schimke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512462
(C)
(D)
werden wir uns bei der Abstimmung über Ihren Antragan dieser Stelle enthalten .
– Nein, nein .Was die aus der DDR Geflüchteten anbelangt, mussman auch noch einmal eines sagen . In der letzten Legis-laturperiode haben Linke, SPD und Grüne gemeinsamihren politischen Willen bekundet, an dieser Stelle etwaszu machen . Jetzt hat es im Petitionsausschuss eine Pe-tition gegeben . Und was stellen wir fest? Die SPD hatihre Position um 180 Grad geändert, lässt diese Petitionabschließen und lässt Grüne und Linke in ihrem Einsatzfür die aus der DDR Geflüchteten im Regen stehen. Ichfinde es unmöglich, wirklich, dass Sie an dieser Stelle IhrFähnlein so sehr nach dem Wind hängen .
Wir werden – das ist im Moment das parlamentarischeVerfahren – das im Petitionsausschuss natürlich nocheinmal aufrufen . Sie können sicher sein: Früher oderspäter werden wir parlamentarische Initiativen zu diesemPunkt starten – vielleicht kann man das, beschränkt aufdiesen Punkt, Herr Bartsch, auch einmal gemeinsam indiesem Parlament machen –,
und dann werden Sie Farbe bekennen müssen in der Fra-ge, ob Sie den aus der DDR Geflüchteten diese vernünf-tige und ihnen zustehende Rente zugestehen . Das werdenSie dann entscheiden und hier bekennen müssen .Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Waltraud Wolff für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin seit1998 Mitglied dieses Hauses, und ich kann nicht mehrzählen, wie viele Gespräche ich zu den Ostrenten ge-führt habe: mit Menschen, die zu mir ins Büro gekom-men sind, auf Veranstaltungen, auch mit Menschen, diesich zusammengetan haben, um ihre Situation deutlichzu machen . Ich muss sagen: Vieles, was diese Menschenmir erzählt haben, hat mich persönlich sehr berührt . Ichhabe mich damals auch aufgerufen gefühlt, zu Lösungs-ansätzen beizutragen . Da will ich auch die LandesgruppeOst ansprechen, die wir von der SPD haben . Wir habenin unzähligen Diskussionen das Thema rauf und runterbehandelt . Wir haben uns mit Berufsgruppen getroffen .Wir haben Vorschläge erarbeitet, und die meisten, meineDamen und Herren, muss ich sagen, haben wir wiederverworfen . Die Frage ist: Warum?Erstens müssen wir heute – wie damals – zur Kenntnisnehmen, dass zum 1 . Januar 1992 das Rentenrecht derDDR in das Sechste Buch Sozialgesetzbuch übernom-men wurde . Was man auch wissen muss: Die Sondersys-teme sind gerade nicht in die Sondersysteme der Bundes-republik eingeordnet worden .
Dazu kommt: 1999 hat das Bundesverfassungsgerichtabschließend darüber befunden .Zweitens haben wir festgestellt: Selbst wenn wir dieRentensystematik außer Kraft setzen würden, würdenwir bei den vielen Sonderfällen, die heute auch schonzur Debatte standen, nur wieder neue Ungerechtigkei-ten schaffen . Wir hätten kein Recht besser gemacht . Ichweiß, nach 25 Jahren ist das keine frohe Botschaft . Aber,meine Damen und Herren, es ist eine ehrliche Botschaft .
Schon die PDS hat in jeder Wahlperiode
Anträge mit bis zu 18 Berufsgruppen eingebracht, für diesie Korrekturen bei der Rentenüberleitung gefordert hat .Die Linke hat dies fortgesetzt . Liebe Kolleginnen undKollegen von den Linken, ich sage das jetzt wirklich mitganz großer Ernsthaftigkeit: Mit Ihren immer wiederkeh-renden Anträgen machen Sie doch den Menschen falscheHoffnungen .
Sie machen ihnen Hoffnungen, wohl wissend, dass sienicht erfüllt werden können .
– Nein . – Sie senden lieber frohe Botschaften als ehrli-che .
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass viele Men-schen im Osten der Republik diese heutige Debatte ver-folgen. Ich finde, auch wenn es keine gute Botschaft ist:Alle haben diese Ehrlichkeit verdient .
Zu dieser Ehrlichkeit gehört, dass nicht alles, was dieLinken als ungerecht beschreiben, wirklich ungerecht ist .
Markus Kurth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12463
(C)
(D)
Sie beklagen zum Beispiel, die Anrechnung der Mütter-rente – das haben wir eben gehabt – auf den Übergangs-zuschlag sei ungerecht . Der Übergangszuschlag ist einZuschlag zum Bestandsschutz, auf den die Rentensteige-rungen die ganze Zeit angerechnet werden . Da ist es inder Rentensystematik doch logisch, dass auch die Erhö-hung der Mütterrente darauf angerechnet wird. Ich findedas nicht schön, aber das gehört zur Rentensystematikdazu .
Wir haben das im Bundestag nicht extra beschlossen,sondern das ist die Rentensystematik . Das ist Renten-recht in der Bundesrepublik Deutschland .
Meine Damen und Herren, zur Ehrlichkeit gehörtauch, dass ich als Mitglied der SPD Verständnis für dieMenschen habe, die gerne besser behandelt werden wol-len .
Das Gefühl, dass einem keine Gerechtigkeit widerfährt,das kenne ich sehr gut, und das kann ich auch nachvoll-ziehen . Aber wir müssen doch feststellen, dass die Mes-sen 1992 gesungen wurden . Da ist Schluss . Alles andere,was wir jetzt tun würden, würde zu neuer Ungerechtig-keit führen .
Zur Ehrlichkeit gehört auch, dass die Änderungen imRentenrecht Auswirkungen auf zukünftige Renten habenkönnen . Das gilt für Positives wie die Mütterrente . Dasgilt aber auch für Negatives, zum Beispiel die Anrech-nung der Ausbildungszeiten . Das gilt im Osten, und dasgilt im Westen . Hier wieder Ausnahmen zuzulassen, hie-ße, Rentenrecht nach Gutdünken zu machen . Das wollenwir nicht .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß sehr wohl,dass es bei der Rentenüberleitung Ungerechtigkeiten ge-geben hat; das steht zweifellos fest . Aber sie sind nicht imRentenrecht zu lösen . Wir brauchen deshalb eine andereLösung . Wir als SPD haben im letzten Wahlprogrammden Vorschlag gemacht, die Probleme in einem Renten-überleitungsabschlussgesetz endgültig und abschließendzu klären und die Probleme zu beseitigen . Wir haben ge-sagt: Wir wollen einen steuerfinanzierten Härtefallfondseinrichten, um damit einzelne Problemfälle besserzustel-len .
Zu diesem Vorschlag stehe ich und steht die SPD nochimmer .
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, noch indieser Legislaturperiode dieses Rentenüberleitungsab-schlussgesetz vorzulegen . Darin heißt es: 2019 soll eseinheitliche Rentenwerte geben . – Auch daran halte ichfest .
Frau Kollegin .
25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist für das Ge-
fühl von niedrigerer Wertschätzung der eigenen Lebens-
leistung einfach kein Platz mehr . Wir setzen uns für klare
Lösungen ein: gleicher Rentenwert, Härtefallfonds, kei-
ne neuen Ungerechtigkeiten . Das ist für viele, wie ich am
Anfang sagte, nicht die frohe Botschaft, aber die ehrliche
Botschaft .
Vielen herzlichen Dank .
Die Kollegin Dr . Astrid Freudenstein hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, Sieschreiben in Ihrem Antrag von einer spezifischen Alters‑armut Ost . Sie schreiben weiter, dass eine armutsfesteund den Lebensstandard sichernde Rente für viele Men-schen in Ostdeutschland nicht möglich sei . Der ZeitpunktIhres Antrages ist natürlich nicht zufällig gewählt .
Zum 25 . Jahrestag der deutschen Einheit wollen Sie nunendlich Rentengerechtigkeit zwischen Ost und West her-stellen .Liebe Kollegen der Linksfraktion, ich bin der Mei-nung, dass Sie Ihr Gerechtigkeitsempfinden nachjustie-ren müssen . Die Rentner im Osten sind im Endeffekt undim Gesamten eben nicht so benachteiligt, wie Sie das be-harrlich darstellen .
Nehmen wir die Durchschnittsrenten von ost- und west-deutschen Frauen und Männern: Die durchschnittlicheAltersrente für Ostrentner ist deutlich höher als die derWestrentner . Zusätzlich haben Versicherte in den neuenLändern bei gleichem Entgelt und gleicher Beitragszah-lung aktuell um 6 Prozent höhere Rentenansprüche alsVersicherte in den alten Ländern . Es ist richtig, dass dieWaltraud Wolff
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512464
(C)
(D)
gesetzliche Rente für Ostrentner oft die einzige Bezugs-quelle ist, während viele Westrentner zusätzlich Betriebs-renten und Lebensversicherungen haben . Das ändert abernichts daran, dass es das von Ihnen beschworene Prob-lem der spezifischen Altersarmut Ost so nicht gibt.
Nehmen wir noch einmal den Wert, den Sie so gernenutzen, wenn Sie Deutschland wieder einmal in Armutversinken sehen: die Armutsgefährdungsquote . Diese Ar-mutsgefährdungsquote liegt für die über 65-Jährigen inden neuen Bundesländern deutlich niedriger als in denalten Bundesländern . Schauen Sie sich den Anteil derMenschen an, die auf Grundsicherung im Alter angewie-sen sind: Ostdeutsche Rentner, und zwar Frauen ebensowie Männer, sind dort deutlich seltener auf die Grundsi-cherung angewiesen als westdeutsche Rentner .Insgesamt bewegen sich alle Zahlen auf niedrigemNiveau . Wir haben kein generelles Problem der Altersar-mut in Deutschland . Der Anteil der Rentner, die Grund-sicherung brauchen, liegt unter 3 Prozent . So bitter es ist:Das größte Armutsrisiko in Deutschland ist eben nichtdas Alter . Das größte Armutsrisiko in Deutschland habenMenschen ohne ordentliche Schulbildung, ohne Berufs-ausbildung und Alleinerziehende . Junge sind in unseremLand stärker von Armut betroffen als Alte .
Vor allem aber haben wir kein spezifisch ostdeutschesProblem der Altersarmut . Das wird auch nicht wahrer,wenn Sie das immer wiederholen .
Damals, bei der Wiedervereinigung – es wurde er-wähnt –, wurde ein allgemein akzeptiertes Verfahrender Rentenberechnung gefunden . Es berücksichtigt un-terschiedliche Erwerbsbiografien und Lohnunterschiede.Dass dieses Verfahren im Einzelfall als ungerecht emp-funden wird und auch im Einzelfall ungerecht ist, istrichtig . Es stimmt aber nicht, dass sich nur Ostrentnerungerecht behandelt fühlen könnten .
Ich kann Ihnen sagen: Es gibt auch westdeutsche Frauenund Männer, die sich durch das Renten-Überleitungsge-setz diskriminiert und benachteiligt fühlen . Die Planwirt-schaft der SED-Diktatur wirkte sich ja im Nachhineinpositiv für die Bürger in den neuen Ländern aus . Es gabin der sozialistischen Planwirtschaft eine vermeintli-che, eigentlich eine künstliche Vollbeschäftigung, somitdurchgängige Erwerbsbiografien und damit vor allemlängere Versicherungszeiten .
Davon profitieren die Ostrentner heute.
Ganz speziell betrifft das die Frauen im Osten . Siebekommen heute deutlich mehr Rente als westdeutscheRentnerinnen,
im Schnitt 50 Prozent mehr . Es ist eben mitnichten so,dass nur die Frauen im Osten gearbeitet hätten . Frauenim Westen haben natürlich ganz genauso viel geleistet:Sie haben Kinder erzogen, die Familie organisiert undsich vielfach ehrenamtlich engagiert . Weniger wert istauch das nicht .
Kollegin Freudenstein, ich habe die Uhr angehalten
und würde gern für Gerechtigkeit sorgen, dass wir hier
auch den letzten beiden Rednern in dieser Debatte fol-
gen können . Ich bitte also darum, unbedingt notwendige
Gespräche vor den Plenarsaal zu verlagern . Wir haben
uns im Präsidium hier vorne davon überzeugt, dass für
jeden Kollegen und für jede Kollegin, die an dieser De-
batte teilnehmen, eine Sitzgelegenheit im Saal vorhan-
den ist . Wir brauchen also auch keine Warte- und Dis-
kussionsgruppen hier in den Gängen zu bilden . Ich bitte
jetzt wirklich darum, die Gespräche einzustellen und der
Debatte – in diesem Fall der Kollegin Freudenstein – zu
folgen .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Die westdeutschenFrauen stehen heute rentenrechtlich deutlich schlechterda als die Frauen im Osten . Von daher hätten vermutlichdie westdeutschen Rentnerinnen am ehesten Grund, sichjetzt zu beschweren .Meine Kolleginnen und Kollegen, die Überführungder Renten gehörte und gehört zur Wiedervereinigungdazu . Es ist im Großen und Ganzen ein gutes Verfahren,das in der Gesamtheit eben nicht ungerecht ist .Es bringt uns auch nicht weiter, wenn Sie von derLinksfraktion sich hier immer wieder als Anwalt der ar-men Rentner im Osten verkaufen,
und es ist schon gar nicht in Ordnung, wenn Sie das zum25 . Jahrestag der deutschen Einheit tun .
Dr. Astrid Freudenstein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12465
(C)
(D)
Ich meine, wir sollten in diesen Tagen das gemeinsamErreichte feiern und nicht so tun, als lägen immer nochWelten zwischen Ost und West .Wenn Sie, Herr Kollege Bartsch, vorhin empfohlenhaben, mit Hellblau – also mit Ja – zu stimmen, dannstimme ich Ihnen in diesem Falle zu: Auch die Große Ko-alition empfiehlt heute, mit Hellblau abzustimmen.
Das Wort hat der Kollege Dr . Martin Rosemann für
die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Was mich am meisten an die-ser Debatte ärgert, ist die Unehrlichkeit, mit der Sie hierauftreten; denn Sie haben mit keinem Satz erwähnt, dassder Höherwertungsfaktor für die Einkommen in Ost-deutschland deutlich höher ausfällt als die Differenz zwi-schen den Rentenentgeltpunkten Ost und den Rentenent-geltpunkten West . Das haben Sie nämlich verschwiegen,liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken .
Was Sie wollen, ist ja: Sie wollen den gleichen Ren-tenwert plus den Höherwertungsfaktor . Das müssen Sieeinmal den Menschen beispielsweise in Schleswig-Hol-stein erklären, die 20 Prozent und mehr weniger verdie-nen als die Menschen bei mir in Baden-Württemberg,meine Damen und Herren .
Ich will mich aber auf Punkt 4 Ihres Antrages kon-zentrieren . Das ist das Thema „DDR-Übersiedler undRentenüberleitung“, also das Thema, das wahrscheinlichdas größte politische Interesse, das größte öffentlicheInteresse erfährt . Ich selber wurde mit diesem Themakonfrontiert, weil ich einen Herrn kennengelernt habe,der 1984 aus der DDR übergesiedelt ist . Nennen wir ihnHerrn Meyer . Er stellte nun bei Renteneintritt fest, dassdie Rente nicht so hoch ausgefallen ist, wie er sich dasimmer dachte . Der Grund dafür ist, dass für diejenigen,die vor 1989, als es die DDR noch gab, in die Bundes-republik übergesiedelt sind, das Fremdrentengesetz galt .Das heißt, da DDR-Beschäftigungszeiten nicht direkt er-fasst werden konnten, wurden ihnen fiktive Tabellenent-gelte zugeordnet, die dem durchschnittlichen Verdiensteiner vergleichbaren Tätigkeit in der Bundesrepublikentsprachen .Es ist schon gesagt worden: Mit der Wiedervereini-gung wurde dann ein einheitliches Rentenrecht geschaf-fen, das SGB VI . Damit wurden für alle Bürgerinnen undBürger, alt wie neu, Ost wie West, für die Rentenberech-nung auch die tatsächlichen Einkommen herangezogen .Diese Regelung – das ist sicher richtig – war für HerrnMeyer mit finanziellen Einbußen verbunden. Meine ersteReaktion war auch: Das ist eine Ungerechtigkeit . Hiermüssen wir etwas tun . – Ich weiß, dass es quer durch alleFraktionen vielen Kolleginnen und Kollegen in diesemHaus so gegangen ist . Ich habe mich dann – wie vielevon Ihnen auch – sehr intensiv damit beschäftigt . MeinFazit vorneweg: Es gibt keine gerechte Lösung für diesesProblem, zumindest keine, ohne neue Ungerechtigkeitenzu schaffen .
Das erste Problem ist die Abgrenzung der Gruppe, dieda überhaupt erfasst werden soll . Ein erster Anhaltspunktkönnte ja sein, diejenigen davon profitieren zu lassen,die einen sogenannten Feststellungsbescheid bekommenhaben . Aber eben nicht alle, die vor dem Mauerfall inden Westen gegangen sind, gerade in den Wendemonatenkurz vor dem Mauerfall, haben einen Feststellungsbe-scheid bekommen .Deswegen wäre die Alternative vielleicht ein Stichtag .
Aber, meine Damen und Herren, welches wäre denn derrichtige Stichtag, der Tag des Mauerfalls am 9 . November1989 oder der Tag des Staatsvertrags am 18 . Mai 1990?Gerechter wäre wahrscheinlich das Erste . Aber bisher hatman immer den zweiten verwendet . Alle Stichtage habenauch noch ein Problem; denn es gibt Leute, die gar nichtnachweisen können, an welchem Tag sie eigentlich über-gesiedelt sind .
Noch schwerer wiegt aber, dass es neue Ungerech-tigkeiten gegenüber anderen Personengruppen gebenwürde: gegenüber den SED-Verfolgten mit einem ver-gleichbaren Versicherungsverlauf, vor allem dann, wenndiese weder in ein Zusatz- oder Sonderversorgungssys-tem noch in die freiwillige Zusatzrentenversicherung derDDR eingezahlt haben . Sie wären auch deutlich besser-gestellt als in der DDR Gebliebene, beispielsweise Leu-te, die auch flüchten wollten, denen die Flucht aber nichtgeglückt ist oder denen die Ausreise nicht genehmigtwurde . Schließlich wären sie auch gegenüber der großenGruppe der Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjet-union bessergestellt . Für die gilt nämlich weiterhin dasFremdrentenrecht, allerdings bekommen sie nur noch60 Prozent von den ursprünglichen Tabellenentgelten .
Dr. Astrid Freudenstein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512466
(C)
(D)
Seit Anfang der 90er-Jahre ist es nämlich auch im Fremd-rentenrecht zu Verschlechterungen gekommen .
Eines kommt noch hinzu: Im Fremdrentenrecht wur-den Frauen gegenüber Männern systematisch benachtei-ligt, weil Frauen im Westen auch in den gleichen Berufenim Durchschnitt weniger verdient haben als Frauen imOsten . Würde man zum Fremdrentenrecht zurückkehren,dann wäre das eine Diskriminierung von Frauen, die vordem Europäischen Gerichtshof wahrscheinlich keinenBestand haben könnte .
Es gibt sogar Frauen, die sich durch den Vorschlagsystematisch schlechterstellen würden . Herr Birkwald,Sie würden dann bestimmt gleich „Günstigerprüfung“rufen .
Ich will Ihnen sagen: Wenn wir im Rentenrecht an einerStelle mit der Günstigerprüfung anfangen, dann müssenwir für jeden Fall, für jede Personengruppe und für jedeRechtsänderung zukünftig Günstigerprüfungen einfüh-ren . Das Ergebnis wäre, wir könnten das Rentenrechtüberhaupt nicht mehr ändern .
Ich komme zum Schluss . Es gilt nun einmal derGrundsatz, dass immer das Rentenrecht gilt, das in demMoment im Gesetzblatt steht, in dem man in Rente geht .Das müssen wir all denjenigen, die davon betroffen sind,der Ehrlichkeit halber auch sagen .
Weil Sie – auch die Kollegen von den Grünen – sa-gen, Sie wollen dazu wieder einen Antrag vorlegen: Ichfinde, wir sind es den Betroffenen – wie meinem HerrnMeyer – 25 Jahre nach der deutschen Einheit schuldig,hier eine endgültige Entscheidung zu treffen,
auch wenn sie an der einen oder anderen Stelle hart ist .Eine ehrliche Entscheidung, wie Kollegin Wolff gesagthat, ist besser .
Kollege .
25 Jahre nach der deutschen Einheit, denke ich, brau-
chen diese Leute eine klare Antwort .
Danke schön .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4972 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Spezifische Altersarmut Ost
durch Korrektur der Rentenüberleitung beheben“ . Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/5290, den Antrag der Fraktion Die Lin-
ke auf Drucksache 18/1644 abzulehnen . Wir stimmen
nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der
Fraktion Die Linke namentlich ab . Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen . – Sind alle Schriftführerinnen und Schrift-
führer an ihrem Platz? – Das ist der Fall . Ich eröffne die
Abstimmung über die Beschlussempfehlung .
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim-
me noch nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der Fall .
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen . Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben .1)
Ich wäre jetzt den Kolleginnen und Kollegen, die an
den weiteren Beratungen nicht teilhaben wollen und kön-
nen, sehr verbunden, wenn sie uns die Möglichkeit schaf-
fen würden, unsere Beratungen fortzusetzen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf .
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Zugang und Teilhabe ermöglichen – Die De-
kade für Alphabetisierung in Deutschland
umsetzen
Drucksachen 18/5090, 18/6179
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Xaver Jung für die CDU/CSU-Fraktion; er ist freundli-
cherweise schon am Redepult .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Lesen und schreiben können ist einwesentlicher Schlüssel zur Teilhabe am alltäglichenLeben . Ich freue mich, dass wir Anfang September am1) Ergebnis Seite 12468 BDr. Martin Rosemann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12467
(C)
(D)
Weltalphabetisierungstag die Nationale Dekade für Al-phabetisierung begrüßen durften . Der Bund übernimmtVerantwortung im Kampf gegen Analphabetismus in un-serem Land . Damit steht das Thema ganz oben auf derbildungspolitischen Agenda .
– Ja, da kann man klatschen .Frau Ministerin Wanka hat gemeinsam mit unsererVorsitzenden der Kultusministerkonferenz, BrunhildKurth, verkündet, dass in den kommenden zehn Jahren180 Millionen Euro investiert werden, um Menschen zuhelfen, die nicht richtig lesen und schreiben können . Mitdieser Menge an zusätzlichem Geld kann man ordentlichwas machen . Vielen herzlichen Dank!
Das eigentliche Ziel unseres Antrags wäre damit fast er-reicht, so könnte man sagen . Ich sage: Es ist ein weiterer,ein großer Schritt .Im Jahr 2008 wurden wir durch die Ergebnisse der„leo . – Level-One“-Studie wachgerüttelt . Seither wissenwir, dass 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigenAlter zwischen 16 und 65 Jahren in Deutschland nichtrichtig lesen und schreiben können . Es handelt sich umsogenannte funktionale Analphabeten . Diese Zahl klingtnicht nur erschreckend, sie ist gerade für ein Hochtech-nologieland wie Deutschland auch nicht hinnehmbar .Dennoch sagen mir viele Menschen, mit denen ichüber diese Zahl spreche, dass sie keinen Erwachsenenkennen, der nicht lesen und schreiben kann . Statistischgesehen hat aber jeder – Sie alle – mindestens einenNachbarn, auf den das zutrifft . Oft weiß man es nur nicht;den Betroffenen ist es unangenehm, sich zu bekennen .Genau darin liegt das eigentliche Problem: Wie kommenwir mit unseren Angeboten an die Menschen heran?Mit dieser Debatte wollen wir auf das Problem auf-merksam machen . Wir wollen Barrieren abbauen, undwir müssen das soziale Umfeld sensibilisieren .
Wir wissen, die meisten aller funktionalen Analpha-beten sind Muttersprachler . Über die Hälfte der Men-schen sind über 50 Jahre alt . 80 Prozent haben sogareinen Schulabschluss; wie auch immer sie das geschaffthaben . Als Antwort auf diese Studie hatten wir bereits2012 gemeinsam mit den Ländern ein Bündnis für Al-phabetisierung vereinbart . Diese nationale Strategie fürAlphabetisierung und Grundbildung Erwachsener habenwir vom Bund mit 20 Millionen Euro unterstützt und ge-meinsam mit zahlreichen Partnern viele Projekte in denBundesländern durchgeführt . An dieser Stelle möchte ichmich für das Engagement der verantwortlichen Partner,aber auch besonders der vielen ehrenamtlichen Helferherzlich bedanken .
Mit den sogenannten Alphabetisierungskursen habenwir circa 500 000 Lerner erreicht . Das ist eine Menge .Aber wir können und werden uns damit nicht zufrieden-geben .Nach Abschluss dieser nationalen Strategie haben wirBilanz gezogen und geschaut, welche Bildungsangebotegut funktionieren und wo es hilfreiche Multiplikatorengibt . Besonders erfolgreich laufen die Maßnahmen amArbeitsplatz . Die Betriebe entwickeln immer mehr Inter-esse an solchen Angeboten .Darüber hinaus fordern wir in unserem Antrag mehrKompetenzen und Möglichkeiten für die Bundesagenturfür Arbeit . Deren Mitarbeiter müssen sensibilisiert an dieBewerber herangehen . Mit der folgenden Dekade wollenwir erreichen, dass alle Initiativen, die erfolgreich waren,verstetigt werden und in die Breite getragen werden . Wirwollen erreichen, dass es zu den passenden Bildungsan-geboten auch die nötige Infrastruktur gibt und sich lände-rübergreifend Synergieeffekte bilden . Aus diesem Grun-de freue ich mich ganz besonders, dass sich das BMBFauf unseren Vorschlag hin dazu bereit erklärt hat, eineMonitoringstelle beim Bundesinstitut für berufliche Bil-dung einzurichten, welche die Projekte in den nächstenzehn Jahren begleiten wird .
Wir geben nicht nur Geld und lassen die Initiativenallein, sondern wir bieten Unterstützung vor Ort . Wirübernehmen Verantwortung und Koordination .
Wir setzen hiermit ein klares Zeichen . Im Rahmen derBildungsberichterstattung wird das Parlament regelmä-ßig über die Entwicklung auf dem Laufenden gehalten .Für die Betroffenen, aber auch für deren engste Vertrau-te, also das wissende Umfeld, bedarf es kurzer Wege .Wir appellieren an die Länder, die Zahl der regionalenGrundbildungszentren und Koordinierungsstellen zu er-höhen . Nur so wird der Austausch zwischen Verbändenund Lernern schnell und unkompliziert stattfinden. Digi-tale Angebote zur Fort- und Weiterbildung sind gefragtund werden künftig für die Betroffenen zur Verfügungstehen .
Defizite gibt es nicht nur bei der Lesekompetenz.Selbstlernplattformen bieten einen guten niederschwelli-gen Zugang zu den wichtigsten Grundkompetenzen wieLesen, Schreiben und Mathematik sowie zu demokrati-scher Grundbildung. Auch im Bereich der beruflichenBildung werden Konzepte der Grundbildung weiterent-wickelt und umgesetzt . Selbstverständlich sollen dieseAngebote auch Menschen zur Verfügung stehen, diederzeit zu uns kommen, und ihnen Berührungspunktemit der deutschen Sprache, der Verfassung und unsererKultur ermöglichen . Die genauen Inhalte und Orte derKurse, die im Rahmen der Dekade für Alphabetisierungstattfinden, nehmen die gesamte Familie in den Blick undsuchen Alltagsbezug . So unterstützt das Projekt ABCamigezielt Frauen am Lernort Moschee, um die Menschendort abzuholen, wo sie gerade sind . Ich spreche vonKochkursen in Mehrgenerationenhäusern . Ich sprecheXaver Jung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512468
(C)
(D)
von Kursen wie zum Beispiel Computer für Anfängeroder KettensägePlus, welche die Menschen bei der Ar-beit abholen .
Über den Deutschen Volkshochschul-Verband wollenwir gemeinsam mit den Ländern die Aus- und Fortbil-dung der Kursleitenden unterstützen und Standards dafürsetzen . Dies gilt genauso für standardisierte Lehrpläneund optimierte Lehrmaterialien . Dann werden wir auchmessbare Erfolge verzeichnen .
Um ständige Wechsel beim Lehrpersonal zu vermei-den, fordern wir die Länder auf, die Kursleitenden ange-messen zu honorieren und ihnen eine sichere Perspektivezu geben .
Ebenso appellieren wir an die Länder, dafür zu sorgen,dass kein Kind und kein Jugendlicher von der Schulegeht, ohne richtig lesen und schreiben zu können . Ichhoffe darauf, Herr Mutlu, dass sich die Länder nicht wie-der in dem Maße aus der Finanzierung zurückziehen, indem sich der Bund beteiligt .Die Dekade wird von weiterer Forschung zu sozialenund schulischen Ursachen von Analphabetismus beglei-tet . Wir wissen zwar, dass viel Vorlesen kleinen Kindernbeim Zugang zu Büchern und zum Erlernen des Lesens imAllgemeinen hilft . Allerdings brauchen wir mehr Kennt-nis: Wieso gibt es Menschen, die einen Schulabschlussschaffen und nicht richtig lesen und schreiben können?Und wieso kann es immer noch Kinder und Jugendlichegeben, denen niemand hilft, obwohl man feststellt, dasssie Schwierigkeiten oder Probleme haben? Wir müssenherausfinden: Welche Rolle kommt dabei Eltern, Erzie-hern, Lehrern und Sozialarbeitern zu?Meine Damen und Herren, dieser Antrag richtet sichan alle in unserem Land; es ist eine gemeinsame Aufga-be . Ich freue mich darüber, dass die Opposition angekün-digt hat, nicht dagegen zu stimmen .
Es wäre schön, wenn Sie zustimmten .
Ich bedanke mich bei meiner Kollegin Frau Schiederfür die wunderbare Zusammenarbeit .Ich darf darauf hinweisen, dass der Antrag auch inleichter Sprache vorliegt .
2018 wird es wieder eine „Level-One“-Studie geben .Dann werden wir sehen, was wir erreicht haben .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Bevor ich die nächste Rednerin aufru-fe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung bekannt geben: abgegebene Stimmen 501 .Mit Ja haben gestimmt 403, mit Nein haben gestimmt 45,und 53 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten .Damit ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses fürArbeit und Soziales angenommen .Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 501;davonja: 402nein: 46enthalten: 53JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerThomas BareißGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Sybille BenningDr . Andre BergheggerDr . Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr . Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannMichael BrandDr . Reinhard BrandlHelmut BrandtDr . Ralf BrauksiepeDr . Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr . Bernd FabritiusHermann FärberDr . Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr . Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr . Astrid FreudensteinDr . Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr . Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufReinhard GrindelUrsula Groden-KranichKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannDr . Herlind GundelachFritz GüntzlerXaver Jung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12469
(C)
(D)
Olav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr . Stephan HarbarthGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr . Stefan HeckDr . Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingDr . Heribert HirteRobert Hochbaum
Alexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr . Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M . HuberAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungXaver JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterRoderich KiesewetterDr . Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr . Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr . Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr . Karl A . LamersAndreas G . LämmelDr . Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr . Silke LaunertPaul LehriederDr . Katja LeikertDr . Philipp LengsfeldDr . Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldAntje LeziusMatthias LietzAndrea LindholzDr . Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr . Claudia Lücking-MichelDr . Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagThomas MahlbergGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr . Michael MeisterJan MetzlerDr . Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringVolker MosblechElisabeth Motschmann
Stefan Müller
Dr . Gerd MüllerDr . Philipp MurmannMichaela NollHelmut NowakDr . Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr . Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr . Martin PätzoldUlrich PetzoldDr . Joachim PfeifferEckhard PolsThomas RachelAlexander RadwanAlois RainerDr . Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefJohannes RöringDr . Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtDr . Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeTankred SchipanskiHeiko SchmelzleGabriele Schmidt
Ronja SchmittPatrick SchniederNadine Schön
Dr . Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteDr . Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr . Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Frhr . von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr . Peter TauberAntje TillmannDr . Hans-Peter UhlDr . Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr . Anja WeisgerberSabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelHeinz Wiese
Elisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeBarbara WoltmannHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr . Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettKlaus BarthelDr . Matthias BartkeSören BartolBärbel BasLothar Binding
Burkhard BlienertDr . Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr . Lars CastellucciDr . Daniela De RidderDr . Karamba DiabySabine DittmarElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr . h .c . Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr . Johannes FechnerVizepräsidentin Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512470
(C)
(D)
Dr . Fritz FelgentreuElke FernerDr . Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr . Edgar FrankeUlrich FreeseMichael GerdesMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannDirk HeidenblutGabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerDr . Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilBirgit KömpelDr . Hans-Ulrich KrügerChristine LambrechtBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeDr . Birgit Malecha-NissenCaren MarksHilde MattheisDr . Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagDetlef Müller
Bettina MüllerMichelle MünteferingDr . Rolf MützenichUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoguzMarkus PaschkeChristian PetrySabine PoschmannAchim Post
Florian PostDr . Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr . Sascha RaabeMartin RabanusStefan RebmannGerold ReichenbachDr . Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDr . Martin RosemannDr . Ernst Dieter RossmannBernd RützelSarah RyglewskiAnnette SawadeDr . Hans-JoachimSchabedothDr . Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr . Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Elfi Scho‑AntwerpesUrsula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerSonja SteffenKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsDr . Karin ThissenFranz ThönnesRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelBernd Westphal
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeManfred ZöllmerBrigitte ZypriesNeinDIE LINKEDr . Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W . BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DagdelenKlaus ErnstNicole GohlkeDr . Gregor GysiDr . Andre HahnHeike HänselDr . Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeKerstin KassnerJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertSabine LeidigStefan LiebichDr . Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzNiema MovassatNorbert Müller
Dr . Alexander S . NeuThomas NordPetra PauRichard PitterleMartina RennerDr . Petra SitteDr . Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelKathrin VoglerHalina WawzyniakKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelSabine Zimmermann
EnthaltenBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeAnnalena BaerbockVolker Beck
Dr . Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr . Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringAnja HajdukBritta HaßelmannDr . Anton HofreiterBärbel HöhnUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr . Tobias LindnerNicole MaischBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr . Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr . Gerhard SchickKordula Schulz-AscheDr . Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr . Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr . Julia VerlindenBeate Walter-RosenheimerDr . Valerie WilmsVizepräsidentin Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12471
(C)
(D)
Als nächste Rednerin hat jetzt Frau Dr . RosemarieHein, Fraktion Die Linke, das Wort . Bitte schön .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ja, in Deutschland können 7,5 MillionenMenschen im erwerbsfähigen Alter nicht richtig lesenund schreiben . Man kann die Zahl gar nicht oft genugwiederholen, allerdings nicht, um sich daran einfach nurin irgendeiner Art und Weise abzuarbeiten . Vielmehrmüssen wir etwas tun, müssen Strategien entwickeln undüberlegen, wie wir diesen Menschen helfen können, ihreFähigkeiten zu erweitern und Grundbildung zu erwerben .Wir müssen endlich entsprechend handeln .
Wir sind uns über alle Fraktionen hinweg einig, dassdie Fragen der Grundbildung ganz dringend angegangenwerden müssen; denn wer nicht richtig lesen und schrei-ben oder nicht richtig rechnen kann, ist in der Gesell-schaft doppelt und dreifach benachteiligt . Allerdings hilftes wenig, die Nationale Strategie für Alphabetisierungund Grundbildung Erwachsener, die 2011 von Bund undLändern ausgerufen wurde, nun als Dekade für Alpha-betisierung fortzusetzen, wenn damit im Wesentlichenkeine neuen Maßnahmen und Ziele verbunden sind undes – was auch wichtig ist – zunächst einmal nur um Ver-stetigung der Mittel geht .
Die Maßnahmen gibt es schon . Die Mittel zu verstetigen,ist gut .
Aber wir müssen uns auch etwas Neues einfallen lassen;denn obwohl es viele gute Konzepte und Ideen gibt, gibtes bisher noch keinen messbaren Fortschritt . Das Prob-lem scheint nicht kleiner geworden zu sein .Eine gute Idee war zum Beispiel die multimedialeWanderausstellung . Sie war zum Kampagnenstart imMagdeburger Rathaus zu sehen . Die Frage ist nur: Wenerreichen solche Ausstellungen? Im Magdeburger Rat-haus trafen sich diejenigen, die man von der Notwendig-keit der Alphabetisierung nicht mehr überzeugen musste .
– Deshalb muss man dorthin gehen, wo die Leute sind,nämlich zum Beispiel in die Einkaufstempel .Es reicht auch nicht aus, wenn wir immer nur an denSymptomen herumdoktern . Herr Jung hat es vorhinschon gesagt: Wir denken zu wenig über die Ursachenfehlender Grundbildung nach . Herr Jung, Sie sind Leh-rer, ich bin Lehrerin . Wir beide wissen, in welchen Zwän-gen man als Lehrer vor der Klasse steht und was Lehr-kräfte unter den heutigen Umständen, in den Situationen,in denen sie sich heute befinden, noch merken. Wir beidewissen auch, dass wir – ich bin Deutschlehrerin – zu we-nig Strategien haben, um damit umzugehen . Das heißt,wir brauchen die Möglichkeit, Lehrkräfte in die Lage zuversetzen – zeitlich, didaktisch und fachlich –, Defiziterechtzeitig zu erkennen und sie wirksam zu beheben .Diese Möglichkeit gibt es zu wenig .
Wir müssen uns auch die Frage stellen: Warum ent-steht Analphabetismus eigentlich nach dem Abschlussschulischer und beruflicher Bildungsphasen neu? Of-fensichtlich merken wir nicht, wenn jemand die Schuleverlässt, aber nicht richtig lesen und schreiben kann . DieStudien, die uns dazu vorliegen, sind sehr aussagekräftig:Viele haben sich durchgeschummelt . Das ist aber nichtdas Problem . Manche können lesen und schreiben – viel-leicht nicht auf einem besonders hohen, aber auf einemakzeptablen Niveau – und machen den Schulabschluss,aber nach einigen Jahren können sie es nicht mehr . Wa-rum ist das so? Ich glaube, auch hier bedarf es einer in-tensiveren Forschung, die es gegenwärtig so noch nichtgibt . Das haben uns Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler, die in diesem Bereich arbeiten, auch bestätigt .Ich finde, nach den vielen Exzellenzprogrammen wärees an der Zeit, ein Forschungsprogramm zu den Ursachenfehlender Grundbildung aufzulegen und gleichzeitig fun-dierte Strategien entwickeln zu lassen, die aufzeigen, wieman dem entgegenwirken kann . So etwas könnten wir,der Bund, sogar leisten . Also machen wir das doch .
Ich finde es auch richtig, dass wir Wert darauf legen,dass die Arbeitsweltorientierung Teil der Alphabetisie-rungsstrategie wird . Trotzdem lässt mich die Sorge nichtlos, dass die Jobcenter und Arbeitsagenturen die Mög-lichkeit, Alphabetisierungskurse anzubieten, willfährigannehmen, weil sie damit ein Problem gelöst kriegen,und dass man jemanden in einen Alphabetisierungskursschickt, bevor überhaupt versucht wird, ihn in Arbeit zuvermitteln. Ich finde, solche Kurse müssen berufsbeglei-tend bzw . arbeitsplatzbegleitend angeboten werden . Siesollten nicht die Voraussetzung dafür sein, vielleicht ir-gendwann einmal Arbeit zu bekommen .Viele Punkte in dem uns vorliegenden Antrag sindnicht falsch, sie sind aber auch nicht neu . Uns fehlt vorallem der präventive Ansatz . Weil das so ist und weilviele Fragen offen bleiben, weil Ziele nicht klar genugformuliert sind und es lediglich bei einem Appell an dieLänder bleibt, werden wir uns bei diesem Antrag derStimme enthalten .Sie haben es vorhin zitiert:Alphabetisierung und Grundbildung müssen als ge-samtgesellschaftliche Aufgabe aufgefasst werden .So steht es im Antrag . Nehmen wir das doch als Motto!Lassen Sie uns die Hemmnisse für eine effektivere Zu-sammenarbeit von Bund und Ländern endlich aufheben!
Dann könnten wir gemeinsam viel mehr für die Grund-bildung tun und müssten nicht befürchten, dass sich dieLänder aus ihrer Verantwortung stehlen . Vielleicht kön-Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512472
(C)
(D)
nen wir dann am Ende der Dekade, wenn nicht sogarschon 2018, einen messbaren Erfolg verzeichnen .Ich will Sie noch ganz kurz auf einen Fehler hinwei-sen . Ich muss nun alle Berichterstatterinnen und Be-richterstatter kritisch anschauen; denn wir alle habenuns die erste Seite unseres Berichts nicht richtig angese-hen . Es betrifft natürlich die erwerbsfähige Bevölkerungzwischen 18 und 64 Jahren und nicht zwischen 18 und24 Jahren . So ausbeuterisch sind wir dann doch nicht .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat die Kollegin Marianne
Schieder für die SPD-Fraktion das Wort .
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer-mehr“ – ich gehe davon aus, dass viele von Ihnen die-se Redewendung kennen . In diesen Worten steckt vielWahrheit; denn in der Tat lernen Kinder sehr viel leichterund sehr viel schneller als Erwachsene . Aber wir wissengenauso gut – das gilt für uns alle –: Wir brauchen dieBereitschaft zum lebenslangen Lernen, und es ist nie zuspät, etwas Neues dazuzulernen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen brau-chen aber nicht nur die Motivation, sondern auch dieMöglichkeit, Neues dazuzulernen . Für 7,5 Millionenfunktionale Analphabeten in unserem Land möchten wirmit der Dekade für Alphabetisierung neue Möglichkeitenund neue Strategien eröffnen, um Neues dazuzulernen .Politik muss nach unserer sozialdemokratischenGrundüberzeugung dafür Sorge tragen, dass allen Men-schen gesellschaftliche Teilhabe möglich wird . Selbst-verständlich ist richtig lesen und schreiben können eineder wichtigsten Fähigkeiten, um gesellschaftliche Teil-habe realisieren zu können . Deswegen haben wir bereitsim Koalitionsvertrag dafür gekämpft, dass aus der Nati-onalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildungeine Dekade für Alphabetisierung geworden ist .Der Antrag von Union und SPD, den wir heute ab-schließend beraten, beschreibt, wie diese Alphabetisie-rungsdekade ausgestaltet werden kann . Auch ich darf,lieber Herr Kollege Jung, mich herzlich bei Ihnen bedan-ken für die gute Zusammenarbeit . Ich meine, es ist wirk-lich ein guter Antrag geworden, den wir erarbeitet haben .Die Kritik daran im Ausschuss war wenig substanziellund hat wenig Neues gebracht . Deswegen kann ich wirk-lich nicht verstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen vonden Linken und von den Grünen, warum Sie nicht mit-stimmen können, warum Sie nicht gemeinsam mit uns aneinem Strang ziehen können .
Es wurde bereits darauf hingewiesen: Die Gesellschaftfür deutsche Sprache hat unseren Antrag in einfacheSprache übersetzt . Diese neue Version unseres Antragssoll es den Betroffenen ermöglichen, sich selbst über ihreBelange zu informieren . Das ist also ein erster Schritt,um auf die Betroffenen zuzugehen .Ausgerufen wurde unsere Alphadekade bereits durchdie Frau Ministerin und die Präsidentin der Kultusmi-nisterkonferenz; jetzt muss es also darum gehen, sie mitLeben zu füllen . Dabei muss das Rad nicht neu erfundenwerden . Es gibt bereits viele gute und erprobte Ansätze,etablierte Projekte, die heute schon den Menschen helfenund die weitergeführt werden können . Genauso müssenwir aber Pilotprogramme, die sich bewährt haben, in dieBreite tragen, und wir brauchen neue Förderprogramme,um die Träger der Erwachsenenbildung zu motivieren, inentsprechende Programme einzusteigen und Neuangebo-te zu entwickeln .Auch darauf ist schon hingewiesen worden, aber ichmöchte es wiederholen: Trotz der Vielfalt der erfolgrei-chen Projekte haben sie eines gemeinsam: Sie sind fürdie Betroffenen leicht zu erreichen . Zum Beispiel lässtsich der Anruf beim Alphatelefon schnell und ohne Ver-pflichtung realisieren. Es droht keine öffentliche Brand-markung, weil der Kontakt anonym bleiben kann . Ähn-liches gilt für Onlineangebote . Man könnte hier vieleweitere Beispiele aus den unterschiedlichen Bereichenaufzählen .Wir brauchen, liebe Frau Kollegin Hein, natürlichauch die Ausstellung im Magdeburger Rathaus; denn wirmüssen schon mehrgleisig fahren . Wir müssen die Be-troffenen erreichen, und wir müssen aber auch all dieje-nigen erreichen, die mit den Betroffenen zusammenkom-men, die als Multiplikatoren in den Volkshochschulen,in den Betrieben, in den Schulen, in den Verbänden, inden Vereinen und wo auch immer mit Analphabeten zu-sammenkommen . Auch sie brauchen wir . Es geht darum,dass sie sich überlegen: Was können wir denn tun, um dieMenschen anzusprechen?
Unsere Alphadekade soll zuerst den Betroffenen selbsthelfen – das ist ganz klar ; denn durch das Erlernen vonLesen und Schreiben, durch die Verbesserung des Lesensund Schreibens wird natürlich ein weiterer Grundsteingelegt für gesellschaftliche Teilhabe, aber auch für denweiteren beruflichen Erfolg. Immerhin ist ein Großteilder Betroffenen – darüber dürfen wir sehr froh sein, mei-ne ich – berufstätig. Über berufliche Weiterbildung bie-ten sich neue Chancen, aus einer geringfügigen Beschäf-tigung in eine bessere berufliche Position zu kommen.Eins wissen wir doch alle miteinander: Das Angebotan Arbeitsplätzen für Menschen, die nicht richtig lesenund schreiben können, wird in diesem Land weniger undnicht mehr . Deswegen besteht auch ein gesamtgesell-Dr. Rosemarie Hein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12473
(C)
(D)
schaftliches Interesse, die Situation von Analphabetinnenund Analphabeten zu verbessern .
Wir wollen aber auch all den Menschen helfen – HerrKollege Jung hat darauf hingewiesen; das ist dringendnotwendig –, die diese Angebote durchführen, also denvielen Kursleiterinnen und Kursleitern; denn sie brau-chen wirklich endlich verlässliche Perspektiven und einegerechte Bezahlung .Wir brauchen aber auch neue Forschungsaufträge;denn um die richtigen Wege zu finden, brauchen wirnoch mehr wissenschaftlich fundierte Daten . Die „leo . –Level-One“-Studie war ein guter Anfang; aber sie mussfortgesetzt und differenziert werden .Wir müssen heute den Menschen helfen, die betroffensind . Aber wir müssen auch in Zukunft dafür Sorge tra-gen – das möchte ich auch betonen –, dass keine Schü-lerin und kein Schüler mehr die Schule verlässt, ohnewirklich rechnen, schreiben und natürlich auch lesen zukönnen . Deswegen liegt uns daran, dass dieses ThemaTeil des Bildungsberichtes wird . Denn wenn wir diesesProblem wirklich erfolgreich in Angriff nehmen wollen,müssen wir es langfristig im Auge behalten und müssenkontinuierlich an einer Lösung arbeiten . Nur dann wer-den wir erfolgreich sein .Ich muss zu guter Letzt noch einmal auf die Finanzie-rungsfrage zu sprechen kommen . Frau Ministerin Wankahat 180 Millionen Euro für die nächsten zehn Jahre an-gekündigt . Für 2016 stehen im Haushalt 16,5 MillionenEuro zur Verfügung . Mal zehn genommen ergeben sichdaraus keine 180 Millionen Euro . Frau Ministerin Wankaverweist zu Recht darauf, dass es auch einen Bedarf anAlphabetisierungsangeboten für Flüchtlinge gibt . Die er-rechneten Zahlen und der Bedarf von 180 Millionen Eurobeziehen sich aber auf Zahlen, die vor dem Einsetzen desFlüchtlingsstroms erhoben wurden . Es ist richtig, auchfür Flüchtlinge Angebote zu schaffen; aber dafür müssenweitere Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden .
Auch ich möchte allen Akteuren danken, die sichlandauf, landab engagieren, um Analphabetismus zubekämpfen . Vor allen Dingen möchte ich aber all denenDanke sagen, die sich trauen und öffentlich bekennen,dass sie von diesem Problem betroffen sind . Damit tra-gen sie dazu bei, dass dieses Phänomen aus der Tabuzoneherauskommt und sich letztlich mehr Menschen trauen,sich ihrem Problem zu stellen .
Frau Kollegin Schieder, jetzt müssen Sie aufhören mit
dem Danken .
Sofort, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnen und lie-
be Kollegen, ich glaube, eine sehr spannende und sehr
lohnende Aufgabe liegt vor uns . Unterstützen Sie alle un-
seren Antrag, um all den Menschen, die besser lesen und
schreiben lernen wollen, die Möglichkeit dazu zu geben .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Özcan Mutlu das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2,3 –7,5 – 13 – das sind drei Zahlen, die im Kontext von An-alphabetismus für sich selbst sprechen: 2,3 Millionen er-werbsfähige Menschen können lediglich einzelne Wörterlesen, verstehen und schreiben, jedoch nicht ganze Sätze .7,5 Millionen Menschen – wir haben es hier wiederholtgehört; das sind 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevöl-kerung – gelten als funktionale Analphabeten, könnennicht richtig lesen und schreiben . Circa 13 MillionenMenschen – das sind ganze 25 Prozent der erwerbsfähi-gen Bevölkerung – haben in ihrer Schulzeit nicht gelernt,wie man richtig schreibt . – Das sind drei Zahlen, hinterdenen sich knapp 23 Millionen Biografien und ganz un-terschiedliche Schicksale verbergen . Diese Zahlen sinderschreckend, und wir können nicht einfach so tun, alswäre das nicht unser Geschäft .
Dass wir in puncto Alphabetisierung neue Wege ein-schlagen müssen, das wissen wir spätestens seit Ver-öffentlichung der „leo . – Level-One“-Studie aus demJahr 2010 . Das ist im Übrigen fünf Jahre her . Funktio-nalem Analphabetismus wirksam zu begegnen und somehr Menschen Teilhabe zu ermöglichen, muss unseraller Aufgabe sein . Ich denke, dass hier Ideologie fehlam Platze ist .
Eine neue Studie zum Analphabetismus ist deshalb drin-gend nötig . Sie wird hoffentlich spätestens 2018 vorge-legt werden .Ich gebe gerne zu, dass Sie sich in puncto Alphabe-tisierung zumindest auf den Weg gemacht haben, zwarspät, aber immerhin . In Ihrem Antrag stellen Sie Richti-ges und Wichtiges fest .
Er enthält Vorschläge, die man tatsächlich begrüßenkann . Weil uns das aber noch nicht ausreicht, werden wiruns enthalten und Sie auf dem Weg weiter begleiten .
Marianne Schieder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512474
(C)
(D)
Erstens . Die bisher ergriffenen Maßnahmen sind inder Tat nicht falsch, aber sie reichen nicht aus; denn mitIhren Maßnahmen erzielen Sie keine flächendeckendeVerbesserung . Es gilt, das, was sich als Good Practicebewährt hat, zu verstetigen und in der Breite umzusetzen,nicht nur punktuell .Zweitens . Die 180 Millionen Euro an Investitionenfür die Dekade für Alphabetisierung sind schön und gut .Aber gut gemeint ist in den seltensten Fällen auch gutgemacht .
Wenn Sie die 180 Millionen Euro für zehn Jahre alleinauf die 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten herun-terbrechen, kommen Sie auf einen Betrag von 2,40 Europro Person . Das ist in Anbetracht von 23 Millionen Men-schen, die einen Förderbedarf haben, nicht ausreichend .
– Ja, das sind nur die Bundesmittel, genau .
Das reicht trotzdem nicht .Drittens . Was uns bei Ihnen fehlt, ist die Auseinan-dersetzung mit den Gründen, mit den Ursachen des An-alphabetismus . Wir können gerne einmal darüber nach-denken, ob zwischen der Nichtzuständigkeit des Bundesund den besagten 23 Millionen nicht vielleicht doch einZusammenhang besteht .
Unser Bildungssystem ist unterfinanziert. Wir sind derMeinung, dass hier deutlich mehr Engagement des Bun-des erforderlich ist; denn wenn ein Viertel der Schülerin-nen und Schüler die Schule verlässt, ohne richtig lesenund schreiben zu können, dann machen wir zu früh etwasfalsch, dann machen wir zu lange und zu viel falsch . Daskönnen wir nicht einfach auf die Bundesländer abschie-ben . Dafür tragen wir alle gemeinsam Verantwortung .Da hätte mehr geliefert werden müssen . Da haben Sie –Stichwort „Kooperationsverbot“ – leider mit der letztenVerfassungsänderung die Chance verpasst .Kollege Jung, es ist ja schön und gut, dass Sie vielesan die Länder delegieren, aber das reicht nicht .
Ihre Politik repariert etwas, das nie hätte sein dürfen .Menschen müssen erst beschämt werden, bevor sie ihreWürde wieder zurückerlangen können . Da, so sagen wir,läuft etwas gewaltig schief .
Ich sage hier und jetzt in aller Deutlichkeit: Dass dieKommunen 20 Prozent, die Länder 70 Prozent und derBund knapp 10 Prozent der gesamtstaatlichen Bildungs-ausgaben tragen, kann so im Kern nicht richtig sein .Deshalb sagen wir: Früher und gezielter investieren, dasmuss unser Motto sein .
Da ist zum Beispiel das Programm „Lesestart – DreiMeilensteine für das Lesen“ zu nennen, das ganz frühansetzt; es ist hier bisher nicht zur Sprache gekommen .Die Evaluationsergebnisse der ersten Projektphase bele-gen sowohl die hohe Durchdringung des Programms inden Kinderarztpraxen als auch die Akzeptanz und Nut-zung der Lesestartangebote durch die Eltern . Das ist einerfolgreiches Programm . Wir fordern hier deshalb – dakönnen Sie zeigen, wie ernst Sie es meinen –, dieses Pro-gramm über 2018 hinaus zu verfestigen und nachhaltigzu sichern .
Summa summarum sage ich zum Schluss: Das, was esan Good Practice in puncto Alphabetisierung gibt, gilt esnun in die Breite zu tragen,
und zwar landauf, landab, und finanziell nachhaltig ab-zusichern . Die 180 Millionen Euro, die Sie für die nächs-ten zehn Jahre im Haushalt festschreiben wollen, reichennicht und sind auch keine Antwort auf die aktuellen po-litischen Entwicklungen, die unser Land zu bewältigenhat . Deshalb enthalten wir uns .
Wir hoffen, dass wir in Zukunft bei dieser Frage viel-leicht an einem gemeinsamen Strang ziehen können .Danke sehr .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Sven Volmering,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist ein Zufall, dass Frau Hein mir jetzt direkt eine Vorlagegegeben hat, indem sie auf einen Fehler hingewiesen hat .Der chinesische Philosoph Konfuzius hat gesagt: „Wereinen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begehteinen zweiten .“ Damit mir dies nicht passiert, möchte ichzu Beginn einen Fehler korrigieren, der mir im Rahmender ersten Debatte über diesen Antrag unterlaufen ist . DieBeiträge dieser Debatte wurden ja bekanntlich zu Proto-koll gegeben . Wahrscheinlich wäre der Fehler auch un-bemerkt geblieben, wenn wir nicht alle zur Vorbereitungauf die heutige Debatte noch einmal nachgelesen hätten,was die anderen Kolleginnen und Kollegen über denwirklich guten Antrag von CDU/CSU und SPD denken .
Özcan Mutlu
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12475
(C)
(D)
Der Kollege Spiering ist leider nicht da . Ich möchtemich bei ihm entschuldigen, dass sein Name in meinemRedemanuskript falsch geschrieben wurde . Er war auchleider nicht der Berichterstatter aufseiten der SPD, demzu danken war .
– Jetzt hören Sie doch zu . – Das ist dem Kollegen Jungaufgefallen, der nicht nach dem Motto „Egal ob Stieringoder Spiering, Hauptsache SPD“ gehandelt hat, sondernmich direkt darauf hingewiesen hat, dass die KolleginSchieder den Antrag aufseiten unseres Koalitionspartnersmit ausgearbeitet hat . Daher gilt mein Dank zu Beginndiesmal richtigerweise den Kollegen Jung und Schiederfür ihre ausgezeichnete Arbeit .
Beim Lesen des Protokolls sind mir noch zwei weitereDinge aufgefallen, die, zumal sie teilweise in der heuti-gen Debatte wieder angeklungen sind, Herr Mutlu undFrau Hein, nicht unwidersprochen bleiben dürfen .Liebe Kollegin Hein, Sie erkennen ja durch Ihre Ent-haltung die Leistungen der Koalitionsfraktionen undauch der Bundesregierung an . Wir sind uns ja auchfraktionsübergreifend einig, dass die Bekämpfung desAnalphabetismus eine gesamtgesellschaftliche Dauer-aufgabe ist, deren Lösung Zeit braucht, da dieser trotzvieler Bemühungen und Initiativen immer noch zu oft einTabuthema ist . Von heute auf morgen werden natürlichauch Scham, Vorurteile und Halbwissen in diesem Be-reich nicht verschwinden . Aber ich bin davon überzeugt,dass im Rahmen der Dekade deutliche Fortschritte erzieltwerden . Gestört hat mich daher vor allem eines: Sie ha-ben in Ihrer ersten Rede behauptet, dass den Regierungs-fraktionen „‚die schwarze Null‘ wieder näher als dieLese- und Schreibkompetenz der Menschen in unseremLand“ sei. Ich finde, in dieser Einfachheit und auch indieser Zuspitzung kann das nicht unwidersprochen blei-ben . Wir als CDU und CSU sind stolz auf die schwarzeNull . Sie leistet einen enormen Beitrag zur Generatio-nengerechtigkeit. Sie ermöglicht finanzielle Handlungs-spielräume . Die Bildungsausgaben sind seit Beginn derKanzlerschaft von Angela Merkel permanent gestiegen .Das Volumen des Haushalts des BMBF hat sich verdop-pelt; in diesem Jahr packen wir 7,2 Prozent drauf . Ge-nauso gerne stellen wir jetzt auch finanzielle Mittel fürdie Dekade zur Verfügung . 180 Millionen Euro sind einestolze Summe, mit der man eine Menge auf die Beinestellen kann .
Kollege Kaczmarek hat in der letzten Debatte völlig rich-tig gesagt, dass die Dekade für Alphabetisierung einendeutlichen Schritt nach vorne bedeutet .Die Grundfarben dieses Themas sind nicht Schwarzund Weiß wie auf einem Schachbrett, lieber Herr Mutlu .Es ist nicht so, dass – Zitat – „die Betroffenen ange-schmiert sind“ und ihnen in – Zitat – „keiner Weise ge-holfen wird“ . Es ist auch nicht so, dass die Abschaffungdes Kooperationsverbotes der Zaubertrank zur Unbesieg-barkeit des deutschen Bildungssystems ist .
Es ist gut, dass das BMBF jetzt die Federführungbei der Koordinierung all dieser Maßnahmen hat; dortgibt es ja auch sehr viel Kompetenz und sehr großesEngagement . Aber die Auswirkungen der notwendigenMaßnahmen haben auch viele Berührungspunkte mit derFamilien-, der Integrations- und der Arbeitsmarktpoli-tik . Alphabetisierung und Grundbildung sind eine Quer-schnittsaufgabe für alle gesellschaftlichen Akteure:
für Gewerkschaften genauso wie für Arbeitgeber, fürLänder und Kommunen ebenso wie für den Bund . Des-halb sind die Regionalen Grundbildungszentren, die wireinführen wollen, lokale Bündnispartner und Netzwerkeunabdingbar für den Erfolg der Dekade .Im Gegensatz zu den Grünen habe ich die Antwortder Regierung auf die Anfrage nicht als PR empfunden,sondern als eine gelungene Übersicht über die Vielzahlbereits existierender Programme und Fördermaßnahmen,die hier gerade auch alle schon genannt worden sind . Vondaher möchte ich mich an dieser Stelle bei allen Betei-ligten,
Sven Volmering
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512476
(C)
(D)
dass die Maßnahmen ihnen einen Mehrwert bringen undsie bei allem Ernst auch Spaß machen können .Des Weiteren möchte ich als Berichterstatter für dasThema „Digitale Bildung“ auf die entsprechenden Poten-ziale hierzulande zu sprechen kommen . Die Ministerinhat in ihrer Haushaltsrede zu Recht darauf hingewie-sen, dass bereits 500 000 Lernende an den Selbstlern-programmen des Deutschen Volkshochschul-Verbandesteilgenommen haben . Qualitativ gute Blended- und Mo-bile-Learning-Angebote bieten enorme Chancen, kosten-los, zeit-, orts- und lehrerunabhängig ohne Druck zu ler-nen . Als Lehrer kann ich nur bestätigen, dass das Gefühlpermanenter Beobachtung durch jemanden, der jedenFehler sieht, oftmals dazu führt, dass man gehemmt ist .Von daher ist das eine gute Idee. Deswegen, finde ich,können die Plattformen „www .ich-will-lernen .de“ und„www .ich-will-deutsch-lernen .de“ nicht oft genug posi-tiv erwähnt werden .
Weil die digitale Welt auch ein Bestandteil der Le-bensrealität von Menschen ist, die nicht ausreichendlesen und schreiben können, möchte ich die Bundesre-gierung bestärken, auf diesem Weg fortzuschreiten . DieEntwicklung einer App zum Deutschlernen für Flüchtlin-ge ist bereits angesprochen worden; über die Bildungs-maßnahmen in diesem Bereich diskutieren wir gleich .Das ist, finde ich, eine sehr gute Idee. Man kann durchausüberlegen, ob man einmal mit der Bundesagentur für Ar-beit darüber spricht, ob es möglich ist, diesen Ansatz aufdie Grundbildung auszuweiten . Wir sollten auch darübernachdenken, ob es sinnvoll ist, die Informationskampa-gne des Bundesbildungsministeriums über funktionalenAnalphabetismus, die bald startet, zu einem großen Teilim Internet und in sozialen Netzwerken durchzuführen .Auch ich möchte auf den präventiven Ansatz des Pro-jektes „Lesestart“ der Stiftung Lesen hinweisen .
Es ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Bund auch inder Schule helfen kann und dass Koordination und Ko-operation dort funktionieren bzw . funktionieren können .Der Parlamentarische Abend in dieser Woche hat auchnoch einmal verdeutlicht, welch hohe Sympathie diesesProjekt genießt .Da ich am Anfang über Fehler gesprochen habe,möchte ich nicht damit enden, dass ich hier die Redezeitüberziehe .
Vielmehr möchte ich mit einem weiteren Konfuzius-Zi-tat schließen, das auch passt, weil Sie, lieber Herr Mutlu,auch von Wegen gesprochen haben . Konfuzius sagt näm-lich: „Wenn du siehst, dass dein Ziel noch fern ist, dannfang an, dich auf den Weg zu machen .“ Meine Damenund Herren, CDU/CSU und SPD sind bereits auf demWeg .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen undden Linken, bleiben Sie jetzt nicht am Rand stehen undenthalten sich, sondern stimmen Sie unserem Antrag zu .Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit unduns morgen allen einen schönen 25 . Jahrestag der Deut-schen Einheit .
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Oliver Kaczmarek, SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das isteiner der seltenen Fälle, in denen wir über eine Anregungdes Parlaments reden, die die Regierung zwischen derersten und der zweiten Lesung des Antrags direkt schonin die Tat umsetzt .Wir finden es erst einmal gut, dass das jetzt Fahrt auf-genommen hat . Wir wollen als Parlament mit diesem An-trag aber auch deutlich machen: Wir wollen das Themajetzt nicht für zehn Jahre abgeben, sondern es aktiv mit-gestalten . Das zeigt auch die engagierte Debatte hier . Ge-meinsam – Parlament und Regierung – schaffen wir das .
Es ist aber auch wichtig, zum Schluss der Debatteeinen Blick auf die Frage zu werfen: Was wollen wireigentlich nach den zehn Jahren der Alphabetisierungs-dekade erreicht haben? Ich möchte gerne vier Anmer-kungen dazu machen .Erstens . Wir müssen besser machen, was in der Ver-gangenheit nicht geklappt hat . Die Vereinten Nationenhaben 2003 bis 2012 zur Weltalphabetisierungsdekadeaufgerufen mit dem Ziel, die Zahl der betroffenen Men-schen zu halbieren . Das Ergebnis war, dass weltweit dieZahl der betroffenen Menschen von 20 auf 17 Prozentgesunken ist . Das war gut, aber nicht ausreichend .Wir müssen aus dieser Weltalphabetisierungsdekadefür unsere nationale Dekade lernen . Wir brauchen rea-listische Ziele . Wir brauchen geeignete Instrumente . Wirbrauchen Personen, die vorangehen . Deswegen war esgut, dass die Ministerin gemeinsam mit der Kultusminis-terkonferenz den Impuls gesetzt hat . Und wir brauchenGeld . Ich will daran erinnern, dass Tony Blair in Großbri-tannien 3,6 Milliarden Euro für die Skills-for-Life-Stra-tegie mobilisiert hat . Das kann man mit unserer Summenicht vergleichen, weil wir hier nur über Bundesgeldreden; die Länder werden noch ein Vielfaches draufle-gen . An dieser Stelle wollen wir jedoch auch sagen: Die180 Millionen Euro, die die Ministerin in den Raum ge-stellt hat, finden wir gut, aber das kann nur eine Unter-grenze sein . Wir helfen gern mit, da noch mehr Geld zumobilisieren .
Sven Volmering
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12477
(C)
(D)
Zweite Anmerkung . So gut es ist, dass Bund und Län-der jetzt vorangegangen sind: Allein werden sie es nichtschaffen . Wir müssen in den nächsten zehn Jahren eintragfähiges Alpha-Netzwerk aufbauen . Wir brauchendie Kompetenz derjenigen, die sich teilweise schon seitJahrzehnten in der Alphabetisierungs- und Grundbil-dungsarbeit engagieren, sei es die Volkshochschule inmeiner Heimatstadt, die schon seit den 80er-Jahren Al-phabetisierungskurse anbietet, oder seien es die großenVerbände: der Deutsche Volkshochschul-Verband allenvoran, die Stiftung Lesen ist schon genannt worden, derBundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, umnur drei Beispiele zu nennen . Das sind diejenigen, die dieKurse durchführen . Sie beraten am Alpha-Telefon, stel-len die Unterrichtsmaterialien zusammen und qualifizie-ren die Kursleiter . Die Einbeziehung der Akteure der Al-phabetisierungs- und Grundbildungsarbeit in die Dekadeist daher auch eine Frage der Wertschätzung der Arbeit,die dort teilweise schon seit Jahrzehnten geleistet wird .
Ich habe eine Bitte: Lassen Sie uns auch die lokalenNetzwerke, die sich in letzter Zeit gebildet haben, imBlick behalten . Die regionalen Grundbildungszentrensind sicherlich ein guter Ansatz; das ist hier schon the-matisiert worden .Vor Ort, in den Städten, können wir weitere Akteurean den Tisch holen, die wichtig sind: die Schulen, dieJobcenter, die lokale Wirtschaft, die Stadtverwaltung undviele andere mehr . Direkte Hilfe vor Ort zu organisieren,das könnte auch ein Erfolgsrezept dieser Dekade sein .Deswegen lassen Sie uns auch die Vor-Ort-Ebene imBlick behalten .Dritte Anmerkung . Was wollen wir in zehn Jahren er-reicht haben? Wir wollen in zehn Jahren mehr über An-alphabetismus und seine Ursachen wissen . Viele stehenimmer noch ratlos vor dem Phänomen und fragen sich:Wie ist das eigentlich möglich – 7,5 Millionen betrof-fene Menschen in Deutschland trotz Schulpflicht, trotzErwerbstätigkeit, trotz Muttersprache Deutsch? Und wiekönnen sie das eigentlich in unserem schriftgeprägtenAlltag verheimlichen?Die Wahrheit ist: Wir wissen etwas über das Aus-maß des funktionalen Analphabetismus, aber wir wissenherzlich wenig über die Ursachen und die Wechselwir-kungen des Analphabetismus . Deswegen ist es gut, dassdie „leo .“-Studie – sie ist hier mehrfach genannt wor-den – fortgesetzt wird . Wir brauchen in diesem Bereichkontinuierliche und gut ausgestattete Forschung . Die„leo .“-Studie ist ein Teil davon . Wir wollen, dass da inden nächsten Jahren noch mehr passiert .
In dem Zusammenhang möchte ich neben der For-schung und den anderen Akteuren auch die Menschenbenennen, die sich in den letzten Jahren getraut haben,als Betroffene an die Öffentlichkeit zu gehen und zu zei-gen, wie sie gelebt haben . Wir haben von denjenigen, diesich getraut haben, als Botschafter und Lernende an dieÖffentlichkeit zu gehen, viel gelernt . Herzlichen Dankdafür, und Respekt vor dem Mut!
Vierte Anmerkung . Wir wollen in diesen zehn Jah-ren erreichen, dass kein Analphabet mehr am Rande derGesellschaft steht; wir wollen, dass ihm oder ihr gehol-fen wird . Wir wollen Menschen ermutigen, Lesen undSchreiben zu lernen . Das ist oft ein langwieriger Prozess .Dabei reicht es nicht aus, einen Kurs zu besuchen . Esbraucht Anreize, sich der Herausforderung zu stellen undzu erkennen, dass man mit dem Problem des Analphabe-tismus nicht allein ist .Aber es braucht auch – Frau Kollegin Schieder hatdarauf hingewiesen – einen Anreiz, zu erkennen, woein Mitmensch von Analphabetismus betroffen ist . Wirbrauchen mehr ausgestreckte Hände: in der Familie, imBetrieb, in den Verwaltungen oder anderswo . Dabei sinddie Öffentlichkeitskampagnen, die dort gestartet werden,besonders wichtig . Es geht nicht um eine Werbekampa-gne . Die Kampagne soll diejenigen erreichen, die einenKurs besuchen wollen, wie auch diejenigen, die erken-nen, dass jemand ihre Hilfe braucht . Deswegen ist auchdas ein ganz besonders wichtiger Teil .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss . Wir haben viele gute Ziele in unseren Antragaufgenommen . Wir werden die Dekade als Parlament be-gleiten . Ich bin zuversichtlich, dass wir einen wichtigenFortschritt dabei erzielen, dass wir die Menschen unter-stützen, Lesen und Schreiben zu lernen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Mit dem Beitrag von Herrn Kaczmarekist die Aussprache beendet .Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antragder Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel„Zugang und Teilhabe ermöglichen – Die Dekade für Al-phabetisierung in Deutschland umsetzen“, der, wie Siealle gehört haben, auch in einfacher Sprache vorliegt unddamit auch für uns im Bundestag beispielhaft ist auf demWeg zu einem barrierefreien Parlament .
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/6179, den Antrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/5090anzunehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/Oliver Kaczmarek
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512478
(C)
(D)
CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linkeund Bündnis 90/Die Grünen angenommen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDDie Alpen – Vielfalt in Europa – Ziele der Al-penkonvention voranbringen und nachhaltiggestaltenDrucksache 18/6187Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusTressel, Dr. Anton Hofreiter, Steffi Lemke, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENTourismusprotokoll der Alpenkonvention um-setzen – Wintertourismus nachhaltig gestaltenDrucksache 18/4816Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe beiIhnen keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich bitte Sie jetzt alle, die Plätze einzunehmen . – Danneröffne ich die Aussprache . Das Wort hat der KollegeDr . Hans-Joachim Schabedoth, SPD .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Als Hannibal 218 vor Christus mit großemHeer und vielen Elefanten über die Alpen zog, hat dasden Alpen wohl weniger geschadet als den Elefanten . DieVerkehrsströme von heute wirken sicherlich deutlich be-lastender . Deshalb sind die Alpen auf schützende Regelnangewiesen . Denn die Alpen sind eine Schatztruhe fürEuropa, in vielerlei Hinsicht einzigartig und von existen-zieller Bedeutung . Sie sind Erholungs-, Wirtschafts- undLebensraum . Sie zeigen atemberaubende Landschaften .Die Gletscher, Seen und Schneefelder halten wichtigeSüßwasserreserven für große Teile Europas . Die Berg-wälder schützen vor Erosion, Lawinen und Hochwas-ser . Insgesamt leben in den Alpen rund 30 000 Tier- und13 000 Pflanzenarten. Einige davon sind nach der RotenListe gefährdet, und leider nicht nur Edelweiß und En-zian .Der Reichtum der Alpen ist allerdings auch ein Ma-gnet der Wünsche . Eine Vielzahl von Interessen triffthier aufeinander . Knapp 14 Millionen Menschen lebenin den Alpen . In der Alpenregion mit Voralpenland leben70 Millionen . Alle wollen hier irgendwie gut leben undwirtschaften, ihren Traditionen nachgehen und möglichstauch den kommenden Generationen ein Naturerbe hin-terlassen . Mindestens 100 Millionen Menschen suchenjährlich in den Alpen Erholung und Vergnügen beimSkifahren, Klettern, Radfahren, Wandern, Gleitschirm-fliegen und beim Golfen. Die Vielzahl der Interessen,die hier aufeinandertreffen, zeigt sich in der Dichte derInitiativen, Vereine, Verbände, Projekte und Programmeüber die Nutzung, den Schutz und den Erhalt der Alpen .Mittlerweile gibt es vier makroregionale Strategiender EU für den Alpenraum . Die älteste der europäischenAlpenstrategien ist die Alpenkonvention . Auf sie beziehtsich unser Antrag . Was ist die Alpenkonvention? Sie istein regionales politisches Programm, ein völkerrechtli-cher Vertrag, mit dem sich die Alpenstaaten verpflichten,ihr Handeln im Alpenraum grenzüberschreitend zu koor-dinieren . Ziel ist, den Lebens- und Wirtschaftsraum imEinklang mit den natürlichen, ökologischen und sozialenAnforderungen zu gestalten . Dabei sollen die Interessender Alpenstaaten, der alpinen Regionen, der EU, der Zi-vilgesellschaft und der alpinen Netzwerke aufgenommenund berücksichtigt werden .Mitglieder der Alpenkonvention sind die EU und dieacht Alpenstaaten . Wer jetzt beim Aufzählen nur auf Ös-terreich, Deutschland, Italien, die Schweiz und Frank-reich kommt, der hat Slowenien, Liechtenstein und Mo-naco vergessen .Die Alpenkonvention besteht aus einer Rahmenkon-vention sowie ihren Durchführungsprotokollen und De-klarationen. Die Rahmenkonvention definiert über zwölfThemenfelder die allgemeinen Maßnahmen und Grund-sätze, nach denen die Alpenstaaten gemeinsam agierenwollen . Durchführungsprotokolle gibt es zu acht Facht-hemen: Raumplanung und nachhaltige Entwicklung,Naturschutz und Landschaftspflege, Berglandwirtschaft,Bergwald, Tourismus, Energie, Bodenpflege und Ver-kehr .Was ist aber das Besondere an der Alpenkonvention?Sie ist eine von unten gewachsene Organisation, eine so-genannte Bottom-up-Institution, entstanden auf Initiativeder Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA . Siebezieht ihren Anwendungsbereich auf ein klar definiertesregionales Gebiet . Die Ziele sind zwischen den Alpen-staaten abgestimmt und bilden die Grundlage für alpen-weit integrative und nachhaltige Strategien . Hervorhebenwill ich deshalb diesen ganzheitlichen Ansatz . SowohlSchutzbedürfnisse als auch Wertschöpfungsinteressenim Alpenraum werden aufgenommen und in Einklanggebracht .
Die Alpenkonvention verfügt über ein bewährtes Meh-rebenen-Steuerungssystem . Sie verbindet die europäi-sche, die nationale und die kommunale Ebene . Das Ge-samtkonzept der Alpenkonvention ist äußerst ehrgeizig,wie Sie daran erkennen können . Es hat VorbildcharakterVizepräsidentin Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12479
(C)
(D)
für andere Gebirgsregionen der Welt . In den Karpaten istinzwischen eine Schwesterkonvention entstanden, dieKarpatenkonvention . Die westlichen Balkanstaaten ha-ben 2010 eine Erklärung unterzeichnet, die den Weg füreine künftige internationale Rechtsvereinigung – ähnlichder Alpenkonvention – bereiten soll . Auch im Kaukasus,in Zentralasien und sogar in den südamerikanischen An-denstaaten gibt es Überlegungen, die Gestaltung von Po-litiken für Bergregionen in einer gemeinsamen Strategieüber die jeweiligen Ländergrenzen hinaus zu koordinie-ren .
Die Bundesrepublik hat im November 2014 von Itali-en – ich glaube, darauf sind wir alle stolz – den Vorsitzder Alpenkonvention übernommen und gibt diesen Vor-sitz im November 2016 an Österreich weiter . Die deut-sche Haltung ist dabei nicht: Jetzt haben wir den Vorsitzund bringen das irgendwie mit Anstand hinter uns . – Wirwollen den Vorsitz nutzen, um unter dem Motto „Die Al-pen – Vielfalt in Europa“ Schrittmacherdienste zu leis-ten . „Vielfalt“ steht hier für die Vielfalt der Kulturen derAlpenstaaten, für die biologische Vielfalt der Bergregi-on, für die Einbindung in europäische Verkehrsströme,für die Infrastrukturentwicklung und die Einbindung indie Entwicklung einer europäischen makroregionalenStrategie .
Die Bundesrepublik hat den Ehrgeiz, gemeinsam mit derBayerischen Staatsregierung die Ziele der Alpenkonven-tion maßgeblich und beispielhaft voranzubringen .Bis 2016 hat sich der deutsche Vorsitz eine Vielzahlan Projekten vorgenommen . Ich nenne hier die Themen-felder Biodiversität, nachhaltiger Tourismus, Transportund Mobilität, Bodenschutz, Berglandwirtschaft, Berg-wald, Raumplanung, Wasserwirtschaft . Und eine digitaleAgenda gibt es auch . Aus der Fülle der Beispiele will ichnur wenige hervorheben:Bad Hindelang arbeitet derzeit an einer Digitalisie-rung seines gesamten Tourismusangebots . Es gibt bereitseine virtuelle Pistenabfahrt und eine Gästekarte, mit deröffentlicher Nahverkehr, Bergbahnen und verschiedeneFreizeitangebote genutzt werden können . Das Projekt„Digitales Bad Hindelang“ ist ein Gewinner des Wettbe-werbs „Zukunftsstadt 2030+“ und wird bereits im aktuel-len Bundeshaushalt verdientermaßen gefördert .Ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Crossing Bor-ders“, ein transnationales Projekt mit Italien und Öster-reich . Es soll die Elektromobilität im Alpenraum fördern .Zum Ausbau der digitalen Infrastruktur wird unterdem deutschen Vorsitz erstmals ein Erfahrungsaustauschzwischen den Vertretern der Alpenstaaten angeregt . Da-bei will man die Möglichkeiten für einen flächendecken-den und grenzüberschreitenden Ausbau von schnellemInternet und Funkdiensten identifizieren und dann koor-dinieren .Allen Projekten gemeinsam ist der Grundgedanke,im Einklang mit den Grundsätzen der Alpenkonventionund orientiert an den Bedürfnissen der Menschen vor Ortmusterhafte Lösungen für einen nachhaltigen und res-sourcenschonenden Tourismus zu entwickeln .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen mit un-serem Antrag das höchst ambitionierte Programm derBundesregierung im Vorsitz der Alpenkonvention un-terstützen . Wir greifen das Konzept der Vielfalt auf . Wirverstehen auch den Tourismus als Querschnittsthema, dasin viele Ressorts hineinwirkt: Wirtschaft und Umwelt,Verkehr, Arbeit und Soziales, Ernährung und Landwirt-schaft, Sport, Europa-, Länder- und Kommunalpolitik .Nun liegt ein zweiter Antrag, nämlich von den Grü-nen, vor . Er enthält auch gute Ansätze .
– Das erwarten wir auch von Ihnen . – Doch wie schonein rascher Vergleich belegt, ist unser Ansatz doch etwasumfassender und weiterführender .
Der grüne Antrag verengt die Thematik auf innovativeTourismuskonzepte, zu sehr konzentriert auf den Winter-tourismus . Wenn Sie unseren Antrag noch einmal etwassorgfältiger lesen, werden Sie sehen: Wir verknüpfendie Anliegen des nachhaltigen Tourismus mit der Fülleder eben genannten sonstigen Herausforderungen . DieInteressen der Bewohner des Alpenraums, der Zivilge-sellschaft und der alpinen NGOs werden mit berücksich-tigt . Wir heben die sozioökonomische Bedeutung des Al-pentourismus hervor, beziehen uns auf die Lebens- undArbeitsbedingungen der ansässigen Bevölkerung und aufdie ländlichen Siedlungsstrukturen .Für den Tourismus geht es uns um die Entwicklungeines ausgewogenen ganzjährigen Tourismusangebots,also nicht nur im Winter, um eine Balance zwischen denInteressen und der Lebensqualität der Ortsansässigen undeiner schonenden touristischen Nutzung . Wir legen sehrviel Wert darauf, die grenzüberschreitende Zusammenar-beit zu vertiefen, um ein kohärentes Gesamtkonzept fürden gesamten Alpenraum aufzustellen, Synergieeffektezu identifizieren und zu nutzen.Fazit: Die Alpenkonvention enthält eine Fülle etab-lierter Strukturen und Arbeitsweisen, die dem deutschenVorsitz beste Anknüpfungspunkte bieten, um den Le-bensraum Alpen für Natur und Mensch nachhaltig zusichern .Wir wollen ganz besonders dazu beitragen, dass wirnicht nur Nutzer, sondern auch Schützer der Alpen sind .Ich bitte um die Zustimmung zu unserem Antrag .
Vielen Dank . – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt dieKollegin Kerstin Kassner das Wort .
Dr. Hans-Joachim Schabedoth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512480
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für mich hat dieses Thema – zumal am Vorabend des
25 . Geburtstages – die Dimension der deutschen Ein-
heit . In den 90er-Jahren – Sie werden sich vielleicht er-
innern – gab es die Fernsehserie Ein Bayer auf Rügen .
Jetzt spricht eine Rüganerin über die Alpen in Bayern .
Allerdings gehören die Alpen ja nicht nur zu Deutsch-
land, sondern, wie wir gerade von Herrn Dr . Schabedoth
gehört haben, zu vielen Ländern . Deshalb ist das eine
spannende Aufgabe .
Nun kenne ich mich, ehrlich gesagt, in den Alpen nicht
so gut aus . Ich habe noch nicht so oft Gelegenheit gehabt,
dort Urlaub zu machen oder mich über das Thema noch
weitgehender zu informieren . Allerdings habe ich beim
Studium der beiden Anträge, aber auch der Konvention
an sich erfahren, dass die Problematiken, die wir Rüga-
ner oder Bewohner von Küstenländern haben, mit denen
der Bewohner der Alpen vergleichbar sind: Überall dort,
wo es sehr viele Touristen gibt und wo der Tourismus die
stärkste Wirtschaftskraft ist, gibt es ähnliche Probleme .
Man muss eben die Herausforderungen, die die weltwei-
te Klimaerwärmung mit sich bringt, anpacken und Stra-
tegien entwickeln, wie man damit umgeht .
Uns bereitet die ansteigende Meeresoberfläche Pro‑
bleme . In den Alpen ist es der auftauende Permafrostbo-
den, der nur noch am Gipfel der Alpen fest vereist ist . In-
zwischen beginnt dieser Permafrostboden schon 150 bis
200 Meter höher, also die Fläche, die lange genug über
ausreichend Schnee verfügt . Das stellt viele vor große
Herausforderungen .
Man muss auch sagen: Das hat noch weitere Folgen .
Durch das Abschmelzen werden die Berge auch brüchi-
ger . Man muss in dieser Gegend mit Schlammlawinen
und Steinschlag rechnen . All das macht das Leben dort
nicht leichter . Deshalb suchen wir gemeinsam nach Stra-
tegien, wie man aus dieser Situation herauskommt .
Ein Thema, das auch wir kennen, ist die Saisonverlän-
gerung . Dabei wird nicht nur auf eine Saison gesetzt, hier
die Wintersaison, sondern auch auf eine andere Saison,
also hier die Sommersaison; bei uns ist das genau um-
gekehrt . Man reagiert mit vielfältigen Angeboten, etwa
durch die Schaffung von zusätzlichen Wandermöglich-
keiten und anderen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung,
die man den Gästen offeriert, also nicht nur das Skifah-
ren . Weitere Möglichkeiten sind verkehrliche Angebote,
indem man tatsächlich Alternativen schafft . Ich nenne
hier nur das Stichwort „Elektrofahrzeuge“ .
Eine ganz wichtige Sache – das möchte ich sogar an
den ersten Punkt der Liste stellen – ist, dass man die
Menschen mitnimmt, dass man den Menschen von An-
fang an darlegt, was das Besondere in der Region ist und
wie wichtig und erhaltenswert sie ist . Natürlich muss
auch das, was vorhanden ist, miteinander verknüpft wer-
den, also Alpen und Landwirtschaft – das kennen wir –,
aber auch gesunder Raum mit Flora und Fauna . Damit
kann man eine ganze Menge an zusätzlichen Angeboten
entwickeln .
Eines aber sage ich ganz bewusst: Das Berieseln der
Hänge mit Schneekanonen ist wahrscheinlich nicht der
richtige Weg . Er bringt vielleicht kurzfristig Erfolg, aber
auf lange Sicht ist das nicht die Lösung für die Probleme
in den Alpen; das muss man ganz deutlich sagen .
Ich habe gerade auf einer Website etwas über ein Ski-
gebiet zwischen Bayrischzell und Brandenburg gelesen;
Frau Ludwig wird dazu bestimmt etwas sagen .
In einem Winter werden dort 430 000 Kilowatt Strom
benötigt, um dieses Skigebiet mit Schnee zu versorgen .
Weiterhin wird da ein CO
2
-Ausstoß von 79 Tonnen pro
Jahr angegeben und dieser Wert – jetzt hören Sie einmal
genau hin – mit dem Ausstoß eines Diesel-Pkw vergli-
chen . Wir wollen einmal ehrlich sein: So richtig glauben
wir dem alle nicht . Deshalb sage ich: Andere Strategien,
wie ich sie vorhin nannte, die soziokulturelle und ver-
kehrliche Alternativen umfassen, sind der deutlich besse-
re Weg, um aus dieser Situation herauszukommen .
Ich wünsche dem deutschen Vorsitz wirklich gute Er-
gebnisse . Bei der XIV . Alpenkonferenz, die am 13 . Okto-
ber 2016 stattfinden wird, soll ja ein Handbuch mit dem
Titel 10 Jahre ökologische Konnektivität in den Alpen
vorgelegt werden . Ich bin sehr gespannt auf die Ergeb-
nisse, die uns beispielsweise die Raumordner dort vorle-
gen . Denn ich bin mir sicher: Das, was wir dort erfahren,
wird nicht nur für die Alpen Modellcharakter haben, son-
dern auch für uns .
An die Kollegen der Großen Koalition habe ich eine
Bitte: Sie haben einen Antrag vorbereitet, der viel ent-
hält . Vielleicht gelingt es Ihnen, die 500 000 Euro, die
wir für den Titel „Leistungssteigerung im Tourismusge-
werbe“ verlieren, wiederzubekommen, beispielsweise
für innovative Vorhaben in der Alpenregion . Ich würde
mich darüber sehr freuen, auch als Rüganerin .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächste hat Daniela Ludwig,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Kassner, ich darf mir Ihre letzte Aufforderungpersönlich und ganz wörtlich ins Stammbuch schreiben .Ich habe schon am vergangenen Mittwoch im Ausschuss
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12481
(C)
(D)
genau das gleiche Anliegen formuliert . Wir sind jetzt ge-rade dabei, dies auch unseren Haushältern näherzubrin-gen . DZT-Mittel sind schön und gut, aber wir brauchenauch weiterhin eine Förderung innovativer Projekte von-seiten des Bundes . Da können wir diese 500 000 Eurosehr gut gebrauchen .
Dafür werden wir uns einsetzen . Wenn Sie uns dabei un-terstützen, freut uns das natürlich umso mehr .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist auch2015 das geblieben, was es bereits in den vergangenenJahren war: eines der attraktivsten Reiseziele der Welt .Allein im ersten Halbjahr 2015 konnten wir die Zahl derÜbernachtungen von in- und ausländischen Gästen beiuns im Land um 3 Prozent steigern . Wir dachten schon,2014 sei ein Rekordjahr . Das Ergebnis von 2015 wird dasvon 2014 definitiv noch toppen. Das liegt sicherlich nichtnur daran – das wissen wir alle –, dass wir in Deutschlandeine breite Palette touristischer Angebote haben, sonderndas liegt insbesondere auch daran, dass uns der Erhalt un-serer Landschaft, und zwar von Rügen bis zu den Alpen,wie auch der biologischen Vielfalt sehr am Herzen liegtund wir sie trotz Tourismus weiter aufrechterhalten wol-len . Insofern ist es ganz besonders schön – das ist auchder Anlass unseres Antrages –, dass die Bundesrepublik,namentlich die Bundesregierung, derzeit den Vorsitz derAlpenkonvention hat . Das Motto ihres Programms ist„Die Alpen – Vielfalt in Europa“ . Besonderes Augen-merk wird der deutsche Vorsitz auf eine Politik des „Grü-nen Wirtschaftens im Alpenraum“ richten . Ich glaube, dasind wir schon sehr nah beieinander .Es sind viele Ziele formuliert worden . Ich möchtemich auf einige wenige konzentrieren .Zum einen müssen wir uns die Verkehrsströme im Al-penraum sehr genau anschauen . Sehr viele touristischeOrte erreicht man am Ende des Tages eigentlich nur mitdem Pkw, weil die Bahn vielleicht nicht ins letzte Ber-gdorf fährt, das aber ein ordentliches touristisches An-gebot vorhalten kann . Das heißt, wir müssen die Alpenals sensiblen Lebensraum dringend vom Pkw-Verkehrentlasten und deutlich mehr Augenmerk auf den öffentli-chen Personennahverkehr, aber eben auch auf den Schie-nenfernverkehr legen .
Das können wir auch schaffen . Die Alpen bieten unsnämlich praktischerweise etwas an, was wir sonst seltenfinden: Die touristische Infrastruktur konzentriert sichauf ein paar wenige Regionen . 46 Prozent der Beherber-gungsbetriebe befinden sich in 5 Prozent der Alpenge-meinden . Das heißt, wenn wir uns darauf konzentrieren,diese Gemeinden ordentlich an den Schienenverkehr an-zubinden, muss das keine Vision bleiben, sondern kanntatsächlich Wirklichkeit werden .Einiges ist dazu in der Vergangenheit bereits getanworden . Frau Kassner, Sie hatten es angesprochen: 2012wurde schon das Projekt AlpInfoNet unter Federführungdes Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft insLeben gerufen . Das ist keine neue Informationsplatt-form, sondern sie führt vielmehr alle Informationssys-teme aus den Bereichen Tourismus und Verkehr zusam-men, sodass sich jeder, der in die Alpen reisen will, sehrkonzentriert informieren kann, wie er sich dort am bestenfortbewegt . Das sollten wir ausbauen . Deswegen unter-stützen wir mit unserem Antrag die Bundesregierung indiesem Bemühen .Wichtig ist natürlich, dass wir eine weitere Touris-mussteigerung in den Alpen erwarten können . Man gehtdavon aus, dass sich der Tourismus in den Alpen bis zumJahr 2030 noch um weitere 30 Prozent steigern lassenwird . Umso wichtiger ist es, dass wir uns auch mit demCO2-Ausstoß in diesem sensiblen Lebensraum stärkerbefassen; denn die Emissionen nehmen demgemäß vonJahr zu Jahr zu . Daher müssen wir den Aktionsplan fürdie Alpen, den es bereits gibt, auch an dieser Stelle sehrernst nehmen; denn, wie zu Anfang schon gesagt, Tou-rismus bei uns funktioniert nur deshalb so gut, weil wirihn immer zusammen mit dem Erhalt unserer Landschaftbetrachten . Es bedarf also einer starken Unterstützungdes Aktionsplans, der unter anderem sagt: Wir müssendie Baubeschränkungen in Gletschergebieten und in sen-siblen Naturräumen sehr ernst nehmen . Wir müssen denVerkehr besser bündeln . Renovierung von touristischenBetrieben muss vor ständigen Neubauten gehen . Dassind, glaube ich, Kernpunkte, die wir alle unterstützenkönnen .Wichtig ist ferner, dass wir, auch wenn ein Gebiet zueinem großen Teil von Erholung und Tourismus lebt, dieeinheimische Bevölkerung nicht vergessen und sie mit-nehmen . Ich denke, dass das in Zukunft im Prinzip fürfast jeden touristischen Ort gelten muss, wenn wir vonnachhaltigem Tourismus sprechen und nicht nur vonkurzlebigen Aktionen, die da vor Ort stattfinden.Natürlich bringt der Tourismus oftmals Probleme mitsich bringt . Die Debatten, die wir zurzeit führen über dieZulässigkeit von Ferienwohnungen in Wohngebieten unddergleichen mehr, können wir selbstverständlich eins zueins auf die Alpen übertragen . Die touristischen Zielein den Alpen haben die gleichen Probleme wie wir: de-mografische Entwicklung, Umweltbelastungen, zu vielZuzug von Neubürgern und zu viel Wegzug von Leuten,die dort aufgewachsen sind und mal gedacht haben, siekönnten sich dort ihre Zukunft aufbauen . Auch hier mussman schauen, dass man die Interessen der Fremdenver-kehrswirtschaft langfristig mit den Interessen der einhei-mischen Bevölkerung zusammenbringt .Wir unterstützen ganz ausdrücklich das Netzwerk dersogenannten Bergsteigerdörfer – ich finde, das ist eineganz tolle Initiative –, wir haben es in unserem Antragexplizit erwähnt . Es werden mit nationalen und EU-Mit-teln beispielsweise Südtiroler Dörfer gefördert, die eineganz besondere Infrastruktur für Bergsteiger ausgebauthaben . Dies geschieht nicht auf Kosten der Natur, weildamit letztlich nicht zu viel Bautätigkeit verbunden ist .Es soll bei einer exzellenten Landschaftsqualität einBergsteigererlebnis auf ganz hohem Niveau angebotenwerden können . Ich glaube, dass das ganz wichtig ist .Das ist nur eine von vielen Initiativen, mit denen sich dieDaniela Ludwig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512482
(C)
(D)
Alpenkonvention beschäftigt und die in ihrem Rahmenrealisiert werden .Ich möchte noch eine nennen, die zeigt, wie wichtig esist, auch die Jugend nicht nur in Erhalt und Förderung derTourismuswirtschaft in den Alpen mit einzubinden, son-dern auch in Fragestellungen wie: Wie erhalten wir unse-re Berglandschaft? Wie erhalten wir dieses einzigartige,wahnsinnige Berggebilde, das uns in der Mitte Europasso auszeichnet?Das Akademische Gymnasium in Innsbruck hatte2006 die Idee, ein Jugendparlament ins Leben zu rufen .Dieses Jugendparlament begleitet sozusagen regelmäßigdie Alpenkonvention . Es soll den Jugendlichen, die inden Alpen leben, die Möglichkeit geben, sich unterein-ander auszutauschen: Wie ist die Perspektive? Was stelltihr euch vor? Was wünscht ihr euch? Wie können wir dieAlpen ganz besonders schützen?Das Karolinen-Gymnasium in meinem Wahlkreis, inRosenheim, beteiligt sich seit Jahren daran . Es ist wirk-lich eine tolle Sache, wenn man sieht, wie engagiert sichdie jungen Leute in diesem institutionalisierten Rahmenmit der Thematik auseinandersetzen .Insofern ist die Alpenkonvention eine tolle Sache . Esist schön, dass wir in diesem und im nächsten Jahr denVorsitz haben dürfen . Es zeigt sich natürlich auch: Qua-lität ist die Zukunft auch im Tourismus, nicht die Quan-tität. Ich finde, viele Touristiker, gerade im Alpenraum,machen dies in toller Weise vor . Der Tourismusausschusshat Südtirol besucht und konnte sich davon überzeugen,dass auch hier die Qualität an oberster Stelle steht undnicht unbedingt der Massentourismus . Ich glaube, dasswir hier gemeinsam noch viel erreichen können . Das istder Grund unseres Antrages .Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit unddarf um Ihre Zustimmung bitten .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Markus Tressel das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben jetzt schon viel über die Bedeutung der Tou-rismusbranche und auch über die Bedeutung der Alpengehört . Wir alle, die wir Tourismuspolitik betreiben, wis-sen, dass die Tourismusbranche vor allem von intakterNatur lebt .Die Alpen sind nicht nur eines der wertvollsten und ar-tenreichsten Ökosysteme, sondern auch ein touristischerHotspot in Europa, und wir wissen auch, dass sie nichtimmer die politische Aufmerksamkeit bekommen, diesie verdienen . Deshalb ist es wichtig und richtig, dass siemit dem deutschen Vorsitz in den Fokus rücken und dasswir diese Debatte im Deutschen Bundestag heute auchim Kontext eines der wichtigsten Wirtschaftszweige derAlpen, des Tourismus, führen .
Wichtig ist – deswegen diskutieren wir das heuteauch –, dass Deutschland mit dem Vorsitz die Verantwor-tung dafür trägt, Treiber und Vorreiter für eine nachhal-tige Entwicklung des Alpenraumes zu sein . Wir haben indieser Zeit des Vorsitzes die Chance, eine Zukunftsstrate-gie voranzutreiben, um die Alpen zu einem zukunftsfes-ten Urlaubsziel zu machen, sie ökologisch zu bewahrenund als Lebens- und Wirtschaftsraum zu erhalten und zuentwickeln .Wenn wir uns die Bilder der Alpen ansehen – im Fern-sehen, aber auch, wenn wir selber vor Ort sind – und da-bei einen Rückgang der Artenvielfalt und zerstörte Hän-ge erkennen, die nach immer milder werdenden Winternzum Vorschein kommen, dann wissen wir: Dagegen müs-sen wir etwas tun, und zwar grenzüberschreitend, aberauch national .Damit sich die Alpen als Reiseziel im Wettbewerberfolgreich behaupten können, müssen Politik und Un-ternehmen schnellstens auf die Klimakrise und die de-mografischen Veränderungen reagieren. Gerade beirückläufiger Schneesicherheit brauchen wir Alternativenzum Skitourismus, der die Wertschöpfung im Alpenraumerhält .Herr Kollege Schabedoth, der Wintertourismus belas-tet die Alpen am meisten – nicht der Sommertourismus .Deswegen haben wir in unserem Antrag auch einen Fo-kus darauf gelegt .
Der Tourismus muss seinen Beitrag leisten, um dieUmwelt und das Klima zu schützen und die Regiongleichzeitig attraktiver zu gestalten . Die Lösung heißthier „Innovation und unternehmerische Weiterentwick-lung“ . Es geht auch darum – das hat die Kollegin geradeja auch gesagt –, die Menschen in der Region zu halten,sodass wir die Fachkräftebedarfe vor Ort decken können .Deswegen brauchen wir ein entsprechendes Konzept .Aus diesem Grunde müssen wir hier auch Bundesmit-tel einsetzen, um zum Beispiel einen Forschungsschwer-punkt zum Thema „Innovationsprozesse im Tourismusam Beispiel des Alpenraumes“ zu finanzieren, dessenErgebnisse am Ende auch für die Mittelgebirgsregionennutzbar wären . Da muss jetzt investiert werden – auchaußerhalb der klassischen Genres der vergangenen Jahr-zehnte .
Wichtig ist auch, dass wir die Alpen zur Klimamo-dellregion entwickeln müssen . Das bedeutet auch Ver-besserungen im Verkehrsbereich – das ist angesprochenworden –: Wie komme ich dahin? Wie bewege ich michvor Ort? Daneben müssen wir auch sehr intensiv über dieEnergieeffizienz und den Flächenverbrauch diskutieren.Daniela Ludwig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12483
(C)
(D)
Hier spielt die E-Mobilität sicher eine Rolle, aber auchandere Themen sind hier wichtig .Wie sieht das in der Praxis aus? Die Kollegin Kassnerhat das Skigebiet Sudelfeld mit dem, ich glaube, mitt-lerweile größten Speicherteich der Bundesrepublik ange-sprochen . Angesichts der Klimakrise waren die Anschaf-fung von 250 neuen Schneekanonen und die weiterenMaßnahmen dort kein Weg, der weiter gangbar sein wird .Dort sind über 3 Millionen Euro deutsches Steuergeld ineine Technik investiert worden, die eben nicht zukunft-strächtig ist . Ich glaube, das Geld wäre in der Forschungfür zukunftsträchtige touristische Produkte und derenFörderung besser angelegt gewesen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, die Protokolleder Alpenkonvention müssen schnellstmöglich umge-setzt und zum besseren Schutz der alpinen Arten- undÖkosystemvielfalt weiterentwickelt werden . Dazu habenwir jetzt die Chance . Diese sollten wir nutzen .Bereits bestehende Förderprogramme müssen dar-aufhin überprüft werden, ob ihre Auswirkungen mit denZielen der Alpenkonvention in Einklang stehen . Hiermuss die Bundesregierung verstärkt auf die großen Zu-sammenhänge achten . Wir müssen das Know-how gren-züberschreitend bündeln und gucken, was wir hier gren-züberschreitend noch mehr tun können – insbesondereim Hinblick auf die Klimakrise .
An dieser Stelle will ich festhalten, dass Ihre For-derungen durchaus in die richtige Richtung gehen . Ichglaube auch, dass wir im Grunde genommen nicht weitvoneinander entfernt sind, liebe Frau Kollegin Ludwig .Ich habe mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, dassSie eben, als die Kollegin das Sudelfeld angesprochenhat, geklatscht haben . Wenn Sie das vor Ort als CSUdann auch einmal umsetzen würden, dann könnten wiralle ganz froh sein .
An dieser Stelle muss ich aber auch deutlich sagen:Es ist bedauerlich, dass wir es bei einem so wichtigenThema nicht geschafft haben, heute hier einen gemeinsa-men Antrag vorzulegen . Die Initiative dazu gab es ja . Ichglaube, das wäre ein Signal der Geschlossenheit und da-für gewesen, dass wir den Alpenschutz ernst nehmen undgemeinsam voranbringen wollen . Ich glaube, die Alpenund auch die Branche würden es uns danken, wenn wirda einen gemeinsamen Weg finden für die restliche Zeitdes deutschen Vorsitzes .Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Und ich danke Ihnen . – Jetzt erhält die Kollegin Heike
Brehmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir beraten heute den Antrag der Koalitions-fraktionen und den Antrag von Bündnis 90/Die Grünenzur nachhaltigen Gestaltung der Alpenkonvention . DerAlpenraum – wir haben es heute schon mehrfach ge-hört – ist landschaftlich einzigartig und eines der wich-tigsten Erholungsgebiete Europas .120 Millionen Touristen nutzen die Alpen jedes Jahrzur Erholung sowie für Sport- und Freizeitaktivitäten .Unsere Gäste schätzen besonders den direkten Zugangzur Natur, die beeindruckenden Landschaften und dasbreite Spektrum touristischer Angebote . Der Erfolg derAlpen als eine der führenden Destinationen auf deminternationalen Touristikmarkt ist maßgeblich auf ihreVielfalt zurückzuführen . Die breite Palette regionalerRessourcen und das kulturelle Erbe erfüllen zu jeder Zeitdie Erwartungen der Gäste .Der Tourismus boomt, nicht nur in den Alpen, son-dern in allen Regionen unseres Landes . Die Tourismus-branche ist einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren:2,9 Millionen Beschäftigte und rund 97 Milliarden EuroBruttowertschöpfung in Deutschland sind dafür der bes-te Beleg . Mit einem Marktanteil von rund 30 Prozent istund bleibt Deutschland das Lieblingsreiseland heimi-scher Landsleute . Diese Zahlen zeigen, dass Deutschlandin der ganzen Welt für seine Gastfreundschaft geschätztwird . Dieser Erfolg ist aber kein Selbstläufer . Er ist dasErgebnis von Fleiß und harter Arbeit . Deshalb möchteich den Beschäftigten der Branche, die täglich mit vielEngagement im Tourismus arbeiten, ein herzliches Dan-keschön aussprechen .
Dass der Deutschlandtourismus insgesamt boomt, da-ran haben die Alpen einen erheblichen Anteil . Sie sind ei-nes unserer wichtigsten Urlaubs- und Erholungsgebiete .Mit der Alpenkonvention haben sich acht Staaten und dieEuropäische Union verpflichtet, das einzigartige natürli-che und kulturelle Erbe der Alpen zu schützen und denTourismus nachhaltig zu gestalten .Der Antrag von CDU/CSU und SPD zur Alpenkon-vention ist daher ganz bewusst auf Nachhaltigkeit undden Schutz natürlicher Ressourcen ausgelegt . Wir wollenunser Handeln mit Blick auf die Lebensqualität nachfol-gender Generationen langfristig ausrichten . Mit der Al-penkonvention sind wir auf einem sehr guten Weg . Zuden wichtigsten Grundlagen des Tourismus zählen eineintakte Natur und Umwelt . Die Konvention legt Min-destanforderungen zum Bergtourismus fest und berück-sichtigt dabei wirtschaftliche, soziale und ökologischeAuswirkungen .Deutschland hat gemeinsam mit dem Freistaat Bayernim Dezember 2014 für zwei Jahre den Vorsitz der Alpen-Markus Tressel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512484
(C)
(D)
konvention übernommen . Wir wollen einen konkretenBeitrag zum Erhalt des landschaftlichen und kulturellenErbes der Alpenregion leisten . Dazu zählt der Abschlussdes Interreg-Projektes zum länderübergreifenden Aus-tausch von Verkehrs- und Tourismusdaten als Grund-lage für gemeinsame statistische Erhebungen . Es wirdzusätzlich eine Arbeitsgruppe „Nachhaltiger Tourismus“eingerichtet . Sie führt die Erkenntnisse aus dem ViertenAlpenzustandsbericht kontinuierlich fort .Wir arbeiten eng mit den Vertragsparteien, der Zivil-gesellschaft vor Ort und den alpinen Netzwerken zusam-men . Die Bundesregierung wird Vertreter der Alpenstaa-ten, der lokalen Wirtschaft sowie von Verbänden undPolitik zu einem Erfahrungsaustausch zusammenbrin-gen . Die Zusammenarbeit der Alpenstaaten ist für denTourismus bedeutender denn je; denn manche Chancenund Herausforderungen lassen sich in diesem Naturraumnur gemeinsam und grenzüberschreitend lösen .Beispielhaft nenne ich das Projekt „Crossing Bor-ders“ – wir haben es heute schon gehört – zur Förderungder Elektromobilität im Alpenraum und das Gemeinde-netzwerk „Allianz in den Alpen“ . Es setzt sich mit seinenProjekten für den Erhalt der Biodiversität und die Ver-marktung regionaler Produkte ein . Der deutsche Vorsitzhat für sein Programm den Titel „Die Alpen – Vielfalt inEuropa“ gewählt . Unser heutiger Antrag zeigt konkreteMöglichkeiten auf, unterschiedliche Interessen und An-sprüche mit dem Erhalt lokaler Landschaften und Tra-ditionen in Einklang zu bringen . Nachhaltiger Touris-mus erfordert ein konzertiertes Vorgehen auf nationaler,regionaler und lokaler Ebene . Hier ist das Land BayernVorbild . Mit seiner nachhaltigen Tourismusstrategie ge-hört Bayern zweifellos zu den Vorreitern der deutschenTourismuswirtschaft .Mit über 31 Milliarden Euro Bruttoumsatz und über84 Millionen Übernachtungen sichert die LeitökonomieTourismus das Einkommen von mehr als 560 000 Ein-wohnern im Freistaat . Der Ressourcenreichtum – beson-ders in den bayerischen Alpen – ist Verpflichtung, scho-nend damit umzugehen und ihn als Lebensgrundlage fürkünftige Generationen zu bewahren .
Der Erhalt von Natur und regionaler Identität hat auchaus tourismuspolitischer Sicht hohe Priorität . In denbayerischen Alpen gibt es eine Fülle erstklassiger Lö-sungsansätze für den nachhaltigen Tourismus, die unein-geschränkt zur Nachahmung empfohlen werden können .Nennen möchte ich zum Beispiel das Ökomodell Achen-tal zum grenzüberschreitenden Schutz lokaler Kultur-landschaften . Davon hat sich unser Tourismusausschussbei seiner Reise in das Berchtesgadener Land selbstüberzeugen können . So sind im Nationalpark Berchtes-gadener Land die Wanderwege barrierefrei ausgebaut .Die meisten Ziele sind mit öffentlichen Verkehrsmittelnohne eigenes Auto zu erreichen, und spezielle Wegeleit-konzepte schützen Flora und Fauna .Deutschland führt aus gutem Grund gemeinsam mitdem Freistaat Bayern den Vorsitz der Alpenkonvention .Die aktuellen Herausforderungen in den Alpenländernbetreffen den Ausbau nachhaltiger Tourismuskonzepte .So wollen wir beispielsweise im Rahmen der Alpenkon-vention die Verkehrsbelastung senken – das haben wirheute schon mehrmals gehört – und eine nachhaltige Ver-kehrspolitik umsetzen . Dazu gehört die bessere Erreich-barkeit von Tourismusdestinationen mit öffentlichen Ver-kehrsmitteln und die Förderung der Elektromobilität .Weiterhin wollen wir als CDU/CSU und SPD diebarrierefreie Erreichbarkeit touristischer Ziel verbessernund Best-Practice-Lösungen aus dem Bereich Barriere-freiheit bekannter machen .Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zurWeiterentwicklung der Alpenkonvention wird die Bun-desregierung eine Arbeitsgruppe einrichten, die einenMehrjahresentwurf unter den bereits genannten Gesichts-punkten erarbeitet . Weiterhin wird es in Zusammenarbeitmit der Bayerischen Staatsregierung im Juni 2016 eineKonferenz der Alpenstaaten zum Thema „NachhaltigerTourismus und Innovation im Alpenraum“ geben . DieKonferenz wird konkrete Politikempfehlungen für dieXIV . Alpenkonferenz erarbeiten . Weiterhin begrüßenwir, dass die Bundesregierung Vertreter der Alpenstaatenund der alpinen Regionen zu einem Erfahrungsaustauschzusammenbringen wird, um über Initiativen zum Thema„Digitale Netze und Mobilität“ zu beraten .Unser Antrag von CDU/CSU und SPD sieht weiter-hin vor, die Deutsche Zentrale für Tourismus als größteEinrichtung zur Vermarktung Deutschlands als Urlaubs-und Reiseland in die Beratungen der Fachkonferenzeneinzubeziehen . Unser Antrag enthält wichtige Ansätzezur sinnvollen Weiterentwicklung der Alpenkonvention .Dies gelingt uns nur in überlegter Zusammenarbeit mitden Alpenstaaten und den Bewohnern des Alpenraums .Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FraktionBündnis 90/Die Grünen, Ihren Antrag lehnen wir natür-lich ab, weil er die nachhaltige touristische Entwicklungdes Alpenraums zu oberflächlich behandelt und die Po-tenziale für die Weiterentwicklung des naturnahen Tou-rismus in den Alpen nicht ausreichend berücksichtigt .
Unser Antrag hingegen entwickelt den WirtschaftsfaktorTourismus weiter . Wir wollen die vorhandenen Wachs-tumspotenziale nutzen und langfristig sichern . Daran las-sen Sie uns gemeinsam arbeiten .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/6187 und 18/4816 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . –Heike Brehmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12485
(C)
(D)
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann ist es sobeschlossen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateWalter-Rosenheimer, Luise Amtsberg, ÖzcanMutlu, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZugang zu Bildung und Ausbildung für jungeFlüchtlinge sicherstellenDrucksache 18/6198Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung
InnenausschussAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleGohlke, Sigrid Hupach, Dr . Rosemarie Hein,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEGleicher Zugang zur Bildung auch für Ge-flüchteteDrucksache 18/6192Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung
InnenausschussHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe hierkeinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Wenn jetzt Frau Kollegin Hiller-Ohm und Herr Kol-lege Tressel Ihre Gespräche draußen fortsetzen würden,könnte ich die Aussprache eröffnen .Ich eröffne jetzt die Aussprache . Das Wort hat BeateWalter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Liebe Gäste! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wer in die-sen Tagen die flüchtlingspolitische Debatte verfolgt,bekommt nicht selten abenteuerliche und absurde Vor-schläge zu hören . Da will zum Beispiel eine CSU-Lan-desgruppenchefin Menschen abschieben, bevor sie über-haupt in Deutschland angekommen sind, da will einMinisterpräsident aus Sachsen-Anhalt Schutzsuchendebenutzen, um den Mindestlohn zu untergraben, und dawill ein Finanzminister aus Bayern Zäune zur Flücht-lingsabwehr an den deutschen Grenzen errichten .Solche Vorschläge, meine sehr geehrten Damen undHerren, widersprechen geltendem Recht,
vergiften das gesellschaftliche Klima und bringen in derSache rein gar nichts, sagen dafür aber einiges über dieMauern in den Köpfen derjenigen aus, die ganz offen-sichtlich Politik mit Polemik verwechseln .
Den Hasselfeldts, Haseloffs und Söders dieses Landesmöchte ich deshalb sagen: Lassen Sie diesen Unsinn!Hören Sie auf, Menschen in gute und schlechte Flücht-linge zu sortieren!
Leisten Sie stattdessen endlich einen Beitrag dazu, dasswir die großen Herausforderungen meistern!
Eine der großen, vielleicht sogar die größte Herausfor-derung bei der Integration von Flüchtlingen ist der offeneund schnelle Zugang zu Bildung und Ausbildung . Überdie Hälfte der Menschen, die bei uns Schutz suchen, diehierherkommen, um eine bessere Zukunft zu haben, diein diesen Wochen in Passau, München, Rosenheim undanderswo in der Republik ankommen, ist unter 25 Jah-re alt . Allein dieses Jahr wird es vermutlich eine halbeMillion junger Menschen sein . Es muss vor allen Dingenauch Ihnen, Frau Ministerin, ein Anliegen sein, dass die-se 500 000 jungen Menschen schnell und unbürokratischin Kitas, Schulen, Berufsschulen und Unis kommen .
Der Zugang zu Bildung ist ja keine kleine Fußnote ineiner allgemeinen Flüchtlingsagenda, sondern Bildung –davon sind wir überzeugt – ist der zentrale Dreh- und An-gelpunkt jeder gelungenen Asyl- und Integrationspolitik .Kitas, Schulen, Betriebe und Universitäten verschaffendiesen jungen Menschen nicht nur einen neuen Alltag,sondern geben ihnen auch Halt und Sicherheit . Ihr Be-such ist der erste und wichtigste Schritt im neuen Lebendieser jungen Menschen . Wer das nicht sieht, der will esnicht sehen oder weigert sich aus parteipolitischer Tak-tiererei, in der Realität des 21 . Jahrhunderts anzukom-men. Das muss man einfach, finde ich, so sehen.Länder, Kommunen und die vielen ehrenamtlichenHelfer, die wir überall haben, leisten heute schon Beacht-liches . Ihnen gelten unser Respekt und unser Dank . Siebemühen sich, den jungen Flüchtlingen einen Zugang zurBildung zu vermitteln, so gut es geht. Aber wir finden,dies sollte den Bund herausfordern, mehr Verantwortungzu übernehmen .
Auch die Bundesregierung muss sich endlich ihrer Ver-antwortung stellen . Das hören Sie heute nicht zum erstenMal – das weiß ich –, und Sie hören es auch nicht nurvon mir .Wenn ich feststellen muss, dass Ihnen als Bildungs-ministerin – verzeihen Sie bitte! – nicht mehr einfällt alseine Smartphone-App und Ihnen dann nur noch der Geis-Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512486
(C)
(D)
tesblitz kommt, auf noch mehr Ehrenamtliche zu setzen,dann sehe ich schwarz für die Zukunft .
Wenn ich mir einen kleinen Scherz erlauben darf: DassSie, Frau Ministerin Wanka, nicht mit Zahlen rechnen,wissen wir spätestens seit der heute-show; aber wennSie allen Ernstes glauben, fehlende Investitionen in Mil-liardenhöhe mit einem 130-Millionen-Euro-Programmwettmachen zu können, dann haben Sie sich dieses Malrichtig verrechnet .
Bildung – das sollten Sie als Bildungsministerin docham besten wissen – gibt es nicht zum Nulltarif . StattSmartphone-Apps und kleine Modellprojekte brauchenwir eine große Bildungsoffensive, die auch in der Flächewirkt . Das kostet Geld, das Sie, geehrte Frau Ministerin,offenbar nicht investieren wollen .Seit vielen Monaten drängt die Wirtschaft zum Bei-spiel auf ein sicheres Bleiberecht für Menschen in derBerufsausbildung . Hören Sie doch zur Abwechslungmal auf Ihre Freunde aus der Wirtschaft, und schaffenSie endlich eine rechtssichere Lösung, die diesen Namenauch verdient!
Das Gleiche gilt für den Zugang zu Unterstützungsan-geboten während der Ausbildung . Asylsuchende und Ge-duldete sind hier immer noch stark benachteiligt . Es istdoch einfach absurd, einen jungen motivierten Menschenin den ersten 15 Monaten von jeder dieser Hilfen aus-zuschließen, obwohl er vielleicht schon nach drei odersechs Monaten eine Ausbildung oder auch ein Studiumaufnehmen könnte .
Warum sperren Sie sich so gegen die Vorschläge vonArbeitgebern und Gewerkschaften? Geben Sie sich docheinen Ruck, und lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen,dass alle jungen Flüchtlinge in Deutschland vom erstenTag an unterstützt werden .
Wir dürfen in dieser Debatte eines nicht vergessen:Bildung ist nicht nur der Grundstein für ein selbstbe-stimmtes Leben . Teilhabe durch Bildung ist auch dersoziale Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält . Inunserem Antrag finden Sie ein paar sehr konkrete Vor-schläge, wie dieser Kitt gestärkt werden kann . Wir sindder Meinung: Eine Selbstlern-App – so gut sie als nied-rigschwelliges Angebot auch sein kann – wird hier defi-nitiv nicht ausreichen .
Vielen Dank . – Für die Bundesregierung erhält jetztFrau Bundesministerin Professor Dr . Johanna Wanka dasWort .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben eine sehr große humanitäre Aufgabe vor uns . Da-mit, dass Hunderttausende, vor allen Dingen viele jungeMenschen, deren Bildungsbiografien wir anerkennenmüssen, in unser Land kommen, müssen wir umgehen .Es ist natürlich allen klar, dass es in den Gesprächenzwischen Bundesregierung und Ministerpräsidenten jetztvor dem Winter um die akute Versorgung mit Wohnraum,mit Essen und Trinken geht; denn das ist im Moment dasakute Problem .
– Sehr schön .
Die eigentliche Aufgabe besteht aber darin, eine solchgroße Zahl junger Menschen zu integrieren .
Und Integration durch Bildung – da sind wir uns mit denAntragstellern der beiden Anträge, die heute vorliegen,einig –,
ist die effektivste Form . Deswegen ist das ganz wichtig .Wenn es gelingt, Integration so zu vollziehen, wie wirdas vorhaben, dann profitieren alle davon, und zwar nichtnur der Arbeitsmarkt, sondern das ganze Land . Das istfür mich deswegen eine sehr wichtige Aufgabe .Sie haben etwas völlig missverstanden .
Wir haben in meinem Haus überlegt: Was muss jetzt so-fort passieren? Wir beschäftigen uns nicht erst in Anträ-gen zum nächsten Haushalt mit der Frage: Wie kriegenwir das Geld, und was können wir stemmen? Ein großesProgramm, wie wir es planen, um viele Jugendliche inArbeit zu bringen, kostet sehr viel Geld . Wir werden da-rüber diskutieren müssen: Wird das mitgetragen? Ist dasmöglich? Ist das finanzierbar? Die 130 Millionen Eurofür die Integration junger Flüchtlinge legen wir aber so-fort auf den Tisch . Wir sagen nicht: „130 Millionen, dasist die Summe, die wir für Bildung brauchen“, und for-dern auch nicht nur das im Haushalt . Vielmehr bedarf eseiner großen Anstrengung im Haus . Deswegen verwahreich mich dagegen, dass behauptet wird, dass wir glauben,Beate Walter-Rosenheimer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12487
(C)
(D)
dass mit 130 Millionen Euro das Problem zu lösen sei .Nein, natürlich nicht!
Der Bereich Schule liegt natürlich in Länderhand . Siehaben doch mitbekommen, wie viele Milliarden wir letz-ten Donnerstag beschlossen haben, den Ländern für dieBewältigung der damit zusammenhängenden Aufgabenzu geben . Natürlich ist es klar, dass die Jugendlichen, dieschulpflichtig sind, jetzt Schulklassen besuchen müssen.Das ist eine große Aufgabe für die Länder . Das ist abernicht der Punkt, an dem wir als BMBF sofort aktiv wer-den können .Entscheidend sind also drei Punkte: Erwerb der deut-schen Sprache, Erkennen der Kompetenzen, also wasAusbildungen, was Qualifikationen hier in Deutschlandwert sind und was man damit machen kann, und natürlichIntegration in Ausbildung oder Beruf .Wenn Sie zustimmen, dass es von ganz zentraler Be-deutung ist, die Sprache zu lernen, würde ich mich anIhrer Stelle nicht lustig darüber machen, dass wir sagen:Wir wollen Hunderttausende junge Menschen, die sichjetzt als Flüchtlinge in Deutschland aufhalten, per Appüber ihre Smartphones erreichen . Damit haben sie ihreFlucht organisiert; da sind sie wunderbar vernetzt . Einniedrigschwelliges Angebot für jeden dieser Jugendli-chen, der schnell ins Deutsche einsteigen will, ohne dasser Kurse oder sonst etwas besucht, ist ein klasse Angebot .Und das kostet nicht einmal viel .
Frau Ministerin, der Kollege Mutlu möchte eine Zwi-
schenfrage stellen .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Nein . Hinterher gerne .
Hinterher geht nicht mehr . Jetzt oder nie .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Gut, okay, dann nicht .
Gut .Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Das heißt, es ist genau wie beim Programm Lesestart .Dieses Programm hat bei deutschen Kindern funktio-niert,
und wir haben zusammen mit der Stiftung Lesen denZugang zum ihm sofort auch Flüchtlingskindern ermög-licht .Den Einsatz von Lernbegleitern finden Sie nicht toll.Wissen Sie denn nicht, was in den Ländern los ist?
Haben Sie denn keine Ahnung davon, wie viele Leh-rer – ich denke da nicht nur an Deutsch-, sondern auchan andere Lehrer – für diese vielen Willkommensklassenfehlen?
Anscheinend haben Sie keine Ahnung davon . Es ist je-denfalls nicht unsere Aufgabe, diese Lehrer einzustellen .
Wir aber können zum Beispiel etwas machen, wasSie ebenfalls abgetan haben, nämlich Tausende vonMenschen in die Lage zu versetzen, dass sie jetzt sofortDeutsch als Alltagssprache vermitteln können . Da arbei-ten wir mit den Volkshochschulen zusammen . Ich spieleauf die Lernbegleiter an . Das heißt, Menschen, die sichengagieren wollen,
bekommen in der Volkshochschule eine Grundausbil-dung – es geht nicht darum, dass sie Lehrer für Deutschwerden –,
sodass sie in der Lage sind, einer arabischen oder einertürkischen Familie schnell und konsequent etwas klarzu-machen,
zum Beispiel, wie man sich in Deutschland bewegt, wasfür Vokabeln man im Gesundheitssystem braucht, wieman beim Einkaufen zurechtkommt . Das sind praktischeDinge . Sie zu vermitteln, das funktioniert nicht mit An-weisungen von oben, etwa von Lehrern, sondern es mussin der Fläche vermittelt werden . Deswegen ist die Idee,Lernbegleiter auszubilden, richtig gut . Die Volkshoch-schulen sind, Herr Rossmann, ein breites Netz, das beste,das wir haben . In jedem Landkreis gibt es eine Volks-hochschule, und deswegen ist das von mir gerade Dar-gestellte das Instrument . Das Ganze ist also nicht als Pe-anuts abzutun; vielmehr steckt dahinter eine kluge Idee .Diese Idee aber hatten wir .
Stichwort „Berufsorientierung“: Wie gelingt es, jungeFlüchtlinge in Ausbildung zu bringen? Alle jungenFlüchtlinge, die jetzt in die Schule kommen und dortBundesministerin Dr. Johanna Wanka
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512488
(C)
(D)
normal beschult werden, müssen, wenn sie in der sieb-ten und achten Klasse sind, sofort qualifiziert erfahren,was man in Deutschland lernen kann, welche Berufe esgibt und was man dafür wissen muss . Deswegen führenwir Potenzialanalysen und Berufseinstiegsbegleitungendurch . Die damit verbundenen Maßnahmen haben wir,Frau Nahles und ich, nicht im Rahmen von Modellver-suchen getestet; vielmehr haben wir für die Qualifizie-rung von mindestens 500 000 jungen Leuten im Haushalt1,2 Milliarden Euro verankert . Diese Mittel stehen sofortzur Verfügung; sie stehen auch zur Qualifizierung jedesFlüchtlingsjungen und jedes Flüchtlingsmädchens zurVerfügung, wenn sie in der entsprechenden Klasse sind .Wir müssen über die Frage reden: Reicht das? Müs-sen wir diese Mittel in den nächsten Jahren weiter auf-stocken? Im Moment ist dieses Geld auf jeden Fall vor-handen; es ist veranschlagt . Deswegen setzen wir es andieser Stelle ein .
Ich komme auf etwas zu sprechen, was wir in denletzten Jahren ebenfalls gefördert haben: die KAU-SA-Beratungsstellen . Dort motiviert man beispielsweiseUnternehmer mit Migrationshintergrund, etwa türkischeGemüsehändler, junge Leute auszubilden .
In KAUSA-Beratungsstellen werden auch Eltern undGroßeltern entsprechender Personen mit Migrations-hintergrund unterrichtet . Die KAUSA-Beratungsstellenfunktionieren . Aber angesichts vieler Tausend Flüchtlin-ge müssen wir die Zahl dieser Beratungsstellen erhöhen;vielleicht müssen wir sie verdoppeln, verdreifachen
oder vervierfachen, sodass in den Ballungsgebieten qua-lifizierte Personen vorhanden sind, die das nötige Wissenvermitteln können .Wenn wir in Deutschland junge Flüchtlinge in Aus-bildung bringen wollen, dann müssen wir das Vertei-lungsproblem lösen . Es gibt unversorgte Bewerber, diekeinen Ausbildungsplatz haben, und gleichzeitig gibt esfreie Ausbildungsplätze . Was meinen Sie, wie schwieriges wird, junge Flüchtlinge zum Beispiel nach Mecklen-burg-Vorpommern zu vermitteln! Wenn dort ein Maler,ein Bäcker oder ein Fleischer zum allerersten Mal seitJahren einen Lehrling bekommen soll, dann müssen wirdas organisieren . Das ist kein Wünsch-dir-was; das funk-tioniert nicht automatisch .Seit dem 1 . August 2015 ist für die Geduldeten, alsofür die, die in ihre Herkunftsländer eventuell zurück-gehen müssen, geregelt – es geht nicht um diejenigen,die die Anerkennung haben; diese bekommen vom ers-ten Tag an nahezu alles, worauf man in Deutschland einAnrecht hat –, dass sie, wenn sie eine Ausbildung ange-fangen haben, diese auch abschließen können, da derenAufenthaltsgenehmigung in diesem Zeitraum sicher ist .Die Gesetzeslage in Deutschland ist des Weiteren so,wie ich sie jetzt darstelle: Wenn einer eine Ausbildung,etwa als Bäcker, erfolgreich abgeschlossen hat, dannkann er im gelernten Beruf in Deutschland für zwei Jahreohne Vorrangprüfung und ohne andere Hindernisse ar-beiten, wenn er einen Arbeitsplatz hat .
Wenn also ein Bäcker sagt: „Den nehme ich“, dann kannder Geduldete hierbleiben . Wenn der Geduldete zweiJahre in seinem Beruf gearbeitet hat, dann kann er auchweiterhin in Deutschland bleiben, und dann kann er auchin einem anderen Beruf arbeiten . Wenn er vier Jahre hierwar, hat er die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht .Das ist doch, wie ich finde, eine sehr gute Regelung.
Meine Damen und Herren, was den gesamten BereichAnerkennung angeht: Es kommen ja auch Menschennach Deutschland, die in einem ganz anderen Land ei-nen Beruf erlernt haben . Ein Anerkennungsgesetz in derForm, wie es in Deutschland gilt, gibt es in keinem an-deren Land .
Man hat nämlich einen Rechtsanspruch darauf, dass zumBeispiel festgestellt wird, was eine Ausbildung in Syrienals Ingenieur hier in Deutschland wert ist .Mit diesem Anerkennungsgesetz haben wir auch vonAnfang an dem Umstand Rechnung getragen, dass auchMenschen zu uns kommen, die kein Zeugnis mehr ha-ben, die zum Beispiel kein Facharbeiterzeugnis haben,weil es das in ihren Heimatländern vielleicht gar nichtgibt . In diesen Fällen gibt es die Möglichkeit, durch Ar-beitsproben und Fachgespräche festzustellen, ob derjeni-ge schweißen kann oder in der Lage ist, bestimmte Ma-schinen zu bedienen . Diese Methoden haben wir mit denHandwerkskammern und den IHKs in den letzten Jahrenganz intensiv erprobt, um sicherzustellen, dass überall inDeutschland die gleichen Qualitätsstandards gelten . Die-se Methoden können jetzt eingesetzt werden .
In den Kommunen und Kreisen haben wir ja Bündnis-se für Bildung . Ich bin besonders stolz darauf – das sageich in Richtung Bündnis 90/Die Grünen –, dass wir jetztin der Lage sind, über mein Ministerium in 400 Kom-munen bzw . Gebietskörperschaften die Koordination derBildungsangebote für die Flüchtlinge vor Ort zu finanzie-ren . Das ist wichtig, weil ganz viel parallel läuft . Ich den-ke, das ist eine handfeste Unterstützung der Kommunenvor Ort, die für die Realisierung zuständig sind und damitzum Teil alleingelassen werden .Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12489
(C)
(D)
Meine Redezeit ist gleich zu Ende . Ich möchte abernoch eine Bemerkung machen: In dem Antrag der SEDstand:
– Ja .
– Nein, das ist nicht witzig, Frau Gohlke . Die Partei heißtjetzt anders, aber das ist die SED .
Sie ist nie aufgelöst worden .
– Nein . – Heute früh hat jemand hier am Pult gesagt, dassei die Nachfolgeorganisation .
Das ist keine Nachfolgeorganisation .
Sie haben Ihren Namen geändert .
– Frau Gohlke, Sie sind vielleicht zu jung .
– Es stimmt aber trotzdem . Manches stimmt noch nach50 Jahren .
In Ihrem Antrag steht, wir sollen die Hochschulen fürFlüchtlinge öffnen . – Sie sind offen . Es ist ganz eindeutigmöglich, an diese Hochschulen zu kommen .
Wir haben ein großes Paket geschnürt, um den jungenFlüchtlingen zu zeigen, wie das geht und wie man Testsleichter bestehen kann. Außerdem übernehmen wir finan-zielle Verpflichtungen. Es geht aber nicht um das Absen-ken von Standards . Eine Hochschulzugangsberechtigungmuss schon vorhanden sein .Meine Redezeit ist zu kurz, um zu allem Ausführun-gen zu machen . Ich glaube, dass wir gezeigt haben, dasses für uns beim Thema Bildung nicht nur um die Forde-rung nach mehr Geld in riesigen Dimensionen geht . Wirhaben gezeigt, dass wir anpacken können . Wir haben so-fort etwas auf den Tisch gelegt . Wir brauchen aber auch –ich verspreche Ihnen, mich dafür einzusetzen – weiteresGeld .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin für die Fraktion Die
Linke ist die Kollegin Nicole Gohlke .
– Nein, hier sitzt die Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Einesachfremde Bemerkung muss ich vorwegschicken: Ichglaube tatsächlich, dass Ihre Bundeskanzlerin mit derSED und der FDJ etwas mehr zu tun hatte, als ich jemalszu tun hatte .
Es wäre schön, wenn Sie 25 Jahre später vielleicht auchso weit denken könnten .Der Antrag der Linken, der heute auch vorliegt, willden gleichberechtigten Zugang zu Bildung für Geflüch-tete sicherstellen; denn jeder weiß, wie zentral Bildungund Sprache dabei sind, Menschen gesellschaftliche Teil-habe und Perspektiven zu eröffnen . Aus zwei Gründen istdiese Initiative der beiden Oppositionsparteien dringendnötig:Erstens . Die Regierung darf nicht länger mit demFinger auf die Länder zeigen . Es ist ja völlig klar: Vie-le Dinge fallen in die Zuständigkeit der Länder und derKommunen, und sie tragen bislang die finanzielle Haupt-last . Genauso klar ist aber doch wohl auch, dass wir eshier mit einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu tunhaben . Das Herumschieben von politischen Verantwort-lichkeiten ist der Situation absolut unwürdig,
und der Bund ist viel stärker als bisher gefordert .
Zweitens . Die Initiative ist auch deswegen nötig,weil die eigentlich selbstverständliche Haltung, nämlichschnell und unbürokratisch Unterstützung für Menschenin Not zu leisten, leider nicht in allen Teilen der GroßenKoalition selbstverständlich ist . Es war zwar wirklich po-sitiv – es fällt mir jetzt gerade zwar ein bisschen schwer,das zu sagen, aber ich sage es trotzdem, weil es wirklichpositiv war –, dass die Bildungsministerin nicht in dieschrille Tonlage von manch anderem eingestimmt hat
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512490
(C)
(D)
und stattdessen, auch im Rahmen der Allianz für Aus-und Weiterbildung, Maßnahmen zur Integration von Ge-flüchteten angekündigt hat.Aber gleichzeitig sind es Ihre Fraktionskollegen, die ei-nen ganz dumpfen Rassismus bedienen,
zum Beispiel, wenn aus Bayern Parolen kommen wiedie, dass Deutschland „nicht das Sozialamt für den Bal-kan“ sei, und wenn Horst Seehofer große Verbrüderungmit einem Rassisten wie Viktor Orban feiert .
Ich muss sagen: Ich erwarte von der Bildungsminis-terin auch mal ein paar klare Worte, wenn hierzulandeFlüchtlingskinder von der Polizei mitten aus dem Un-terricht geholt werden, weil den Eltern die Abschiebungdroht,
oder wenn so unglaubliche Vorschläge gemacht werdenwie der, die Schulpflicht für Kinder von Asylbewerberngleich ganz abzuschaffen .
Kolleginnen und Kollegen, hier geht es um ein Men-schenrecht, um das Recht auf Bildung . Dieses Recht giltuniversell. Es ist nicht verhandelbar. Ich finde, das hat dieBildungspolitik auch einmal klarzustellen .
Ich sage Ihnen: Es ist sehr gefährlich, wenn hier stän-dig nach Gruppen gesucht wird, für die diese Rechtenicht gelten sollen . Mal sind es die Asylsuchenden insge-samt, dann versucht man, Menschen über die Konstruk-tion von sogenannten sicheren Herkunftsstaaten von Ar-beit und Bildung auszuschließen . Wer so denkt und soPolitik macht, hat die Menschenrechte nicht verstanden .
Die Bundesregierung steht in der Pflicht, allen Menschen,auch den zugewanderten, gute Bildung zu ermöglichenund die Länder und Kommunen dabei zu unterstützen,das umzusetzen .
Deswegen fordert die Linke ein Bund-Länder-Pro-gramm für Sofortmaßnahmen in der Bildung . Und diebeginnt in der Kita . Da brauchen wir endlich ausreichendPlätze . Das war schon richtig, bevor eine größere Zahlvon Geflüchteten zu uns gekommen ist, und jetzt giltes erst recht . Viel zu lange haben Sie in der Regierungmit der sinnlosen Herdprämie herumgemurkst und denKitaausbau hinten angestellt .
Mehr als ein Drittel der Geflüchteten ist jünger als18 Jahre . Es ist mit bis zu 400 000 neuen Schülerinnenund Schülern zu rechnen, die in den Schulalltag integriertwerden müssen . Da sage ich Ihnen: Dem Bildungsminis-terium muss natürlich mehr einfallen als eine Smartpho-ne-App zum Deutschlernen und ehrenamtliche Flücht-lingshelfer als Lernbegleiter .
Diese Aufgabe kann man nicht auf diese Weise abwäl-zen . Was es braucht – jetzt können Sie mir zuhören –,
sind mehr festangestellte, qualifizierte und gut bezahlteLehrkräfte und pädagogische Fachkräfte, und zwar an öf-fentlichen Schulen und öffentlichen Einrichtungen,
und da muss der Bund mithelfen .
Das ist der Unterschied zwischen uns, Frau Wanka:Ihre Partei hat Stellen von Lehrerinnen und Lehrern zumBeispiel in Brandenburg in der Zeit der Großen Koalitionzu Tausenden – ich glaube, es waren über Zehntausend –abgebaut . Wir wollen Lehrerinnen und Lehrer neu ein-stellen,
weil wir wissen, vor welchen Aufgaben wir im Bildungs-bereich stehen .
An dieser Stelle wird wieder einmal deutlich, was fürein Hemmnis das Kooperationsverbot, das Verbot derZusammenarbeit von Bund und Ländern, in der Bildungist .
Sie als Regierung hätten es in der Hand, damit endlichSchluss zu machen und dieses unnötige Problem aus demWeg zu räumen und einfach das Selbstverständliche zutun und gesamtgesellschaftliche Bildungsaufgaben auchgemeinsam zu stemmen . Es wäre schön, wenn die neueSituation wenigstens dazu führte, dass Sie einmal darü-ber nachdenken .
Lassen Sie mich noch einen Satz zur Finanzierungsagen . Es ist unredlich, wenn aus der Politik suggeriertwird, die neue Situation brächte das Land an seine Be-lastungsgrenze . Was uns an die Belastungsgrenze bringt,ist schlechtgemachte Politik . Die Bundesrepublik hat imersten Halbjahr dank der guten Konjunktur den höchs-ten Überschuss seit rund 15 Jahren erzielt . Bund, LänderNicole Gohlke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12491
(C)
(D)
und Kommunen haben deutliche Mehreinnahmen zu ver-zeichnen . Ich weise Sie gerne noch einmal darauf hin,dass wir ein Land mit einer sehr hohen Steuerbasis sind .Es kommt auf die richtige Verteilung an . Haben Sie denMut, endlich die Verteilungsfrage zu stellen!Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dr . Karamba Diaby .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was tut dieBundesregierung für die Bildung von Geflüchteten? Öff-nung von Integrations- und Sprachkursen,
bereits nach 15 Monaten Zugang zu BAföG,
zusätzlich 130 Millionen Euro vonseiten des Bildungs-ministeriums
und nicht zuletzt die dauerhafte Unterstützung der Län-der und Kommunen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren der Linkenund der Grünen, viele Ihrer Forderungen sind gut ge-meint, aber wir haben bereits viele davon auf den Weggebracht .
Uns allen ist doch bewusst: Mit guter Bildungspolitiksteht und fällt ein gutes Zusammenleben; denn de fac-to bleibt der Großteil der Menschen über viele Jahre beiuns . Die Frage ist also, wie Integration gemeinsam er-folgreich gestaltet werden kann . Ob Spracherwerb, derAufbau sozialer Netzwerke oder die berufliche Ausbil-dung: Bildung ist ein zentraler Baustein für Integration .Ob Kita, Schule, Ausbildungsstelle, Hochschulen: Unse-re Bildungseinrichtungen sind für eine erfolgreiche Inte-gration der Menschen, die zu uns kommen, von großerBedeutung .
Dabei können die Bildungseinrichtungen an die vorhan-denen vielfältigen schulischen und beruflichen Qualifika-tionen der Geflüchteten anknüpfen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Integration derGeflüchteten ist eine Chance für unser Bildungssystem.
Die Tatsache, dass Menschen in unser Land kommenund hier bleiben, hat bildungspolitische Konsequenzen .Unser Bildungssystem muss dieser Tatsache Rechnungtragen . Ich nenne drei Punkte, die für die SPD-Fraktionbesonders wichtig sind:Erstens . Spracherwerb ist eine entscheidende Vor-aussetzung, um an Bildungsprozessen und am gesell-schaftlichen Leben teilhaben zu können. Geflüchtetemit Bleibeperspektive erhalten daher rasch Zugang zuSprachförderung .
Die Sprachförderung müssen wir aber flexibel und prag-matisch gestalten, zum Beispiel Praktikum und Sprach-kurs gleichzeitig .
Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine persönlicheBemerkung . Heute vor genau 30 Jahren bin ich um15 .15 Uhr als Stipendiat in die DDR gekommen .
Tag eins: Da war meine Ankunft . Tag zwei: Anmeldun-gen . Tag drei: Gesundheitscheck; auch das musste sein .
Tag fünf: Sprachkurs .
Sicherlich, die Situation ist nicht eins zu eins übertrag-bar . Aber sie kann uns ein Ideengeber dafür sein, wie eslaufen sollte .
Das könnte vielleicht als Orientierung dienen .Beim Thema Spracherwerb dürfen wir zudem unsereLehrkräfte nicht vergessen . Für sie brauchen wir ordent-liche Beschäftigungsverhältnisse und eine angemesseneBezahlung .
Zweitens . Die Aufhebung des Kooperationsverbotsfür den Hochschulbereich eröffnet dem Bund bereitsHandlungsspielräume . Wir wollen die Länder dabei un-terstützen, Geflüchteten den Zugang zu Hochschulenzu ermöglichen . Hierfür sollten wir auf die vorhandeneExpertise unserer Organisationen zurückgreifen . DAAD,Alexander-von-Humboldt-Stiftung und andere: Sie allehaben Ideen, die Hochschulen dort zu unterstützen, wozum Beispiel Zeugnisse fehlen – auch Frau Ministerinhat davon gesprochen –, nämlich um die Studier- undPromotionsfähigkeit zu überprüfen, um Sprachkompe-tenzen festzustellen und Spracherwerb zu fördern undNicole Gohlke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512492
(C)
(D)
um Beratungsangebote zu bündeln und zielgruppenge-recht auszubauen .
Die Kompetenzen von Geflüchteten dürfen wir nichtbrachliegen lassen . Wir müssen sie fördern .
Drittens geht es um die Anerkennung beruflicher Qua-lifikationen. Geflüchtete sind unsere Nachbarn und Kol-legen von morgen . Aber das ist kein Selbstläufer, meineDamen und Herren .
Es gibt viele Unternehmer, die Asylsuchende einstellenoder ausbilden wollen . Das ist ein wunderbares Signalfür unser Land . Es zeigt: Ihr seid willkommen, und ihrwerdet gebraucht . – Wir wissen aber auch: Nicht jederAsylsuchende hat bereits eine Ausbildung oder ein Stu-dium abgeschlossen, zum Beispiel weil ein Großteil nochsehr jung ist . Außerdem müssen wir neue Wege gehen,um berufliche Kompetenzen festzustellen; denn Teilhabeüber Arbeit ist ein wichtiger Hebel für Integration .Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt davon –auch meine Fraktion ist überzeugt davon –, dass dasAnerkennungsgesetz seine volle Wirkung erst entfaltenkann, wenn es finanziell ausgestattet wird. Wir brauchenendlich ein Darlehensprogramm . Es liegt im Interesseder Geflüchteten und in unserem Interesse, wenn wir ihreFähigkeiten fördern .Erlauben Sie mir abschließend noch eine Bemerkungzum Thema Schulpflicht. In unserem demokratisch ver-fassten Staat darf die Schulpflicht auf keinen Fall ange-tastet werden .
Es liegt in unser aller Interesse, dass Kinder und Jugend-liche von Anfang an unsere Schulen besuchen – Frau Prä-sidentin, ich komme zum Ende -; denn mit guter Bildunglegen wir den Grundstein für unser Zusammenleben .Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns eint folgenderGedanke: Bildung ist ein Menschenrecht . Wir setzen die-ses Recht für alle Menschen gleichermaßen um .Danke schön .
Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Giousouf für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Mi-nisterin Wanka! Liebe Kolleginnen und Kollegen! EineBemerkung vorab: Bei der Einhaltung der Menschen-rechte brauchen wir uns von Ihnen, liebe Kollegen derlinken Fraktion, bestimmt nichts erzählen zu lassen .
Fakt ist: Wenn wir die Integration der Neuzuzügler, derFlüchtlinge – da stimme ich mit dir, lieber Karamba, voll-kommen überein – nicht ausreichend unterstützen, wer-den wir verlorene Biografien in Deutschland haben. Daswiderspricht nicht nur unserer persönlichen politischenEthik, darüber hinaus ist Integration auch ganz einfach inunserem eigenen Interesse, wenn wir weiterhin als Nati-on stark und wettbewerbsfähig sein wollen .
Deutschland hat über Jahrzehnte Einwanderer undFlüchtlinge aufgenommen . Wir sind ein Einwanderungs-land . Aber wir haben am Anfang auch Fehler gemacht .Die sogenannte Gastarbeitergeneration hatte eben keineSprachkurse und Beratungsangebote – eine Situation, dieübrigens in den meisten Ländern der Welt bis heute so ist .Aber wir haben dazugelernt . Es war die unionsgeführ-te Bundesregierung, die Integrationspolitik maßgeblichkonzeptionell entwickelt hat .
Deshalb müssen wir, wenn wir über Integration vonFlüchtlingen sprechen, den Menschen auch sagen: Wirfangen heute nicht bei null an .
So hat sich auch das Bildungsministerium seit knappzehn Jahren intensiv mit dieser Thematik auseinander-gesetzt . Die Rede der Hausherrin des integrationspoliti-schen Schlüsselministeriums hat gerade sehr eindrücklichdeutlich gemacht, dass sich das Ministerium für Bildungund Forschung dieser Aufgabe nicht nur im aktuellenKontext stellt . Bereits seit vielen Jahren setzt die uni-onsgeführte Bundesregierung bei der Integration auf denBildungsbereich . Ich möchte daher kurz folgende Fragenaufwerfen: Wo wären wir heute angesichts der aktuellenHerausforderungen ohne das Anerkennungsgesetz, ohnedie frühkindliche Bildung, ohne Sprachtests in den Kitas,ohne unsere Allianz für Aus- und Weiterbildung, ohnedie Koordinierungsstelle Ausbildung und Migration?
Wo wären wir ohne eine deutsche Ausbildung in islami-scher Theologie? Kein Zweifel, die zukünftigen Prob-leme wären ohne diese Initiativen des BMBF sehr vielgrößer .
Deswegen kann das BMBF auch mit großer Zuver-sicht in die Zukunft blicken . Wir haben eindrücklich ge-hört: Die eben vorgestellten Maßnahmen sind ein ersterSchritt und nicht abschließend zu betrachten .Kommen wir zu den Anträgen, die schon im Ansatzproblematisch sind . Beim Antrag der Linken steht in derPräambel:Dr. Karamba Diaby
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12493
(C)
(D)
Der finanzielle Reichtum der BundesrepublikDeutschland basiert auch auf der Verarmung großerTeile der Weltbevölkerung .Ich möchte dazu nur eines sagen: Ich bin fest davonüberzeugt, dass die zu uns kommenden Flüchtlinge einsehr viel positiveres Bild von Deutschland haben alsganz offenbar die Bundestagsfraktion der Linken .
Vielleicht können Sie von den Zuwanderern in Landes-kunde schon sehr bald lernen, ich sehe da durchaus Be-darf .
Zum milliardenschweren Entlastungspaket für dieKommunen und Länder kein einziges Wort in Ihren An-trägen! Stattdessen werden Länderaufgaben mit leichterHand dem Bund zugeschoben . Natürlich brauchen wirmehr Lehrer . Ich muss Sie aber nicht daran erinnern, dassdas der schulische Bereich ist und in Länderhoheit liegt .Sie suggerieren, der Bund täte nichts . Genau nach diesemMuster werden auch Forderungen an das BMBF adres-siert, die gar nicht in dessen Ressort liegen, wie, speziel-le Beratungen der Flüchtlinge bei der Bundesagentur fürArbeit zu etablieren .Das Problem ist auch: Vieles von dem ist bereits in derPraxis eingeführt und als Handlungsaufforderung damitlängst überholt . Erstens wird in beiden Anträgen für jungeGeflüchtete und Geduldete der Schutz vor Abschiebungin der Ausbildung gefordert . Das ist eine wichtige Forde-rung, keine Frage . Aber mit dem 1 . August 2015 wurdefür jugendliche und heranwachsende Geduldete, die einequalifizierte Berufsausbildung aufnehmen, für die Dauerder Ausbildung ein Schutz vor Abschiebung erreicht . Esgibt diese Rechtssicherheit bereits .
Im Falle eines erfolgreichen Ausbildungsabschlusseskönnen die jungen Menschen dann eine Aufenthaltser-laubnis erhalten und damit in Deutschland bleiben . IhrGerede von der Rechtsunsicherheit führt lediglich zumehr Verunsicherung bei den Betrieben .Zweitens monieren Sie die BAföG-Regelungen . ZumMitschreiben: Geduldete und Inhaber bestimmter huma-nitärer Aufenthaltstitel müssen künftig nicht mehr eineVierjahresfrist abwarten, ehe sie BAföG-berechtigt sind,sondern können bereits nach 15 Monaten Unterstützungerhalten .
Ursprünglich sollte diese Frist zum 1 . August 2016 ge-kürzt werden . Jetzt wurde dies aber auf den 1 . Januar2016 vorgezogen, um noch schneller helfen zu können .
– Genau . – Sie fordern, dass diese 15 Monate Mindestau-fenthalt bei der BAföG-Berechtigung auf drei Monatereduziert werden sollen . Nach drei Monaten sollen nachIhren Vorschlägen faktisch alle Asylberechtigten BAföGbekommen können . Um studierfähig zu sein, brauchtman das Sprachniveau B 2 . Wie schnell soll das gehen?Welchen Sinn macht es, dass gegebenenfalls MenschenBAföG erhalten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit wie-der ausgewiesen werden? Deswegen ist es richtig, dassdie Bundesregierung die Mindestaufenthaltsdauer vonvier Jahren auf 15 Monate reduziert hat . Ihre drei Monatesind purer Aktionismus . Wir müssen auch auf den Kos-tenfaktor achten und realistisch bleiben .
Ein dritter Punkt ist die Beschäftigungsverordnung .Auch hier kann ein Blick in die Dokumente erhellendsein: Das Bundeskabinett hat am 3 . August 2015 eineÄnderung beschlossen, mit der jungen Asylsuchendenund Geduldeten, die gute Bleibeperspektiven haben, derZugang unter anderem zu berufsorientierenden und stu-dienbegleitenden Praktika erleichtert wird .Kommen wir viertens zu Ihrer Forderung nach zu-sätzlichen Sprach- und Alphabetisierungskursen auch fürerwachsene Flüchtlinge . Unser Bundesinnenminister istIhnen auch hier bereits voraus . Die bewährten Integrati-onskurse werden für Asylbewerber mit guter Bleibeper-spektive geöffnet, und die hierfür vorgesehenen Mittelwerden entsprechend dem gestiegenen Bedarf aufge-stockt .Auch das BMBF wird in den nächsten Jahren rund130 Millionen Euro zusätzlich für den Erwerb der deut-schen Sprache, das Erkennen von Kompetenzen und Po-tenzialen von Flüchtlingen und für Ausbildung und Be-ruf investieren . Wohlgemerkt, das sind Mittel neben demmilliardenschweren Finanzpaket, mit dem der Bund dieLänder und die Kommunen unterstützen wird .Es ist richtig, dass Sprachlehrer für die Integrations-kurse fehlen . Auch hier setzt das BMBF an, und die zahl-reichen Ehrenamtlichen sollen in Schnellkursen zu Lern-begleitern ausgebildet werden .
Ich möchte damit nicht sagen, dass die beiden Opposi-tionsanträge völlig obsolet sind .
Aber Sie sollten schon zur Kenntnis nehmen, dass dieBundesregierung, das BMBF und auch ganz persönlichMinisterin Wanka diese Themen mit großer Ernsthaftig-keit behandeln . Eine solche Ernsthaftigkeit würde ichmir von allen politischen Akteuren sehr wünschen .Vielen Dank .
Cemile Giousouf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 201512494
(C)
(D)
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Daniela De Ridder .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Hinter uns liegen zwei harteSitzungswochen, in denen wir sehr viel über Flüchtlings-politik geredet haben . Ich fahre – das will ich als letzteRednerin in dieser Woche sagen – frohen Mutes nachHause . Das hat nicht nur mit den Maßnahmen zu tun,die wir auf den Weg gebracht haben, sondern auch mitdem Besuch von Schülerinnen und Schülern aus meinerHeimatstadt Schüttorf . In der Radio-AG, die mich be-sucht hat, waren lauter Zweit-, Dritt- und Viertklässler,und ich habe, ehrlich gesagt, noch nie mit Schülerinnenund Schülern dieser Altersgruppe gesprochen, die so of-fenherzig, neugierig und vehement mit mir über Flücht-lingspolitik reden wollten . Zugegeben: Das lag auch da-ran, dass sie gute Lehrerinnen und Lehrer haben, die imwahrsten Sinne des Wortes politische Bildung mit ihnenbetrieben haben . Auf diesem Feld müssen wir unbedingtweiter arbeiten .Lassen Sie mich deshalb noch einmal die Gelegenheitnutzen, diesen Lehrerinnen und Lehrern, aber auch denErzieherinnen und Erziehern herzlichen Dank zu sagen .
Politische Bildung ist in der Tat etwas, das wir weiterbetreiben müssen . Davon habe ich aber in Ihren Anträgenwenig gelesen, liebe Oppositionskolleginnen und -kolle-gen .
Darüber bin ich sehr enttäuscht . Ich sage das auch mitBlick auf die Fernsehbilder, die wir zu sehen bekommen .Für mich ist es unerträglich – ich hoffe, das teilen Siemit mir –, wenn in Deutschland wieder Flüchtlingsheimebrennen . Wir haben hier eine ganz maßgebliche Aufgabe .Ich finde es geradezu fahrlässig, dass Sie hier den Ein-druck erwecken, wir würden nichts oder zu wenig tun,die vielen helfenden Hände vor Ort ignorieren oder dieKommunen im Stich lassen .
Ich will nur drei Zahlen nennen, damit Sie wissen,was ich genau meine . 4 Milliarden Euro zusätzlich wirdes – Frau Ministerin Wanka hat das bereits erwähnt – indiesem und im kommenden Jahr für diese wichtige undwertvolle Arbeit geben . Damit stärken wir Länder undKommunen . Diese sind dann an der Reihe, das Geldentsprechend einzusetzen . Mit zusätzlich 350 MillionenEuro jährlich beteiligt sich der Bund an der Versorgungvon Kindern und Jugendlichen, die unbegleitet in unserLand kommen, also ohne ihre Eltern . Das ist eine min-destens ebenso wichtige Aufgabe . Als dritten Punkt willich die 900 Millionen Euro nennen, die aus den Mittelnfür das gestoppte Betreuungsgeld stammen, Frau Wanka .Wir müssen ehrlich zugeben, dass es in Sachen Betreu-ungsgeld sehr unglücklich verlaufen ist . Aber ich freuemich, dass das Geld nun insgesamt für die Qualitätssi-cherung in den Kitas und bei der frühkindlichen Bildungeingesetzt werden und so – ich hoffe, dass Sie mir darinzustimmen – allen Kindern in diesem Land, unabhängigvon der Herkunft, zugutekommen kann .
Ich will keinen Hehl daraus machen, dass es mir undmeiner Fraktion darum geht, solche Maßnahmen auf denWeg zu bringen – auch dank der Unterstützung unseresKoalitionspartners – und es den Menschen, die aufgrundvon Kriegs- und Krisensituationen in ihren Heimatlän-dern zu uns kommen, zu ermöglichen, ganz schnell Fußauf dem Arbeitsmarkt zu fassen . Das, liebe Kolleginnenund Kollegen, unabhängig welcher politischen CouleurSie angehören, will ich Ihnen mit auf den Weg geben;denn das hat auch etwas mit der Würde dieser Menschenzu tun .
Mir geht es auch um die Sprachkompetenz . Hier kön-nen wir gar nicht genug tun . Hier freue ich mich aufIhre kritisch-konstruktiven Vorschläge . Es geht darum,Sprach- und Integrationskurse weiterhin zu betreiben .Sprache ist der Schlüssel zur Verständigung und dafür,im Alltag zurechtzukommen . Sprache ist aber auch einSchlüssel für gelungene Integration . Sprache ist immerauch Träger von Kultur . Sprache ist zudem das Vehi-kel – ich sage das vor allem in Richtung CSU, weil ich indieser Woche interessante Töne von dort gehört habe –,um unsere Werte zu transportieren . Deshalb müssen wirals Bildungspolitikerinnen und -politiker hier in der Tatweiter investieren, liebe Frau Wanka . Mir ist das ganzbesonders wichtig .
Wie Sie wissen, wurde jahrelang gesagt – ich habe daspersönlich zu spüren bekommen –, dieses Land sei keinEinwanderungsland . Die aktuelle Krisensituation, diewir nun erleben, belehrt uns eines Besseren .
Sie erinnern sich vielleicht daran, dass bereits 1965 MaxFrisch mit Blick auf die sogenannten Gastarbeiterinnenund Gastarbeiter sagte – Sie alle kennen sicherlich diesesZitat –: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Men-schen .“ Dass es hier immer auch um Menschen geht, dür-fen wir nie vergessen .
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 128 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Oktober 2015 12495
(C)
(D)
Gleichwohl geht es um ein gutes Paket, an dem wirweiter arbeiten wollen . Liebe Frau Gohlke, wir sind nichtverlegen, gute Ratschläge von Ihnen anzunehmen, wennsie denn finanzierbar und umsetzbar sind.
Aber auf das, was Sie in Ihren Anträgen vorschlagen, ha-ben wir weiß Gott nicht gewartet; denn in der Tat sindwir bereits aktiv geworden und haben das in Rede ste-hende Paket mit Erfolg auf den Weg gebracht . NehmenSie es einfach mit in Ihren Wahlkreis, und haben Sie dorthoffentlich viele Termine an Schulen, die Sie dann be-glücken können .Haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Damit sind wir am Ende der Ausspra-
che angekommen .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/6198 und 18/6192 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, dass das der
Fall ist . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung
angekommen .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 14 . Oktober 2015, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen allen
ein gutes Wochenende .